Das zeitgenössische Klavierkonzert: Analysen zu M. Feldman, M. Jarrell, G. Kühr, H. Lachenmann, G. Ligeti und W. Lutoslawski 9783205792963, 9783205795582

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Das zeitgenössische Klavierkonzert: Analysen zu M. Feldman, M. Jarrell, G. Kühr, H. Lachenmann, G. Ligeti und W. Lutoslawski
 9783205792963, 9783205795582

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Sonja Huber

Das zeitgenössische Klavierkonzert Analysen zu M. Feldman, M. Jarrell, G. Kühr, H. Lachenmann, G. Ligeti und W. Lutosławski

2014 Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung  : Chopin’s Waterloo, Skulptur von Arman, 1961 (© Bildrecht Wien, 2013) © 2014 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H., Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Jörg Eipper-Kaiser, Graz Satz  : Michael Rauscher, Wien

Druck und Bindung  : Prime Rate kft., 1044 Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Hungary

ISBN 978-3-205-79558-2

Inhalt

Allgemeine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick | 10 | Kriterien der Analyse | 16

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen der Analyse | 19 | Allgemeine Annäherung | 23 |  Verhältnis von Solist und Orchester | 27 | Formale Übersicht | 32 | Dynamik | 37 | Harmonik | 40

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester« . . . . . . . . Allgemeine Annäherung | 47 | Formale Übersicht | 54 | Charakteristische Details | 63 | Harmonik | 68 | Kompositionsprozess | 72 | Vergleich mit anderen Klavierkompositionen | 74 | Rolle des Hörers | 77 |  Auseinandersetzung mit Traditionen | 79

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Einflüsse | 85 | Einzelaspekte | 94 | Verhältnis von Solist und Orchester | 97 | 1. Satz | 104 | 2. Satz | 112 | 3. Satz | 117 | 4. Satz | 121 |  5. Satz | 125

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra . . . . . . . . . . . . . . 135 Allgemeine Annäherung | 135 | 1. Satz | 138 | 2. Satz | 150 | 3. Satz | 157 |  4. Satz | 162 | Einzelaspekte und Überblick | 171 | Traditionsbezüge | 177 Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester . . . . . . . . . . 183 Allgemeine Annäherung | 183 | Formale Übersicht | 186 | Einzelaspekte | 191 | Chronologie | 204

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Inhalt

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester. . . . . . . . . . . . . . . 225 Übernahmen und Bearbeitungen | 225 | Besetzung und Spieltechniken | 229 | Formale Übersicht I | 232 | Verhältnis von Solist und Orchester | 235 | Einzelaspekte | 238 | Formale Übersicht II | 254 Nachwort.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Zitierte Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Register.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Allgemeine Einführung

Klavierkonzerte an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert  : Nach Avantgardebewe­ gungen, postseriellen, postmodernen, postpostmodernen u. a. Zeitströmungen scheint die Auseinandersetzung mit einer historischen Gattung wie dem Klavierkonzert vor allem als Feststellung von Einzelerscheinungen möglich. Im heutigen Zeitalter der Individualstilistik könnte man davon ausgehen, dass auch bei Betrachtung von Werken für Klavier und Orchester kein einheitliches Bild entsteht. Andererseits wiederum könnte man annehmen, dass Komponisten, die heute eine so besonders durch Klassik und Romantik geprägte Gattung wie das Klavierkonzert aufgreifen, eher dem Traditionalismus zugewandt sind, und somit diese Werke in sich doch eine zusammenhängende, stilistisch vergleichbare Einheit bilden. Wie im Verlauf dieser Arbeit festzustellen sein wird, bestätigt sich beim konkreten Blick auf die betroffenen Werke keine dieser Vermutungen. Weder handelt es sich nur um ausgesprochen an der Tradition orientierte Komponisten, die am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts Klavierkonzerte schreiben, noch reicht es, sich analytisch-resignierend mit der Feststellung eines stilistischen Pluralismus zu begnügen. Unter dem Begriff »Tradition« wird in dieser Arbeit vor allem die Musik des 18. und 19. Jahrhunderts verstanden, in weit geringerem Ausmaß die Musik des 20. Jahrhunderts. Dies ist nicht nur dadurch begründbar, dass die meisten Klavierkonzerte in der Klassik und Romantik entstanden sind, sondern auch durch die Tatsache, dass gerade diese Werke besonders häufig im heutigen Konzertrepertoire vertreten sind. Sie bilden somit gleichsam eine Rezeptionsfolie und schaffen eine Erwartungshaltung seitens des Publikums sowie seitens der Auftraggeber und Interpreten, mit welcher sich die Komponisten auseinandersetzen müssen (auch wenn diese Auseinandersetzung in einem Negieren von Tradition mündet.)1 1 Auf die zahlreiche Literatur zur geschichtlichen Entwicklung der Gattung wird hier bewusst nicht näher eingegangen, da sich einerseits eben diese Literatur vorwiegend mit Klavierkonzerten des 18. und 19. Jahrhunderts befasst und andererseits von einem Allgemeinwissen über die Grundzüge der Gattung ausgegangen werden kann, das zum Verständnis der folgenden Überlegungen ausreicht.

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Allgemeine Einführung

Zunächst ist es notwendig, den Begriff »Klavierkonzert« genauer zu definieren. Der Gattungsbegriff als solcher scheint am Ende des 20. Jahrhunderts vor allem aufgrund der Unverbindlichkeit und Vielfältigkeit musikalischer Formgebung (im Kleinen wie im Großen) auf die Frage der Besetzung eingeschränkt zu sein. (Werke mit gleicher Besetzung zählen zu einer bestimmten Gattung, hätten aber beispielsweise ein Streichquartett und ein Klavierkonzert einen ähnlichen Formverlauf, würde man sie – allerdings auch in früheren Jahrhunderten – nicht zu ein und derselben Gattung zählen.) Dies macht eine erste Auswahl aufgrund der Besetzungsangabe plausibel. Welche historischen Aspekte die Gattung »Klavierkonzert« von anderen Gattungen aber auch am Ende des 20. Jahrhunderts unterscheiden, soll an späterer Stelle präzisiert werden. Für die detaillierten Analysen dieser Arbeit wurden Werke in Betracht gezogen, die als Besetzung »Klavier und Orchester« vorschreiben. Daher wurden nicht nur solche Komponisten berücksichtigt, die als Titel tatsächlich den Begriff »Klavierkonzert« verwenden, sondern auch jene, die andere (meist bildhafte oder assoziative) Titel für ihre Werke wählen. Aus Gründen der Eingrenzung der Überfülle an Material und auch zur besseren Vergleichbarkeit wurden Werke für zwei Klaviere und Orchester, Werke mit Elektronik, Werke für Klavier und Ensemble u. ä. nicht berücksichtigt. Bei Letztgenannten kann es sich zwar auch um die Auseinandersetzung mit Aspekten der Gattung Klavierkonzert handeln, doch spielt zumeist in solchen Fällen die Gegenüberstellung von Individuum und Kollektiv  – einem »Kennzeichen« eines Großteils von Klavierkonzerten jeglicher Jahrhunderte – eine geringere Rolle als bei Werken für Klavier und Orchester. Zwei Klaviere als Solisten wiederum bieten dem Komponisten die Möglichkeit einer zusätzlichen Kommunikationsebene, es kommt daher auch zu anderen Verhältnissen in der Beziehung von Solist(en) und Orchester. Das wichtigste Kriterium, um ein »Klavierkonzert« als solches bezeichnen zu können, ist die Gegenüberstellung und somit die klare Unterscheidbarkeit von Solist und Orchester. Musikalisch kann dies durch verschiedenes Material, Registerlage, Dynamik oder etwa ein häufigeres Vorkommen des Solisten umgesetzt werden. Besonders deutlich wird eine solche Unterscheidbarkeit durch die Virtuosität des Solisten, wobei diese jeweils im Verhältnis zur Virtuosität des Orchesterparts zu bewerten ist, d. h. keine »absolute« Größe darstellt. Unter dem Begriff »Virtuosität« ist sowohl die klassisch-romantische Klaviertechnik (vor allem schnelle Läufe und Sprünge) als auch der gehäufte Einsatz von Spieltechniken des 20. Jahrhunderts (z. B. Erzeugen von Klängen im Inneren des Klaviers) zu verstehen. Wesentlich für die Unterscheidbarkeit von Solist und Orchester sind vor allem auch formale Aspekte, denn durch das bloße Vorhandensein solistischer, unbegleiteter (bzw. mit reduziertem Orchester begleiteter) Passagen wird eine Führungsrolle des Solisten

Allgemeine Einführung

selbst dann deutlich, wenn Klavier und Orchester während des übrigen Werkes und hinsichtlich der oben genannten Parameter vollkommen gleichberechtigt erscheinen. Das eventuelle Auftreten einer länger andauernden Klavier-Solokadenz stellt darüber hinaus auch einen besonders deutlichen Bezug zur Gattungstradition her. Allein durch seine physische Präsenz auf der Bühne ist das Klavier als Soloinstrument geradezu »prädestiniert«. Die klangliche Unterscheidbarkeit vom Orchester ist – außer im Falle eines zusätzlichen Orchesterklaviers – wesentlich stärker als beispielsweise bei Flöten- oder Violin-Solokonzerten gegeben. Zugleich aber kann das Klavier durch seinen Tonumfang, der alle Orchesterregister umfasst bzw. darüber hinausgeht, durch die Möglichkeit zur Mehrstimmigkeit und durch seine bloße Klangstärke eher als gleichberechtigter Partner (bzw. Gegenpart) gegenüber dem Orchester auftreten. Der Pianist als »Inbegriff« des romantischen Virtuosen stellt für den Komponisten weiters ein besonderes Moment der Auseinandersetzung mit »Tradition« dar. Die von Hugo Daffner 1906 benannten »drei Hauptkennzeichen des modernen Konzerts  : Dreisätzigkeit, Gegenüberstellung von Solo und Tutti und virtuose Ausgestaltung der Solostimme«2 lassen sich erstaunlicherweise – mit Ausnahme der Dreisätzigkeit und unter Berücksichtigung der im Folgenden näher erläuterten Einschränkungen  – auch ein Jahrhundert später anwenden. Überspitzt formuliert, beschränkt sich in der gegenwärtigen kompositorischen Situation aufgrund individueller Formlösungen (falls nicht tatsächlich direkt auf Formverläufe des Barocks, der Klassik oder der Romantik zurückgegriffen wird) die Bewertung, ob ein Werk als »Klavierkonzert« zu bezeichnen ist, auf die Frage, inwiefern der Solist als solcher agiert. Dennoch reduziert sich die musikalische Realität nicht auf die folgende Feststellung Michael Th. Roeders  : »Der Begriff ›Konzert‹ ist mit der Vorstellung eines virtuosen Instrumentalsolisten verbunden, der zur Begleitung eines Orchesters große technische und musikalische Fähigkeiten zur Schau stellt.«3 Zwar spielt Virtuosität in den meisten Fällen nach wie vor eine große Rolle, doch kann diese einerseits auch von den Orchestermusikern gefordert sein, andererseits – wie besonders am Beispiel Morton Feldmans zu zeigen sein wird – von Komponisten bewusst negiert werden. Die Rolle des Solisten auf das Virtuosentum zu beschränken, reicht daher nicht aus. So klar die Definition eines Klavierkonzertes nun scheint, so vielfältig erweist sich die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Kompositionen, wie sich auch in den detaillierten Analysen dieser Arbeit zeigen wird. Trotz unterschiedlicher Betonung und Fokussierung einzelner Aspekte kommt es dennoch in allen Fällen zur genannten Unterscheidbarkeit von Solist und Orchester. Betrachtet man dieses Kriterium als für die 2 Daffner, Hugo  : Die Entwicklung des Klavierkonzerts bis Mozart, Leipzig, 1906, S. 3 3 Roeder, Michael Thomas  : Das Konzert, Laaber, 2000

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Gattung wesentlichstes, so ist es auch nicht verwunderlich, wenn Komponisten, denen keinerlei Naheverhältnis zur Ästhetik von Klassik oder Romantik unterstellt werden kann, sich dieser Herausforderung stellen. Jenseits von dialogisierendem, gleichberechtigtem Miteinander, von Wetteifern im Sinne des ursprünglichen »concertare«, dem Übernehmen einer Führungsrolle oder aber einem Agieren auf zwei verschiedenen, voneinander unabhängigen Ebenen können die Positionen von Solist und Orchester auch als Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse dienen. Eine »soziale« Komponente kann auch auf eine kleinräumigere Ebene, d. h. die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen einem Individuum und einem Kollektiv (nicht nur einer »Gesellschaft« als Ganzes) auf das Verhältnis von Klavier und Orchester übertragen werden. Die verschiedenen Arten der wechselseitigen Abhängigkeit können zudem innerhalb der einzelnen Parameter »auskomponiert« werden, der Komponist hat also eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Beziehung von Solo- und Orchesterpart zu gestalten. Die Tatsache, dass es sich bei den meisten infrage kommenden Kompositionen um Auftragswerke handelt, die zumeist an »arrivierte« Komponisten vergeben werden, zeigt zweierlei  : Einerseits besteht vonseiten des Publikums, der Konzertveranstalter und der Interpreten nach wie vor das Bedürfnis, diese Gattung am Leben zu erhalten. Dies hängt direkt mit der kontinuierlichen Präsenz klassischer und romantischer Klavierkonzerte im heutigen Repertoire zusammen, außerdem mit dem Bedarf virtuoser Interpreten an neuen Herausforderungen. Es handelt sich – da auch der finanzielle Aufwand nicht gering ist – um eine »repräsentative« Gattung, deren Vergabe als Auftrag für einen Komponisten ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Anerkennung darstellt. Nicht nur der finanzielle, sondern auch der kompositorische Aufwand ist im Falle von Klavierkonzerten ein nicht geringer, was das vorwiegende Entstehen dieser Werke aufgrund eines Auftrages erklärt. Vor der detaillierten Analyse einzelner ausgewählter Beispiele möchte ich zunächst einige Werke schlaglichtartig beleuchten, um so das Spektrum an ästhetischen Positionen und auch die Verschiedenartigkeit der Auseinandersetzung mit der Gattung »Klavierkonzert« zu zeigen. Anders als in den Detailanalysen werden hier nicht nur Werke »für Klavier und Orchester« berücksichtigt, um so die Gattungsgrenzen auszuloten. Überblick Harrison Birtwistles Werk »Antiphonies« für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1992 (revidiert 2003) enthält erstaunlicherweise keine bzw. nur wenige, extrem kurze unbegleitete Solo-Passagen des Klaviers. Während es im Gegensatz dazu sehr wohl

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Abschnitte für Orchester ohne Klavier gibt, wird der Solist fast durchgehend von zumindest einigen Orchesterinstrumenten begleitet. Durch verschiedene Mittel wird aber dennoch die Rolle des Klaviers als Solist gegenüber dem Orchester eindeutig  : mittels verschiedenem Material, einer lauteren Dynamik, unterschiedlicher Registerlagen, aber auch durch eine größere Ereignisdichte. Nur gelegentlich wird das Klavier als gleichberechtigter Partner bzw. als Teil des Orchesters verwendet. Wie verschiedene Stationen ohne durchgehenden Entwicklungsbogen erscheinen die vier Sätze von Klaus Hubers Kammerkonzert »Intarsi« für Klavier und Ensemble (1993/94). Dieser Eindruck resultiert u. U. aber vor allem durch die zumeist kurze Dauer der einzelnen Sätze (2’45’’, 5’, 2’30’’, 2’30’’). Trotz des Titels »Kammerkonzert«, der auch auf einen »konzertanten«, d. h. solistischen Einsatz der übrigen Instrumentalisten hindeuten könnte, wird hier in allen Sätzen das Klavier eindeutig als Soloinstrument verwendet. Oft ist diese »Führungsrolle« durch eine größere Ereignisdichte und Komplexität des Soloparts begründbar. »Virtuosität« ist in diesem Werk vor allem als Umsetzungsvermögen rhythmisch-metrischer Komplexität notwendig. Im zweiten Satz findet man beispielsweise im Solopart eine gleichzeitige Teilung von 17 : 12 : 7 : 5 (T. 30) oder 13 : 11 : 7 : 5 (T. 31). Dazu erklingen im Ensemblepart weitere, davon verschiedene Unterteilungen der Großtakte, deren Länge wiederum selbst von Takt zu Takt variiert. (In T. 30 gibt es insgesamt, in Klavier und Ensemble, eine Unterteilung von sechs Vierteln in 19 : 17 : 13 : 12 : 7 : 5 : 4 : 3.) Demgegenüber ist der Titel des nachfolgenden dritten Satzes – »Unità« – vermutlich vor allem als auf die metrische Vereinigung aller Stimmen bezogen zu verstehen. In diesem Satz agiert der Solist meist gleichberechtigt mit dem Ensemble. Das Werk mit der doppelten Widmung »Für András Schiff / In memoriam Witold Lutosławski« enthält auch – innerhalb des zweiten Satzes – zwei Solokadenzen des Klaviers, die den Namen »cadenza contrapuntistica« tragen. Die Kontrapunktik Klaus Hubers fokussiert besonders die genannte metrische Vielschichtigkeit. Eine weitere, bisher noch nicht genannte Möglichkeit der Unterscheidbarkeit von Solo- und Orchesterpart nutzt Maurice Ohana in seinem 1980 entstandenen »Concerto pour piano et orchestre«  : Das Klavier spielt metrisch frei, gleichsam improvisierend, demgegenüber ist der Orchestersatz streng metrisch gebunden organisiert. Improvisatorischen Charakter hat auch bereits die eröffnende Klavier-Solokadenz. Eine solche an den Beginn des Werkes zu stellen, ist ein weiteres Mittel, mit dem eindeutig die führende Rolle des Solisten festgelegt wird. Nicht nur durch die Tatsache, dass im Orchester Mikrotöne verwendet werden, im Klavierpart hingegen nicht, wird die Abgrenzung von Solist und Orchester in Georg Friedrich Haas’ »Klavierkonzert« deutlich, sondern auch durch den eindeutig aktiveren, virtuoseren Part des Pianisten. Durch die initiierende Rolle des Klaviers »erfüllt« der

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Komponist somit quasi den »Anspruch« und die Erwartungshaltung des Publikums, die er durch die Wahl des Titels selbst weckt. Gleichzeitig unterscheidet sich dadurch sein Klavier- auch vom ebenso direkt benannten, 1998 entstandenen »Violinkonzert«. (Letzteres stellt eine konfrontative Auseinandersetzung des Solisten mit dem Kollektiv der Orchestermusiker dar, am Ende »siegt« das Orchester.) Auch Beat Furrer bezeichnet sein 2007 entstandenes Werk direkt als »Konzert für Klavier und Orchester«. Der Pianist nimmt darin verschiedene Funktionen ein, abgesehen von seiner solistischen Rolle wirkt er als gleichberechtigter Partner oder aber als Teil des Orchesters. Zwischen diesen verschiedenen »Hierarchieverhältnissen« wird rasch und oft gewechselt. Wie bei Feldmans »Piano and Orchestra« (siehe Detailanalyse) gibt es jedoch auch ein Orchesterklavier, das in einen besonderen Dialog zum Solisten tritt. Somit kommt es gleichsam zu zwei Kommunikationsebenen (Solist  – Orchester, Solist  – Orchesterklavier). Am Ende des Werkes hat der Solist zwar die Führungsrolle inne, bemerkenswerterweise ist es aber das Orchesterklavier, welches das Konzert beendet. Mitunter wird ein Werk vom Komponisten selbst als »Klavierkonzert« bezeichnet, das »Orchester« jedoch nur mit wenigen Instrumenten besetzt. Dies ist beispielsweise bei Erich Urbanners »Klavierkonzert ›76‹« der Fall. Obwohl der Solist von nur elf Instrumenten begleitet wird, agieren diese Instrumente vergleichbar einem größer besetzten Orchester. Ihre Rolle ist vorwiegend begleitend, nur in den zumeist kurzen Passagen, in denen der Solist pausiert, bekommt der Orchesterpart eigenständigeren Charakter, ebenso in der Violin-Kadenz, die direkt vor der langen Klavier-Solokadenz steht. Bei Luciano Berios Werk »points on the curve to find …« (1974) handelt es sich zwar um ein Werk »for piano and 22 instrumentalists«, Letztere haben jedoch eine einem Orchester gleichkommende Funktion (ähnlich den oben besprochenen Werken Hubers und Urbanners). Die Rolle des Klaviers als Solist wird in diesem Fall bereits durch den Aufstellungsplan deutlich. (Das Klavier soll im Vordergrund, in der Mitte der Bühne positioniert werden.) Trotz der langen Einstimmigkeit des Soloparts (bis kurz vor Zi. 11) und einer dadurch stärkeren Ähnlichkeit zu allen übrigen beteiligten Instrumenten ist das Klavier als Solist dennoch durchwegs erkennbar. Dies gelingt Berio einerseits durch den beinahe kontinuierlichen Einsatz des Pianisten (alle anderen Instrumente pausieren öfter), andererseits durch die Tatsache, dass das Klavier – wenn auch nur kurz – das Werk alleine eröffnet und durch das überwiegende Spiel im dynamischen Vordergrund. Im Verlauf des Stückes kommt es außerdem zu einer immer stärkeren Ausprägung der von Solist und »Orchester« verwendeten, voneinander verschiedenen Materialien. Berios »Concerto« für zwei Klaviere und Orchester (1972/73) trägt zwar das Wort »Konzert« bereits im Titel, hat aber nicht nur durch die beiden Solisten, sondern auch

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durch den Einsatz eines zusätzlichen Orchester-Klaviers und einer elektrischen Orgel eine völlig andere Konstellation als die übrigen hier besprochenen Werke. Auch formal wird bereits durch das eröffnende sechsminütige Solo der beiden Pianisten ein völlig anderer zeitlicher Maßstab gewählt, der mit anderen Klavierkonzerten nicht vergleichbar ist. Demgegenüber agieren die beiden Solisten in Johannes Maria Stauds Werk »Im Lichte. Musik für zwei Klaviere und Orchester« eher als Einheit, die Komposition wäre daher durchaus in eine Reihe mit Werken für ein Soloklavier und Orchester zu stellen. Für Staud steht eine Verschmelzung der beiden Soloparts im Vordergrund. Auf diese Weise konnte er die kompositorischen Einschränkungen, die es notwendigerweise bei nur einem Pianisten gibt, etwas erweitern. Dennoch lässt sich das Werk ebenfalls nicht auf eine klare Beziehung von Solist(en) und Orchester reduzieren, da Letzteres auch eine Celesta enthält, die direkt mit den beiden Klavieren interagiert. Nicht nur durch das Vorhandensein eines zweiten Klaviersolisten kommt es zu besonderen Konstellationen innerhalb eines Klavierkonzertes, sondern auch durch das Einbeziehen eines Tonbandes, von Elektronik oder aber  – wie dies in Clemens Gadenstätters »comic sense« (2003) der Fall ist – durch die zusätzliche Verwendung eines Midi-Keyboards. Dieses wird ebenfalls vom Solo-Pianisten gespielt, der »echte« Klavierklang wird dadurch synthetisch imitiert und erhält »jene Aura des Echten, Natürlichen zurück, deren er eigentlich längst und zu Recht verlustig gegangen ist«, so Walter Weidringer.4 Zugleich entstehen vielfältige Möglichkeiten der klanglichen Interaktion mit dem Orchester. Gadenstätter spielt in diesem Werk auf mehrfacher Ebene mit gesellschaftlichen (und eigenen) Erwartungen, nicht zufällig wählt Weidringer mit »Aura« einen Begriff, der von Helmut Lachenmann oft verwendet wurde. Eine kritisch hinterfragende Haltung ist für Gadenstätters Kompositionen ebenfalls typisch, im Falle von »comic sense« bezieht sich dieses Hinterfragen auch, aber nicht vorwiegend auf die Gattung Klavierkonzert. »Resurrection« nennt Krzysztof Penderecki sein als Reaktion auf die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 entstandenes, mit u. a. vier Perkussionisten und drei zusätzlichen Trompeten im Saal groß besetztes Werk. Er stellt es somit in eine Reihe von Kompositionen, die er als Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen schrieb (z. B. »Dies irae« oder »Threnos«). Zwar ist es für den Komponisten wichtig, dass diese außermusikalischen Inhalte auch tatsächlich für den Hörer deutlich werden, daneben setzt sich jedoch Penderecki in diesem Werk mit einem von den meisten übrigen Komponisten dieser Zeit nicht beachteten Prinzip (nicht nur) klassisch-romantischer Klavierkonzerte auseinander  : mit der Reprise. 4 Weidringer, Walter  : »Komik. Urernst«, in  : Falter Nr. 43a/03, Wien, 2003, S. 22

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Das Orchester exponiert zu Beginn des Werkes ein leicht fass- und wiedererkennbares Thema, das ab Zi. 1 vom Klavier übernommen und von beiden weiterentwickelt wird. Oft kommt es dabei zwischen den beiden gleichberechtigt agierenden Partnern zu Dialogen. Nach einem gemeinsam erreichten Höhepunkt (Zi. 44) folgt eine vom Orchester mehrfach kurz kommentierte Klavier-Solokadenz. Kurze Zeit später reißt eine erneute Verdichtung des Geschehens plötzlich ab  – es folgt eine Reprise des Anfangsthemas. (Penderecki vertauscht hier – ebenfalls nicht ohne Traditionsbezug – die Rolle von Solist und Orchester gegenüber dem Beginn.) Dieses durchaus »traditionelle« Vorgehen wird allerdings in weiterer Folge verselbständigt  : Noch zweimal kommt es zu einer Steigerung bis zu einem Höhepunkt und dem nachfolgenden Einsetzen des Anfangsthemas. Erst die insgesamt vierte Steigerung bildet das Ende des Werkes. Als ein Beispiel für ein Klavierkonzert, das im Hinblick auf einen bestimmten Interpreten konzipiert wurde, sei Isabel Mundrys Werk »Panorama ciego« (2001) genannt. Mit Wolfgang Rihms »Sotto voce. Notturno für Klavier und kleines Orchester« aus dem Jahr 1999 hat es den Pianisten Daniel Barenboim als Widmungsträger gemeinsam. Interessant ist dabei, dass es im Falle Rihms nicht nur Barenboims virtuose Fähigkeiten waren, die ihn beim Komponieren inspirierten, sondern auch dessen besonders kunstvolles Spiel im leisesten dynamischen Bereich. Der Begriff der Virtuosität wird hier also nicht in stets übersteigerter Form verstanden, sondern gleichsam in der Gegenrichtung erweitert. Mundry hingegen »nützt« die Doppelbegabung Barenboims als Pianist und Dirigent, um »ein Werk aus dem Geist klassischer Praxis heraus« zu schreiben, »bei dem das Orchester vom Solisten aus dirigiert wird«.5 Beispiele für Werke, die zwar als Besetzung nicht »Klavier und Orchester« verlangen, aber trotzdem die erwähnten »Kennzeichen« eines Klavierkonzertes aufweisen, wurden bereits genannt. Bei Olivier Messiaens Komposition »Un vitrail et des oiseaux« aus dem Jahr 1986 handelt es sich um den umgekehrten Fall  : Der Komponist gibt als Besetzung »piano solo et petit orchestre« an, tatsächlich aber übernimmt das Klavier keineswegs solistischere Aufgaben als beispielsweise die Flöte oder die Klarinette (weder in den drei Kadenzen noch im übrigen Werk). Das dreißig Jahre zuvor entstandene Werk »Oiseaux exotiques« wurde von Messiaen selbst im Vorwort der Partitur als »beinahe ein Klavierkonzert, mit drei kleinen und drei großen Kadenzen«6 bezeichnet. Auch in diesem Werk spielen jedoch die Klarinetten und das Xylophon eine ebenso wichtige, solistische Rolle. Wie in »Un 5 Schneider, Ilse  : »Isabel Mundry  : ›Panorama ciego‹«, in  : Österreichische Musikzeitschrift 59 (1), Jänner 2004, S. 45–47, hier S. 45 6 Messiaen, Olivier, in  : Vorwort zur Partitur von »Oiseaux exotiques«, UE 34301

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vitrail et des oiseaux« verwendet Messiaen keinerlei Streicher und nur wenige Blechbläser. In »Reveil des oiseaux« für Soloklavier und Orchester (1955, revidiert 1988) hingegen kommt ein etwas größeres Orchester (14 Holzbläser, je zwei Hörner, Trompeten und Perkussionisten, Celesta, Xylophon, Glockenspiel und Streicher) zum Einsatz. Das Werk beginnt und endet mit einer langen Klavier-Solopassage,7 doch auch in dieser Komposition legt der Komponist das Hauptaugenmerk auf die Verarbeitung von Vogelstimmen, eine Auseinandersetzung mit der »Gattungstradition« hingegen unterbleibt. Auch wenn Gérard Grisey in seinem Werk »Vortex temporum I, II und III« (1994– 96) in der Besetzungsangabe »pour piano et cinq instruments« das Klavier gesondert erwähnt, so verwendet er es praktisch im gesamten 41-minütigen Werk als Ensemblemitglied, nicht als Solist. (Einzig am Ende des ersten Satzes, T. 68–93, gibt es einen langen, unbegleiteten Solo-Abschnitt des Klaviers.) Dies wird auch durch die Aufstellung auf der Bühne deutlich, wo das Klavier im Hintergrund platziert wird. Während der in seinen übrigen Werken gerne mit Mikrotonalität arbeitende Komponist Georg Friedrich Haas in seinem »Klavierkonzert« die Zwölftemperierung des Klaviers beibehält, stimmt Grisey vier Tonhöhen um einen Viertelton tiefer. Der Unterschied zwischen Klavier und Ensemble wird dadurch zusätzlich verringert. Nicht immer ist eine – relativ gesehen – größere Ereignisdichte (wie beispielsweise in »Antiphonies« von Harrison Birtwistle) maßgeblich für die Kategorisierung eines Werkes. Innerhalb von Klaus Langs »The book of serenity« (2007) kann man zwar im Klavierpart gelegentlich mehr Bewegung innerhalb des ansonsten sich zumeist auf langgezogene, unbewegte Klangflächen beschränkenden Geschehens beobachten. Dabei handelt es sich jedoch vorwiegend um Tonrepetitionen, die auch aus dem Unvermögen des Klaviers, lange Töne auszuhalten, resultieren können. Tatsächlich aber kann man dieses Werk als »Anti-Klavierkonzert« bezeichnen  : Das Klavier bildet einen (Negativ-) Maßstab für die übrigen Instrumente, da es stets die leiseste Dynamik übernehmen soll. Auch alle anderen Instrumente spielen zwar in leisen dynamischen Stufen, jedoch »lauter« als das Klavier. Die Platzierung des Klaviers im Hintergrund der Bühne zeigt ebenfalls seine Bedeutung klar an. Betrachtet man Titel und Besetzungsangabe von Salvatore Sciarrinos Werk »Clair de lune op. 25« für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1976, das ausdrücklich ein »pianoforte solista« vorschreibt, so kann man auch aufgrund der Tatsache, dass das Klavier tatsächlich als Solist auftritt, ruhigen Gewissens von einem »Klavierkonzert« sprechen. Allerdings stellt sich bei diesem Werk die Frage, ob nicht eine Dauer von nur fünf Minuten, d. h. einer Länge, die üblicherweise eher einem Teilsatz, nicht aber 7 Nur die letzten Takte werden danach von einzelnen Orchesterinstrumenten bestritten.

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dem gesamten Stück entspricht, diese Bezeichnung negiert. Der Klavierpart ist virtuos (wenn auch durchwegs im p/pp-Bereich gehalten), das Orchester in mittlerer Stärke (ohne Perkussion) besetzt, das Klavier agiert wie erwähnt eindeutig als Solist – zu einer formalen Entwicklung kommt es jedoch minimal. Ab T. 5 gibt es nur wenige Veränderungen, ab T. 52 folgt eine wörtliche Wiederholung von T. 13 ff., die dynamische Entwicklung bleibt stets auf kleinräumige Crescendi und Decrescendi beschränkt. In T. 77 reißt der musikalische Fluss plötzlich ab, in den letzten acht Takten des Werkes wird das zuvor verwendete Material lakonisch fragmentiert. Sciarrinos Werk stellt somit trotz der »Erfüllung« der oben genannten »Kriterien« eines Klavierkonzertes genau diese Merkmale infrage. Bei Klavierkonzerten handelt es sich nicht nur zumeist um eine repräsentative Gattung, in einzelnen Fällen wird sie selbst zu repräsentativen Zwecken genutzt. »Tirol Concerto« für Klavier und Orchester nennt Philip Glass seine im Jahr 2000 entstandene Komposition. Die Einbeziehung von Tiroler Volksliedern hängt dabei direkt mit einem der Auftraggeber zusammen  : der »Tirol Werbung«. Außerhalb des Konzertbetriebes werden Ausschnitte des Werkes als Untermalung von Filmen und Werbespots über Tirol verwendet. Glass’ Werk zeigt besonders, in welch breitem Spektrum sich die Gattung heutzutage und in den vergangenen Jahrzehnten bewegt  : kommerziell orientierte, pragmatische, nihilistische, kritisch hinterfragende, minimalistische, traditionsverweigernde, Tradition aufgreifende und weiterführende, tonale, atonale und nicht einordenbare Komponisten – sie alle finden in dieser Gattung Aspekte, mit denen sie sich auseinandersetzen wollen und identifizieren können. Sie alle finden eine Projektionsfläche für ihre so unterschiedlichen ästhetischen Vorstellungen, sie alle treten aber auch in Kommunikation mit der Vielzahl von Komponisten, die sich bereits vor ihnen ähnlichen Aufgaben gestellt haben. Kriterien der Analyse Jede Auswahl, sei sie auch noch so umfangreich und wohlbegründet, birgt die Gefahr der Beliebigkeit in sich. Auch die Auswahl der im Folgenden detailliert besprochenen Werke kann sich dieser Gefahr nicht entziehen. Es wurde dabei vor allem auf stilistische Vielfalt und unterschiedliche Grundeinstellungen der Komponisten, also auf verschiedenartigste Zugänge zu einer gleichartigen Aufgabenstellung geachtet. Trotzdem handelt es sich in allen Fällen um europäische Komponisten, die in einem engen Traditionszusammenhang mit der westlichen Kunstmusik stehen. Als zeitliche Abgrenzung wurde ein relativ enger Zeitraum von rund 25 Jahren gewählt. Durch die in etwa gleichzeitig geschriebenen Werke Helmut Lachen-

Allgemeine Einführung

manns, György Ligetis und Witold Lutosławskis kommt es zu einem Schwerpunkt der 1980er-Jahre. Ein möglichst großer Querschnitt von Komponisten verschiedener Herkunftsländer war kein entscheidendes Auswahlkriterium. Trotz einer großen stilistischen Bandbreite wurden jedoch ausschließlich Komponisten ausgewählt, denen ein reflektierter und vielfach auch gebrochener Umgang mit »Tradition« gemeinsam ist. Ihre Harmonik ist atonal, auch wenn gelegentlich tonale Bruchstücke mit einbezogen werden. Die Kriterien, anhand deren die Analysen der ausgewählten Werke vorgenommen wurden, leiten sich einerseits aus den bereits beschriebenen Möglichkeiten der Ausgestaltung des Verhältnisses von Solist und Orchester ab. Andererseits wurde versucht, auf die jeweils verschiedenen Prämissen und ästhetischen Grundhaltungen jedes einzelnen Komponisten einzugehen. Dazu gab es allerdings ausgesprochen unterschiedliche Quellenlagen, was Äußerungen der Komponisten selbst, aber auch Analysen und Kommentare anderer Autoren betrifft. Im Falle von Helmut Lachenmann, Witold Lutosławski und György Ligeti existierte eine Vielzahl solcher Quellen zur Ästhetik, historischen (Selbst-)Positionierung, Entwicklung des Schaffens, Beschreibungen anderer Werke, besonders anderer Solokonzerte, aber – gerade im Falle Ligetis – auch zu den Klavierkonzerten im Speziellen. Als krasses Gegenbeispiel dazu sind die Werke Michael Jarrells und Gerd Kührs zu nennen, wobei gerade zu Letzterem beinahe keine Sekundärliteratur aufzufinden war. Dadurch war ich veranlasst, mit dem Komponisten direkt in Kontakt zu treten, was klarerweise zu einem von den übrigen Analysen unterschiedlichen methodischen Ansatz geführt hat. Andererseits ist das Aufgreifen der von Gerd Kühr (in einem Gespräch mit der Verfasserin, Graz, 2007) genannten Aspekte des Werkes innerhalb der Analyse desselben durchaus vergleichbar mit schriftlichen Äußerungen anderer Komponisten (in Werkkommentaren, -einführungen u. a.) bzw. mit dem Einbeziehen von Skizzen in die analytische Forschung. Letzteres Verfahren wurde jedoch für diese Arbeit nicht angewandt, da nicht der Prozess der Werkentstehung, sondern das klingende Endresultat und seine Position in Bezug auf ältere, aber auch in der gleichen Zeitepoche entstandene Klavierkonzerte im Vordergrund stehen sollte. Der Einblick in Skizzen zeigt zwar mitunter kompositorische Verfahren auf, die allein aufgrund des Endresultates (der Partitur) nicht rekonstruierbar sind  ; gleichzeitig aber beschränkt man sich dadurch als Analytiker eher auf die kompositionstechnische Seite. In der vorliegenden Arbeit wurde hingegen versucht, die Rolle des Hörers in die Analyse mit einzubeziehen und die ausgewählten Werke vorwiegend nach miteinander vergleichbaren Kriterien zu betrachten.

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra« »Schreiben Sie niemals einen Artikel über meine Musik, weil Sie sich ihr höchstens annähern könnten.«8

Voraussetzungen der Analyse Eine Analyse einer Komposition Morton Feldmans bringt manche besonderen Herausforderungen mit sich. Zum einen handelt es sich um eine Musik, die – dem Hörer und dem Analytiker  – wenige Orientierungspunkte bietet. Zwar haben sich etliche Autoren über Feldman geäußert, tatsächliche Analysen gibt es jedoch nur in geringem Maße. Außerdem findet man zwar authentische Äußerungen des Komponisten selbst, doch sah er es nicht als seine Aufgabe an, durch Werkkommentare und die Darlegung von ästhetischen Ansichten den (analytischen) Weg zu seinen Kompositionen zu erleichtern. Im Gegensatz dazu wollte er vermutlich eher potenzielle Analytiker davon abhalten, sich seiner Musik mit herkömmlichen Methoden und Sichtweisen zu nähern. »Das ist das schlimmste Denken theoretischer Art, Hierarchien«9, so Feldman in seiner Middelburg Lecture. Diese besondere Abneigung Feldmans ließe allein noch nicht den Schluss zu, dass es in seiner Musik keine logischen Zusammenhänge gibt. Wenig später jedoch äußert sich Feldman gerade dazu  : »In dem Moment, wo man eine meiner Noten verläßt, um zu meiner nächsten Note zu kommen, ist man als Musikwissenschaftler in Schwierigkeiten. (Gelächter) Weil ich mich nicht mit Musik befasse, die musikalischer Logik zu folgen scheint.«10

  8 Feldman, Morton  : »Middelburg Lecture«, in  : Metzger, Heinz-Klaus und Riehn, Rainer (Hg.)  : MusikKonzepte 48/49, Morton Feldman, München 1986, S. 3–63, hier S. 54   9 Ebda., S. 17 10 Ebda., S. 25

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Was genau aber unter den Begriffen »Logik«, »Hierarchien«, »Zusammenhang« u. ä. zu verstehen ist, bleibt nicht nur in den Aussagen des Komponisten selbst, sondern auch in den vielen Äußerungen anderer über seine Musik unklar. Wenn beispielsweise Siegfried Mauser schreibt  : »Feldman setzt an die Stelle traditioneller Kategorien, wie Logik der Verarbeitung, damit fixierte hierarchische Verhältnisse, Abgrenzung formaler Einzelteile und Funktionen, einen hierarchie- und funktionslosen Klang-Zeit-Raum. Die meisten seiner Werke beginnen nicht eigentlich und schließen nicht eigentlich, obwohl minimale klangstrukturelle Ereignisse dennoch ein Anfangen bzw. ein Aufhören nicht gänzlich willkürlich erscheinen lassen«11, so bleibt diese Art der Herangehensweise an Feldmans Werke meiner Ansicht nach an ihren eigenen Grenzen stehen. Diese Grenzen der herkömmlichen Analysemethoden lassen Gianmario Borio folgende Feststellung machen  : »Die Werke Feldmans gelten bis heute als unanalysierbar. Keine der bekannten Methoden  – von der Reihen-Analyse und Untersuchung der Modi bis zur Set-theory – scheint im Stande, nur einen vagen Eindruck über die Werkkonzeption und die angewendeten Verfahren zu vermitteln. Das Scheitern der Analyse führt zur Klassifikation dieser Stücke in Kategorien wie ›notierte Improvisation‹ oder ›zusammenhanglose Musik‹.«12 Keineswegs möchte ich mit dem Auswählen dieser Zitate behaupten, meine an diese Vorbemerkungen anschließenden Analyseversuche seien die Lösung für diese Probleme bei der Betrachtung Feldman’scher Werke. Dennoch bin ich der Meinung, dass es die Aufgabe von Analyse sein sollte, sich selbst und ihre Methoden im Augenblick des Betrachtens eines Werkes zu erfinden und zu entwickeln. Anders formuliert  : Mit jedem Werk (auch bei verschiedenen Werken ein und desselben Komponisten) müssen die Werk-zeuge neu erfunden werden. »Nun muß der analytische Diskurs sich damit bescheiden, Phänomene sekundärer Bedeutung aufzudecken«, schreibt Marion Saxer resignierend.13 Ebenso wie man provokant infrage stellen könnte, ob Analyse bisher stets »primäre Phänomene« aufdecken konnte, bin ich auch der Ansicht, dass eine solche Bescheidenheit zu viel des Guten wäre. Der Behauptung, in Morton Feldmans Werken seien weder Logik noch sinnstiftender Zusammenhang aufzufinden, möchte ich durch folgenden Vergleich widersprechen  : Würde ein Maler auf ein Bild beispielsweise nur eine rote und eine blaue Farbfläche gemalt haben, würden vermutlich die meisten Betrachter des Bildes die beiden Farben als aufeinander bezogen empfinden. Diese Vorstellung kann man 11 Mauser, Siegfried  : »Zur Konzeption der musikalischen Zeit in der Musik Morton Feldmans«, in  : Kolleritsch, Otto (Hg.)  : Die Neue Musik in Amerika. Über Traditionslosigkeit und Traditionslastigkeit, Wien/Graz 1994, S. 156–163, hier S. 162 12 Borio, Gianmario  : Musikalische Avantgarde um 1960. Entwurf einer Theorie der informellen Musik, Laaber 1993, S. 149f. 13 Saxer 1994, S. 153

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

auch auf die Musik übertragen  : Selbst wenn ein Komponist noch so disparate Klänge oder Ereignisse innerhalb eines Stückes verwendet, so kann man meiner Ansicht nach in jedem Fall von einem Bezug dieser Klänge zueinander sprechen, sogar unabhängig von erkennbaren Zusammenhängen im Material, der Tonhöhenauswahl, der Instrumentation, des Gestus, der Spielweise oder anderer Parameter. Solche Zusammenhänge beispielhaft aufzuzeigen, ist eines der Ziele meiner Analyse. Den Unterschied zwischen diesen Zusammenhängen und dem, was man üblicherweise als »kausale Logik« bezeichnen würde, beschreibt Herman Sabbe folgendermaßen  : »This is not to deny that there are connections among successive elements and figures in Feldman’s music. There are, on the contrary, most definitely and continually. Only, they are not motivic – at least not in the original, etymological sense of ›motif‹ as a cause for motion, i. e. for immediate univocally, directed action.«14 Ob beispielsweise die Bezeichnung der des’’- Repetition des Soloklaviers zu Beginn von »Piano and Orchestra« als »Motiv« sinnvoll und für die Analyse weiterführend wäre, ist fraglich. In diesem Fall wie auch bei den bereits genannten anderen Begriffen (»Zusammenhang«, »Logik« etc.) ist es leichter, deren Unzulänglichkeit in der Beschreibung Feldman’scher Werke festzustellen, als sie tatsächlich genau zu definieren. Ein wichtiger Begriff fehlt bis jetzt in diesem Zusammenhang, nämlich der des »Systems«. Sebastian Claren schreibt dazu  : »Tatsächlich besteht genau darin, daß Feldman auch in seinem Spätwerk keine Form von System verwendet, das ihn vom Anfang des Stückes bis zu seinem Ende führt, so daß der Verlauf der Komposition von vornherein festgelegt ist, ein wesentlicher Unterschied zu konventionellen Formen von Konzeptualisierung  ; in dieser Hinsicht hält Feldman an seinen in den sechziger Jahren formulierten Grundsätzen fest, nach denen eine Komposition nur dann abstrakt genannt werden kann, wenn sie nicht eine feststehende Konstruktion zum Gegenstand hat, sondern ohne ein im voraus definiertes Ziel in der Zeit voranschreitet. Dies ist auch der Grund, daß alle Konstruktionsverfahren, die Feldman in seinen späten Kompositionen einsetzt, so beschaffen sind, daß sie nicht im voraus festgelegt werden müssen, sondern während der kompositorischen Arbeit entschieden und an einem beliebigen Punkt des musikalischen Verlaufs durch neue Verfahren ersetzt werden können, so daß Feldman weiterhin wie seine Vorbilder Mondrian und Varèse ›im Material‹ arbeitet und nicht außerhalb seines Werkes steht.«15 Dieser Ansicht stimme ich uneingeschränkt zu, sie stützt sich auch auf Äußerungen Feldmans selbst. Dadurch steht es dem Komponisten frei, in jedem Moment des Kompositionsprozess 14 Sabbe, Herman  : »The Feldman Paradoxes. A Deconstructionist View of Musical Aesthetics«, in  : DeLio, Thomas (Hg.)  : The Music of Morton Feldman, Westport 1996, S. 9–15, hier S. 10 15 Claren, Sebastian  : Neither. Die Musik Morton Feldmans, Berlin 2000, S. 515

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

einen anderen Weg einzuschlagen. Im Falle von »Piano and Orchestra« ist etwa die plötzlich auftretende Polyphonie in den Takten 277 ff. ein Element, das – oberflächlich betrachtet – keinen Zusammenhang mit der bereits zuvor erklungenen Musik aufweist. Anstatt in traditionellen oder vorgefertigten Richtungen zu denken, behält er sich die Freiheit vor, »querfeldein« zu komponieren. Marion Saxer zieht in dieser Hinsicht Parallelen zwischen »Piano and Orchestra« und anderen Werken, wenn sie über die 1973 entstandene Komposition »String Quartet and Orchestra« schreibt  : »Zwar schafft die tongenaue Wiederkehr des Ausgangsgedanken in der Mitte des Werkes (…) und am Schluß (…) eine formale Klammer, die Idee eines übergreifenden gerichteten Prozesses ist hier jedoch – wie auch in den Folgewerken Piano and Orchestra (28. 2. 1975) und Oboe and Orchestra (17. 3. 1976) – aufgegeben. (…) Noch deutlicher ist diese Tendenz an dem 1976 entstandenen Orchestra zu beobachten.«16 Entscheidend ist für Feldman hingegen der Klang, die zeitliche Entfaltung seines Eigenlebens  : »Für Feldman ist der Klang bereits in sich Dauer  ; die musikalische Zeit ist nicht etwas, das mit abstrakten Prinzipien zu strukturieren ist, sondern koinzidiert mit der realen Zeit der Klänge. Diese Zeitauffassung bestimmte eine Kritik an der traditionellen musikalischen Logik  ; es handelte sich nun darum, die Klänge durch einfaches Klingen-lassen quasi in einem Naturzustand leben zu lassen«, so Gianmario Borio.17 Wenig später benennt Borio diesen fundamentalen Unterschied zum seriellen Denken als »Paradigmenwechsel von einer hierarchisch konstituierten, generativ sich abwickelnden Logik zu einer azentrischen, adirektionalen, mehrperspektivischen Werkgestaltung«.18 Diese Formulierung spiegelt das Positive der kompositorischen Position Feldmans im Vergleich zu seinen Zeitgenossen wie auch im Vergleich mit Werken früherer Jahrhunderte wider  : Das Entscheidende scheint mir ebenfalls nicht das Fehlen von »Zusammenhang«, »Logik« oder »Systemen« zu sein, als vielmehr eine Öffnung des Komponisten wie  – im Idealfall  – des Hörers hin zu einem (sogar für Feldman selbst) unvorhersehbaren, aber nicht minder spannenden Werkverlauf. So kommt es auch zu dem bereits von Martin Erdmann festgestellten ständigen »Schwanken und Vermitteln zwischen Losigkeit und Zusammenhang«.19

16 Saxer, Marion  : between categories. Studien zum Komponieren Morton Feldmans von 1951 bis 1977, Saarbrücken 1998, S. 233 17 Borio 1993, S. 153 18 Ebda., S. 159 19 Erdmann 1986, S. 79

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Allgemeine Annäherung Morton Feldmans Werk »Piano and Orchestra« entstand 1975, zu einer Zeit, in der der Komponist auffallend häufig groß besetzte Werke schrieb. Hatte er bis zur Mitte der 1960er-Jahre kammermusikalische Besetzungen bevorzugt, so wurde die Besetzung ab den späten 1960er-Jahren immer mehr vergrößert.20 Ein Grund dafür ist die zunehmende öffentliche Anerkennung Feldmans zu dieser Zeit  ; in den 1970er-Jahren bekam er u. a. mehrere Kompositionsaufträge für Orchesterwerke. Zugleich aber bot ihm das Orchester auch die Möglichkeit, neue Klänge zu erforschen, mit einer für ihn ungewohnten Fülle von Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Instrumente zu experimentieren und so neue kompositorische Wege zu erkunden. Anstelle eines Titels oder der Bezeichnung »Concerto for piano and orchestra« wählte Feldman die bloße Besetzungsangabe »Piano and Orchestra«. Damit steht dieses Werk in einer Reihe von Kompositionen, die von »Cello and Orchestra« (1972) bis »Piano, Violin, Viola, Cello« (1987) reicht. Die bloßen »Aufzählungen der verwendeten Instrumente bzw. Klangkörper21 anstelle eines Titels, der auf den strukturellen, poetischen, biografischen oder gattungsgeschichtlichen Hintergrund eines Werkes verweisen würde, spiegeln Feldmans generelle Art der Titelauswahl seiner Werke wider. Selbst scheinbar aussagekräftigere Titel wie etwa »The Viola in My Life« oder »Coptic Light« sind für die dazugehörigen Werke bzw. das Verständnis des Hörers entbehrlich. Zudem weisen sie nicht immer auf ein nur für das jeweilige Werk charakteristische Spezifikum hin, wie auch Oliver Wiener meint  : »Überhaupt sind Kompositionstitel Feldmans sehr disparat  : Neben verschlüsselten Andeutungen stehen Widmungen und bare Instrumenten-›Angaben‹. Titel wie Crippled Symmetry (1983) haben konziseren Charakter, weisen aber auf einen technischen Aspekt hin, der nicht unbedingt nur auf das betitelte Stück zutreffen muß.«22 »Piano and Orchestra« ist dem Solisten der Uraufführung am 22. 11. 1975 ge­ wid­­met,23 dem australischen Pianisten Roger Woodward. Feldman hatte Woodward kennengelernt, als er zum ersten Mal an der Dartington Summer School in England unterrichtete.24 Die Orchesterbesetzung umfasst dreifache Holzbläser, dazu jeweils ein Wechselinstrument  : drei Flöten und Piccoloflöte, drei Oboen und Englischhorn, drei Klarinetten und Bassklarinette, drei Fagotte und Kontrafagott. Demgegenüber sind die Blech20 Vgl. dazu Saxer 1998, S. 211 21 Claren 2000, S. 93–95 22 Wiener, Oliver  : Morton Feldman »The Viola in My Life« (1970–71), Saarbrücken 1996, S. 39 23 Auch »Cello and Orchestra« ist dem Cellisten der Uraufführung, Siegfried Palm, gewidmet. 24 Vgl. dazu Claren 2000, S. 538

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bläser mit je drei Trompeten und Posaunen, zwei Hörnern sowie einer Tuba weniger stark besetzt. Die Größe der Streichergruppe ist nicht genau angegeben. Zusätzlich kommen Harfe und Schlagwerk vor, für Letzteres werden zwei Spieler benötigt. Die verwendeten Schlaginstrumente lassen sich in zwei Gruppen unterteilen  : Zu den Instrumenten mit unbestimmter Tonhöhe zählen vier Triangeln, zwei Becken, Gong, Tenor- und große Trommel, Maracas und Woodblock. Mit bestimmten Tonhöhen werden je zwei Glockenspiele und Marimbaphone, ein Vibraphon, Röhrenglocken und Pauken verwendet. Der Umgang Feldmans mit dem Schlagwerk hat sich im Laufe der 1970er-Jahre verändert, hin zu einer immer wichtigeren und tragenderen Rolle des Schlagwerks innerhalb des gesamten Orchesters. Eine Besonderheit der Orchesterbesetzung stellt aber das Klavier dar (welches fallweise auch zur Celesta wechselt)  ; dadurch existiert im Orchester ein direktes Gegenstück zum Soloklavier. Zugleich bietet es die Möglichkeit einer zusätzlichen Ebene der Beziehung zwischen Solist und Orchester. Das Orchesterklavier tritt in ganz unterschiedlichem Verhältnis zum Soloklavier auf  : 1. als Erweiterung des Soloklaviers (z. B. wäre in T. 5 der gemeinsame Akkord vom Solisten alleine nicht spielbar gewesen) 2. als Imitation des Soloklaviers (z. B. T. 13)25 3. als Verdopplung des Soloklaviers (z. B. T. 132) 4. als Teil des Orchesters, d. h. ohne besonderen Bezug zum Soloklavier (z. B. T. 111) 5. gleichberechtigt (z. B. T. 248–259) Gemeinsam mit diesen wechselnden Funktionen des Orchesterklaviers gibt es auch stets unterschiedliche Ebenen der Kommunikation zwischen Solist und Orchester. Die vielfältigen Möglichkeiten an Bezügen zwischen Solist, Orchester und Orchesterklavier werden an späterer Stelle und anhand konkreter Beispiele noch näher erläutert. Während des gesamten einsätzigen Werkes gibt es keine Tempoänderung, das Anfangstempo ( = 63–66) mit dem Zusatz »extremely quiet, without the feeling of a beat« bleibt durchgehend konstant. Auch die übrigen zwischen den Jahren 1972 und 1979 entstandenen Solokonzerte Feldmans haben in etwa dasselbe Grundtempo.26 Der Zusatz »without the feeling of a beat« wird durch die ständig wechselnden Taktarten bestärkt. Wie in den Werken »Cello and Orchestra« oder »Oboe and Orchestra« hat 25 Der dadurch entstehende Raum-Effekt spielt dabei wohl ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle. 26 »Cello and Orchestra« : »Extremely quiet ( = 56–63)«, »Oboe and Orchestra« : »Extremely soft,  = c. 63«, »Flute and Orchestra« : » circa 66«, »Violin and Orchestra« : » = 63–66«

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jeder Takt eine andere Länge, nur gelegentlich erscheinen kurze Abschnitte (max. fünf Takte lang), in denen eine Taktart wiederholt wird, so z. B. in T. 38–42 (5/4), T. 135–138 (5/4) oder in T. 167–168 (5/8). Eine abstrakte, d. h. vom musikalischen Geschehen unabhängige Systematik in der Auswahl der Taktarten ist für mich nicht erkennbar. Innerhalb einer Bandbreite von 3/16 bis 3/2 kommen im Zähler der Taktarten ausschließlich die Zahlen 2, 3, 5 oder 7 vor, insgesamt verwendet Feldman folgende Taktarten  : 3/16 , 5/16 , 7/16 2/8 , 3/8 , 5/8 , 7/8 2/4 , 3/4 , 5/4 2/2 , 3/2 Sebastian Claren meint im Hinblick auf den »Einsatz der Taktwechsel in den frühen siebziger Jahren«, dass die ständige Veränderung der Taktart zum Ziel hat, »eine flexible rhythmische Bewegung zu garantieren, in der der Puls des Metrums so weit wie möglich verschleiert wird. Dies wird zunächst dadurch bewerkstelligt, daß die verschiedenen Takttypen in möglichst freier Folge an das musikalische Material angepaßt werden, so daß die rhythmische Dauer melodischer Linien oder akkordischer Strukturen das Taktmaß bestimmt.«27 Auch meiner Ansicht nach wählte Feldman die verschiedenen Taktarten im Hinblick auf die Anweisung »without the feeling of a beat« aus. Die Takte 1–3 hätten andernfalls auch folgendermaßen notiert werden können  : Notenbeispiel 1

64 œ .. ® œ .. ® œ .. ® œ .. ® œ .. ® œ .. ® 43 Œ œ .. ® Œ 42 ˙ œ c œ .. ® œ .. ® œj.. ® œ .. ® J J J J J J J J J J J 

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Bei dieser Version hätte aber vermutlich der Einsatz von 1. Trompete, 2. Violinen und Violoncelli ein zu starkes Gewicht zu Beginn von T. 2 bekommen. Dies betrifft vor 27 Claren 2000, S. 142f.

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

allem die suggestive Wirkung des Notenbildes auf die Interpreten, deren klangliches Resultat (trotz Feldmans Anweisung) durch die Tatsache, ob ihr Einsatz zu Beginn oder in der Mitte eines Taktes steht, sicherlich beeinflusst wird. Auch im weiteren Verlauf des Stückes ist zu beobachten, dass Feldman es zumeist vermeidet, neue Einsätze oder eine Änderung von Klängen an den Beginn eines Taktes zu setzen. Eine der wenigen Ausnahmen dazu findet man etwa in T. 4, Violoncello  ; das Flageolett entsteht aber erst allmählich und bildet somit keinen direkten Einsatz am ersten Schlag des Taktes. Einsätze wie z. B. zu Beginn der Takte 20 oder 30 bekommen in diesem Zusammenhang umso mehr die Bedeutung eines bewusst »gesetzten« Neuanfangs. Auffallend in diesem Zusammenhang sind die Takte 78, 91, 93, 95, 115 und 122, wo in den Streichern (T. 95  : Marimbaphon) jeweils einen ganzen 2/2-Takt lang ein Klang ausgehalten wird. (In T. 125 und 128 wird zwar dieses Taktlängenmaß im Soloklavier übernommen, zugleich aber durch die Haltebögen negiert.) Dieses – für eine kurze Zeit fixierte  – Zeitmaß bekommt auch durch die kurz zuvor erklungenen Akkordwiederholungen der Streicher in den Takten 56–73 eine besondere Bedeutung. An dieser letztgenannten Stelle steht keine der Akkordwiederholungen zu Beginn, d. h. am metrischen Schwerpunkt eines Taktes. Offenbar hat der Komponist bewusst ein Wechselspiel aus betonten und unbetonten Zählzeiten in seine Überlegungen (in negierter Form) mit einbezogen. Die Bezeichnung »without the feeling of a beat« steht bereits zu Beginn des Werkes in einem merkwürdigen Widerspruch zur regelmäßigen Pulsation des Soloklaviers. Ebenso widersprüchlich ist in diesem Zusammenhang die Verwendung von Taktarten. Durch die Unterbrechung des Pulses am Werkbeginn entsteht meiner Ansicht nach eine Einheit, die als Takt wahrgenommen werden kann (obwohl diese Einheit nicht mit den tatsächlich notierten Taktarten übereinstimmt). Da aber die Taktarten ständig wechseln, kann man vermuten, dass sie einen Rahmen für die Klänge und Aktionen bilden und aus diesen unmittelbar entstanden sind sowie der Koordination dienen. Andererseits könnten Interpreten gerade durch diese Taktarten auf eine zugrunde liegende Schwerpunktmetrik schließen, die zu vermeiden Feldmans ausdrückliches Ziel ist. Auch in den Werken »Cello and Orchestra« und »Oboe and Orchestra« wechseln die Taktarten mit jedem Takt. In »Flute and Orchestra« hingegen werden die Taktarten seitenweise verändert (mit wenigen Ausnahmen). Dabei hat Feldman u. a. verschiedene Taktarten übereinander gelagert  ; dies ist  – vierstimmig  – auch in den Takten 277–288 in »Piano and Orchestra« der Fall. (Auf diese Stelle wird später näher eingegangen werden.)

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Verhältnis von Solist und Orchester Ein auffallendes Merkmal von »Piano and Orchestra« ist das völlige Fehlen von Virtuosität des Solisten. Dem Begriff der Virtuosität möchte ich spieltechnisch schwierig zu bewältigende Passagen zuordnen, schnelle Läufe, große Sprünge, extreme Register- bzw. Lagenwechsel, schnell wechselnde Dynamiken sowie besondere Spieltechniken. Das Material der Solostimme in »Piano and Orchestra« hingegen besteht aus langsam repetierten Einzeltönen, lange ausgehaltenen Akkorden, die gelegentlich mit Vorschlägen versehen wurden, Gruppen von Zwei-, Drei- oder Vierklängen, die ebenfalls relativ langsam aufeinanderfolgen, u. ä. Die spieltechnisch am »schwierigsten« zu bewältigende Passage des Werkes befindet sich in T. 203  : Notenbeispiel 2

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    



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Die Virtuosität des Solisten wie auch der Orchestermusiker liegt in diesem Werk offensichtlich in einem völlig anderen Bereich  : Das Vermitteln eines musikalischen Zusammenhanges über die Grenzen der scheinbar lose aneinandergefügten Klänge hinweg könnte eine der Herausforderungen an die Spieler sein, ebenso das klanglich homogene Zusammenspiel der ständig neu kombinierten Instrumente oder das Wechselspiel und Austauschen von Klängen zwischen dem Solisten und dem Orchester, dem Solo- und dem Orchesterklavier sowie zwischen verschiedenen Instrumentengruppierungen. Mit dem Feststellen des Fehlens von Virtuosität im üblichen Sinn werden zwei wichtige Fragen aufgeworfen  : 1. Grenzt sich das Soloklavier gegenüber dem Orchester ab, wenn ja, durch welche Mittel  ? 2. Ist es zu rechtfertigen, »Piano and Orchestra« überhaupt als »Klavierkonzert« zu

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bezeichnen, oder ist diese Bezeichnung unabhängig von dem Vorhandensein von Virtuosität anwendbar  ? Diese beiden Fragen werden im Folgenden etappenweise beantwortet. Im Gesamtverlauf des Stückes lassen sich verschiedene Abschnitte allein durch die Besetzung voneinander unterscheiden  : Es spielen entweder Soloklavier und Orchester, das Soloklavier alleine oder das Orchester alleine, wobei gelegentlich auch einzelne Orchesterinstrumente solistisch auftreten. Rein statistisch betrachtet – also ungeachtet der Tatsache, dass es sich um ständig wechselnde Taktlängen handelt, sowie die Dichte der musikalischen Ereignisse nicht berücksichtigend28  – spielt das Soloklavier alleine in 66 Takten  ; das Orchester alleine (ohne Soloklavier) in 242 Takten  ; beide gemeinsam in 92 Takten  ; hinzu kommen neun Ganztakte als Generalpausen. Die Anzahl der Takte, in denen das Soloklavier überhaupt spielt (d. h. mit oder ohne Orchester), beträgt 157, beim Orchester (mit oder ohne Soloklavier) sind dies 334 Takte. Daraus ist ersichtlich, dass das Orchester in etwa doppelt so häufig wie das Soloklavier vorkommt. Auch die Abschnitte, in denen das Soloklavier ohne Orchester spielt, betragen nur ungefähr ein Viertel der Gesamtlänge derjenigen Teile, in denen das Orchester ohne den Solisten spielt. Betrachtet man statistisch die Anzahl von Takten, »unterliegt« das Soloklavier dem Orchester.29 Dem Einwand mangelnder Aussagekraft eines solchen statistischen Zählens von Takten für die Musik, die sie enthalten, kann man z. B. folgende zwei Äußerungen Feldmans entgegen halten  : »Ich halte das heutzutage für die beste Art der Analyse. Einfach eine statistische Analyse (…). Und das Ergebnis weglassen (…). Keine Synthese, geben Sie nur die Information.«30 »Das ist die einzige Art von Analyse, die bei meiner Musik gemacht werden könnte. Daß er diese Akkorde hat oder jenen Akkord, anstatt irgendwelcher formaler Dinge.«31 28 Ebenso bleibt hier die Tatsache unberücksichtigt, dass z. B. in T. 7 das Soloklavier noch nachklingt. 29 Verglichen mit anderen Solokonzerten Feldmans kommt in »Piano and Orchestra« das Soloklavier mit 66 solistischen von insgesamt 408 Takten (= 13,6 %) allerdings noch relativ häufig vor. In »Oboe and Orchestra« beispielsweise spielt der Solist in nur 32 von insgesamt 384 Takten ohne Orchester (= 8,3 %)  ; in »Flute and Orchestra« ist dies in 58 von 907 Takten der Fall (= 6,4 %). In diesen Werken bietet sich also dem Solisten noch seltener die Gelegenheit, sich gegenüber dem Orchester abzusetzen und sich in seiner Bedeutung von den übrigen beteiligten Instrumenten zu unterscheiden. 30 Zitiert nach  : Mauser 1994, S. 157 31 Ebda., S. 159

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Besonders der Zusatz Feldmans »Und das Ergebnis weglassen (…)« zeigt, wie sehr Feldman deutenden Analysen seiner Werke misstraute. Worin auch immer dieses Misstrauen begründet lag, kann das bloße Feststellen von Fakten selbstverständlich auch in der Betrachtung der Musik Morton Feldmans nur ein unzureichender Teilaspekt sein. Ebenso wenig wie subjektive, deutende und in-Beziehung-setzende Analysen als objektive »Wahrheiten« zu betrachten sind, ist es auch bei solchen und ähnlichen Äußerungen von Komponisten zu ihren eigenen Werken der Fall. Um zu der ersten der beiden oben gestellten Fragen zurückzukehren  : Eine Abgrenzung des Soloklaviers gegenüber dem Orchester findet statt, schon alleine durch die solistischen Abschnitte ohne Orchester. Folgende verschiedene Abschnitte innerhalb von »Piano and Orchestra« lassen sich aufgrund der Besetzung (Solist und/oder Orchester) unterscheiden  : T. 1–53  : Orchester kontinuierlich, + Einwürfe des Solisten T. 54–83  : Orchester alleine T. 84–149  : abwechselnd Orchester und Solist alleine T. 150–235  : Orchester kontinuierlich, + Einwürfe des Solisten T. 236–260  : Solist + Orchester T. 261–288  : Orchester alleine T. 289–300  : Solist alleine T. 301–360  : Orchester alleine (ab T. 318  : + Einwürfe des Solisten) T. 361–381  : Solist kontinuierlich, teilweise + Einwürfe des Orchesters T. 382–407  : Orchester kontinuierlich, oft + Einwürfe des Solisten Drei Texturtypen sind anhand dieser Abschnitte erkennbar  : 1. Orchester kontinuierlich, + Einwürfe des Solisten (auch  : Orchester alleine) 2. Solist und Orchester gleichberechtigt 3. Solist kontinuierlich, + Einwürfe des Orchesters (auch  : Solist alleine) In beinahe drei Vierteln aller Takte erscheint der erste Texturtyp, das Orchester spielt daher eine wesentlich präsentere Rolle als der Solist. Diese Tatsache stellt aber den Solisten als solchen nicht infrage, denn dieser unterscheidet sich gerade durch die sporadischen Einwürfe vom Orchester und hat zumindest eine größere Bedeutung als jedes einzelne Orchesterinstrument. Die Frage nach der Abgrenzung von Solist und Orchester lässt sich jedoch nicht bloß statistisch beantworten. Auch ein verschiedenes bzw. verschieden verwendetes

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Material könnte zu dieser Abgrenzung beitragen. Die folgende tabellarische Auflistung stellt die Materialien des Soloklaviers jenen des Orchesters gegenüber  : Material Soloklavier

1. Einzelton a) repetiert (z. B. T. 1–4) b) nicht repetiert

Material Orchester

1. Einzelton a) repetiert (z. B. Fl. T, 88–89 oder Holzbl. und Hrf., T. 185 ff.) b) nicht repetiert (z. B. T. 17–18)

2. Zweiklang (z. B. T. 16)

2. langsames Tremolo zweier Töne (z. B. Hrf., T. 157 ff. oder Vc. und Kb., T. 219 ff.)

3. Akkord a) ohne Vorschlag (z. B. T. 5)

3. Akkord a) alle Töne beginnen und enden gleichzeitig (z. B. T. 6–7) (vgl. Soloklavier, 3a.) b) einzelne Töne werden länger ausgehalten (vgl. Soloklavier, 3c.)

b) mit Vorschlag I. Vorschlag chromatisch zu höchstem Akkordton (z. B. T. 84) II. Akkordeigener Ton als Vorschlag (z. B. T. 94) c) ein oder zwei Töne des Akkordes werden länger ausgehalten (z. B. T. 90) d) repetiert (z. B. T. 125 und 128 oder T. 346–347) e) als Arpeggio (z. B. T. 119)

c) mit Flageolett-Tönen (z. B. T. 56 ff. oder T. 78) d) repetiert (z. B. T. 56 ff.) (vgl. Soloklavier, 3d.) 4. Dreitonfeld (z. B. T. 277 ff.) 5. kurze schnelle Einwürfe (z. B. Kb., T. 230 oder Ob. und Trp., T. 357–359)

Aus dieser Übersicht ist erkennbar, dass einzelne Materialien sowohl im Soloklavier als auch im Orchester verwendet werden (Material 1a, 1b, 3a, 3c und 3d, eventuell auch Material 2), andere Möglichkeiten hingegen ausschließlich in einem der beiden vorkommen. Ebenso wird deutlich, dass Feldmans kompositorisches Grundmaterial aus einfachsten Klang-Bausteinen zusammengesetzt ist  : Einzelton  – Zweiklang  – Dreitonfeld – Akkord. Manches gleichartige Material wird in unterschiedlicher Art und Weise eingesetzt  : Das Prinzip des repetierten Einzeltones erscheint gleich zu Beginn von »Piano and Orchestra« im Soloklavier als prägnante, zunächst regelmäßige Pulsation (T. 1–4), später als auskomponiertes Ritardando (Ob. 1, T. 88 f.) oder auch auf mehrere Instrumente verteilt (T. 1–4  : c’’ in Englischhorn, 1. Trompete und Violoncello). Die des’’-

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Pulsation im Soloklavier wird im weiteren Verlauf des Werkes in direkter Form in den Takten 30–34 und 108–111, eine Oktave höher in T. 226 f. zitiert. Zu Beginn des Werkes hat sie nicht nur die Funktion, den ansonsten rasch verklingenden Klavierton zu verlängern, sondern soll vermutlich auch ein Mittel zur Abgrenzung und deutlichen Unterscheidung zwischen dem Solisten und dem Orchester sein. (Das Orchester spielt im gesamten Werk fast ausschließlich Liegeklänge.) Für den Hörer bildet es eines der wenigen Elemente, das (auch nach 225 Takten) erinnerbar bleibt. Den Rhythmus der des’’-Repetition zu Beginn des Werkes setzt Sebastian Claren in Beziehung zu Feldmans späteren Werken  : »Die doppelte Punktierung, die Feldman in seinem Spätwerk zum Teil exzessiv einsetzt, erscheint vor Neither nur am Anfang von Piano and Orchestra, Feldmans Klavierkonzert von 1975, wo das Klavier den ›unheard footfalls‹-Rhythmus insofern umkehrt, als es sein des2 als doppelt punktiertes Achtel auf den Schlag wiederholt, und die Pause jeweils nachgestellt ist. Während in beiden Fällen die doppelte Punktierung zusammen mit der ihr zugeordneten Pause einen Viertelschlag ergibt und weniger die genaue Dauer der jeweiligen Note als ihre Artikulation bestimmt, wird sie in Feldmans Spätwerk als eigenständiger Notenwert eingesetzt, der keiner Ergänzung bedarf, so daß beispielsweise ein 7/4-Takt aus vier doppelt punktierten Vierteln zusammengesetzt werden kann.«32 Tatsächlich handelt es sich im Falle des Klavierkonzertes nicht um einen konkret wahrnehmbaren Notenwert. Besonders in Verbindung mit der abnehmenden Dynamik wäre es für den Hörer zu Beginn von »Piano and Orchestra« vermutlich nur schwer möglich, den Unterschied zwischen einer doppelt punktierten Achtelnote (+ 32telpause) oder beispielsweise einer einfach punktierten Achtelnote (+ 16telpause) eindeutig zu erkennen. Ob es also tatsächlich einen Zusammenhang mit dem Spätwerk Feldmans gibt, in dem es sich beim doppelt punktierten Rhythmus nicht nur um eine bloß optische bzw. artikulatorische Erscheinung handelt, möchte ich bezweifeln. Bei ­einem Komponisten wie Feldman, der so betont klanglich und auf das Eigenleben der Klänge hin orientiert schreibt, könnte ein Bezug zwischen rein optisch vergleichbaren Notenwerten in – wie ja Claren schreibt – ganz unterschiedlichem Kontext auch rein zufällig erscheinen. Für die Frage nach der Auseinandersetzung Feldmans mit der jahrhundertelangen Tradition des Klavierkonzerts bzw. des Solokonzerts im Allgemeinen kann es auch eine Rolle spielen, ob der Solist und/oder das Orchester das Werk beginnen bzw. beenden. In »Piano and Orchestra« wie auch in »Cello and Orchestra« und »Oboe and Orchestra« beginnen und enden Solist und Orchester gemeinsam  ; in »Flute and Orchestra« und »Violin and Orchestra« beendet jeweils der Solist das Werk alleine. Der Solist setzt sich in »Piano and Orchestra« in dieser Hinsicht vom Orchester nicht ab, 32 Claren 2000, S. 401

31

32

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

ebenso wenig gibt es ein Orchestervorspiel (wie etwa in vielen klassisch-romantischen Klavierkonzerten). Formale Übersicht Im groben Überblick lässt sich der formale Ablauf von »Piano and Orchestra« in zwei Kategorien unterteilen  : in Einzelereignisse und Akkordwiederholungen. Die nachstehende Übersicht stellt die wechselnde Aufeinanderfolge dieser beiden locker bzw. fest gefügten Strukturen dar  : Einzelereignisse (locker gefügte Strukturen)

T. 1– 55 T. 74–134 T. 143–189 T. 195–213 T. 219–231 T. 236–260 (Orchester) T. 261–276 T. 277–288 (Polyphonie) T. 301–360 T. 408 (Generalpause)

Akkordwiederholungen (fest gefügte Strukturen)

T. 56–73 T. 135–166 (Akkordpendel, Soloklavier) T. 190–194 T. 209–210 (Orchester) T. 214–218 (Akkordpendel) T. 231–235 (Streicher) T. 236–260 (Soloklavier, ab T. 248 auch Orchesterklavier) T. 289–300 (mit Variationen, Soloklavier) T. 361–407 (Coda)

Innerhalb dieser vereinfachten, überblicksartigen Darstellung wurden die Takte 277– 288, 301–311 (T. 301–308  : Violoncello solo, T. 309–311  : Trompete solo) und 352–359 (fff-Einbruch des Orchesters) in die Kategorie der Einzelereignisse eingeordnet, da sie innerhalb des übrigen Geschehens isoliert wie Inseln erscheinen. Im Falle der Polyphonie in T. 277–288 ist die Zuordnung zur Kategorie der locker gefügten Strukturen allerdings problematisch. Gerade an dieser Stelle wird außerdem der bis dahin kontinuierliche Wechsel von Einzelereignissen und Akkordwiederholungen zum ersten

33

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Mal unterbrochen. Dieses Unterbrechen wird in weiterer Folge gleichsam zu einem neuen Prinzip erklärt, auch die Soli von Violoncello und Trompete, die Generalpausen oder etwa der fff-Einbruch des Orchesters in T. 352–359 »fallen« ebenso aus dem zuvor gesetzten »Rahmen«. Insgesamt betrachtet kann man das Werk als zweiteilig beschreiben  : Im ersten Teil (T. 1–276) gibt es einen regelmäßigen Wechsel zwischen Einzelereignissen und Akkordwiederholungen, ab T. 277 bis zum Ende (d. h. im zweiten Teil) kommt es zu einem diskontinuierlicheren Werkverlauf. Der obigen Kategorisierung zufolge gehört der erste Teil als Ganzes somit zu den fest gefügten, der zweite Teil zu den locker gefügten Strukturen. Einen Sonderfall im gesamten Werk stellen die Takte 277–288 dar  : Collageartig wird hier eine drei- bis vierstimmige Polyphonie eingeschoben, die in dieser Art an keiner anderen Stelle in »Piano and Orchestra« vorkommt. Außerdem bildet diese Stelle eine Ausnahme hinsichtlich der Taktarten  : Während in der übrigen Komposition zwar die Taktarten ständig wechseln, aber doch jeweils für alle Instrumente gelten, werden hier verschiedene Taktarten übereinander gelagert (ein Verfahren, das Feldman auch in »Flute and Orchestra« verwendet). Vier 17/8-Großtakte werden stets unterschiedlich in 2/4, 3/4 und 7/8 unterteilt. In der folgenden Übersicht wird zunächst nur der erste, zweite und vierte Großtakt berücksichtigt. Alle 2/4-Takte sind als a’ 7/8-Takte als b sowie 3/4-Takte als c bezeichnet. Oboe 1 Oboe 2 Oboe 3

T. 277–279 a b c b c a c a b

T. 280–282 b c a c a b a b c

T. 286–288 c a b a b c b c a

Aus dieser Darstellung wird ersichtlich, dass Feldman die Abfolgen a c b, b a c und c b a innerhalb dieser Großtakte nicht verwendet. Die ausschließlich benutzte Abfolge 2/4 – 7/8 – 3/4 – 2/4 etc. (a – b – c – a etc.) wird daher innerhalb einer 17/8-Einheit stets eingehalten. Vergleicht man aber die drei Großtakte miteinander, so lässt sich die Übertragung der Permutationen des ersten Großtaktes auf diese übergeordnete Ebene erkennen. In der folgenden Übersicht sind die Untereinheiten mit Großbuchstaben zusammengefasst  : abc = A bca = B cab = C

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Oboe 1 Oboe 2 Oboe 3

T. 277–279 A B C

T. 280–282 B C A

T. 286–288 C A B

Auf beiden Ebenen lässt sich die Abfolge der Taktarten also wie ein magisches Quadrat darstellen. Im dritten Großtakt (T. 283–285) werden die in den übrigen drei Großtakten ausgesparten Permutationsmöglichkeiten berücksichtigt  : Oboe 1 Oboe 2 Oboe 3

c a b

b c a

a b c

Auch auf dieser Ebene ist die Kombination von Permutationen wie ein magisches Quadrat organisiert. Die Abfolge der Taktarten lässt sich auch mit Pfeilen darstellen, dabei erscheinen die Taktarten der Großtakte 1, 2 und 4 in umgekehrter Reihenfolge zum dritten Großtakt  : 2/4 → 7/8 → 3/4 2/4 ← 7/8 ← 3/4

(Großtakte 1, 2 und 4) (Großtakt 3)

In allen drei Oboen beginnt der dritte und vierte Großtakt mit derselben Taktart. Diese Tatsache legt nahe, dass Feldman den vierten Großtakt nicht nur als Teil des oben beschriebenen magischen Quadrates konzipiert hat, sondern auch eine Deutung des vierten Großtaktes als eine Variation des dritten möglich wäre. In diesem Fall wären die zweiten und dritten Takte innerhalb des vierten Großtaktes gegenüber jenen des dritten Großtaktes vertauscht, wie folgende Übersicht anhand der ersten Oboe zeigt  : T. 283 ff. T. 286 ff.

c c

b a

a b

In den Takten 277–288 werden in der ersten Oboe ausschließlich die Töne c’’’, d’’’ und des’’’ gespielt, die Abfolge bleibt immer gleich. Der Rhythmus hingegen wechselt ständig, eine Systematik lässt sich hier nicht erkennen. Die Anzahl der Tonhöhen, die unter einem Bogen zusammengruppiert wurden, nimmt zunächst ab und dann wieder zu. (Es werden 4, 3, 3, 2, 3 und 4 Tonhöhen zusammengefasst). Im letzten Großtakt, in

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

dem auch Vorschlagsnoten verwendet werden, lässt sich auch in diesem Bereich keine logische bzw. systematische Gruppierung erkennen. Die zweite Oboe spielt ausschließlich die Töne h’’, a’’ und b’’, der Rhythmus wechselt wie in der ersten Oboe ständig. Die Anzahl der unter einem Bogen zusammengefassten Tonhöhen steigt hier stetig an  : 3 – 3 – 3 – 4 – 4 – 5 – 5. Die Tonhöhenorganisation der dritten Oboe ist zweiteilig angelegt  : Zwar werden immer die Töne a’’, g’’ und as’’ verwendet, die Reihenfolge dieser Töne scheint jedoch in den ersten beiden Großtakten frei gewählt worden zu sein, während in den Großtakten drei und vier die Abfolge a’’ – g’’ – as’’ stets erhalten bleibt. Die rhythmische Gestaltung sowie die Gruppierung mehrerer Tonhöhen unter einem Bogen erscheint mir ebenfalls unsystematisch erfolgt zu sein. In allen drei Oboen gemeinsam erklingt ein innerlich fluktuierender Cluster von g’’ bis d’’’, der Ton a’’ kommt sowohl in der zweiten als auch in der dritten Oboe vor. Der Ton des’’’ der ersten Oboe wiederum wird durch die in T. 285 hinzutretende Piccoloflöte verstärkt. Sie übernimmt auch die Taktarten der ersten Oboe und ist ungefähr komplementärrhythmisch zu dieser gestaltet. Die Repetition des Tones des’’’ erinnert zugleich an die Tonwiederholung (des’’) im Soloklavier zu Beginn von »Piano and Orchestra«. Piccoloflöte und Oboe 1 sind zudem durch ein gemeinsames Decrescendo verbunden, welches in den Oboen 2 und 3 nicht vorkommt. Außerdem bleiben Piccoloflöte und Oboe 1 am Ende von T. 288 alleine übrig, die zweite und dritte Oboe enden bereits kurz davor. Innerhalb der auf den ersten Blick unstrukturiert scheinenden Folge von Klängen während des gesamten Werkes kann man bei näherer Betrachtung Gemeinsamkeiten beim Wechsel der Textur erkennen. Die hörbare Trennung einzelner Abschnitte geschieht durch folgende Mittel  : 1. Generalpausen (z. B. T. 5, T. 12 oder T. 19) 2. Änderung der Dynamik (z. B. T. 352  : plötzliches fff ) 3. Änderung der Besetzung bzw. Instrumentierung a) Solist und/oder Orchester (z. B. T. 352 ff.: nur Orchester, zuvor  : Solist und Orchester) b) innerhalb des Orchesters (z. B. T. 56–73  : nur Streicher) 4. Änderung der Ereignisdichte (z. B. T. 74–75  : plötzlich dichter) 5. neues Material (z. B. T. 56  : Akkordrepetition) 6. Rückgriffe a) auf die Anfangsrepetition des Solo-Klaviers (z. B. T. 30) b) auf andere Elemente bzw. Motive innerhalb des gesamten Stückes (z. B. können die Takte 116–121 auf T. 12–14 bezogen werden  ; die Takte 48 ff., Bläser und

35

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Streicher, greifen auf den Klavierakkord von T. 38 zurück  ; T. 190–194 im Vergleich zu T. 135–140 etc.) 7. Änderung der Satztechnik (z. B. T. 277–288  : drei- bzw. vierstimmige Polyphonie) 8. Änderung der Oktavlage (z. B.: bis T. 322 zwei- und dreigestrichene Oktave, in T. 323  : Akkord von großer bis dreigestrichener Oktave, ab T. 324 rund um große Oktave) An vielen Stellen des Werkes treten mehrere Änderungen gleichzeitig auf, z. B. kommt es in T. 74 zu einer Änderung der Ereignisdichte, der Instrumentierung und des Materials. (Die Akkordrepetition wird nicht weitergeführt.) Ein solcher gleichzeitiger Wechsel mehrerer Parameter findet etwa auch in T. 361 statt. (An dieser Stelle wird auch zum letzten Mal zur Kategorie der Akkordwiederholungen übergegangen.) Nach einem plötzlichen fff-Ausbruch des Orchesters in T. 352 ff. und einer Generalpause in T. 360 setzt der Solist in T. 361 wieder ein. Bis zum Ende von »Piano and Orchestra« spielt das Solo-Klavier nun ausschließlich zwei verschiedene Akkorde (mit Vorschlag) in unregelmäßigem Wechsel. Der Orchestersatz ist sehr reduziert und bekommt nur gelegentlich (z. B. in T. 372) eine individuelle, d. h. vom Solo-Klavier unabhängige Gestaltung. Lediglich am Ende, in den Takten 403–404 und 406–407 wird in den Streichern auf den Akkord von T. 274 ff. zurückgegriffen. (Nun erklingt er einen Halbton tiefer.) Auch die Klavierakkorde kann man auf das Akkordpendel in T. 135 ff. beziehen, in beiden Fällen liegen die beiden höchsten Akkordtöne einen Ganzton voneinander entfernt. Trotz dieser möglichen Bezugnahmen kann man von diesem letzten Teil als einer »Coda« sprechen. Zu dieser Bezeichnung trägt nicht nur der gleichzeitige Wechsel mehrerer Parameter bei, sondern auch das ungewöhnlich lange Verbleiben auf einem sehr reduzierten Material sowie das Unterbrechen des Ablaufes mit Generalpausen (T. 371 und 373) und immer längeren und häufigeren Pausen im Solo-Klavier. Dieser Idee der allmählichen Auflösung und Zersetzung eines musikalischen Ablaufes am Ende eines Werkes widersprechen allerdings die Takte 398–407 des Soloklavier-Parts  : Hier haben die Pausen zwischen den einzelnen Akkorden nur in etwa dieselbe Länge wie die Pausen in den Takten 361–370. In Summe bestimmen die oben genannten Mittel, ob und wie sehr verschiedene Abschnitte vom Hörer wahrgenommen werden. Dies geschieht allerdings gerade im Falle von »Piano and Orchestra« vor allem auf subjektive Weise, da Feldmans Musik zu wechselnd fokussiertem Hören anregt. Die Dynamik wie auch die Harmonik spielt dabei eine spezielle Rolle in »Piano and Orchestra«. Die Besonderheiten dieser beiden Parameter sollen nun – zum Abschluss dieses Kapitels – näher beleuchtet werden.

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Dynamik Die Dynamik ist während des gesamten Werkes selten in konkreten Werten angegeben, stattdessen gibt es meistens Crescendo- oder Decrescendo-Zeichen, wobei die Anzahl der Decrescendi eindeutig überwiegt. Die erste genau festgelegte dynamische Angabe erscheint erst in T. 75 (Hörner  : f ). Die seltenen konkreten Lautstärkebezeichnungen sparen den leisen Bereich aus, es kommen nur die Abstufungen fff, ff, ffp, f, mf und mp vor. (Lediglich in T. 129 erscheint ein eingeklammertes pp und in T. 265 ein ebensolches ppppp.) Das Fehlen von leisen dynamischen Stufen lässt meiner Ansicht nach allerdings keineswegs den Schluss darauf zu, dass diese in »Piano and Orchestra« überhaupt nicht vorkommen sollten. Die vielen Decrescendi wie auch die fast ausschließlich verwendeten Liegeklänge sowie die meist langen Notenwerten im relativ langsamen Tempo suggerieren eine nicht allzu laute, behutsame Dynamik und Spielweise. Hinzu kommt die generelle Spielanweisung »extremely quiet«, die sich auf die Grundstimmung, aber eben auch auf die Dynamik beziehen lässt. Die oft leise Dynamik ist vielfach als ein Charakteristikum der Musik Morton Feldmans gesehen worden. Unter vielen anderen äußert sich Sebastian Claren im Zusammenhang mit den nach »The Viola in My Life« (1970/71) entstandenen Werken  : »Die Grunddynamik liegt für alle folgenden Kompositionen beim dreifachen Pianissimo, das an bestimmten Stellen ins fünffache Pianissimo zurückgenommen wird  ; einzelne ›poco‹ Crescendi werden durch ›molto‹ Decrescendi wieder aufgehoben, wobei sich in fast jeder Komposition wenigstens ein Ausbruch ins Forte oder Fortissimo findet. Das Tempo liegt in den verschiedenen Kompositionen zwischen 56 und 66 MM mit dem Zusatz ›äußerst ruhig‹ oder ›äußerst leise‹.«33 Die folgende Darstellung bringt einen Vergleich von »Piano and Orchestra« mit anderen Solokonzerten Feldmans hinsichtlich der Dynamik  : Genaue Werte

»Piano and Orchestra«

fehlen meistens, 1. Wert  : T. 75

»Oboe and Orchestra«

fehlen meistens

33 Claren 2000, S. 93

Dynamische Stufen

mp bis fff, nur einmal pp, d. h. leise Dynamiken fehlen bis T. 262  : nur ppppp bis ppp, T. 262  : fff, ab T. 290 auch pp, mp, mf und ff

Crescendi/Decrescendi

meistens Decresc., gelegentlich Cresc. beide oft (statt genauen Werten)

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra« Genaue Werte

»Violin and Orchestra«

»Flute and Orchestra«

»Cello and Orchestra«

Dynamische Stufen

Crescendi/Decrescendi

etwas mehr als in »Oboe laute Dynamiken fehlen, Decresc. öfter als Cresc. and Orchestra« maximal  : mf, mfz (Cresc. kommt nur auf Partiturseite 52, 53 und 57 vor), oft auch ein gleichbleibender Wert etwas mehr als in »Violin fast nur ppppp oder ppp, beide oft (statt genauen and Orchestra« erst ab T. 836 ppp + cresc. Werten) bis fff  ; sfffz  : T. 10, dann erst wieder in T. 513, 516 und häufiger ab T. 620 keine Angaben ppppp bis mf (kurz  : f ) fast nur in Verbindung bis T. 55 (Solo-Cello) mit genauen Werten bzw. T. 106 (Orch.), ebenso ab ca. T. 220

Während sowohl in »Piano and Orchestra« als auch in »Oboe and Orchestra« zumeist keine genauen dynamischen Werte angegeben werden, steigert sich die Häufigkeit solcher Angaben in den nachfolgenden Werken (»Violin and Orchestra«, »Flute and Orchestra«). In »Cello and Orchestra« hingegen wird die Dynamik nur an manchen Stellen präzisiert. In letztgenanntem Werk werden diese präzisen Angaben jedoch auch mit den Crescendi und Decrescendi verknüpft, was bei den anderen obenstehenden Werken nicht der Fall ist. Feldmans Tendenz zu besonders leisen dynamischen Stufen wird auch anhand der obigen Übersicht deutlich, in fast allen der angeführten Werke gibt es im leisen Bereich wesentlich mehr Abstufungen (bis ppppp) als in lauter Dynamik. »Piano and Orchestra« ist dabei das einzige Werk, in dem fast keine leisen dynamischen Werte vorkommen. Wie bereits erwähnt, sollen diese aber keineswegs ausgespart bleiben. Dennoch bleibt die genaue Ausgestaltung der leisen Dynamik in diesem Werk in einem weitaus größeren Ausmaß den Interpreten überlassen, als dies bei den übrigen oben angeführten Werken der Fall ist. Auch bei »Piano and Orchestra« kann man von einem besonderen »Ausbruch« (wie S. Claren) sprechen  : In den Takten 352–356 spielen alle Bläser sowie Pauke und Kontrabass ein plötzliches fff. Davor sind im gesamten Werk nur kürzere oder weniger markante Passagen in lauter Dynamik zu finden, z. B. in T. 75 (Hr. 1 und 2) oder in den Takten 123–124 und 126–127 (Bläser). Die Angabe ffp, gefolgt von einem decresc. molto, wurde an mehreren Stellen notiert (T. 196, Pos. 1 und 2  ; T. 236–237, Posaunen  ; T. 241–242, Hr. 1, 2 und Pos. 1, 2  ; T. 244–245 in allen Bläsern  ; T. 250–251 in Ob, 1–3, Kl. 1–3 und Tpt. 1–3). Die Bezüge, die zwischen diesen im Hinblick auf Instru-

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

mentation und Harmonik verschiedenartigen Stellen durch die stets gleiche Dynamik entstehen, könnten von Feldman bewusst geplant worden sein. Walter Zimmermann vermutet in der »Entscheidung, daß Feldmans Musik durchwegs im Pianissimo zu spielen ist, nicht etwa eine clevere Erkennungsmarke eines Marktstrategen, sondern die klare Einsicht, daß nur an dieser unteren Grenze des Erklingens auch die feinsten Regungen des Hörvermögens angesprochen werden (…).«34 In Feldmans eigenen Aussagen über seine Werke und das Komponieren bzw. über die Musik im Allgemeinen habe ich allerdings keinen Hinweis auf diese »klare Einsicht« (wie Zimmermann schreibt) gefunden. Auch der Vergleich Zimmermanns mit der »sonst gängigen Alltagsmusik«35 entspricht meiner Ansicht nach nicht der ursprünglichen Intention Feldmans. Mehrfach jedoch äußert sich Feldman über die Bedeutung des Klanges, abgekoppelt von der jeweils instrumentenspezifischen Einschwingphase, beispielsweise folgendermaßen  : »This is perhaps why in my own music I am so involved with the decay of each sound, and try to make its attack sourceless. The attack of a sound is not its character. Actually, what we hear is the attack and not the sound.«36 Je lauter ein Instrument spielt, desto deutlicher wird es von anderen Instrumenten unterscheidbar. Feldmans häufige leise Dynamik entstand also vermutlich größtenteils als logische Schlussfolgerung aus dieser physikalisch-akustischen Gegebenheit und seinem Wunsch nach einem »Klang ohne Ursprung«37. Feldman dazu weiter  : »Meine Musik scheitert, wenn man sagen kann  : ›Ah, da ist eine Posaune, da ist ein Horn.‹ Ich bevorzuge es, wenn die Instrumente auf natürliche Weise gespielt werden  ; sie werden dann anonym.«38 Die Fokussierung auf das »Ausklingen« scheint aus dem typisch schnellen Verlöschen eines Klaviertones hervorgegangen zu sein.39 Insofern könnte man auch »Piano and Orchestra« weniger als ein »Konzert für Klavier und Orchester« als ein »orchestriertes Stück über den Klavierklang« verstehen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf Feldmans besondere Vorliebe für das Klavier »als »zeitgenössischsten Instrument, wie er es selbst bezeichnet.«40 Auch Gianmario Borio stellt dazu 34 Zimmermann, Walter  : »Morton Feldman – Der Ikonoklast«, in  : Zimmermann, Walter (Hg.)  : Morton Feldman Essays, Kerpen 1985, S. 10–21, hier S. 12 35 Ebda., S. 12 36 Feldman, Morton  : »Some Elementary Questions«, in  : DeLio 1996, S. 207 37 Claren 2000, S. 110 38 Ebda. 39 Vgl. dazu Wiener, Oliver  : »Das Verklingen als Spezifikum des Klaviertones ist eine der Grundlagen, die  – wenngleich nicht auskomponierbar  – die Kompositionen dieser Phase doch bedingt.« (Wiener 1996, S. 4f.) 40 Zimmermann Walter  : »Morton Feldman – Der Ikonoklast«, in  : Zimmermann 1985, S. 12

39

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

fest  : »(…) das Klavier ist das Instrument, das mehr als jedes andere der Feldmanschen Auffassung einer dem Klang immanenten Zeitlichkeit entgegenkommt.«41 Möglicherweise ist diese Vorliebe des Komponisten auch darauf zurückzuführen, dass er bis zu den 1970er-Jahren am Klavier komponierte, um sich so stärker mit dem Element der Zeit zu befassen. (»Well, one of the reasons I work at the piano is because it slows me down and you can hear the time element much more, the acoustical reality.«42) Den Gedanken »anonym« klingender Instrumente hat Feldman jedoch in keinem seiner Werke bis zur letzten Konsequenz verfolgt. Auch in seinen Kompositionen findet man einen bewussten Umgang mit Instrumentation, den Wunsch nach verschiedenartigen Klängen und das Wechseln unterschiedlicher Instrumentenkombinationen. Nicht das völlige Negieren von Klangfarben ist das Ziel Feldmans, sondern das Verlegen des Hörfokus auf das Ende eines Klanges. Gleichzeitig wird so auch die Harmonik stärker in den Vordergrund und das Bewusstsein des Publikums gerückt. Dazu trägt allerdings das oftmalige Fehlen oder Reduzieren der rhythmisch-gestischen Komponente hauptsächlich bei. Harmonik Die Harmonik von »Piano and Orchestra« ist durch die am häufigsten auftretende kleine Sekunde geprägt, alle übrigen Intervalle kommen weitaus seltener vor. Große Sekunde und kleine Terz treten dabei am öftesten auf, gefolgt von Quinte und großer Septime. Aus dieser Feststellung lässt sich eine Vorliebe Feldmans für besonders kleine Intervalle ableiten, obwohl er hin und wieder auch sehr große Intervalle innerhalb eines Akkordes verwendet, so z. B. in T. 111 (Streicher  : H – c – e’ – f ’ – a’ – g’’’). Gelegentlich nimmt Feldman in »Piano and Orchestra« an späteren Stellen Bezug auf bereits zuvor erklungene Akkorde. Dies ist beispielsweise in den Takten 146 ff., 190 ff. und 214 ff. der Fall, die allesamt auf die Takte 135 ff. rekurrieren. Im Folgenden sind zunächst die Takte 135–140 abgebildet  :

41 Borio 1993, S. 151 42 Feldman, Morton, in  : Zimmermann, Walter  : Desert Plants. Conversations with 23 American Musicians, Vancouver  : Aesthetic Research Centre Publications 1976, S. 6.

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Notenbeispiel 3 





                                               

                            

           



       

         



        

Während die Oberstimme stets zwischen den Tönen as’’ und b’’ hin und her pendelt, wechseln die übrigen Akkordtöne mit jedem Akkord. Einzelne Akkorde aber gleichen einander, konkret die beiden zweiten Akkorde in T. 135 und 138, die beiden ersten Akkorde in T. 138 und 139, weiters die jeweils zweiten Akkorde in T. 136 und 139, und die zweiten Akkorde in T. 137 und 140. (Diese Bezüge wurden im vorangegangenen Notenbeispiel mittels Klammern dargestellt.) Vergleicht man die jeweils ersten Akkorde der Takte 135–140, so zeigt sich, dass die Töne h, g’ und as’’ in allen Akkorden vorkommen, der Ton b’ in allen Akkorden außer in T. 135, der Ton c’ in den Takten 137–140. Gleichzeitig, d. h. in T. 135, 136, 138 und 139, erscheinen die Töne e und a’. Die Töne d, a und e’ treten jeweils nur ein einziges Mal auf. Zur besseren Übersichtlichkeit werden die Akkorde im folgenden Notenbeispiel in drei Systemen notiert  : Notenbeispiel 4 

 



    

   





 

 



 

 



     

   

     



  

   



   

  

Etwas anders sieht das Bild bei den zweiten Akkorden jedes Taktes im Vergleich aus. Hier werden die Akkorde der Takte 135–137 in T. 138–140 in der gleichen Reihen-

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

folge wiederholt. Die Töne h’ und b’’ erscheinen in jedem Akkord, die Töne e’ und c’’ kommen immer gleichzeitig vor  : Notenbeispiel 5



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An den bereits erwähnten späteren Stellen im Werk, die auf diese Takte Bezug nehmen, werden die Akkorde zum Großteil in der ursprünglichen Reihenfolge verwendet. Einzelne Akkorde werden geringfügig modifiziert, was in der folgenden Übersicht auch gekennzeichnet wird  : T. 135 ff. T. 146 ff. T. 190 ff. T. 214 ff.

a a a a

b b b b

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g g g a

b b b b’

g h h h

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h f a b g’ d e f’

In T. 150 fehlt eine Entsprechung zu T. 139, die Wiederholung von T. 140 erklingt somit bereits einen Takt früher. Daran anschließend spielen Orchester- und Soloklavier abwechselnd zuerst jeweils zwei Akkorde (T. 150 und 151–152), dann jeweils einen Akkord (T. 154 und 155). Nach einer eintaktigen Pause spielt das Soloklavier einen weiteren Akkord, der jenem in T. 137 entspricht. Die in T. 150 fehlende Entsprechung zu T. 139 erklingt – in leicht modifizierter Form – in den Takten 154 und 155. An der zweiten korrespondierenden Stelle (T. 190 ff.) erscheinen die Akkorde der Takte 135 ff. in unveränderter Form. Lediglich die Entsprechung zu T. 139 fehlt auch hier. Nach einer eintaktigen Pause wird der letzte Akkord – eine Oktave tiefer gelegt – im Orchesterklavier wiederholt.

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Für die Takte 214 ff. werden die ursprünglichen Akkorde um einen Halbton nach oben transponiert. Anstelle des dritten und siebten Akkordes (Akkord c und g) wird der erste Akkord (a) gesetzt, der Akkord b wird in T. 217 um die Töne as und h’ erweitert. Die übrige Akkordanordnung entspricht jener der Takte 190 ff. Betrachtet man den Orchesterpart an diesen vier Stellen, so lässt sich eine eindeutige Korrespondenz der Takte 135 ff. mit den Takten 190 ff. feststellen  : In beiden Fällen wird den Soloklavier-Akkorden lediglich der Ton h’ als Halteton hinzugefügt, allerdings an unterschiedlichen Stellen (in T. 139 als Flageolettton des Violoncellos  ; in T. 193 im Horn, d. h. um einen Takt früher). An den beiden anderen Stellen (T. 146 ff. und T. 214 ff.) werden vom Orchester Akkorde hinzugefügt. In T. 150 und 154 übernimmt das Orchesterklavier drei Akkorde des Soloklaviers (ergänzt durch den Ton A in der Harfe, T. 130), ab T. 151 fügen die Streicher (verstärkt durch Bassklarinette, Tuba und Crotales) einen in mehr als drei Oktaven aufgefächerten Clusterakkord (chromatisch f bis a) repetierend hinzu, ein weiterer chromatischer Ton (E) wird in T. 157 durch die Harfe angefügt. In den Takten 214 ff., der letzten entsprechenden Stelle, wird zwischen dem dritten und vierten Akkord in T. 215 ein »falsches Echo« in Orchesterklavier und Harfe eingeschoben. Das Orchesterklavier wiederholt den zuvor vom Solisten angeschlagenen Akkord, spielt jedoch h’ statt b’  ; der Ton b’ wiederum erklingt zugleich in der Harfe. Ansonsten bleibt das Orchester an dieser Stelle unbeteiligt, bis auf den Ton des’’ (Chimes, T. 217), der gleichzeitig mit dem ihn enthaltenden Akkord des Soloklaviers angeschlagen wird. Dieser scheinbar unbedeutende Verstärkungston könnte bereits eine Vorbereitung für die Takte 226–227 sein, in denen das Soloklavier die des’’-Repetition vom Beginn des Werkes eine Oktave höher zitiert. Auch die Takte 236–260 sind aus den Takten 135 ff. abgeleitet. Anders als bei den soeben besprochenen übrigen Referenzstellen werden hier die ursprünglichen Akkorde stärker verändert. Zunächst repetiert das Soloklavier den Akkord g’ – as’ – h’ – b’’, der – reduziert man seine Töne auf eine Oktave – mit den dreitönigen Akkorden des Orchesters (gis – a – b in verschiedenen Oktavlagen, T. 236–238) gemeinsam einen Cluster von g bis b bildet. Erst nach dem Einsatz des Orchesterklaviers in T. 248 werden dem Akkord des Soloklaviers immer mehr Töne hinzugefügt und später (T. 255) der gesamte Akkord verändert. Die Akkorde des Orchesterklaviers (T. 248–259) sind aus den jeweils ersten Akkorden von T. 135 ff. abgeleitet, die Akkorde des Soloklaviers (T. 236–260) hingegen aus den jeweils zweiten Akkorden. Die folgende Zusammenstellung zeigt zunächst einen Vergleich der Takte 135 und 248 bzw. 249 sowie die Entwicklung der Akkorde bis T. 259 bzw. 260  :

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Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

Notenbeispiel 6 



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Anhand der Oberstimme können die Akkordfolgen in beiden Klavieren in drei Abschnitte (T. 248–254, T. 255–257 bzw. 258 und T. 258 bzw. 259–260) unterteilt werden. (Zum Vergleich  : In den Takten 135 ff. und allen übrigen entsprechenden Stellen handelte es sich um eine kontinuierliche Akkordfolge mit einer stets zwischen den Tönen as’’ und b’’ wechselnden Oberstimme.) Einzelne Akkordtöne aber werden auch hier – wie im obenstehenden Notenbeispiel durch Bögen markiert ist – über diese Unterteilungsgrenzen hinweg weiterverwendet. Die soeben vorgenommene detaillierte Beschreibung der Bezugnahme auf bereits zuvor erklungene Akkorde soll nicht nur eine für Feldman typische Arbeits- und Denkweise aufzeigen, die zudem Zusammenhänge zwischen ansonsten zwar nicht

Morton Feldman  : »Piano and Orchestra«

konträren, aber doch lose gefügten Abschnitten schafft. Es handelt sich auch um eine der wenigen für die Analyse konkret fassbaren Stellen innerhalb von »Piano and Orchestra«. Die Herausforderungen für den Hörer wie für den Analytiker sind im Falle der Werke Feldmans (und besonders auch im Falle von »Piano and Orchestra«) vergleichbar  : Beide befinden sich sozusagen »zwischen allen Stühlen«, denn es handelt sich weder um eine Musik, die nicht fassbar, beschreibbar oder interpretierbar wäre, noch um eine Musik, die disparateste Klänge aneinanderfügt. Im Gegenteil ist gerade »Piano and Orchestra« keine Musik der Gegensätze. Trotzdem gibt es auch (besonders für den Hörer) keine bzw. wenige Fixpunkte (wie z. B. die des’’-Repetition), keine durchgehende Logik der Zusammenhänge, keine vorausahnbaren Entwicklungen. Analytisch ließen sich – im Falle der Harmonik beispielsweise – alle in »Piano and Orchestra« verwendeten Akkorde beschreiben. Mit einer solchen Beschreibung hätte man aber über die Musik nicht mehr ausgesagt als diese selbst. Deutungen und Interpretationen jedoch erscheinen willkürlich und konstruiert und – vor allem – nicht den Intentionen des Komponisten entsprechend. Sein Ziel hat Feldman tatsächlich erreicht  : Er hat eine (auf den ersten Blick) leicht fassbare, jedoch schwer auffassbare Musik geschrieben.

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Allgemeine Annäherung Der Name Helmut Lachenmann steht in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts für die intensive Auseinandersetzung mit dem Phänomen Klang, besonders mit der Art seiner Produktion, mit seiner historischen Prägung und seiner Wirkung auf den – seinerseits  – geprägten Hörer. In dieser Hinsicht ist der Titel seines Klavierkonzertes – »Ausklang« – nicht weiter verwunderlich, er lässt auf eine kompositorische Aufgabenstellung des Bearbeitens der Endphase eines Klanges schließen. Der Untertitel aber – »Musik für Klavier mit Orchester« – sagt gegenüber dem Titel selbst weitaus mehr über das Verhältnis dieses Werkes zur Gattung Klavierkonzert aus. Einerseits benennt Lachenmann die Besetzung durch das Bindewort »mit« anstelle von »und«, was auf das spezielle Verhältnis von Solist und Orchester verweisen soll. In einer Werkeinführung aus dem Jahr 1986, also ein Jahr nach der Entstehung von »Ausklang«, bezeichnet der Komponist selbst das Orchester als ein »Superklavier«, auf das die spezifischen Klangeigenschaften des Klaviers übertragen werden.43 Andererseits benennt Lachenmann sein Werk nicht als »Konzert«, sondern als »Musik für (…)«. Mit dieser Bezeichnung steht es in einer Reihe von verschiedenen Werken Lachenmanns seit seiner Komposition »Souvenir. Musik für 41 Instrumente« aus dem Jahr 1959. Dadurch soll eine klare Zuordnung zu bestimmten Gattungen durch den Titel verhindert und der Fokus vielmehr auf das Instrumentarium gerichtet werden, wie auch Rainer Nonnenmann über Lachenmanns »Mädchen mit den Schwefelhölzern« schreibt  : »Mit dem Untertitel Musik mit Bildern verweigert Lachenmann seinem Mädchen mit den Schwefelhölzern die sonst an dieser Stelle übliche Gattungsbezeichnung als Drama, Tragödie, Komödie, Oper oder allgemein als Musiktheater. Wie 43 Lachenmann, Helmut  : Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester (1984/85), in  : Häusler, Josef (Hg.)  : Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, Wiesbaden, 1996, S. 396

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

bei den meisten seiner Stücke (die nicht einfach Orchesterwerke, Streichquartette oder Klavierkonzerte etc. sind, sondern Musik für Orchester, Musik für Streichquartett oder Musik für Klavier und Orchester etc.) tritt eine Bestandsaufnahme der eingesetzten Mittel an die Stelle der traditionellen Gattungsbezeichnung.«44 Auffällig ist auch die Positionierung der Solo-Klavierstimme innerhalb der Partitur  : Nicht oberhalb der Streicher, sondern an oberster Stelle (über den Flöten) wurde sie notiert  ; an ihren ansonsten üblichen Platz wurde das Orchester-Klavier gesetzt. Dies könnte jedoch anstelle einer besonderen Bedeutung für das Verhältnis von Solist und Orchester schlichtweg praktische Gründe (der Lesbarkeit zweier Klavierparts) haben. Mit einer Aufführungsdauer von etwa 50 Minuten ist das wie alle übrigen Orchesterstücke Lachenmanns einsätzige Werk »Ausklang« ungefähr so doppelt so lang wie die übrigen hier besprochenen Werke45. Eine solche Zeitspanne bietet dem Komponisten Gelegenheit, seine Musik in einem weitaus größeren Maßstab zu dimensionieren, als dies bei ansonsten üblichen Dauern von Orchesterwerken der Fall ist. Jedoch ist bei Lachenmann auch die kleinräumige Ausformulierung des musikalischen Gedankens bis ins kleinste Detail, bis ins leiseste Geräusch durchgeplant und festgelegt, sodass sich bei »Ausklang« (wie auch bei anderen seiner Kompositionen) das Werk als Gesamtes aus dem Zusammenspiel unzähliger kleiner simultaner oder aufeinander folgender Momente ergibt. Wie bei den meisten der hier detailliert besprochenen Werke handelt es sich auch bei »Ausklang« um ein Auftragswerk, in diesem Fall des WDR Köln. Gewidmet hat Helmut Lachenmann es jedoch nicht etwa dem Pianisten der Uraufführung (Massimiliano Damerini), welche am 18. April 1986 in Köln durch das Rundfunksinfonieorchester des WDR unter der Leitung von Peter Eötvös stattfand, sondern seiner Frau, Yukiko Suragawa. (Ihr ist etwa auch seine »Serynade« für Klavier solo zugeeignet.)

44 Nonnenmann, Rainer  : »›Musik mit Bildern‹. Die Entwicklung von Helmut Lachenmanns Klangkomponieren zwischen Konkretion und Transzendenz«, in  : Hiekel, Jörn Peter und Mauser, Siegfried (Hg.)  : Nachgedachte Musik. Studien zum Werk von Helmut Lachenmann, Saarbrücken, 2005, S. 17–43, hier S. 19f. 45 Für das Gesamtwerk Lachenmanns ist eine solche Dauer jedoch keineswegs untypisch. Über die Gründe für diese langen Werkdauern hat bereits Claus Steffen Mahnkopf spekuliert  : »Die Längen, die fast jedes Lachenmann-Werk hat und die unruhigere Geister am liebsten gestrafft sähen, mögen verschiedene Gründe haben und Wirkungen zeitigen. Sind sie der Schubertschen Zeitdehnung geschuldet, machen sie die Leere unseres Daseins ahnbar, sind sie Ausdruck eines Klangfetischismus, der die Form überwölbt, oder sind sie nicht immer wieder nötig, um ein Späteres intensiver emergieren zu lassen  ?« (Mahnkopf, Claus-Steffen  : »Zwei Versuche zu Helmut Lachenmann«, in  : Jahn, Hans-Peter (Hg.)  : auf (-) und zuhören. 14 essayistische Reflexionen über die Musik und die Person Helmut Lachenmanns, Hofheim, 2005, S. 13–25, hier S. 19)

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Das Orchester ist groß besetzt, am auffälligsten aber tritt der umfangreiche Schlagwerkapparat hervor. Die vier Perkussionisten spielen überwiegend auf Instrumenten mit unbestimmten Tonhöhen, denen nur wenige Instrumente mit bestimmten Tonhöhen gegenüberstehen, wie folgende Übersicht zeigt  : Perc. 1 Bestimmte ­Tonhöhen

4 Pedalpauken

Unbestimmte Tonhöhen

2 Bongos 2 hängd. Becken Tamtam (hoch) 4 Woodblocks 5 Templeblocks Chines. Becken Holzkante Styropor1

6 Rin

46 47

Perc. 2

Perc. 3

Perc. 4

Xylorimba Cymbales ­antiques

Vibraphon Cymbales ­antiques

Röhrenglocken

2 hängd. Becken Tamtam (mittel) 4 Woodblocks 5 Templeblocks Chines. Becken Holzkante Styropor Kl. Trommel 2 Tomtoms Guiro

2 hängd. Becken Tamtam (tief ) 4 Woodblocks 5 Templeblocks Chines. Becken Holzkante Styropor Kl. Trommel 2 Tomtoms Guiro Gr. Trommel2

2 hängd. Becken Tamtam (s. tief ) 4 Woodblocks 5 Templeblocks Chines. Becken Holzkante

3 Metallblöcke

Kl. Trommel 2 Tomtoms Guiro Gr. Trommel Rin 2 Donnerbleche

Die wenigen Instrumente mit bestimmten Tonhöhen kommen allerdings wesentlich häufiger vor als jene mit unbestimmten Tonhöhen. Letztere treten zwar in vielen verschiedenen Erscheinungsformen auf, werden aber (statistisch betrachtet) vergleichbar den einzelnen Tonhöhen des Xylorimbas, Vibraphons oder der Röhrenglocken verwendet. Manche Instrumente kommen sogar nur ein- oder dreimal vor (z. B. Donnerblech  : T. 533, Metallblock  : T. 329, 331 und 336), werden mit ihrem ganz spezifischen Klang also nur gezielt eingesetzt. (Demgegenüber erscheint beispielsweise das Xylorimba in über 160 Takten.) Eine besonders prominente Rolle kommt dem Schlagwerk beispielsweise an Stellen wie T. 401/402 zu, wo den beiden Paukenstimmen die Anmerkung »alles übertönen« 46 Fehlt in Besetzungsliste. 47 Fehlt in Besetzungsliste.

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

hinzugefügt wurde. Dieser Zusatz fehlt zwar in den Takten 415/416, die vier Tamtams, die einheitlich im fff tremolieren, stellen jedoch sicherlich das übrige Geschehen (auch den detailliert ausgearbeiteten Streichersatz in T. 416) in den Hintergrund. Viele der aufgelisteten Instrumente kommen in allen vier Schlagzeugparts oder zumindest mehrfach vor. Die Gründe dafür liegen einerseits in Passagen, die für e­ inen einzelnen Spieler nicht realisierbar wären (z. B. T. 646 und 656, chinesische Becken, oder T. 658, Becken), andererseits in dem Wunsch, das Klangvolumen bzw. die Lautstärke und somit die Wahrnehmbarkeit innerhalb des Orchesters zu steigern (z. B. T. 70, Becken, im ppp  ; zur Erhöhung der Lautstärke siehe z. B. T. 414 ff., Tamtams oder T. 639, Woodblocks). Ein weiterer Aspekt des mehrfachen Vorkommens von Schlaginstrumenten könnte das Erzielen einer Raumwirkung sein, wie sie etwa in T. 286/288, Becken oder T. 498 (Perkussion 2 schlägt zugleich Templeblocks und Xylorimba an, beide Klänge sollen also von ein und demselben Ort ausgehen) beobachtet werden kann. Allerdings macht Lachenmann keine Angaben zur räumlichen Verteilung der Perkussionsspieler, was aufgrund der ansonsten so detailliert notierten Klangvorstellung des Komponisten wiederum gegen eine solche intendierte Raumwirkung spricht. Perkussive Klänge werden jedoch nicht nur von den Schlagwerkspielern, sondern auch von anderen Orchestermusikern und dem Solisten erzeugt. Diese Spielweisen werden in den Erläuterungen akribisch genau ausgeführt und machen sich, besonders im Falle des Soloklaviers, beinahe alle Teile des Instrumentes zum Zwecke der Klangerzeugung zunutze (Schläge gegen Spreizen im Klaviergehäuse und an die Außenseiten des Instrumentes, Glissandi über die Wirbel u. ä.). Auch die eigentlichen Perkussionsinstrumente werden mitunter atypisch eingesetzt, wenn etwa auf den Kessel einer Pauke geschlagen oder ein Tamtam mit einem Papprohr zum Klingen gebracht wird. Die meisten unkonventionellen Spieltechniken erscheinen im Streicherpart, der zudem auffallenderweise gleich viele Kontrabässe wie Violoncelli umfasst. Die Tatsache, dass überhaupt Geräusche mit »traditionellen« Instrumentalklängen vermischt und auch die normalen Orchesterinstrumente sozusagen »artfremd« eingesetzt werden, nimmt bei einem Werk Helmut Lachenmanns nicht weiter Wunder, da auch »Ausklang« in der Reihe der Werke seit seiner Erfindung der sogenannten »musique concrète instrumentale« Ende der 60er-Jahre steht. Wie es bereits bei »Piano and Orchestra« von Morton Feldman der Fall war, gibt es in »Ausklang« zusätzlich zum Solo- auch ein Orchesterklavier. So kommt es beispielsweise gleich zu Beginn des Werkes (T. 1) zu der Situation, dass man zwar einen Klavierklang deutlich hört, der Solist aber noch pausiert. Im Verlauf des gesamten Werkes nimmt das Orchesterklavier verschiedene Rollen ein  : Zum Teil erweitert es schlichtweg das Orchester-Instrumentarium (z. B. T. 1, 13 oder 93), zum Teil aber tritt es ergänzend zum Soloklavier (bzw. jenes verstärkend) auf (z. B. T. 11, 52 oder 112).

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

An manchen Stellen sind Solo- und Orchesterpart stark miteinander verwoben, sodass eine Abhängigkeit des Orchesterklaviers von einem der beiden Parts nicht feststellbar ist. In seltenen Fällen – und auch dann nur für kurze Momente – erscheint das Orchesterklavier als gleichberechtigter Partner zum Solisten (z. B. T. 49). Spezielle Spieltechniken kommen im Orchesterklavier wesentlich häufiger vor als im Solopart, eine Angleichung an die Klänge und Geräusche der Perkussionsgruppe findet in Letzterem daher weniger oft statt. Zudem verwendet das Soloklavier viel weniger verschiedene Sondereffekte, diese jedoch wiederum häufiger, wie folgende Auflistung zeigt  : Sondereffekt

Glissando auf Tastenoberfläche Schläge (Hammer) gegen Gehäusespreizen Glissando über Wirbel (Metallstab) Schläge (Handfläche) gegen Außenseiten Kurze Scharrbewegungen auf tiefen Saiten »Guiro«  : Glissando (Fingernägel) über Tastenoberfläche Normal anschlagen und Saiten dämpfen Glissando (Plektrum) über Saiten Saltando auf Holzkante Styropor reiben Stimmstift-Schlag Quasi Flageolett

Soloklavier

11 Takte  3  6 34 17  1

Orchesterklavier

  6 Takte 39 Takte  6 24  3  5  6  2  8  1  1

Im Orchesterklavier hingegen kommen fast alle Effekte vor. Die ersten sechs der genannten Spieltechniken werden in den Erläuterungen beschrieben, die sechs übrigen hingegen werden nur innerhalb der Partitur erwähnt, sind daher nicht immer bis ins Detail genau festgelegt. (Womit beispielsweise in T. 320 der Stimmstift im Orchesterklavier angeschlagen werden soll, wird nicht erwähnt.) Insgesamt kommen die kurzen Scharrbewegungen auf den tiefen Saiten und die Hammerschläge gegen die Spreizen im Gehäuse am häufigsten vor, die meisten anderen Effekte erscheinen wesentlich seltener oder sogar nur ein einziges Mal, vergleichbar den selten eingesetzten Perkussionsinstrumenten mit spezifischem Klang. Die »Bausteine«, aus denen sich der Solopart zusammensetzt, können folgendermaßen gegliedert werden  :

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

1. Akkord (zwei Töne bis Cluster) 2. Einzelton 3. Tonrepetition, Tremolo, Triller 4. schnelle Figuren 5. spezielle Spieltechniken 6. Glissando Manche der unter Punkt 6 zusammengefassten speziellen Spieltechniken überschneiden sich mit anderen Punkten, etwa mit den Glissandi (Punkt 5) oder den Einzeltönen (Punkt 1). Am häufigsten, nämlich in zwei Dritteln des gesamten Werkes, kommen Akkorde vor. Demgegenüber erscheinen Material 2, 3 und 4 in ca. einem Viertel des Werkes, Material 5 seltener. Glissandi sind besonders rar, treten aber z. B. gehäuft in T. 471–481 auf. Fast alle Materialien (außer den Glissandi) kommen von Beginn bis zum Ende des Stückes vor. (Nur Material 3 tritt zum letzten Mal bereits in T. 686 auf.) Im Orchester wird ein ähnliches Material wie im Soloklavier verwendet, mit dem Unterschied, dass die Begriffe »Einzelton« oder »Akkord« auch für rein perkussive Klänge stehen können (z. B. in T. 69). Anders als im Solopart kommen Tonrepetitionen und Triller gemeinsam mit Liegeklängen (Einzeltönen oder Akkorden) sehr häufig vor. Den zumeist kurzen Akkord-Impulsen des Soloklaviers stehen dadurch im Orchester lang gedehnte Klangflächen gegenüber. Die übrigen Materialien (4, 5 und 6) treten wie im Solopart seltener auf, jedoch öfter als in diesem. Insgesamt gesehen ist die statistische Verteilung der Materialien im Orchester eine weniger extreme als im Klavierpart. Eine deutliche Unterscheidbarkeit von Solist und Orchester ist somit schon allein durch die verschieden häufige Verwendung eines gleichen bzw. ähnlichen Materials gegeben. Wodurch sich »Ausklang« beispielsweise von den Klavierkonzerten György Ligetis und Witold Lutosławskis hinsichtlich der Materialauswahl unterscheidet, ist die Tatsache, dass keinerlei melodische Linien oder auch nur Melodiefragmente vorkommen. Dies ist einerseits ein Charakteristikum der Musik Lachenmanns im Allgemeinen, andererseits durch die Fokussierung des Komponisten auf den (Aus-)Klang innerhalb dieses Werkes begründbar. Was in der obenstehenden Übersicht nicht aufscheint, den Klang des gesamten Soloparts aber entscheidend prägt, sind Resonanzeffekte. Dazu zählt einerseits die normale Verwendung des Klavierpedals, welches stets rhythmisch genauestens notiert wurde. Andererseits werden einzelne Töne oder Akkorde stumm niedergedrückt und entweder mit der Hand oder dem Sostenuto-Pedal gehalten. Das Mitschwingen bestimmter Obertöne wird so gezielt erzeugt. Als eine Variante davon (in umgekehrter Reihen-

Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

folge) wird ein unmittelbar zuvor angeschlagener Ton stumm repetiert, ein Teil seines Nachhalls wird dadurch »aufgefangen« und verstärkt. Diese Resonanzeffekte werden auch miteinander kombiniert sowie gelegentlich um das unterschiedlich lange Halten einzelner Akkordtöne erweitert. Sehr häufig wird ein Cluster in der tiefsten Oktave (A bis As) stumm gehalten, wodurch ein breites Spektrum an Obertönen bei nachfolgenden Aktionen mitschwingt. So vielfältig solche Resonanzregulierungen einsetzbar sind, umso erstaunlicher ist es, dass in den seltensten Fällen ein Nachhall ohne weitere Aktionen einen ganzen Takt andauert. (Noch seltener allerdings erscheinen ganztaktige Pausen im Solopart.) Im Solopart gibt es somit meistens eine ständige Aktivität. Im Großteil des Werkes spielen Solist und Orchester gemeinsam (in fast 600 von 736 Takten). Rein solistische Passagen gibt es zwar öfter als rein orchestrale (in etwa doppelt so oft), sie sind jedoch zumeist nur von kurzer Dauer, wohingegen die gemeinsamen Passagen zumeist lange Zeit über nicht unterbrochen werden. Zu unterscheiden sind allerdings innerhalb der gemeinsamen Passagen die bereits erwähnten kurzen Momente, in denen im Klavier lediglich dem Nachhall Raum gegeben wird, also keine Aktion stattfindet, und jene (überwiegenden) Teile, in denen der Pianist aktiv spielt. Die langen ununterbrochenen gemeinsamen Passagen werden dadurch in ein ständiges Wechselspiel von Aktivität und Passivität des Solisten zergliedert. Anfang und Ende des Werkes unterscheiden sich nicht nur thematisch, sondern auch in der Besetzung grundlegend  : Während zu Beginn des Werkes erst in T. 32 der Solist zum ersten Mal alleine spielt (und auch dies nur einen Takt lang), beendet er das Werk ohne Orchester (ab T. 719). Lediglich in T. 732–734, kurz vor Schluss, fügt der Komponist zu einem für den Hörer vermutlich unerwarteten Zeitpunkt einen kurzen, dezenten Orchestereinwurf zum Solopart hinzu. Rein statistisch betrachtet, spielt der Solist wesentlich öfter als alle Orchesterinstrumente. Von diesen sind die Streicher und die Perkussion am aktivsten, sie spielen in etwa vier Mal so häufig wie die am seltensten vorkommende Tuba. Holz- und Blechblasinstrumente kommen als Gruppen ungefähr gleich oft vor. Bemerkenswert ist, dass es in der Perkussion stets nur zu einigen Takten Pause kommt  ; zumindest als Teil eines Gesamtklanges erscheinen Schlagwerkinstrumente somit praktisch im gesamten Stück. Ebenso bemerkenswert ist die Tatsache, dass sämtliche Instrumentengruppen innerhalb der ersten sechs Takte ihren ersten Einsatz haben, also von Beginn an das gesamte Spektrum orchestraler Klänge verwendet wird. (Dies ist vergleichbar mit der Harmonik, wo die Grundbausteine für das gesamte Stück ebenfalls in den ersten Takten gelegt werden.) Am Ende des Werkes hingegen differieren die Zeitpunkte, an denen die Orchesterinstrumente zum letzten Mal erklingen (von T. 694, Harfe, bis T. 735, Flöte).

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Obwohl dem Solisten ein groß besetztes Orchester gegenübersteht, wird dieser allein schon durch die Tatsache nicht in den Hintergrund gedrängt, dass das Orchester über weite Strecken hinweg nur sehr reduziert eingesetzt und/oder an der unteren Wahrnehmungsgrenze, d. h. in sehr leiser Dynamik. Auch wenn den Orchesterspielern an manchen Stellen wie etwa den Streichern in den (später noch genauer zu besprechenden) Takten 416–421 eine solistische Stimme zukommt, so gibt es nahezu keine einzige »echte« solistische Partie im gesamten Werk, außer jener des Soloklaviers. So ist auch ein (als solches in der Partitur bezeichnetes) »Solo furioso« des Ersten Cellisten in T. 468 nur ein Teil eines Gesamtkomplexes, der der Vorbereitung und Unterstützung bzw. Ergänzung des Soloparts dient. Formale Übersicht Zwar wird »Ausklang« durch zahlreiche Tempowechsel in viele kleine Abschnitte untergliedert (insgesamt 58 Abschnitte), tatsächlich aber gibt es nur vier Grundtempi, mit Accelerandi, Ritardandi oder Rubato-Passagen dazwischen  : Tempo I  :  ca. 52 Tempo II  :  ca. 66 Tempo III  :  ca. 40 (»Calmo«) Tempo IV  :  ca. 58 Erstes, zweites und viertes Tempo können als ein Schwanken rund um  = 60 betrachtet werden48, von dem sich das langsamere Tempo III deutlich abhebt. Innerhalb des Werkverlaufes sind – mit Einführung eines jeweils neuen Tempos – drei Teile erkennbar  : T. 1–224  : Tempo I und II T. 225–362  : Tempo I, II und III T. 363–736  : Tempo I, II, III und IV Da das langsamere Tempo III im dritten Teil (ab T. 363) nur für kurze Zeit verwendet wird, kann man – hinsichtlich des Tempos – von einem dreiteiligen Aufbau (schnell – langsam – schnell) sprechen. Ob für den Hörer ein solcher Aufbau tatsächlich wahrnehmbar wird, ist fraglich. Durch die bevorzugte Verwendung von Liegeklängen be48 Insofern unterscheidet sich »Ausklang« nicht von vielen anderen Kompositionen Lachenmanns.

Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

reits vor T. 225 ist der Wechsel zum langsamen Tempo III an dieser Stelle verschleiert. Abgesehen von der optischen Komponente (das Publikum sieht den Dirigenten plötzlich langsamer schlagen), werden vermutlich Wechsel des Materials und des Grundcharakters für den Hörer viel eher nachvollziehbar sein als die obige Dreiteilung. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn man den großformalen Ablauf in ähnlicher Weise untergliedert, wie auch innerhalb des Soloparts aktive und passive Abschnitte einander abwechseln  : T. 1–148  : bewegt (A) T. 149–322  : ruhig (B) T. 323–599  : bewegt (A’) T. 600–666  : ruhig (B’) T. 667–736  : bewegt (A’’) Dem Werkverlauf zugrunde liegt demzufolge eine ABABA-Form, deren einzelne Teile Taktlängen von 148, 174, 277, 67 und 70 Takten haben. (Dies entspricht in etwa einem Verhältnis von 4 : 5 : 8 : 2 : 2, was jedoch nicht mit den tatsächlichen Zeitdauern  – ca. 9, 14, 17, 5 und 4 Minuten  – übereinstimmt. Das Verhältnis der tatsächlichen Zeitdauern zueinander beträgt (gerundet) 4 : 7 : 8 : 2 : 2, was gegenüber den Taktlängen zwar eine stärkere Gewichtung des ersten B-Teiles, nicht aber eine Verschiebung der Verhältnisse bedeutet. Auffällig ist bei beiden Betrachtungsweisen, dass die beiden letzten Teile wesentlich kürzer als die übrigen drei sind.) Anders als der dreiteilige Aufbau hinsichtlich der Tempowahl, kann dieser fünfteilige Wechsel von aktiveren und passiveren Abschnitten durchaus auch vom Hörer nachvollzogen werden. In den ruhigen Teilen wird die Satzdichte sowohl vertikal (die Anzahl der zugleich spielenden Instrumente) als auch horizontal (der Abstand zwischen einzelnen Aktionen) reduziert, die Dynamik verringert, das Material vorwiegend auf Einzeltöne eingeschränkt, es werden vermehrt tonlose Klänge verwendet. Die Bedeutung des Soloparts unterscheidet sich allerdings wesentlich im ersten und zweiten ruhigen Teil (T. 149 ff. bzw. 600 ff.)  : Der Beginn des ersten B-Teiles wird bestimmt von isolierten Akkorden des Solisten (T. 149–165), denen nur ein einziges Mal (T. 154) ein orchestrales Gegenstück antwortet. In T. 166 scheint es zunächst aufgrund der Ähnlichkeit zum Geschehen vor T. 149, als hätten die Klavierakkordschläge zuvor lediglich die Funktion eines Intermezzos. Tatsächlich aber bilden sie eine Einleitung zum ab T. 166 folgenden B-Teil, der sich ohne sie vermutlich an seinem Beginn zu wenig deutlich vom Ende des vorangegangenen A-Teiles abgehoben hätte. Je länger dieser B-Teil andauert, desto deutlicher wird sein Unterschied zu den bewegten A-Teilen, da plötzlich

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deren vorwärtsdrängender Duktus, die nervös wirkenden Aktivitäten, aber auch die Notwendigkeit eines Werkverlaufes negiert werden. Mit einer Mischung aus Statik und sinnlos (da ohne Konsequenzen) wirkender Aktivität bringt Lachenmann das Geschehen zum Stocken, viel mehr noch, als dies durch eine reine Statik hätte bewerkstelligt werden können. »Unter meinen jüngeren Werken gibt es kaum eines, in welchem die Form nicht auf den Punkt zutreibt, wo das Ganze als in sich selbst kreisendes Ostinato auf der Stelle tritt und es keine Notwendigkeit mehr zu geben scheint, ›weiter‹ zu gehen«49, so der Komponist wenige Jahre vor der Entstehung von »Ausklang«. Im Falle des Klavierkonzertes kommt es sogar zwei Mal zu einem solchen »Totpunkt«, sowohl im ersten als auch im zweiten B-Teil. Solche Stellen hat der Komponist jedoch einmal auch positiv beschrieben  : »Es ist der Moment des durchatmenden Umsichblickens bei einer Bergbesteigung  : ohne solche vorausgegangene Anstrengung in seiner besonderen Intensität nicht erklärbar. Die dynamische Zeit des ›Begehens‹ ist eine andere als die statische, zeitlose, der begangenen Landschaft selbst.«50 Ob solche Passagen einen Zusammenhang mit der auch von Lachenmann gelegentlich so genannten »NichtMusik« aufweisen, kann nur spekuliert werden. (Mit dieser »Nicht-Musik« bezieht sich der Komponist auf Friedrich Nietzsche und den japanischen Philosophen Kitaro Nishida.51) »Lachenmanns Beschäftigung mit der Philosophie der Kyoto-Schule steht in Korrespondenz mit der Tatsache, dass es in seinen Werken aus jüngerer Zeit in stärkerem Maße auch ›situative‹, antiteleologische Momente gibt und komplexe Wechselverhältnisse zwischen vorwärtsdrängenden, fließenden und beharrlich auf der Stelle tretenden Phasen entstehen«52, so Jörn Peter Hiekel. Ob Hiekel das 25 Jahre alte Werk »Ausklang« auch als »in jüngerer Zeit« entstanden miteinbezogen hat, ist zwar fraglich, seine Aussage trifft aber auf eben dieses in gleichem Maße zu. 49 Lachenmann, Helmut  : Vortrag über »Salut für Caudwell«, Zürich, Manuskript vom 9. 11. 1979, zitiert nach  : Shaked, Yuval  : »›Wie ein Käfer, auf dem Rücken zappelnd‹  : Zu Mouvement (– vor der Erstarrung) (1982–84) von Helmut Lachenmann – Eine Werkanalyse.«, in  : MusikTexte, Nr. 8, Köln, 1985, S. 9–16, hier S. 9 50 Lachenmann, Helmut  : »Über mein 2. Streichquartett (›Reigen seliger Geister‹ )«, in  : Gratzer, Wolfgang (Hg.)  : Nähe und Distanz. Nachgedachte Musik der Gegenwart 2, Hofheim, 1997, S. 13–32, hier S. 32 51 Siehe dazu z. B. : Nonnenmann, Rainer  : »›Musik mit Bildern‹. Die Entwicklung von Helmut Lachenmanns Klangkomponieren zwischen Konkretion und Transzendenz«, in  : Hiekel/Mauser 2005, S. 17–43, besonders S. 40, oder etwa  : Hiekel, Jörn Peter  : »Lachenmann verstehen«, in  : Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.)  : Der Atem des Wanderers. Der Komponist Helmut Lachenmann, Frankfurt am Main, 2006, S. 11–25, besonders S. 17f. 52 Hiekel, Jörn Peter  : »Die Freiheit zum Staunen. Wirkungen und Weitungen von Lachenmanns Komponieren«, in  : Tadday, Ulrich (Hg.)  : Musik-Konzepte Helmut Lachenmann, Bd. 146, München 2009, S. 5–25, hier S. 23

Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Ein deutlicher Unterschied zwischen A- und B-Teilen besteht u. a. darin, welches Material im Solopart jeweils gehäuft auftritt. In den A-Teilen gibt es im Verlauf des Werkes ein gehäuftes Vorkommen aller Materialien, wohingegen in den B-Teilen nur die Materialien 1, 2 und 4 (Akkorde, Einzeltöne und schnelle Figuren) öfter verwendet werden. Tonrepetitionen, Glissandi und spezielle Spieltechniken sind somit alleinig den A-Teilen vorbehalten (mit wenigen kurzen Ausnahmen). Auch im Orchesterpart finden sich – trotz der bereits erwähnten gleichmäßigeren Materialverteilung – solche Unterschiede, da schnelle Figuren (anders als im Solopart) und Glissandi nur in den A-Teilen in gehäuftem Maß vorkommen. Die Verwendung bestimmter Schlagwerkinstrumente in nur manchen Teilen verstärkt den unterschiedlichen Charakter derselben. Die Geräusche des geriebenen Styropors kommen beispielsweise nur im ersten B-Teil vor, chinesische Becken ausschließlich im zweiten B-Teil. Demgegenüber werden z. B. Templeblocks, Guiro und Holzkante nur in den A-Teilen verwendet. Woodblocks hingegen kommen sowohl im zweiten A- als auch im zweiten B-Teil vor, sollen also möglicherweise eine klangliche Brücke zwischen diesen beiden aufeinanderfolgenden Teilen bilden. Viele Instrumente werden im gesamten Stück, d. h. in A- und B-Teilen verwendet (z. B. Becken, Tamtam, kleine Trommel oder Tomtoms), doch setzt Lachenmann besondere Instrumente mit einem charakteristischen Eigenklang (und somit Erkennungswert) nur gezielt ein. Die vier Perkussionsspieler unterscheiden sich in der Verwendung bestimmter Instrumente in bestimmten Teilen nicht voneinander, werden daher in dieser Hinsicht wie ein einziges Instrument behandelt. Selbst bei den speziellen Spieltechniken der beiden Klaviere (Solo- und Orchesterklavier) lassen sich Unterschiede zwischen den A- und B-Teilen erkennen  : Im Soloklavier kommen Glissandi über die Wirbel, Schläge auf die Außenseite des Instrumentes und Glissandi über die Saiten nur in den A-Teilen, alle übrigen Effekte hingegen auch in den B-Teilen vor. Es zeichnet sich dabei jedoch auch eine Verschiedenartigkeit beispielsweise der drei A-Teile voneinander ab  : Im ersten A-Teil wird einzig und allein der »Guiro«-Effekt verwendet, im zweiten A-Teil hingegen beinahe die gesamte Palette spezieller Spieltechniken. Im Orchesterklavier kommen zwar in allen Teilen mehrere Spezialeffekte vor, jedoch manche davon (»Guiro«, Saiten abdämpfen, Glissandi über die Saiten und Holzkante) nur in den A-Teilen, manche (Styropor, Stimmstift-Schlag) ausschließlich in den B-Teilen. So deutlich sich A- und B-Teile voneinander unterscheiden, so sehr ähneln sich alle Teile innerhalb einer Gruppe (alle A- und alle B-Teile). Der Wechsel zu einem neuen Tempo stimmt mit dem großformalen Ablauf nicht überein (Tempo III erscheint in T. 225, Tempo IV in T. 363), auch gibt es keine Temposchwankungen (Accelerandi oder Ritardandi) z. B. vor einem neuen Teil. Auch im

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Vergleich mit anderen Gliederungskriterien kommt es fallweise, aber nicht immer zu Übereinstimmungen. Betrachtet man den Solopart unabhängig vom Orchester, so gibt es zwar viele mehr oder weniger lange Abschnitte, in jedem Fall aber kommt es stets zu Beginn eines neuen Teiles (gemäß der obenstehenden Einteilung) auch hier zur Bildung eines neuen Abschnittes. Fasst man die vielen Unterabschnitte des Soloparts thematisch zusammen, so sind folgende elf größere Abschnitte erkennbar  : T. 1–74  : sämtliches Material, meist große Ereignisdichte T. 75–148  : meist Akkorde T. 149–165  : nur Einzelakkorde (und Fermatenpausen) T. 166–322  : reduziertes Material, geringe Ereignisdichte T. 323–459  : siehe T. 1–74 T. 460–489, 1. Takthälfte  : »Guiro«, gemischt mit anderem Material T. 489, 2. Takthälfte–527  : siehe T. 1–74 T. 528–542  : Schläge außen T. 543–599  : siehe T. 1–74 T. 600–648, 1. Takthälfte  : v. a. Einzelaktionen T. 648, 2. Takthälfte–718  : siehe T. 1–74 T. 719–736  : v. a. Einzelakkorde Diese Übersicht lässt sich vereinfacht als Abwandlung einer Rondoform darstellen  : (Zur Orientierung wurden die oben beschriebenen Großteile darunter notiert.53) a – b – c – d – a – e – a – f – a – c’ – a – c A B A’ B’ Das Wiederauftreten des ersten Großteiles (A’) fällt mit der ersten Entsprechung zu T. 1–74 (in T. 323 ff.) zusammen, der Beginn von Teil B’ ebenfalls mit dem Beginn von c’. Anhand dieser Gegenüberstellung wird außerdem deutlich, dass die beiden Großteile A’ und B’ durch den Solopart in wesentlich mehr Unterabschnitte gegliedert werden, als dies bei den Teilen A und B der Fall ist. Wiederum andere Übereinstimmungen gibt es im Vergleich mit jenen Abschnitten, die allein durch die Besetzung gebildet werden. Ob beispielsweise Solist und Orchester gemeinsam oder getrennt spielen, ob es sich dabei um lange oder kurzgliedrige Abschnitte mit vielen Unterbrechungen handelt, sind Kriterien für das Festlegen der folgenden Untergliederung  : 53 Zum letzten A-Teil gibt es hier keine Korrespondenz.

Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

T. 1–116  : S + O T. 117–134  : S, fallweise + O T. 135–148  : S + O T. 149–165  : S T. 166–188  : S, fallweise + O T. 189–275  : S + O T. 276–282  : O T. 283–718  : S + O T. 719–736  : S Auch diese Übersicht lässt sich vereinfacht darstellen  : a – b – a – c – b – a – d – a – c Übereinstimmungen mit der vorigen Übersicht gibt es nur bei den Takten 149, 166 und 719, mit dem oben beschriebenen großformalen Ablauf allerdings nur bei T. 149. Im Vergleich der Abschnitte, die durch einen Tempowechsel gebildet werden, gibt es einige Korrespondenzen mit den Abschnitten des Soloparts, hingegen nur vernachlässigbar wenige mit der soeben angeführten Übersicht. Ob also die Abschnitte, in denen der Solist alleine, das Orchester alleine oder beide gemeinsam spielen, für Lachenmanns formale Gestaltung eine tragende Rolle spielen, muss infrage gestellt werden. Interessant ist außerdem, dass an einigen Stellen (T. 74/75, 459/460, 542/543) das Orchester genau einen Takt vor einem neuen Abschnitt des Soloparts zu einem neuen Tempo wechselt. In nicht geringem Ausmaß gibt es Generalpausen im Orchesterpart (89 Takte). Wo diese gehäuft auftreten, hängt nur teilweise mit der oben vorgenommenen Einteilung zusammen. So etwa deckt sich der Beginn des ersten B-Teiles (T. 149–188) mit einer Häufung von Generalpausen, ebenso der Beginn des zweiten A-Teiles (T. 338–342), auch am Anfang des zweiten B-Teiles stehen Generalpausen (T. 601/602), jedoch in geringerer Anzahl als zuvor. Ein Zusammenhang der unterschiedlichen Charaktere von A- und B-Teilen mit dem Vorhandensein von Generalpausen lässt sich daraus nicht ersehen. Erstaunlicherweise kommt es nur in den seltensten Fällen zugleich mit dem Beginn eines neuen Abschnittes zu einem Wechsel der Instrumentation. Diese scheint unabhängig von anderen Parametern gestaltet zu sein. Ein Unterschied zwischen Aund B-Teilen besteht hinsichtlich der Instrumentation nur insofern, als dass in den B-Teilen prinzipiell die Anzahl der Orchesterinstrumente reduziert ist. Das (bereits erwähnte) Vorherrschen der Streicher gegenüber den in etwa gleichberechtigten Holz-

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

und Blechbläsern54 besteht im gesamten Werk. Auffallend häufig kommt es zu einem gleichzeitigen Pausieren aller Bläser, die – wie auch die Streicher – offensichtlich als Gruppe anstatt als Einzelinstrumente behandelt werden. Ein gleichzeitiges Pausieren von Bläsern und Streichern tritt dagegen nur in etwa halb so oft in Erscheinung. Außer in den beiden B-Teilen kommt es auch im dritten, abschließenden A-Teil zu einer Reduktion aller Instrumentengruppen, auch pausieren Bläser und Streicher öfter gemeinsam als im übrigen Werk. Die Passagen, in denen besonders wenige oder besonders viele verschiedene Instru­ mente am Geschehen beteiligt sind, decken sich im Wesentlichen mit der obigen Einteilung  : Eine besonders geringe Instrumentationsdichte lässt sich im Bereich von T. 148– 211 erkennen, zu Beginn des ersten B-Teiles, aber auch von T. 700 bis zum Ende des Werkes (d. h. im dritten A-Teil). Wie bereits festgestellt wurde, unterscheidet sich der abschließende dritte A-Teil in mancherlei Hinsicht von den übrigen A-Teilen (bzw. ähnelt den B-Teilen). Besonders viele verschiedene Instrumente sind innerhalb des zweiten A-Teiles (T. 369–456 und 535–ca. 600) am Geschehen beteiligt, überraschenderweise aber auch im ruhigen ersten B-Teil (ca. T. 235–284, d. h. in seiner zweiten Hälfte). In einem überwiegenden Großteil des Werkes (fast 80 %) hat Lachenmann den Orchesterpart mit gemischten Farben instrumentiert. An den wenigen, meist nur eintaktigen Stellen, an denen er ungemischte Orchesterfarben verwendet, treten zumeist die Streicher alleine auf, beinahe ebenso oft die Schlagwerkspieler alleine. Das ungemischte, nicht mit anderen Instrumentengruppen kombinierte Auftreten der Holzund Blechbläser ist vernachlässigbar selten. Innerhalb der ungemischt instrumentierten Passagen gibt es zwar auch einzelne Takte, in denen nur ein Instrument solistisch spielt, von tatsächlich solistisch geführten Einzellinien lässt sich jedoch in keinem Fall sprechen. Das Solo-Klavier bleibt somit auch in diesen kurzen Momenten in seiner führenden Rolle unbestritten. In früheren Solokonzerten Lachenmanns befindet sich übrigens der Solist nicht immer in einer solch eindeutig führenden Rolle  : In »Notturno für kleines Orchester mit Violoncello solo« (1966/68) beispielsweise wird das Orchester vom Solisten begleitet, laut Aussagen des Komponisten selbst »allerdings nicht im untergeordneten, sondern ganz souveränen Sinn  : Der Solist bereitet vor, gleicht aus, modifiziert und rückt das Ganze immer wieder in eine andere Perspektive und wirkt so als eine Art Schlüsselfigur.«55 Im Falle des relativ kurz vor »Ausklang« entstandenen Werkes »Harmonica. Musik für Orchester mit Solo-Tuba« (1981/83) hat sich der Komponist zwar beim Kom54 Eine Ausnahme dazu bildet nur der zweite A-Teil, wo die Holz- gegenüber den Blechbläsern überwiegen. 55 Lachenmann, Helmut  : »Notturno für kleines Orchester mit Violoncello solo (1966/68)«, in  : Häusler 1996, S. 379

Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

ponieren des Orchesterparts an den klanglichen Spezifika der Tuba orientiert, die Solostimme aber erst im letzten Arbeitsschritt hinzugefügt. »Ihre Rolle bewegt sich so zwischen solistischen und in vielfachem und eigenwilligem Sinn begleitenden Aufgaben«56, so der Komponist in einer Werkeinführung. Das Satzbild des Orchesterparts von »Ausklang« legt eine Betrachtungsweise entsprechend zu Wassilij Kandinsky nahe  : Als Punkte, Linien und Flächen können die einzelnen Partikel des Orchesterparts beschrieben werden.57 Verfolgt man die gesamte Partitur dahingehend, so ist sehr auffällig, dass Lachenmann fast immer flächige Klänge verwendet (in fast 90 % des gesamten Werkes). Punkte treten dabei sehr häufig hinzu, Linien hingegen weitaus seltener, und dies oft z. B. als Glissandi, die man auch als sich verschiebende Flächen betrachten könnte. Als »Fläche« kommen meist lange ausgehaltene Töne, Liegeklänge (auch Liegegeräusche), Tremoli oder Tonrepetitionen vor. Dies geschieht zumindest in einem, meistens jedoch in mehreren Instrumenten zugleich. Ein Kontinuum, ein (sich stetig veränderndes) Klangband ist somit Basis für den Orchesterpart wie auch für das Soloklavier. Dieses Klangband entspricht einerseits dem Titel »Ausklang«, wobei das Orchester die Impulse des Solisten »ausklingen« lässt. Andererseits aber stellt es oftmals einen »Gegenklang« zum Solopart dar, oder auch einen »Ausgangs-Klang«. In seinem Aufsatz »Klangtypen der neuen Musik« (1966) und in Folge davon auch in späteren Aufsätzen unterscheidet Lachenmann zwischen Kadenz-, Farb-, Fluktuations-, Textur- und Strukturklang. Der Titel »Ausklang« könnte eine Fortsetzung dieser Kategorisierung darstellen. Tatsächlich aber vermute ich vielmehr einen spezifisch auf dieses Werk hin konzipierten Titel (mag er vor oder nach dem Kompositionsprozess entstanden sein). Der Klavierklang an sich unterscheidet sich ja von den meisten anderen Instrumenten durch ein starkes Abfallen der Nachhallkurve, typisch für ihn ist somit ein eher kurzes Nachklingen eines Impulses. Genau diese Schlussphase eines Klanges versucht nun Lachenmann, einerseits durch Pedaltechniken des Solisten, andererseits aber vor allem durch Aktionen im Orchester, zu verlängern bzw. zu gestalten, weiterzuführen und zu entwickeln. Als bloßes Echo hingegen ist der Orchesterpart nicht komponiert, er schwankt zwischen einer direkten Abhängigkeit vom Solopart und einem eigenständigen Reagieren, Ergänzen und Kommentieren zu eben diesem. Vordergründig gibt es im Solopart meist ein aktiveres Geschehen, daher scheint es, als würde dieser im gesamten Werk die führende Rolle übernehmen.58 56 Lachenmann, Helmut  : »Harmonica. Musik für Orchester mit Solo-Tuba (1981/83)«, in  : Häusler 1996, S. 394 57 Eine eindeutige Zuordnung ist nur in seltenen Fällen nicht möglich. 58 Nur gelegentlich, etwa in T. 74/75, geht der Impetus vom Orchester aus.

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Der Titel weist aber eigentlich dem darauf reagierenden Orchesterpart (bzw. den Pedalisierungs-Effekten u. ä. des Solisten) eine größere Bedeutung als den impulshaften Aktionen zu. Die »natürliche« Hörhaltung des Publikums, das sich vermutlich eher an den »Klängen«, denn an den »Ausklängen« orientiert, soll somit ins Gegenteil verkehrt werden. Andererseits kann der Titel aber auch großformal interpretiert werden  : Die ruhigeren B-Teile könnten als »Ausklang« für die aktiveren A-Teile erdacht worden sein. Solche »ausklingenden« Abschnitte findet man auch im kleinformalen Rahmen, wie etwa in T. 7. Helmut Lachenmann vergleicht übrigens den kompositorischen Versuch, den an sich rasch abebbenden Klavierklang künstlich zu verlängern, mit dem »Wunschtraum, die Schwerkraft zu überwinden«.59 Im gleichen Text nennt er als den Hauptgedanken von »Ausklang« weniger die Beteiligung des Orchesters an einer solchen künstlichen Verlängerung des Klavierklangs, als vielmehr die Überlegung, welche der instrumentalen, historischen oder grifftechnischen Gegebenheiten des Klaviers auf das Orchester übertragen werden können. Frank Sielecki erwähnt in seiner kurzen Besprechung von »Ausklang« zwar die Tatsache, dass »die Komposition sich mit den verschiedensten Möglichkeiten und Verhinderungen von ›Ausklingen‹ beschäftigt«60, legt dann aber den Schwerpunkt auf den zweiten Fall, die »Verhinderungen«, indem er die erste Klavierfigur (T. 2/3) als seiner Ansicht nach typisches Beispiel heranzieht  : »Der für das Klavier spezifische Impulsklang wird auf drei Ebenen verhindert und damit verfremdet. Zum einen verhindert die Tonrepetition und zum zweiten das komponierte Crescendo, daß der Ton nach dem Anschlagsimpuls zum ›natürlichen‹ Ausschwingen kommt. Und drittens ist die Vorschlagnote zu Beginn der Figur ebenfalls als Verhinderung des spezifischen Klaviertones zu deuten, da die Repetition und das Crescendo das Hören des Ausschwingvorgangs nicht zulassen.«61 Dabei bezieht Sielecki allerdings die Rolle des Orchesters nicht in seine Überlegungen mit ein. An jener Stelle, die er beispielhaft nennt (T. 2/3), ist der repetierte Ton h des Klaviers auch im Orchester vor, zugleich mit und nach dem Klaviereinsatz präsent. Zudem hat Lachenmann durch die stumm vorbereiteten und im Sostenuto-Pedal gehaltenen Töne sowie durch die »normale« Pedalisierung während der Repetition versucht, dem Ton h zusätzliche Resonanzen hinzuzufügen. Anschließend werden aus seinem Nachhall noch einmal Resonanzen herausgefiltert. Der »spezifische Klavier59 Lachenmann, Helmut  : Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester (1984/85), in  : Häusler 1996, S. 396 60 Sielecki, Frank  : Das Politische in den Kompositionen von Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber, Saarbrücken, 2000, S. 47 61 Ebda., S. 47

Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

ton«, nach dem Sielecki sucht, wird bereits hier in seine Einzelbestandteile zerlegt und erneut zusammengesetzt. Selbst bei einer gesonderten Betrachtung des Klavierparts findet man weniger ein »Verhindern« des Ausklingens, als viel mehr ein bewusstes Steuern desselben. (Abgesehen davon, dass man die Vorstellung Sieleckis eines »spezifischen Klaviertones« überhaupt erst präzisieren müsste, kann man auch die Tonrepetition, die er ebenfalls als »Verhindern« deutet, genau als das Gegenteil davon, d. h. als Versuch des Komponisten, einen kurzen Ton zu verlängern, deuten.) Zwar findet man innerhalb von »Ausklang« auch Stellen, an denen Ausschwingvorgänge unterbrochen oder durch neue Impulse überlagert werden. Sielecki legt seinen Überlegungen aber offensichtlich die Vorstellung eines »schönen« Klaviertones zugrunde, was meines Erachtens im Falle der Musik Lachenmanns unangemessen ist. Charakteristische Details Im Folgenden möchte ich das Augenmerk auf einige markante bzw. bemerkenswerte oder auch typische Stellen des Werkes richten. Eine detaillierte Besprechung des gesamten Werkes wäre nicht nur zu weitschweifend, sondern vermutlich auch nicht besonders aussagekräftig. Sehr früh innerhalb von »Ausklang«, bereits in T. 149–165, kommt es zu einer »Solokadenz« des Klaviers.62 Anders aber als es diese Bezeichnung vermuten ließe, entbehrt der Klavierpart an dieser Stelle jeglicher traditioneller Virtuosität, es gibt keine schnellen Kaskaden, technischen Raffinessen oder besondere Entfaltungsmöglichkeiten für den Solisten. Sehr wohl aber gibt es eine plötzliche Fokussierung zweierlei Art  : einerseits eine Fokussierung des Publikums auf den Solisten, andererseits eine Fokussierung auf ein »Elementarteilchen« in der Materialvielfalt des Werkes, einen Akkord und seinen verschiedenartig regulierten »Ausklang«. Auch der Akkord selbst wird nicht immer in derselben Gestalt wiederholt, zunächst erscheint er abwechselnd mit einem Teil seiner selbst, nach einem kurzen Orchestereinwurf (T. 154) aber wird auch der Ausgangsakkord selbst verändert (T. 155). Eine weitere Veränderung findet in T. 161 statt, worauf es zu einer Variierung des originalen Teilakkordes kommt (T. 162). Die Abfolge der Akkorde ist in der folgenden Übersicht dargestellt, der Ausgangsakkord ist mit »A« bezeichnet, der Teilakkord mit »B«  :

62 Diese wurde einmal auch vom Komponisten selbst als »Solokadenz« bezeichnet, siehe  : Metzger, HeinzKlaus/Lachenmann, Helmut  : »Fragen  – Antworten«, in  : Metzger, Heinz-Klaus und Riehn, Rainer (Hg.)  : Musik-Konzepte 61/62 Helmut Lachenmann, München, 1988, S. 116–133, hier S. 129

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Takt Akkord

mit/ ohne Nachklang Dynamik

149 A

150 B

151 A

152 B

153 A

mit

mit

mit

mit

mit

mit

f

Meno f

fff

ff

f

mf

Takt Akkord mit/ohne Nachklang

160 B mit, s. T. 149

Dynamik

p

161 A’’ mit, s. T. 150

154 155 B+ A’ Orch.Einwurf

162 B mit, vgl. T. 151 f

156 B

157 A

158 B

159 A

mit

ohne

ohne

ohne

ohne

p

p

mp

163 A mit, s. T. 153 (nicht 152)

f

164 A/B’ mit, s. T. 154

165 A/B’’ mit, s. T. 155

mp

Das folgende Notenbeispiel zeigt die Ableitung der variierten Akkorde (A’, A’’, A/B’ und A/B’’) vom Ausgangsakkord  : Notenbeispiel 7













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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Die größten Veränderungen finden bei Akkord A’ (T. 155), direkt nach dem Orchestereinwurf, statt. Bei allen übrigen Akkord-Variationen wurden lediglich ein bis zwei Töne ausgetauscht. Am Ende dieses Abschnittes (T. 164/165) stehen zwei Akkorde, die sowohl von Akkord A als auch von Akkord B abgeleitet sein könnten, weshalb sie als A/B’ und A/B’’ bezeichnet wurden. Beim ersten dieser Akkorde (T. 164) entspricht der tiefste Ton (f ) jenem von Akkord B, der höchste Ton (b’’) jedoch jenem von Akkord A. Im nachfolgenden Akkord (T. 165) verhält sich diese Situation genau umgekehrt. Der regelmäßige Wechsel zwischen A- und B-Teilen wird durch die tiefsten Akkordtöne der Takte 164 und 165 fortgesetzt. Wie auch das Notenbeispiel zeigt, besteht zusätzlich eine stärkere Verwandtschaft zwischen Akkord A/B’ (T. 164) und A’’ (T. 161) als zwischen A/B’ und A oder B. Der abschließende Akkord A/B’’ (T. 165) hingegen bezieht sich direkt auf den Ausgangsakkord A bzw. B. Die obenstehende Übersicht zeigt neben der Verteilung der verschiedenen Akkorde auch die jeweilige Dynamik an, die eindeutig zwei Abschnitte markiert  : In T. 151–155 kommt es zu einem starken Decrescendo (zu diesem wurde bereits in T. 149–150 angesetzt, die lauteste dynamische Stufe aber in T. 151 noch einmal nach oben hin »korrigiert«). Ab T. 156 hingegen – im zweiten Abschnitt – gibt es nur drei dynamische Stufen (p, mp und f ), die nur bedingt eine Entwicklung feststellen lassen. Ebenso in der obigen Übersicht ist der Vermerk enthalten, ob auf die stets kürzest angeschlagenen Akkorde ein Nachklang folgt. Dieser wird immer kurz vor dem Akkord stumm vorbereitet und im Sostenuto-Pedal gehalten. Zum ersten Mal ohne einen solchen Nachklang erscheint ein Akkord genau bei Beginn des zweiten dynamischen Teiles (T. 156). Der viel deutlicher hörbare Orchestereinwurf zwei Takte zuvor hingegen bewirkte unmittelbar bloß eine Veränderung der Akkordtöne. Ab T. 160 wird erneut ein Nachklang zu jedem Akkord hinzugefügt, die Auswahl der Nachklangstöne entspricht dabei jener der Takte 149–155 (mit Ausnahmen in T. 162 und 163), wie auch in der obigen Übersicht vermerkt wurde. Zusätzlich weisen bereits die nachklingenden Akkorde in T. 149–155 Korrespondenzen zueinander auf, schematisch kann man sie folgendermaßen darstellen  : Takt Nachklang

149 a

150 b

151 c

152 a’

153 B

154 a+a’

155 a’

Die einzige tatsächliche unverrückbare Konstante (innerhalb dieses trotz aller inneren Fluktuationen auf den Hörer statisch wirkenden Abschnittes) stellt auf den ersten Blick der Rhythmus dar. Jeder Akkord erscheint auf dem zweiten Achtel jedes Taktes, der – außer beim Orchestereinwurf in T. 154 – stets 3/4 umfasst. Tatsächlich aber bietet

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

die Fermate bei jedem Takt dem Interpreten die Möglichkeit, stets unterschiedliche Taktlängen zu erzeugen. (In T. 156 hat der Komponist dies durch die Anmerkung »viel Zeit lassen« festgehalten.) Lediglich die erste Pause jedes Taktes ist daher rhythmisch konstant. Die zweite »Kadenz« (die auch tatsächlich als »Cadenza« vom Komponisten bezeichnet wurde) steht an einer Stelle, die – innerhalb der gesamten Werklänge – in etwa den Solokadenzen in klassisch-romantischen Konzerten entspricht (T. 564). Der bereits zuvor fokussierte und nach der Kadenz weitergeführte Ton b’ wird in einem Teil des Orchesters tremolierend ausgehalten, die genaue Gestaltung von Einsätzen bleibt dem Dirigenten bzw. dem Solisten überlassen. Letzterer soll dazu eine »Cadenza ad libitum« spielen, wobei aus dieser Angabe nicht klar hervorgeht, ob die Kadenz frei zu gestalten oder aber ob es dem Solisten freigestellt ist, überhaupt eine solche Kadenz zu spielen. In ersterem Fall würde sich Lachenmann eindeutig auf die Tradition einer vom Spieler selbst erfundenen Solokadenz beziehen. Dieser Moment der Bezugnahme würde ein besonderes Licht auf das Gattungsverständnis Helmut Lachenmanns werfen  : Nicht nur die äußere Form, der innere Aufbau, das Einander-Gegenüberstellen von Solist und Orchester u. ä. wären somit für diesen Komponisten Gegenstand der Auseinandersetzung mit der Gattungstradition, sondern der Moment der Solokadenz. Diese Annahme setzt allerdings nicht nur voraus, dass die Bezeichnung »ad libitum« eine vom Solisten gestaltete Kadenz bezeichnet, sondern auch, dass sich Lachenmann überhaupt explizit auf eine Gattungstradition bezieht bzw. beziehen wollte. Wie auch immer der Solopart zu gestalten sei, so ist in jedem Fall diese Stelle eine für »Ausklang« ungewöhnliche  : Anders als im gesamten übrigen, bis ins kleinste Detail festgelegten Werk wird hier auf genaue Angaben  – auch z. B. bezüglich der Dynamik – verzichtet. Zugleich werden dem Dirigenten und vor allem dem Solisten große Freiheiten zugestanden, die in krassem Gegensatz zum übrigen, extrem determinierten Werk stehen. Einen Ansatz zu einer freien Gestaltung – allerdings nur der Zeitdimension – kann man in der bereits beschriebenen ersten »Solokadenz« des Klaviers (T. 149 – 165) beobachten. Die Stellung der beiden »Kadenzen« innerhalb des großformalen Ablaufes unterscheidet sich zudem wesentlich  : Die erste der beiden steht zu Beginn des ersten B-Teiles, leitet also eine ruhige Werkphase ein. Die zweite Kadenz hingegen wurde in den zweiten A-Teil platziert und bildet daher nur einen kurzen Moment des Innehaltens innerhalb eines belebten Umfeldes. Als Beispiel für die extrem detaillierte Festlegung einer kompositorischen Idee (in diesem Fall eines innerlich belebten Clusters mit auskomponiertem Ritardando) seien die Takte 416–421 herangezogen. Während in den übrigen Instrumenten inklusive Soloklavier lediglich zwei Quinten (f ’ – c’’, a’’’ – e’’’’) repetiert bzw. ausgehalten werden,

Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

sind die Streicher 50-fach geteilt. Zwar spielen alle Streicher Zweitontremoli, jedoch wurden jedem einzelnen Spieler eigene Tonhöhen oder eigene Rhythmen zugeordnet. Die schnellsten Rhythmen sind in den hohen Streichern, die langsamsten in den tiefen zu finden, sodass das in den Takten 417–419 folgende auskomponierte Ritardando bereits in T. 416 quasi vertikal angelegt wurde. Die ersten Violinen nehmen als einzige Gruppe am Ritardando nicht teil, entfallen aber plötzlich in T. 418, wodurch der ursprüngliche Cluster (E bis a’’) um genau eine Oktave verringert wird. Innerhalb der einzelnen Teile gibt es zumeist durchgehend einen stringenten Verlauf des Geschehens. Mitunter aber wird dieser jäh unterbrochen, wie dies z. B. in T. 459 der Fall ist. Der hier einsetzende, nur sechs Takte andauernde Calmo-Abschnitt verwendet plötzlich (bis auf den Liegeton h’’’’) ausschließlich tonlose Klänge, sowohl im Solo- als auch im Orchesterpart. Ebenso schlagartig wie er einsetzte, wird dieser Abschnitt beendet, in T. 465 wird das Geschehen vor T. 459 fortgesetzt. Die Glissandi des Solisten in T. 465 führen das Glissando von T. 457/458 weiter und werden durch das Xylorimba-Glissando ergänzt. »Brechung« ist ein von Helmut Lachenmann oft verwendeter Begriff, den er in Zusammenhang mit der Brechung von Hörgewohnheiten, der Brechung von Schönheit und der Brechung von Tradiertem benützt. An dieser Stelle in »Ausklang« kommt es zur Brechung eines linearen Werkverlaufes, d. h. im Grunde genommen auch zu einer Brechung jener Erwartung, die sich mittlerweile (während der vergangenen 30 Minuten) beim Zuhörer eingestellt hat. Nur wenig später, in T. 476, kommt es zu einem neuerlichen Einschub, der diesmal allerdings nur einen Takt andauert und – im Unterschied zu T. 459–464 – vom Solisten alleine bestritten wird. Die »Guiro«-Aktionen des Pianisten verweisen jedoch eindeutig auf den vorangegangenen Einschub. (Vor und nach beiden Stellen sind außerdem Glissandi zu finden.) Anders als die Takte 459–464 stellt T. 476 meiner Ansicht nach aber weniger eine »Brechung« des Ablaufes dar, als vielmehr den Versuch, eben diese vergangene »Brechung« (T. 459–464) in den Werkablauf zu integrieren. Plötzliche Einschübe gibt es gelegentlich auch in ruhigen Teilen, so etwa in T. 626–629. Hier sind es laute Dynamiken und eine in diesem Umfeld ungewohnte Satzdichte, die das Publikum abrupt aus einer meditativen Hörhaltung herausreißen. Auch dieser Abschnitt dauert lediglich einige wenige Takte lang und wirkt, als würde man ein Fenster zu einer belebten Straße auf- und schnell wieder zumachen. Der tremolierte Cluster der Streicher könnte sich auf die bereits besprochenen Takte 414 ff. beziehen.

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Harmonik Die Harmonik des Klavierparts ist vielfältig und integrativ, d. h. Lachenmann verwendet unterschiedlichste harmonische Zusammenstellungen. Als ein typisches Beispiel für die Integration tonaler Akkorde seien die Takte 62 bis 64 herangezogen  : Notenbeispiel 8 

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Der erste Akkord enthält mehrere tonale Akkorde (E-Quartsextakkord, f-Quintsextakkord, As-Septakkord), diese sind aber so ineinander verschachtelt, dass für den Hörer vermutlich nur der Gesamtkomplex wahrnehmbar ist. Der zweite Akkord (T. 62) besteht aus einem verminderten Dreiklang über einer Quint, kann daher auch – tonal betrachtet – als Septnonakkord mit dem Grundton d interpretiert werden. Der nachfolgende Klang, bestehend aus liegengelassenen Tönen vorangegangener Akkorde, ist ein a-Moll-Quartsextakkord. Die beiden folgenden Akkorde (T. 63) bestehen aus übereinander geschichteten reinen Quarten, der dritte Akkord in T. 63 hingegen besteht aus einem B-Dur-Dreiklang über dem Ton e. Der nun nachklingende Liegeakkord zeigt, dass Lachenmann den neu angeschlagenen und den nachklingenden Akkorden die gleiche Bedeutung beimisst  : Am Ende von T. 63 erklingt ein übermäßiger Dreiklang (fis – b – d), ebenso (neu angeschlagen) zu Beginn von T. 64 (c – e – as und a – cis – f ). Die auf das Zwölftontotal fehlenden drei Töne (h, es und g) sind Teil des unmittelbar folgenden Akkordes, der wiederum als c-Moll-Sextakkord über dem Ton h interpretiert werden kann. Ein Des-Dur-Sextakkord über dem Ton d schließt nun an, und nach einem nachklingenden G-Dur-Sextakkord beendet ein Mini-Cluster (gis  – a  – b) diesen kurzen Abschnitt (T. 64). Vollständig oder teilweise tonale Akkorde, Quartenschichtungen und damit zusammenhängend kleine Terz- (verminderte Dreiklänge) und große Terz-Schichtungen (übermäßige Dreiklänge) sowie kleine Sekund-Kombinationen (Mini-Cluster) werden – so scheint es – ohne Systematik miteinander verknüpft. An anderen Stellen des

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Werkes können übrigens auch Schichtungen anderer Intervalle (z. B. reine Quinten63) gefunden werden. Als Beispiel für die Kombination mehrerer gleicher Intervalle, allerdings mit unterschiedlichen Zwischenintervallen sei T. 1 des Orchesterparts herangezogen  : In den meisten beteiligten Instrumenten werden kleine Terzen bzw. große Sexten gespielt. Diese werden aber durch zwei Quintschichtungen und eine große Terz (vollständiger Durdreiklang) ergänzt, wie folgendes Notenbeispiel zeigt  : Notenbeispiel 9 



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Doch schon in diesem ersten Takt legt Lachenmann den Grundstein für die bereits anhand der Takte 62–64 betrachtete Integration tonaler Akkorde, denn auch hier sind – zieht man alle Töne des ersten Taktes zusammen – eben solche tonale Akkorde enthalten64  : Notenbeispiel 10



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In diesem Fall aber (anders als im weiteren Verlauf des Stückes) erklingen die tonalen Fragmente nicht simultan, sodass diese mit eingewobene Ebene für den Hörer noch nicht erkennbar wird. Zum ersten Mal könnte dies in T. 6, Klavierpart, möglich sein (F-Dur mit großer und kleiner Septime), wo jedoch der Basston wesentlich lauter als 63 Möglicherweise wurden die Quintschichtungen aus der Stimmung der Streichersaiten abgeleitet. 64 Auch weitere Beispiele tonaler Implikationen wären innerhalb von T. 1 auffindbar, da z. B. die Quintschichtung im Notenbeispiel nicht berücksichtigt wurde.

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

der übrige Akkord gespielt werden soll, was die Harmonik für den Hörer erneut verunklart. Spätestens in T. 12 aber (E-Dur-Quartsextakkord) wird das Einbeziehen tona­ler Akkorde deutlich erkennbar. Eine solche Vorgangsweise ist keineswegs neu in »Ausklang«  : »In seinen seit Mitte der 70er-Jahre entstandenen Werken werden durch Einbeziehung präexistenter Materialien über weite Strecken vertraute tonale Klangund rhythmisch regelmäßige Zeitstrukturen herausgebildet, die gelegentlich mehr subkutane Klang- oder Zeitraster sind und kaum als tonale Allusionen, geschweige denn Zitate bestimmter Musikvorlagen wahrgenommen werden können«65, so etwa Rainer Nonnenmann. So deutlich erkennbar diese tonalen Akkorde auch für den Hörer sind, so klar distanziert sich der Komponist selbst von dem Begriff »Tonalität«  : »Mit Tonalität haben beide Stücke66 nicht viel mehr zu tun als etwa die seriellen-atonalen Werke der fünfziger oder die Musik Ligetis der sechziger Jahre. Wohl aber hat die ›Konsonanz‹ als ›künstliches‹ Naturton-Produkt neben dem Geräusch die gleiche objekthafte Präsenz. Der Hörer klammert sich vermutlich an solche vertrauten Wohlklänge, die ein atonaler Akademismus gern ausklammern möchte. Er merkt dabei oft nicht, dass im hier geschaffenen Kontext auch das tonlose, das gepresste Geräusch, das dissonante Ereignis ebenso Variante von Wohlklang, also seinerseits eine Konsonanz neuer Art geworden ist.«67 Ein integratives Denken, das allein das Ausschließen bestimmter Akkorde selbst ausschließt, eine Offenheit für alle existierenden Klänge (bis hin zu den Geräuschen) und zugleich das Bewusstsein, dass diese kompositorische Haltung vom Hörer auch missgedeutet werden kann, stehen also hinter Lachenmanns Einbeziehen von tonalen Harmonien. Der Begriff »Tonalität« geht für Helmut Lachenmann allerdings  – anders als im hier verwendeten Kontext – über die bloße Harmonik hinaus, wenn er beispielsweise schreibt  : »Tonalität  : damit ist der gesamte Komplex unserer Erfahrungen mit dem überlieferten aesthetischen Apparat, mit seinen Kategorien von Harmonik, Melodik und metrisch gebundener Rhythmik, der Kadenz in ihren weitesten Ausformungen, samt den daran gebundenen Satztechniken und Formprinzipien, aber auch die damit verbundene Instrumentations-, Notations- und Musizierpraxis gemeint, und nicht nur das Material ist tonal vorgeformt, sondern in gleichem Maße unser eigenes Bewußtsein 65 Nonnenmann, Rainer  : Beethoven und Helmut Lachenmanns »Staub« für Orchester (1985/87) (= fragmen. Beiträge, Meinungen und Analysen zur neuen Musik, hg. von Stefan Fricke, Heft 33), Saarbrücken, 2000 66 Damit sind »Ausklang« und »Allegro sostenuto« gemeint. 67 Lachenmann, Helmut, in  : Ryan, David  : »Musik als ›Gefahr‹ für das Hören  : Gespräch mit Helmut Lachenmann«, in  : Dissonanz, Nr. 60, Lausanne, Mai 1999, S. 14–19, hier S. 18

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

und Hörverhalten.«68 Andernorts bezeichnet er den Begriff »Tonalität« als jenen Begriff, »(…) der letztlich für all das steht, was den (…) ästhetischen Apparat ausmacht, wie wir ihn vorfinden (…)«69. Auf die Auseinandersetzung des Komponisten mit eben diesem »ästhetischen Apparat« und auf das Hörverhalten seines stets beim Komponieren mitbedachten Publikums wird an späterer Stelle genauer eingegangen werden. Als typisches Beispiel für Lachenmanns Tonhöhenorganisation im Detail sei T. 82 des Orchesterparts herangezogen. Am Taktende wechseln Blechbläser und Streicher schnell von einem Akkord zu einem anderen und wieder zum Ausgangsakkord zurück. Dabei wird zwischen zwei jeweils benachbarten und einen Ganzton voneinander entfernten Tönen hin und her wechselt, sodass der insgesamt resultierende Akkord gleich bleibt, wie folgendes Notenbeispiel zeigt  : Notenbeispiel 11  







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Zugleich stellt der Intervallaufbau des Streicherakkordes eine genaue Umkehrung des Blechbläserakkordes dar (siehe Notenbeispiel). Außerdem verteilt Helmut Lachenmann die benachbarten Wechseltöne von Blechbläsern und Streichern auf jeweils unterschiedliche Instrumentengruppen (z. B. Hörner und Trompeten), sodass auch ein rascher Farbwechsel mit dem Wechsel der Tonhöhen einhergeht. In ähnlicher Weise gestaltet, jedoch in gleichbleibender Gruppenzuteilung instrumentiert, wurde beispielsweise der Cluster der Bläser in T. 397. Eine solche kompositorische Vorgangs68 Lachenmann, Helmut  : »Vier Grundbestimmungen des Musikhörens«, in  : Henck, Herbert (Hg.)  : Neuland, Ansätze zur Musik der Gegenwart, Jahrbuch Bd. 1, 1986, S. 66–74, S. 67 (s. auch in  : Häusler 1996, S. 54–62) 69 Lachenmann, Helmut  : »Über das Komponieren«, in  : Häusler 1996, S. 75

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

weise bzw. Zusammenhänge im Detail findet man oft in »Ausklang«. Ebenso oft handelt es sich dabei um so schnell ablaufende Vorgänge, dass sie quasi nur »unter dem Mikroskop« für das Publikum wahrnehmbar wären. In Summe prägen allerdings auch sie den Gesamtklang und -höreindruck des Werkes. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lachenmanns Harmonik in »Ausklang« eine Mischung aus tonalen Fragmenten, Übereinanderschichtungen gleicher Intervalle, der Bevorzugung von (kleinen und großen) Terzen und Sexten als isolierte Intervalle, Zwölftontotalen und Chromatik (bis hin zum Cluster) darstellt, wobei Letztere auch als Übereinanderschichtung gleicher Intervalle betrachtet werden kann. Mitunter kommen auch symmetrische Akkorde (z. B. T. 237, Soloklavier  ; T. 55, Holzbläser oder T. 323, Solo- und Orchesterklavier) vor. Zu einer Art Obertonharmonik wiederum kommt es in T. 352 ff. (Orchester). All diese Elemente werden bereits in den ersten Takten des Stückes keimhaft angelegt. Kompositionsprozess Was den Kompositionsprozess von »Ausklang« betrifft, so hat Helmut Lachenmann hier, wie auch in vielen anderen Werken seit 1966, auf sein Verfahren eines Strukturnetzes zurückgegriffen. Wie Pietro Cavallotti detailliert anhand des kurz vor dem Klavierkonzert entstandenen Werkes »Mouvement (– vor der Erstarrung)« beschreibt70, handelt es sich hierbei um ein Verfahren in einem Vorstadium der kompositorischen Ausformulierung. Die »Zeitorganisation der verschiedenen Ereignisse«71 wird durch eine rhythmische Reihe bestimmt, die Lachenmann in seinen Skizzen über der Partitur notiert und die durch verschiedene Materialien sozusagen »aufgefüllt« wird, wie Cavallotti beschreibt   : »Eine vereinfachte Darstellung des Kompositionsprozesses Lachenmanns könnte folgendermaßen aussehen  : Als erster Schritt determiniert der Komponist diese melodisch-rhythmische Linie (deren Länge der geplanten Dauer der Komposition ungefähr entspricht), notiert sie im ersten System mehrerer Notenseiten eines ersten Partitur-Entwurfes und markiert über einigen Tönen der Linie die Einsatzpunkte der Materialien  ; damit entsteht eine Art makroformaler Plan der Komposition. Erst dann beginnt die eigentliche Kompositionsphase, d. h. die klangliche Konkretisierung der einzelnen Materialien in den unteren Systemen des Entwurfes.«72 70 Cavallotti, Pietro  : »Präformation des Materials und kreative Freiheit. Die Funktion des Strukturnetzes am Beispiel von Mouvement (– vor der Erstarrung)«, in  : Hiekel/Mauser 2005, S. 145–170 71 Ebda., S. 146 72 Ebda., S. 148

Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Wie anhand von Cavallottis Aufsatz ersichtlich ist, wird dieses erste strukturelle Hilfsmittel in der endgültigen Partitur von so vielen Zwischenschritten, Überlagerungen der verschiedenen Materialien, Überlappungen von Einsätzen u. a. zumeist verdeckt.73 Die Tatsache aber, dass Lachenmann über Jahrzehnte hinweg ein einmal gefundenes Verfahren einsetzt, das ihm als Rahmengerüst dient, bestätigt meine oben vorgenommene Behauptung, der Komponist konzentriere das Gebiet seiner Neuerungen und kompositorischen Aufgabenstellungen auf die Ebene des Materials, auf das konkret Klingende. Demgegenüber scheint für ihn ein formaler Aufbau und die zeitlichen Begrenzungen seiner Materialien74 bereits mit dem (eher »automatisierten«) Erstellen eines Strukturnetzes abgehandelt zu sein. Gelegentlich aber »zwingt« förmlich das eingesetzte Material den Komponisten zu einem Aufbrechen bzw. Verlassen des Strukturnetzes, wie er auch selbst über sein Werk »Gran Torso« beschreibt.75 Tatsächlich dient es nur als ein Hilfsmittel während des Kompositionsprozesses, das mitunter sozusagen von der Musik selbst außer Kraft gesetzt werden kann, oder – wie Rainer Nonnenmann es formulierte  – »das er aber ebenso gut unterlaufen oder ganz verlassen kann, wenn der sich daraus ergebende musikalische Verlauf es anbietet oder erfordert.«76 Das in den Skizzen enthaltene Strukturnetz von »Ausklang« wurde von Michael Zink detailliert beschrieben77. In gleicher Weise, wie das Strukturnetz nur anhand der Skizzen rekonstruiert werden kann, ist auch der Bezug von »Ausklang« zum Bachchoral »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« (Kantate BWV 38) nicht aufgrund der Partitur erkennbar. Dazu Zink  : »In den Takten 229 bis 236 werden  – als tonlose Rhythmisierung  – die Proportionen der Dauern der dritten Choralzeile zitiert. (Dasselbe Verfahren wurde bei ›Schlaf, Kindlein, schlaf‹ angewandt, im Gegensatz aber zur ›Tanzsuite mit Deutschlandlied‹ 73 Nähere Ausführungen Cavallottis zum Strukturnetz finden sich auch in seiner Dissertation  : Cavallotti, Pietro  : Differenzen. Poststrukturalistische Aspekte in der Musik der 1980er Jahre am Beispiel von Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Gérard Grisey, Schliengen, 2006 74 Der Komponist selbst beschreibt das Einfügen dieser Materialien im Zusammenhang mit seinem Werk »Gran Torso« folgendermaßen  : »Dabei fügen sie sich den zeitartikulierenden Daten eines zuvor für das ganze Werk generierten ›Netzes‹  : eines quasi unterirdisch mitlaufenden, die Abmessungen des Ganzen vorab regulierenden, extrem aperiodischen Pulses, der in der Partitur als ›rhythmische Leiste‹ oberhalb des eigentlichen Instrumentalparts abgebildet ist. (Die dort notierten Tonhöhen, die, wie leicht herauszufinden, zwölftönigen Permutationen sich verdanken, halten lediglich für eventuelle Nachprüfungen das Generierungsprinzip fest. Musikalisch spielen sie keine Rolle.)« (Lachenmann, Helmut  : »Über mein 2. Streichquartett (›Reigen seliger Geister‹)«, in  : Gratzer 1997, S. 24) 75 Ebda., S. 24 76 Nonnenmann, Rainer  : »›… werden, was wir sind …‹. Spurlinien und Korrespondenzen im Schaffen von Helmut Lachenmann«, in  : Jahn 2005, S. 181–193, hier S. 186 77 Zink, Michael  : »Strukturen. Analytischer Versuch über Helmut Lachenmanns ›Ausklang‹«, in  : MusikTexte 96, Köln, 2003, S. 27–41

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Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

wurde in die Endpartitur von ›Ausklang‹ weder der Choraltext noch sonst ein Hinweis auf den Choral übernommen. Er konnte nur durch Einsicht in die Skizzen rekonstruiert werden.) Die rhythmische Struktur dieser Dauernfolge erscheint nochmals in den Takten 294 bis 302.«78 Warum Helmut Lachenmann gerade diesen Bezugspunkt gewählt hat, lässt sich jedoch nicht einmal aufgrund der Skizzen feststellen. Ebenso wenig nachvollziehbar ist es, warum an den genannten Stellen die »tonlose Rhythmisierung« (Zink) zum Teil durch wesentlich stärker wahrnehmbare Einwürfe überlagert wird, die ohnehin für den Hörer nicht wahrnehmbare Bezugnahme so noch zusätzlich verschleiert wird. In Äußerungen Lachenmanns über sein Werk lässt sich ein Hinweis auf Bach nicht auffinden. Es könnte daher der Fall sein, dass der Komponist an diesen beiden Stellen nicht einen gesellschaftspolitisch herausfordernden Bezugspunkt mit einflechten wollte, sondern vielmehr einen »privaten«, nicht für die Öffentlichkeit (dem Publikum) hörbaren und auch nicht für den Analytiker erkennbaren Zusammenhang schaffen wollte. Vergleich mit anderen Klavierkompositionen Vergleicht man den Klavierpart von »Ausklang« mit anderen Klavierwerken Helmut Lachenmanns, so findet man einige Entsprechungen  : Die Erfahrungen, die der Komponist bei »Guero« im Jahr 1969 machte, einem Stück, in dem ausschließlich Geräusche auf dem Klavier produziert werden, flossen direkt in die Verwendung von Geräuschen im »Ausklang« mit ein. (Darunter befindet sich u. a. auch eine ebenfalls als »Guiro« bezeichnete Spielweise.) Dem Klavierkonzert erstaunlich ähnlich ist die 1963, also mehr als zwanzig Jahre zuvor entstandene »Wiegenmusik« hinsichtlich der Harmonik. Darin gibt es auch kurze Momente, in denen aus einem Akkord bzw. aus einem pedalisierten Abschnitt einige Töne herausgefiltert, d. h. verschieden lange ausgehalten werden.79 Diesen Effekt (von Siegfried Mauser als »indirekte Resonanzen« bezeichnet80) findet man ebenfalls in »Echo Andante« (1962), in der das Sostenuto-Pedal für ähnliche Zwecke verwendet wird. Bereits in »Wiegenmusik« bezieht Lachenmann ebenso traditionelle 78 Ebda., S. 31 79 Peter Böttinger sieht weitere Parallelen zwischen den beiden Werken  : »(…) beide beruhen wesentlich auf Pedalisierungsfeldern, Obertoneffekten, raschen Skalen und Arpeggien, sowie kontinuierlichen Rhythmen.« (Böttinger, Peter  : »erstarrt/befreit  – erstarrt  ? Zur Musik von Helmut Lachenmann«, in  : Metzger/Riehn 1988, S. 81–106, hier S. 107) 80 Mauser, Siegfried  : »›Coincidentia oppositorum‹  ? Zu Helmut Lachenmanns Allegro sostenuto«, in  : Hiekel/Mauser 2005, S. 137–144, hier S. 139

Helmut Lachenmann  : »Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester«

Klaviertechnik und »klaviertypische« Spielfiguren ein, wie auch Rainer Nonnenmann bemerkt  : »Wiegenmusik zeichnet sich gegenüber Echo Andante außerdem dadurch aus, dass hier nicht nur der spezifische Diminuendo-Charakter des Klavierklangs ausgelotet wird, sondern darüber hinaus auch eine die herkömmliche pianistische Praxis bestimmende Spieltechnik wie das Arpeggio als zentrales Strukturmoment aufgegriffen wird.«81 Wie in »Ausklang« ist somit das spezielle (Aus-)Klangverhalten eines Klaviertones auch in früheren Werken Lachenmanns ein zentraler gedanklicher Ausgangspunkt seines Komponierens.82 Beim Vergleich mit Helmut Lachenmanns »Serynade. Musik für Klavier«, das ein Jahrzehnt nach »Ausklang« entstand (1997/98), bemerkt man jedoch Ähnlichkeiten zwischen den beiden Werken, die über die Entsprechungen mit früheren Werken weit hinausgehen. Der tiefe Cluster des Soloklaviers in »Ausklang« etwa, der ab T. 76 immer mehr in die Höhe verlegt und dabei immer lauter wird, kann in »Serynade« in den Takten 82 ff. wiedergefunden werden. Die Kombination eines lauten Einzeltones mit einem gleichzeitig gespielten leisen Akkord (quasi eine Färbung des Einzeltones) erscheint in »Ausklang« beispielsweise in T. 326/327 (zum ersten Mal isoliert bereits in T. 6), in der »Serynade« im choralartigen Endteil ab T. 309. Die Zuordnung schwarzer bzw. weißer Tasten zur linken bzw. rechten Hand innerhalb von schnellen Passagen geschieht sowohl im Klavierkonzert (z. B. T. 358) als auch im Soloklavierstück (T. 116, 281 u. a.). Der Beginn des zweiten A-Teiles von »Ausklang« wird durch genau jenen Akkord markiert, der in der »Serynade« in vielen verschiedenen Transpositionen neben einem zweiten Hauptakkord verwendet wird und wörtlich in T. 58, 71 und zwei Oktaven tiefer auch in T. 223 erscheint. (Dieser ist abwechselnd aus großen Terzen und reinen Quarten aufgebaut.) Eine Fokussierung auf einen Akkord mit verschiedenen Nachklängen, wie dies in »Serynade« ab T. 145 geschieht, ist – wie bereits erwähnt – auch in »Ausklang«, in der ersten »Solokadenz« ab T. 149 zu finden. (Zwar gibt es dort zwei verschiedene Akkorde, der zweite stellt allerdings lediglich einen Ausschnitt aus dem ersten dar.) 81 Nonnenmann, Rainer  : Angebot durch Verweigerung. Die Ästhetik instrumentalkonkreten Klangkomponierens in Helmut Lachenmanns frühen Orchesterwerken (= Kölner Schriften zur Neuen Musik, hg. von Fritsch, Johannes und Kämper, Dietrich, Band 8), Mainz, 2000 82 Über »Echo Andante« beispielsweise schreibt der Komponist selbst  : »Den ständig fliehenden Ton als Komponente von sich auf-, ab- und umbauenden Intervallstrukturen ›rechtzeitig‹ zu nutzen und gerade dadurch den stereotypen Diminuendo-Charakter zugleich bewußt zu machen und wenn schon nicht zu überwinden, so doch immer wieder zu überlisten unter Einbeziehung von Pedal- und FlageolettTechniken (mittels stumm gedrückter Tasten), aber auch durch Einbeziehung von ›tonalen‹ Konsonanzen als hörbar gemachten Obertonspektren (…).« (Lachenmann, Helmut  : »Echo Andante für Klavier (1961/62)«, in  : Häusler 1996, S. 370

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Da wie dort findet man scheinbar ins Leere gehende, plötzlich ansetzende und ebenso plötzlich abebbende schnelle Figuren, da wie dort nimmt sich Helmut Lachenmann das Prinzip Impuls und Ausklang zum Hauptthema.83 Die verwendeten Materialien und Harmonien ähneln einander ebenfalls. Gleichwohl – trotz aller Ähnlichkeiten – handelt es sich um zwei charakterlich und auch in ihrem Aufbau völlig unterschiedliche Werke. Die erwähnten Entsprechungen können daher als Konstanten eines »Spätstils« Lachenmann’scher Klavierwerke betrachtet werden. Eine direkte Verwandtschaft besteht auch zwischen »Ausklang« und dem 1987/88 entstandenen Werk »Allegro sostenuto. Musik für Klarinette/Bassklarinette, Violoncello und Klavier«. Der Komponist selbst bezeichnete letzteres Werk als »die jüngere Schwester von Ausklang, eher komplizierter, roher und zugleich feiner, ›sensibler‹ und zugleich ›brutaler‹.«84 In beiden Werken steht der Klavierklang bzw. das kompositorische Differenzieren seines Nachhalls im Vordergrund. »Die Klangmöglichkeiten des Klaviers als Resonanzsystem werden in akustische und strukturelle Prozesse umgesetzt«85, so Eberhard Hüppe über »Allegro sostenuto«. Dies zeigt sich bereits in den Anmerkungen des Komponisten bezüglich der Aufstellung der Instrumente  : »Es empfiehlt sich, den Klarinettisten rechts vom Pianisten und den Cellisten neben die ›Bucht‹ des Flügels zu setzen, so dass beider Einsätze – wo verlangt – mit Hilfe des Pedals im Gehäuse des Flügels nachhallen können.«86 Anders als in »Ausklang« steht zudem nicht der Pianist im Vordergrund des Geschehens (obwohl der Klavierklang als kompositorischer Ausgangspunkt gewählt wurde), es handelt sich vielmehr um das Zusammenwirken dreier gleichberechtigter Partner zum Erreichen eines gemeinsamen Zieles. Ebenfalls anders als in »Ausklang« bezeichnet der Komponist in »Allegro sostenuto« die formalen Abschnitte direkt in der Partitur. (Es handelt sich dabei um 14 Abschnitte, obwohl Lachenmann in einer Werkeinführung von »sechs sukzessiv angeordneten Zonen«87 spricht.) Beide Werke verwenden ein ähnliches Material, so der Komponist selbst  : »Ähnlich wie im zuvor entstandenen Ausklang für Klavier mit 83 Matthias Hermann deutet gar »Serynade« als eine Art Klavierkonzert ohne Orchester, wenn er über das Verhältnis der beiden Werke zueinander schreibt  : »Serynade geht zunächst dadurch über Ausklang hinaus, daß das Klavier zusätzlich den Part des Orchesters übernimmt und die Auseinandersetzung mit dem Verklingen an sich selbst, d. h. ohne fremde Hilfe führt.« (Hermann, Matthias  : »Helmut Lachenmann  : Serynade (1998) für Klavier«, in  : Budday, Wolfgang (Hg.)  : Musiktheorie. Festschrift für Heinrich Deppert zum 65. Geburtstag, Tutzing, 2000, S. 295) 84 Lachenmann, Helmut, in  : Ryan 1999, S. 17 85 Hüppe, Eberhard  : Helmut Lachenmann, in  : Komponisten der Gegenwart, Heister, Hanns-Werner und Sparrer, Walter-Wolfgang (Hg.), 10. Nlfg., München, 1996, S. 24 86 Lachenmann, Helmut  : Partitur von »Allegro sostenuto«, Breitkopf & Härtel 87 Lachenmann, Helmut  : »Allegro sostenuto. Musik für Klarinette/Baßklarinette, Violoncello und Klavier (1987/88)«, in  : Häusler 1996, S. 398

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Orchester bestimmt sich auch hier das musikalische Material aus der Vermittlung zwischen der Erfahrung von ›Resonanz‹ (Tenuto-Varianten zwischen Secco-Klang und natürlichem oder künstlichem Laisser-vibrer) einerseits und von ›Bewegung‹ andererseits.«88 Genauer bestimmen lässt sich meiner Ansicht nach das Material von »Allegro sostenuto« als die drei Kategorien Impuls  – Bewegung  – Nachhall, wobei die Kategorie »Bewegung« je nach dem musikalischen Zusammenhang auch entfallen kann. Rolle des Hörers Nach genauen Entsprechungen einzelner Momente innerhalb von »Ausklang« sucht man zumeist vergebens. (Die einzige Stelle, an der es zu Wiederholungen kommt, liegt in der ersten »Solokadenz«, T. 149 ff.) Lachenmanns Art und Weise, wie er das Material in immer neuen Erscheinungsformen verwendet, kann man als eine ständige Variation bezeichnen. Dies macht einerseits seine Musik für eine genaue Beschreibung wenig greifbar, da diese sich entweder mit einer bloßen Aufzählung des Materials begnügen, oder aber die unzähligen verschiedenen Ausgestaltungen dieses Materials zu erfassen versuchen muss. Andererseits aber lenkt diese Tatsache den Blick des Betrachters weg vom Vordergründigen und hin zum – dem Titel gemäß – Wesentlichen des Werkes, nämlich den Klängen zwischen den Klängen. Gewissermaßen zwischen den Zeilen lesen sollte man also vermutlich als adäquater Hörer und Analytiker, um an den Kern und die Grundaussage von »Ausklang« zu gelangen. Doch auch wenn man auf diese subjektiv gefärbte und zumeist nur hörend nachvollziehbare Art und Weise versucht, sich beschreibend dem Werk anzunähern, so wird man vermutlich auch weiterhin daran scheitern, wenn man nach Querverweisen, Bezügen, inneren Entwicklungen (innerhalb der A- und B-Teile), nach Vergleichbarem, gegeneinander Abwägbarem sucht. Vielleicht gelangt man dabei als Analytiker an denselben Punkt wie der Komponist  : »Ich habe nur ratlose Fragen, keine Antworten«89, so meinte Lachenmann einmal. Vielleicht muss man aber auch an der Art der eigenen Fragestellungen, Erwartungshaltungen und Suchschemata ansetzen  : Abgesehen von der großformalen Unterteilung in ruhigere oder belebtere Abschnitte lebt diese Musik im Moment und kann meiner Ansicht nach am ehesten als Folge von Zuständen beschrieben werden, die stets für eine kurze Zeit das Zeitgefühl des 88 Ebda. 89 Lachenmann, Helmut, in  : Mahnkopf, Claus-Steffen (Hg.)  : »Zur gegenwärtigen Lage von Kunst und Kultur«, in  : Musik & Ästhetik, Nr. 8 (29), Stuttgart, Jan 2004, S. 85–111, hier S. 110

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Hörers aufheben. Ein »gegenwärtiges« Hören anstelle eines an Entwicklungen, Aufund Abbau von Spannung u. ä. orientierten Suchens scheint mir für dieses Werk am adäquatesten zu sein. Trotzdem unterscheidet sich eine solche Hörhaltung von jener, die sich etwa für Werke Feldmans eignet, denn »Feldmans Gelassenheit im Sich-ereignen-Lassen des musikalischen Diskurses wird vom Eigenleben der Klänge geleitet (…).«90 Helmut Lachenmann hingegen bleibt als formgestaltender Komponist stets derjenige, der quasi »die Zügel in der Hand hält«. Ausgangspunkt für den formalen Aufbau seiner Werke ist dabei jedoch nicht eine übergeordnete Architektur, sondern es wird das Werk gleichsam von innen heraus aufgebaut91, wie der Komponist speziell über »Ausklang« beschreibt  : »Die ›Dramatik‹, wenn sie diese Bezeichnung verdient, verdankt sich keiner äusserlichen Inszenierung – als solche wäre sie nicht lange wirksam –, sondern einer inneren prozessualen Logik des Klangmaterials (…). Form ist für mich ein in die Zeit zu projizierender Aspekt von Klang  ; Form sozusagen als ›Arpeggio‹ einer statisch und/oder dynamischen Klangsituation.«92 In späteren Werken hat Lachenmann noch stärker die Idee einer Musik, die im »hier und jetzt« gehört werden soll, verfolgt, so z. B. in »Nun. Musik für Flöte, Posaune und Orchester« aus dem Jahr 1998/99, worüber Jörn Peter Hiekel schreibt  : »Wir haben es hier also insgesamt mit Musik zu tun, in der Klänge als ›Situationen‹ wahrgenommen werden können und die diese Klänge nicht in eine an traditionelle Muster erinnernde Dramaturgie einbettet. Fast noch konsequenter als in NUN ist dies in dem 1997/98 entstandenen Klavierstück Serynade realisiert.«93 In seinem Einführungstext zu »Ausklang« beschreibt Helmut Lachenmann selbst jedoch sehr wohl eine großräumige Entwicklung des Werkes  : »Die Musik durchläuft so einen Parcours von Situationen, die  – fortsetzend, kontrastierend oder qualitativ umschlagend – auseinander hervorgehen, wobei die Musik den Ausgangsgedanken zu verraten scheint, weil sich die Bewegungen mehr und mehr verselbständigen, bis diese, als perforiertes Riesencantabile sich erkennend, wieder in ihn einmünden und sich im unterwerfen.«94 Unter dem Begriff »Ausgangsgedanke« ist hier jene kompositorische Grundidee gemeint, die auch im Titel selbst liegt, nämlich der Wunsch, den Klavierklang künstlich 90 Bauer, Johannes  : »Zauber der Entzauberung  : Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der neuen Musik«, in  : Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Nr. 64, Berlin, August 2005, S. 7–11, hier S. 9 91 Rainer Nonnenmann bezeichnet Lachenmanns kompositorische Vorgangsweise als »materialkonkreten Formverlauf«. (Nonnenmann 2000, S. 79) 92 Lachenmann, Helmut, in  : Ryan 1999, S. 17 93 Hiekel, Jörn Peter  : »Interkulturalität als existentielle Erfahrung. Asiatische Perspektiven in Helmut Lachenmanns Ästhetik«, in  : Hiekel/Mauser 2005, S. 62–84, hier S. 73 94 Lachenmann, Helmut  : Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester (1984/85), in  : Häusler 1996, S. 396

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zu verlängern bzw. sich auf den Moment des Verklingens zu konzentrieren. Zusehends entfernt sich (laut Aussage des Komponisten) das Werk von dieser Grundidee, um letztendlich wieder zu ihr zurückzukehren. Wo allerdings solche formalen Abschnitte und besonders die vom Komponisten als »perforiertes Riesencantabile« bezeichnete Rückkehr zum Grundgedanken in der Partitur genau zu finden ist, lässt sich meines Erachtens aufgrund dieser allgemeinen Äußerung allein nicht nachvollziehen. Auseinandersetzung mit Traditionen »Ähnlich wie Beethoven hält auch Lachenmann am klassischen Werkbegriff und an den hergebrachten Formen fest  ; der ehemalige Schüler Luigi Nonos hat Streichquartette und Orchesterstücke geschrieben, ein Klavierkonzert und eine ›Oper‹. Er beharrt auf der Verpflichtung, die Musikgeschichte fortzuschreiben, und auf der permanenten Suche nach neuen, unverbrauchten Ausdrucksmöglichkeiten – unbeirrt von allen Versuchen des 20. Jahrhunderts, derlei tradierte Kategorien auszuhebeln«95, so Carsten Fastner anlässlich des 70. Geburtstag Lachenmanns. Die Tatsache, dass Fastner hier nur die Oper unter Anführungszeichen setzt, zeigt, dass mitunter die Bewertung, ob ein Komponist traditionelle Gattungen fortführt, lediglich an der Besetzung von Werken vorgenommen wird. Zwar verspürt man tatsächlich Lachenmanns Wunsch, »die Musikgeschichte fortzuschreiben« auch beim Lesen seiner zahlreichen Texte und Äußerungen, doch reicht es meines Erachtens nicht, festzustellen, dass die äußerlich bewahrten Hüllen einer Gattung mit neuen Ausdrucksformen gefüllt werden. Anders als Fastner am Ende des obigen Zitates behauptet, versucht Lachenmann gerade durch das Verwenden traditionell »besetzter« Besetzungen, eben diese »tradierten Kategorien auszuhebeln« und – quasi von innen heraus – zu unterwandern, infrage zu stellen und sogar ad absurdum zu führen. Sein Prinzip, dabei genau an jenen Stellen anzusetzen, an denen ein traditionell »geschultes« Publikum am ehesten eine Fortsetzung der Hörgewohnheiten erwartet, an Stellen (d. h. Besetzungen), die gesellschaftlich »anerkannt« sind (wie die im Zitat erwähnten Gattungen), führt zu einer größtmöglichen Irritation eines unvorbereiteten Hörers. Der Komponist selbst hat dies einmal folgendermaßen formuliert  : »Ich schreibe ein Streichquartett, ich schreibe für Orchester, nämlich für die Einrichtungen des bürgerlichen ästhetischen Apparats, wo Menschen zusammenkommen, um jetzt diesen

95 Fastner, Carsten  : »Was darin an Wunderbarem …«, in  : Falter Special zu Wien Modern, Nr. 42a/05, Wien 2005, S. 5

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Teil ihrer Wirklichkeit zu zelebrieren.«96 Andernorts nennt er u. a. »Ausklang« als ein Beispiel für »den zugleich ehrfürchtig setzenden und strukturalistisch zersetzenden Umgang mit dem magisch versteinerten Vorrat des philharmonisch Überlieferten.«97 Rainer Nonnenmann hat eine solche kompositorische Grundeinstellung verallgemeinert, d. h. nicht nur auf »Ausklang« bezogen. Er behauptet, dass sich das Solokonzert geradezu anbiete, um »einen Teil des Selbstverständnisses der gegenwärtigen Kulturgesellschaft aufzugreifen, in Frage zu stellen und gegebenenfalls neu zu interpretieren«, da »das in Programmstereotypen erstarrte Konzertleben neben der großen Symphonik vorwiegend von den klassisch-romantischen Solokonzerten getragen wird.«98 Das Klavier selbst hingegen behandelt Lachenmann auch in »Ausklang« in »traditioneller« Weise zur Klangerzeugung, anders als er es z. B. in »Guero« (1970) tat. Dieses Stück nannte er selbst ein »Beispiel eines verfremdeten Umgangs mit einem kulturellen Requisit wie dem Konzertflügel« und bezeichnete wenig später das Klavier als »Möbelstück«.99 In seinem Einführungstext zu »Ausklang« erwähnt der Komponist selbst überraschenderweise den Begriff »Klavierkonzert« mit keinem Wort. In eine musikgeschichtliche Traditionslinie stellt er zwar sein Werk, jedoch in jene Tradition, den Klavierklang künstlich zu verlängern  : »Der Wunschtraum, die Schwerkraft zu überwinden, zu überlisten, oder wenigstens Situationen solch überwundener Schwerkraft zu simulieren, hat vielleicht ein Pendant in den vielfältigen Versuchen, die per Impuls in Schwingung versetzte Materie, zum Beispiel den Klavierklang, am Verklingen zu hindern. Die Geschichte des Klaviersatzes, und nicht erst seit der Romantik, ist weithin die Geschichte solcher Techniken«100, so Lachenmann. Die Tatsache, dass Lachenmann den Begriff »Klavierkonzert« nicht verwendet, kann mehrfache Gründe haben  ; einerseits könnte es sich tatsächlich um eine Missdeutung von »Ausklang« handeln, wenn man dieses als »Klavierkonzert« bezeichnet. In diesem Fall hätte ein solch präziser Denker und akribisch seine Intentionen erklärender Komponist wie Helmut Lachenmann diese Tatsache in seinem Text aber vermutlich erwähnt. Andererseits kann es sich um die Annahme Lachenmanns handeln, dass die Bezeichnung »Klavierkonzert« für »Ausklang« ohnehin eine selbstverständliche ist bzw. wird und er daher eher den Fokus auf den für dieses Werk spezifischen Grundge 96 Lachenmann, Helmut, in  : Schäfer, Thomas/Fricke, Stefan  : »Gebrochene Magie  : Ein Gespräch mit Helmut Lachenmann«, in  : Neue Zeitschrift für Musik, Nr. 167(1), Mainz, Jan–Feb 2006, S. 22–25, hier S. 24f.  97 Lachenmann, Helmut  : »Drei Werke und ein Rückblick«, in  : Häusler 1996, S. 402f., hier S. 403  98 Nonnenmann 2000, S. 271  99 Lachenmann, Helmut  : »Guero. Studie für Klavier (1970) I«, in  : Häusler 1996, S. 383 100 Lachenmann, Helmut  : Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester (1984/85), in  : Häusler 1996, S. 396

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danken, als auf die allgemeine Tradition der Gattung legte. (Diese Möglichkeit halte ich persönlich für die am ehesten wahrscheinliche.) Schlussendlich gibt es auch die Möglichkeit, dass Lachenmann den Begriff beim Verfassen seines Einführungstextes nicht bewusst weggelassen hat, sondern sämtliche Spekulationen über dieses Fehlen unberechtigt sind. Interessanterweise finden sich im Schrifttum Helmut Lachenmanns überhaupt nur wenige Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit Gattungstraditionen oder -normen. Wenn er beispielsweise schreibt  : »Jedes musikalische Mittel hat seinen bewußten oder unbewußten Stellenwert im tonalen Zusammenhang«101, so bezieht sich dies vorrangig auf den  – wie er auch selbst schreibt  – emphatischen Gestus und die Dialektik von Spannung und Entspannung. Lachenmanns Traditionsbezug findet (betrachtet man nur seine eigenen Schriften) einerseits auf einer allgemeineren, andererseits aber auf einer detaillierteren (Material-) Ebene statt, als dies die Auseinandersetzung mit Gattungstraditionen tun würde.102 So spricht er auch oft über »Strukturen«, nicht bzw. sehr selten aber über »Formen« oder gar »Gattungen«. Seine gerne vorgenommenen Kategorisierungen finden eher auf der Ebene des Materials statt, ebenso die Bezüge zur Gesellschaft. Der Bereich, in dem die Irritationen, Brechungen, Neuschaffungen und kompositorischen Herausforderungen Helmut Lachenmanns liegen, umfasst somit viel mehr die Detailarbeit, die Musik »im Moment«, quasi eine »Musik der Gegenwart«, die einen stets wachen, musikgeschichtlich sozialisierten Hörer erfordert, der genau jene Assoziationen mit einbringt, mit denen Lachenmann als Komponist »spielt«. (Die Tatsache, dass jeder Hörer unterschiedliche Assoziationen zu ein und demselben Werk hat, wurde jedoch auch vom Komponisten selbst im Jahr 1988 angemerkt  : »Ich weiß, daß die Struktur, die ich als Komponist stifte, in sich Elemente von so vielen Erfahrungsstrukturen, kollektiv und individuell wirkenden, enthält, die ich niemals unter Kontrolle haben kann, nicht bei mir und bei anderen, und die doch den Hörer immer wieder in unvorhersehbare Zonen seiner Erinnerung locken, bevor ihn die Klarheit des komponierten Zusammenhangs wieder ›zu Ordnung ruft‹. In diesem Orientierungsprozeß ist jeder Hörer letztlich mit sich und seiner Innenwelt allein.«103) 101 Lachenmann, Helmut  : »Bedingungen des Materials. Stichworte zur Praxis der Theoriebildung«, in  : Häusler 1996, S. 35 102 Einen ähnlichen kompositorischen Ansatzpunkt beschreibt Rainer Nonnenmann über das Werk »Air«  : »In bewusster Anknüpfung an das herkömmliche Modell des Solokonzerts versucht Lachenmann in Air die gewohnte Funktion des Solisten nicht einfach zu übernehmen, sondern auf der Grundlage seines materialkonkreten Kompositionsansatzes neu zu definieren.« (Nonnenmann 2000, S. 50) 103 Metzger, Heinz-Klaus und Lachenmann, Helmut  : »Fragen  – Antworten«, in  : Metzger/Riehn 1988, S. 116–133, hier S. 117f.

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Zugleich aber braucht der Komponist auch den unbedarften, nicht »vorgewarnten« Hörer, denn sonst würde er sein oft postuliertes kompositorisches Ziel eigentlich verfehlen  : »Medium jener Brechung ist in der kreativen Praxis das, was wir seit der vergangenen Jahrhundertmitte das ›musikalische Material‹ nennen  : das überlieferte Reservoir der Mittel zur Gestaltung von Klang- und Zeiträumen, vermittelt durch den von mir einst so genannten ›ästhetischen Apparat‹. Gemeint ist mit Letzterem das Gesamte dessen, was zur gesellschaftlich und historisch gewachsenen Praxis des Musikmachens im weitesten Sinne gehört  : die Musikinstrumente, die Einrichtungen, die Aufführungs- und die Notationspraxis und die daran gebundenen Theorien und Ordnungen, Systeme, Hierarchien – aber ebenso die damit verknüpften Rezeptionsformen und -rituale.«104 Auch hier spricht er vielmehr über die Rolle des Hörers als über die Auseinandersetzung mit Gattungsnormen oder tradierten Formen. Hätte er aber jedenfalls einen Hörer vor sich, der mit der Musik Helmut Lachenmanns aufgewachsen ist, so würde jene »Brechung« vermutlich nicht auf die gewünschte Art und Weise stattfinden. Der Bezugspunkt des im heutigen Konzertbetrieb vorrangig gespielten klassisch-romantischen Repertoires ist daher bei Lachenmann ein ständig präsenter105 und auch – in der oben dargestellten Form – notwendiger. Das Bewusstsein aber, dass die »Brechung« von Gewohnheiten selbst schon zur Gewohnheit wurde, ist auch bei Lachenmann vorhanden, wenn er schreibt  : »Die Zeiten sind vorbei, in denen die sogenannte Avantgarde um einen Platz im Kulturbetrieb kämpfen mußte  : Gerade als Ungewohntes, Unberechenbares, möglicherweise Schockierendes ist Neue Musik als in diesem Sinne Gewohntes, Berechenbares und möglicherweise Aufregendes salonfähig geworden für eine Gesellschaft, deren Unbehagen am eigenen Anachronismus sie dazu treibt, neue und andere Formen des Behagens sich zu verschaffen.«106 Und auch die Definition dessen, was »Schönheit« sein kann, wurde nicht nur vom Komponisten infrage gestellt, sondern bezüglich seiner Werke von Stefan Jena neu definiert  : »Zwar wird der bürgerliche Kanon dessen, was als ›schön‹ gilt, durch die Musik Lachenmanns radikal in Frage gestellt, indem er Klänge komponiert, die diesem Kanon nur schwer vereinbar scheinen, zugleich aber wächst diesen Klängen durch den komponierten Spannungszusammenhang neue Schönheit zu.«107 So müsste also Lachenmann  – nähme er sich selbst beim Wort  – nunmehr 104 Lachenmann, Helmut  : »Kunst in (Un)Sicherheit bringen«, in  : Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Nr. 67, Berlin, Mai 2006, S. 2–4, hier S. 4 105 Besonders präsent ist dieses Repertoire in Werken wie »Staub« oder »Accanto«, in denen sich der Komponist direkt auf Beethovens Neunte Symphonie bzw. Mozarts Klarinettenkonzert bezieht. 106 Lachenmann, Helmut  : »Zur Analyse Neuer Musik«, in  : Häusler 1996, S. 21–34, hier S. 21 107 Jena, Stefan  : »Von der ›Logik der Verweigerung‹  : Zu Helmut Lachenmanns Musikästhetik«, in  : MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik, Nr. 64, Köln, April 1996, S. 16–19, hier S. 16

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seine eigene Musik »brechen« und seine eigenen (kompositorischen) Ansätze infrage stellen, da auch diese mittlerweile zum Kanon Neuer Musik gehört.108 Vielleicht aber lässt Helmut Lachenmann beim Komponieren eines neuen Werkes all den Ballast hinter sich, den der Musiktheoretiker Lachenmann im Laufe seines Lebens angehäuft hat. Insofern würde zumindest er dem Wunsch Hans-Peter Jahns entsprechen, dass die Texte und Begriffe Lachenmanns nicht den analytischen und beschreibenden Blick auf seine Werke verstellen oder zumindest prägen sollten. Anders als die meisten Autoren, die über die Musik Lachenmanns schreiben  – meine Person nicht ausgeschlossen – schreibt er  : »Manchmal wünsche ich mir, alle Texte, die Helmut Lachenmann geschrieben hat und alle Werkkommentare, die er immer noch bereitwillig jedem seiner eben erst abgeschlossenen Kompositionen vorauseilen läßt, wären niemals veröffentlicht worden.« Den Grund dafür benennt er folgendermaßen  : »Solange ein Künstler lebt, wird er mit der Fixierung und Fossilierung seiner Äußerungen nicht nur imitiert und kritisiert, sondern er wird vor allem stigmatisiert und gekreuzigt (…). Sobald sie dann im Buch ediert erscheinen, öffnen sich die Schleusen der Musikwissenschaft und Heere von jungen präformiert Informierten dienen an dem Festgehaltenen ihre gleichgeschaltete Kompetenz ab, bis ihnen die Doktorwürde angenagelt wird. Alles was da herausflutet in Schrift und Behauptung kann von Helmut Lachenmann nicht mehr bis ins Kleinste korrigiert werden. Die riesenhaft anschwellende Woge an Behauptetem durch das Meer der Ungenauigkeiten entfacht, ist repetitiv.«109 Tatsächlich besteht bei einem so wortgewaltigen Komponisten wie Helmut Lachenmann die Gefahr, seine Werke vorrangig mit dem Vokabular zu beschreiben, das er selbst geprägt hat, seine Kompositionen nicht auch als unabhängig von seinen Äußerungen zu betrachten bzw. zu werten. Die Frage, welche Intentionen ein Komponist in seiner Musik zum Ausdruck bringen will, stellt sich jedoch bei jedem Komponisten. Auch in anderen Fällen stützt man Analysen, Deutungen und Beschreibungen gerade von Werken des 20. und 21. Jahrhunderts auf Äußerungen der Komponisten selbst (egal, ob eher dürftig oder ausschweifend). Hans-Peter Jahns Bedenken betreffen aber 108 Zumindest die »Gesetze« der Avantgarde brach er in gleichem Maße wie die einer unreflektierten Bewahrung von Tradition, sodass Wolfgang Rihm zu Recht schreibt  : »An Lachenmanns Subtilität brechen sich die Tabus des Traditionellen ebenso wie die des Fortschrittlichen. Er erreicht die souveräne Loslösung vom festgeschriebenen Typenarsenal  : Er komponiert geschlossene Werke für sogenannt traditionelle Besetzungen in präzis fixierter, am klassisch-dialektischen Ideal geschulter Satz- und Formkunst  – und ist dennoch der Fortschrittlichste von uns allen.« (Rihm, Wolfgang  : ausgesprochen. Schriften und Gespräche (Band 1), hg. von Mosch, Ulrich, Zürich, 1998 (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Band 6,1), S. 348) 109 Jahn, Hans-Peter  : »›… meinetwegen mickrig … schäbig … nicht bösartig …‹. 12 Annäherungen an die (komponierende) Person Helmut Lachenmann«, in  : Jahn 2005, S. 211–238, hier S. 228

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ebenso die Tatsache, dass die von Lachenmann gebrauchten und zum Teil erst durch ihn geprägten Begriffe ungenau bzw. nicht im Sinne des Komponisten verwendet werden, sodass es trotz der vielen Äußerungen Lachenmanns zu Missdeutungen seiner Werke kommen kann. Dies könnte meines Erachtens jedoch auch an der Vieldeutigkeit der Begriffe selbst liegen, denn so präzise auf den ersten Blick beispielsweise die Kategorisierung der »Klangtypen der Neuen Musik« erscheint, so wenig fassbar sind sie bei genauerer Betrachtung und Bestimmung. Vielleicht bedurfte es vonseiten des Komponisten gerade deshalb so vieler zusätzlicher Worte beim Versuch, seine Intentionen genau zu beschreiben. (Die Lösung der Problematik, sich als Analytiker zu sehr im begrifflichen Fahrwasser eines Komponisten aufzuhalten, liegt – wie so oft – vermutlich in einem Mittelweg.)110

110 Zur Frage der Bedeutung der theoretischen Texte Lachenmanns bzw. zu Bedenken gegen die Verwendung eben dieser siehe z. B. Brinkmann, Reinhold  : »Der Autor als sein Exeget. Fragen an Werk und Ästhetik Helmut Lachenmanns«, in  : Hiekel/Mauser 2005, S. 116–127, besonders S. 119  ; Stenzl, Jürg  : »Helmut Lachenmanns musikgeschichtlicher ›Ort‹«, in  : ebda., S. 9–16  ; Nonnenmann 2000, besonders S. 20  ; oder Hiekel, Jörn Peter  : »Lachenmann verstehen«, in  : Jungheinrich 2006, S. 11–25, besonders S. 13.

György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Entstehung und Einflüsse Anders als alle übrigen hier näher besprochenen Werke ist György Ligetis Klavierkonzert in zwei Phasen entstanden  : Zunächst wurden die ersten drei Sätze komponiert (laut Ligetis handschriftlicher Partitur  : 1985–86), erst später kamen die Sätze 4 und 5 hinzu (1986–87). Das Werk trägt tatsächlich die Bezeichnung »Klavierkonzert«, und auch in anderen Bereichen werden Bezugnahmen auf traditionelle Aspekte der Gattung festzustellen sein. Besonders für die Gestaltung des Klavierparts standen Scarlatti, Chopin, Schumann und Liszt Pate. Mit ihnen hat Ligeti nicht nur das Klavier als »Lieblingsinstrument« gemein111, sondern auch eine Schreibart, die aus einer gewissen Taktilität heraus kommt. (Der Klavierpart liegt also »gut in der Hand« des Pianisten.) Virtuosität ist in diesem Zusammenhang für den Komponisten zweitrangig und sollte vor allem nie rein äußerlich sein – sie ist daher eher Mittel zum Zweck. Das Klavierkonzert stellt keinesfalls Ligetis einzige Auseinandersetzung mit der Gattung des Solokonzertes bzw. des Konzertes überhaupt dar. Zuvor sind bereits 1966 das »Konzert für Violoncello und Orchester«, 1970 das »Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten« und 1972 das »Doppelkonzert für Flöte, Oboe und Orchester« entstanden, einige Jahre später das »Konzert für Violine und Orchester« (1990–92). Dabei setzt er sich jedoch nicht mit traditionellen Konzertformen bzw. dem Gattungsbegriff auseinander, sondern denkt eher pragmatisch  : »Konzert ist für mich  : ein oder mehrere Instrumente extrem virtuos geführt in struktureller Verbindung, in strukturellem Zusammenwachsen mit anderen Instrumenten oder mit einem homogenen Hintergrund wie eine Orchesterbegleitung.«112 Auf Basis dieser sehr allgemein gehaltenen »Definition« eines Solokonzertes lassen sich auch unterschiedlichste 111 So Ligeti in einem Gespräch 1988. (»György Ligeti über eigene Werke. Ein Gespräch mit Detlef Gojowy aus dem Jahre 1988«, in  : Floros, Constantin, Marx, Hans Joachim und Petersen, Peter (Hg.)  : Für György Ligeti. Die Referate des Ligeti-Kongresses Hamburg 1988, Laaber, 1991, S. 349–363, hier S. 359) 112 So György Ligeti 1992, zitiert nach  : Burde, Wolfgang  : György Ligeti. Eine Monographie, Zürich, 1993, S. 206f.

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Werke bzw. die einzelnen Sätze innerhalb derselben miteinander vergleichen. Lediglich das Ausmaß der »extremen« Virtuosität des Solisten wechselt dabei, ebenso  – wie von Ligeti selbst angesprochen  – das Verhältnis von Solist und Orchester. Im »Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten« entfällt dabei eine Gliederung in »Solo« und »Tutti«, da alle Instrumentalparts virtuos geführt und gleichberechtigt behandelt werden.113 Das Violoncellokonzert wird von Ligeti selbst gar als »kein Konzert im traditionellen Sinne«114 bezeichnet. Er begründet dies mit der extremen Verflechtung von Solo- und Orchesterpart und bezeichnet das Violoncello als »eine Art Bindemittel«. Ove Nordwall hingegen bezeichnet das Cellokonzert als »ein echtes Konzert, das Solo-Cello ist ziemlich virtuos geführt, wenn auch ständig mit den anderen Instrumentalstimmen verwoben.«115 Die scheinbare Widersprüchlichkeit dieser beiden Aussagen liegt vor allem in einer unterschiedlichen Auffassung darüber begründet, ob die Virtuosität des Soloparts oder aber der Dualismus von Solist und Orchester als wichtigstes Kriterium eines »Klavierkonzertes« anzusehen ist. Zudem äußert Ligeti andernorts  – wie bereits zitiert  – die Ansicht, dass das Wesen eines Konzertes in der Virtuosität des Solopartes begründet liegt. Beiderlei Haltungen muss man allerdings die mehrfach getätigte Aussage Ligetis gegenüberstellen, es handele sich gerade im Falle des Klavierkonzertes um »ein sehr pianistisches Konzert ohne äußerliche Virtuosität«116. Mit dem Violinkonzert verbindet das Klavierkonzert wesentlich mehr als mit den übrigen erwähnten Konzerten Ligetis. Hier wären »several features of the timbral and instrumental writing (the solo/chamber treatment of the forces, the ›exotic‹ sound of the ocarina and slide whistle and the distinctive, differentiated nature of the group of percussion instruments) as well as the extreme virtuosity and ›complex rhythmic polyphony‹ by which the piece is distinguished«117 (so Marina Lobanova über das Violinkonzert) zu nennen, aber auch äußerliche Gemeinsamkeiten wie die Fünfsätzigkeit, zu der das Werk erst nach einer ersten, unvollständigen Uraufführung ausgebaut wurde118 oder die lange Zeit der Entstehung beider Werke. Beide gehören außerdem zu jenen 113 Siehe dazu  : Ligeti, György  : Einführungstext zu »Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten«, abgedruckt in  : Lichtenfeld, Monika (Hg.)  : György Ligeti  : Gesammelte Schriften, Band 2, Basel, 2007, S. 255–257, hier S. 255 114 Ligeti, György in  : Stürzbecher, Ursula  : Werkstattgespräche mit Komponisten, München 1973, S. 49 115 Nordwall, Ove  : György Ligeti. Eine Monographie, Mainz, 1971, S. 84 116 So Ligeti in  : »›Musik mit schlecht gebundener Krawatte‹. György Ligeti im Gespräch mit Monika Lichtenfeld«, in  : Neue Zeitschrift für Musik, 1981, CXLII/5, S. 471–73, hier S. 472 117 Lobanova, Maria  : György Ligeti  : Style, Ideas, Poetics, Berlin 2002, S. 335 118 Anders als das Klavierkonzert enthält das Violinkonzert jedoch zwei langsame Sätze, als zweiten und vierten Satz. Außerdem ist letzteres Konzert eher spiegelsymmetrisch aufgebaut. (Siehe dazu Lobanova 2002, S. 335)

György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

»Werken Ligetis, die die Idee einer auf schnellen Pulsen basierenden additiven Rhythmik verfolgen, denen das System der temperierten Stimmung zu eng geworden ist und die reich an Anspielungen sind, z. B. an die Ars subtilior oder die isorhythmische Motette«.119 (Auf diese zuletzt genannten Charakteristiken wird im Verlauf dieses Kapitels noch näher eingegangen werden.) Entsprechend den zwei Arbeitsphasen Ligetis gab es auch zwei Uraufführungen des Werkes  : Die Sätze 1 bis 3 wurden am 23. Oktober 1986 in Graz im Rahmen des Steirischen Herbstes durch den Solisten Anthony di Bonaventura und die Wiener Philharmoniker unter Mario di Bonaventura uraufgeführt. Das gesamte Werk wurde erstmals eineinhalb Jahre später, am 29. Februar 1988 in Wien durch den gleichen Solisten und Dirigenten, jedoch mit dem Radio-Symphonieorchester Wien, gespielt. Zur Erweiterung des Werkes hin zu fünf Sätzen kam es aufgrund der Unzufriedenheit des Komponisten mit dem eigenen Werk nach dessen dreisätziger Uraufführung  : »Beim zweimaligen Hören wurde mir klar, daß der dritte Satz kein richtiger Schlußsatz ist, daß mein Formgefühl nach einer Fortsetzung, einer Komplettierung der Großform verlangte.«120 Mit einer Gesamtdauer von 22 Minuten nimmt es eine durchschnittliche zeitliche Länge ein, auf die Dauer der einzelnen Sätze werde ich später eingehen. Bereits im Jahr 1969 trat Mario di Bonaventura an Ligeti mit dem Wunsch heran, dieser möge ein Klavierkonzert schreiben.121 Ab dem Jahr 1980 schrieb der Komponist Hunderte Seiten von Skizzen, zur tatsächlichen Komposition des Werkes kam es aber erst noch einige Jahre später. Die Gründe dafür sind vielfältig, es können dabei »äußere« und »innere« Gründe unterschieden werden. Richard Steinitz hat einige der Gründe folgendermaßen benannt  : »Before the premiere of Le Grand Macabre, Ligeti had already decided what he would compose afterwards. There would be a piano concerto, followed by a horn piece for the British player Barry Tuckwell.122 But the huge effort of completing the opera, culminating in the tension surrounding its premiere, turned the event into something of a watershed. Uncharacteristically, in the months that followed, he experienced what befalls many composers, a creative block. He was 119 Lemke, Sascha Limo  : »Der erste Satz des Violinkonzertes von György Ligeti. Versuch einer Analyse«, in  : Stahnke, Manfred (Hg.)  : Mikrotöne und mehr. Auf György Ligetis Hamburger Pfaden, Hamburg, 2005, S. 11–38, hier S. 11 120 Ligeti, György  : Einführungstext zur Uraufführung der vollständigen Fassung am 29. Februar 1988 in Wien, abgedruckt in  : Lichtenfeld 2007, S. 296–300, hier S. 296 121 So Ligeti in  : Ligeti 1981, S. 471 122 Paul Griffiths wiederum nennt als weiteres Projekt nach der Fertigstellung des Horntrios im Jahr 1982 »a second opera, commissioned that year by the English National Opera and the BBC.« (Griffiths, Paul  : György Ligeti, London 1997, S. 114)

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

far from certain in what direction his style should now proceed.«123 Hinzu kam eine Erkrankung Ligetis, die Spitalsaufenthalte mit sich brachte.124 Im Jahr 1981, fünf Jahre vor Fertigstellung der ersten drei Sätze des Klavierkonzertes, meinte der Komponist dazu einmal  : »Ich befinde mich, so könnte man sagen, in einer Art von kompositorischer Krise, die sich allmählich, gewissermaßen in schleichender Form, schon im Laufe der siebziger Jahre angebahnt hat. Und das ist keine persönliche Krise, vielmehr – wie ich meine – eine Krise der ganzen Generation, zu der ich gehöre (…). Allmählich gibt es für uns die Gefahr des Akademismus.«125 Die Unsicherheit Ligetis, welchen kompositorischen und ästhetischen Weg er einschlagen möchte, liegt in seinem Unwillen begründet, einerseits diesem »Akademismus« der Darmstädter seriellen Schule, andererseits neotonalen und neoexpressionistischen Tendenzen zu folgen. »Künstlerische Freiheit bedeutet ein Freisein von jeder Scheuklappe, auch von der der >Modernität pp + ff pp + ff pp + mf diminuendo pp + mf diminuendo

f/ff + fffff-Akzente ffffff p + ffffff fffff p + fff

28 30 22 14 18  9 10  1

ffff p

162 Lediglich das fünfte Crescendo, T. 97–114, entspricht nicht dieser Entwicklung.

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Durch das plötzliche Abbrechen am Ende der Crescendi und dem erneuten Beginnen einer weiteren dynamischen Steigerung entstehen klar voneinander abgegrenzte und auch durch den Hörer deutlich unterscheidbare Abschnitte. Die Länge dieser Abschnitte wird dabei tendenziell verringert. Zugleich schließen sich die Takte 1–114 zu einem einzigen großen Crescendo zusammen. Auch im dritten Satz gibt es nach den ersten 14 Takten in leiser Dynamik mehrere Crescendi. Eine Steigerung der Dynamik ist hier nur vom ersten bis zum dritten Crescendo feststellbar, wie die folgende Übersicht zeigt  : T. 15–23 T. 23–31 T. 31–48 T. 48–64 T. 65–76 T. 77–81 T. 82–87 T. 88 T. 89–96

Ausgangsdynamik

Enddynamik

Länge

ppp pp + mp-Akzente pp + mf-Akzente pp + mp-Akzente kein Crescendo, f/ff ppp + p-Akzente pp + mp-Akzente pp ppp, diminuendo

mp + ff-Akzente p + ffff-Akzente ffff ffff

 8,5  8,0 19,0 16,5 12,0  5,0  6,0  1,0  8,0

pp + f-Akzente fff + ffff-Akzente p morendo al niente

Im Vergleich mit dem ersten Satz sind die durch die Dynamik entstehenden Abschnitte wesentlich kürzer, die längsten Abschnitte liegen dabei ungefähr in der Mitte des Satzes. Auch in diesem Satz findet sich ein Diminuendo, anders als im ersten Satz unterbricht es jedoch nicht die Crescendi, sondern steht am Satzende. Unterschiede zwischen erstem und drittem Satz bestehen auch in den dynamischen Stufen  : Die Lautstärkepalette Ligetis reicht im ersten Satz von pp bis hin zu sechsfachem Forte. Der dritte Satz verwendet zwar »nur« vierfaches Forte, geht aber im leisen Bereich noch eine Stufe weiter (ppp) bzw. am Ende des Satzes bis hin zum »morendo al niente«. Im dynamisch ähnlich aufgebauten fünften Satz werden Lautstärkegrade vom vierfachen Piano bis hin zum sechsfachen Forte verwendet. Auf zwei sich steigernde Crescendi folgt ein Diminuendo, danach erneut vier Crescendi. An das Ende des Satzes und des gesamten Werkes platzierte Ligeti ein rasches Diminuendo  :

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

T. 1–11 T. 12–22 T. 23–31 T. 34–38 T. 38–57 T. 60–72 T. 72–75 T. 78–83/84

Ausgangsdynamik

Enddynamik

Länge

p pppp f, diminuendo pp pppp pppp p+f ppp + f, diminuendo

mf fff p mf ffffff p+f poco cresc. ppp + mf

11 Takte 11,0  9,0  4,5 19,5 12,5  3,5  7,0

Somit handelt es sich um das zweimalige Wechseln zwischen einem längeren und einem kürzeren Abschnitt. Während es in den ersten beiden Abschnitten jeweils zwei verschiedene Taktarten gibt (Klavier  : 3/2, Orchester  : 9/8), sind im dritten und vierten Abschnitt beide Parts in nur einer Taktart notiert (dritter Abschnitt  : 3/2, vierter Abschnitt  : 3/4). Diese Tatsache sollte allerdings in Bezug auf das Verhältnis von Solist und Orchester nicht überinterpretiert werden, da weiterhin verschiedene rhythmische Unterteilungen (z. B. 6 : 5) verwendet werden. Dem dritten Satz vergleichbar, befinden sich auch im Finale die längsten Abschnitte in der Satzmitte. Dort findet man zugleich das in seiner Spannweite größte Crescendo (pppp bis ffffff, T. 38–57). Sowohl im zweiten als auch im vierten Satz werden laute und leise Dynamiken meist ohne Vermittlung einander gegenübergestellt. Der zweite Satz erweist sich dabei als der extremere, die Solostimme wird in zwei Bereiche gegliedert, wobei der zweite Bereich bereits durch das subito ffffff am Ende von T. 40 vorbereitet wird  : T. 23–40  : leiseste Dynamik (ppp/pp) T. 48–78 (80)  : lauteste Dynamik (ff bis fffff ) Der vierte Satz besteht aus vier dynamisch unterschiedlichen Bereichen  : T. 4–53  : laut, mf bis fff T. 55–107  : leise, ppp bis mf (mit kurzen lauten Einwürfen) T. 108–141  : laut, ff bis fffff T. 141–146  : diminuendo, fffff bis ppppp und »perdendosi« Die dynamische Spannweite des Klavierparts erstreckt sich vom fünffachen Piano (bzw. noch leiser) bis hin zum sechsfachen Forte. Beide Bezeichnungen haben eher eine suggestive Funktion, da eine Steigerung beispielsweise vom vierfachen zum sechsfachen Forte realistisch kaum durchführ- und hörbar ist.

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Die Dynamik des Orchesterparts entspricht in ihren Grundzügen jener des Soloparts, allerdings mit vielen zusätzlichen kleinräumigen Entwicklungen. Die dynamische Spannweite ist hier noch gesteigert und reicht vom sechsfachen Piano bis zum achtfachen Forte. Auch hinsichtlich des Materials unterscheiden sich Klavier- und Orchesterpart nicht wesentlich voneinander. In beiden Fällen lassen sich folgende Bausteine finden  : 1. a) Einzelton b) Oktave c) Akkord 2. a) Skalen b) melodische Linien Einige Passagen des Werkes lassen sich hier allerdings nicht eindeutig zuordnen. So lässt sich beispielsweise die Akkordbrechung im Klavierpart am Ende des dritten Satzes (ab T. 90) entweder als eine Mischung von Akkord + Skalen (Material 1c und 2a) oder aber als eine gesonderte, dritte Materialart betrachten. Ebenso kann der Beginn des Soloparts im dritten Satz als ein ausnotierter Triller (ein weiterer Punkt in der Materialliste) oder aber – wofür auch die weitere Entwicklung spricht – als ein Skalenausschnitt gesehen werden. Anders als in den meisten anderen hier besprochenen Werken erscheint innerhalb der obigen Auflistung der Punkt »melodische Linien«. Dieses Material erscheint oft und in deutlich hörbarer Form. Auch bezüglich der Oper »Le Grand Macabre« beschreibt Ligeti »ausgeprägte melodische Gestalten«, spezifiziert diese jedoch als »Melodik allerdings ohne Anklänge ans 19. Jahrhundert«.163 Überraschend ist weiters die relative Einfachheit des verwendeten Materials. Ligeti gelingt es, mit nur wenigen verschiedenen Mitteln eine extrem vielfältige und vielgestaltige Musik zu schaffen. Selbst die Kategorie der Tonrepetitionen/Triller/Tremoli, die in den meisten übrigen hier besprochenen Werken verwendet wird, kommt hier nicht zum Einsatz, spezielle Spieltechniken treten ebenso nicht in Erscheinung. Der Komponist selbst hätte der obigen Materialauflistung vermutlich wenig Beachtung geschenkt, äußerte er sich doch einmal folgendermaßen  : »Das musikalische Material an sich ist aber nicht entscheidend. Ist das Material in Bachs Wohltemperiertem Klavier das Primäre  ? Nein, die geistige Schicht, die dahintersteckt, ist wesentlicher.«164 Betrachtet man das Verhältnis von rechter und linker Hand der Klavierstimme zu163 Ligeti, György, in  : Ligeti 1981, hier S. 471 164 Ligeti, György  : »Bagatellen«, in  : Lichtenfeld 2007, S. 68–71, hier S. 69

György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

einander, so ähneln sich der erste und fünfte Satz. In beiden Sätzen gibt es mehrere Abschnitte, in denen genau abwechselnd entweder rechte und linke Hand einander entsprechen oder aber verschiedenartig komponiert sind (bzw. Akzente in rechter und linker Hand versetzt erscheinen). Der dritte Satz entspricht dem ersten und fünften, jedoch gibt es zu Beginn einen auffallend langen Abschnitt (T. 1–64) der Verschiedenartigkeit. Im zweiten Satz sind rechte und linke Hand nur in T. 28–31 zueinander verschieden, im übrigen Satzverlauf sind sie stets parallel geführt. Im vierten Satz entsprechen einander rechte und linke Hand durchgehend. Unterschiede gibt es zwischen den einzelnen Sätzen auch bei der Verwendung von Generalvorzeichen für die rechte bzw. linke Hand des Klaviers. Sie zeigen deutlich jene Passagen an, in denen Ligeti zwei verschiedene Skalen verwendet. (Dies geschieht zeitweise auch ohne Generalvorzeichen, dann jedoch nur über einen kürzeren Zeitraum oder es wird zwischen verschiedenen Tonvorräten gewechselt.) Während des gesamten ersten Satzes ist die linke Hand mit fünf Kreuzen als Generalvorzeichen notiert. Im zweiten Satz hingegen gibt es zwei verschiedene Abschnitte (T. 23–58  : keine Vorzeichen, T. 60–78  : fünf Bs in der linken Hand). Im dritten und vierten Satz erscheinen keine Generalvorzeichen, im Finalsatz dagegen kommt es sehr häufig zu einem Wechsel (T. 1–22  : keine Vorzeichen, T. 23–30  : linke Hand fünf Bs, T. 35–38  : rechte Hand fünf Bs, T. 39–41  : keine Vorzeichen, T. 42–46  : linke Hand fünf Bs, T. 47–84  : keine Vorzeichen). Damit ist der fünfte Satz nicht nur durch die Gleich- bzw. Verschiedenartigkeit von rechter und linker Hand (siehe oben) in viele Abschnitte untergliedert, sondern auch durch die Tonvorräte. Dies entspricht ebenso der formalen Gestaltung, in der es – wie an späterer Stelle noch näher ausgeführt wird – keine klare Gliederung, sondern eine Vielzahl kurzer Abschnitte gibt. In der Frage, ob der Solist oder das Orchester die führende Rolle übernimmt, entsprechen einander erster, dritter und fünfter Satz, wie hinsichtlich des Verhältnisses von rechter und linker Hand des Klavierparts. (Paul Griffiths fasst zwar den zweiten und dritten Satz insofern zusammen, als dass der Solist eher als ein Partner gemeinsam mit dem Orchester auftritt, begründet dies jedoch gerade im Falle des dritten Satzes nicht.165) In allen drei Sätzen hat der Solist die führende Rolle, was besonders aufgrund der Dynamik, des Registers und der Verwendung eines für den Hörer präsenteren Materials (z. B. schnellere Bewegung) begründet werden kann. Auch kommt es in diesen Sätzen häufiger zu solistischen Passagen ohne Orchester. Während es im zweiten Satz mehrere Abschnitte gibt, in dem einer der beiden Partner führt bzw. beide gleichberechtigt eingesetzt werden166, lässt sich die Frage der führenden Rolle 165 Siehe dazu Griffiths 1997, S. 123 166 T. 1–31  : Orchester führt, T. 32–35  : Solist führt, T. 36–59  : beide gleichberechtigt, T. 60–78  : Solist führt.

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im Falle des vierten nicht eindeutig beantworten. Durch das ständige Dialog-Prinzip sowohl zwischen Solist und Orchester als auch zwischen einzelnen Orchestergruppen untereinander lässt sich nicht entscheiden, welcher der beiden Partner eine aktivere oder passivere Funktion übernimmt. 1. Satz Der kontinuierliche musikalische Fluss wird besonders im ersten Satz durch immer neu repetierte Patterns167 in Gang gehalten.168 Dabei sind folgende zwei Hauptpatterns169 zu unterscheiden  : Pattern A (12/8)  : 3 – 3 – 3 – 2 – 3 – 3 – 3 – 4 – 2 – 2 – 2 Achtel Pattern B (4/4)  : 3 – 3 – 3 – 4 – 2 – 2 – 3 – 2 – 2 Achtel Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Achteleinheiten sind im Fall von Pattern A meist mittels durchlaufenden Achtelnoten aufgefüllt, nicht jedoch bei Pattern B. Weiters findet man ab T. 85 Pattern C  : Pattern C (12/8)  : 3 – 4 – 3 – 2 Achtel Ab T. 97 erscheint ein viertes Pattern  : Pattern D (12/8)  : 3 – 2 – 3 – 4 – 3 – 2 – 2 – 2 – 4 Achtel Zuguterletzt tritt ein fünftes Pattern ab T. 103 auf  : Pattern E (4/4)  : 3 – 2 – 3 – 4 Achtel 167 Auch Ligeti selbst benützt den Ausdruck »Pattern« in diesem Zusammenhang. (Siehe Ligeti, György  : Einführungstext zur Uraufführung der vollständigen Fassung am 29. Februar 1988 in Wien, abgedruckt in  : Lichtenfeld 2007, hier S. 296) 168 Einen ähnlich ununterbrochenen Klang- und damit »Formfluss« beschreibt beispielsweise Herman Sabbe bezüglich des ersten der »Zehn Stücke für Bläserquintett«. (Sabbe, Herman  : György Ligeti. Studien zur kompositorischen Phänomenologie (= Musik-Konzepte 53, hg. von Metzger, Heinz-Klaus und Riehn, Rainer) München, 1987, S. 57 169 Auf den Bezug zum mittelalterlichen Talea-Color-Prinzip verweisen nicht nur mehrere Autoren, sondern auch der Komponist selbst. Er bezeichnet seine Strukturen jedoch als »taleaartig«. (Siehe Ligeti, György  : Einführungstext zur Uraufführung der vollständigen Fassung am 29. Februar 1988 in Wien, abgedruckt in  : Lichtenfeld 2007)

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Letzteres ist mit Pattern C verwandt, beide stehen jedoch in unterschiedlichen Taktarten (12/8 bzw. 4/4). Die folgende Übersicht soll die Position dieser Patterns innerhalb des ersten Satzes veranschaulichen  : Klavier

Orchester

A   : T. 1–30

B1–10  : T. 1–30

1–12

B11–14a  : T. 31–42

a  : T. 31–42

A13–17a  : T. 31–42

A17b–24a  : T. 42–60

B15–20  : T. 42–60

B21–32  : T. 61–96 D1–7  : T. 97–110

A45b  : T. 119–120

A47b–48  : T. 124–128

B37  : T. 121–123

b  : T. 110–114 a  : T. 117

A24b–39a  : T. 61–96

A40–45a  : T. 106–119

A46–49a  : T. 121–129

C1–10  : T. 85–94 E1–6  : T. 103–111

a  : T. 13–15, 20–21 b  : T. 22–26 a  : T. 36–41 b  : T. 36–39 a  : T. 49–51 b  : T. 45–49 c  : T. 48–51 Zusätze  : T. 43–49, T. 51–54 b  : T. 80–84

B33–36a  : T. 106–119 B37–39a  : T. 121–127

Zusatz  : T. 121–129 (Pos.) c  : T. 124–126 b  : T. 126–128

Wie anhand der Übersicht zu erkennen ist, sind Pattern A und B zunächst auf Klavier und Orchester verteilt, in T. 31 werden die Patterns vertauscht, ebenso in T. 42 und T. 61. Ab T. 97 hingegen folgt ein Abschnitt, in dem zunächst weder Pattern A noch

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Pattern B verwendet wird, beide treten erst wieder ab T. 106 (A) bzw. T. 109 (B) auf. Die hochgestellten Zahlen bezeichnen, wie oft die Patterns durchlaufen werden bzw. zeigen an, an welchen Stellen ein Pattern nach einem Wechsel vervollständigt wird. (In T. 42 beispielsweise übernimmt die Perkussion den zuvor vom Klavier begonnen 14. Durchlauf von Pattern B, das Klavier hingegen den 17. Durchlauf von Pattern A von den Streichern. Ähnliches findet man in T. 61 oder T. 119.) Kurz vor Ende des Satzes finden diese Übernahmen jedoch weniger deutlich statt, der im Orchester in T. 119 abgebrochene 36. Durchlauf von Pattern B wird nicht etwa im Klavier fortgesetzt (dieses übernimmt hier das Ende des 45. Durchlaufes von Pattern B). Stattdessen wird im Orchester selbst ab T. 121 mit dem 37. Durchlauf von Pattern B fortgesetzt. Dieses aber wird zugleich im Klavier verdoppelt. Eine gleichartige Verdoppelung anstelle einer Übernahme findet man im Klavierpart in T. 124–128 (A47b–48). Am Ende des Satzes werden beide Patterns (A und B) abgebrochen, ohne vervollständigt zu werden. Zu rhythmischen Verschiebungen zwischen Pattern A und B kommt es nicht nur aufgrund der unterschiedlich langen Achteleinheiten und der verschiedenen Längen der Patterns (30 bzw. 24 Achtel), sondern auch aufgrund der ungleichen Taktarten (12/8 und 4/4), was im 4/4-Takt notiert einer Überlagerung von Achteln und Achteltriolen entsprechen würde. Im Falle des Klavierparts wird der Wechsel zwischen 12/8 und 4/4 besonders deutlich hörbar. Der Solist wechselt insgesamt achtmal zwischen den beiden Taktarten, wobei dies gegen Ende des Satzes hin in immer kürzerem Abstand geschieht.170 Das Wechseln zwischen Zweier- und Dreierunterteilung bezieht sich klarerweise auf das Phänomen der Hemiole.171 Dabei bezieht sich Ligeti weniger auf beispielsweise die Hemiolenbildung der Barockzeit, sondern auf das 19. und 20. Jahrhundert, wie auch Marina Lobanova schreibt  : »It was the hemiola technique of the Romantics – Chopin, Schumann and Brahms – and of jazz, where ›the European tradition meets the African‹, that proved to be particularly attractive to Ligeti.«172 Der Komponist selbst bezeichnet seine Vorgangsweise nicht nur als ein Interesse an der »Hemiole an sich«, sondern als »eine Konzeption der generalisierten Hemiole«.173 Wie bei so vielen Einflüssen, die es in der Musik Ligetis festzustellen gibt, handelt es sich auch hier nicht nur um eine bloße direkte Übernahme einer Technik, sondern um eine eigenständige Weiterentwicklung derselben bzw. der Kombination mehrerer Impulse. 170 Die Abstände zwischen den Taktartwechseln betragen 30, 12, 19, 37, 15, 9, 3, 4 und 6 Takte. 171 Siehe dazu z. B. Utz 2003, besonders S. 38  ; oder  : Ligeti 1989, besonders S. 52 172 Lobanova 2002, S. 249 173 Ligeti, György in  : Ligeti 1989, hier S. 52

György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

In der obenstehenden Übersicht sind  – mit Kleinbuchstaben bezeichnet  – weitere rhythmische Schichten verzeichnet, die gleichmäßige Rhythmen von unterschiedlicher Länge beinhalten  : Schicht a  : 3  Schicht b  : 5  Schicht c  : 7  Sie werden vorzugsweise im Orchesterpart als kurze Einwürfe verwendet. Im Klavierpart hingegen kommen sie nur an wenigen Stellen vor (a  : T. 31–42 und T. 117  ; b  : T. 111–114). Auch im Orchesterpart jedoch treten sie vor allem in der ersten Satzhälfte auf. Ebenfalls anhand der Übersicht sind drei Zusätze im Orchester zu erkennen (Zusatz 1  : T. 43–49, Violine 1 und 2  ; Zusatz 2  : T. 51–55, Kontrabass bzw. mehrere Instrumente ab T. 54  ; Zusatz 3  : T. 121–129, Posaune). Sie enthalten allesamt ungleichmäßige Rhythmen auf 16telbasis. Anhand der Verteilung der Patterns auf Klavier- und Orchesterpart sind folgende fünf Abschnitte erkennbar  : T. 1–30 T. 31–42 T. 42–60 T. 61–96 T. 97–129 Der letzte Abschnitt kann durch das Wiederauftreten von Pattern A und B zusätzlich untergliedert werden  : T. 97–105 T. 106–129 Dieser Untergliederung widerspricht allerdings der ungleich deutlicher hörbare Wiedereinstieg des Orchesters nach dem Klaviersolo in T. 103, sie wird sozusagen durch die akustische Realität überlagert und konterkariert. Auch in T. 119 kommt es zu einem wesentlich klarer erkennbaren Bruch durch das plötzliche Aussetzen des Orchesters. Alle übrigen Abschnittsbildungen wurden jedoch durch die Instrumentation, Dynamik oder Registerwahl vom Komponisten auch für den Hörer deutlich gemacht.

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Orientiert man sich aber an eben dieser »akustischen Realität«, d. h. sucht man beispielsweise nach formalen Abschnitten, die aufgrund von wechselnder Instrumentation entstehen, so ergeben sich eine Unzahl kurzer Abschnitte, die zumeist maximal drei Takte umfassen (Ausnahme  : T. 1–12 bzw. 1–15). Der kontinuierliche musikalische Fluss entsteht daher nicht nur mithilfe der rhythmischen Patterns, sondern auch aufgrund des raschen Wechsels anderer Parameter. Dieser bewirkt, dass der Hörer stets neue »Informationen« erhält, mit immer neuen musikalischen Ideen konfrontiert und so ständig Spannung erzeugt wird. Ein auffälliges, mehrmals wiederkehrendes und auch vom Hörer leicht erinnerbares Element bilden die Horn-Melodien. Sie erscheinen in T. 22–26, 36–39, 45–49 und 80–84 und bilden durch das Einbeziehen von Naturtönen den einzigen nicht temperierten Bestandteil des Satzes. Erst im fünften Satz sind diese Horn-Melodien wieder zu finden (T. 18–22, 28–29). Vergleicht man die vier Horn-Melodien des ersten Satzes miteinander, so ähneln sie einander vor allem rhythmisch. (Sie gehören allesamt zur 5--Schicht.) Bei jedem Auftreten gibt es eine 16telpause in der Mitte der Passage, bei der vierten Melodie (T. 80–84) auch eine weitere Pause. Diese Pausen stehen in drei von vier Fällen vor dem höchsten (T. 37  : zweithöchsten) vorkommenden Ton, dieser liegt ca. bei c’’. (In T. 24 folgt die Pause auf diesen höchsten Ton.) Eine Verwandtschaft hinsichtlich der Tonhöhenauswahl ist ansonsten nicht erkennbar, abgesehen von der vermutlich zufälligen Entsprechung von T. 36, Melodiebeginn, und T. 24–26, Melodieende. (Hier könnte man eine transponierte Krebsumkehrung vermuten, die jedoch nicht weiter verfolgt wird.) Dynamisch entsprechen die Takte 22–26 und 36–39 einander, wobei die zweite Melodie um eine dynamische Stufe leiser erklingt. Innerhalb der dritten Melodie (T. 45–49) kommt es zu zwei Abschnitten in gleicher Dynamik. Die engsten Verwandtschaften zwischen diesen vier Melodien bestehen rhythmisch, im Melodieverlauf (Zickzack-Bewegung) und in der Verwendung von Naturtönen. Wesentlich weniger eindeutig als in der Zuordnung des musikalischen Geschehens zu verschiedenen rhythmischen Schichten kann man innerhalb des ganzen Werkes eine Logik innerhalb der Tonhöhenauswahl erkennen. Zwar lassen sich manche Zugehörigkeiten zu bestimmten Skalen o. ä. feststellen, wie aber beispielsweise Ligeti zu Beginn des Konzertes im Detail bei der Auswahl der akzentuierten Spitzentöne des Klavierparts vorgegangen ist, lässt sich aufgrund der Partitur (ohne Betrachtung etwa der Skizzen) nicht rückschließen. Feststellbar ist allenfalls eine Unterteilung in vier Abschnitte innerhalb der Takte 1–28, wie folgendes Notenbeispiel zeigt  :

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 12 



œ

œ œ œ œ œ

œ œ œ œ

&





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Im ersten wie im zweiten Abschnitt werden je drei Töne fokussiert (f, g, a und h, c, d), im dritten und vierten Abschnitt gibt es eine zweimalige Steigerung zur äußersten Höhe hin. Der rechten Klavierhand sind in den gesamten anfänglichen 28 Takten die weißen Tasten (ohne den Ton e) zugeordnet, die linke Hand spielt vorwiegend, aber nicht ausschließlich auf den schwarzen Tasten, da auch der Ton e verwendet wird. Diese Verteilung bleibt im gesamten ersten Satz bestehen, Ausnahmen dazu findet man nur in geringem Ausmaß (T. 23–28, rechte Hand und T. 51–61, linke Hand). In beiden Händen wird ein Vorrat von je sechs Tönen verwendet, diese Tonvorräte ergänzen einander zum Zwölftotal. Im Orchester werden diese Tonvorräte zum Teil ebenfalls benützt, am Beginn des Werkes etwa spielen Violine 1 und Viola Töne der Skala der rechten Klavierhand, Violine 2 und Violoncello der linken. In T. 16–20 werden in Klarinette und Fagott auch die beiden Skalen verwendet. An anderen Stellen aber kommt es nicht zu einer solch klaren Zuordnung (z. B. T. 13 ff., Holzbläser). Im Zusammenklang mehrerer Stimmen gibt es an vielen Stellen tonale Akkorde zu entdecken. Als ein Beispiel dafür sei der Streicherpart der Takte 22–26 herangezogen  : Notenbeispiel 13

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Nicht eindeutig zuordenbare Akkorde wurden im Notenbeispiel in Klammern gesetzt. Zu einem tonalen Zentrum kommt es in keinem Fall, das rasche Tempo und die extrem hohe Registerlage sorgen zusätzlich für eine Verunklarung der Wahrnehmung. Die zweimalige Aufeinanderfolge von ais6, ciso 6 und fis (T. 22 und T. 23) erscheint vermutlich nur zufällig. Ligeti selbst verweist nur auf die Tatsache, dass die Harmonik des ersten Satzes auf Mixturen basiert und dass er diese Technik im vierten Satz weiterentwickelt.174 Mixturklänge findet man jedoch auch in anderen Sätzen, im Zuge der Beschreibung des zweiten und dritten Satzes werde ich darauf noch näher eingehen. Bezüglich seiner Harmonik in den 1980er-Jahren sagte Ligeti einmal  : »Und ich befinde mich seit dem Horntrio oder seit Grand Macabre weder in dem total-chromatischen, noch in dem modalen oder tonalen Bereich, sondern irgendwo außerhalb dieser abgesteckten Felder, habe mich aber im Horntrio der modalen oder tonalen Welt sehr stark genähert. Und dann bin ich wieder davon weggekommen, weil ich dauernd meinen Standpunkt revidiere.«175 Für die oben vorgenommenen Äußerungen wie auch für die Harmonik der übrigen vier Sätze des Klavierkonzertes gilt ähnliches  : Es handelt sich weder um Zwölftonmusik noch um tonale oder eine andere Harmonik. Ligetis Harmonik befindet sich in einem changierenden Zwischenbereich, zwischen allen gängigen Bezeichnungsmöglichkeiten. Ligeti selbst hat die Harmonik von Werken, die bereits viel früher als das Klavierkonzert entstanden sind, als »nichttonale Diatonik«176 bezeichnet. (Dies sagte er über das »Requiem«, »Lontano«, das Violoncellokonzert und »Lux aeterna«.) So kommt es auch im Klavierkonzert zu solch paradoxen Situationen wie im fünften Satz, über den Ligeti sagte, dass er »im Zeichen einer dauernden ›Konsonanz‹ stehe, obwohl alle zwölf Töne anwesend seien«.177 »Eines seiner erklärten Ziele ist die Quasi-Äquidistantialität  : Die Musik soll die Illusion einer Äquidistantialität suggerieren. Sie entsteht innerhalb der gleichschwebenden Temperatur, und doch gehört sie klanglich nicht zu ihr«,178 so Constantin Floros. Um dieses Ziel zu erreichen, setzt der Komponist verschiedene Mittel ein  : Einerseits ordnet er im Klavierpart die schwarzen und weißen Tasten jeweils einer Hand zu, dies ist besonders im ersten, zweiten und fünften Satz zu beobachten. (Auch in seinen Klavieretüden findet man diese Vorgangsweise des Öfteren.) Andererseits kombiniert 174 Siehe  : Ligeti, György  : Einführungstext zur Uraufführung der vollständigen Fassung am 29. Februar 1988 in Wien, abgedruckt in  : Lichtenfeld 2007, hier S. 297 175 Zitiert nach  : Dibelius 1994, S. 263 176 Zitiert nach  : Burde 1993, S. 179 177 Zitiert nach  : Floros/Marx/Petersen 1991, S. 335–348, hier S. 343 178 Floros, Constantin  : »György Ligeti. Jenseits von Avantgarde und Postmoderne«, in  : Kolleritsch, Otto und Leitinger, Doris (Hg.)  : Kritische Musikästhetik und Wertungsforschung. Otto Kolleritsch zum 60. Geburtstag, Wien/Graz, 1996, S. 35–41, hier S. 38

György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

er zwei chromatisch verschobene Ganztonskalen, denn auf diese Weise »heben sich Ganztönigkeit und Chromatik gegenseitig auf«179, so Ligeti. Durch die praktische Einschränkung des Klaviers, dessen Stimmung, hätte Ligeti sie hin zu einer außerhalb des temperierten Systems liegenden verändert, nicht beständig gehalten hätte, war der Komponist gewissermaßen gezwungen, innerhalb der Zwölftontemperierung Wege zu finden, die seinen Vorstellungen entsprachen. »(…) weil es Klaviermusik ist, benutze ich Zwölftontemperatur. Hätte ich leicht umstimmbare Instrumente, Harfe oder Cembalo, könnte ich äquidistante Heptatonik oder Pentatonik oder egal welches System nehmen. Auf dem Klavier ist es zwecklos. Ich nehme die Klavierstimmung als gegebenes Schicksal, als Medium, und darin arbeite ich. Dann versuche ich, mit eigenen Mitteln sozusagen diese Begrenzung aufzuheben, mit den inhärenten Mitteln der Zwölftontemperatur selbst«180, so äußerte sich der Komponist auch über seine Klavieretüden. Erst im Violinkonzert hatte er durch von der temperierten Stimmung abweichenden Skordaturen einer Violine und einer Viola »die Möglichkeit, jene harmonischen Faszinationen ins Werk zu setzen, die sich in ihm beim Anhören von Musik siebenstufiger oder fünfstufiger Systeme, wie das javanische Sléndro, gebildet hatten.«181 (Auch im Violinkonzert finden sich jedoch weiterhin tonale Akkorde, wie etwa Sascha Limo Lemke über T. 9 schreibt  : »Alle Akkorde sind klassische Dreiklänge und Septakkorde, verfremdet durch Mikrointervalle, äußerst zerbrechlich durch die zahlreichen Naturflageolets sowie verschleiert durch das sehr schnelle Tempo und die häufig unkonventionellen Verbindungen.«182) Eine weitere harmonische Schicht wird im Klavierkonzert von Horn und Posaune eingefügt. (Diese ist ebenfalls auch im Violinkonzert zu finden.) Die beiden Instrumente »repräsentieren« die reine Stimmung, für die Ligeti eine besondere Vorliebe hat  : »Er schwärmt für die Musikkultur der Tschokwe, die auf reinen Dreiklängen mit reinen Quinten und reinen großen Terzen basiert, für die Polyphonie der Georgier, die gleichfalls nur Naturquinten und große Naturterzen kennt, und auch für das Jodeln der Pygmäen.«183 Anders als Floros in weiterer Folge behauptet, beschränkt sich die Verwendung von Naturtönen im Klavierkonzert nicht nur auf den fünften Satz, sondern ist auch im ersten und dritten Satz zu finden (1. Satz, Horn  : T. 25, 36–39, 46f., 179 Ligeti, György  : Einführungstext zur Uraufführung der vollständigen Fassung am 29. Februar 1988 in Wien, abgedruckt in  : Lichtenfeld 2007, hier S. 298 180 Ligeti 2003, hier S. 74 181 Burde 1993, S. 204 182 Lemke, Sascha Limo  : »Der erste Satz des Violinkonzertes von György Manfred. Versuch einer Analyse«, in  : Stahnke 2005, hier S. 15 183 Floros, Constantin  : »György Ligeti. Jenseits von Avantgarde und Postmoderne«, in  : Kolleritsch/Leitinger 1996, hier S. 40

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

81f.  ; Posaune  : T. 123f.  ; 3. Satz, Horn  : T. 60, 63  ; Posaune  : T. 60f., 64  ; im 5. Satz, Horn  : T. 18–20, 21f., 53, 57f., 60–62  : Posaune  : T. 54, 57f., 60–62, 76f.). Aufgrund der starken polyfonen Komponente (nicht nur) innerhalb des Klavierkonzertes lässt sich nicht immer Melodik und Harmonik streng voneinander trennen. Im Falle z. B. einer sukzessiven Übereinander-Schichtung mehrerer melodischer Linien kommt es zum von Richard Steinitz beschriebenen Phänomen  : »Melodies become melodies of chords.«184 2. Satz Ein großer leerer Raum zwischen dem Kontrabass in tiefster Lage und der Piccoloflöte in hoher (allerdings nicht in höchster) Lage eröffnet den zweiten Satz und bildet somit einen Aspekt der »deserto«-Stimmung. Traurigen Charakter erhält diese Eröffnung vor allem durch das »Seufzer«-Motiv der Piccoloflöte und dessen Fortsetzung mit weiter absteigender Tonfolge. Ligeti benützt hier eingängige, tradierte und vom Hörer dekodierbare Topoi, um die von ihm gewünschte Stimmung zu erzeugen. Auch der über 28 Takte gehaltene »Orgelpunkt« des Kontrabasses185 sowie das »esitando« überschriebene, oftmalig erneute Ansetzen der Flöten-Linie, die doch stets wieder nach nur ein bis zwei Tönen unterbrochen wird, tragen dazu bei. Große, leere Räume findet man im weiteren Satzverlauf auch in der Dynamik (das ppp bzw. pp des ersten Teiles wird jäh von ff-Einwürfen durchbrochen) oder etwa im Klavierpart der Takte 32 ff. (hier sind rechte und linke Hand noch weiter voneinander entfernt als Kontrabass und Piccoloflöte am Satzbeginn). Das Gefühl der Leere wird aber auch durch das plötzliche Zusammenbündeln aller Stimmen im hohen Register von T. 41–59 erzeugt, das seit dem Anfang des Satzes stets vorhandene tiefe Register fehlt plötzlich, dem Hörer wird sozusagen »der Boden unter den Füßen« entzogen. Wie Constantin Floros beschreibt, »bekannte« Ligeti »mehrfach, daß er sich beim Komponieren von räumlichen Vorstellungen leiten läßt, und er sprach im Zusammenhang mit seiner Musik oft von einer ›imaginären Perspektive‹«186. Auch wenn Ligeti damit zumeist das Spiel von Vorder- und Hintergrund gemeint hat, wird eine räumliche Vorstellung gerade zu Beginn des zweiten Satzes für den Hörer unmittelbar nachvollziehbar. 184 Steinitz 2003, S. 325 185 Man könnte ihn auch als »Horizont« betrachten, demgegenüber die Weite und die Entfernung der anderen Instrumente gemessen wird. 186 Floros, Constantin  : »Versuch über Ligetis jüngste Werke«, in  : Floros/Marx/Petersen 1991, hier S. 346

György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Nach und nach von immer mehr Instrumenten wird die anfängliche »esitando«-Melodie der Piccoloflöte quasi imitiert. (»Quasi« deshalb, weil sich keine zwei rhythmisch exakt gleichen Linien finden lassen. Alle beteiligten Instrumente spielen zwar ähnliche, nicht aber idente rhythmische Kombinationen aus ein bis zwei Tönen und trennenden Pausen.) Der Abstand zwischen den einzelnen Einsätzen verringert sich tendenziell (85 – 68 – 18 – 12 – 6 – 9 – 25 – 1 – 1 – 1 – 2 Achtel), mit Ausnahme des Kontrabass-Einsatzes, der in T. 27/28 in seiner Rolle als »Orgelpunkt« durch die Große Trommel abgelöst wird und ab T. 28 sich ebenfalls an den »Lamento-Imitationen« beteiligt. Bezugnahmen auf die »Tradition« des Lamento findet man in Ligetis Schaffen zum ersten Mal bereits im letzten Stück des Klavierzyklus »Musica ricercata« (1951–53), im ersten Streichquartett (»Métamorphoses nocturnes«), im vierten Satz des Horntrios, in den Klavieretüden oder im vierten Satz des Violinkonzertes.187 Einzig innerhalb der Piccoloflöten-Stimme findet man zweimal genaue Wiederholungen eines rhythmischen Musters (T. 9–13 entspricht T. 4–8  ; T. 16–17 entspricht T. 14–15). Zwar gibt es auch im Soloklavierpart interne Entsprechungen, hier wird jedoch (anders als in der Piccoloflöte) das anfängliche Muster stets nach vorne hin erweitert und zuletzt ein Einschub vorgenommen  :                 5 – 4 – 3     3 –         5 – 4 – 3 4 – 3 –         5 – 4 – 3 4 – 3 – 9 – 3 – 5 – 4 – 3 – 12 Achtel Zudem wurde die Klavierstimme in 3/2, das Orchester jedoch in 9/8 komponiert, was die ohnehin abweichende Rhythmik des Solisten auch metrisch verstärkt. Eine Konstante aller Instrumente ist nicht nur die Grundstimmung, sondern auch die Auswahl der Tonhöhen. Stets wird zumindest ein Ausschnitt aus einer GanztonHalbton-Halbton-Skala (c – d – dis – e – fis – g – gis – ais – h) verwendet. Die fehlenden Töne cis, f und a werden erst am Ende dieses ersten Abschnittes miteinbezogen (T. 30 bzw. T. 31) und öffnen so den eingeschränkten Tonraum hin zum Zwölftontotal. Das Klavier beginnt den nachfolgenden zweiten Abschnitt (ab T. 32) mit einer Transposition dieser Skala um einen Halbton tiefer (es fehlen also die Töne c, e und gis), doch das nur zwei Takte später einsetzende Orchester verwendet alle zwölf Töne in seinen Mixturklängen. (Diese enthalten stets zwei Quinten, auch tonal können sie mitunter gedeutet werden.)

187 Siehe dazu auch Ligeti 1989, hier S. 59, oder Lobanova 2002, S. 260f.

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Insgesamt vier Abschnitte sind innerhalb des zweiten Satzes klar voneinander abgegrenzt  : T. 1–31 T. 32–40 (41) T. 41 (42)–59 T. 60–81

31 Takte 9 (10) Takte 19 (18) Takte 22 Takte

Der erste Abschnitt ist somit der längste (31 gegenüber 9, 19 und 22 Takten). (Berücksichtigt man das schnellere Tempo des vierten Abschnittes, so verändern sich die tatsächlichen Dauernproportionen gegenüber der Anzahl von Takten.188) Wodurch aber sind diese Abschnitte voneinander abgegrenzt  ? Zum einen endet in T. 31 plötzlich das zuvor immer dichter gewordene Netz der »Lamento«-Linien mit einem Diminuendo, der zweite Abschnitt wird vom Klavier ohne Orchester begonnen, in den beiden Extremregistern. Zum anderen ist der zweite Abschnitt geprägt durch die kurzen, extrem lauten Einwürfe des Orchesters, auf die das Klavier nicht reagiert, sondern sich erst am Ende des Abschnittes (T. 40) beteiligt. Innerhalb des zweiten Abschnittes verwendet Ligeti u. a. die Technik eines Proportionskanons (3 : 4 : 5 : 6), wie Marina Lobanova anhand der Takte 34 ff. gezeigt hat.189 (Rhythmische Kanons ohne Proportionen findet man häufiger im gesamten Werk, z. B. im Klavierpart des ersten Satzes, T. 97 ff.) Wie anhand der obigen Auflistung ersichtlich wird, kann T. 41 als sowohl zum zweiten als auch zum dritten Abschnitt gehörig betrachtet werden. Letzterer ist – wie bereits erwähnt – durch den Wegfall des tiefen Registers geprägt, sowie durch eine verdichtete und auch dynamisch intensivierte Version der »Lamento«-Linien des ersten Abschnittes. Als Hörer vermutet man bereits in T. 56 das Ende der Tonhöhenentwicklung, da alle Instrumente (außer den Streichern) den Ton a’’’ erreichen, das Klavier erweitert jedoch den Tonraum erneut abwärts. (Auch das Orchester endet erst in T. 59/60.) Genau mit dem ersten Schlag jedes Taktes ändern sich die Streicherakkorde von T. 42–59. Die genaue Wahrnehmbarkeit der einzelnen Töne ist zwar durch die Registerlage (dreigestrichene Oktave) und das stetige Tremolo sowie durch die dynamischen Extreme (pppp am Anfang, ffffffff am Ende) verringert, doch folgt der Wechsel einzelner Tonhöhen einer gewissen Logik, wie das kommende Notenbeispiel zeigt  :

188 1. Abschnitt  : 140’’, 2. Abschnitt  : 41’’, 3. Abschnitt  : 86’’, 4. Abschnitt  : 52’’. Es handelt sich hierbei um zeitliche Dauern, die aufgrund der Metronom-Angaben errechnet wurden. 189 Siehe dazu  : Lobanova 2002, S. 312f.

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

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Nachdem in den Takten 43–47 ein fünfstimmiger Akkord aufgebaut wurde, wechselt mit jedem Takt immer genau ein Ton zu einem neuen. (Diese Tonhöhen sind im Notenbeispiel als leere Notenköpfe kenntlich gemacht.) Verfolgt man, welche Tonhöhen dabei ausgetauscht werden, so scheint dies nach einem genau geplanten Prinzip geschehen zu sein  : Notenbeispiel 15

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Mehrere chromatische Linien werden durch die Wechseltöne der Akkorde gezeichnet. Am Ende werden zwei verschiedene chromatische Stränge gleichzeitig verfolgt.190 190 Ob Ligeti die Abfolge der Töne tatsächlich auf diese Art und Weise geplant hat, bleibt ohne Einbeziehung der Skizzen natürlich Spekulation. Die ersten beiden Wechseltöne, f ’’’ und g’’’, stehen außerhalb des oben dargestellten Prinzips.

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Der Beginn des vierten Abschnittes ist nicht nur durch den Wiedereintritt des tiefen Registers, sondern auch durch die raschen Klavierfiguren markiert. Bereits ab T. 61 kommt es zu einem Wechselspiel zwischen Klavier und Orchester, wobei Letzteres stets erweitert wird und somit mehr und mehr an Bedeutung gegenüber dem Solisten gewinnt. Dieser wird ab T. 65 durch das Xylophon einerseits unterstützt, andererseits kontrapunktiert (Achteltriolen gegenüber Sechzehntel). Dessen Rhythmus wird aber ab T. 67 wiederum in den Klavierpart miteinbezogen, sodass es zuletzt (ab T. 69) ebenfalls zu einem einander ergänzenden, komplementären Dialog von Klavier und Xylophon kommt. Streicher und Bläser werden innerhalb des vierten Abschnittes wie auf zwei verschiedenen Tonspuren dynamisch ein- und ausgeblendet. Nach einem zweitaktigen Beginn beider Gruppen in lautester Dynamik (T. 60–61) bleiben die Streicher und die Trompete plötzlich ohne die restlichen Bläser übrig. Während ab T. 64 Letztere im ppp wieder einsetzen und crescendieren, werden Streicher und Trompete ausgeblendet. Der Kontrabass bildet hier die einzige Ausnahme, er bleibt weiterhin im fff. Das von den Bläsern in T. 70 erreichte ffff wird von den Streichern übernommen und weitergeführt (auch die Rhythmen der Bläser werden in den Streichern fortgesetzt), erneut im ppp setzen die Bläser in T. 72 ein. Beide Schichten bleiben in ihren extrem unterschiedlichen Dynamiken (Bläser und Perkussion  : ppp, Streicher  : fff ) bis zum Ende des Abschnittes (T. 76). Gegen das insgesamt immer übermächtiger werdende Orchester versucht der Solist in T. 75 mit fünffachem Forte »anzukämpfen«, doch endet der Orchesterpart plötzlich (T. 76) und lässt das immer noch lautest spielende Klavier für einen kurzen Moment alleine zurück. Die abschließenden Blech-Liegeklänge und melodischen bzw. harmonischen Linien der Klarinette und der Chromonica  – allesamt im ppp/pp gehalten – wirken wie eine Mini-Coda. Fast scheint es, als hätte der Komponist nach dem Auftürmen von Klangmassen sich plötzlich wieder der Grundstimmung des zweiten Satzes »erinnert« und möchte dieser mit einem kurzen ruhigen Moment Genüge tun, ehe der dritte Satz (mit seinen durchlaufenden 16telnoten) anbricht. Der Ton A, der in T. 78 in Horn und Posaune vom Klavier-Akkord übernommen wird, kann so auch als ein Wiederaufnehmen des isolierten Tones im tiefsten Register am Satzanfang (Kontrabass  : F) gedeutet werden. (Allerdings fehlte dieses Register nur im dritten Abschnitt gänzlich, es kommt am Satzende dadurch nicht zu einem Wiedereintritt nach gänzlicher Abwesenheit.) Folgende Akkorde erklingen in Klarinette und Chromonica in den letzten drei Takten des Satzes  :

György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 16 



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Die chromatisch fallende Ober- und steigende Unterstimme bewirken nicht nur das Erreichen eines immer enger liegenden Akkordes, sondern erzielen auch eine deutlich hörbare (geradezu bildhaft) schließende Wirkung. 3. Satz Anders als im vorangegangenen zweiten, hat das Soloklavier im dritten Satz eindeutig eine führende Rolle gegenüber dem Orchester. Letzteres hat eine begleitende bzw. unterstützende Funktion und bekommt vom Komponisten erst ab T. 31 etwas eigenständigere Aufgaben zugeteilt. Trotzdem bleibt das Klavier klanglich im Vordergrund. Wie bereits erwähnt, bilden die durchlaufenden 16tel des Soloklaviers eine konstante Schicht während des gesamten Satzes. Vergleichbar dem ersten Satz, gibt es außerdem Schichten von 3, 4, 5, 6, 7, 9, 10 und 11 16tel-Einheiten. Anders als im ersten Satz sind hier jedoch keine klar voneinander trennbaren Abschnitte erkennbar. Wie zufällig über den ganzen Satz verteilt wirken die einzelnen Schichten, bei denen es im Klavierpart wesentlich häufigere Wechsel gibt als im Orchesterpart. Das erstmalige Erscheinen von rhythmischen Patterns in T. 31 bildet zwar einen neuen Abschnitt, die Klavierstimme jedoch wechselt an dieser Stelle erst einen halben Takt später zu neuen Figuren. Liegetöne (sie sind ausschließlich im Orchester zu finden) und ungleichmäßige Akzente bilden eine weitere Schicht. Im Orchesterpart gibt es in den Takten 29–30 (Fagott und Trompete) zwei zusätzliche Melodien. Sie könnten allerdings auch als Varianten der 3--Schicht bzw. jener der unregelmäßigen Akzente zugeordnet werden. Zugleich erscheinen in T. 31 in Horn und Perkussion (Bongos) folgende zwei rhythmische Patterns  :

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 17 

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Pattern A umfasst 11 , was beinahe einem ganzen Takt entspricht, Pattern B hingegen wiederholt sich zweimal pro Takt (3  lang). Beinahe symmetrisch aufgebaut ist Pattern A (ohne die einzelne Achtelnote wäre es völlig symmetrisch), die beiden längsten rhythmischen Zellen (3 ) stehen wohl nicht zufällig am Anfang und Ende des Patterns. (Dadurch wird seine Wiederholung auch für den Hörer deutlich gemacht, da diese genau zwischen den beiden längsten Werten beginnt.) Metrische Schwerpunkte werden durch Pattern A nicht gesetzt, Pattern B hingegen markiert die -Schläge. Zweimal erscheint Pattern A im Horn, dann wird es von anderen Orchesterinstrumenten ebenfalls übernommen, oft verstärken einzelne Instrumente auch nur einen Teil des gesamten Patterns. Bei der sechsten Wiederholung (T. 35/36) wird das Ende des Patterns wesentlich verändert und mit ähnlichen Rhythmen fortgesetzt. Weitere sechs Mal erscheint Pattern A im Soloklavier (T. 40–45), danach kommt es im gesamten übrigen Satz nicht mehr vor. Wesentlich öfter und ununterbrochener erklingt Pattern B  : Insgesamt 38mal wird es von T. 31–48 wiederholt, wie Pattern A erscheint es im weiteren Satzverlauf nicht mehr. (Beide Patterns enden zudem ungefähr gleichzeitig, in T. 45 bzw. 48.) Pattern B erfährt jedoch – anders als Pattern A – mehrfache Umformungen (T. 34, Verkürzung in T. 37, ursprüngliche Länge ab T. 39, weitere Änderungen in T. 44, 46, 47 und 48). Eine konstante Schicht, bestehend aus drei überlagerten rhythmischen Patterns, erklingt in den Streichern (Viola, Violoncello, Kontrabass) in den Takten 47/48–61  :

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 18

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Viola- und Kontrabass-Stimme ergänzen einander, im Violoncello wird eine zweite metrische Unterteilung hinzugefügt (12/8 zu 3/4). Ab T. 59 wird diese Schicht durch Erste und Zweite Violinen unterstützt, das Ende in T. 61 erfolgt wie auch der Anfang zu unterschiedlichen Zeitpunkten (Verschiebung um einen halben bzw. ganzen Takt). Zugleich mit der Verstärkung der C-Patterns durch die Violinen setzt in T. 59 ein neues Pattern in Oboe und Posaune ein  : Notenbeispiel 19 





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Insgesamt 20 Mal erklingt diese rhythmische Gestalt vollständig (die 21. Wiederholung wird in T. 69 abgebrochen). Wie bereits Pattern A, erscheint auch Pattern D in unterschiedlicher Instrumentierung. Ab T. 61 wird es konstant von den Bongos übernommen, ab T. 65 erklingt es ausschließlich in diesen und ist somit verwandt mit Pattern B. Wie dieses umfasst Pattern D einen halben Takt (3 ), dieser wird jedoch in zwei ungleiche Hälften unterteilt (7 + 5 ). Mit Pattern D wesentlich stärker verwandt ist das letzte im dritten Satz verwendete Pattern (T. 71–74)  : Notenbeispiel 20 

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Dieses rhythmische Muster erklingt ausschließlich im Xylophon und kann auch als Variante von Pattern D betrachtet werden. Bereits ab seinem vierten Auftreten (T. 72) wird es verändert, zuerst nur geringfügig, ab T. 75 jedoch grundlegend, bis die Xylophonstimme nur wenig später (T. 76) vollständig abbricht. Wie schon der zweite Satz, endet auch der dritte mit einer Referenz auf den Satzanfang. In diesem Fall beginnt und schließt der Satz mit einer einstimmigen, rhythmisch genau ausnotierten Tremolo-Bewegung des Solisten in leisester Dynamik. Ob dieser Bezugspunkt allerdings auch vom Hörer wahrgenommen wird, ist fraglich, da es sich um ein völlig verschiedenes Register handelt und sich zudem die Abschlusstakte vom Geschehen zuvor nicht abheben. Melodisch sind der zweite und dritte Satz eng miteinander verwandt191, die Harmonik des dritten Satzes aber kann als typisch für das gesamte Klavierkonzert betrachtet werden. Sie ist genauso vielgestaltig wie die zahlreichen musikalischen Ideen Ligetis. Im Folgenden werden daher nur einige Stellen beispielhaft herangezogen und stellen keine Gesamtübersicht über die Harmonik dar  : An mehreren Stellen kommt es zu einer Übereinanderschichtung von Quinten, z. B. in T. 20 (Oboe, Klarinette, Fagott, Violoncello und Klavier, rechte Hand), T. 23 (Klarinette, Viola, Violoncello und Kontrabass) oder T. 62 (Streicher). Eine Quinte (cis’ – gis’) als Rahmenintervall wird bereits in T. 5 exponiert (Violoncello, Kontrabass und Klavier, linke Hand), in T. 9 wird eine Quart hinzugefügt (es – as), wodurch auch eine Oktave innerhalb des bis T. 13 ausgehaltenen Liegeakkordes erklingt. Oktaven erscheinen auch im weiteren Satzverlauf, einerseits innerhalb von Liegeakkorden (z. B. T. 77–80), oft aber andererseits innerhalb von Akkorden, die in verschiedenen Transpositionen aufeinanderfolgen, d. h. Mixturklängen (z. B. T. 77 ff., 84 ff. oder 88–91). Auch in einzelnen Akkorden, wie etwa in T. 23 (Klarinette, Viola, Violoncello und Kontrabass), kommen Oktaven vor, weiters gerne im Soloklavierpart (z. B  : T. 26 u. v. a.). Als »Instrumentations-Oktaven« kann man die Takte 32–33 betrachten, wo Flöten- und Oboenstimme einander oktavieren (ein Verfahren, das einen traditionellen Hintergrund besonders in der Wiener Klassik hat). Mixturklänge gibt es in zahlreichen Varianten, etwa als parallel verschobene große Sexten (T. 52 ff., Klavier), als übereinander geschichtete Quarten + große Terz (T. 61f., Holzbläser), oder sechsstimmige Akkorde mit gleichbleibender Intervallstruktur (T. 64, Bläser oder T. 77 ff. in Bläsern und Streichern, wobei in T. 84 zu einem anderen Intervallaufbau gewechselt wird). Marina Lobanova verweist in ihrem Buch über Ligeti auf 191 Siehe dazu z. B. Constantin Floros  : »Seine melodische Substanz entlehnt der Satz großenteils dem Lento e deserto.« (Floros, Constantin  : »Versuch über Ligetis jüngste Werke«, in  : Floros/Marx/Petersen 1991, hier S. 341)

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den Zusammenhang solcher Mixturklänge mit jenen, die beispielsweise in der Klaviermusik Claude Debussys zu finden sind.192 Diese Art des Traditionsbezuges erweitert die von Ligeti selbst beschriebene Bezugnahme auf »die vier großen Komponisten, die pianistisch dachten  : Scarlatti, Chopin, Schumann, Debussy«193 (also auf die Art und Weise, wie der Klavierpart zu gestalten sei) hin zu harmonischen Anknüpfungspunkten. 4. Satz Während der zweite und dritte Satz miteinander durch die gemeinsame (leise) Dynamik am Ende des zweiten bzw. zu Beginn des dritten Satzes verbunden sind, kontrastiert der Anfang des vierten Satzes nach dem leisen Abschließen des dritten vor allem dynamisch (ff ). Doch auch der Charakter, das Register und die »Bauart« des vierten Satzes sind kontrastierend. Kurze, fragmenthafte »Statements« werden zunächst scheinbar lose aneinandergefügt. Alle übrigen Sätze haben im Gegensatz dazu von Beginn an einen kontinuierlichen musikalischen Fluss. Trotz aller Unterschiede zwischen Ligetis Werken vor und nach ungefähr 1980 gibt es – gerade in Bezug auf die Kontinuität des Formablaufes – auch Kontinuitäten im gesamten Schaffen des Komponisten. Wolfgang Burde schreibt über Werke, die lange vor dem Klavierkonzert entstanden sind  : »Atmosphères wurde zum Ausgangspunkt einer Reihe von Werken  – Volumina (1962), Requiem (1965), Konzert für Violoncello und Orchester (1966), Lontano (1967)  –, die dem kontinuierlichen Typus zugehören. Es gäbe kaum Zäsuren, die Musik flösse wirklich weiter. Es würde etwas hörbar, das schon immer angefangen habe und immer weiter klingen werde. Das formale Charakteristikum dieser Musik aber sei ihre Statik.«194 Als statisch kann man das Geschehen im Klavierkonzert zwar nicht bezeichnen, alle anderen Aussagen Burdes lassen sich auf die Sätze 1, 2, 3 und 5 jedoch bedenkenlos übertragen. (Trotzdem findet man auch Ligetis eigene Unterteilung seiner Formtypen innerhalb des Klavierkonzertes wieder. Er unterscheidet zwischen dem statischen, dem dynamisch-zerstückelten, dem kaleidoskopischen oder dem Verzahnungstyp.195) Im vierten Satz hingegen werden Zusammenhänge zwischen den lauten, akkordischen Einwürfen und den leisen Kurzmelodien erst durch das wiederholte Gegeneinanderstellen und Übereinanderlagern dieser beiden Elemente im weiteren Verlauf des 192 Siehe dazu Lobanova 2002, S. 309–312 193 Ligeti, György  : Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition2, »Works for Piano«, SK 62308), 1996, abgedruckt in  : Lichtenfeld 2007, hier S. 288 194 Burde 1993, S. 120 195 Ligeti, György  : »Selbstbefragung«, in  : Lichtenfeld 2007, S. 95–107, hier S. 104f.

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Satzes (ab T. 7) hergestellt, zuvor bilden zwei vollständige Takte als Generalpausen (T. 5, 6) eine Art Doppelpunkt nach dem Exponieren der Hauptelemente, ein kurzes Innehalten vor der »Durchführung« eben dieser Elemente. Streng betrachtet müsste man eigentlich von drei (anstatt von zwei) Elementen sprechen, denn das Orchester spielt zunächst nicht nur eine Akkordfolge, sondern auch einen klar definierten Rhythmus, wohingegen sowohl die leise Melodie der Violinen (parallel geführt im Abstand einer Duodezime) als auch die Klavierakkorde rhythmisch unklarer gestaltet sind. Alle drei Elemente werden ab T. 7 in sich ständig verändernder, konkreter Ausgestaltung gegeneinander gesetzt, einander unterbrechend, kontrapunktierend oder ergänzend. Unterbrochen wird dieses Geschehen in T. 30/31 durch eine neuerliche Generalpause, ebenso in T. 42, ansonsten jedoch ungehindert fortgesetzt. Wie also ist der Ablauf des vierten Satzes, den Ligeti als »zentralen Satz des Konzerts konzipiert«196 hat, strukturiert, welche Entwicklungen kann man beobachten  ? Ab ca. T. 80 wird das Geschehen vor allem immer dichter197, der Solist verliert zusehends an Bedeutung gegenüber dem Orchester. (Letzteres endet auch alleine, ohne Klavier.) Wer bis zu diesem Zeitpunkt die führende Rolle übernimmt, welcher der beiden Partner agiert bzw. reagiert, ist nicht festzustellen, auch nicht vom Hörer. Die Musik bezieht ihre Spannung durch das ständige Sich-Verändern und Neugestalten der einzelnen Elemente. Auch die Länge jedes Partikels wechselt stets, immer von neuem kann also ein anderes Element »hereinbrechen«. Die anfängliche Zuordnung zu Klavier bzw. Orchester wird im Verlauf des Satzes ebenfalls aufgebrochen, so erscheinen beispielsweise ab T. 19 nicht nur Akkordschläge, sondern auch die gekoppelten Kurzmelodien im Solopart (ins Forte übertragen). Ein solch instrumentaler Wechsel geschieht natürlich in umgekehrter Richtung (z. B. T. 20/21  : Klavier-Akkord in den Streichern). Ebenso werden die einzelnen Elemente miteinander verknüpft, wie beispielsweise im Klavierpart in T. 35/36 (Akkorde + Rhythmus der Kurzmelodien). Die Verdichtung des Geschehens durch »Augmentation und Diminution, durch Verzahnung und Verschränkung (…) und durch Vermehrung, Verselbständigung, Ineinanderstauchen und Übereinandergreifen der Stimmen« vergleicht Ulrich Dibelius anschaulich als »eine zunehmende Rotationsbewegung, deren Sog die Spielsteine durcheinanderwirbelt und wie in einem gewaltigen Mahlstrom mit sich reißt.«198 196 Ligeti, György  : Einführungstext zur Uraufführung der vollständigen Fassung am 29. Februar 1988 in Wien, abgedruckt in  : Lichtenfeld 2007, hier S. 298 197 Ein ähnlicher Vorgang ist im Finale des Violinkonzertes, aber auch schon im ersten Satz von »Apparitions« zu beobachten. (Siehe dazu z. B. Kunkel, Michael  : Wandlungen der musikalischen Form. Über György Ligetis Formartikulation, Saarbrücken, 1998, S. 29) 198 Dibelius 1994, S. 237

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Abschnitte innerhalb des Satzes lassen sich (außer durch die bereits erwähnten Generalpausen) allenfalls innerhalb der Dynamik (z. B. T. 55–65  : leise Dynamik in allen Instrumenten) oder anhand des Registers beobachten (z. B. Klavierpart, T. 141  : plötzlicher Wechsel vom höchsten zum tiefsten Register199). Klar voneinander trennbare formale Abschnitte hingegen sucht man vergeblich, trotz der großen äußeren Unterschiede zwischen drittem und viertem Satz verbindet diese Tatsache die beiden Sätze. Harmonisch unterscheidet sich der vierte Satz nicht grundlegend von den übrigen Sätzen, nur die Gewichtungen (Häufigkeiten) sind etwas anders. Sehr häufig findet man Akkorde, in denen tonale Teilakkorde enthalten sind, oder aber es werden tonale Akkorde (meistens in rascher Abfolge) aneinandergefügt. (Richard Steinitz hat dies auf folgendes »Vorbild« zurückgeführt  : »(…) again, two six-note hexachords comprising all twelve semitones (although not used serially), from which Ligeti extracts triads like Berg in his Violin Concerto.«200 Eine bewusste Bezugnahme ist aber im Falle Ligetis, der mehrfach Aussagen über seine Einflüsse machte, jedoch eher unwahrscheinlich.) Exemplarisch für beide Fälle sind zwei Stellen im folgenden Notenbeispiel angeführt  : Notenbeispiel 21 



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Der erste Akkord lässt sich auch schlichtweg als Terzenschichtung beschreiben und bildet so eine Verbindung zwischen den tonalen Akkorden und den ebenfalls vorkommenden Schichtungen von Terzen, Quarten und Quinten. Manche Akkorde lassen 199 Eine ähnliche Stelle, ebenso die Koppelung von Klavier und Perkussion, findet man im ersten Satz, T. 28. 200 Steinitz 2003, S. 328

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sich auch als Obertonspektrum eines Grundtones interpretieren, in das entweder Töne eines zweiten Spektrums oder aber höherliegende Partialtöne tiefer gelegt wurden  : Notenbeispiel 22 

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Die V-I-Beziehung dieser beiden Akkorde ist dabei sicherlich nicht zufällig entstanden, wofür auch die rhythmisch-metrische Verwendung spricht (Auftakt + »1« des nächsten Taktes). Eine solch deutliche Bezugnahme auf tonale Harmonik (inklusive Metrik) ist jedoch auch im übrigen Klavierkonzert ungewöhnlich. Zumeist werden tonal deutbare Akkorde ohne klare (tonalen) Beziehungen aneinandergefügt, somit lediglich das Klangbild, nicht aber eine Hierarchie der Klänge verwendet. Der vierte Satz unterscheidet sich von allen übrigen des Klavierkonzertes besonders darin, dass Ligeti sich hier direkt von einem konkreten Bild der Fraktalgeometrie inspirieren ließ. Auf die diesbezügliche Nachfrage Manfred Stahnkes erwähnt er  : die »Koch-Kurve, die einfachste, in der man eine Strecke dreiteilt, den mittleren Teil herausnimmt, ihn verdoppelt, d. h. einen Zacken bildet  : Aus drei mach vier.«201 Dies verbindet (unter anderem) den vierten Satz des Klavierkonzertes mit der Klavieretüde »Désordre«. Doch auch bei diesen beiden Werken gilt Ligetis in diesem Gespräch kurz zuvor vorgenommene allgemeine Einschränkung  : »Ich hüte mich, mathematisch konstruktive Denkweisen oder Modelle oder Gebäude in meiner Musik zu nutzen«202, denn beide »sind dann doch keine Koch-Kurven. Es liegt aber jeweils ein wiederkehrendes, iteriertes Modell zugrunde, das allmählich modifiziert wird.«203 Nicht nur im Formaufbau im Kleinen und im Großen kann ein solches Verfahren festgestellt werden, sondern auch in der Übergangsphase zwischen Melodik und Harmonik  : »Guided by the mathematical principle of recursiveness Ligeti uses an organization based on 201 Ligeti 2003, hier S. 83 202 Ebda., S. 82 203 Ebda., S. 83

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the ›multiplication of a line by itself‹ in order to achieve ›melodic mixtures‹, so Marina Lobanova.204 5. Satz Kaum hörbar beginnt die Große Trommel den fünften Satz, das Soloklavier schließt unmittelbar daran im gleichen Rhythmus (16tel) mit einem Lauf aus der äußersten Tiefe bis zum hohen Register an, woraufhin der bis zum Ende ständig in Bewegung bleibende Satz eigentlich erst beginnt (T. 3). (T. 1 und 2 sind also einem Auftakt vergleichbar.) Die Streicher (ohne Kontrabass) führen komplementärrhythmisch, unter Verwendung von halbtönig versetzten Ganztonreihen, die durchlaufenden 16tel bis T. 11 fort, übergeben sie dort (vergleichbar der Großen Trommel und dem Klavier in T. 1) direkt an Flöte und Klarinette, kurz darauf übernimmt das Soloklavier (T. 12). Nur mehr in der linken Hand leben die durchlaufenden 16tel bis T. 30 fort, erscheinen von T. 32–45 mehrmals unterbrochen, in T. 50–62 wieder kontinuierlich. Nach der Klavier-Solokadenz (T. 63–71) bleiben sie im weiteren Verlauf ausgespart, um kurz darauf gemeinsam mit den durchlaufenden Achteltriolen des Xylophons im Klavier (in beiden Händen) den Satz zu beenden. Die durchlaufenden 16tel – hörend besonders gut nachvollziehbar – sind wohl bewusst als formgestaltendes Mittel vom Komponisten eingesetzt worden. Außerdem sind zumindest weitere sieben Schichten innerhalb des fünften Satzes unterscheidbar  : Schicht A  : . (unterteilt) Schicht B  : . . (unterteilt) Schicht C  :  Schicht D  : 5, 7, 9 oder 11  Schicht E  : Achteltriole Schicht F  : Liegetöne Schicht G  : Patterns In Schicht A, B, C, D und E gibt es einen regelmäßigen (jedoch von Schicht zu Schicht unterschiedlichen) Grundpuls. Im Orchesterpart erscheinen außerdem in einigen wenigen Takten zusätzliche, den übrigen Kategorien nicht bzw. gemischt zuordenbare Elemente (T. 9–11, Trompete und Posaune  ; T. 20–22, Oboe, Klarinette und Fagott  ; T. 28–29, Horn). 204 Lobanova 2002, S. 319

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Schicht C (Viertel) erscheint beinahe im gesamten Satz, bis T. 46 ausschließlich im Orchester, von T. 47–57 auch im Klavier, danach für kurze Zeit wiederum nur im Orchester (T. 58–62). Ab der Klavier-Solokadenz (T. 63 ff.) gibt es diese Schicht ausschließlich im Klavier und wird in T. 76 für nur drei Takte vom Orchester übernommen. Insgesamt betrachtet kommt Schicht C vorwiegend im Orchesterpart vor, ab etwa der Mitte des Satzes auch im Klavierpart. Nicht immer erscheinen die Viertel so regelmäßig wie im Kontrabass zu Beginn des Satzes (hier handelt es sich eigentlich um regelmäßige Halbenoten). Bereits ab T. 6 spielen die Holzbläser, Horn und Perkussion Akkorde, für die Ligeti zwar immer ein Viertel als Notenwert, jedoch unterschiedlich lange Pausen (ein, drei oder fünf Achtel) verwendet. Eine ebensolche Vorgangsweise findet man in T. 12 ff. (Violinen und Viola) und an vielen anderen Stellen. Die regelmäßigen Halben des Kontrabasses setzen in T. 15 aus, tauchen ab T. 24 jedoch im Violoncello wieder auf (diesmal als regelmäßige Viertel). Eine neue Gestalt nimmt die Viertel-Schicht ab T. 32 an  : Hier werden zwei bis maximal vier Viertelnoten zusammengefasst, dazwischen liegen konstant zwei Viertelpausen. Ähnliches findet man gleichzeitig bzw. kurz zuvor in der Flötenstimme (zwei bis sieben Achtel zusammengefasst, dazwischen stets drei Achtel Pause). Bei ihrem ersten Erscheinen in der Klavierstimme wird die Viertel-Schicht besonders deutlich hörbar gemacht (T. 47 ff.), die beiden synchron spielenden Hände »driften« ab T. 49 dadurch auseinander, dass die Pausen der linken Hand um ein 16tel verlängert werden. Bis zur Solokadenz des Klaviers, in der die linke Hand die Viertel-Schicht übernimmt, wird diese im Orchester fortgeführt, ebenso geschieht dies nach der Kadenz, bis T. 78. Schicht A wird von Anfang an in etwa komplementär im Orchester- bzw. Klavierpart verwendet und endet bereits in T. 75. Schicht B und F treten sowohl im Klavier als auch im Orchester seltener in Erscheinung, Schicht E und G noch seltener. Schicht D – regelmäßige Einheiten von fünf, sieben, neun oder elf 16teln – erscheint im Klavierpart während des gesamten Satzes überhaupt nicht, im Orchesterpart besonders in den Takten 24–53, danach erst wieder am Ende des Werkes (T. 72–78). Die verschiedenen Rhythmen dieser Schicht können gelegentlich auch überlagert, also simultan gespielt werden, wie dies etwa in T. 27–30 der Fall ist  : An dieser Stelle spielen Flöte und Klarinette ein von Pausen durchsetztes 9--Muster, die Violinen und Viola ein 5--Muster in Pizzicato, Trompete und Posaune wiederum bilden aus regelmäßigen 7--Einheiten in etwa zweitaktige Melodiephrasen. Zugleich gibt es weitere fünf Schichten an dieser Stelle zu finden (durchlaufende 16tel und Schicht A im Klavier, Schicht B in der Perkussion, C im Violoncello und ein Zusatz im Horn). Besonders in der ersten Satzhälfte gibt es oft solche Stellen der vielfachen Übereinanderlagerung verschiedener Schichten. Der Hörer kann in diesen Fällen natürlich kei-

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neswegs alle Erzählstränge mitverfolgen (auch nach mehrmaligem Hören ist dies aufgrund der Ereignisdichte und des Tempos nicht möglich). Dies war vermutlich auch nicht Ziel des Komponisten, da er beispielsweise durch Dynamik und Registerauswahl ganz bewusst (hörbare) Schwerpunkte innerhalb des dichten Gewebes setzt. Ligeti selbst war sich der Situation des Hörers durchaus bewusst, bezeichnete er doch das Klavierkonzert »als seine komplexeste und am schwersten durchhörbare Partitur«.205 Und tatsächlich war es nicht Ziel des Komponisten, dass man als Hörer möglichst alle einzelnen Schichten erkennt. Über den ersten Satz des Konzertes formulierte er sein Ziel folgendermaßen  : »Wenn diese Musik richtig gespielt wird, also in richtiger Geschwindigkeit und mit richtiger Akzentuierung innerhalb der einzelnen Schichten, wird sie nach einer gewissen Zeit ›abheben‹ wie ein Flugzeug nach dem Start  : Das rhythmische Geschehen, da zu komplex um im einzelnen verfolgt zu werden, geht in ein Schweben über. Dieses Aufgehen von Einzelstrukturen in einer anders gearteten Globalstruktur ist eine meiner kompositorischen Grundvorstellungen.«206 Deutlich voneinander getrennte Abschnitte gibt es im fünften Satz (wie auch bereits für den vierten Satz festgestellt wurde) nicht bzw. wenige (z. B. Klavierkadenz, T. 63–71). Zwar wechseln beispielsweise in T. 11/12 Instrumentation, Materialverteilung, Register (im Klavierpart) und teilweise die Dynamik  ; jedoch schließen solche neuen Abschnitte auch im weiteren Verlauf des Satzes (z. B. T. 23, 30, 35207, 38, 40 u. a.) so unmittelbar an die jeweils vorangegangenen Abschnitte an, dass es in keinem Fall zu einer echten Zäsur kommt. Selbst in T. 57, wo das Klavier das Ende einer Entwicklung erreicht und abbricht, setzt das Orchester seine bereits seit T. 50 aufgebauten und immer dichter gedrängten Figuren fort. Dies ist ebenso in T. 60 der Fall, wo das Klavier in leisester Dynamik ein Teil dieser Orchesterfiguren wird, ehe die Solokadenz abrupt einsetzt (T. 63). Nach dieser Kadenz macht es wenig Sinn, beispielsweise eine Zäsur in T. 76 festzumachen, denn auch hier werden die Streicher in gleicher Weise wie zuvor weitergeführt. Die letzten 7 Takte (T. 78, Taktmitte–T. 84) jedoch sind ebenso deutlich abgegrenzt wie die Klavier-Solokadenz. Man könnte sie auch als eine zweite Kadenz, durch das Klavier gemeinsam mit dem Xylophon ausgeführt, bezeichnen. Tatsächlich aber bilden diese Takte eine Variante zu den ersten beiden Takten des Satzes, die anfänglichen 16tel werden hier durch Achteltriolen ergänzt und so zu einem rhythmisch dichteren Netz versponnen. Anstatt im tiefsten Register des Anfangs wird der Finalsatz im höchsten Register beendet. 205 Zitiert nach  : Floros, Constantin  : »Versuch über Ligetis jüngste Werke«, in  : Floros/Marx/Petersen 1991, hier S. 336 206 Ligeti, György  : Einführungstext zur Uraufführung der vollständigen Fassung am 29. Februar 1988 in Wien, abgedruckt in  : Lichtenfeld 2007, hier S. 297 207 Der 16tellauf als Auftakt zu einem neuen Klaviereinsatz (T. 34) ist den Takten 1–2 vergleichbar.

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Zusätzlich zur Überlagerung von Achteltriolen und 16teln kommt es zu unterschiedlichen Akzentuierungsmustern  : Im Klavier akzentuiert die rechte Hand jedes siebente, die linke Hand jedes fünfte 16tel, das Xylophon betont jede dritte bzw. sechste Achteltriole. (Gelegentlich werden dabei zusätzlich unterteilende Akzente eingeschoben.) Ab T. 81 kommt es jedoch plötzlich in beiden Instrumenten zu unregelmäßigen Akzenten, meist in immer längerem Abstand. Ligeti war sich des aufführungspraktischen Unterschiedes zwischen dieser Passage und seinem »Vorbild« der »interlocking patterns« sehr bewusst  : »Im Klavierkonzert z. B. spielen der Schlagzeuger und der Solist zum Schluß ein irrwitzig schnelles sich verzahnendes Duo. Beide sitzen/stehen so weit auseinander, daß sie nur vermittelt durch den Dirigenten spielen können. Diese Konstellation muß notgedrungen anders als im afrikanischen Vorbild funktionieren. Hier kann nicht durch hörende Musiker so präzis wie im interlocking pattern gespielt werden.«208 Die rhythmische Präzision des »afrikanischen Vorbildes« kommt durch die Tatsache zustande, dass beide Musiker eng nebeneinander sitzen und die Bewegungen des jeweils anderen genau beobachten können. Ligeti wurde also nicht nur von afrikanischer Musik inspiriert und verarbeitete diese indirekt, sondern macht hier auch einen direkten Vergleich. Als ein typisches Beispiel für die Arbeitsweise Ligetis seien die Takte 30–38 herangezogen. Hier baut sich in den Holzbläsern ein immer dichter werdendes Feld von verschiedenen Melodiefragmenten bzw. Skalenausschnitten auf. Folgende vier unterschiedliche Grundwerte liegen den vier Stimmen zugrunde  : Flöte  : Achtel Oboe  : Viertel Klarinette  : punktierte Achtel Fagott  : Viertel + 16tel Die (stets zunehmende) Anzahl von Tönen, die durch Pausen voneinander getrennt werden, folgt jedoch in allen vier Instrumenten ein und demselben Schema  : Flöte  : 2 – 2 – 3 – 2 – 3 – 3 – 4 – 2 – 4 – 3 – 4 – 6 – 6 – 7 Oboe  : 2 – 2 – 3 – 2 – 3 – 3 – 4 – 2 – 1 Klar.: 2 – 2 – 3 – 2 – 3 – 3 – 4 – 2 – 4 – 3 – 4 – 6 Fag.: 2 – 2 – 3 – 2 – 3 – 3 – 4

208 Ligeti 2003, hier S. 76

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Die zeitversetzten Anfänge (Flöte und Klarinette  : T. 31, Oboe  : T. 32, Fagott  : T. 33) und das gemeinsame Ende bewirken die unterschiedlichen Längen der Ausschnitte aus diesem Schema. Die Pausen zwischen den Tongruppierungen bleiben stets konstant, sind aber ebenfalls von Instrument zu Instrument verschieden (Flöte  : punktierte Viertel, Oboe  : zwei Viertel, Klarinette  : punktierte Viertel, Fagott  : Viertel + 16tel). Die Tonhöhen sind aus vier Transpositionen (im Ganzton-Abstand) ein und derselben absteigenden Intervallfolge gewonnen  : Notenbeispiel 23 



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Zusätzlich verwendet die Flötenstimme zwei verschiedene Transpositionen in Folge (ab Ton ges’’ und h’ ). Wie bereits erwähnt, ist eine solche Arbeitsweise typisch für Ligetis Klavierkonzert und kann an zahlreichen anderen Stellen (auch in anderen Sätzen) beobachtet werden. Nach einem vergleichbaren Prinzip sind innerhalb des fünften Satzes beispielsweise die Takte 46–62 (Horn), 49–62 (Posaune) und 52–62 (Trompete) aufgebaut. Mitunter kommt es auch zu einer Umkehrung des Verhältnisses von Tondauern und trennenden Pausen. Während – wie erwähnt – in den Takten 30–38 die Längen der unterbrechenden Pausen stets konstant bleiben, ist dies in T. 54–57 im Klavierpart für die Tondauern der Fall. An dieser Stelle wird das Ende einer Entwicklung der Dynamik und des Registers erreicht. Die Länge der Akkorde bleibt stets dieselbe (punktierte Achtelnote), der Abstand zwischen diesen Akkorden wird immer größer. Wie schematisch Ligeti dabei vorgeht, sei anhand der folgenden Übersicht gezeigt  :

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 24 

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Einfache mathematische Überlegungen haben ganz offensichtlich bei der Ermittlung der genauen Pausenlängen eine Rolle gespielt. Die Harmonik wechselt von Akkord zu Akkord und scheint dabei keiner Logik zu folgen. Der höchste Akkordton bleibt jedoch immer gleich (c 5). Trotz der Vielfalt von Elementen und ihren noch vielfältigeren Ausformungen innerhalb des fünften Satzes gelingt es Ligeti bis zum Ende des Werkes, dem Hörer immer neue Ideen darzubieten und so bis zuletzt die Spannung aufrechtzuerhalten. Nur wenige Takte vor der abschließenden Klavier-Xylophon-»Coda« bringt er z. B. eine markante, jazzartige Passage in Trompete und Posaune (T. 76). Diese wird als rhythmische und melodische Variante unmittelbar von anderen Bläsern mit übernommen und bildet nicht nur den Abschluss des Orchesterparts, sondern auch eine Brücke zwischen dem Ende des Klavierparts in T. 75 und dem letzten Einsatz des Solisten in T. 78. Geradezu verschwenderisch streut Ligeti bis zum Schluss immer neue Ideen ein. (Auf die Tatsache, dass die Tonhöhen hier eine simple Chromatik durchschreiten, sei hingewiesen als ein weiteres Beispiel für ein komplexes Endergebnis bei einfachem Ausgangsmaterial.) Wie auch in den übrigen vier Sätzen, kann man zwar die meisten Elemente einer bestimmten Schicht zuordnen. Damit wird die Musik Ligetis jedoch in einem großen Ausmaß reduziert, denn die Gestaltungs- und Erscheinungsformen jeder einzelnen Schicht sind zahllos und ständig variierend. Als ein Beispiel dafür seien die Takte 3–11 des Klavierparts herangezogen. Die Rhythmen der rechten Hand wurden in der obenstehenden Übersicht der Schicht der punktierten Vierteln zugeordnet. Wie diese aber unterteilt werden, sei nun schematisch dargestellt  :

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 25

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Zwischen diesen Gruppierungen von immer gleicher Gesamtlänge stehen auch stets konstante Pausen (punktierte Viertel). Eine Taktlänge wird somit durch die rechte Hand genau markiert, während die linke Hand Einheiten von je 11/2 Takten Länge spielt. Wie anhand der obigen Schematik deutlich wird, gibt es keine Kombination von Elementen, die wiederholt wird. Durch das Hinzufügen einer weiteren Unterteilung (T. 8  : Element d) erweitert Ligeti sein Spektrum, um nicht zwangsläufig eine Kombination wiederholen zu müssen. An manchen Stellen wurden scheinbar neue Elemente bereits vorbereitet, jedoch in versteckter Art und Weise. Dies ist etwa in T. 12 ff. der Fall, wo das Klavier parallele Sexten spielt. Sie kamen bereits in T. 3 ff. zum Einsatz (Violine 1 und Viola, Violine 2 und Violoncello), waren dort aber durch den raschen Ablauf und die Überlagerung von akustisch präsenteren Schichten hörend kaum wahrnehmbar. Auch jetzt (T. 12 ff.) sollen sie zwar »scarcely audible, nur wie ein Hauch« gespielt werden, sind aber durch die exponierte Registerlage und die Tatsache, dass dem Solopart eher mehr Aufmerksamkeit des Publikums gilt, bereits besser hörbar. Ähnlich werden parallele große Sexten in T. 38 ff. verwendet, auch hier erscheinen sie im Klavierpart als 16telfigurationen, die beiden Hände sind jedoch – quasi kanonisch – um einen 16telwert gegeneinander versetzt. Die Dynamik und Spielanweisung entspricht genau den Takten 12 ff., das Register wurde hingegen verändert. Als ein weiteres typisches Beispiel für Ligetis Arbeitsweise bei einer Folge von Akkorden seien die Takte 47–49 des Klavierparts herangezogen. Hier hört man die fffpesante-Akkorde besonders deutlich, sie bilden zugleich das Ende einer vorangegangenen und den Ausgangspunkt einer nachfolgenden Steigerung. (Ab T. 49 erscheinen rechte und linke Hand des Klaviers wieder rhythmisch versetzt, daher werden in der folgenden Übersicht nur die Takte 47–49, Taktanfang, betrachtet.) Folgende Intervalle wurden innerhalb der Klavierakkorde verwendet  : T. 47

4 4 kl. 6 kl. 6

4 4 ü.4 4

4 ü.4 5 gr. 3 4

kl. 3 gr. 2 4 ü. 4 4

kl. 6 ü.4 gr.3 5

a

b

c

b’

d

kl. 3 gr. 2 4 gr. 3 4 gr. 2 e

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester T. 48

T. 49

4 4 gr. 3 gr. 3 4

ü. 4 5 gr. 2 gr. 2 4

4 4 4 gr. 3 4

a’

c’

e’

4 kl. 3 gr. 2 4 gr. 2 gr. 3 4 b’’

4 4 gr. 3 4 gr. 2 e’’

kl. 3 gr. 2 4 gr. 2 gr. 3 4 4 b’’’

kl. 3 gr. 3 gr. 2 4 ü. 4 4 b’’’’

In fast allen Akkorden kommen ein oder mehrere Quarten vor, meistens liegen sie in den Oberstimmen. Diese Tatsache ist ein Element, durch welches die Akkorde als zueinander verwandt gehört werden können. Wie in der obigen Übersicht anhand von Buchstaben dargestellt wurde, lassen sich jedoch aufgrund der übrigen Intervalle auch weitere Beziehungen feststellen. Varianten werden vorwiegend durch die Aufspaltung eines Intervalls (Quart, übermäßige Quart, kleine Sext, große Terz) in zwei kleinere Intervalle erzeugt. Aufgrund der Teilung der Quart in kleine Terz + große Sekunde beispielsweise beziehen sich somit weiters die Akkorde b’, b’’, b’’’ und e aufeinander. Festzustellen ist auch, dass Ligeti bei zwei verwandten Akkorden in jedem Fall unterschiedliche Tonhöhen (d. h. Transpositionen) verwendet. Insgesamt handelt es sich um eine Folge von Akkorden, die zueinander ähnlich, aber in keinem Fall gleich sind. Direkt aufeinander treffende Akkorde haben in den meisten Fällen (Ausnahme  : b’’’ und b’’’’) keinen Bezug zueinander, außer der Tatsache, dass sie Quarten enthalten. Innerhalb eines kleinen Rahmens (zeitlich und nur innerhalb eines Parameters, der Harmonik) komponiert Ligeti nach denselben Prinzipien, die sich auch in größerem Rahmen – besonders formal – beobachten lassen  : Es gibt ein Gleichgewicht von neuen und alten Elementen, sodass sowohl ein Gefühl von Spannung als auch von Zusammenhang entsteht  ; eine Logik der Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen, die jedoch keinen gesetzmäßigen und vorhersagbaren Regeln folgt209 und ein kaleidoskopartiges, ständig neues Vermischen von Einzelelementen.210 Im gesamten 209 Somit erfüllt Ligeti sein eigenes Credo, »daß Musik keine unbedingte Konsistenz haben muß im mathematischen oder formal-logischen Sinn. Selbst eine Bach-Fuge ist nur ein schein-logisches Gebäude (…).« (Ligeti, György  : »Rhapsodische, unausgewogene Gedanken über Musik, besonders über meine eigenen Kompositionen«, in  : Lichtenfeld 2007, hier S. 27) 210 Manch ein Autor gesteht daher die Grenzen von Analyse angesichts der Musik Ligetis ein  : »Die Art des analytischen Scheiterns in diesem Bereich ist allerdings bezeichnend für Ligetis ›Gratwanderung im Zwischenbereich von Kontinuität und Diskontinuität‹, eine verbindliche Periodizität läßt sich ebenso wenig nachweisen, wie ein übergeordnetes aperiodisches Prinzip, dazu nämlich drängen sich

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György Ligeti  : Konzert für Klavier und Orchester

Werk bewegt er sich dabei zwischen den beiden Polen »Emotion und Präzision«, die auch der Komponist selbst als Konstanten seiner Musik bezeichnet hat.211 Beide Pole versucht er dennoch aus einer gewissen Distanz heraus, besonders aber, sich selbst und seine Musik stets kritisch zu betrachten. Vielleicht liegt das Geheimnis Ligetis, wie er zugleich aus der Tradition schöpfen und etwas völlig Neues schaffen kann, in seiner selbstkritischen und mitunter auch selbstironischen Haltung begründet  : »(…) sich selbst in Frage zu stellen« ist für ihn »eine wesentliche Komponente«.212

einfach zu viele lokale Regelmäßigkeiten auf«, so etwa Michael Kunkel. (Kunkel 1998, S. 64) Vielleicht kommt aber gerade in solchen Fällen der Analyse die Aufgabe zu, ihre eigenen Aufgabengebiete neu zu definieren, d. h. andere Fragen an ein Werk zu stellen. 211 Ligeti, György in  : Ligeti 1989, hier S. 60 212 Ebda., S. 60

Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra »Immer, wenn ich ein paar Sätze zum Thema Musik gesagt habe, überkommt mich das Gefühl, als hätte ich das Wichtigste außer acht gelassen. Die alte Binsenweisheit, nach der, wie es Debussy einmal schön formuliert hat, ›die Musik dort beginnt, wo die Worte aufhören‹, scheint mir der beste Hinweis zu sein für alle, die die Annäherung an ein ihnen unbekanntes Werk suchen.«213

Allgemeine Annäherung Ein Jahrzehnt nach Feldmans Werk »Piano and Orchestra« entstand Witold Luto­ sławskis »Concerto for Piano and Orchestra«.214 Die Unterschiede zwischen diesen beiden Werken sind nicht nur in der fortschreitenden musikgeschichtlichen Entwicklung zwischen den Jahren 1975 und 1987/88 auszumachen, sondern vor allem in den so verschiedenen Charakteren, Lebens- und Werkbiografien und in dem divergierenden Selbstverständnis als Komponisten. Auch wenn man auf den ersten Blick aufgrund der so unterschiedlichen Werkresultate auf ein gegensätzliches Verhältnis zur Tradition schließen könnte, so ist die Auseinandersetzung mit dieser und damit sowohl deren Negation als auch deren Fortführung bei beiden Komponisten feststellbar. Schon rein äußerlich unterscheidet sich Morton Feldmans einsätziges »Piano and Orchestra« von Witold Lutosławskis Klavierkonzert. Letzteres besteht aus vier Sätzen, die allerdings attacca gespielt werden sollen. Wie Feldman widmete auch Lutosławski sein Werk dem Pianisten der Uraufführung215, in diesem Fall Krystian Zimerman. Die Liste von Werken, die Lutosławski 213 Lutosławski, Witold, zitiert nach Kaczynski, Tadeusz (Hennenberg, Fritz, Hg.)  : Gespräche mit Witold Lutosławski, Leipzig, 1976, S. 23 214 Der Vergleich mit Feldmans Werk (und nicht auch mit den bereits besprochenen Kompositionen Lachenmanns und Ligetis) wird hier zum Aufzeigen zweier möglichst entgegengesetzter »Pole« gewählt, was den Umgang mit Tradition und damit auch der »Gattungstradition« betrifft. 215 Diese fand im August 1988 bei den Salzburger Festspielen mit dem Radiosymphonie-Orchester Wien unter der Leitung des Komponisten statt.

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

speziell für einen bestimmten Interpreten komponiert hat, ist umfangreich. Sie umfasst Werke wie »Paroles tissées«, »Les espaces du sommeil«, das »Violoncellokonzert«, »Chain 2« und andere mehr.216 Im Falle des »Concerto for Piano and Orchestra« trat Krystian Zimerman an den Komponisten mit dem Wunsch heran, für ihn ein Konzert zu schreiben  : »He acted first via PAGART (…), then through a friend of his, director of the Holland Festival. He might well come directly to me – he did not so (apparently on account of an immense difference in age). His steadfastness in the desire to get my concerto was a big impetus for me to write it. I am a great admirer of his playing. I heard him play in concerts, I know his recordings«217, so der Komponist. Das Zusammentreffen der beiden Künstler war nicht nur eine inspirierende, sondern auch eine für Lutosławski persönlich besonders wertvolle Begebenheit  : »Meeting Zimerman was one of the luckiest moments in my life«218, so der Komponist weiter. Inwieweit die Wertschätzung des Komponisten insbesondere der Interpretation des Chopin’schen e-Moll-Klavierkonzertes durch Zimerman Einfluss auf Lutosławskis Komposition genommen haben könnte, soll später erläutert werden. Die Orchesterbesetzung gleicht mit dreifachen Holzbläsern, vier Hörnern, zwei Trompeten, drei Posaunen, Tuba, Pauke, Perkussion, Harfe und Streichern in etwa jener von Morton Feldmans »Piano and Orchestra«, mit kleinen Unterschieden (geringfügig andere Blechbläserbesetzung, keine Pauke, aber zwei statt einem Schlagwerkspieler). Den wesentlichsten Unterschied bildet das bei Lutosławski nicht vorkommende Orchesterklavier, was die beiden »Gegenspieler« Solist und Orchester stärker voneinander trennt, als es bei Morton Feldmans Werk der Fall ist. Holzbläser und Streicher kommen in allen vier Sätzen relativ häufig zum Einsatz, weniger jedoch die Blechbläser. Sie setzen im ersten Satz erst bei Zi. 20 ein und werden auch im zweiten Satz nur selten verwendet. Noch seltener allerdings erklingen Pauke, Perkussion und Harfe. Die Perkussion pausiert im gesamten ersten Satz, die Pauke kommt im zweiten Satz nur ein einziges Mal (Zi. 46) vor, im dritten Satz fehlen alle drei genannten Instrumente gänzlich, im vierten Satz erscheinen sie wieder – zumindest sporadisch. Martina Hommas Behauptung, das Marimbaphon sei ab Mitte der 1970er-Jahre »ständiger Klangbestandteil«219, in den 1980er-Jahren zusätzlich mit Glockenspiel 216 Vergleiche dazu auch  : Nikolska, Irina  : Conversations with Witold Lutosławski (1987–92), Stockholm, 1994, S. 16 217 Ebda., S. 45 218 Ebda., S. 46 219 Homma, Martina  : »Klangfarbe und Harmonik in der Musik Witold Lutosławskis«, in  : Kalisch, Volker (Hg.)  : Warschauer Herbst und Neue Polnische Musik. Rückblicke  – Ausblicke, Essen 1998, (S. 142–158), S. 157

Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

kombiniert, trifft auf das Klavierkonzert nicht zu. Die Bedeutung des Schlagwerks scheint in diesem Fall eher marginal zu sein. Lutosławskis Haltung gegenüber der Gattung Klavierkonzert wie auch zur gesamten Musikgeschichte kann man als eine zweckgerichtete beschreiben. Sein Ziel gerade bei größer dimensionierten Werken ist es, eine Musik zu komponieren, die in ihrem Spannungsverlauf auf das Hörverhalten des Publikums zugeschnitten ist  : »The main purpose of a piece of music is that it should be experienced by the listener«, so Lutosławski selbst.220 Der Komponist ist sich bewusst, damit gegen die Ansicht all jener zu argumentieren, »who consider the existence of a work by itself, independent of its being perceived, as the main aim of its being created.«221 Die Notwendigkeit bzw. Zulässigkeit der Anwendung mathematischer Verfahren während des Kompositionsprozesses bestreitet er zwar nicht, setzt sie jedoch immer mit Blick auf den – potenziellen – Hörer ein  : »I do not, however, consider all mathematical operations as being of no use whatsoever. On the contrary. I often turn to mathematics, or rather to certain simple mathematical processes, in my composing. However, in all such operations I try never to lose sight of my basic aim – which is to compose the particular aesthetic experiences of my listener.«222 Der Hörer, den Lutosławski beim Komponieren stets im Hinterkopf behält, hat allerdings nichts mit einem bestimmten Hörer oder einem konkreten Hörertyp zu tun, wie der Komponist weiter erläutert  : »Here the word ›listener‹ is the creation of my own imagination (…). I am perfectly well aware that my imagined listener is no typical listener, and that he is even probably very particular. For my work, however, he has one invaluable advantage  : he is the one listener about whom I really know something.«223 Wenig später in diesem Text bezeichnet Lutosławski den imaginären Hörer als »the personification of the artistic conscience«224, was noch eher die Vermutung zulässt, der Komponist setze seine eigene Person als den »idealen« Hörer voraus. Für diese Vermutung spricht auch folgende andernorts von Lutosławski getätigte Aussage  : »(…) the composer can only follow his own experience in listening to the music and assume that his potential audience will include a certain number of people with responses similar to his own.«225

220 Lutosławski, Witold  : »The Composer and the Listener«, in  : Nordwall, Ove (Hg.)  : Lutosławski, Stockholm, 1968, S. 119–126, hier S. 121 221 Ebda. 222 Ebda., S. 122 223 Ebda., S. 122 f. 224 Ebda., S. 124 225 Lutosławski, Witold  : »Notes on the construction of large-scale forms«, in  : Skowron, Zbigniew (Hg.)  : Lutosławski on Music, Lanham, Maryland, 2007, S. 2–12, hier S. 2

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Im Hinblick auf diese Grundeinstellung Lutosławskis als Komponist sind auch die folgenden Beobachtungen und Vermutungen über Zusammenhänge zwischen verschiedenen Parametern und Materialien bzw. innerhalb derselben zu werten. Das Spannungsfeld zwischen dem Hauptaugenmerk auf der Rolle des Hörers und dem – bereits oben zitierten – Einbeziehen »mathematischer« Verfahren erstreckt sich bis in kleinste Details, mitunter ist es anhand der Partitur (ohne Einbeziehung von Skizzen o. ä.) auch nicht mit Sicherheit klärbar, welche der feststellbaren Zusammenhänge vom Komponisten selbst intendiert sind. 1. Satz Trotz Lutosławskis genereller Reserviertheit gegenüber Werkkommentaren und den verschiedenen dahinter vermuteten bzw. vom Komponisten selbst geäußerten Gründen226 hat er im Vorwort des Klavierauszuges einige überblicksartige Angaben zur formalen Gestaltung des Werkes gemacht  : »Der erste Satz besteht aus vier Abschnitten. Im ersten und dritten sind die exponierten Motive gewissermaßen nachlässig, leicht, manchmal etwas kapriziös, niemals allzu ernst. Im Gegensatz zum ersten und dritten füllt den zweiten und vierten Abschnitt eine weite Kantilene, die schließlich zum Höhepunkt des ganzen Satzes führt.«227

Dieser Unterteilung zufolge kann man folgende Abschnitte annehmen  : 1. Abschnitt  : Beginn bis inkl. Zi. 19 2. Abschnitt  : Zi. 20–Zi. 23 3. Abschnitt  : Zi. 24–Zi. 27 4. Abschnitt  : Zi. 28 bis Ende Vergleicht man den Beginn des zweiten mit jenem des vierten Abschnittes, so lässt sich folgende Quartbeziehung feststellen  : 226 Vgl. dazu z. B. Moßburger, Hubert  : »›… den Menschen durch meine Musik etwas mitteilen …‹ – Witold Lutosławski und die musikalische Ausdrucksästhetik«, in  : Edler, Arnfried und Meine, Sabine (Hg.)  : Musik, Wissenschaft und ihre Vermittlung, Augsburg 2002, S. 331–334, oder auch  : Lutosławski, Witold  : Werkkommentar zu »Musique funèbre«, in  : Nordwall 1968, S. 49–57 227 Lutosławski, Witold  : Vorwort des Klavierauszuges des Concerto for Piano and Orchestra, Chester Music, 1991 (CH 60706). Vgl. auch die englische Fassung in  : Skowron 2007

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Notenbeispiel 26 

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Auch im Falle des ersten und dritten Abschnittes ist eine solche Quart-Transposition auffindbar, dazu möchte ich Zi. 2 (erster Klaviereinsatz) und Zi. 24 (Beginn des dritten Abschnittes) miteinander vergleichen  : Notenbeispiel 27 



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Diese Beziehung ist allerdings weniger deutlich hörbar als im Falle des zweiten und vierten Abschnittes, da weniger eindeutig (Oktavversetzung von b’’ zu b, g’’ als g’’ und g’, Hinzufügen von h, nur kurzes Anspielen der ebenfalls oktavversetzten Töne gis’’–a’’). Zudem ist dadurch die Orchester-Einleitung zu Beginn des Satzes als eigenständiger Abschnitt zu betrachten, wogegen aber die Tatsache spricht, dass auf den Einsatz der Streicher (ein Takt vor Zi. 2) im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird (ein Takt vor Zi. 5, vor Zi. 8, vor Zi. 11, vor Zi. 13, vor Zi. 17). Der Klavierpart von Zi. 2 bis Zi. 11 wirkt außerdem selbst wie eine Einleitung, erst ab dem »precipitando«-Teil (vor Zi. 12) beginnt ein Abschnitt in kontinuierlicherem Zeitfluss. Obwohl eine Quart- (Quint-) Beziehung zwischen dem ersten Auftreten eines Themas und seiner Reprise ein Moment des Traditionsbezuges darstellt, so ist die Verwandtschaft zwischen erstem und drittem Abschnitt vor allem charakterlicher, weniger thematischer Natur. Von einem »Haupt-« und einem »Seitenthema« zu sprechen, wäre daher meiner Ansicht nach unangebracht. Der »Leichtigkeit« (Lutosławski) der Motive des ersten und dritten Abschnittes entspricht auch die Registerauswahl des Soloklaviers  : Während hier zumeist in höheren Oktavlagen gespielt wird (in etwa kleine bis viergestrichene Oktave), verwen-

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

den Abschnitt 2 und 4 vorwiegend tiefere Lagen (ungefähr Kontra- bis zweigestrichene Oktave, Abschnitt 4 auch höher). In den Abschnitten 1 bis 3 gibt es jeweils an ­ihrem Ende eine kurze Entwicklung hin zum Register des nachfolgenden Abschnittes. Anders der vierte Abschnitt  : Hier steigt die Oberstimme der Kantilene kontinuierlich nach oben, damit geht auch die dynamische Entwicklung bis hin zum – wie Lutosławski schreibt – »Höhepunkt des Satzes«228 einher. Die vom Komponisten erwähnte Entsprechung der Abschnitte 1 und 3 sowie 2 und 4 ist auch an den schnellsten vorkommenden rhythmischen Werten erkennbar  : Während im ersten und dritten Abschnitt ein 32tel den kürzesten Wert darstellt, bildet im zweiten Abschnitt ein Triolenachtel, im vierten Abschnitt ein Quintolen–16tel die obere Grenze der rhythmischen Werte. Auf die Dauer der einzelnen Abschnitte hingegen wurde diese Entsprechung nicht übertragen, wie folgende Übersicht zeigt  : 1. Abschnitt  : ca. 3’50’’ 2. Abschnitt  : ca. 0’30’’ 3. Abschnitt  : 0’40’’ 4. Abschnitt  : 1’ Der erste Abschnitt dauert mehr als doppelt so lange wie alle nachfolgenden Abschnitte gemeinsam. Selbst wenn man den ersten und vierten Abschnitt als die beiden längsten miteinander vergleicht, zeigt sich, dass der erste Abschnitt viermal so lange wie der vierte Abschnitt dauert. Die beiden mittleren Abschnitte sind die kürzesten, sie haben eine ähnliche Dauer. Angesichts dieser zeitlich ungleichen Gewichtung der vier Abschnitte könnte man – ungeachtet des tatsächlich vorhandenen Wechsels bzw. der Übereinstimmung des verwendeten Materials, des Grundcharakters, des Gestus und der oben besprochenen Registerauswahl der Solostimme oder der schnellsten rhythmischen Werte – den ersten Satz des Klavierkonzertes in zwei Teile gliedern  : 1. Teil  : 1. Abschnitt 2. Teil  : 2.–4. Abschnitt Dieser Unterteilung entspricht auch die Tempowahl Lutosławskis. Während im ersten Teil das Tempo häufig wechselt, so haben im zweiten Teil alle drei verschiedenen Abschnitte ein und dasselbe Tempo (q = ca. 70). Dieses ist langsamer gewählt als alle übrigen Tempi, die sich im Bereich von k = 100 und k = 110 bewegen.229 Unmittelbar 228 Witold Lutosławski im Vorwort des Klavierauszuges 229 Um einen Druckfehler dürfte es sich übrigens gleich zu Beginn des Klavierauszuges handeln, wo die erste Tempoangabe im ersten Satz q k = 110 anstatt q k = 100 wie in der Partitur lautet.

Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

mit letzterem Tempo verbunden sind die 30/16-Takte des Orchesters. Auch zu Beginn des Satzes erscheint zwar ein solcher 30/16-Takt, die spezifische Verbindung aber mit dem schnellsten Tempo (. = ca. 110) sowie einer in den meisten Fällen nachfolgenden Fermate von ca. 3’’, ehe das Klavier einsetzt, ist offensichtlich eine Art »idée fixe« des Komponisten in diesem Satz. Vermutlich ist es auch diese Konstellation, die Martina Homma als »Refrain« bezeichnet.230 Lediglich beim vorletzten und letzten Auftreten dieses Tempos modifiziert Luto­ sławski zunächst die Länge der Fermate (ca. 2’’ anstelle von ca. 3’’), dann erscheinen nur sechs der ursprünglich dreißig 16tel im Orchester. »Ersatzweise« übernimmt an dieser Stelle aber das Soloklavier das gleiche Tempo, wohingegen es zuvor stets mit einem langsameren Tempo dem Orchester »antwortete«. Obwohl Lutosławski selbst Ähnlichkeiten zwischen seinem Violoncello- und sei­nem Klavierkonzert bestritten hat231 (besonders aufgrund der Einsätzigkeit des 1969/70 entstandenen Violoncellokonzertes), könnte man doch einen gleichen Ausgangspunkt annehmen, nämlich den von Rainer Cadenbach beschriebenen »dramaturgischen Aspekt der Gattung des ›Solokonzerts‹, den Lutosławski geradeheraus als Konfliktverhältnis beschrieben und direkt mit der – theatralischen – Relation zwischen dem solistischen Protagonisten und der (antagonistischen) Gruppierung des Orchesters in Parallele gesetzt hat (…)«232. Während Cadenbach dieses »Konfliktverhältnis« im Falle des Violoncellokonzertes als »Dokument der Kritik, ja der aktiven Auflehnung gegen die gesellschaftlichen Zwangsverhältnisse, an denen der Künstler unter der kulturellen Herrschaft totalitärer Systeme zu leiden hat (…)«233 sieht, ist das Klavierkonzert meiner Ansicht nach frei von solchen Deutungsmöglichkeiten. Die Auseinandersetzung mit dem »Konzert« im Sinne von »Wettstreit« scheint aber auch in diesem Fall eine für den Komponisten inspirierende gewesen zu sein. Im Folgenden sei daher das Verhältnis von solistischen und orchestralen Passagen zueinander genauer betrachtet  : Nur zwei Mal im gesamten ersten Satz spielt das Klavier ohne Orchester, fast immer wird es zumindest von einem Liegeton des Orchesters begleitet. Der Wechsel von 230 »Signale (Tonrepetitionen) gliedern die ersten Sätze in Streichquartett, Cellokonzert, Dritter Sinfonie sowie Novelette, längere Refrains die ersten Sätze von Jeux, Espaces, Klavierkonzert, die drei Sätze des Doppelkonzerts und den Schlußsatz in Paroles.« (Homma, Martina  : »›Vogelperspektive‹ und ›Schlüsselideen‹. Über einige Aspekte der Kompositionstechnik Lutosławskis anhand kompositorischer Skizzen«, in  : Metzger, Heinz-Klaus und Riehn, Rainer (Hg.)  : Witold Lutosławski (= Musikkonzepte 71/72/73), München 1991, S. 33–51, hier S. 41 231 Vgl. dazu Nikolska 1994, S. 101 232 Cadenbach, Rainer  : »Dramaturgie der Form und Dialektik der Struktur im Cellokonzert von Witold Lutosławski«, in  : Emans, Reinmar und Wendt, Matthias (Hg.)  : Beiträge zur Geschichte des Konzerts. Festschrift Siegfried Kross zum 60. Geburtstag, Bonn, 1990, S. 423–442, hier S. 424 233 Ebda., S. 423

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

rein solistischen, rein orchestralen und gemeinsamen Passagen geschieht im ersten Abschnitt wesentlich häufiger als in den Abschnitten 2 bis 4. Diese Tatsache korrespondiert zwar mit den erwähnten zahlreichen Tempowechseln, kann aber auch schlichtweg in der längeren Dauer des ersten Abschnittes gegenüber den nachfolgenden begründet liegen. Der Beginn des zweiten Abschnittes geht zudem unmerklich aus dem ersten Abschnitt hervor, ebenso der vierte aus dem dritten Abschnitt. Nur der Beginn des Letzteren ist durch ein kurzes Aussetzen des Solisten markiert. Im Vergleich dazu sei das Verhältnis von Solist und Orchester in den übrigen Sätzen betrachtet. Nach drei einleitenden Takten des Solisten spielen Klavier und Orchester während eines Großteiles des zweiten Satzes gemeinsam. Erst im letzten Drittel wechseln in rascher Folge rein orchestrale mit gemeinsamen Passagen, unterbrochen von einem Klavier-Solo. Der dritte Satz bringt zunächst ein sehr langes Solo des Klaviers, welches mehr als ein Drittel der Zeitdauer des gesamten Satzes einnimmt. Es folgt ein etwas kürzerer Abschnitt, in dem Solist und Orchester gemeinsam spielen. Das letzte Satzdrittel ist zweigeteilt in ein ständiges Wechselspiel zwischen rein solistischen, rein orchestralen und gemeinsamen Passagen sowie einen abschließenden Klavier-Soloteil, dessen Zeitdauer ein Drittel des einleitenden Soloteiles umfasst. Im vierten Satz spielt das Orchester von Anfang bis Ende durchgehend, anders als in allen drei vorangegangenen Sätzen. Einen Großteil des Satzes bestreitet nach anfänglichem Pausieren auch der Solist, erst ab Zi. 106/107 gibt es bis zum Ende gelegentlich mehrtaktige Pausen in der Solostimme. Das dialogische Prinzip zwischen dem Solisten und dem Orchester bzw. einzelnen Orchestergruppen, aber auch zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb des Orchesters zieht sich durch das gesamte Klavierkonzert, besonders die ersten drei Sätze hindurch. Im vierten Satz findet man das dialogisierende Prinzip zwischen Klavier und Orchester im gesamten Satz sehr häufig. Als ein typisches Beispiel für das komplementäre Einander-Ergänzen von Solist und Orchester sei Zi. 87 herangezogen  : Notenbeispiel 28 

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Auch zwischen rechter und linker Hand des Klaviers setzt sich dieses Prinzip teilweise fort. Im ersten Satz ist die Vorrangstellung des Solisten gegenüber dem Orchester sehr deutlich hör- und erkennbar.234 Wo immer der Solist im ersten Abschnitt einsetzt, beschränkt sich das Orchester auf reduzierte (jedoch innerlich belebte) Liegeklänge in leiser Dynamik. Im zweiten Abschnitt sind sämtliche Töne des Orchesters mit dem Tonvorrat der linken Hand des Klaviers ident, dienen daher nur der Verstärkung und Färbung der akkordischen »Kantilenen«-Begleitung. Anders als im vorangegangenen Abschnitt verläuft die dynamische Entwicklung zumindest der Streicher synchron mit jener des Klaviers (Crescendo bis zum Einsetzen des folgenden Abschnittes). Für den abrupten Charakterwechsel zu Beginn des zweiten Abschnittes sorgt allerdings das Orchester, der Solist folgt erst einen Takt später. (Dies ist auch am Beginn des dritten Abschnittes der Fall (Zi. 24), den vierten Abschnitt hingegen beginnen Klavier und Orchester gemeinsam.) Erst im dritten Abschnitt erscheinen einzelne Orchesterinstrumente auch gleichzeitig mit dem Klavier solistisch (Kl. 1, Zi. 24, danach auch Fl. 1, Posaunen und Hörner). Ähnliche Einwürfe der Bläser treten im vierten Abschnitt auf, die Streicher hingegen übernehmen dieselbe verstärkende Begleitungsfunktion wie schon im zweiten Abschnitt. Mit zunehmender Steigerung zum Ende des Satzes hin wird auch die Beteiligung des Orchesters eine immer stärkere, bis schlussendlich das Orchester alleine die Akkordrepetitionen des Klaviers übernimmt (Zi. 34) und den Satz beendet, wie er begonnen wurde – ohne Klavier. (Dieses setzt allerdings im zweiten Satz unmittelbar anschließend solistisch ein.) Die Harmonik und Intervallik stellt neben der soeben besprochenen bloßen Präsenz von Solist bzw. Orchester einen wesentlichen Aspekt in der Bewertung der Beziehung zwischen den beiden Spielpartnern dar. Im Orchestervorspiel zu Beginn des Satzes erscheint in den pp und legato gehaltenen Figurationen folgendes Tonmaterial  : Notenbeispiel 29



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234 Vgl. dazu auch Witold Lutosławski  : »The piano (…) invariably remains in the foreground.« (Nikolska 1994, S. 102

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Diesen Tonvorrat, den man entweder als eine Verschachtelung eines G-Dur-Septakkordes und eines Fis-Dur-Quartsextakkordes, oder aber z. B. als eine Ansammlung von drei kleinen Terzen, zwei kleinen Sekunden und einer Quarte beschreiben könnte, verwendet Lutosławski zunächst in einer Auswahl von je drei Tönen pro Instrument. Dabei wird der Rahmen dieser Selektion stets um einen Ton verschoben (was im Notenbeispiel durch Klammern und Zahlen gekennzeichnet wurde). Im weiteren Verlauf (ab Partiturseite 2) verlagert sich der Ausschnitt jedes Instrumentes immer mehr nach unten. (Eine Ausnahme bildet hier die 3. Klarinette, die von Beginn an den tiefstgelegenen Dreitonausschnitt spielt.) Am Ende der pp-legato-Passagen spielen alle Instrumente die Töne cis’, fis’ und g’, d. h. die unterste Dreitongruppe. Auf das chromatische Total fehlen bei diesem Tonvorrat die Töne c, es, e, gis und a  : Eben diese verwendet der Komponist als Basis für die forte und staccato gespielten, jeweils dreitönigen Einwürfe. Diese Einwürfe treten immer häufiger auf, bis sie vollständig die Legato-Passagen ablösen und in der für Lutosławski typischen Satztechnik »ad libitum« zu wiederholen sind. (Einzig die dritte Klarinette bleibt bei ihrer seit Beginn gespielten Dreitonfigur, nun allerdings ebenfalls im Staccato.) Der insgesamt erklingende Zwölftonakkord enthält fast ausschließlich kleine Terzen und kleine Sekunden und ist eine Fortsetzung des oben beschriebenen Tonvorrates zu Beginn des Satzes  : Notenbeispiel 30



            

Die abrupt einsetzenden Streicher verwenden dieselben Tonhöhen, bis sie in einer Umspielung von as’ enden. Dieses as’ wird nicht nur von den Flöten aufgegriffen, fortgeführt und weiter bis zur Dreitongruppe fis’ – g’ – as’ entwickelt, sondern ist zugleich der tiefste Ton des nun erstmals einsetzenden Solo-Klaviers. Auch im weiteren Verlauf des Satzes sind die verwendeten Intervalle, zum Teil auch die absoluten Tonhöhen von Klavier und Orchester ident. Das Klavier spielt lediglich in den gemeinsamen Teilen meist größere Intervalle, während das Orchester oft halbtönig aufgebaute Liegeklänge aushält. Doch werden auch im Orchester nicht nur Halbtöne verwendet, besonders nicht im (wie bereits erwähnt) direkt aus dem Klavierpart abgeleiteten zweiten Abschnitt. Die Harmonik des ersten Satzes wird neben der Chromatik auch von Terzen charakteristisch bestimmt. Immer wieder sind tonale Akkorde oder Akkordteile auffind-

Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

bar, ein echtes tonales Zentrum (im Sinne einer Hierarchie der Klänge) lässt sich aber in den meisten Fällen nicht auffinden, da die lineare Entwicklung gegenüber den eher bruchstückhaften tonalen Anklängen überwiegt. Allenfalls zu Beginn des zweiten Abschnittes ließe sich durch die Übereinanderschichtung eines vollständigen C-DurSeptakkordes und dem Ton f im Bass eine Dominant-Tonika-Beziehung vermuten. Doch auch die einzelnen Töne dieser Übereinanderschichtung werden chromatisch weitergeführt, von einem »tonalen Zentrum« ließe sich hier also höchstens kurzfristig sprechen. Oktaven setzt Lutosławski ab Zi. 13 im Klavier ein, sowohl in melodischer und akkordischer Form als auch als Instrumentations-Effekt, wenn er etwa ab Zi. 18 die rechte Hand des Klaviers in Oktaven führt. Dadurch (wie auch durch andere gestische und spieltechnische Ähnlichkeiten zur klassisch-romantischen Pianistik) setzt Lutosławski sein Werk eindeutig in eine Traditionslinie der Gattung Klavierkonzert. In der Dynamik des ersten Satzes finden sich einige auch in den übrigen Sätzen wichtige Gestaltungselemente. Dazu zählen beispielsweise rasche Wechsel zwischen piano und forte, gehäuft auftretende Crescendi oder Decrescendi auf engem Raum sowie der Kontrast zwischen einander entsprechenden oder zueinander komplementären dynamischen Abläufen im Solo- und Orchesterpart. Entsprechend den vier formalen Abschnitten ist auch der dynamische Verlauf in jedem Abschnitt unterschiedlich gestaltet. Während im ersten Abschnitt das Orchester bei Passagen des Soloklaviers in piano verbleibt, gibt es nur in den kurzen Pausen des Solisten schnelle Wechsel zwischen piano und forte. Im zweiten Abschnitt hat der Solopart einzig eine kontinuierliche Entwicklung von mezzoforte zu forte, im Orchester hingegen erscheinen mehrere kurze Decrescendi im mittleren und leisen Bereich, dazu in Entsprechung zum Solopart ein lineares Crescendo von piano zu forte. Der dritte Abschnitt bringt ein durchgehendes piano im Orchester, dazu einzelne Crescendi im mezzoforte-/forte-Bereich. Das Klavier hat ebenfalls piano als Grunddynamik, unterbrochen von kurzen schnellen Crescendi zum forte, die den schnellen piano-forte-Wechseln des Orchesters im ersten Abschnitt entsprechen. Im vierten Abschnitt verharrt der Solist lange im mezzoforte-/forte-Bereich, wohingegen es im Orchesterpart zahlreiche kurze Crescendi und Decrescendi in allen dynamischen Bereichen, vor allem aber in mittlerer und lauter Dynamik gibt. Am Ende des Soloparts steht ein großes Crescendo (von p bis fff, der bisher lautesten Dynamik), das Orchester imitiert dieses Crescendo kurz darauf mehrfach. Wie in der dynamischen Gestaltung des ersten Satzes, so sind auch im Verlauf des Tonhöhenambitus des Orchesters die vier formalen Abschnitte eindeutig nachgebildet. Im ersten und dritten Abschnitt werden ausschließlich Tonhöhen ab der eingestriche-

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

nen Oktave aufwärts verwendet235, im zweiten Abschnitt in etwa ab der eingestrichenen Oktave abwärts, im dritten Abschnitt nur ein relativ schmaler Bereich rund um c’. Erst im vierten Abschnitt wird das gesamte Spektrum der möglichen Tonhöhen benützt, von der Kontra- bis zur viergestrichenen Oktave. Nicht nur bezüglich der unteren Grenze des Tonhöhenambitus, sondern auch bezüglich der Größe des Tonumfanges entsprechen erster und dritter Abschnitt ­einander  : In beiden umfasst der Bereich der verwendeten Tonhöhen nur ca. ein bzw. zwei Oktaven, wohingegen in den anderen Abschnitten wie auch in den übrigen drei Sätzen des Werkes zumeist weitaus größere Ausschnitte des möglichen gesamten Tonhöhenspektrums ausgewählt wurden. Eine Ausnahme dazu bildet nur der Beginn des dritten Satzes, wo sich der zunächst nur innerhalb der eingestrichenen Oktave liegende Tonraum (auch dies eine mögliche Referenz auf den ersten Satz) allerdings ziemlich rasch erweitert. Der Verlauf des Tonumfanges im zweiten und vierten Satz entsprechen einander ungefähr, beide beginnen in Kontra- und großer Oktave, es folgt eine wellenartige Entwicklung nach oben, bis zur viergestrichenen Oktave, worauf sich der Tonumfang wieder stufenweise nach unten verlagert. Gegen Ende der beiden Sätze kommt es zu einer neuerlichen Entwicklung nach oben, sodann folgt sprunghaft ein Abschnitt in den drei tiefsten Oktavräumen (Kontra- bis kleine bzw. im zweiten Satz bis eingestrichene Oktave). Im Unterschied zum zweiten Satz endet der vierte Satz nicht in diesem Bereich, sondern wird ergänzt durch eine kontinuierliche Entwicklung bis hin zur dreigestrichenen Oktave. Sind bei der Entwicklung des orchestralen Tonumfanges die vier Abschnitte des ersten Satzes deutlich unterscheidbar, so »nivelliert« die Ambituskurve des Klaviers diese Unterschiede. Vom ersten bis zum dritten Abschnitt nämlich bleibt das Klavier stets deutlich höher als das Orchester, auch die Ambitusbreiten sind wesentlich größer. Zwar gibt es wie im Orchester zu Beginn des zweiten Abschnittes einen deutlichen Sprung nach unten, trotzdem bleibt die obere Grenze des Tonraumes stets oberhalb des c’’. Die unteren Bereichsgrenzen stimmen allerdings oft mit jenen des Orchesters überein. Erst im vierten Abschnitt, in welchem der Orchesterpart sich erstmals auf nahezu den gesamten möglichen Tonraum erweitert, spielt das Klavier zumeist nur einen Ausschnitt des Orchester-Umfanges. Nicht nur in dieser Komposition hat Witold Lutosławski sich Gedanken darüber gemacht, wie eine geeignete Werk-Dramaturgie die für den Hörer notwendigen Phasen der An- und Entspannung berücksichtigt. Über die Konstruktion größerer musikalischer Formen schrieb er  : »Nevertheless, it would be wrong to assume that 235 Erst am Ende des ersten Abschnittes wird zum tieferliegenden zweiten Abschnitt übergeleitet.

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

large-scale forms are a hopeless proposition for the modern composer. His only problem is to find ways of activating the listener’s memory and anticipation despite the absence of recognized conventions, which could serve as a cue, or of a congenial basis of listening habits.«236 Welche Mittel Lutosławski verwendet, um das Erinnerungsvermögen eines Hörers anzusprechen und eine Erwartungshaltung aufzubauen, möchte ich anhand des ersten Abschnittes darstellen  : »memory«

»anticipation«

Satzbeginn  : immer dichtere Textur, dadurch Spannungsaufbau, Erwartungshaltung für Kommendes Zi. 2/3, Klavier  : Die chromatische Entwicklung der Akkord-Außentöne lässt eine zweite, chromatisch fortsetzende Wiederholung erwarten Zi. 2/3, Orchester  : Die chromatische Erweiterung von as’ zu g’ + as’ lässt eine ähnliche weitere Entwicklung erwarten Ein Takt vor Zi. 5 entspricht Die ähnliche Vorbereitung ein Takt vor Zi. 2 (genau aus- durch das Orchester vor bzw. notierte, gleiche Rhythmen bei Zi. 2 und 5 lässt den Klain gleichem Tempo, in beiden viereinsatz bei Zi. 5 erwarten Fällen Streicher verwendet, Crescendo zum Ende hin), weiters entsprechen Zi. 5 und Zi. 2 einander (zeitlich frei zu gestaltende Tonrepetitionen) Der Klaviereinsatz bei Zi. 5 knüpft an das Ende des Klavierparts in Zi. 4 an

Einlösen der Erwartungshaltung

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236 Lutosławski, Witold  : »Notes on the construction of large-scale forms«, in  : Skowron 2007, S. 2–12, hier S. 4

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra »memory«

Zi. 5–7, Klavier  : Die rhythmisch charakteristischen h’’-Repetitionen werden wiederholt

»anticipation«

Durch diese Wiederholung könnte man bei Zi. 7 eine entsprechende Fortsetzung der Repetition wie bei Zi. 6 erwarten Zi. 5, Orchester  : Anknüpfung Durch die Erinnerung an die an die chromatische Dreiton- chromatische Erweiterung in gruppe bei Zi. 4 Zi. 2/3 könnte man eine Erweiterung zur Vier-, Fünf-, Sechs- (etc.) Tongruppe erwarten Zi. 5/6, Orchester  : Die chromatische Versetzung der Dreitongruppe nach oben lässt eine ähnliche Fortsetzung erwarten Zi. 4 und Zi. 7, Klavier  : Am Ende steht in beiden Fällen ein auskomponiertes Ritardando Ein Takt vor Zi. 8 entspricht Der Klaviereinsatz in Zi. 8 ein Takt vor Zi. 2 und Zi. 5, wird daher erwartet weiters entsprechen Zi. 2, 5 und 8 einander Die chromatische Versetzung Nach der ersten Wiederhoder Dreitongruppe nach oben lung erwartet man daher eine in Zi. 8/9 entspricht der Ent- ähnliche zweite Wiederhowicklung in Zi. 5–7 lung Zi. 8, Klavier  : Das ausEin verkürzter Klavierabkomponierte Ritardando schnitt ist hier zu vermuten, entspricht dem Ende des ein Orchestereinsatz entKlavierparts in Zi. 4 und 7 sprechend einem Takt vor Zi. 2, 5 oder 8 könnte erwartet werden Klavier  : Zi. 8 und 9 entspre- Bei Zi. 10 könnte eine weichen einander tere (variierte) Wiederholung folgen Ein Takt vor Zi. 11 entspricht Der Klaviereinsatz in Zi. 11 ein Takt vor Zi. 2, 5 und 8, wird daher erwartet weiters entsprechen einander Zi. 2, 5, 8 und 11

Einlösen der Erwartungshaltung

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra »memory«

»anticipation«

Die absoluten Tonhöhen der Eine Fortsetzung der chroDreitongruppe des Orchesmatischen Erweiterung zur ters (fis’ , g’ , as’) bei Zi. 11 Vier-, Fünf-, Sechs- (etc.) entsprechen Zi. 4, ebenso die Tongruppe könnte erwartet Instrumentation werden Zi. 11, Klavier  : Die Erweiterung der Achtelfigur mit Vorschlägen von drei zu fünf Achteln lässt eine zweite, nochmals erweiterte Wiederholung vermuten Der Klavierpart vor Zi. 12 (»precipitando«) stellt eine Erweiterung und Entwicklung des Klavierparts in Zi. 10 dar Zi. 12, Klavierpart  : Die Eine erneute Verknüpfung erneute Verwendung der mit Staccato-Leggiero32telfiguren nach den Akkorden könnte erwartet Staccato-Leggiero-Akkorden werden knüpft an den Beginn des »precipitando«-Abschnittes an Ein Takt vor Zi. 13 entspricht Der Klaviereinsatz in Zi. 13 ein Takt vor Zi. 2, 5, 8 und 11, wird daher erwartet weiters entsprechen Zi. 2, 5, 8, 11 und 13 einander Zi. 13, Klavier knüpft an Zi. 12 an Die Reduktion der DreiEine weitere Reduktion zum tongruppe des Orchesters Einzelton (d’) hin ist zu er(Zi. 13  : c’, cis’, d’ ) zur Zwei- warten tongruppe (Zi. 14  : cis’ , d’) entspricht der umgekehrten Entwicklung von Zi. 2 zu Zi. 3 hin

Einlösen der Erwartungshaltung

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erfolgt teilweise (Es folgt zwar eine entsprechende Wiederholung, aber nur vier Achtel lang, bevor zu einem neuen Abschnitt gewechselt wird)

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Großformal betrachtet, bildet auch die Reprise des zweiten im vierten Abschnitt sowie die Referenz des dritten auf den ersten Abschnitt eine (traditionsbezogene) Art und Weise, wie Lutosławski sich das Gedächtnis des Hörers kompositorisch zunutze macht.

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

2. Satz »Something like an ètude, rather short in duration«237, so beschrieb Lutosławski selbst den zweiten Satz. Ob damit eine »Etüde« für den Komponisten oder für den Klaviersolisten gemeint ist, bleibt dahingestellt. Im Unterschied zu den zahlreichen Tempowechseln des ersten Satzes bleibt der zweite Satz fast durchgehend in einem Grundtempo, welches erst gegen Ende des Satzes etwas verlangsamt wird (ab Zi. 64  : Poco meno mosso  ; ab zwei Takte nach Zi. 66  : Lento und rit.). Diese Verlangsamung könnte als Übergang zum dritten Satz gedacht sein. Vergleichbar dem zweiten Satz, steht auch der dritte Satz in einem Grundtempo ( = 40–45), zu dem es nur leichte, kurze Schwankungen gibt. Der vierte Satz beginnt im doppelten Tempo des dritten Satzes ( = ca. 84) und wird bis zum abschließenden Presto ( = ca. 165) hin immer mehr im Tempo gesteigert. Die Abfolge der Taktarten des zweiten Satzes ist rund um die zentrale Taktart 3/4 aufgebaut, die vergleichbar etwa dem Rezitationston in gregorianischen Melodien durch andere Taktarten »umspielt« wird. Keine andere Taktart wird so oft wiederholt (bis zu 25 Mal in Folge erscheinen 3/4-Takte), ebenso stehen sowohl am Satzanfang als auch am -ende 3/4-Takte. Auch im ersten Satz werden im zweiten bis vierten Abschnitt beinahe ausschließlich 3/4-Takte verwendet.238 Im dritten Satz nimmt hingegen die Bedeutung von 3/4 als »Grund«-Taktart wesentlich ab. Zwar gibt es weiterhin mehrfache Wiederholungen von 3/4-Takten, doch spielen auch andere Taktarten eine zunehmend wichtigere Rolle. Außerdem wird die Anzahl verschiedenartiger Taktarten erhöht, auch Taktarten auf 16tel-Basis werden hier mit einbezogen. Der vierte Satz aber wurde fast ausschließlich im 3/4-Takt komponiert, lediglich die rezitativartige Ad-libitum-Unterbrechung des Klaviers sowie der Abschlusstakt (1/8) fallen hier aus dem Rahmen. Obwohl diese Beobachtungen auf den ersten Blick die rein optische und organisatorische Gestaltung des Werkes betreffen, so sind die Taktlängen zumindest teilweise vom Komponisten auch akustisch wahrnehmbar realisiert worden. Als ein Beispiel dafür sei der Beginn des zweiten Satzes herangezogen  : Die beiden Takte vor Zi. 36 sowie ihre kurz darauffolgenden Entsprechungen sind eindeutig als zwei gleiche Taktlängen wahrnehmbar, die Unterteilung in zwei Hälften ließe allenfalls auf zwei 6/8-Takte schließen. Ab Zi. 38 jedoch markiert die Klavierstimme den 3/4-Takt als Grundmetrum, 237 Nikolska 1994, S. 102 238 Der erste Abschnitt des ersten Satzes besteht aus einem beständigen Wechsel zwischen 30/16-Takten und Ad-libitum-Passagen.

Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

sodass auch die nachfolgenden Takte trotz einer gegenläufigen Klavierstimme weiterhin als 3/4-Takte gehört werden können, deren erster Schlag stets durch die beiden Oboen (mit erstem Fagott) markiert wird. Der abschließende 5/4-Takt kann so deutlich als eine Vergrößerung der vorigen Taktlängen wahrgenommen werden. Die Unterteilung in formale Abschnitte gestaltet sich im Falle des zweiten Satzes schwieriger als etwa beim ersten Satz. (Der Komponist selbst äußert sich im Vorwort nicht dazu.) Eine mögliche Art der Gliederung könnte auch beim zweiten Satz darin bestehen, die schnellsten vorkommenden rhythmischen Werte in der Solostimme zu betrachten. Dabei ist bis einschließlich Zi. 44 ein Wechselspiel zwischen 16teln und Achteln festzustellen, danach mischen sich auch längere Notenwerte und ab Zi. 56 Triolen darunter. Am Satzende kommen auch 32tel vor, allerdings befinden sich diese bereits in wesentlich langsamerem Tempo (Lento). Während eine dadurch »begründbare« formale Zäsur bei Zi. 41 auch musikalisch logisch erscheint (Steigerung zuvor, Erreichen eines Höhepunktes, danach andere Bewegungsrichtung, neues Material etc.), so wäre es beispielsweise sinnlos, ausschließlich einen Takt (ein Takt vor Zi. 43 oder 44) als einen gesonderten Abschnitt zu betrachten. Auch ist etwa die Abgrenzung zu den zwischen Zi. 44 und 45 neu hinzutretenden Achteln mit Vorschlagsnoten eine schwierige, besonders, da sie bei Zi. 46 mit 16teln vermischt werden. Evident ist allerdings, dass die Änderung der rhythmischen Werte von 16teln zu Triolenachteln auch zur Abgrenzung zweier Teilabschnitte beiträgt, ebenso die Rückkehr zu 16teln bei Zi. 59. Versucht man, von einem »rein musikalischen« Standpunkt aus (also nach Gesichtspunkten des »Materials« in gestischer, rhythmischer, harmonischer, melodischer, dynamischer und instrumentatorischer Sicht) Zäsuren innerhalb des von Lutosławski als »eine Art moto perpetuo – eine schnelle ›Jagd‹ des Klaviers und des Orchesters« bezeichneten Satzes zu finden, so stößt man auf eine Vielzahl von Abschnitten, deren Taktanzahl (bis zu 26 Takte) jedoch ein verzerrtes Bild ergeben. Die tatsächlichen Zeitdauern dieser Abschnitte (bei einem Tempo von  = ca. 160) betragen nämlich lediglich zwischen einer und maximal zehn Sekunden betragen, wie folgende Aufstellung zeigt239  : T. 1–3  : T. 4–19  : T. 20–27  : T. 28–41  : T. 42–52  :

ca. 1’’ ca. 6’’ 3’’ ca. 5’’ ca. 4’’

239 In dieser Übersicht wurden allerdings Fermaten, sowie etwaige interpretatorische Schwankungen, z. B. im Klavier-Soloteil in T. 133–158, nicht berücksichtigt.

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

T. 53–65  : ca. 5’’ T. 66–73  : 3’’ T. 74–81  : 3’’ T. 82–89  : 3’’ T. 90–96  : ca. 3’’ T. 97–109  : ca. 5’’ T. 110–115  : ca. 2’’ T. 116–132  : ca. 6’’ T. 133–158  : ca. 10’’ (ab T. 159  : Poco meno mosso, Lento, rit.) Zumeist dauern die einzelnen Abschnitte sogar nur kürzer als fünf Sekunden an, den längsten Abschnitt bildet der Klavier-Soloteil (T. 133–158). Zu schnell also ist das Tempo dieser »Jagd«, zu oft gibt es »Szenenwechsel«, neue Richtungen, die eingeschlagen werden, als dass größere formale Einheiten entstehen könnten. Zwar gibt es Zäsuren  – wie bereits gezeigt wurde  –, jedoch in so kurzem Abstand, dass eben ein gehetzter, gejagter Eindruck vermittelt wird. Ebenso kann dieser Eindruck innerhalb mancher Abschnitte entstehen, wie etwa bei Zi. 45 und noch mehr bei Zi. 46, wo die Achtelnoten mit Vorschlägen ständig zwischen Klavier und Orchester hin und her wechseln. Wer hier – und auch im übrigen Satz – Jäger und wer Gejagter ist, lässt sich nicht feststellen. (Zudem es sich ja auch um eine gemeinsame Jagd handeln könnte.) Zwar spielt das Klavier zu Beginn des Satzes (bis ca. Zi. 45) schnellere Rhythmen als das Orchester, doch ändert sich dieses Verhältnis im weiteren Verlauf des Satzes bzw. kehrt sich streckenweise sogar um. Die Abhängigkeit des Orchestersatzes von den Tonhöhen des Klaviers ist zu Beginn des zweiten Satzes zwar eine sehr starke und direkte, wird aber ab Zi. 39 immer mehr aufgehoben. Zwar kommt es fallweise auch weiterhin zu Übereinstimmungen oder beispielsweise Oktavierungen einzelner Töne des Klavierparts im Orchester. An Stellen wie etwa bei Zi. 43 gibt das Orchester die im Klavier arpeggierten Akkordtöne vor, sodass es hier eher zu einer Abhängigkeit des Klaviers vom Orchester, d. h. zu einer Umkehrung der Verhältnisse am Beginn des Satzes kommt. Vergleicht man die Entwicklung des Tonhöhenambitus des Klaviers mit jener des Orchesters, so sind deutlich zwei Phasen zu unterscheiden  : In einer Eingangsphase spielen Solist und Orchester in etwa im gleichen Register. Ab Zi. 40 jedoch gibt es bis zum Satzende nur wenige Passagen, in denen ein ähnlicher Tonraum verwendet wird. Zumeist hat das Klavier einen weitaus größeren Ambitus als das Orchester, besonders zu den höheren Lagen hin  ; teilweise gibt es auch Passagen, in denen sich die beiden Tonräume überlappend ergänzen (z. B. in Zi. 56 oder 58).

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Die Harmonik ähnelt in ihren Grundzügen jener des ersten Satzes. Chromatik und Terzenschichtung, mit daraus sich automatisch ergebenden oder aber auch bewusst geplanten tonalen Bruchstücken, sind im gesamten Werk tragende Elemente des harmonischen Baus. Auf welche Art und Weise Lutosławski eine simple zweistimmig fortschreitende Chromatik einsetzt, soll in folgendem Notenbeispiel gezeigt werden. Zunächst sind die Takte 41–43 (ab zwei Takte vor Zi. 45) des Klavierauszuges abgebildet (Oktavverdopplungen wurden nicht beachtet)  ; darunter findet sich eine Darstellung der verschiedenen Stränge der darin verarbeiteten »Gerüst«-Chromatik  : Notenbeispiel 31

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Zu welchem dieser möglichen zugrunde liegenden chromatischen Stränge die einzelnen Töne tatsächlich gehören, d. h. welche Beziehungen der Komponist selbst geplant hat, lässt sich anhand des Endresultats (der Partitur) nicht mehr feststellen, zumal auch diese Chromatik auf verschiedene Oktavlagen und verschiedene Instrumente verteilt ist. Außerdem gewichtet die obige Zusammenstellung sowohl Töne, die als Vorschlagsnoten erklingen, als auch Töne, die länger andauern bzw. repetiert werden, gleich. So bekommen etwa die Töne d’, as, es und A und ihre Tritonusbeziehungen in der Partitur eine der Chromatik ebenbürtige Bedeutung.

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Exemplarisch für die Herleitbarkeit aus einfachen chromatischen Skalen, aber auch für die zahlreichen weiteren Deutungsmöglichkeiten seien die ersten drei Takte des zweiten Satzes näher betrachtet. An prominente Stelle gesetzt, allein dem Solisten anvertraut und einleitend zur nachfolgenden »Jagd«, stellen diese Takte ein typisches Beispiel für Lutosławskis »Tonhöhenorganisation«240 nicht nur in diesem Satz dar. Im folgenden Notenbeispiel sind zunächst zwei einander auf das Zwölftotal ergänzende Ausschnitte (A und B) aus einer absteigenden chromatischen Skala dargestellt, die eine abstrahierte Hintergrundebene zum tatsächlichen Notentext bildet.241 In den darunter stehenden Systemen wurden zwei Zwischenschritte bis hin zur endgültigen Fassung notiert. Darunter (A+B) sind die Takte 1 bis 3 der Partitur abgebildet, wobei die zum Ausschnitt A gehörigen Tonhöhen nach oben gehalst wurden, die dem Ausschnitt B entnommenen hingegen nach unten. Notenbeispiel 32

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240 Diesen Begriff verwendet Lutosławski selbst beispielsweise in seinem Text »Über Rhythmik und TonB3 B4 B5 B6 B1 höhenorganisation in der B2 Kompositionstechnik unter Anwendung begrenzter Zufallswirkung«, in  : Metzger/Riehn 1991, S. 3–32. ? 241 Ob diese Ausschnitte tatsächlich Ausgangspunkt für Lutosławskis kompositorisches Denken waren, 3 bleibe dahingestellt.

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

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Im ersten Zwischenschritt habe ich die chromatische Aufeinanderfolge der Töne beibehalten, erst im zweiten Zwischenschritt wurden die einzelnen Töne in die originale Reihenfolge gebracht. Abgesehen von dieser möglichen Herleitung sind in den Takten 1 bis 3 jedoch weitere Auffälligkeiten zu bemerken, die meiner Ansicht nach nicht zufällig entstanden sind  : Betrachtet man die Zusammenklänge an den metrischen Schwerpunkten (Viertel)242, so kommen hier ausschließlich Tritoni und kleine Sekunden (zumeist im Wechsel) vor – zwei Intervalle, die allgemein von Lutosławski gerne verwendet werden. In der Intervallik jeder der beiden Linien werden sowohl Transposition als auch Umkehrung der jeweils ersten vier Töne eingesetzt. Rhythmisch-motivisch folgt auf die erste Phrase eine um ein Viertel verlängerte Wiederholung, danach eine Abspaltung in der rechten Hand bzw. ein neu hinzutretender Rhythmus in der linken Hand. Dynamisch leiten diese drei Takte vom abschließenden fortissimo des ersten Satzes stufenweise zum pianissimo ab T. 4 über. Die drei Phrasen, von Fermaten unterbrochen, bilden sowohl einen zögerlichen, fragenden Kontrast zum kraftvoll-energischen Ende des ersten Satzes, als auch zum weiteren Verlauf des zweiten Satzes, der bis Zi. 46 einen kontinuierlichen Zeitfluss darstellt. (Erst dort treten wieder Fermaten auf und haben die Funktion des Durchbrechens dieses Zeitflusses, um ab Zi. 47 mit einem neuen Abschnitt anzuschließen.) 242 Diese Sichtweise legt besonders der Rhythmus der linken Hand nahe.

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Auch in der Wahl des Registers bilden die ersten drei Takte – in Kontra- und großer Oktave gelegen – einen deutlichen Gegenpol zum Abschluss des ersten Satzes. Als ein Beispiel für die nicht immer chromatische Fortschreitung von Akkord zu Akkord ist im folgenden Notenbeispiel eine Reduktion des Klavierparts in den Takten 67 (2 Takte nach Zi. 49) bis 73 (zwei Takte nach Zi. 50) auf eine Oktave und ohne etwaige Repetitionen abgebildet  :243 Notenbeispiel 33

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Die Anzahl der Töne, die sich von Akkord zu Akkord verändert, ist selbst einer Entwicklung unterworfen  : Zu Beginn wird zumeist nur ein einziger Akkordton verändert, ab Zi. 50 aber sind es vorwiegend zwei Töne. Selten bleibt nur ein einziger Akkordton gleich, d. h. werden drei Töne ausgetauscht. Sämtliche Tonhöhen entstammen aus dem Tonvorrat h – c – des – d – es – e – f – as, also einer chromatischen Skala mit einem Ergänzungston. Auffallend ist, dass dieser Ergänzungston (as) wesentlich häufiger auftritt als alle übrigen Tonhöhen. Ab Zi. 50 bleibt außerdem der Ton des durchgehend erhalten, der Ton as wird ebenfalls nur kurz verändert. Die auf das Zwölftotal fehlenden Töne werden übrigens im Orchester ergänzt. Die Intervalle der Fortschreitungen sind meistens kleine oder große Sekunden, seltener Terzen, noch seltener Quarten oder übermäßige Quarten.

243 Die in der Partitur unter einem Balken zusammengefassten Akkorde wurden innerhalb der Doppelstriche notiert.

Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Für den Hörer viel deutlicher wahrnehmbar aber sind tonale Anklänge innerhalb dieser Akkordfolge. Fast alle Zusammenklänge entsprechen dem Tonvorrat von Dur-, Moll-, verminderten oder übermäßigen Dreiklängen, mit jeweils einem Zusatzton versehen. Einige Akkorde werden zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb der Akkordfolge wiederholt, sie sind im Notenbeispiel durch Zahlen kenntlich gemacht. Typisch für Lutosławski ist auch die Art der Verwendung dieser Akkorde. Bei der obenstehenden Übersicht wurden nicht nur Repetitionen weggelassen, sondern damit auch der ständige Austausch der Töne der rechten und linken Hand. (Beide Hände agieren auf zwei verschiedene Oktaven verteilt.) Diese Tatsache, das rasche Tempo, die leise Dynamik und die Staccato-Artikulation tragen wesentlich zur Verschleierung der obenstehenden Fortschreitungen für den Hörer bei. Für diesen bleibt vermutlich viel eher der Eindruck einer leichten Ab- und Aufwärtsentwicklung der Akkorde in Erinnerung, die durch die Reduktion auf eine Oktave im obenstehenden Notenbeispiel nicht ersichtlich wird. Ähnlich dem ersten ist auch der zweite Satz durch viele schnelle Wechsel zwischen piano und forte bestimmt, sowie durch zahlreiche Crescendi und Decrescendi auf engstem Raum. Das zweite Drittel des Satzes ist durch ein langes Verharren im forte-/ fortissimo-Bereich bestimmt  ; darauf folgt ein rasch »abstürzendes« Decrescendo bis hin zu einem pianissimo. Die nachfolgende Klavier-Passage ohne Orchester bringt einen weiteren Aufschwung zum fortissimo, mit einem nachfolgenden raschen Decrescendo hin zu einem piano, das im wieder einsetzenden Orchester (in pp) übernommen wird. Im Unterschied zum ersten Satz entsprechen Solo- und Orchesterpart im groben Ablauf einander weitgehend. Dies ist auch im dritten Satz der Fall, wo nach einem langen Einleitungsteil des Klaviers ein dem zweiten Satz vergleichbarer dynamischer Verlauf folgt. 3. Satz Der dritte Satz wird von einem »Rezitativ des Solo-Klaviers« (so Lutosławski selbst im Vorwort des Klavierauszuges) eröffnet. Auch dieses Rezitativ könnte man auf das oben erwähnte »Konfliktverhältnis« von Solist und Orchester beziehen, folgt man der Argumentation Hubert Moßburgers  : »(…) finden sich in Lutosławskis Musik auffallend häufig instrumentale Rezitative, die in ihrem sprechenden Charakter meist das dem Kollektiv gegenübertretende Individuum verkörpern.«244 Der formale Ablauf des übrigen Satzes kann – ab dem Einsatz des ebenfalls rein solistischen »Largo«-Teiles – als 244 Moßburger 2002, S. 334

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ABA-Schema beschrieben werden. Zunächst aber möchte ich – als ein repräsentatives Beispiel für Lutosławskis Tonhöhenorganisation – das einleitende Rezitativ etwas genauer besprechen. Dieses kann in drei Abschnitte untergliedert werden, die mit einem rhythmisch jeweils modifizierten Arpeggio beginnen und jeweils mit einer Fermate auf dem höchsten Ton enden. Die Arpeggi im ersten und dritten Abschnitt bewegen sich schlangenartig aufwärts, im zweiten Abschnitt abwärts. Die darauf antwortenden Dreitonfragmente bewegen sich in die jeweils andere Richtung. Jeweils zwei Dreitongruppen bilden ein Arpeggio  ; die Arpeggi wiederum weisen allesamt eine gleichbleibende Intervallik auf, wie folgende Zusammenstellung zeigt  : Notenbeispiel 34



                                                



      





     







   

Jede Dreitongruppe besteht aus kleiner Terz + Quinte  ; die Dreitongruppen jedes Abschnittes sind im Abstand einer übermäßigen Quarte zueinander gesetzt (z. B. f  – as  – es und h  – d  – a). Im ersten und zweiten Abschnitt wird die jeweils erste Dreitongruppe nach der zweiten eine Oktave höher bzw. tiefer wiederholt. Im dritten Abschnitt folgt eine Wiederholung beider Dreitongruppen (sowie eine durch den Ton a’ angedeutete weitere Wiederholung der ersten Dreitongruppe). Für die Ableitung der Tonhöhen des zweiten und dritten Abschnittes aus dem jeweils vorangehenden gibt es mehrere Möglichkeiten.245 Möglicherweise können die im folgenden Notenbeispiel mit den Zahlen 1 bis 6 nummerierten Töne in den beiden Folgeabschnitten als erste Töne der Dreitongruppen verwendet und durch je ein bis zwei weitere Töne (bei gleichbleibender Intervallik) ergänzt worden sein  :

245 Inwiefern diese Zusammenhänge vom Komponisten selbst intendiert waren, muss auch in diesem Fall dahingestellt bleiben.

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Notenbeispiel 35



   





  



 

  





   



   

 





Die hinzugefügten Töne (e, B, c, g, ges und des’) sind zugleich die Erweiterung auf das Zwölftontotal. Andererseits könnte Lutosławski z. B. auch schlichtweg in Ausschnitten von Moll-Septakkorden gedacht haben, als er dieses Rezitativ komponierte. Die fragmentierten Gruppen aus (wiederum) drei Tönen, die der Pianist in der linken Hand während der Fermate der rechten Hand zu spielen hat, können als Teil des vorangegangenen Arpeggios mit chromatischer Verschiebung gedeutet werden. Gestisch werden sie bereits am Ende des zweiten Satzes »angekündigt«. Chromatische Beziehungen zwischen den lange ausgehaltenen Tönen und diesen Dreitongruppen scheinen nicht zufällig entstanden zu sein. Ebenfalls erkennbar ist auch hier eine Beziehung von erstem und drittem Abschnitt mit einem variierenden zweiten Abschnitt. In den beiden Eckabschnitten erscheinen je drei Dreitongruppen mit wechselnder Bewegungsrichtung, im zweiten Abschnitt hingegen nur zwei, unterbrochen durch einen langen Halteton (Fis). Abschließend möchte ich dieses »Rezitativ« als eine Komprimierung der ABAForm des gesamten dritten Satzes interpretieren  : Wie oben mehrfach ausgeführt, ähneln einander der erste und dritte Abschnitt, der zweite hingegen kontrastiert dazu. Innerhalb jedes Arpeggios wird die erste Dreitongruppe nach der zweiten wiederholt (nur im dritten Abschnitt folgt auch eine Wiederholung der zweiten Dreitongruppe), auch hier ließe sich eine ABA-Form im Kleinen erkennen. Zuguterletzt könnte man auch die Dreitonfragmente als ABA-Miniaturen interpretieren (z. B. d’  – h  – d’). Wie bereits erwähnt, stellt diese besonders detailliert besprochene Stelle eine meiner Ansicht nach typische Art der Tonhöhenorganisation Lutosławskis in diesem Klavierkonzert dar, da Chromatik (vertikal und horizontal) und mitunter tonale Fragmente (besonders horizontal) auch in den übrigen Sätzen eine bedeutende Rolle spielen. Das dem »Rezitativ« nachfolgende »Largo« kann in mehrere Abschnitte untergliedert werden. Die ersten acht Takte bilden einen solchen Abschnitt, ebenso die Takte 9–13. Im ersten Abschnitt entwickelt sich die linke Hand langsam chromatisch nach oben (b bis es’), die tiefen Oktaven bleiben zunächst konstant und gehen erst in T. 6 und 7 ebenfalls chromatisch nach oben (A bis H ). Die rechte Hand spielt darüber eine sich wellenartig bewegende Linie mit vier länger ausgehaltenen Tönen und schnelleren Bewegungen dazwischen. Dabei bleibt von T. 3–5 der Ton e’ eine untere Grenze, die erst mit dem

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

abschließenden es’ erweitert wird. Dieses es’ ist zugleich Endpunkt der Entwicklung der Oberstimme in der linken Hand, ist somit ein von zwei Richtungen erreichtes Ziel. Davon ausgehend entwickeln sich rechte und linke Hand im zweiten Abschnitt chromatisch abwärts, die tiefen Oktaven der linken Hand entfallen nun, setzen aber mit Beginn des dritten Abschnittes in T. 14 erneut ein. Dieser fünf Takte lange Abschnitt weist in der linken Hand keine chromatische Entwicklung der Begleitfiguren auf, lediglich der in T. 16 über dem Ton ges hinzutretende F-Dur-Quartsext-Akkord wird im nachfolgenden Takt chromatisch verändert. Die rechte Hand spielt eine dem ersten Abschnitt vergleichbare Melodie, mit nur einer großen Auf- und Abwärtsbewegung. Zuletzt setzen die zuvor entfallenen tiefen Oktaven mit Beginn des vierten Abschnittes in T. 19 erneut ein, die linke Hand verändert sich wieder chromatisch, in einer dem ersten Abschnitt ähnlichen Weise. Darüber setzt die rechte Hand zweimal zu einer Aufwärtsbewegung an, von dem so erreichten Spitzenton ges’’’’ aus beginnt die nachfolgende lange Kaskade abwärts. Abgeschlossen wird das »Largo« mit einem auskomponierten Ritardando und einer neuerlichen kurzen (einstimmigen) Chromatik als Vorbereitung auf den Einsatz des Orchesters. Mit diesem Einsatz beginnt der Mittelteil, der schon allein aufgrund der Instrumentierung deutlich in einzelne Abschnitte untergliedert ist. Im ersten Abschnitt (Zi. 67–72) lösen die vier Hörner unisono stets impulshaft eine neue Fermate der Zweiten Violinen und Violen aus. Das Klavier spielt während den Fermaten flüchtige, schnelle Gesten, wobei ab Zi. 69 immer vor einer neuen Fermate eine sich öffnende, laute Dreitongeste des Klaviers steht, somit also die Hörner eher als Antwort darauf zu sehen sind. Mit dem veränderten Basston im Orchester (a statt bisher c’) in Zi. 72 beginnt auch ein neuer, zweiter Abschnitt, der sich bereits rein äußerlich durch ein durchgehendes Metrum vom vorigen Abschnitt unterscheidet. (Dieses Metrum bleibt bis zum Satzende erhalten, ausgenommen der Klavier-Solo-Passage vor Zi. 77.) Im Orchester treten zwei Flöten und eine Klarinette hinzu und spielen abwechselnd mit den bereits vorhandenen Streichern. Das Klavier wiederum widmet sich der motivischen Entwicklung einer 32tel-Quintole mit nachfolgender Achtelnote. Zum »Ausgleich« dazu folgt bei Zi. 73 ein sehr kurzer, ruhigerer Abschnitt, der an die Takte 9–13 des Largos erinnert. Im Orchesterpart spielen hier alle Streicher sowie Trompeten, Posaunen und Tuba – die bisher und auch im nächsten Abschnitt »prominenten« Hörner bleiben bewusst ausgespart. Das Klavier versucht nun mit einer fast schon gezwungen wirkenden Anstrengung, Impulse für einen stringenteren Satzverlauf zu geben, geht dann nahtlos in eine Reminiszenz an die kurzen Noten mit Vorschlag des zweiten Satzes (vor Zi. 45) über, wobei es diesmal jedoch nicht zu einem solch direkten Dialog mit dem Orchester kommt, wie es im zweiten Satz der

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Fall war.246 Während es im Orchester zum Beginn eines neuen Abschnittes kommt, in dem ein belebter Hornsatz mit Streicher-Pizzicati kombiniert gegen kurze statischere Einwürfe der Streicher mit einem Horn gestellt wird, geht der Klaviersatz hier nahtlos von einem Abschnitt zum nächsten über. Bei Zi. 76 folgt erneut eine kurze Episode ähnlich den Takten 9–13 des Largos, dann, nach einem letzten Auftreten des Hornsatzes, eine kurze rein solistische Passage, ähnlich einer kurzen Kadenz. Darin leitet der Solist in drei immer höher liegenden Stufen hin zum fortissimo einsetzenden Orchester-Tutti.247 Erneut kommt es zu einem Dialog zwischen Solist und Orchester  : Das Orchester beginnt in den höchsten Lagen und sinkt in Tonhöhe und Dynamik ab, der Solist hingegen öffnet den Tonraum wieder nach oben. Beim dritten (jetzt nur noch drei statt ursprünglich 13 Viertel langen) Orchestereinsatz wird bereits die Instrumentenanzahl reduziert, um zum letzten Teil überzuleiten, in dem nur Erste und Zweite Violinen den Klavierpart ergänzen. Von Seiten des Instrumentariums aus betrachtet, könnte dieser Abschnitt mit dem Beginn des Mittelteils (ab Zi. 67) korrespondieren, hier sind es Erste und Zweite Violinen, dort Zweite Violinen und Violen. Tatsächlich aber agieren die beiden Orchesterinstrumente gleichberechtigt mit dem Solisten, alle drei spielen virtuose, schnelle Passagen. (Zu Beginn des Mittelteiles spielte das Orchester lediglich eine untergeordnete Rolle.) Ähnlich dem Beginn des Satzes ahmen die beiden Violinen ab Zi. 81 die schnelle Bewegung des Klaviers durch Glissandi nach. Zuguterletzt schließt der Satz  – wie bereits erwähnt – mit einem Klavier-Solo, das auf das Largo am Satzanfang rekurriert. Die rechte Hand bewegt sich dabei chromatisch abwärts (f ’ bis f), die linke Hand teils in Halb-, teils in Ganztönen ebenfalls abwärts. Der dritte Satz wird mit einer Mischung aus einem C-/c- und einem G-(Dur-) Septakkord beendet (C  – C  – G  – d  – f ). Der Ton c wird gleich zu Beginn des vierten Satzes aufgegriffen. Ein solches Verfahren der Übernahme des letzten Tones eines Satzes als Anfangston des nachfolgenden Satzes ist übrigens ebenso beim Ende des zweiten Satzes (ges, F) und Anfang des dritten Satzes (E, F) zu beobachten, eventuell könnte man auch den Ton Des zu Beginn des zweiten Satzes als einen Teil des Schlussakkordes des ersten Satzes deuten. Die Harmonik des dritten Satzes basiert besonders zu Beginn vorwiegend auf Kombinationen aus Chromatik und Terzschichtungen. Erst mit Eintreten des Orchesters spielen Oktaven (speziell im Klavier) eine ebenso große Rolle. 246 Vorschlagsnoten erscheinen auch bereits im ersten Satz mit Einsetzen des Klaviers, einzelne Vorschlagsnoten bei Zi. 15. 247 Zu dessen Vollständigkeit als Tutti fehlen lediglich Pauke, Perkussion und Harfe.

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Im dritten Satz sind die beiden Tonräume von Klavier und Orchester zueinander unterschiedlicher als im Satz zuvor. Während das Klavier am Ende seiner Solo-Einleitung fast den gesamten möglichen Tonhöhen-Umfang verwendet, setzt das Orchester (Zi. 67) innerhalb eines sehr schmalen Bereiches in der eingestrichenen Oktave ein. Es folgt ein Abschnitt, in dem das Klavier stets in höheren Lagen als das Orchester spielt (bis zu drei Oktaven höher). Anders ab Zi. 79  : Nach einem kurzen Abschnitt (Zi. 76–78), in dem Solist und Orchester in etwa den gleichen Tonraum benutzen, folgt ein Abschnitt, in dem das Klavier deutlich tiefer als das Orchester liegt (Orchester  : ab eingestrichener Oktave aufwärts, Klavier  : ab Kontraoktave aufwärts). Bevor der abschließende Soloteil des Klaviers in eher tiefem Register einsetzt, kommt es noch einmal kurz (Zi. 81) zu einer Übereinstimmung der beiden Tonhöhen-Umfänge. Obwohl der dritte Satz kürzer als der vierte Satz andauert, gibt es darin bemerkenswerterweise im Hinblick auf die Entwicklung des Tonhöhenambitus wesentlich verschiedenartigere Abschnitte zu beobachten, als dies im Finalsatz der Fall ist. 4. Satz »Der vierte Satz stellt in formaler Hinsicht eine Anspielung auf die barocke Form der Chaconne dar. Sein Thema (immer vom Orchester gespielt) ist aus kurzen, von Pausen durchsetzten Noten gebildet und nicht  – wie in der traditionellen Chaconne  – aus Akkorden«, so der Komponist im Vorwort des Klavierauszuges. An das Ende seines Klavierkonzertes setzt Witold Lutosławski damit einen im übrigen Stück in dieser Form fehlenden historischen Bezug. Dabei ist es zunächst erstaunlich, dass diese Bezugnahme nicht unmittelbar mit der Gattungstradition des Klavierkonzertes zusammenhängt. Dagegen könnte man einerseits einwenden, dass – wie auch der Komponist selbst schreibt – es sich lediglich um eine Anspielung auf die Chaconne handelt, nicht aber um deren ursprüngliche Variationsform selbst. Des Weiteren ist es gerade bei einem so integrativ arbeitenden Komponisten wie Lutosławski nicht außergewöhnlich, sich außerhalb von Gattungstraditionen zu bewegen bzw. verschiedene Traditionen miteinander zu vermischen. Mit der immer dichter werdenden und in immer neuer Instrumentation stets anders beleuchteten »Chaconne« setzt der Komponist an das Ende seines Werkes auch bewusst ein Stück, das einem letzten Höhepunkt zustrebt. Der Hörer soll nach dem eher ruhigeren dritten Satz wieder mitgerissen werden, mithilfe einer sich konstant durch den Satz hindurchziehenden, von schnellen, kurzen und prägnanten Rhythmen (sowie melodischen/intervallischen Gestalten) geprägten Ereigniskette. Zusätzlich aber soll der vierte Satz einen Höhepunkt innerhalb des gesamten Klavierkonzertes darstellen. Zur »endbetonten Form« hat sich u. a. auch Steven Stucky

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

geäußert  : »In contradistinction to the Viennese Classical cyclic sonata, in which the first movement usually bears the greatest dramatic weight, or the sonata of Brahms or Mahler, in which that weight is likely to be shared by the outer movements, Lutosławski adopted a scheme in which the early sections are lighter in weight and a single important climax is reserved for a place very near the end. We might style this conceit ›end-accented form‹.«248 Auch der Komponist selbst bezeichnet das Finale als den Hauptsatz seines Klavierkonzertes  : »Not unlike the Second Symphony, or the Third Symphony, or such works as my String Quartet and Livre pour orchestre, etc., the formal structure of the Piano Concerto is end-accented. The centre of gravity of the cycle falls on the finale. Semantically. And in every other respect. In spite of the fact that this composition is an example of my ›flirting with traditions’ the finale is the longest of the four movements.«249 Folgendes Thema250 liegt rhythmisch und intervallisch/melodisch dem vierten Satz zugrunde  : Notenbeispiel 36

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Intervallisch setzt sich dieses Thema aus Tritoni und kleinen Sekunden zusammen. Dabei sind folgende zwei sich stetig erweiternde chromatische Stränge zu beobachten  : 248 Stucky, Steven  : Lutosławski and his music, Cambridge, 1981, S. 130 249 Nikolska 1994, S. 101 250 Wenn im Folgenden der Begriff »Thema« verwendet wird, so geschieht dies unter Bedachtnahme folgender Äußerung Lutosławskis  : »Nowadays, the key idea of a composition cannot be a theme for the simple reason that, in the texture of contemporary music, the theme, in the sense in which it is defined here, just does not exist. It will be represented instead by a single structure or ›sound object’ or, to put it differently, an independent complex of sounds bounded in time. (…) These key ideas determine the cast of the whole work just as themes do in classical music.« (Lutosławski, Witold  : »Problems of musical form«, in  : Skowron 2007, S. 16). Der Begriff »Thema« versteht sich also im Folgenden als Synonym für die von Lutosławski erwähnten »key ideas«, nicht aber im Sinne eines »klassischen« Themas.

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Notenbeispiel 37

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œ œ bœ (

# œ)

& œ & #œ œ #œ

bœ œ œ

#œ œ œ œ

bœ #œ œ œ #œ œ

bœ œ bœ œ bœ

œ

nœ bœ nœ bœ œ nœ #œ nœ #œ

Ab dem Ton as überschneiden sich diese beiden Stränge. Die Chromatik aufwärts ab dem Ton cis kann als Erweiterung sowohl der oben- als auch der untenstehenden Chromatik verstanden werden. Trotzdem legt die unterschiedliche Richtung der Erweiterung (oben abwärts, unten aufwärts) die obige Zuordnung nahe. Rhythmisch betrachtet findet man die erste Zweitongruppe in T. 3 und – erweitert – in T. 4 wieder, demgegenüber stehen die aus sechs bzw. sieben aufeinanderfolgenden 16teln bestehenden Gruppen in T. 2, 6 und 8. Die Einzeltöne in T. 5 und T. 7 können aufgrund ihrer Position im Taktmetrum auf die Zweitongruppe in T. 3 bezogen werden. Am Ende des Themas steht eine durchgehende Achtelbewegung  ; auch durch die Hinzufügung einer dritten Kontrabass-Stimme erscheinen die letzten 21/2 Takte von den vorangehenden 71/2 Takten abgetrennt. Die hinzugefügte zweite bzw. dritte Stimme spielt stets eine Auswahl von Tönen aus der Hauptstimme. Mithilfe des zehntaktigen Themas baut Lutosławski den gesamten vierten Satz auf. Genau 17 Mal wiederholt er den Rhythmus, die Instrumentation verändert sich dabei ständig. Die Tatsache, dass das Thema eine Quarte höher endet, als es beginnt, macht sich der Komponist für die Transpositionen des Themas zunutze, denn auch diese bewegen sich stets eine Quarte nach oben. In immer kürzeren Abständen werden allerdings auch zwar rhythmisch idente, jedoch im Tonhöhenverlauf zum Thema unterschiedliche Abschnitte eingeschoben. Folgende Übersicht soll all diese Abweichungen und Entwicklungen deutlich machen  :

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Ziffer

Rhythmus

Transposition bzw. Melodieverlauf

Beginn

Thema

ab Ton c

83 85 87

1. Wdh. 2. Wdh. 3. Wdh.

ab Ton f ab Ton b ab Ton es

89

4. Wdh.

91

5. Wdh.

93

6. Wdh.

95

7. Wdh.

97

8. Wdh.

99

9. Wdh.

101 103 105

10. Wdh. 11. Wdh. 12. Wdh.

107

13. Wdh.

109

14. Wdh.

111

15. Wdh.

1 Takt nach 112

16. Wdh.

Instrumentation

Kb.

Vc., Kb. Fg., Kfg., Vc., Kb. Fl., Basskl., Fg., Kfg., Trp., Vc., Kb. ab Ton as Ob., Fg., Trp., Pos., Vl. 1, 2, Va., Vc., Kb. Richtungsverlauf Hr., Hrf., Str. ca. gleich, größere Intervalle, weniger chromatisch ab Ton des (Trp., Pos.), Vl. 1, 2, Va., Vc. ab Ton ges Kl., Fg., Hr., Pos., Tb., Vc., Kb. ab Ton h Picc.fl., Ob., Kl., Kfg., Trp., Xyl., Vl.1, Kb. Perkussion Perc. (Bongos, Tomtom, Tamtam) ab Ton e Holzbl., Str. ab Ton a Vc., Kb. viele Tonrepeti- Ob., Pk., Hrf., Str. tionen ab Ton d Kl., Fg., Kfg., gr.Tr. ab Zi. 108  : + Fl., Ob., Str. v. a. chromaFl., Ob., Kl., Trp., tische Linien Pos., Tb., Str. aufwärts Mischung aus Kl., Hr., Hrf., Str. 91–93 und 109–111 wie 111–112, etwas chromatischer

Ob., Kl., Fg., Hr., Trp., Str.

Tempo  = ca. 84

Poco meno mosso, rit. più mosso ( = ca. 110)

Più mosso ( = ca. 120), ab Zi. 112  : Ancora più mosso ( = ca. 130)

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Ziffer

113

114 119

Rhythmus

17. Wdh.

Transposition bzw. Melodieverlauf

ab Ton g

Instrumentation

Picc.fl., Fl., Ob., Picc.kl., Kl., Fg., Hr., Trp., Pos., Tb., Str.

Tempo

Pf.: meno mosso (a piacere), molto rit.

Presto ( = ca. 165)

Dem 18-fachen Auftreten des rhythmischen Musters stehen zwölf Transpositionen des Melodieverlaufes gegenüber, vor einer möglichen 13. Transposition (die dem Thema selbst entsprechen würde) wird das Schema durchbrochen (Zi. 114). Die sechs übrigen rhythmischen Wiederholungen werden teilweise mit zwar gegenüber dem Thema sehr verschiedenen Intervallen versehen, die ungefähre Bewegungsrichtung des Themas wird jedoch vielfach beibehalten, auch im Perkussions-Teil bei Zi. 99. Einzelne Elemente wie Tonrepetitionen oder Chromatik sind ebenfalls aufzufinden. Ab dem Ende von Zi. 86 (Fg. 1) werden nicht nur – wie bereits ab Zi. 85 – mehr und mehr Instrumente hinzugefügt, sondern auch repetierte Sechzehntel- statt Achtelnoten sowie zusätzliche Elemente wie Triller (Zi. 88). Auch die Nebenstimmen am Ende des Themas werden zusehends verändert (Ende von Zi. 88). Die vierte Wiederholung des Themenrhythmus (Zi. 89) bringt eine weitere neue Facette der »Variationen über ein Thema« mit ins Spiel  : Ab diesem Zeitpunkt werden die Pausen zwischen den kurzen Motiven des Themas immer mehr ausgefüllt, d. h. es wird zunächst die jeweils letzte Note einer Tongruppe länger ausgehalten. Ebenfalls zum ersten Mal werden Zweitongruppen auf zwei verschiedene Instrumente verteilt (z. B. Zi. 89, Trp./ Pos. + Va./Vc./Kb.), darauf wird auch später wieder Bezug genommen (Zi. 95). In der darauf folgenden Wiederholung (Zi. 91) wird ein durchgehender Streicherklang hinzugefügt, der in den meisten Fällen mit dem ersten Ton einer Tongruppe des Themas zu einem neuen Akkord wechselt. Bei Zi. 93 wiederum füllen Streicherglissandi die ursprünglichen 16telnoten aus, auch längere Glissandi erscheinen als zusätzliche Elemente. (Ob mit den Glissandi auf den Beginn des zweiten Satzes verwiesen werden soll, bleibe dahingestellt.) Die hinzugefügten Vorschlagsnoten ab Zi. 97 könnten sich (wie die soeben erwähnten Glissandi) auf den zweiten Satz beziehen. Zu einem abrupten Bruch kommt es mit Einsetzen des Schlagwerks in Zi. 99. Ab diesem Zeitpunkt fehlt die zweite Stimme des Themas auch im weiteren Verlauf (ab Zi. 101) immer öfter.

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Kurze forte-Akkorde werden ab Zi. 101 jeweils als Endpunkt eines kurzen, starken Crescendos gesetzt, auch sie fehlen im originalen Thema. Zugleich wird immer die letzte Note jeder Gruppe verlängert, ganz im Gegensatz zur nachfolgenden »Variation« (Zi. 105), in der stets gemeinsam mit der ersten Note zu einem neuen, lange ausgehaltenen Streicherakkord gewechselt wird. Diese Unterlegung eines konstanten Streicherklanges zitiert die fünfte Themenwiederholung (Zi. 91). Beide Abschnitte sind weiters durch das Abweichen vom Quart-Transpositionsschema sowie durch die Instrumentierung der Achtelnoten am Themenende (in beiden Fällen Harfe) miteinander verbunden. Eine neue Variante der Themenverarbeitung erscheint bei Zi. 107, wo alle Pausen im Thema mit durchgehenden pulsierenden Achtelnoten der Großen Trommel aufgefüllt werden. Dies bringt zusammen mit der Tempobeschleunigung nach dem vorangegangenen Ritardando sowie durch das erstmalige Aussetzen des Klaviers einen neuen, dramaturgisch wichtigen Schub. Bis hin zu Zi. 114 wird das musikalische Geschehen in Instrumentation und Dynamik sowie durch hinzugefügte Elemente in der Satzdichte immer weiter gesteigert. Zu guter Letzt entfallen bei Zi. 113 alle Viertelpausen des originalen Themas, somit wird ein zusätzlich steigernder Stretta-Effekt erzeugt. Zugleich aber pausiert der Solist hier erneut, um bei Zi. 114 umso effektvoller einsetzen zu können. Die Klavierstimme beginnt neue Abschnitte stets genau komplementär zum Orchester, also bei Zi. 84, 86, 88 etc. (das Orchester hingegen bei Zi. 83, 85, 87 etc.), zusätzlich jeweils um einen halben Takt versetzt, entsprechend dem ersten Einsatz bei Zi. 84. Deutlich unterscheidbar sind diese verschiedenen Abschnitte vor allem rhythmisch, einer Verlangsamung der rhythmischen Werte von Zi. 84 bis 90 steht danach eine Überlagerung mehrerer Rhythmen und eine zunehmende Vielfalt an rhythmischen Werten gegenüber. An einer einzigen Stelle (Zi. 105) allerdings wechselt die Klavierstimme gleichzeitig mit dem Orchester zu einem neuen Abschnitt, doch durch das Pausieren des Solisten in Zi. 107 wird dies wieder ausgeglichen. Das Überlappen einzelner Abschnitte wurde bereits von Steven Stucky als typisch für die Kompositionsweise Lutosławskis bezeichnet251, im Falle des vierten Satzes des Klavierkonzertes handelt es sich darüber hinausgehend um das sogenannte »Chain-Prinzip«  : »In this finale use is made of what can be described as chain form (tested in the 1956 Concerto for orchestra), with two layers (theme and accompaniment) being not properly co-ordinated in time  : the soloist enters approximately in the middle of the chaconne, and happens to ›meet‹ the orchestra only at one moment«252, so der Komponist selbst. 251 Stucky 1981, S. 129 252 Witold Lutosławski, in  : Nikolska 1994, S. 102

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Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Nach dem Prinzip von ineinandergreifenden Gliedern einer Kette ist nicht nur das Finale des Klavierkonzertes, sondern auch eine ganze Werkreihe Lutosławskis benannt. Die »zeitlich gegeneinander versetzten Phasen eines streng zweischichtigen Satzbildes«253 bilden den Ausgangspunkt zahlreicher recht unterschiedlich gestalteter Kompositionen. Die so verschiedenen Endresultate eines gleichen Bauprinzips stellt auch Martina Homma fest  : »In seiner Funktion bei der Formbildung ist das zweischichtige ›Chain-Prinzip‹ besonders vielseitig.«254 Lutosławski entwickelte dieses Prinzip im Vergleich zur klassisch-romantischen Formbildung  : »Historically, a musical construction has been being made up from a series of sections, each having a cadence at its end. I wanted to break this convention. So I put forward an alternative conception of leaving one musical thought for another, namely, the method of asynchronous superimposition of two layers non-concurrently passing on to another section. This device freshens the dramaturgy of musical form.«255 Nicht nur durch die Bezugnahme auf die barocke Chaconne kommt es daher zu Berührungspunkten mit »Tradition«, sondern auch – in negierter Form – durch die Anwendung des Chain-Prinzips als »Bauplan« für den Großteil des vierten Satzes. Zugleich aber bietet sich ein zweischichtiges Prinzip besonders bei einem Solokonzert als eine gedanklich naheliegende Formgestaltung an, indem es die Gegenüberstellung von Solist und Orchester direkt realisiert. Durch die Tatsache bedingt, dass Orchester und Soloklavier gegeneinander versetzt neue Abschnitte beginnen sowie durch die Teilung der jeweils zehn Takte in 5+5 oder 4+6 Takte, kommt es ab Zi. 96/97 im Klavierpart auch zu elftaktigen Abschnitten. Auf diese wird zu Beginn des jeweils darauf folgenden Abschnittes (Zi. 98, 104, 105256, 110 und 112) reagiert, indem das Klavier bereits zu Taktbeginn, anstelle wie sonst üblich zur Taktmitte, zu einem neuen Abschnitt wechselt. Der Bruch mit dem regelmäßigen Wiederholungsschema bei Zi. 114 ist zugleich Endpunkt der vorangehenden Steigerung. Bevor ab Zi. 119 eine Presto-Coda einsetzt, handelt es sich beim Abschnitt von Zi. 114–118 um eine Akkord-»Kadenz« des Soloklaviers (im durchgehenden fortissimo), vom Komponisten selbst als »somewhat pathetic recitative« bezeichnet.257 In drei kurzen Abschnitten werden in rechter und linker Hand stets verschiedene Akkorde verwendet, die jedoch alle innerhalb eines Oktavrahmens liegen. Eine klaviertechnische und klangliche Anspielung auf klas253 Homma, Martina  : »›Vogelperspektive‹ und ›Schlüsselideen‹. Über einige Aspekte der Kompositionstechnik Lutosławskis anhand kompositorischer Skizzen«, in  : Metzger/Riehn 1991, S. 51 254 Ebda. 255 Nikolska 1994, S. 102 256 Hier ging ein Abschnitt von nur fünf Takten voraus. 257 Nikolska 1994, S. 102

Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

sisch-romantische Pianistik wurde hier wohl bewusst mit einkomponiert. Demgegenüber steht der Orchesterpart, der in Ad-Libitum-Technik notiert ist und von jedem Spieler unabhängig von seinen Mitspielern auszuführen ist. Die Tonrepetitionen und -umspielungen ergänzen einander so zu einem schillernden Klangfeld. In der abschließenden Coda (ab Zi. 119) werden die Ad-Libitum-Tonrepetitionen des Orchesters rhythmisch koordiniert weitergeführt. Ziemlich rasch kommt es, besonders durch den sich ständig steigernden Klavierpart, zu einem weiteren Höhepunkt (Zi. 123, mit Fermate). Die drei letzten Takte bilden einen markanten Abschluss, mit einer gemeinsamen fallenden Bewegung von Holzbläsern und Streichern sowie den Taktschwerpunkt markierenden Einwürfen von Blechbläsern und Soloklavier. Die Dynamik des vierten Satzes setzt sich aus unzähligen verschiedenen Einzelaktionen zusammen. Starke dynamische Kontraste bestimmen weiterhin – wie auch bereits im übrigen Werk der Fall – das Geschehen. Die von einem konstanten piano ausgehenden mehrfachen Crescendi des Orchesters zu Beginn des Satzes könnten sich auf den Beginn des ersten Satzes beziehen, sind allerdings abgekoppelt von dem komplementären Dialog zwischen Solist und Orchester im Kopfsatz. Am Ende des Klavierparts im vierten Satz steht ein stufenweises Crescendo von p zu fff, was ebenfalls eine Parallele zum Ende des ersten Satzes bildet. Die Harmonik des vierten Satzes ist – anders als in den übrigen drei Sätzen – weniger von Chromatik als von Terzen, Quarten und Quinten bestimmt. Tonale Bruchstücke sind auch hier oft erkennbar, werden aber (wie im gesamten Konzert) stets nicht funktional verwendet. Anders als in den Sätzen 1 bis 3 kann man im Falle des vierten Satzes allerdings erst ab Zi. 91 von echter Harmonik im Orchestersatz sprechen. Bis dahin kommen mehrstimmige Zusammenklänge lediglich jeweils am Ende des Themas zustande, wo die beiden Begleitstimmen bei stets verschiedenen Tönen der Hauptstimme enden. Ab Zi. 85 kommt es zu Oktavierungen des Themas, von Harmonik kann man hier aber noch nicht sprechen, sondern eher von einer traditionellen Orchestrationstechnik. Im Klavierpart erscheinen die ersten Akkorde ab Zi. 85, auffallend oft werden auch hier Töne oktaviert. Im Übrigen unterscheidet sich die Harmonik des Solisten von jener des Orchesters nur durch eine stärkere Chromatisierung. Bis auf wenige Ausnahmen spielt das Klavier im vierten Satz durchgehend in höheren Lagen als das Orchester. Die untere Grenze seines jeweiligen Tonumfanges deckt sich dabei teilweise mit dem Orchester, teilweise ist auch sie höher gelegen als jene des Orchesters. Der Einsatz verschiedener Lagen ist ein auch durch den Hörer leicht nachvollziehbares Mittel der Gegenüberstellung von Solist und Orchester. Vergleicht man den Klavier- und den Orchesterpart miteinander hinsichtlich gemeinsamer Töne, so zeichnet sich der Großteil des vierten Satzes durch eine Vermeidung von Überein-

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stimmungen aus. In sehr seltenen Fällen, etwa bei Zi. 86 (D in Violoncello, Kontrabass und Klavier) gibt es solche Übereinstimmungen. Sie gewinnen im Verlauf des Stückes tendenziell an Häufigkeit, was vermutlich auch an der Tatsache liegt, dass der Orchestersatz zunehmend mehrstimmig wird. Eine Stelle, an der die bewusste Vermeidung von gemeinsamen Tönen und der gezielte Einsatz von Übereinstimmungen deutlich werden, ist im Folgenden abgebildet. Es handelt sich um die Studienziffern 105 und 106, die (ungeachtet der absoluten Tonhöhen auf eine Oktave reduzierten) Tonvorräte von Klavier und Orchester sind einander gegenübergestellt  : Notenbeispiel 38 





               





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

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

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            

Durch eine Überlappung der beiden dialogisierenden Partner bei Zi. 106 kommt es zu einer ersten Übereinstimmung von Tönen (fis’, h’), die einen Takt später ihre Fortsetzung findet. Bis auf eine Ausnahme handelt es sich um Übereinstimmungen auch der originalen Oktavlage, also der absoluten Tonhöhen. Bei der Parallelstelle bei Zi. 91 gibt es ebenso fallweise Übereinstimmungen der beiden Tonvorräte, durch die reduziertere Virtuosität der Klavierstimme bei Zi. 105 und das offenkundige Dialogisieren zwischen Klavier und Orchester wird der oben beschriebene Veränderungsprozess aber erst hier deutlicher wahrnehmbar.

Witold Lutosławski  : Concerto for Piano and Orchestra

Einzelaspekte und Überblick Vergleicht man alle vier Sätze miteinander, so lässt sich folgendes Material als kleinster gemeinsamer Nenner zusammenfassen  :   1. Akkorde   2. Akkordbrechungen   3. Oktaven   4. Repetitionen   5. Melodien   6. schnelle Läufe (in kleinem oder großem Tonraum)   7. regelmäßige Rhythmen (z. B. Achtel, Achteltriolen)   8. verschiedene Rhythmen übereinander gelagert   9. Staccato 10. Akzente (z. B. innerhalb von schnellen Läufen) 11. Vorschlagsnoten 12. Triller Trotz aller Vielfalt des Materials fehlt bei der obigen Auflistung der Punkt »Einzelton«, was Lutosławskis Werk von allen übrigen hier besprochenen Klavierkonzerten unterscheidet. Die Punkte 9–12 beschreiben in dieser Aufstellung eher zusätzliche Elemente, die Punkte 1–8 hingegen wesentliche Grundbausteine. Nicht alle Materialien sind in jedem Satz aufzufinden  – Triller beispielsweise erscheinen nur im ersten und ­vierten Satz. Bemerkenswert ist die Häufigkeit, in der Akkorde vorkommen, aber auch die Tatsache (besonders im Vergleich zu Morton Feldmans »Piano and Orchestra« und Helmut Lachenmanns »Ausklang«), dass in der obigen Auflistung der Begriff »Melodie« erscheint. Noch bemerkenswerter aber erscheint mir die Tatsache, dass sich all dieses Material auch beispielsweise in einem Klavierkonzert W. A. Mozarts wiederfinden ließe. Auf dieser abstrakten Ebene der »Bausteine« ist somit auch hier ein Anknüpfungspunkt an eine jahrhundertelange »Tradition« festzustellen. (Mehr zu Lutosławskis vielfachen Traditionsbezügen findet sich am Ende dieses Kapitels.) Was das Verhältnis von Solist und Orchester betrifft, so unterscheiden sich beide hinsichtlich des verwendeten Materials en gros betrachtet nicht voneinander. In jeder konkreten musikalischen Situation kommt es allerdings auch durch den Einsatz verschiedener Materialien zu einer oft deutlichen Unterscheidbarkeit von Solo- und Orchesterpart.

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Innerhalb des Orchesterparts werden häufig kleinere »Untergruppen« gebildet. Daher gibt es im gesamten Werk keine einzige Tutti-Stelle, lediglich einige Passagen, in denen alle Holzbläser, Blechbläser und Streicher spielen. Dies ist am Ende des ersten Satzes, in der Mitte des dritten Satzes und am Ende des vierten Satzes der Fall. An den Enden des ersten und vierten Satzes korrespondiert diese Dichte der Instrumentation mit der lauten bzw. sich steigernden Dynamik. Somit steht dem Solisten zumeist nicht ein in sich geschlossener »Orchesterblock« entgegen, sondern verschieden instrumentierte Kleingruppen. Eine ungewöhnliche Organisation des Orchesterparts kann man auch hinsichtlich der Satztechnik beobachten  : Die Abschnitte innerhalb des Klavierkonzertes, die in der »ad-libitum«-Satzweise verfasst wurden, gehören zur von Witold Lutosławski erfundenen Technik des »aleatorischen Kontrapunktes«. Die Gründe für diese besondere Satztechnik sind vielfältig, sie liegen einerseits in dem Wunsch des Komponisten, die »Spielfreude eines Instrumentalisten, der seinen instrumentalgerecht ›dankbaren‹ Part mit dem taktfreien Rubato-Espressivo eines Solisten ausführt, ohne auf seine Mitspieler hören zu müssen«258 musikalisch fruchtbar zu nützen. Andererseits stellt der »aleatorische Kontrapunkt« gewissermaßen eine Gratwanderung zwischen Freiheit für den Interpreten und Kontrolle durch den Komponisten dar, ist daher sowohl als Reaktion Lutosławskis auf die für ihn allzu frei erscheinende Aleatorik (in ihren vielfältigsten Gestalten) als auch auf den zu strengen Serialismus dar. Die bereits seit dem 1961 entstandenen Werk »Jeux vénitien« angewandte Technik bietet zudem eine besondere Herausforderung für den Komponisten, indem er die horizontal frei verlaufenden Schichten miteinander vertikal koordinieren muss. Der folgenden Behauptung Ove Nordwalls möchte ich mich dabei nicht anschließen, wenn er schreibt  : »Harmony, in the usual sense of the word, becomes a mere by-product of a counterpoint which is aleatory.«259 Zwar lässt sich nicht jeder Moment der von Aufführung zu Aufführung verschiedenen Zusammenklänge im Voraus genau bestimmen, eine Art Gesamtharmonik kann allerdings festgelegt werden. Der Komponist selbst beschreibt sein Kompositionsverfahren wie das Vorausplanen eines »worst case«-Szenarios  : »In composing my piece I had to foresee all possibilities which could arise within the limits set beforehand. This, in fact, consisted of setting the limits themselves in such a way that even ›the least desirable possibility‹ of execution, in a given fragment, should nevertheless 258 Homma, Martina  : »›Vogelperspektive‹ und ›Schlüsselideen‹. Über einige Aspekte der Kompositionstechnik Lutosławskis anhand kompositorischer Skizzen«, in  : Metzger/Riehn 1991, S. 35. Homma verweist hier auffolgenden Artikel Lutosławskis  : »Nowy utwór na orkiestre symfoniczna. II Symfonia«, in  : Res facta 4, 1970, S.  6–1, sowie »Ein neuer Weg zum Orchester«, in  : Melos 36, 1969, Nr. 7/8, S. 297–299 259 Nordwall 1968, S. 19

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be acceptable. This guarantees that everything that may happen within the previously set limits will fulfil my purpose.«260 Vorrangiges Ziel der Technik des »aleatorischen Kontrapunktes« scheint für Luto­ sławski die damit erreichte weitaus größere rhythmische Vielfalt gewesen zu sein, wie der Komponist selbst beschreibt  : »The loosening of time connections between sounds is not – as it may seem – a great innovation. And yet its consequences may have an enormous importance for the composer’s work. I have in mind both the possibility of a great enrichment of the rhythmical side of the work without increasing the difficulties of performing as well as facilitating free and individualized playing on the part of particular performers within the framework of an ensemble. These elements of aleatory technique have attracted me above all. They open up a way for me to realize quite a number of sound visions which otherwise would for ever have remained only in my imagination.«261 Auch die größere harmonische Vielfalt262 und die bessere Nutzung der »expressiven Ressourcen« der Interpreten innerhalb eines Ensembles wird für ihn durch seine neue Satztechnik besser erreicht als mittels herkömmlich notierter Musik.263 Gleichzeitig aber möchte er als Komponist für den Gesamtverlauf, wie auch die Formbildung im Detail stets »die Zügel in der Hand behalten«  : »On the other hand I am not interested in regarding the chance factor as the leading one to determine the form of a composition, or the element of surprise in regard to the listener, performer and even the composer himself through every consecutive and unforeseeable version of the work. In my composition the composer still remains the leading factor, and the introduction of the chance element in a strictly fixed range is merely a way of proceeding and not an end in itself.«264 Dadurch unterscheidet sich die Lutosławski’sche Aleatorik auch von einer »large-scale«-Aleatorik265, welche die gesamte Form eines Werkes beträfe. Ein Faktor für die Erreichung der Kontrolle über den Gesamtverlauf durch den Komponisten ist auch die Mischung aus aleatorischen und traditionell no260 Lutosławski, Witold  : Werkkommentar zu String Quartet, in  : Nordwall 1968, S. 81–88, hier S. 88 261 Lutosławski, Witold  : Werkkommentar zu Jeux vénitiens, in  : Nordwall 1968, S. 67–69, hier S. 69 262 »(…) the technique of ensemble ad libitum can (…) lead to free, uninhibited passage of harmonic variety.« (Lutosławski, Witold  : »Rhythm and organization of pitch in composing techniques employing a limited element of chance«, in  : Skowron 2007, S. 55–69, hier S. 69) 263 Vgl. dazu etwa  : Lutosławski, Witold  : »Aleatorism«, in  : Skowron 2007, S. 41–48, hier S. 43  : »There are two fields in which this kind of aleatorism offers the composer possibilities such as he cannot obtain with the help of any other technique. First of all, it offers him new rhythmic possibilities and, secondly, new ways of taking advantage of the expressive and technical resources of individual performers in ensemble playing.« 264 Ebda. 265 Vgl. Lutosławski, Witold  : »Aleatorism«, in  : Skowron 2007, S. 41–48, hier S. 41

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tierten Passagen, wobei Letztere zugleich sowohl als Orientierungspunkte als auch als Kontrastmomente fungieren, wie Ove Nordwall schreibt.266 An welchen Stellen im gesamten Werk Fermaten (unabhängig davon, ob sie über Pausen oder Notenwerten stehen) vorkommen, bietet nicht nur – selbstverständlich – Aufschluss darüber, wo Ad-Libitum-Passagen zu finden sind, sondern zeigt auch Zusammenhänge innerhalb von Sätzen sowie quasi eine Verlaufskurve der Verlaufskurve.267 Mit letzterem Begriff meine ich, dass es in jedem Satz unterschiedlich stringente Verlaufskurven gibt, dass also eine Entwicklung mehr oder weniger häufig, in kürzeren oder längeren Abständen durch eine Fermate unterbrochen wird. Im ersten Satz erscheinen Fermaten im ersten Abschnitt praktisch auf jeder Partiturseite, ab Zi. 20, dem Beginn des zweiten Abschnittes, erscheinen bis Zi. 34, dem Ende des Satzes, jedoch keine Fermaten mehr. Mit diesem Bruch geht das Auftreten eines durchgehenden Metrums ab Zi. 20 einher. Die Wiederkehr von Fermaten ab Zi. 60 zeigt deutlich eine formale Reprise innerhalb des zweiten Satzes. Wie schon zu Beginn des Satzes, sind mehrfache kurze 16telEinwürfe durch Pausenfermaten voneinander getrennt. Der solistische Satzanfang des Klaviers wird an dieser Stelle also auf das Orchester übertragen. Die nachfolgende Entsprechung zu den Takten 4 ff. bleibt aber in einer dem Beginn des Satzes ähnlichen Instrumentierung (Klavier + Streicher). Die durch eine Fermate ausgehaltenen Akkorde in Flöten und Klarinetten (vor Zi. 62–63, ab Zi. 65 in Klarinetten und Fagotten) können so als eine Auffüllung der Pausen der entsprechenden Takte 1–3 interpretiert werden. Über den gesamten dritten Satz sind Fermaten verteilt, dies verstärkt den rezitativischen Eindruck nicht nur des Satzbeginns. Demgegenüber entspricht das Fehlen von Fermaten in einem Großteil des vierten Satzes dem zugrunde liegenden »Chaconne«Gerüst. Ab Zi. 114 kommt es zu einem Unterbrechen des ansonsten motorisch durchlaufenden Geschehens durch Ad-Libitum-Abschnitte, die wie im ersten Satz Fermaten enthalten. Von Lutosławski selbst wird dieser Abschnitt als »Rezitativ« bezeichnet, was eher einer Reminiszenz an den dritten Satz denn an den ersten Satz entspräche. Tatsächlich aber hat diese Stelle einen völlig anderen, energischeren Charakter. Ein letztes, wohl dramaturgisch bewusst eingesetztes Mal tritt eine Fermate auf  : In Zi. 123 wird die Presto-Coda noch einmal kurz angehalten, damit der nachfolgende Lauf noch stärker schlussbildend wirkt. 266 Nordwall 1968, S. 20 267 Mit den genauer definitionsbedürftigen Begriffen »Verlaufsform« und »Verlaufskurve« zur Beschreibung der Großformen der Werke Lutosławskis operieren beispielsweise auch Martina Homma (»›Vogelperspektive‹ und ›Schlüsselideen‹. Über einige Aspekte der Kompositionstechnik Lutosławskis anhand kompositorischer Skizzen«, in  : Metzger/Riehn 1991, S. 34) oder Rainer Cadenbach (Cadenbach 1990, S. 427).

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Folgende Übersicht stellt dar, ob Solist und/oder Orchester die vier Sätze jeweils eröffnen oder beenden  : 1. Satz 2. Satz 3. Satz 4. Satz

Anfang

Ende

Orchester Solist Solist Orchester

Solist und Orchester (Solist und) Orchester Solist Solist und Orchester

Zwei eindeutige Korrespondenzen sind aus dieser Tabelle ersichtlich, nämlich jene zwischen erstem und viertem sowie zweitem und drittem Satz. (Letztere beiden Sätze ähneln einander in dieser Hinsicht allerdings lediglich bezüglich der Satzanfänge.) Erwähnt sei auch die Tatsache, dass keiner der vier Sätze von Klavier und Orchester gemeinsam eröffnet wird. Der dritte Satz wird als einziger in gleicher Weise begonnen wie auch beendet. Hinsichtlich der Instrumentation ähneln einander zudem der Beginn des zweiten und vierten Satzes  : In beiden Fällen setzen im Orchester zunächst die tiefen Streicher alleine ein. Sie werden im Falle des zweiten Satzes allmählich durch die höheren Streicher erweitert, im Falle des vierten Satzes hingegen sprunghaft durch Violinen und Violen ergänzt. Betrachtet man den Verlauf der Dynamik jeweils am Beginn und Ende jedes Satzes, so lassen sich Ähnlichkeiten feststellen, wie folgende Darstellung zeigt  : 1. Satz 2. Satz 3. Satz 4. Satz

Anfang

Ende

p < mf > p f > pp p < mf poco f  – pp

ff  – fff mp > pp pp < mf mf > pp f < ff < fff

Sowohl der zweite als auch der dritte Satz enden in mittlerer Lautstärke, die zum pp hin diminuiert. Eine Steigerung am Satzende bis zum fff hin ist im ersten und vierten Satz zu beobachten. Wie auch anhand der obigen Tabelle ersichtlich wurde, gleichen einander daher die beiden Eck- und die beiden Mittelsätze. Obwohl relativ früh im ersten Satz ein Zwölftonakkord erklingt (ein Takt vor Zi. 2), so spielen Zwölftonkomplexe im Klavierkonzert eine wesentlich unbedeutendere Rolle als in früheren Werken Lutosławskis.268 Der Grund dafür wird vom Komponis268 Vgl. dazu etwa Martina Homma  : »In allen Werken Lutosławskis zwischen Ende der 50er und Ende der 70er Jahre (in verringertem Umfang auch später) herrscht eine bestimmte (recht strikte) Zwölfton-

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ten selbst folgendermaßen beschrieben  : »When working with twelve-pitch complexes, I always made a point of utilizing them as multifariously as possible. After all, it was the main element of my form of pitch organization, although I had long realized that this was merely a partial solution to the problem. Good for big sound masses as they are, twelve-tone aggregates are unfit for fine and ›thin‹ – diaphanous, transparents – textures. The way out is exemplified in the Epitaph and, of course, in all my compositions of the eighties. (…) But certain elements of the technique in question can be found in my Third Symphony, in my Concerto for piano and orchestra, and in other compositions. (…) the ›field of expressiveness‹ is polarized by chords with and without minor ninths.«269 Akkorde, die kleine Nonen enthalten, findet man nur an wenigen Plätzen im gesamten Klavierkonzert. Gleich zu Beginn aber, also an prominente Stelle gesetzt, erklingt ein Akkord, der vier kleine Nonen enthält (cis’ – d’’, g’ – as’’, h’ – c’’’, d’’ – dis’’’), zusätzlich erscheinen die Töne fis’, b’, f ’’ und a’’. Nach einzelnen kleinen Nonen innerhalb der Klavierakkorde bei Zi. 2, 3 und 4 tauchen erst wieder bei Zi. 34 und 35 (d. h. kurz vor Satzende) mehrere kleinen Nonen innerhalb der Akkorde des Orchesters auf. Auch im zweiten Satz dauert es nach den deutlich hörbaren kleinen Nonen zu Beginn des Satzes (z. B. zwei Takte vor Zi. 36, Klavier, linke Hand  : Dis – E) beinahe bis zum Satzende, ehe zwei Takte vor Zi. 62 wieder kleine Nonen erklingen (Flöten und Klarinetten  : h – c’’, f ’ – ges’’ ). Zwar erscheint kurz zuvor (ein Takt nach Zi. 60) eine Art Reprise des Satzanfanges (T. 1 und 3 werden an dieser Stelle von Piccoloflöte und Xylophon übernommen, das tiefe Klavierregister vom Satzanfang also zugleich vier bis fünf Oktaven nach oben versetzt), die Töne dis und e werden allerdings hier als kleine Sekunden anstelle von kleinen Nonen ausgeführt (ein Takt nach Zi. 61, Klavier, linke Hand  : dis’’’  – e’’’ ). Dadurch erscheint der »eingeschobene« Akkord der Flöten und Klarinetten (zwei Takte vor Zi. 62) aufgrund der Äußerung Lutosławskis über die Bedeutung der kleinen None eine noch größere Rolle zu erhalten, als dieser Takt ohnehin innehat für das Anhalten des Zeitflusses und als Unterscheidungsmoment gegenüber der Referenzstelle zu Beginn des Satzes. Auf eine ähnliche Reprisensituation trifft man im dritten Satz. Kleine Nonen sind sowohl im »Largo«-Teil (der nach der unmensurierten Einleitung erklingt),270 als auch Ordnung, die in erster Linie von Zwölftonakkorden, in zweiter von Reihen und in dritter Linie von anders strukturierter Komplementarität zur Zwölfton-Totale gebildet wird.« (Homma 1998, S. 146), oder auch Steven Stucky  : »The twelve-note vertical aggregations which form the basis of the harmonic style appear in a number of roles. In almost every movement of every work since 1960 such a chord appears at the dynamic climax.« (Stucky 1981, S. 114) 269 Nikolska 1994, S. 122 270 Erster »Largo«-Takt, Klavier, linke Hand  : b – A.

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in den entsprechenden letzten neun Takten des Satzes zu finden. Dazwischen, besonders ab dem Eintritt des Orchesters bei Zi. 67, übernehmen Oktaven die wichtigste Rolle im Klavierpart. Dies ist auch im vierten Satz der Fall, in welchem kleine Nonen keine besondere Rolle spielen. Traditionsbezüge Im Folgenden sollen – zusätzlich zu den bereits erwähnten – verschiedene Traditionsbezüge Witold Lutosławskis in diesem Klavierkonzert dargestellt werden. Damit soll gezeigt werden, dass es nicht allein die Gattung »Klavierkonzert« ist, deren Wahl eine Auseinandersetzung des Komponisten mit ihren verschiedenen Erscheinungsformen innerhalb der Musikgeschichte erforderte, sondern dass es darüber hinausgehend auch ein ganzes Netzwerk an (vom Komponisten durchaus bewusst geplanten) Bezugspunkten zu früher entstandener Musik gibt. Rein praktikabel begründet Lutosławski solche Bezüge folgendermaßen  : »I have already told you that there are some traits of nineteenth-century pianism in it. (Stockhausen, for example, would not have settled on such a thing.) I also tried to make a point of the piano part being really playable.«271 Doch hätte dieses Argument der Spielbarkeit auch weniger »typische« pianistische Spielfiguren zur Folge haben können. Die Auseinandersetzung mit und die Einbeziehung von traditionellen Momenten war offenbar für Lutosławski auch ein Bewertungskriterium seiner eigenen Kompositionen, wenn er schreibt  : »(…) Partita, Chain 2, and Concerto for piano and orchestra (I would add the Third Symphony to them), – I must say that I consider them the most important of all my works. I am in no doubt about that. And as concerns the fact that in these works there are echoes of certain tradition … I simply had a predisposition to that.«272 Die Tatsache, dass von »Melodien« in Zusammenhang mit dem Klavierkonzert (wie auch anderen Werken Lutosławskis) gesprochen werden kann, ist ein weiterer Traditionsbezug. Die wichtige Rolle, die Melodik im Klavierkonzert spielt, wurde vom Komponisten bewusst geplant  : »Still, the enhancement of the role of melodic factors in my recent compositions cannot fail to make itself felt. For example, in the Livre pour orchestre (1968) the melodic element is far from being in the foreground, whereas in such works as my Piano Concerto and Chain 2 it has a very important part to play.«273 271 Nikolska 1994, S. 103 272 Ebda., S. 104 f. 273 Ebda., S. 114

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Lutosławski unterscheidet innerhalb zweier Hauptkategorien, der Organisation von Tonhöhe und der Organisation von Zeit, je zwei weitere Kategorien, nämlich Harmonie und Melodie, sowie Mikrozeit (Rhythmus) und Makrozeit (Form)274. Auch anhand dieser Unterscheidung und Wertung erkennt man, wie wichtig für den Komponisten traditionelle Kategorien sind. Ein Beispiel für die Übernahme von traditionellen Elementen, aber zugleich für ihre Umformung und Weiterentwicklung, ist der Umgang Lutosławskis mit Höhepunkten innerhalb eines Stückes. Der Komponist dazu  : »The building up to a single climax in the music is of course nothing new  ; what is perhaps my original contribution – and I think it is important for the understanding of my music – is the way out of the climax.«275 Ein anderes Beispiel einer solchen Umformung ist die »Chaconne« im vierten Satz des Klavierkonzertes, wo das Thema zunächst in den Kontrabässen »monophonically, regardless of historical tradition«276 erklingt. Die Äußerung Lutosławskis, der erste Satz würde keine Assoziationen zu Traditionen beinhalten, sei allerdings infrage gestellt, gerade, wenn er kurz darauf meint  : »It is a typical introduction (…)«277, so birgt schon das Wort »typical« eine gewisse Tradition bzw. eine Art Grundkonsens in sich. Auch Begriffe wie »cantilena«, »culmination«, »recitative« oder »coda«278, die der Komponist zur Beschreibung seines Klavierkonzertes verwendet, tragen historische Bedeutungen. Die Tatsache, dass es in drei der vier Sätze zumindest eine Reprise gibt (1. Satz  : Zi. 24 und 28, 2. Satz  : Zi. 60, dritter Satz  : »Tempo I« nach Zi. 81), zeugt ebenfalls von Lutosławskis Bezugnahme auf traditionelle Formkategorien. Im Falle des Klavierkonzertes spielte jedoch zusätzlich zu diesen auch in anderen Werken Lutosławskis auffindbaren Momenten des Traditionsbezuges der Einfluss Frédéric Chopins bei der Komposition eine besonders wichtige Rolle. Der Komponist selbst weist auf den Einfluss Fréderic Chopins auf sein Klavierkonzert hin  : »From among the romanticists, the only composer who has influenced me is Chopin. I have realized this fact comparatively recently. I am implying my Piano Concerto, finished in 1988. In this composition there are some moments (will anybody notice them  ?) of looking back towards Chopin.«279 274 Vgl. dazu Lutosławski, Witold  : »Sound language«, in  : Skowron 2007, S. 95–101 275 Witold Lutosławski, zitiert nach  : Stucky 1981, S. 129 276 Nikolska 1994, S. 102 277 Ebda. 278 Ebda. 279 Ebda., S. 91

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Dabei war für Lutosławski entscheidend, nicht bloß die Chopin’sche Stilistik nachzuahmen, sondern im Gegenteil etwas völlig eigenständiges aus dieser Inspirationsquelle zu schöpfen  : »I tried to find my own Chopin. I did not want to ›reconstruct‹ what I admire in his music  : I wanted to construct something new, something original, which, however, would be somehow connected with the music of this artist of genius (…).«280

Deshalb hebt der Komponist nicht etwa den Beginn des zweiten Abschnittes im ersten Satz seines eigenen Klavierkonzertes als einen Bezugspunkt hervor, an dem z. B. die Oktaven der Klavierstimme an Chopin erinnern können, sondern spricht über eine weitaus weniger fassbare Ebene  : »In Chopin’s music there are moments which call forth a sensation of flight. As if you were taking off from the ground, you know. (…) And it is such an effect of leaving the ground and rising that I tried to bring about. The listener is to judge whether what I have produced is up to my expectations.«281 Nichtsdestotrotz meine ich, dass auch tatsächlich gewisse Elemente Chopin’scher Stilistik (wie etwa an der erwähnten Stelle) in die Komposition mit eingeflossen sind. Lutosławskis Begeisterung für Krystian Zimermans Interpretation des e-Moll-Klavierkonzertes von Chopin könnte ebenfalls eine Rolle bei der Entwicklung des Soloparts seines eigenen Klavierkonzertes (welches er im Hinblick auf eine Uraufführung mit Zimerman als Solisten komponierte) gespielt haben.282 Vergleicht man Lutosławskis Klavierkonzert direkt mit jenem in e-Moll von Frédéric Chopin, so lassen sich sogar zahlreiche erstaunliche Gemeinsamkeiten auffinden. Schon rein äußerlich betrachtet, beziehen sich die langsamen Sätze beider Werke offensichtlich aufeinander. Nach der Einleitung folgt in Lutosławskis drittem Satz ein »Largo« mit einer »p, cantabile« bezeichneten Melodie, desgleichen findet sich in Chopins zweitem Satz (»Romance. Larghetto« mit einer Melodie in »p, cantabile«). In beiden Fällen gibt es eine Melodie mit Begleitung, wobei die Begleitung in Bass- und Harmonietöne unterteilt werden kann. (Eine solche Zweiteilung der linken Hand gibt es auch im zweiten Abschnitt des ersten Satzes bei Lutosławski, bei Chopin an vielen Stellen.) Die Melodie selbst bewegt sich bei beiden Komponisten im gleichen Register (ein- bis dreigestrichene Oktave). Die Stimme der rechten Hand in den Takten 9–13 280 Ebda. 281 Ebda., S. 91 f. 282 »Zimerman’s interpretation of the E minor Concerto by Chopin can only be compared to this concerto as played by Józef Hofmann – both these interpretations are absolutely brilliant.« (Witold Lutosławski in  : Nikolska 1994, S. 45

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des Largos bei Lutosławski wiederum ist vergleichbar einer Stelle in Chopins erstem Satz (T. 185 ff.)  : Notenbeispiel 39

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Auch die Art der Melodieführung etwa in den Takten 1, 4, 5 u. a. in Lutosławskis Largo-Teil ist vergleichbar mit Chopins Melodieführung etwa in T. 17 und im Allgemeinen. (Längere, ausgehaltene Töne wechseln mit plötzlich losbrechenden, kaskadenartigen Tonleitern, Tonumspielungen oder Akkordbrechungen.) Eine Melodieführung in Oktaven, eine Parallelführung von rechter und linker Hand (in Oktaven oder in anderen Intervallabständen), Akzente innerhalb von schnellen Läufen, wie auch ähnliche spieltechnische Anforderungen finden sich bei beiden Komponisten. Darüber hinaus bestehen Ähnlichkeiten zwischen dem pathetischen, »espressivo« bezeichneten zweiten und vierten Abschnitt des ersten Satzes bei Lutosławski mit der Grundstimmung des Chopin’schen ersten Satzes, wohingegen der erste und dritte Abschnitt bei Lutosławski eher an den dritten Satz des Chopin’schen Klavierkonzertes erinnern können. Nicht nur im Klavierkonzert jedoch hat der Komponist verschiedene barocke (wie im Falle des vierten Satzes) oder romantische Elemente synthetisch in seinen eigenen Stil integriert, sondern auch in etlichen anderen Werken, wie etwa »Partita« oder

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»Chain 2«, ist dies der Fall. Die Integration von Oktavverdopplungen beispielsweise ist allerdings auch Teil einer Entwicklung innerhalb von Lutosławskis kompositorischem Schaffen, wie Martina Homma feststellte  : »Ganz spezifisch für Lutosławskis Kompositionen von 1958 bis 1983 (in weniger ausschließlicher Form auch in späteren Werken) ist, daß jegliche Oktavverdopplungen systematisch ausgeschlossen werden (…). Auch eine Verdopplung desselben Tones durch ein Instrument einer anderen Instrumentenfamilie ist ausgeschlossen, und unisonso geführte Linien treten erst seit 1983 (Dritte Sinfonie (…) wieder auf. In einem Orchestersatz, in dem die Klarheit der Instrumentalfarben der Klarheit der Intervallstrukturen entspricht, bildeten Kopplungen unterschiedlicher Klangfarben bei demselben Tonbestand einen (über zwei Jahrzehnte hindurch gar nicht vorkommenden) Ausnahmefall  – aber Lutosławskis Entwicklung auch hinsichtlich der Klangfarbe vollzog sich hierbei in Richtung auf eine Re-Integration traditioneller Momente.«283 Inwiefern bereits das Violoncellokonzert aus dem Jahr 1969/70 Parallelen »mit der gattungstypischen Satzfolge des Solokonzerts aufweist«284 (Rainer Cadenbach), ist bereits Gegenstand von Kontroversen geworden. So schreibt beispielsweise Cadenbach weiter  : »(…) sah Alfred Huber in einem Aufsatz aus dem Jahr 1973 das traditionelle dreisätzige Modell schnell-langsam-schnell formal verwertet  : Die einzelnen Sätze gehen ohne Pausen ineinander über, nur die Veränderung des Zeitmaßes und ein Umschlagen der ›Atmosphäre‹ vermittelt den Eindruck einer jeweils abgeschlossenen Entwicklung. In den deutlich unterscheidbaren Abschnitten der Komposition Parallelen oder gar absichtsvolle Reminiszenzen an die Satzfolge des Solokonzertes zu erblicken, ist zwar gewiß möglich, lenkt aber von der individuellen Formung gerade dieses Stückes – etwa im Vergleich zu anderen Kompositionen Lutosławskis – ab oder mag doch zumindest zu sachfremden, den individuellen Ablauf des Werkes verfehlenden Einschätzungen führen.«285 Tatsächlich sind die einzelnen Abschnitte des Violoncellokonzertes wesentlich stärker miteinander verbunden, die mögliche Referenz auf einen traditionellen Formaufbau ist somit ungleich geringer, als dies beim Klavierkonzert der Fall ist. Die zahlreichen motivisch-thematischen Bezüge innerhalb des Violoncellokonzertes (etwa auf die Tonrepetition zu Beginn des Werkes) tragen u. a. mit dazu bei, dass das gesamte Stück als ein zusammengehöriges Ganzes aufgefasst werden kann. Im Falle des Klavierkonzertes (mit der Satzabfolge schnell  – schnell  – langsam  – schnell) ist die Bezugnahme auf klassisch-romantische Konzertformen eine wesent283 Homma 1998, S. 158 284 Cadenbach 1990, S. 425 285 Ebda.

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lich deutlichere, wenngleich auch hier alle Sätze attacca gespielt werden und die Geschlossenheit einzelner Teile somit ein Stück weit aufgehoben werden soll. Wenn jedoch Martina Homma davon spricht, dass »der stark retrospektive Charakter dieses Werkes (…) allzu offensichtlich« ist,286 so meint sie damit vor allem das Wiederaufgreifen Lutosławskis von kompositorischen Verfahren seines eigenen, früheren Schaffens (aus Werken der 1950er- und 1960er-Jahren). Homma bezeichnet dieses Wiederaufgreifen allerdings selbst lediglich als »Strukturzitat«287, es handelt sich bei den von ihr beschriebenen Fällen um Formideen und Intervallstrukturen, also um Elemente, die vom Hörer nicht spontan als Reminiszenzen erkannt werden können (es sei denn, er würde das Gesamtschaffen Lutosławskis kennen) und die die Autorin zurecht in ihrer Bedeutung relativiert  : »Die bisher genannten Reminiszenzen früherer Werke betreffen technische Aspekte (…)  : als Eingebungen der Inspiration, die sich viele Male verwenden lassen.«288 Die bereits genannten Gemeinsamkeiten mit Werken früherer musikgeschichtlicher Epochen, besonders jenen der »Gattungstradition« sind hingegen für den Hörer wesentlich unmittelbarer nachvollziehbar. Die Beschäftigung mit und das Weiterentwickeln bzw. Integrieren von traditionellen Elementen oder Kategorien in seine eigene musikalische Sprache war aber für Lutosławski selbst nicht ein Standpunkt, auf dem er ständig weiter beharren wollte. So kam es einmal zu folgender Aussage  : »I do not want to continue ›flirting with traditions‹. I am certain that the way that leads me to the future is paved with other things.«289 Auch außerhalb der Musik suchte er nach Anregungen durch andere Kunstformen  : »In addition, I have drawn attention to the possibility of borrowing simple exemplars from outside the province of music (from the theatre in this specific case) that, after adaptation to music, can act as a substitute for musical conventions.«290

286 Homma, Martina  : »Nostalgie des Aufbruchs  ? Witold Lutosławskis Klavierkonzert – ein Spätwerk«, in  : MusikTexte  : Zeitschrift für Neue Musik, 42, November 1991, S. 27–35, hier S. 27 287 Ebda., S. 34 288 Ebda. 289 Nikolska 1994, S. 103 290 Lutosławski, Witold  : »Notes on the construction of large-scale forms«, in  : Skowron 2007, S. 2–12, hier S. 11

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester Allgemeine Annäherung Bei der Begegnung mit der Musik Gerd Kührs stößt man auf einige Widersprüche. Sie erschließt sich dem Hörer und dem Analytiker nicht auf den ersten Blick. Zugleich aber hat man als Hörer das Gefühl, seine Musiksprache »verstehen« zu können. Gerd Kühr pendelt zwischen Traditionsbezug und einem in höchstem Maße reflektierten Reagieren auf die gesellschaftlichen Verhältnisse unserer heutigen Zeit. Die »Sprachlichkeit« von Musik ist ihm ein besonderes Anliegen. Er weiß um das »Unzeitgemäße« einer solchen Haltung, und erweist sich u. a. darin als Komponist, der nicht nur »in« Musik denkt, sondern durch sein Komponieren über die Musik nachdenkt. Er ist ein entschiedener Gegner der »l’art pour l’art«, er bezieht den Hörer, den Interpreten und das Verhältnis beider zueinander im Moment der Aufführung in seine kompositorischen Überlegungen direkt mit ein. Zwar ist seine Musik korrekterweise nicht als »politisch« zu bezeichnen, doch sieht er ihren Sinn vor allem darin, »unmittelbarer Ausdruck der Gesellschaft, im weitesten Sinne politisch«291 zu sein. Hier geht es ihm meines Erachtens weniger um eine »konkrete« Botschaft an den Hörer als vielmehr um eine Grundeinstellung als Komponist. Als vehementer Verteidiger einer »neuen« Musik ist er zugleich in der »Tradition« verankert, sieht sich als Teil einer Musik-Geschichte, versucht nicht, mit dieser zu brechen, sondern sie in die heutige Zeit zu »übersetzen«. Zugleich wehrt er sich aber gegen die Übernahme traditioneller Gattungsbezeichnungen für seine Werke, denn als »Klavierkonzert« wolle er sein 1995 bis 1996 entstandenes Werk »… à la recherche …« für Klavier und Orchester keinesfalls bezeichnen, so der Komponist selbst.292 291 Kühr, Gerd  : »Berührungspunkte«, in  : Ulm, Renate (Hg.)  : »Eine Sprache der Gegenwart«, musica viva 1945–1995, München/Mainz 1995, S. 311–314, hier S. 312 292 Gerd Kühr im Gespräch mit der Verfasserin, Graz, 2. 5. 2007

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Auch seine beiden anderen Werke für ein Soloinstrument und Orchester, »Concertare« für einen Klarinettisten und Orchester (1990/91) sowie »Movimenti« für Violine und Orchester (2006) seien nicht als »Klarinetten-« oder »Violinkonzert« zu betiteln. Damit ließe sich die Frage stellen  – so man diese Äußerung des Komponisten als für das Werk bindend betrachtet –, warum »… à la recherche …« in die Reihe der hier besprochenen Werke aufgenommen wurde. Kührs Werk ist jedoch in gleichem Maße als »Klavierkonzert« zu bezeichnen, wie es bei den übrigen hier besprochenen Werken der Fall ist. Auch in »… à la recherche …« findet eine Auseinandersetzung mit der Gattungstradition statt, sowie ein Umgehen mit dem »Konfliktverhältnis« Solist und Orchester. Wie die detaillierte Analyse zeigen wird, unterscheidet sich Kührs Klavierkonzert – hinsichtlich des prinzipiellen Ansatzes – in anderen Bereichen ebenso nicht wesentlich von Werken, die von den jeweiligen Komponisten sehr wohl als »Klavierkonzerte« bezeichnet werden. Schon allein das Klavier als Soloinstrument stellte für Kühr eine besondere Hürde dar, denn gerade für ihn als Pianisten sei es schwierig gewesen, für das ihm so vertraute Instrument Neues zu erschaffen.293 In seinem Œuvre ist tatsächlich das Klavier recht selten vertreten  : Außer in gelegentlichem kammermusikalischem Zusammenhang erscheint es solistisch nur in den Werken »Dreiklangspiel für zwei Klaviere (1978/79), »Quasi una variazione« (1981), »Ricordarsi« für Streichorchester und Klavier zu vier Händen (2001/02) und »Agleia sucht Pollicino und findet Hans« für Klavier zu vier Händen (2001). »Quasi una variazione« (nach einem Walzer von Antonio Diabelli) ist somit vor dem Entstehen von »… à la recherche …« das einzige »echte« KlavierSolo-Werk Kührs. Erst zehn Jahre nach dem Klavierkonzert, im Jahr 2006, entstand das Werk »Stop the Piano« für Klavier und Zuspielung, bei dem sich aber für den Komponisten ähnliche Probleme stellten, wie Gerhard Nierhaus schreibt  : »Gerd Kührs neue Komposition ist seit langem sein erstes Werk, das für Klavier solo geschrieben wurde. Das erstaunt bei einem Komponisten, der selbst regelmäßig als Pianist auftritt und ein intimer Kenner des Instruments, seiner Möglichkeiten und seiner Literatur ist. Es falle ihm so schwer, für dieses Instrument zu schreiben, weil er die Tatsache, dass ihn jede beliebige Bewegung auf den [Tasten, sic] an so vieles erinnere, was bereits komponiert wurde, richtiggehend körperlich wahrnehme (…).«294 Noch behafteter erschien Kühr die Gattung Klavierkonzert, und aus dieser ersten Abwehrhaltung heraus ist es auch erklärbar, dass sich der Komponist erst nach jahrelangen Anfragen des Dirigenten Ulf Schirmer sowie vonseiten des ORF als Auftraggeber mit dieser Herausforderung auseinandersetzte. 293 Ebda. 294 Nierhaus, Gerhard über »Stop the Piano«, IEM Report 36/06, http://iem.at/

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Einmal begonnen, gab es aber keine Brüche während der Arbeit  : Das Werk habe er, so Kühr, »von Anfang bis Ende«295 geschrieben, d. h. der Formverlauf spiegelt zugleich den Kompositionsprozess wider. Der Titel »… à la recherche …« war zugleich das Programm für die Entstehung des Werkes, denn er sei auf der Suche nach einer Lösung für die Problemstellung »Klavierkonzert« gewesen, so der Komponist. Suchend, tastend bewegt sich in diesem Stück meist auch die Musik selbst vorwärts, großteils in leisen Bereichen der Dynamik. Zu Beginn des Werkes aber setzt der Komponist bewusst eine dramatische Geste  : Einem isolierten a in den Streichern folgt abrupt eine vielschichtige, genauestens differenzierte Tutti-Passage, in der der Solist zwar virtuos, aber doch verzweifelt versucht, gegen den Orchester-Klangkörper zu bestehen. (Einzig und allein am Ende dieses nur ca. fünf Sekunden langen Abschnittes gelingt es dem Solisten, noch zwei Sechzehntel – zwei Halbtöne tiefer als das Orchester zuvor – anzuschließen.) Mit dieser Geste habe er, so Gerd Kühr, die Virtuosität und den Traditionsballast »vom Tisch wischen« wollen.296 Erst nach der darauf folgenden Generalpause beginne das Stück tatsächlich, im bereits angesprochenen suchenden Charakter. Zugleich könnten die somit eine Einleitung bildenden Takte 1–8 eine ironische Bezugnahme auf das Stimmen des Orchesters sowie das darauf folgende »Durcheinander«297, in dem sich jeder Orchestermusiker unabhängig von seinen Kollegen einspielt, sein. Die Virtuosität, einer der »Grundparameter« von Klavierkonzerten jeglichen Jahrhunderts wollte Gerd Kühr ad absurdum führen. Nach dem »Scheitern« des Solisten gegenüber der Klangfülle des Orchesters in den Takten 6–8 erscheine im übrigen Stück die Virtuosität des Soloparts nur noch fragmentarisiert, so der Komponist im Gespräch. Tatsächlich aber findet man im gesamten Werk virtuos zu spielende Passagen, etwa in T. 35–37, T. 67 ff., T. 126 ff., T. 175 ff. u. a. Bei dieser Äußerung des Komponisten handelt es sich meiner Ansicht nach (wie auch bei seiner Abgrenzung gegenüber der Bezeichnung »Klavierkonzert«) vor allem um den Versuch, sein Werk von traditionsbehafteten Zusammenhängen zu distanzieren. Somit beschreibt Kühr 295 Gerd Kühr im Gespräch mit der Verfasserin, Graz, 2. 5. 2007 296 Diese Äußerung ist lediglich auf Kührs eigene Position während des Kompositionsprozesses bezogen zu verstehen, um frei von seinen eigenen Erwartungshaltungen, musikhistorischen Prägungen und Ansprüchen gegenüber der Gattung Klavierkonzert ein eigenständiges Werk schaffen zu können. In der Position des Hörers allerdings ist es durch eine solche Geste nicht möglich, eine vergleichbare Hörhaltung einzunehmen. 297 So bezeichnete auch der Komponist selbst die Takte 6–8, die Assoziation zum Einstimmen des Orchesters stammt nicht von Gerd Kühr. Ein ähnlicher Beginn findet sich aber in »Movimenti« für Violine und Orchester.

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eher seine eigene Haltung während des Kompositionsprozesses, jedoch nicht immer das resultierende Werk selbst. Die vom Komponisten frei gewählte (nicht etwa vom Auftraggeber vorgegebene) Besetzung sieht zusätzlich zum klassisch-romantischen Orchesterapparat (inklusive der jeweiligen Wechselinstrumente der Holzbläser, ausgenommen Englischhorn) zwei Saxophone sowie drei Schlagzeugspieler vor, deren Positionen möglichst weit voneinander entfernt sein sollen. Zwischen den einzelnen Instrumenten der drei Schlagzeugspieler können folgende Paare bzw. Gruppen mit ähnlichen oder gleichen Klängen gebildet werden, sie treten auch fast ausschließlich in diesen Kombinationen im Verlauf des Stückes auf  : Perkussion I

Perkussion II

Perkussion III

3 Tamtams 1 Claves-Paar 4 Röhrenholztrommeln 1 Bambusraspel 4 Bongos Hängende Glasplättchen Hängende Bambusrohre 1 großer Waldteufel Marimba

3 Becken 1 Claves-Paar 4 Holzblocktrommeln 1 Guiro 4 Holzplattentrommeln

Gr. Trommel 1 Claves-Paar 4 Templeblocks 1 Reco-Reco 4 Tomtoms Hängende Glasstäbe Shell Chimes Rührtrommel Xylophon

Glockenspiel Peitsche

Die Besetzung der Streicher ist auf die Angabe »mindestens 6 Kontrabässe« beschränkt, sie sollen einen entsprechend großen Gegenpart zur übrigen Orchesterbesetzung bilden. Im Klavier werden die jeweils vier tiefsten und höchsten Töne mittels der beim Stimmen verwendeten Gummikeile abgedämpft. Der in diesen Lagen ohnehin perkussive Klang des Klaviers wird so verstärkt, der Nachhall besonders in der Tiefe stark verkürzt. Der Grund dafür, dass dabei sowohl in der Tiefe als auch in der Höhe die Bereiche a bis c ausgewählt wurden, könnte darin liegen, dass die oberste und unterste Grenze des Klavierumfangs in der jeweils anderen Lage nachgebildet wurden. Formale Übersicht Gerne bezieht Gerd Kühr visuelle Überlegungen in seine Werke mit ein. Im Falle von »… à la recherche …« steht der Klaviersolist nicht nur musikalisch, sondern auch optisch (durch die rein physische Größe und Präsenz in der Mitte der Bühne) im Fokus

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

des Publikums. Diese besondere Aufmerksamkeit möchte Gerd Kühr in einzelnen Figuren des Soloparts selbst steuern, indem er z. B. die Dauer oder das Aussehen einer Bewegung in den Kompositionsvorgang mit einfließen lässt. Das theatralische Potenzial eines Pianisten (mit Zuspielband) macht sich Kühr auch Jahre später in »Stop the piano« zunutze, dort aber vor allem im Zusammenspiel mit den elektronischen Einspielungen. Gerhard Nierhaus schreibt dazu  : »So paradox es vielleicht klingen mag  : Ein Werk zu schreiben, in dem ein Pianist auf Zuspielungen trifft, die ebenfalls nach Klavier klingen, birgt ein theatralisches Potential. Denn nicht immer stimmt das, was man hört, mit dem überein, was man sieht, manchmal lässt sich nicht entscheiden, ob ›wirklich‹ gespielt wird (…).«298 Theatralik und Dramatik findet man – auch ohne optische Komponente – gleich zu Beginn des Werkes. Der erste starke Kontrast wird zwischen T. 5 und 6 durch den abrupten Wechsel zwischen einem Unisono-Einzelton in Mittellage zu einem komplexen, den gesamten Orchesterambitus und alle 12 Töne umfassenden Gewebe erzeugt. Folgende fünf verschiedene Elemente sind in den darauffolgenden, mehrschichtig aufgebauten Takten 6–8 unterscheid- bzw. zusammenfassbar  : 1. Glissando bzw. Arpeggio  : Dem Arpeggio aufwärts des Klaviers (T. 6, Gis bis dis’’’’) entspricht das Glissando aufwärts in Glockenspiel, Violine I, Violine II, Viola und Violoncello (T. 6), das nachfolgende Glissando abwärts des Klaviers (T. 6/7) wird ebenfalls in den Posaunen sowie in Violine I, Violine II, Viola und Violoncello imitiert (T. 7/8). Unterbrochen von einigen »marcato e secco«-Akkorden setzt der Solist sein Glissando rhythmisch strukturiert und mit quasi gefilterten Tonhöhen fort (Ganztonleiter in rechter Hand, fast vollständige Chromatik in linker Hand). 2. Einzelton  : In allen Instrumentengruppen findet man eine der beiden Formen des Einzeltones, entweder länger ausgehalten oder mehrmals, von Pausen unterbrochen, repetiert. 3. Triller  :Die in Holz- und Blechbläsern sowie im Glockenspiel auftretenden Triller können auch als Variante des Einzeltones betrachtet werden. 4. Kurze Glissandi  : Eine weitere Variante sowohl des repetierten Einzeltones als auch der Glissandi über einen größeren Ton- und Zeitraum sind die kurzen, wiederholten Glissandi des ersten Hornes.

298 Nierhaus, Gerhard über »Stop the Piano«, IEM Report 36/06, http://iem.at/

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5. Staccato-Linie  : Sowohl in den drei Trompeten, als auch in Marimba- und Xylophon werden schnelle Staccato-Melodien gespielt, die ihre Bewegungsrichtung rasch und oft ändern. Die starke Verzahnung von Klavier und Orchester ist bereits in diesen Anfangstakten erkennbar  : Die Tonhöhen des anfänglichen Klavier-Arpeggios (ein Zwölftonakkord) entsprechen einerseits dem gleichzeitig erklingenden Holzbläserakkord (T. 6, 2. und 3. Viertel), nur die beiden höchsten Töne (dis’’’’ und e’’’’ ) werden vom Klavier hinzugefügt. Der gleiche Akkord erklingt am Taktende (T. 6, 4. Viertel) als Trillerhauptnoten der Holzbläser, hier fehlen aber die beiden tiefsten Töne (Gis und G). Andererseits werden in den Staccato-Linien der drei Trompeten in T. 6/7 sowie für die Figuren von Marimbaphon und Xylophon, T. 6/7, ebenfalls die Töne des KlavierArpeggios verwendet. Dabei werden sie wie eine Zwölftonreihe mehrmals durchlaufen, jedes Instrument beginnt bei einem anderen Ton, die Oktavlagen werden flexibel verwendet. Die Reihenfolge der Töne dis und e wird in Marimba- und Xylophon vertauscht, ansonsten aber die ursprüngliche Reihenfolge des Klaviers (dessen Linie auch in den Skizzen Kührs als erstes aufscheint299 und somit als Ausgangspunkt zu betrachten ist) beibehalten. Der in den Takten 1 bis 6 so prominente Ton a erscheint mehrfach bzw. wird chromatisch umspielt  : in Kontrabass und Hörnern, in den Trompeten, T. 7, Mitte, sowie indirekt als (unhörbare) Mitte der Töne gis und b in Marimbaphon, Glockenspiel, Xylophon, Violine I und II, Viola und Violoncello in T. 6. Letztere setzen die Trillerfigur der Holzbläser fort, aber nicht deren Akkord  ; stattdessen wird der Ton a fokussiert. Formal betrachtet, gibt es für Gerd Kühr300 ab T. 9 (nach der achttaktigen Einleitung) folgende drei Großteile (innerhalb derer viele kleinere Abschnitte erkennbar sind)  : 1. T. 9–24 2. T. 24 (ab dem Streicherakkord)–T. 76 3. T. 77–266 Diese Einteilung ist schon allein aufgrund der sehr unterschiedlichen Längen der Teile erstaunlich  :

299 So Gerd Kühr im Gespräch mit der Verfasserin, Graz, 2. 5. 2007 300 Gerd Kühr im Gespräch mit der Verfasserin, Graz, 2. 5. 2007

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

1. Teil  : 15,5 Takte (1’43’’) 2. Teil  : 55,5 Takte (3’55’’) 3. Teil  : 190 Takte (14’05’’) Der dritte Teil würde somit mehr als zwei Drittel der gesamten Werkdauer umfassen. Da es aber gerade in diesem Teil sehr oft zu einem Wechsel des Materials, der Instrumentierung, der Harmonik, der Dynamik u. a. kommt, gibt es eine sehr kleinräumige Abschnittsbildung. Die Takte 77–266 können folgendermaßen untergliedert werden  : T. 77–86 // T. 87–106 // T. 107–111 // T. 112–117 // T. 117, Ende–138 // T. 138– 157 T. 158–162 // T. 163–170 // T. 171–184 // T. 185–193 // T. 193, Ende–199 // T. 200–208 // T. 208–221 // T. 222–236 // T. 236–241 // T. 242 // T. 243–252 (243–247, 247–252) // T. 252, Ende–257 // T. 257, Ende–266 Diese Auflistung entspricht Kührs eigener Unterteilung, denn gerade der gleichsam kurzatmige, ständig kontrastierende Wechsel von musikalischen Ideen, von Instrumentation, Dynamik und zwischen Solist und Orchester nach der deutlichen KlavierSolokadenz (T. 74–76) bildet paradoxerweise den Zusammenhang eben dieser vielen Abschnitte. Allerdings würde ich – entgegen Kührs Vorschlag – die Klavier-Solokadenz als eigenständigen Abschnitt betrachten, der sich von T. 74, Mitte bis zum metrisch freien (»senza misura«) Takt 76 erstreckt. Des Weiteren ist es möglich, aufgrund der unmittelbar anschließenden Fortführung des perkussiven Charakters der Klavier-Solokadenz und aufgrund des Wiederaufgreifens der in Letzterer ausschließlich verwendeten vier höchsten und tiefsten Töne des Klaviers ab T. 87 die Takte 74–106 als eine zusammengehörige Einheit zu betrachten. »… à la recherche …« lässt sich auch als ein Formverlauf beschreiben, in dem es auffallend oft Passagen gibt, in denen sich das musikalische Geschehen durch immer schnellere Rhythmen und eine Zunahme der Stimmenanzahl zusehends verdichtet. Solchen Verdichtungen (in ihrer Wirkung, auch wenn es sich nur um eine Zunahme der Stimmenanzahl handelt, mit einem Accelerando vergleichbar), stehen weitaus weniger häufig auftretende »Ritardandi« gegenüber. In seltenen Fällen, wie etwa in T. 76, geht mit solchen Passagen auch ein wörtlich notiertes »Accelerando« einher. Mehrere Abschnitte lassen sich anhand dieser Kategorien unterscheiden  : T. 1–37  :

mehrfache »Accelerandi«, auch verbunden mit »Ritardando« (T. 16–18), streckenweise statische Rhythmik (bzw. keine eindeutige Entwicklungstendenz) T. 38–74  : ein langes »Accelerando« T. 75–86  : mehrere kleinräumige Entwicklungen

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

T. 87–104  : ein langes »Accelerando« T. 105–116  : mehrere kleinräumige Entwicklungen (meist »Accelerandi«) T. 117–133  : statische Rhythmik (bzw. keine eindeutige Entwicklungstendenz) T. 134–196  : mehrfache »Accelerandi« und »Ritardandi« T. 197–231  : statische Rhythmik (bzw. keine eindeutige Entwicklungstendenz) T. 232–266  : mehrere kleinräumige Entwicklungen Diese Abschnitte entsprechen der oben beschriebenen formalen Unterteilung nur in zwei Fällen (T. 87, T. 117), es handelt sich daher um eine von den übrigen Mitteln zur Formbildung abgetrennte Ebene. Allerdings ist eine Verdichtung bzw. Ausdünnung des musikalischen Satzes für den Hörer gut nachvollziehbar und steht somit in direktem Widerspruch zu anderen, vom Hörer klar erkennbaren Parametern wie etwa dem Wechsel des Materials. Zum Teil finden die obenstehenden »Accelerandi« und »Ritardandi« nur in einem einzigen Instrument statt, wie etwa in T. 169 (Klarinette 1), vielfach kommen sie auch nur im Solopart vor. U. a. die beiden längsten »Accelerandi« aber betreffen das gesamte Orchester. An mehreren Stellen im gesamten Werk kommt es zu einer unmittelbaren Aufeinanderfolge eines »Accelerandos« und eines »Ritardandos«. Dies ist etwa in den Takten 158–160/161–162 der Fall, weiters in T. 173–176/177–180 oder auch in T. 248–249/250–251 (252). In den Takten 16–24 folgt hingegen ein »Accelerando« einem vorangegangenen »Ritardando«. An solchen Stellen wird der ansonsten eher linear gerichtete Formverlauf zugunsten eines wellenförmigen, um einen Punkt kreisenden Verlaufes aufgegeben. Einige der formalen Zäsuren, die durch die Verdichtungen und Ausdünnungen der Textur (»Accelerandi« und »Ritardandi«) entstehen, werden durch eine entsprechende Dynamik verstärkt. In T. 38 etwa kommt es auch in der Dynamik zu einem (leisen) Neubeginn, es folgt ein stufenweiser Aufbau hin zu immer lauterer Dynamik und einem neuerlichen Bruch in T. 76/77. Dem entspricht das erwähnte langgezogene »Accelerando« von T. 38–74. Zu einer ähnlichen Bruchstelle kommt es in T. 117, eine Entsprechung der beiden Parameter ist auch ab ca. T. 200 zu finden, wo dem hinsichtlich der Entwicklung von Rhythmik und Satzdichte langen statischen Abschnitt die ab T. 201 (bis zum Ende des Werkes) ausschließlich leisen dynamischen Stufen entsprechen. An anderen Stellen aber ist die Dynamik mit anderen Parametern bzw. mit dem großformalen Ablauf gekoppelt. Die große Zäsur nach T. 8 wird etwa durch den Wechsel von maximaler zu minimaler Lautstärke unterstrichen. Zu einem leisen Neubeginn nach einem vorherigen stufenweisen Crescendo kommt es auch in T. 39, zu einer eindeutigeren dynamischen Gesamtentwicklung nach einer Folge von zahlreichen Einzelaktionen in T. 140/141. In T. 163 lässt sich ebenfalls eine Zäsur erkennen,

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

es folgt bis T. 174 ein Abschnitt im pp und ppp, bevor es zwischen T. 174 und 201 zu einem mehrmaligen Auf- und Abbau, d. h. einer wellenförmigen Dynamik, kommt. Das Spiel mit den dynamischen Extremen, also von ppp und fff bzw. darunter- und darüberliegenden Dynamiken, ist typisch für »… à la recherche …«. Abschnitte in mittleren dynamischen Stufen sind selten von langer Dauer, zumeist handelt es sich um Übergänge innerhalb eines großen Crescendos. Das Crescendo an sich scheint quasi als Motto über der dynamischen Gestaltung des gesamten Werkes zu stehen. Oft301 findet man nach einem vorangegangenen kleiner oder größer dimensionierten Crescendo kein »ausgleichendes« Diminuendo, sondern eine Bruchstelle und einen unmittelbaren Neuanfang (einen neuen Aufbau) im leisen Bereich. Charakteristisch hinsichtlich der Dynamik ist auch das Überwiegen von leisen dynamischen Stufen. Verharrt ein Abschnitt längere Zeit statisch in einer Dynamik, so geschieht das fast ausschließlich im leisen Bereich. Auch das Ende des Werkes bleibt lange Zeit über (ab T. 201, d. h. 66 Takte lang) im Bereich unterhalb von piano. (Lediglich in T. 251/252 wird für kurze Zeit noch einmal mf erreicht.) Betrachtet man den Tonhöhenumfang (Ambitus) von Klavier und Orchester gemeinsam, so zeigt sich, dass einige der oben stehenden formalen Abschnitte mit einem Wechsel des Tonraumes einhergehen (T. 77, 87, 118, 158, 208 und 257). Der Untergliederung in drei Großteile entspricht allerdings nur der Wechsel in T. 77 hin zu perkussiven Klängen. Ob also der gesamte Tonraum oder nur Ausschnitte davon verwendet werden, hängt offensichtlich nicht zwingend mit anderen Parametern und mit der formalen Gestaltung des Werkes zusammen. Der gesamte mögliche Tonraum wird oft verwendet, unterbrochen von zumeist wesentlich kürzeren Passagen, in denen beispielsweise ausschließlich im tiefen oder hohen Register gespielt wird. Einzelaspekte Im Folgenden möchte ich einige Einzelaspekte des Werkes betrachten. Danach wird die Chronologie von »… à la recherche …« beispielhaft beleuchtet, um so zu einer Art Zusammenschau der einzelnen Aspekte zu gelangen. Die Harmonik ist in diesem Werk relativ gut überschaubar und bestimmten Kategorien zuordenbar. Gerd Kühr verwendet in den meisten Fällen einen der folgenden Akkordtypen  :

301 Z. B. in T. 8/9, 23/24, 26/27, 76/77, 105/106, extrem in T. 116/117, weiters in T. 146/147, 162/163, oder in T. 193/194.

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

1. Zwölftonakkord  : Notenbeispiel 40

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Dieser erklingt zum ersten Mal in T. 6, als Klavier-Arpeggio und zugleich im Orchester. Bereits an dieser Stelle, ebenso wie im weiteren Verlauf des Stückes, wird er sowohl akkordisch, als auch als Zwölftonreihe verwendet. Er erscheint im Orchester in den Takten 6–8 und 16–24 in seiner Originalgestalt (tiefster Ton  : Gis), in den Takten 24– 33 und 42–74 um einen Halbton höher transponiert. Im Verlauf der letztgenannten Stelle werden bis zu vier Transpositionen gleichzeitig verwendet, in T. 70 (Taktmitte) beispielsweise erklingen zugleich die Originalgestalt und drei Transpositionen (Halbton tiefer, Halbton höher und Ganzton höher). Im Solopart erscheinen die originalen Tonhöhen zumeist als Zwölftonreihe, weniger akkordisch. 2. Allintervallakkord  : Notenbeispiel 41

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Anstelle von allen zwölf Tönen kommen in diesem Akkordtyp alle Intervalle von kleiner Sekunde bis großer Septime vor, in systematisch ansteigender oder absteigender Reihenfolge. Auffallend ist, dass Allintervallakkorde stets in beiden Varianten zu finden sind, z. B. erscheint in den Takten 141–146 ein Akkord, der von unten nach oben

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

immer größere Intervalle verwendet, in den Takten 149–150 ein Akkord mit umgekehrtem Aufbau, aber dem gleichen höchsten und tiefsten Ton (ais’’’ und E ). Ebenso ist dies in den Takten 193–194 und 194–195 (höchster und tiefster Ton  : h’’’ und F ) sowie in T. 195–196 und 198 (c’’’’ und Fis ) der Fall. 3. Symmetrischer Akkord  : Hier handelt es sich um Akkorde mit verschiedenstem Intervallaufbau, die aber allesamt spiegelsymmetrisch um eine Mittelachse angeordnet sind. Einige Beispiele dazu sind im folgenden Notenbeispiel ersichtlich  : Notenbeispiel 42 

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4. Tonale Bruchstücke  : Im gesamten Werk verteilt erscheinen tonale Bruchstücke. Diese sind in keinen funktional-kadenziellen Zusammenhang eingebettet. Folgende Übersicht zeigt, welche Harmonien (Dreiklänge) dabei vorkommen  : T. 26 T. 68 T. 164–165 T. 171 T. 201–207 T. 208–209 T. 222–223 T. 226 T. 236 T. 237–241

A-Dur b-Moll, a-Moll, H-Dur, g-Moll D-Dur As-Dur F-Dur A-Dur D-Dur-Moll D-Dur-Moll F-Dur F-Dur

Klavier u. Orchester Klavier Orchester Klavier u. Orchester Klavier u. Orchester Klavier u. Orchester Klavier Orchester Klavier u. Orchester Orchester

Anders, als man aus dieser klaren Zuordnung schließen könnte, verwendet Kühr jedoch in den meisten Fällen (außer in T. 68) nicht vollständige tonale Akkorde inner-

194

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

halb eines Instrumentes oder mit allen drei Stimmen simultan einsetzend. Oft werden ein bis zwei Töne vorbereitet (meist Grundton und Quinte), der dritte Ton (meist Terz) wird erst später hinzugefügt. So bleiben z. B. in T. 26 die Töne A und e’’’’ aus dem Streicherakkord zuvor liegen und werden durch das cis’’ des Klaviers zu A-Dur ergänzt. Einzig in T. 68 werden im Klavier vollständige Dur- und Molldreiklänge gespielt, dabei wechseln einander grundständige Akkorde mit Sextakkorden ab. Der jeweils tiefste Ton jedes Akkordes bildet eine kleine Sekunde mit dem höchsten Ton des jeweils nächsten Akkordes. Es handelt sich bei dieser Passage jedoch um schnelle Rhythmen, sodass sie zu den ansonsten oft über mehrere Takte sich entwickelnden tonalen Akkorden keinen Bezug erkennen lassen. Bis auf T. 171, wo As-Dur als bewusst »atonal« im Tritonusabstand zum kurz zuvor erklingenden D-Dur (T. 164–165) gedeutet werden kann, kommen im gesamten Werk nur A-Dur, F-Dur und D-Dur vor. Bei den tonalen Bruchstücken handelt es sich daher stets um solche Harmonien handelt, in denen der so zentrale Ton a Grundton, Terz oder Quinte ist. Das Verwenden von tonalen Bruchstücken kann aber auch als Bezugnahme auf den Allintervallakkord gedeutet werden. Dieser enthält in seiner Mitte zwei Mollakkorde mit oktaviertem Grundton. Zusätzlich kommen vier Töne doppelt, d. h. in zwei verschiedenen Oktavlagen vor (e, g, b und cis ), sie bilden einen verminderten Septakkord, dem jedoch in »… à la recherche …« keine besondere Bedeutung zukommt. Innerhalb des Zwölftonakkordes oder der symmetrischen Akkorde gibt es keine tonal zu deutenden Teilklänge. Die folgende Tabelle soll eine Übersicht bieten, wo im Stück welche der am häufigsten vorkommenden Akkorde zu finden sind. Ebenso wird aufgelistet, wann im Soloklavier eine andere Zwölftonreihe erklingt als in T. 6 sowie die Referenzstellen zum markanten Werkbeginn (isolierter Ton a )  :

Zwölftonakkord

Klavier

Orchester

T. 6

T. 6–8 16–33

33–35 59–62 65–66

Allintervallakkord

T. 147 150–153

171–182 203–207

42–74

T. 140–151 193–207

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Symmetrische Akkorde

Klavier

Orchester

T. 7

T. 158–162

163–167

185–193

185–193 Tonale Bruchstücke

T. 26 68 171 201–207 208–209 222–223 236

Zwölftonreihe Ton a (isoliert oder umspielt)

T. 26–32, 35–37 38–58, 63–65

T. 26 164–165 171 201–207 208–209 226

236–241

T. 1–16 33–35 37–38 42–45

Übereinstimmungen zwischen Solist und Orchester sind in der Tabelle fett markiert. In den meisten Fällen kommt es zu solchen Entsprechungen, d. h. zur gleichzeitigen Verwendung in beiden Parten. Der isoliert gespielte Ton a spielt nicht nur am Beginn, sondern auch an verschiedenen anderen Stellen des Werkes eine besondere Rolle, mitunter auch in unterschiedlichen Oktavlagen. Im Falle von T. 42 ff. entwickelt sich aus dem Umspielen von A im Orchester ein Zwölftonakkord über A als tiefstem Ton. In den Takten 37–38 wird im Orchester zwar ein 15-stimmiger Akkord gespielt, es werden darin jedoch ausschließlich die Töne a, b, es und e (in mehreren Oktaven) verwendet. Aufgrund der seit Beginn des Stückes so expliziten Verwendung des Tones a kann man diese Tonhöhenauswahl als a + obere Nebennote und die Quinte von a + ihre untere Nebennote interpretieren, die Takte 37 f. daher in obenstehender Weise zuordnen. Die vom Komponisten im Klavier verwendeten Zwölftonreihen sind nicht direkt voneinander ableitbar, weisen jedoch manche Gemeinsamkeit auf. Der Zwölftonakkord in T. 6 bildet, wie bereits erwähnt, die erste Reihe  :

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 43



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Es handelt sich hier um eine symmetrisch aufgebaute Reihe, die Symmetrieachse befindet sich zwischen den Tönen d und a. Die Töne 7–12 bilden einen Intervallkrebs der Töne 1–6. Demgegenüber sind nur die Töne 1–8 der als zweite im Stück vorkommenden Reihe (ab T. 26) symmetrisch aufgebaut  : Notenbeispiel 44



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Die Symmetrieachse liegt hier zwischen den Tönen as und d, anders als bei der ersten Reihe handelt es sich hier allerdings zusätzlich um eine Umkehrung der Intervallrichtung. (Die Töne 5–8 bilden also eine Krebsumkehrung der Töne 1–4.) Eine deutlich hörbare Gemeinsamkeit der beiden Zwölftonreihen liegt im gleichen Anfangsintervall (Halbton abwärts). Die dritte verwendete Zwölftonreihe (ab T. 38) hat mit der ersten vorkommenden noch weniger Gemeinsamkeiten  : Notenbeispiel 45



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Wie die zweite Reihe, beginnt auch diese mit dem Ton cis. Eine Ähnlichkeit zur ersten Reihe ließe sich allenfalls im letzten Intervall (Halbton abwärts) finden. Ob der Komponist selbst Zusammenhänge zwischen diesen Reihen während seiner Arbeit geplant

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

hat, lässt sich anhand der Partitur nicht rekonstruieren. Auch hinsichtlich der Intervalle, die innerhalb der drei Reihen verwendet werden, sind keine Gemeinsamkeiten festzustellen. Während in der ersten Reihe nur kleine Sekunden, große Terzen und Quarten vorkommen302, gibt es in den Reihen 2 und 3 eine wesentlich größere Vielfalt an Intervallen. Andere, in der obigen Tabelle nicht erfasste Harmonik tritt nur vereinzelt auf, wie etwa die aus mehreren Quinten und großen Terzen (bzw. zusammengefasst aus großen Septimen) bestehenden Akkorde in den Takten 70–72. Wesentlich öfter hingegen erscheinen die vier höchsten und tiefsten Töne des Klaviers (jeweils a bis c ), die zugleich aber  – verstärkt durch die Abdämpfung dieser Saiten mittels Gummikeilen  – einen äußerst perkussiven Klangcharakter haben, in ihren genauen Tonhöhen somit nur annähernd wahrgenommen werden können. Sie kommen in den Takten 87–106, 113–117 und 240–241 vor, d. h. an ganz unterschiedlichen formalen Positionen. Oftmals erscheinen sowohl im Klavier als auch im Orchester Einzeltöne oder nur zweistimmige bzw. perkussive Partien, oder aber Abschnitte mit nur schwer fassbarer Harmonik, wie es etwa die Takte 226–230 sind, in denen die Streicher rhythmisch freie, lediglich grafisch notierte Glissandi spielen. Noch schwieriger zu beschreiben sind die Multiphonics der Saxophone (T. 117– 138, 250–252), da auch die in der Partitur notierten Klänge lediglich eine Vereinfachung des realen Klanges darstellen. Folgende Korrespondenzen innerhalb der Takte 117 bis 138 lassen sich dennoch feststellen  : Beide Saxophone spielen zunächst je acht verschiedene Klänge (Sax. 1  : T. 119–126, Sax. 2  : T. 117–125). Diese werden anschließend wiederholt (T. 127–135 bzw. 127–134), danach in umgekehrter Reihenfolge, wie im Krebs, durchlaufen (T. 135–138). (Im Saxophon wird dabei auf die Wiederholung des achten Klanges verzichtet.) Der Rhythmus ist zwar genau festgelegt und einfach gehalten, in Realität aber werden vermutlich die verschiedenen Multiphonics jeweils zu einem anderen Zeitpunkt »ansprechen«, also unterschiedliche Einschwingvorgänge haben. An der einzigen Stelle, an der im gesamten Werk außerdem Multiphonics erscheinen (T. 250–252), werden andere Klänge verwendet als in T. 117 ff., zudem kommen hier lediglich zwei verschiedene Klänge zum Einsatz. An mehreren Stellen in »… à la recherche …« verwendet Kühr ein und dasselbe Verfahren zur Verbindung bzw. zum Zueinander-In-Beziehung-Setzen von Klängen, auch wenn es zu völlig unterschiedlichen Endresultaten kommt. Ein erstes Beispiel für dieses Verfahren findet man in T. 7, Klavier, wo nach dem Glissando zum ersten Mal 302 Aufgrund der oftmals oktavversetzten Verwendung einzelner Töne innerhalb des Stückes werden hier alle Intervalle auf den Rahmen von kleiner Sekunde bis zur übermäßigen Quarte reduziert.

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

symmetrische Akkorde vorkommen. Bei den insgesamt acht Akkorden aus je drei Tönen handelt es sich eigentlich nur um vier Akkorde, die bei der Wiederholung in ihrer Reihenfolge vertauscht und mit einzelnen oktavversetzten Tönen verwendet werden303, wie folgendes Notenbeispiel zeigt  : Notenbeispiel 46 



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Je zwei Akkorde ergänzen einander zu einem symmetrischen Akkord. Möglicherweise wurden der erste und vierte Akkord folgendermaßen aus dem zuvor erklungenen Zwölftonakkord abgeleitet  : Notenbeispiel 47

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Die beiden anderen Akkorde (zweiter und dritter) sind demzufolge lediglich als Spiegelbilder zu den abgeleiteten Akkorden hinzugefügt geworden.

303 Somit bleibt es bei je zwei Akkorden, bestehend aus Quinte + Halbton bzw. große Terz + Halbton.

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

In den Takten 9–16 erscheinen Vierteltöne als neues Element im Stück304, sie haben jedoch keine den Halbtönen gleichwertige Funktion, sondern entsprechen einem rhythmisch genau ausnotierten Vibrato. Trotzdem erschließen sie eine dem temperiert gestimmten Klavier unzugängliche, eigene Welt, auf die in T. 33–35, T. 42–65, T. 238–240 sowie – allerdings mit völlig unterschiedlichem Material – in T. 118–138 und T. 250–252 Bezug genommen wird. Auch innerhalb der bereits beschriebenen Multiphonics gibt es mikrotonale Klänge, die jedoch zu den genau notierten Vierteltönen keinen Bezug aufweisen. Hinsichtlich der Instrumentierung ist bemerkenswert, dass in jeder Instrumentengruppe (Holzbläser, Blechbläser und Streicher) höhere Instrumente seltener als tiefere verwendet werden. Am häufigsten kommen die Streicher zum Einsatz, ihnen folgen die Holz-, dann die Blechbläser. Während diese Verteilung wenig auffällig, da durchaus auch beispielsweise in klassisch-romantischer Orchestermusik üblich, erscheint, ist etwa eine Kombination von drei ausschließlich tiefen Instrumenten in T. 10–15 (Kontrafagott, Tuba und Kontrabass) eine außergewöhnliche und spiegelt die erwähnte Bevorzugung von tiefklingenden Instrumenten wider. Das Saxophon erscheint nicht bloß als ein der traditionellen Orchesterbesetzung hinzugefügtes Instrument (wie etwa in T. 6–8 u. a.), sondern wird wiederholt als von den übrigen Holzbläsern unabhängig bzw. dazu ergänzend eingesetzt. Zum ersten Mal in »… à la recherche …« ist dies in den Takten 16–24 (Holzbläser ohne Saxophone) und T. 28–35 (Saxophone ohne Holzbläser) der Fall. Die Streicher werden in den überwiegenden Fällen als Gruppe eingesetzt, weit weniger häufig kommen solistische Streicher oder Kombinationen von zwei oder drei Streichern vor. Der umfangreiche Schlagwerkapparat (insgesamt 25 Instrumente bzw. Instrumentengruppen), verteilt auf drei Spieler, pausiert zwar mehr als doppelt so oft, als er in Aktion tritt, wird aber quasi an strategisch wichtigen Punkten eingesetzt. Der Charakter und die Atmosphäre am Ende des Werkes beispielsweise wird besonders mitbestimmt durch die Verwendung u. a. von hängenden Glasplättchen und -stäben, kombiniert mit den höchsten Registern des Klaviers. Auch zu Beginn des Werkes, nachdem sozusagen in den Takten 1 bis 8 eine Art »tabula rasa« geschaffen wurde, wird durch die Perkussionsinstrumente ein besonders starker Kontrast zum vorherigen Geschehen durch die Verwendung von unbestimmten Tonhöhen geschaffen und zugleich die tiefsten Register von Kontrabass, Tuba und Kontrafagott innerhalb des Orchesters erweitert. Eine besondere Verbindung gehen die Schlagwerkinstrumente gerade im Falle von »… à la recherche …« mit dem Soloklavier ein. Schon durch die Art der Tonerzeu304 Einzig und allein in den Glissandi in T. 6–8 sind sie bereits enthalten.

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

gung auch als »Schlag«-Instrument prädestiniert, wird in diesem Fall der perkussive Charakter des Klaviers durch das Abdämpfen der vier höchsten und tiefsten Saiten mit Gummikeilen zusätzlich verstärkt. Ein besonders markantes Beispiel für die Verknüpfung von perkussiven Klängen des Klaviers mit jenen des Orchesters findet sich in den Takten 76 bis 106. In T. 76 (»senza misura«) spielt zunächst der Solist eine Art Acht-Ton-Kadenz, d. h. er verwendet ausschließlich die je vier höchsten und tiefsten Töne als einen Endpunkt der vorherigen Entwicklung und Steigerung. Dem hölzernen Klang der abgedämpften Saiten »antworten« in T. 77/78 drei Einzelschläge der Claves. Vorwiegend von perkussivem Charakter ist auch der nachfolgende Abschnitt, in welchem zu Röhrenholz-, Holzblocktrommeln und Tempelblöcken Luft- und Klappengeräusche sowie andere perkussive Klänge des »normalen« Orchester-Instrumentariums hinzutreten. Das in T. 87 wieder einsetzende Klavier spielt danach zwanzig Takte lang ausschließlich mit den acht erwähnten höchsten und tiefsten Tönen, u. a. ergänzt durch abgedämpfte Pizzicati der Streicher, weiteren Perkussionsinstrumenten und Saxophon-Slaps. Während alle Instrumente spätestens in T. 6 ihren ersten Einsatz haben, so unterscheidet sich ihr jeweils letztes Auftreten deutlich voneinander. Besonders auffällig ist, dass die Blechinstrumente wesentlich früher als alle übrigen Instrumente enden, in T. 197. Ab T. 233 spielen außerdem keinerlei tiefe Instrumente mehr305, über dreißig Takte lang ist dadurch der Orchesterklang von hohen und mittleren Lagen bestimmt. Am Ende des Werkes spielen ausschließlich Holzblasinstrumente, Perkussion und Soloklavier. Im gesamten Stück findet man nur wenige Tutti-Stellen, zudem sind sie lediglich von kurzer Dauer. Die einzige länger andauernde Tutti-Passage306 befindet sich in T. 64–74 und steht am Ende eines zuvor mehr als dreißig Takte langen Aufbauprozesses. Kühr verwendet das Orchester vielmehr als eine Art Reservoir von Instrumenten. Er bildet daraus oftmals wechselnde, verschiedene Gruppen bzw. Klangkombinationen. Betrachtet man die Präsenz von Solist und/oder Orchester im Verlauf des Werkes, so zeigt sich ungeachtet der Tatsache, dass die oft wechselnden Taktarten gegen eine rein statistische Auswertung der Anzahl von Takten sprechen, doch ein klares Bild  : In nur 40 Takten im gesamten Werk spielt der Solist alleine, hingegen in 96 Takten, also mehr als doppelt so oft, das Orchester ohne den Solisten. Gemeinsame Passagen gibt es in insgesamt 131 Takten, was in etwa der Summe von rein solistischen und rein or305 Auch bei der Perkussion werden nur mehr hochklingende Instrumente verwendet  : Marimbaphon, Xylophon, Glockenspiel, Guiro, hängende Glasplättchen und -stäbe, hängende Bambusrohre und Shell Chimes. 306 Lediglich die Perkussion fehlt hier.

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

chestralen Abschnitten entspricht. Auffallend ist auch, dass erst in T. 35 der Solist zum ersten Mal ohne Orchesterbegleitung spielt. Auch die Länge der Abschnitte, in denen Solist oder Orchester durchgehend, ohne Unterbrechung spielen, fällt  – statistisch betrachtet – zugunsten des Orchesters aus. Bemerkenswert ist hier, dass das Klavier häufiger kurze (weniger als zehn Takte lange) durchgehende Passagen zu spielen hat, das Orchester hingegen bei längeren Abschnitten (mehr als zwanzig Takte) deutlich überwiegt.307 Die oben vorgenommene Unterteilung in Abschnitte entspricht teilweise dem Wechsel von solistischen, orchestralen und gemeinsamen Passagen (z. B. bei T. 87, 107, 171, 184 oder 194, klarerweise auch bei T. 74–76, der Klavier-Solokadenz). Der Wechsel zu einem anderen Material trägt jedoch viel mehr zur formalen Abschnittsbildung bei. Besonders bei der obenstehenden Untergliederung des dritten Großteiles ist dies fast immer der Fall. Außerdem werden so auch die beiden ersten Großteile weiter unterteilt  : 1. T. 9–16 T. 16–24 2. T. 24–33 T. 33–35 T. 35–37 T. 37–38 T. 38–74 Interessant ist dabei vor allem der zweite Großteil  : Hier wird zunächst häufig zwischen verschiedenen Materialien gewechselt (damit verbunden wechseln auch Instrumentation, Dynamik und Registerlage), teilweise sogar nach nur zwei bis drei Takten. Ab T. 38 aber kommt es zu einem langgezogenen Aufbau und einer stetigen Verdichtung der Textur, die in einen Höhepunkt direkt vor der Klavier-Solokadenz (T. 74) mündet. Hierbei handelt es sich um den längsten ununterbrochenen Abschnitt im gesamten Werk. Die Solokadenz bekommt so einen ganz besonderen Stellenwert, wirkt sie doch als Übersteigerung des Höhepunktes. 307 Im Orchester gibt es sechs solcher Abschnitte mit einer Länge zwischen 20 und 37 Takten, im Solopart findet man hingegen nur drei Abschnitte von einer Länge zwischen 15 und 23 Takten, sowie einen Abschnitt von 51 Takten. Letzterer überschreitet zwar die maximale Abschnittslänge des Orchesters, insgesamt aber überwiegt doch der Anteil von durchgehenden orchestralen Passagen gegenüber den solistischen (183 gegenüber 109 Takten).

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Damit der Wechsel zwischen verschiedenen Materialien formbildend wirken kann, müssen ebendiese für den Hörer klar voneinander unterscheidbar sein. Dies ist in »… à la recherche …« auch tatsächlich der Fall. Die im Orchester und im Solopart verwendeten Materialien lassen sich auf folgende Elemente reduzieren bzw. zusammenfassen  : Orchester

1. Liegeton (auch Tonwiederholung) 2. Tonumspielung  : mit zwei Tönen (wie Triller) mit drei Tönen mit vier Tönen mit Vierteltönen

3. kurze Einzeltöne bzw. -schläge (Perkussion)

Soloklavier

1. Liegeton (auch Tonwiederholung, Triller, Tremolo) 2. Tonumspielung

3. kurze Einzeltöne

4. Glissando

4. Glissando

6. Akkorde

6. Akkorde (auch Oktaven)

5. wellenförmige, schnelle Bewegung

7. Perkussives

8. Saxophon-Multiphonics

5. wellenförmige, schnelle Bewegung

7. Cluster

8. schneller Lauf in eine Richtung (ab- oder aufwärts)

9. schnelle, chromatische Zwei-, Drei- oder Viertonfiguren

10. langsame, einstimmige Linie

Die Punkte 1 bis 6 werden auch im Solopart verwendet, jedoch kommen zusätzlich andere, im Orchesterpart nicht auftretende Elemente hinzu. Auffallend ist, dass die Materialien 1 und 3 (Liegeton und kurze Einzeltöne) häufig und im gesamten Werk im Solo- und Orchesterpart gleichzeitig verwendet werden, die Materialien 4 und 5 (Glissando und wellenförmige, schnelle Bewegung) hingegen lediglich in den Takten 6–8 sowohl im Klavier als auch im Orchester. Tonumspielungen (= Material 2) kommen ebenfalls selten zugleich, an nur zwei Stellen im gesamten Werk vor. Am häufigsten erscheinen im Solopart die Materialien 6, 1 und 3 (Akkorde, Liegeton und kurze Einzeltöne), in bis zu 74 Takten im gesamten Werk, im Orchesterpart die Materialien 1 und 2 (Liegeton und Tonumspielung), in bis zu 115 Takten, d. h. etwas weniger als der Hälfte des gesamten Werkes.

203

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Ebenso wichtig wie das rein statistische Überwiegen bestimmter Materialien erscheint mir auch der Zeitpunkt, wo innerhalb des Stückes welches Material zum ersten Mal erscheint. Im Falle der Tonumspielungen (= Material 2) beispielsweise kommt es erst in T. 126, also in etwa bei der Mitte des Werkes, zu einem ersten Einsatz im Solopart. Andere Elemente, wie etwa der schnelle Lauf in eine Richtung (= Material 8), kommen bereits in T. 6–8 vor, danach allerdings erst wieder ab T. 177. Wiederum andere Elemente erscheinen über das gesamte Werk ziemlich regelmäßig verteilt, dies ist etwa bei Liegetönen (=  Material 1), kurzen Einzeltönen (=  Material 3) oder Akkorden (= Material 6) der Fall. Im Orchesterpart kommt eine solch regelmäßige Verteilung bei den meisten Elementen vor (Material 1 bis 4). Die folgende Übersicht fasst die soeben beschriebene Verteilung zusammen und ermöglicht einen Vergleich des Solound Orchesterparts  :

Material 1 Material 2

Klavier

Orchester

Vergleich Klavier–Orchester

regelmäßig (im gesamten Werk)

regelmäßig

gleich

gelegentlich

Material 3

regelmäßig

Material 5

regelmäßig bis T. 72, dann selten

Material 4

Material 6

selten

regelmäßig

regelmäßig bis T. 74 und ab T. 208 regelmäßig regelmäßig

gleich

selten

regelmäßig in T. 62–111 u. ab 208

gleich

Es zeigt sich daher, dass nur die Materialien 1, 3 und 6 (Liegeton, kurze Einzeltöne und Akkorde), die auch am häufigsten auftreten, sowohl im Klavier als auch im Orchester regelmäßig, d. h. über das ganze Werk verteilt, erscheinen. Dabei handelt es sich um genau die Materialien, die für den Hörer am wenigsten prägnant sind, da sie auch in vielen anderen Werken erscheinen. Die für »… à la recherche …« charakteristischeren Materialien werden also im Klavier- und Orchesterpart in verschiedenartiger Weise eingesetzt. Sie bilden somit zugleich ein Mittel der Unterscheidbarkeit der beiden Parts.

204

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Chronologie Vergleicht man die im Vorigen besprochenen Einzelaspekte hinsichtlich der Bildung formaler Abschnitte, so zeigt sich, dass Gerd Kührs Formbildung vor allem auf dem Wechsel des Materials basiert, dem andere Parameter untergeordnet werden. Die nun folgende detailliertere Besprechung des gesamten Werkes (in chronologischer Reihenfolge) wird diese Feststellung konkretisieren. Dabei soll auf manch strukturelle Bauweise hingewiesen werden, die bis jetzt noch nicht erwähnt wurde, ebenso auf Beziehungen einzelner Texturen zueinander, auf instrumentatorische, harmonische, dynamische und andere Besonderheiten. Auch die gegenseitige Bezugnahme von Solound Orchesterpart soll an den entsprechenden Stellen besprochen werden. Die Gefahr, dass eine solche Art der Beschreibung in Einzelheiten zerfällt, ist zwar nicht nur bei »… à la recherche …« vorhanden, sie wird jedoch durch die bereits erwähnte Unterteilung in viele kurze Abschnitte (besonders des dritten Großteils) verstärkt. Dennoch lässt sich die Kompositionsweise, die Stilistik und Bauart sowie beispielsweise Kührs Umgang mit den bereits erwähnten Zwölftonreihen in »… à la recherche …« am ehesten durch einen detaillierten Blick auf den Werkverlauf beschreiben. Einige bereits zuvor im Überblick getätigte Feststellungen werden dadurch an Beispielen konkretisiert werden. Auch manche Aussagen des Komponisten (im Gespräch mit der Verfasserin) können so wiedergegeben werden. Nach der achttaktigen Einleitung sind die Takte 9 bis 16 als doppelter Rückzug zu verstehen  : Sowohl die Register- als auch die Tonhöhen-Auswahl wird (im Gegensatz zu T. 6–8) wieder reduziert, lediglich der Ton a (diesmal in der Kontraoktave) wird umspielt. Abrupt wechseln Klangdichte, Registerlage, Tonhöhenvielfalt und Instrumentation308 in T. 16, die Grundidee bleibt jedoch erhalten  : Hier wird das Umspielen eines Zentraltones mit seiner oberen und unteren Nebennote (vergleichbar einem Doppelschlag) quasi potenziert bzw. ins Multidimensionale projiziert. Die Haupttöne aber stammen wiederum aus dem Zwölftonakkord des Klavierarpeggios in T. 6. Das in den Takten 6/7 in den drei Trompeten auf der Ebene der Tonhöhen angewandte Prinzip, dass jedes Instrument ein und dieselbe Zwölftonreihe, mit jeweils unterschiedlichen Beginntönen, spielt, wird hier auf die Ebene des Rhythmus übertragen. Den Takten 16–21 liegt folgende zwölfstufige Rhythmus-Reihe zugrunde, die von Vierteln bis zu 32tel-Dezimolen hin reicht, deren Werte somit immer kürzer werden. Nur die Abfolge Achtel/Achtel-Triolen erscheint umgekehrt  :

308 Nur das Kontrafagott stellt eine Verbindung zwischen den beiden Abschnitten her.

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 48









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Diese »Grundreihe« ist im Kontrafagott zu finden, die Bassklarinette z. B. beginnt an der zweiten Position (punktierte Achtelnote), Fagott 1 an der dritten (Viertel-Triole) etc. Immer neue rhythmische Kombinationen aus den zwölf übereinandergelegten Schichten entstehen dadurch, dass die ersten sechs Werte (Viertel bis 16tel) je viermal gespielt werden, die übrigen sechs Werte aber jeweils ein Viertel lang (16tel-Quintole bis 32tel-Dezimole).309 Innerhalb dieser Kombinationen kann man streckenweise regelmäßige Muster erkennen. Laut Gerd Kühr seien diese jedoch nicht beabsichtigt gewesen oder bewusst in den Kompositionsprozess mit einbezogen worden. Hingegen bewusst  – und auch vom Hörer wahrnehmbar  – seien diejenigen Stellen, an denen zwei oder mehrere Instrumente denselben Rhythmus spielen, besonders, wenn es sich um längere rhythmische Werte wie etwa Viertel handelt. Nach genau 20 Vierteln, d. h. nach einem »Durchlauf« der zwölf Rhythmen, erscheint plötzlich eine Generalpause, in der nur das kurz zuvor angeschlagene A des Klaviers nachklingt. Der gesamte Abschnitt (T. 16–21) bleibt unverändert in einer Dynamik, pp possibile. Die Dynamik steht somit in Kontrast zur inneren Lebendigkeit dieses Abschnittes und spiegelt sich auch in der oben beschriebenen, statischen Konstruktionsweise wider. Im darauffolgenden zweiten Abschnitt, der nur zwölf Viertel andauert (T. 21–24), werden die Tonhöhen des ersten Abschnittes beibehalten. (Allerdings beginnen sie wie eine Krebsform.) Durch die Dynamik werden die Takte 21 bis 24 in sich symmetrisch geteilt, auf sechs Viertel pp possibile folgen sechs Viertel crescendo bis zum forte. Auf der Ebene des Rhythmus gibt es zwei Gruppen zu je sechs Instrumenten  :

309 Dies mag vor allem praktische Gründe haben, die Abfolge von vier 16tel-Quintolen, vier 16telSechstolen etc. wäre für den einzelnen Spieler rhythmisch sehr komplex geworden.

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

1. Picc., Fl., Kl. 1, Ob. 1, Ob. 2, Hr. 1 (höherliegende Instrumente) 2. Hr. 2, 3 und 4, Fg. 1, Bkl., Kfg. (tieferliegende Instrumente) Gruppe 1 liegt eine langsamer und wieder schneller werdende Bewegung zugrunde, komplementär dazu gibt es in Gruppe 2 zuerst eine schneller, dann eine langsamer werdende Bewegung. Die Positionen, an denen jedes Instrument beginnt, sind wie oben beschrieben um jeweils einen rhythmischen Wert der Grundreihe versetzt. In der Piccoloflöte erscheint die Grundreihe wie im Kontrafagott in den Takten 16–21, im Kontrafagott (T. 21–24) hingegen genau umgekehrt. Die sechs längsten rhythmischen Werte kommen nur einmal (statt wie in T. 16–21 viermal) vor, lediglich nach der punktierten 16tel- und der Achtelnote wurde der auf ein Viertel fehlende Restwert ergänzt. Dadurch bleibt die Dichte des Klanges viel konstanter als in den Takten 16–21. Wie in T. 21 folgt in T. 24 (genau nach einem »Durchlauf« der Rhythmusreihe) eine Fermaten-Generalpause der Bläser  ; diesmal jedoch wird diese durch einen Streicherakkord aufgefüllt, der wie das Klavier in T. 21 bereits vor Ende der Bläser überlappend einsetzt. Dieser Streicherakkord markiere – so Kühr – zugleich den Beginn eines neuen, 53 Takte langen Formteiles (T. 24 76). Durch die Überlappung und die erneut leise Dynamik (pp wie in T. 16–23) wird dieser Neubeginn vermutlich aber vom Hörer nicht als solcher wahrgenommen. Außerdem misst ein Hörer jeden Beginn eines neuen Formabschnittes wahrscheinlich an dem Kontrast, der zwischen T. 8 und T. 9 (nach der Einleitung) komponiert wurde. Die Tonhöhen des Streicherakkordes, welcher von T. 24 an mit nur kurzen Unterbrechungen durchgehend bis T. 33 gespielt wird, stammen aus dem Zwölftonakkord von T. 6, der hier einen Halbton höher transponiert erscheint (tiefster Ton A). Damit wird ein direkter Bezug zum Klavier-A in T. 21, aber auch zu T. 1–6 hergestellt. In dieses Klangfeld setzt das Solo-Klavier vereinzelte, punktuelle Töne, die trotz (oder gerade wegen) ihrer Kürze mit der Bezeichnung »sempre cantabile« versehen wurden. Vor dem ersten Klaviereinsatz, T. 26, pausieren die mittleren Streicher. Die übrig bleibenden Außenstimmen bereiten so auch harmonisch (a, e) den Klaviereinsatz (cis, als Vervollständigung von A-Dur) vor. Ab T. 28 werden manche der Klaviertöne durch die Saxophone verlängert, vergleichbar einer Pedalisierung. Der Grund für die Auswahl der Töne lässt sich anhand der Partitur nicht mehr nachvollziehen, laut Gerd Kühr sollten sie eine Art »Gegenpol« zu A-Dur bilden, was aber ebenfalls nicht streng tonal-harmonisch zu verstehen sei. Die vereinzelten Töne des Klaviers in T. 26–32 ergeben eine Zwölftonreihe, die – wie bereits erwähnt – keinen oder einen nur geringen Zusammenhang mit der Zwölftonreihe von T. 6 ausweist. Auffällig sind die beiden letzten Töne, e und a (T. 32), sie

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

sind mit den Außenstimmen der Streicher in T. 26–27 vergleichbar und stehen im darauf folgenden T. 33 auch am Beginn eines Einschubs von zwei Takten, in dem das Klavier die Töne des Streicherakkordes der Takte 24–33 paarweise von seinen beiden äußersten Enden bis zur Mitte hin spielt. Dies geschieht genau zu dem Zeitpunkt (T. 33), zu dem die Streicher diesen Akkord mit einem kleinen Glissando beenden. Bemerkenswert ist, dass die jeweils gleichzeitig angeschlagenen Töne der rechten und linken Hand auch benachbarte Töne der Zwölftonreihe von T. 26–32 sind. Dies könnte doch auf eine – anhand der Partitur ansonsten nicht nachvollziehbare – Verbindung der beiden bisherigen Zwölftonreihen hindeuten. Die Saxophone haben in den Takten 33–35 nicht mehr die Funktion eines Klavier»Pedals« (wie in T. 28–32), sondern stellen ebenfalls einen Einschub dar. Sie beziehen sich jedoch nicht – wie das Klavier – auf den Streicherakkord, sondern rufen die Takte 9 ff. in Erinnerung.310 Ab T. 35 wird im Klavier erneut an die Zwölftonreihe der Takte 26–32 angeknüpft, der »secco«-Charakter der Takte 33 und 34 wird aber weitergeführt. Die in T. 26 ff. so vereinzelt erscheinenden Töne sind ab T. 35 dicht gedrängt gesetzt, bis T. 37 kommt es zu acht Durchgängen der Zwölftonreihe, in (auch dynamisch) immer gesteigerterer Form  ; gegen Ende hin werden jeweils zwei, drei, vier und sechs Töne zusammengefasst. Zuletzt gipfelt die Zusammenballung in zwei Clustern, zugleich mit einem plötzlich einsetzenden, dramatischen Bläser-Tutti-Akkord (mit Schlagwerk). In diesem 15-stimmigen Akkord werden ausschließlich die Tonhöhen a, b, es und e (in mehreren Oktaven) verwendet. Der mögliche Bezug zur isolierten Verwendung des Tones a wurde bereits oben beschrieben. Auch mit der exponierten Setzweise der Töne a und e in den Takten 26–27, 32 und 33 kann dieser Akkord in Zusammenhang gebracht werden. Ebenso abrupt wie sie in T. 37 einsetzt, endet diese kurze, statische Klangfläche wieder in T. 38, wodurch das zuvor angeschlagene cis’ des Klaviers wie ein Schatten übrig bleibt. Es folgt eine Reminiszenz an die Takte 26 ff., mit einer neuen Zwölftonreihe des Klaviers (siehe oben, Notenbeispiel 6), welche zunächst einstimmig vorgetragen wird. Im Unterschied zu T. 26ff. sind die einzelnen Töne »legatissimo« und durch das Pedal miteinander verbunden. Dem ersten Durchlauf der Zwölftonreihe (T. 38–43) folgt ein zweiter (T. 43–46), bei dem die Reihenfolge der Töne 8 bis 12 vertauscht wird. Dadurch gelangen die Töne gis  – a an das Ende der Reihe, sie werden – isoliert – in T. 47 (rechte Hand) in anderen Oktavlagen wiederholt und bilden dort den Beginn eines Krebses der Grundreihe 310 Auch die a-Oktave des Klaviers könnte sich darauf beziehen.

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

(T. 47–51), der zugleich mit einer originalen Grundreihe in der linken Hand gespielt wird. Die Übereinanderschichtung mehrerer Reihenformen wird kontinuierlich gesteigert, von zwei Reihenformen (T. 47–51) über drei (T. 51–54, Grundreihe in der Oberstimme der rechten Hand, Umkehrung in der Unterstimme der rechten Hand, Krebsform in der linken Hand) bis hin zu vier Reihenformen in T. 56–58 (Umkehrung im dritten System, Kombination aus zwei Krebsformen und einer Umkehrungsform in den beiden anderen Systemen, wobei die einzelnen Reihentöne sowohl horizontal als auch vertikal verwendet werden). Dazwischen (T. 54–55) wird eine einzelne Umkehrungsform eingeschoben, die sich auch rhythmisch, gestisch, artikulatorisch und dynamisch von den übrigen Reihendurchgängen abhebt. Ebenfalls eingeschoben wird in den Takten 59–61 ein Zitat des Klavierarpeggios von T. 6, jedoch in viel langsamerer Bewegung und mit dem Zusatz »pesante« versehen. Es folgt (wie in T. 6) eine abwärts gerichtete Gegenbewegung, für deren Tonhöhen der Zwölftonakkord (von T. 6) um einen Halbton transponiert und in drei Teile (zwei Akkorde + ein isoliertes A am Ende) geteilt wird.311 Die darauf folgende Klavierfigur (T. 62) verwendet die originalen Tonhöhen der Zwölftonreihe von T. 6, allerdings nicht als Einzeltöne (wie in T. 59–61), sondern in einer den Takten 61–62 entsprechenden Gestalt, wiederum in Gegenbewegung (aufwärts). Erst in T. 63 wird wieder auf die Zwölftonreihe von T. 38 ff. zurückgegriffen, zunächst erscheint deren Krebsform (T. 63–64), dann die Originalgestalt (T. 64–65). Die Takte 65–66 variieren die Akkorde der Takte 61–62, beziehen sich somit wieder auf den Zwölftonakkord in T. 6. In den darauffolgenden Takten 67–72 werden die Elemente der vorigen Takte freier behandelt, Teile des Zwölftonakkordes von T. 6, kleine und große Terzen, Tremoli, Triller, Tonrepetitionen und kurze Arpeggien werden zumeist chromatisch miteinander verknüpft. In T. 68 werden Tonwiederholungen bis hin zu einem Kleincluster-Tremolo aufgeweitet, Letzteres verselbständigt sich in den Takten 69–70. Durch die einzelnen Staccato-Töne in tiefster und höchster Lage (G, gis’’’), die die Tremoli in T. 69 beenden, und ihre Erweiterung zur chromatischen Dreitongruppe im Staccato ab T. 70 wird die Solo-Kadenz des Klaviers (T. 73–76) vorbereitet. Die Töne der ersten dieser Dreitongruppen (gis, a, b) werden im letzten Tremolo (T. 70) in vier Oktaven übernommen. Dazwischen werden – »con tutta la forza e secco« zu spielende – Teile aus verschiedenen Transpositionen des Zwölftonakkordes von T. 6 gesetzt (T. 70–72). Sie treten viermal als Vierergruppen auf und werden zusätzlich unterbrochen, von Akkordrepetitionen (T. 71) und einem Kleinclusterakkord (T. 72). Schließlich tritt ab T. 72 (Tak311 Somit ist er den Takten 56–58 vergleichbar, in denen ebenfalls die Zwölftonreihe teils vertikal, teils horizontal ausgelesen wurde.

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

tende) ausschließlich das chromatische Dreitonmotiv auf, nicht nur in tiefster Lage, sondern auch in der drei- und viergestrichenen Oktave. Seit T. 42 hat sich gleichzeitig mit der soeben beschriebenen Entwicklung der Klavierstimme im Orchester ein dichtes Klangfeld aufgebaut. Rhythmisch ist dieses als Doppel-Kanon gebaut, die beiden Hauptstimmen liegen dabei in Kontrabass 2 und Basstuba. Beide verwenden ähnliche, nur in der Reihenfolge vertauschte Elemente. Von diesem Kanon ausgenommen sind die beiden Saxophone, welche ab T. 56 – wie schon in T. 28  – einzelne Töne des Klaviers pedalartig verlängern oder auch antizipieren (z. B. in T. 59). Dabei bewegen sie sich gegenüber der Klavierstimme wesentlich freier und gleichberechtigter als in T. 28, so erscheint beispielsweise in T. 63 im TenorSaxophon eine Gegenbewegung zur unmittelbar vorhergehenden Klavierfigur, ebenso in T. 64 im Sopranino  ; wohingegen das TenorSaxophon in T. 64 die darauffolgende Klavierfigur teilweise vorwegnimmt.312 Ab T. 65 aber verselbstständigen sich die beiden Saxophone, es folgt ein Wechselspiel der Töne ges und des. Kurz nachdem im übrigen Orchester das allmähliche Crescendo beginnt, wechseln die Saxophone zur Flatterzunge, verbleiben aber noch bei den Tönen des und ges. Am Ende dieser Passage (T. 68–69) spielen beide Saxophone im rhythmischen Unisono, um ab T. 69 mit zwei gleichen, nur um eine Septime transponierten Spielfiguren ein in sich kreisendes Motiv zur allgemeinen Steigerung beizutragen. Am vorläufigen Höhepunkt (T. 71, erstes Viertel) erreichen sie eine sich nach oben und unten hin öffnende Geste.313 Die beiden am Ende dieser Geste erreichten Töne As und as’’’ werden bis zum Ende von T. 73 repetiert. Auch die beiden Posaunenstimmen gehören nicht zum oben beschriebenen Kanon, sie verdoppeln vielmehr die Streicher-Glissandi jeweils vor deren Wechsel zu neuen, chromatisch versetzten Trillertönen. In T. 70 treten zur weiteren Verdichtung und Steigerung die Hörner 3 und 4 hinzu, sie zitieren in rhythmisch komprimierter und in den Tonhöhen genauer festgelegter Form die Glissandi der Hörner in T. 6–8. Zusätzlich ist eine Entwicklung zu immer kürzeren rhythmischen Werten festzustellen, was gemeinsam mit der durch immer neue Kanoneinsätze ständig zunehmenden Dichte der Textur und dem Crescendo ab T. 66 zu einer Steigerung bis hin zu T. 71 führt. Von T. 42 an umspielen jeweils zwei Instrumente einen Zentralton durch einen Viertelton höher bzw. tiefer, wobei die Vierteltöne darüber den Bläsern zugeordnet sind, die Vierteltöne darunter den Streichern. Die Haupttöne entsprechen dem 312 Einzelne Töne erscheinen dabei oktavversetzt. 313 Die Intervalle des Sopraninos werden im Tenorsaxophon teils in der Gegenrichtung (übermäßige Quar­ten und die letzte kleine Sekunde), teils in derselben Richtung (alle anderen kleinen Sekunden) verwendet.

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Zwölftonakkord von T. 6, um einen Halbton höher transponiert. Ab T. 65 jedoch erfolgt eine Umstellung von Viertel- auf Halbtöne, die Haupttöne bleiben dabei noch unverändert, in T. 65/66 beginnt mit dem Glissando des zweiten Kontrabasses eine allmähliche chromatische Rückung in allen Instrumenten bis T. 74 (vergleichbar mit der chromatischen Sequenzierung des Dreitonmotives im Klavier ab T. 71), wobei gegen Ende hin die Tonhöhen immer schneller verändert werden. Nach dem abrupten Ende des Orchesters folgt eine kurze Solo-Kadenz des Klaviers (T. 74–76). Dabei wird das Dreitonmotiv fortgeführt, in der linken Hand erscheinen zunächst die zuvor repetierten Töne H  – C  – Des als Krebs, die rechte Hand greift auf die Töne f ’’’ – fis’’’  – g’’’ von T. 73 (Taktende) zurück. Nach einer Sequenzierung und Vereinzelung der Töne des Dreitonmotives werden in T. 75–76 die höchsten, abgedämpften Töne des Klaviers erreicht, die linke Hand springt eine Oktave tiefer zu den ebenfalls abgedämpften Tönen A bis C. Diese bilden (vergleichbar den Saxophonen in T. 70) eine immer schneller und lauter werdende, um sich selbst kreisende Bewegung, die in zwei Klein-Cluster mündet. Eine durch den Pedal-Nachklang des Klaviers ausgefüllte Generalpause steht am Ende dieses ersten Großteils, der vor allem aus Trillerbewegungen bestand. Die ausschließliche Verwendung der acht abgedämpften Klaviertöne (A – C und a’’’’  – c’’’’’) in der Klavier-Solokadenz schafft durch den perkussiven Klang eine Verbindung zum nächsten – wenngleich im Charakter völlig verschiedenen – Teil (T. 77 ff.). Die drei einzelnen Claves-Schläge (in »pp dolce«), deren Einsatzabstände immer kürzer werden (T. 77–78), wirken wie eine Einleitung zum folgenden Abschnitt, in dem von T. 79 bis einschließlich T. 111 alle Instrumente perkussiv verwendet werden. Die drei Claves-Schläge davor heben sich außerdem durch ein langsameres Tempo von den Takten 79 ff. ab. Die Takte 79–111 werden fast ausschließlich vom Prinzip des rhythmischen Kanons bestimmt  : In T. 79 beginnt ein Kanon der drei Perkussionsstimmen sowie ein Kanon der  – stets ohne Ton spielenden  – drei Bläsergruppen. (Zu je einer Gruppe zusammengefasst werden Flöten, Oboen und Klarinetten, außerdem Fagotte und Hörner sowie Trompeten, Posaunen und Basstuba. Es handelt sich also um zwei ungemischte und eine gemischte Gruppe.) Der Kanon der Perkussion endet erst in T. 86, jener der Bläser bereits in T. 85, wo Klappengeräusche als neues Element erscheinen. Eine rhythmische Verdichtung und zugleich Zusammenfassung aller Bläser schließt gemeinsam mit kurzen Sondereffekten (slap tongue, Mundstück klopfen) diesen ersten Unterabschnitt (T. 77–86) ab. Zu einem Bruch kommt es vor allem in der Instrumentation, zuerst setzt das Klavier erneut ein (und knüpft dabei an das Ende der Solo-Kadenz an), kurz darauf auch die bisher ebenfalls pausierenden Streicher. Die rechte Hand der Klavierstimme beginnt

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

einen neuen Kanon (T. 87 ff.), die Imitationen folgen in der linken Hand (T. 88) sowie in den Streichern (T. 90 ff.). Wie im ersten Abschnitt dieses Teiles (T. 77–86) steht auch hier der perkussive Klangcharakter im Vordergrund  : Im Klavier werden ausschließlich die vier höchsten und tiefsten (abgedämpften) Saiten verwendet, die Streicher spielen nicht nur pizzicato, sondern dämpfen zusätzlich auch noch die Saiten ab  ; wie im Klavierpart soll dadurch möglichst wenig Nachhall entstehen. Tonrepetitionen mit rhythmisch genau festgelegten Accelerandi und Tremoli stehen am Ende dieses zweiten Abschnitts (T. 105–106), die Beschleunigungen der Klavierstimme werden in den drei Schlagzeugen gemeinsam (als Summenrhythmus) imitiert. Ein dritter perkussiver Abschnitt (T. 107–111) erscheint wie auch der zweite abrupt, zugleich beginnt ein neuer Kanon mit besonders kurzen Einsatzabständen. Ab T. 107 spielen alle Streicher ausschließlich auf den leeren Saiten, diese werden in den Schlagzeugstimmen (je vier Bongos, Holzplattentrommeln und Tomtoms) nachgeahmt. Es handelt sich nicht nur um einen rhythmischen Kanon, sondern auch die Abfolge der Saiten wird streng imitiert (wenngleich dabei in jedem Instrument unterschiedliche Tonhöhen erklingen). Bei der Wiederholung des Kanonthemas (T. 109 ff.) sind die Auswahl der Saiten, der Spieltechnik sowie der Perkussionsinstrumente freigestellt, wobei es sich aber um eine begrenzte Aleatorik handelt, in der die Instrumentalisten aus einer vorgegebenen Palette an Spieltechniken auswählen sollen. Am Ende des Kanonthemas verlängern die betroffenen Instrumente die letzte Sextole bis zum Ende von T. 111, in dem erneut ein dynamischer Höhepunkt erreicht wird. Dieser ist vergleichbar mit dem Ende des zweiten Abschnittes (T. 106), wobei hier (T. 111) die Dynamik eine wesentlich geringere ist. Kurze, collageartige Verdichtungen stehen am Ende des dritten Abschnittes (T. 112–114) und bringen zum ersten Mal seit T. 76 wieder »normal« gespielte Töne. Auch in der Tonhöhenauswahl handelt es sich um eine Referenz auf T. 76, da ausschließlich die Töne a, b, h und c gespielt werden. Die Verwendung des Klaviers im höchsten und tiefsten Register verweist ebenfalls auf T. 76, jedoch auch auf T. 87–106. Das plötzliche Erreichen der Töne Cis und gis’’’’ im Klavier (T. 113) sowie g’ und d’’ in den Saxophonen (T. 114) eröffnet eine neue harmonische Welt und bringt das Klavier wieder in den Bereich nicht abgedämpfter Töne. Auf diesen beiden neu »errungenen« Tönen insistierend beendet das Klavier alleine den dritten Abschnitt. Durch die Verwendung der Saxophone in T. 112–114 wird eine instrumentatorische Brücke zum nun folgenden, vierten Abschnitt (ab T. 117, Taktende) geschaffen. Choralartig, einander in regelmäßigen Rhythmen abwechselnd, erschließen die Saxophone mit den Multiphonics eine dem Klavier in dieser Form unzugängliche mikrotonale Klangwelt. Mit dem Wechsel der Harmonik geht auch ein Wechsel des Charakters einher, im »tranquillo e lontano« wirken die Takte 118–126 lyrisch (beson-

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ders im Kontrast zu den vorherigen abrupten Wechseln und mehrfachen Steigerungen zum ff possibile). Nervös setzt das Klavier in T. 125 mit Tonwiederholungen und chromatischen Bewegungen ein, doch zerstört es, im »pp (sempre leggiero)« gehalten, die lyrischen Klänge der Saxophone nicht. Der Einsatz des Klaviers markiert auch den Beginn der wörtlichen Wiederholung der Saxophon-Multiphonics (T. 127–134 entspricht genau T. 117–126, lediglich die Dynamik wurde verändert). Gemeinsam mit dem Klavier erscheinen ab T. 129 auch in den beiden Saxophonen plötzliche, kurze forte-Ausbrüche. Markiert durch die Erweiterung der Klavierstimme um einen Kleincluster im tiefsten Register sowie einem kurzen Ritardando davor (Ende von T. 134) wird an die Wiederholung der Multiphonics-Abfolge ab T. 135 ein Krebs-Durchlauf derselben angefügt. Die Abstände zwischen den einzelnen Multiphonics werden verkürzt, sodass daraus gemeinsam mit den regelmäßigen Repetitionen des Kleinclusters im Klavier ein Summenrhythmus von durchgehenden Achteln resultiert. Die Dynamik ist dabei meist im leisen oder mittleren Bereich gehalten. In der letzten Phase dieses ersten Abschnittes (T. 138–140) wird das Tempo der tiefen Klavierrepetitionen auf die Hälfte reduziert. Chromatisch an den Kleincluster des Klaviers (C – Cis – D) anschließend, bilden Kontrafagott und Basstuba einen Übergang zum sich ab T. 141 von unten nach oben hin immer rascher aufbauenden Streicherakkord. Die Harmonik dieses Akkordes ist jedoch nicht aus dem Zwölftonakkord von T. 6 abgeleitet, sondern besteht aus einer Allintervallschichtung (von kleiner Sekunde in der Tiefe bis zur großen Septime in der Höhe). Sobald der letzte, höchste Ton erreicht ist, wird der gesamte Akkord bis zum fff crescendiert, um – wie es bereits des Öfteren der Fall war – von einem subito pp (T. 147) gefolgt zu werden. Während die beiden Außenstimmen des Akkordes bis T. 151 ausgehalten werden und die übrigen Streicher einen Allintervallakkord in umgekehrter Richtung (von kleiner Sekunde in der Höhe bis zur großen Septime in der Tiefe) lediglich kurz einblenden (T. 149–150), spielen Klavier und Hörner Teile des ersten Akkordes (aus T. 141 ff.) in bruchstückhaften, kurzen Gesten (T. 147–152). Nach dem Ende der Streicher führt das Klavier alleine die zuvor begonnene Repetition und den Abbau seines Akkordteiles fort. Die tiefen, einzeln repetierten Töne des Klaviers finden ihre Fortsetzung in der Großen Trommel (T. 153 ff.). Gemeinsam mit jeweils gestrichenem Tamtam und Becken314 wird fünf Takte lang ein neuer Abschnitt hinzugefügt (T. 153–157), der – obwohl perkussiv – wie schon die Saxophon-Multiphonics (T. 117 ff.) als »lyrisch« im 314 Den abgedämpften (»erstickten«) Klängen der Großen Trommel stehen so weiche, allmählich einsetzende, nachhallreichere Klänge gegenüber.

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Charakter bezeichnet werden kann. Einzig der letzte Schlag der Großen Trommel bildet eine Verbindung zum gleichzeitig einsetzenden Blechbläserakkord in T. 158. In der Textur entsteht durch Letzteren wieder ein Bruch, obwohl dieser durch die gleichbleibende (leise) Dynamik gemildert erscheint. Die Takte 158 bis 162 bilden durch die ausschließliche Verwendung von Bläserakkorden einen zwar kurzen, aber in sich geschlossenen Abschnitt. Die sechsstimmigen Akkorde sind ohne Ausnahme symmetrisch aufgebaut  ; innerhalb eines Taktes bleibt die Intervallstruktur gleich, d. h. jede Intervallstruktur erscheint in drei verschiedenen Transpositionen  : Notenbeispiel 49 

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In ein übergeordnetes, symmetrisch angelegte Taktschema (3/2 – 5/4 – 4/4 – 5/4 – 3/2315) werden die in drei Gruppen geteilten Bläser mithilfe folgender Permutationen eingefügt  : ABC – BCA – CBA – BAC – ACB Die Buchstaben A, B und C stehen in diesem Schema sowohl für die unterschiedliche Instrumentation als auch für die Tonvorräte der Akkorde  : A  : Trp. 1–3, Pos. 1–2, Bt. Tonvorrat  : es , e , f , b , h , c B  : Ob. 1–2, Kl. 1, Fg. 1–2, Hr. 4 Tonvorrat  : e , f , fis, a, b, h C  : Fl. 1–2, Kl. 2, Hr. 1–3 Tonvorrat  : d , es , e , a , b , h Die drei Tonvorräte sind verschiedene Transpositionen ein und desselben Tonvorrates und bestehen aus je zwei chromatischen Gruppen von je drei Tönen. Bei den Permutationen werden fast alle Möglichkeiten ausgeschöpft, nur die Kombination CAB bleibt ausgespart. An jeweils erster Stelle im Takt stehen dabei folgende Buchstaben  : A – B – C – B – A Dies entspricht dem oben erwähnten symmetrisch angelegten Taktschema. Bei der Instrumentierung sind die drei Gruppen deutlich voneinander unterscheidbar (A  : nur Blechbläser, B  : u. a. vier Instrumente mit Doppelrohrblättern, C  : Instrumente mit weicherem Ansatz), einzelne Instrumente treten aber in zwei Gruppen auf (Klarinetten und Hörner in Gruppe B und C). Der symmetrischen Anlage der Taktarten stehen die Einsatzabstände der je drei Gruppen pro Takt gegenüber, da diese ständig variieren  : Die beiden 3/2-Takte z. B. (T. 158 und 162) werden in 5 + 4 + 3 und in 4 + 3 + 5 Achtel unterteilt. Auch die Dynamik widerspricht der Symmetrie der Taktarten, da sie in jedem Takt neu gestaltet ist. Die Akkorde des Taktes 159 bzw. 160 erscheinen in genau gleicher Lage in T. 161 bzw. 162, allerdings in vertauschter Reihenfolge. Jeweils zwei Töne pro Akkord werden länger ausgehalten als die übrigen, dabei handelt es sich ausschließlich um Quinten bzw. Quinten + Oktave  : 315 Die Länge der Takte wird also je zweimal um ein Viertel verkürzt bzw. wieder verlängert.

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Notenbeispiel 50 

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Die Positionen der ausgewählten Töne werden bei allen drei Akkorden eines Taktes wie der Intervallaufbau beibehalten. Die Zusammenklänge der länger ausgehaltenen Töne jedes Taktes (T. 158–162), die stets kurz am Taktende hörbar werden, sind folgende  : Notenbeispiel 51 

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Dabei handelt es sich um einen symmetrischen und vier nicht symmetrische Akkorde, wobei der vierte Akkord eine Transposition des zweiten darstellt, sowie der fünfte Akkord eine Transposition des dritten. Ein Veränderung tritt in T. 161 ein  : Jeder neue Einsatz wird durch die sf-Repetition der vorigen Akkorde besonders markiert. Erneut kommt es zu einer plötzlichen Unterbrechung der Textur, es folgt ein Klavier-Solo mit Orchesterbegleitung (T. 163–170 bzw. –172). Die isolierten, »molto secco« zu spielenden pp-Akkorde des Klaviers zitieren die Akkorde der zuvor erklungenen Takte 158–162. Da wie dort gibt es je drei Akkorde pro Takt, mit dem Unterschied, dass die einzelnen Takte zuvor (T. 158–162) durch kleine Zäsuren voneinander unterscheidbar gemacht wurden. Die Reihenfolge der Akkorde von T. 158 ff. wird im Klavier außerdem vertauscht, wie folgende Übersicht zeigt  :

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester Orchester

T. 158, 1. Akkord 2. Akkord 3. Akkord T. 159, 1. Akkord 2. Akkord 3. Akkord T. 160, 1. Akkord 2. Akkord 3. Akkord

Orchester

Klavier

T. 161, 1. Akkord 3. Akkord 2. Akkord T. 162, 2. Akkord 3. Akkord 1. Akkord

1. Akkord, T. 163 T. 164 T. 165 2. Akkord, T. 164 T. 165 T. 163 3. Akkord, T. 165 T. 164 T. 163

Die Abstände zwischen den Klavierakkorden variieren von Takt zu Takt. Bezeichnet man den Intervallaufbau der Akkorde mit Buchstaben, so lässt sich folgendes Schema der Takte 163–165 erkennen  : abc – abc – abc (überm. Quart – gr. Sekunde – kl. Terz – gr. Sekunde – überm. Quart = a, siehe alle Akkorde in T. 158, kl. Sekunde – kl. Sekunde – Quart – kl. Sekunde – kl. Sekunde = b, siehe T. 159 kl. Sekunde – Quint – kl. Terz – Quint – kl. Sekunde = c, siehe T. 160) In T. 166 tritt ein vierter, nicht symmetrischer Akkord hinzu, der Akkord b ersetzt  : gr. Sekunde – Quart – überm. Quart – Quint – kl. Sekunde = d Das Schema wird damit in den Takten 166 – 167 folgendermaßen fortgeführt  : adc – adc – adc Die ersten drei Akkorde des Taktes 166 wiederholen den Rhythmus des vorigen Taktes (ohne Viertelpause am Ende). Zugleich mit jedem zweiten316 Klavierakkord setzen ab T. 164 solistische Streicher mit einer eindeutig tonalen Referenz, einem D-Dur-Septakkord, ein. (Die Septime, c, setzt nur einen Klavierakkord später ein.) Glissandierend erreichen sie in T. 167 den letzten Klavierakkord, den sie ab T. 168 gemeinsam mit allen übrigen Streichern wie ein Pedal verlängern. Die kleine Terz h – d’ in der Mitte des Akkordes wird durch AltSaxophon, Klarinette und Kontrabass chromatisch aufgefüllt. Das in T. 170 alleine übrig bleibende c’ des Kontrabasses wird Teil des zweiten tonalen Referenzakkordes im nun folgenden Klavier-Solo-Abschnitt  : As-Dur. Die 316 D. h. mit Akkord 1 und 3 in T. 164, mit Akkord 2 in T. 165.

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Kombination der – wohl bewusst »atonal« im Tritonus-Abstand gesetzten – Akkorde D- und As-Dur würde ab T. 174 besonders deutlich317 hörbar werden, wenn nicht in den beiden Takten zuvor die Töne as – es – a – d und fis in den Kontext eines Allintervallakkordes gestellt worden wären. Als Ausgleich zur zuvor eher zurückhaltenden Virtuosität des Solisten gedeutet werden könnten die wie besessen immer schneller repetierten Akkorde, die sich mehrfach in Arpeggien auflösen (T. 173, Taktende – 185) und rasch nahezu den gesamten Klavierambitus erschließen. Den Takten 180 ff. liegt – wie bereits den Takten 171 bis 180 – ein Allintervallakkord zugrunde, dessen Intervalle aber nach oben hin immer größer werden (im Gegensatz zum Allintervallakkord in T. 171 ff.). Der abrupte Einsatz von Blechbläsern und Glockenspiel verstärkt den in T. 182 erreichten Höhepunkt der Klavierkaskaden und führt crescendierend zu dessen plötzlichem Abbruch. Ganz im (dynamischen) Gegensatz dazu folgen (T. 183–184) im Solo-Klavier zwei fragmentarische Arpeggien und Akkordrepetitionen, was als eine Zurücknahme der in den Takten 171–182 ausgebrochenen Virtuosität gedeutet werden kann. Anders aber als die Akkorde und Arpeggien in T. 170–181 werden die Tonhöhen der Arpeggien in T. 183–184 nicht aus Allintervallreihen abgeleitet. Stattdessen werden folgende zwei Akkorde unmittelbar aneinandergefügt, welche einander zum Zwölftontotal ergänzen würden, wenn man in einem Akkord den einzigen gemeinsamen Ton g durch e ersetzt318  : Notenbeispiel 52

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317 Der einzig gemeinsame Ton, c, der in T. 166 noch zu D-Dur zugeordnet werden kann, bleibt auffallenderweise ab T. 173, Taktende, ausgespart. 318 Die im Notenbeispiel verwendeten Oktavlagen entsprechen dem letzten Auftreten der beiden Akkorde in T. 184, im Takt davor erscheinen sie auch in anderen Oktavlagen.

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Beide Akkorde sind nicht symmetrisch aufgebaut, ein Zusammenhang mit in diesem Werk bisher verwendeten Akkorden ist nicht erkennbar. Der gemeinsame Ton g wird in T. 184–185 durch das Horn besonders hervorgehoben. (Dieser Effekt ist außerdem mit den »Pedalisierungen« einzelner Klaviertöne durch das Orchester in den Takten 26 ff., 56 ff. und 168 ff. vergleichbar.) Bezüge zwischen verschiedenen Texturen sind im bisherigen Stückverlauf mehrfach feststellbar gewesen, ein Selbstzitat, wie es in den Takten 185–189 der Fall ist, kam bisher aber noch nicht vor. Die Klavierstimme der Takte 185–189 entspricht genau den Takten 163–167.319 Wurden zuvor lediglich dezente Streicher-Glissandi hinzugefügt, wodurch die Rolle des Klaviers als Solist unbestritten blieb, tritt hier das Klavier als gleichberechtigter Partner zu den einzelnen Orchestergruppen auf. Die zuvor isolierten Klavierakkorde werden Teil eines durchbrochenen Satzes, eines Puzzles, welches aus vielen einzelnen, kurzen Akkorden besteht. Die isolierten Klavierakkorde werden gleichsam um eine räumliche Perspektive ergänzt. Wie das Klavier verwendet auch das Orchester beinahe ausschließlich die oben (zu T. 163 ff.) beschriebenen vier Akkorde, der Wechsel von Akkord b zu Akkord d findet gegenüber dem Klavier verspätet statt. Fallweise treten zusätzlich folgende sechs andere Akkorde auf, jeder von ihnen jedoch nur ein einziges Mal  : Notenbeispiel 53 

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Diese Akkorde sind teilweise (wie Akkord a, b und c) symmetrisch (Akkord f ), teilweise nicht symmetrisch (Akkord e, g, h, i, j, wie Akkord d). Die Intervalle des Akkor319 Nur die Viertelpause am Ende von T. 167 fehlt im entsprechenden T. 189.

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

des i entsprechen jenen von Akkord h, in genau umgekehrter Reihenfolge. (Dieses Verfahren der Umkehrung hat Kühr bereits bei den Allintervallakkorden angewendet.) Akkord f könnte teilweise aus einer Transposition der Zwölftonreihe von T. 6 abgeleitet worden sein  ; gegenüber deren ausschließlicher Verwendung der Intervalle große Septime, Quinte und großer Terz wird in Akkord f lediglich eine kleine Sekunde hinzugefügt. Die Tonvorräte aller sechs zusätzlichen Akkorde entsprechen Transpositionen der Tonvorräte der übrigen Akkorde. Die in ihren Intervallen so unterschiedlichen Akkorde haben also in den Tonvorräten eine gemeinsame Basis. Ab T. 190 werden in allen vier Instrumentalgruppen ausschließlich die Akkorde a, d und c (immer in gleichbleibender Reihenfolge) verwendet. Diesen drei verschiedenen Akkorden liegt stets ein und derselbe Tonvorrat zugrunde. Dabei ergänzen jeweils zwei Gruppen einander rhythmisch, nämlich Klavier und Schlagwerk sowie Holzbläser und Streicher. Der unmittelbar an die crescendierenden und sich beschleunigenden, obsessiv wiederholten Patterns anschließende Blechbläser-Akkord bildet den Beginn eines neuen Abschnittes (T. 193, Taktende bis T. 200), in dem Bläser- und Streicherakkorde einander abwechseln. Als »Vermittler« zwischen diesen beiden Gruppen dienen die Kontrabässe. Sämtliche Akkorde von T. 193 bis T. 198 sind Allintervallakkorde, wobei die Richtung der Intervalle (von kleiner Sekunde bis großer Septime nach oben oder nach unten hin ansteigend) stets wechselt. Ab T. 198, Taktende, bleiben die beiden Rahmentöne des letzten Akkordes alleine übrig und bilden einen konstanten Hintergrund für die darauf folgende Klavier-Solo-Passage (T. 201–208). Ein ähnlicher Effekt wird bereits in T. 26–27 sowie in T. 147 ff. verwendet, an diesen Stellen ebenfalls zur Hervorhebung eines neuen Klaviereinsatzes. Die  – zwar durch fünf Oktaven getrennte, aber doch deutlich wahrnehmbare  – Quinte f – c wird durch das Klavier zu F-Dur ergänzt. Zugleich wird durch die Oktavierung des Tones a der in T. 208 ff. erscheinende A-Dur-Akkord vorbereitet. Ab T. 208, Taktmitte, wechselt die führende Rolle vom Klaviersolisten zu den beiden Saxophonen (vergleichbar den Takten 118–126). Tonlose Effekte der Streicher und Holzbläser werden hinzugefügt, was vermutlich auf die Takte 79 ff. verweisen soll. Direkt anschließend beginnt ab T. 214 (Taktmitte) ein neuer, choralartiger Abschnitt, der von den »sempre ppp, molto lontano«320 spielenden Saxophonen bestimmt wird. Die Streicher spielen dabei eine ihnen untergeordnete Pedal- bzw. Echorolle, wobei der dynamische Höhepunkt der Streicher stets mit dem Einsatz der beiden

320 Eine Bezugnahme auf das »pp lontano« des Klaviers in T. 201 ff.

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

neuen »Choral«-Töne der Saxophone zusammenfällt.321 In den beiden Saxophonen treten dabei alle Intervalle von der Prim bis zur Oktave auf – die Allintervallakkorde wurden somit um zwei Intervalle erweitert. Wie es aber zur genauen Auswahl der Tonfolgen kam, ist aufgrund der Partitur nicht rekonstruierbar. (Es handelt sich jedenfalls nicht um Zwölftonreihen). Am Beginn und Ende dieses Saxophon-»Chorals« stehen wiederum Teile aus dem schon in T. 208 erklungenen A-Dur. Sieben Oktaven liegen zwischen den gleichzeitig angeschlagenen, langsam repetierten Tönen A und a’’’’ in T. 221, trotzdem bezieht sich diese Stelle auf die Takte 201–202, wo die Oktave a – a’ ebenfalls dreimal langsam wiederholt wurde. Auf die Takte 38 ff., möglicherweise auch auf die Takte 26 ff., verweisen die nun folgenden einzeln angeschlagenen, doch mit Pedal verbundenen Töne, die zunächst d-Moll bzw. D-Dur andeuten, sich aber am Ende chromatisch dem zuletzt (T. 224–226) liegenbleibenden A – cis (eine erneute Reminiszenz an A-Dur) annähern. Auffallend sind dabei die großen Sprünge, die vor allem die in sich repetitive Intervallstruktur (kleine Terz – kleine Sekunde – kleine Terz – viermal kleine Sekunde) verunklaren. Wie es bereits in T. 221 (am Beginn des soeben beschriebenen Klavier-Solo-Abschnittes) der Fall war, überlappen auch in T. 225–226 einander das Ende des KlavierSolos und der Beginn des darauffolgenden Streicher-Abschnittes. Die Kontrabässe spielen bis T. 230 (Taktmitte) die einzige rhythmisch genau ausnotierte Stimme, alle übrigen Streicher-Glissandi sind in ihrem Zeitverlauf nur grafisch notiert. Das Notenbild täuscht über das tatsächliche Klangresultat somit hinweg, da jeder einzelne Streicher quasi solistisch agiert. In den Kontrabässen wird der Ton d zunächst chromatisch, dann mikrotonal umspielt, während die übrigen Streicher zwischen den Tönen f – fis und gis – a wechseln. Dieser Wechsel wird ab T. 230, Taktmitte, wieder in allen vier Stimmen genau koordiniert, dabei entsteht eine (klangliche) Mischung aus D-Dur, d-Moll und dem Ton gis.322 Erneut überlappend setzt das Klavier in T. 231 mit einer kurzen Referenz zu T. 221 (A – a’’’’) ein. Die Pause bis zum nächsten Einsatz (T. 232, zweite Takthälfte) hat beinahe dieselbe Länge wie in T. 221–222, was den Schluss nahe legt, dass die Repetitionen des Taktes 221 sozusagen unhörbar präsent sind. Das Changieren der Streicher zwischen f – fis und gis – a (T. 226–232) entspricht dem Wechsel des Klaviers zwischen rechter und linker Hand (cis – d bzw. cis – c) in T. 232–236. Zugleich wird der Ton cis chromatisch nach oben und unten hin erweitert  :

321 Vergleichbare »Pedalisierungs«-Effekte kamen bisher in den Takten 26 ff., 56 ff., 168 ff. und 184 f. vor. 322 Besonders der Basston d   – ab T. 229, Taktmitte, ohne Umspielungen  – berechtigt zu einer solchen tonalen Deutung.

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 54



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Die ab T. 234 hinzugefügte Tripeloktave G – g’’ könnte aus einer Weiterführung dieser chromatischen Erweiterung entstanden sein. Wie es bereits seit T. 221 der Fall ist, setzt ein neuer Abschnitt überlappend mit dem Ende des vorigen Abschnittes in T. 236 ein. Dabei wird zunächst die Oktave c’– c’’ in den Saxophonen exponiert, woraufhin sie von den beiden Klarinetten übernommen und wie die Töne f’ und a’ in den beiden Flöten mikrotonal umspielt wird. Der Geräuschanteil ist dabei allerdings durch die Tremoli (Flatterzunge), die Angabe »sempre pp possibile« sowie die ausnotierten Accelerandi höher als die Unterscheidbarkeit der einzelnen Tonhöhen. Die Takte 237–241 haben mehrfache Bezugspunkte  : Zum einen verweisen sie auf das mikrotonale Umspielen eines Tones der Takte 9 ff., T. 33–35 und T. 42 ff., zum anderen auf die ausnotierten Accelerandi der Takte 16 ff., 21 ff. und 69 ff. sowie auf die Tremoli (Flatterzunge) in T. 37–38, T. 168 (Saxophon) und T. 182 (Blech). Mit einer Referenz u. a. zur Klaviersolokadenz (T. 76) beenden das Klavier mit den regelmäßig wiederholten, in höchster und tiefster Lage abgedämpften Tönen a und c sowie beide Saxophone mit dem (als Slap gespielten) Ton f ’ diesen Teil im schon zuvor umspielten F-Dur. Erstmals seit T. 185 trennt in T. 242 eine zumindest kurze Pause den zu Ende gegangenen Abschnitt vom darauffolgenden, der Ton f ’ bildet aber eine Verbindung. Wie stillzustehen scheint plötzlich die Musik, um dem vermutlich traditionsbehaftetsten Moment des gesamten Stückes Raum zu geben  : einem halbtönigen »Seufzer«-Motiv der Solo-Bratsche. Kühr setzt sich somit nicht nur – wie im übrigen Werk – mit der Tradition der Gattung Klavierkonzert, mit tonaler, zwölftonaler und AllintervallHarmonik, mit tradierten Spieltechniken des Klaviers, mit Virtuosität, der Rolle eines Solisten gegenüber einem Orchester, mit satztechnischen Traditionen wie Kanons, Verzierungstraditionen wie Umspielungen eines Tones u. ä. auseinander, sondern nimmt hier auch plötzlich Bezug auf traditionelle rhetorische Figuren. Viel wichtiger noch als der historische Bezug erscheint mir aber der Versuch, eine Gefühlslage des Zuhörers heraufzubeschwören, die der tradierten Bedeutung des »Seufzer«-Motivs ähnelt. Diese Deutung lässt sich vor allem durch den Kontext rechtfertigen, in den die Figur gesetzt wird. Spätestens seit T. 185 beziehen sich die einzelnen Abschnitte zunehmend auf bereits zuvor erklungene Passagen. Die Musik kreist immer mehr um sich selbst, ein Abschnitt folgt  – ohne direkte Konsequenzen  – dem anderen, Steigerungen werden

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

mehrmals herbeigeführt, doch bei Erreichen des Höhepunktes stets abgebrochen bzw. (von einem neuen Abschnitt) unterbrochen. Mit dem »Seufzer«-Motiv erscheint mir hier das Ende dieser zunehmenden formalen »Pattstellung« erreicht, auch das offene Ende des Werkes wird durch die immer losere Aneinanderfügung musikalischer Gedanken vorbereitet. Die darauf folgenden zwei langsam aufsteigenden Linien des Soloklaviers (T. 243 ff.) beziehen sich motivisch u. a. auf die Takte 38 ff. und 59 ff., in der Auswahl der Tonhöhen aber auf die Takte 232 – 236  : Notenbeispiel 55 



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In T. 243 wie in T. 246, am Ende der beiden aufsteigenden Linien, verkürzen sich die Dauern der Notenwerte, es handelt sich also um ein rhythmisch genau ausnotiertes Accelerando. Erneut werden die klaren, einfachen Rhythmen des Soloklaviers in eine changierende, schillernde Klangfläche rund um e’’’ aufgebrochen (T. 247–251). Die Kombination aus Klavier, Marimbaphon, Glockenspiel und Xylophon erscheint dabei zum ersten Mal in diesem Werk. Ein motivischer und klanglicher Bezug zu früheren Abschnitten wird durch die beiden Saxophone geschaffen, die in einem kurzen Einschub die Quinte a – e aus T. 208 bzw. 214 zitieren sowie – genau am Ende der regelmäßigen Repetition des Tones e’’’ im Marimbaphon – die Welt der Multiphonics in Erinnerung rufen. Die Tonhöhen des Xylophons entsprechen zunächst exakt jenen des Klaviers (jedoch in völlig unterschiedlichen Rhythmen), erst am Ende weichen sie voneinander ab. Direkt an den letzten Klavierton (T. 252) anschließend und dennoch in Instrumentation, Artikulation, Oktavlage (in etwa ein bis zwei Oktaven tiefer als zuvor) und Tonhöhenauswahl kontrastierend, erscheint der nun folgende Abschnitt (T. 252, Taktende–257). Dieser ist in der melodischen Bewegung erneut wie ein Kanon gebaut323, je 323 Nur die erste Flöte spielt in Gegenbewegung (Umkehrungsform) zu den drei übrigen Instrumenten.

Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

zwei Haupttöne werden von zwei chromatischen Nebennoten umspielt. Die Haupttöne aller vier Instrumente sind jeweils einen Halbton voneinander entfernt  : Flöte 1  : Flöte 2  : Klarinette 2  : Klarinette 1  :

fis, g f, ges e, f es, e

Mit dem Beginn des Werkes (T. 21) vergleichbar wird in T. 255 die Bewegung kurz unterbrochen und um Marimbaphon, Glockenspiel, Xylophon und Klavier erweitert fortgesetzt. Die in T. 256/257 als einzige Bewegung übrig bleibende Klavierstimme bildet einen fließenden Übergang zum letzten Abschnitt (T. 257–266). Zunächst wurden dazu Reminiszenzen an frühere Passagen des Werkes gesetzt, Klarinette 2 etwa verweist mit dem zu- und abnehmenden Vibrato auf dem Ton e’’ auf T. 249 (Saxophone), die als Slap gespielten Oktaven e’  – e’’ in den beiden Saxophonen (T. 257) beispielsweise nehmen auf T. 241 u. a. Bezug. Die Klavierstimme selbst erinnert durch ihre rasche, chromatische Bewegung im höchsten Register an die Takte 126ff., 247 ff oder 255 f., durch den Wechsel zwischen höchstem und tiefstem Register an die Takte 59 ff., 73–76, 87 ff. und beispielsweise T. 203 ff. sowie durch die isolierte Verwendung des Tones A (T. 257–258) etwa an T. 9 ff. Neu ist hingegen der Einsatz von Guiro und hängenden Glasplättchen und die Zuordnung von rechter und linker Hand des Pianisten zu den weißen und schwarzen Tasten. Während die gegenläufigen Rhythmen in rechter und linker Hand des Klaviers in T. 257–258 noch genau ausnotiert werden, so bleibt die genaue Ausführung der letzten Klavier-Passage dem Interpreten überlassen. Kühr gibt dabei lediglich einen Tonvorrat an, der auch dem Tonvorrat der Figur in T. 257–258 entspricht  ; außerdem folgenden Ausführungshinweis  : »Die aus diesem Tonvorrat gebildeten Figuren sind so leise und so schnell wie möglich auszuführen, immer mit unterschiedlichem Rhythmus in beiden Händen, mit einmal mehr, einmal weniger Pedal. Die Reihenfolge der Töne soll jedesmal anders sein, ebenso wie die Länge sowohl der Figuren als auch der Pausen bzw. Zäsuren  ; gegen Schluss jedoch nach und nach längere Pausen einhalten.«324 Warum der Komponist am Ende dieses – mit Ausnahme der Streicherglissandi in T. 226 ff. – ansonsten genau ausnotierten Werkes auf Mittel der (begrenzten) Aleatorik zurückgreift, lässt sich nur vermuten. Vielleicht soll damit ein möglichst offenes Ende ermöglicht werden. (Nur der Pianist weiß, wann genau das Werk enden wird – und auch dies entscheidet er erst im Moment der Ausführung.) Vielleicht spiegelt 324 Siehe Partitur, S. 44.

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Gerd Kühr  : »… à la recherche …« für Klavier und Orchester

sich darin aber der Titel des Werkes wider  : »… à la recherche …«, d. h. die Musik, der Komponist, die Interpreten bzw. die Hörer suchen allesamt nach einem Ende für dieses Werk.325

325 Auch die Punkte am Anfang und Ende des Titels könnten auf eine solche Offenheit hinweisen.

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Als Auftragswerk des ORF für die Salzburger Festspiele, den »Steirischen Herbst« Graz und das Festival Wien Modern komponierte Michael Jarrell in den Jahren 2000/2001326 sein Klavierkonzert mit dem programmatischen Titel »Abschied«. Dieser Titel hat jedoch keinen Bezug zu etwaigen Wünschen des Auftraggebers, sondern ist vielmehr aufgrund eines tiefgreifenden persönlichen Ereignisses entstanden. (Während der Arbeit am Klavierkonzert starb Jarrells Vater.) Ebenfalls aus diesem Grund trägt die Partitur eine doppelte Widmung  : »pour Thomas Larcher« (dem Pianisten der Uraufführung) und »à la mémoire de mon père«. Zum Zeitpunkt der tragischen Nachricht war zwar ein Großteil des Stückes bereits fertig komponiert, doch wurde Jarrell dadurch veranlasst, es grundlegend zu verändern und den schnellen, energiegeladenen Teilen Abschnitte in wesentlich langsamerem, meditativerem Duktus gegenüberzustellen.327 Einziges Zugeständnis an den Auftraggeber könnte die Wahl eines deutschen Titels sein, die meisten übrigen seiner Werke bezeichnet Jarrell französisch. Übernahmen und Bearbeitungen »Abschied« ist zwar ein eigenständiges Werk, doch gibt es mehrere Abschnitte, die Jarrell aus anderen, früher entstandenen Werken übernommen hat. In der folgenden Übersicht sind einige solcher Abschnitte und die ihnen entsprechenden Passagen anderer Werke einander gegenübergestellt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit  : 326 Am Titelblatt der Partitur (Editions Henri Lemoine, Paris, 2001) ist allerdings als Entstehungszeitraum »2001–2005« angegeben. 327 Aus der kurzen Werkeinführung Stefan Frickes im Almanach Wien Modern 2001 (anlässlich der Aufführung von »Abschied« am 12. November 2001 im Wiener Musikverein) könnte man schließen, dass auf einen schnellen ausschließlich ein langsamer Teil folgt, wenn er schreibt  : »Der energetische und meist in hohen Registern stattfindende Drive verändert seine Richtung  : Das Stück wird langsam, sucht tiefe Gründe auf, operiert verstärkt mit Resonanzen, artikuliert sich als eine Musik, die verschwindet, die ›Abschied‹ nimmt (daher auch der Titel). Das zuvor Erzählerische hält nun inne, öffnet Räume des Nachdenkens, des Schweigens, des Erinnerns.« (Fricke, Stefan  : »›Abschied‹ von Michael Jarrell. Eine Notiz«, in  : Almanach Wien Modern 2001, S. 133) Derselbe Text findet sich teilweise auf http://www. editions-lemoine.fr/fr/, dort ist als Autor allerdings Michael Jarrell angegeben.

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

»Abschied«

»Assonance IX« für Klarinette u. Orchester (2000)

T. 67–92

T. 105–130

T. 142

T. 187

T. 104–107 (tw.) T. 145–149

T. 152–163 T. 214–243

T. 244–250

T. 253–265

T. 277–291

T. 292–293

»From the leaves of shadow« für Viola und Orchester (1991)

T. 131–134 T. 188–192

T. 193–204

T. 1–30

T. 150–156 (um einen Halbton transponiert) T. 114–126 T. 78–92

T. 93–94

Größtenteils wurde die bereits früher komponierte Musik genau gleich übernommen, gegebenenfalls der veränderten Orchesterbesetzung leicht angepasst. Die Takte 244–250 von »Abschied« wurden gegenüber den Takten 150–156 aus »From the leaves of shadow« um einen Halbton tiefer transponiert. Auffälligerweise werden zuerst Passagen des Klarinettenkonzertes zitiert, dann  – getrennt davon  – aus dem Violakonzert. Zusammenhänge mit dem an späterer Stelle genauer auszuführenden formalen Ablauf und den sechs Teilen von »Abschied« sind nicht immer gegeben, so endet zwar das erste oben angeführte Zitat mit dem Ende des ersten Teiles (T. 92), die erste Entsprechung zum Violakonzert (T. 214–243) hingegen geht über diese Unterteilung hinweg. Wie aus den Taktzahlen der obigen Tabelle ersichtlich wird, stehen die zitierten Stellen in den »originalen« Werken in völlig anderen formalen Zusammenhängen. Die Takte 277–291 von »Abschied«, die am Ende des Werkes den Beginn des Rückzuges des Orchesters bilden, stehen in »From the leaves of shadow« im ersten Werkdrittel, wo sie eher wie eine Insel innerhalb des sie umgebenden Geschehens wirken. Auch die Takte 214–243 des Klavierkonzertes stehen im Violakonzert an völlig anderer Stelle, nämlich gleich zu Beginn des Werkes. (Dass ihnen somit eine ganz andere formale Funktion zukommt, ist offensichtlich.) Unmittelbar daran angeschlossen erscheint eine viel spätere Stelle des Violakonzertes (T. 150 folgt somit auf T. 30), auch hier werden also die ursprünglichen formalen Zusammenhänge aufgebrochen. Dennoch bemerkt man als Hörer keinerlei »Nahtstellen« aufgrund der Zitate. Sie wurden vom

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Komponisten harmonisch in das jeweilige kompositorische Umfeld eingefügt bzw. dieses den Zitatstellen entsprechend komponiert. Auf ein und dasselbe Material mehrmals zurückzugreifen, ist für Jarrell keineswegs untypisch. Der von Peter Szendy beschriebene Fall ist jedoch mit dem vorliegenden nicht ident, wenn er schreibt  : »(…) it seems that composition, for Jarrell, often comes back to recomposition, as in the case of the series of eight Assonances, which he describes as a sketchbook. He is fascinated by artists like Giacometti or Varèse, who incessantly rework the same idea.«328 Ob man eine Idee für mehrere Werke zum Ausgangspunkt nimmt, oder aber – wie oben beschrieben – ganze Passagen aus früheren Werken zitiert, sind zwar zwei unterschiedliche Verfahren, doch bleibt zumindest der Grundansatz derselbe. Wie auch immer diese Selbstzitate zu werten sind, so zeigen sie jedenfalls die Austauschbarkeit der Soloparte. Während der Orchesterpart innerhalb der Zitate praktisch unverändert übernommen wird, so weisen die solistischen Passagen große Unterschiede auf, lediglich die Grundcharaktere entsprechen einander in den meisten Fällen. Aus dieser Tatsache könnte man schließen, dass die Rolle des Orchesters essenziell, die Rolle des Solisten hingegen fakultativ und austauschbar ist. Die obige Aufzählung zeigt 115 aus früheren Werken übernommene Takte, was einem Drittel der gesamten Werklänge entspricht. Jedoch wurden nicht alle Orchesterwerke Jarrells systematisch nach Zitaten durchsucht, weitere Entsprechungen mit anderen Werken wären also durchaus denkbar. »Abschied« selbst wurde von Michael Jarrell ebenfalls für zwei Bearbeitungen verwendet. Zwei Jahre nach der Fertigstellung des Klavierkonzertes entstand »… mais les images restent …« für Klavier solo. Bereits auf den ersten Blick wird die direkte Verwandtschaft mit »Abschied« deutlich  : Jarrell verwendete den Solopart des Klavierkonzertes und nahm nur einige kleinere Änderungen vor. Immer wieder fehlen etwa einzelne Takte des »Originals«, zumeist handelt es sich hierbei um Pausentakte oder ruhige Abschnitte. Die größten Fehlstellen liegen bei T. 173–195 und 209–239 von »Abschied«. Hinzugefügt zum Notentext wurden z. B. des Öfteren Elemente aus dem Orchesterpart, es handelt sich also teilweise um eine Vermischung von Solopart und einer Art Klavierauszug. Insgesamt wurde die Musik straffer und dichter gestaltet, die oben erwähnten größten Streichungen fanden daher auch im »originalen« vierten Teil (T. 176–231)329 statt, von diesem – ursprünglich 56 Takte langen – Teil blieben nur zwölf Takte übrig. 328 Szendy, Peter  : Artikel »Michael Jarrell« in Grove Music Online, Oxford University Press 2007–2008 (http://www.oxfordmusiconline.com, letzter Zugriff  : 28.8.2012) 329 Auf die formale Gliederung von »Abschied« wird an späterer Stelle noch detailliert eingegangen werden.

227

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Auch andere kleinere Änderungen wurden vorgenommen (hinzugefügte Noten, Verknüpfung von Elementen aus verschiedenen Takten, Transposition einzelner Töne gegenüber dem »Original« u. a.), der Großteil des Klavierparts von »Abschied« wurde jedoch genau übernommen. Anders als bei »… mais les images restent …« handelt es sich bei »Abschied II« für Klavier und Ensemble aus dem Jahr 2004 (d. h. ein Jahr nach dem Soloklavierstück) vor allem um eine Bearbeitung für eine reduzierte Orchesterbesetzung. Die folgende Übersicht zeigt die Unterschiede in der Orchester- bzw. Ensemblegröße  : »Abschied«

»Abschied II«

3 Flöten 2 Oboen 2 Fagotte 4 Hörner 3 Trompeten 3 Posaunen Tuba 3 Schlagzeuger Pauke Harfe 14 Violinen I (mindestens) 12 Violinen II 10 Violen 8 Violoncelli 6 Kontrabässe

2 Flöten 1 Oboe 1 Fagott 2 Hörner 2 Trompeten 2 Posaunen Tuba 3 Schlagzeuger --Harfe 3 Violinen 2 Violen 2 Violoncelli 1 Kontrabass

Kleinigkeiten wurden auch im Notentext verändert, wie etwa die Länge von Fermaten, Tempoangaben (geringfügig), einzelne Tonhöhen, einzelne dynamische Bezeichnungen, die Länge von Pausen etc. Besonders die Streicherteilungen aber mussten oft verändert werden, was durch die kleinere Besetzung besonders in dem manchmal extrem geteilten Streichersatz von »Abschied« unabdingbar notwendig wurde. Einzelne Pizzicato-Töne des Kontrabasses wurden in die Harfe verlegt, ebenso Figuren der Violen. Der formale Aufbau des Klavierkonzertes wurde übernommen, einzig die Takte 231–236 fehlen in der Bearbeitung für Klavier und Ensemble. So kommt es erst in der Entsprechung zu T. 244 (von »Abschied«) zum tatsächlichen Charakterwechsel, der im Klavierkonzert bereits in T. 232 stattfindet. Warum allerdings Jarrell diese Änderung vorgenommen hat, ließe sich allenfalls spekulieren. Die fehlende Pauke wurde durch den dritten Schlagwerkspieler übernommen, wodurch einige Passagen verändert

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

werden mussten. Die Gesamtlänge von »Abschied II« beträgt durch die Kürzung der Länge von Fermaten und die Streichung einiger Takte 19 Minuten (gegenüber 20 Minuten von »Abschied«). Außerhalb der oben erwähnten Stellen gibt es in »Abschied« zahlreiche in Jarrells und auch in übrigen Solokonzerten (und anderen Werken) ebenfalls auffindbare Gesten oder kleinräumige formale Gestaltungen. Man kann »Abschied« also auch jenseits der Zitat-Verwandtschaften als ein für die Musiksprache Jarrells (inklusive Harmonik, Instrumentation, Verhältnis von Solist und Orchester etc.) charakteristisches Werk bezeichnen. Im Folgenden sollen nun einige dieser Aspekte des Werkes  – in eher allgemein gehaltener und beispielhaft auch in detaillierterer Form – näher beleuchtet werden. Besetzung und Spieltechniken Der zumeist dreifachen Besetzung der Bläser (inklusive Wechselinstrumenten in den Holzbläsern) werden ebenfalls drei Schlagwerkspieler, eine Pauke und eine Harfe hinzugefügt. Demgegenüber sollen auch die Streicher entsprechend stark vertreten sein, Jarrell gibt dazu eine Mindestangabe von 14 – 12 – 10 – 8 – 6 an. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Komponist mindestens drei fünfsaitige Kontrabässe fordert, auf eine Vorliebe für Klänge in den tiefsten Registern ist allein aufgrund dieser Tatsache zu schließen. (Diese Schlussfolgerung wird durch die Partitur bestätigt.) Das Ausmaß des umfangreichen Schlagwerkapparates ist ein für Jarrell keineswegs untypisches. Die überwiegende Anzahl der Instrumente hat unbestimmte Tonhöhen, wie folgende Übersicht zeigt  : Bestimmte Tonhöhen

Unbestimmte Tonhöhen

Perc. 1  :

Glockenspiel Marimbaphon 2 Crotales

Perc. 2  :

Rin 3 Crotales

4 Tom-toms 4 Bongos Caisse roulante 2 Templeblocks 2 Woodblocks Reco-reco 2 Becken Chines. Becken 3 Tam-tams Caisse claire Gr. Trommel

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Perc. 3  :

Bestimmte Tonhöhen

Unbestimmte Tonhöhen

Cloches tubulaires Cloche à vache 4 Gongs Vibraphon 6 Crotales 5 Kuhglocken

2 Tamtams 2 Spring-coils 2 Woodblocks 3 Becken Chines. Becken Tamtam Bell tree Claves

Einzelne Instrumente (Crotales, Woodblocks, Becken und Tamtams) treten bei allen drei oder zumindest bei zwei Spielern auf, viele Instrumente erscheinen jedoch nur in einfacher Ausführung. Die gesamte Schlagwerkbesetzung umfasst in etwa ebenso viele Instrumente, wie das gesamte Orchester ohne Streicher, was auch ein Grund für die klangfarblich prägende Bedeutung der Perkussion im gesamten Stück ist. Nicht nur die bloße Anzahl von Instrumenten mit unbestimmten Tonhöhen überwiegt, sie werden auch tatsächlich innerhalb des Stückes wesentlich öfter verwendet als jene Instrumente mit bestimmten Tonhöhen.330 Die Pauke wird offenbar unabhängig von den anderen Perkussions-Instrumenten eingesetzt. Lediglich die Tatsache, dass sie vor allem an jenen Stellen im Werk vorkommt, an denen nur Instrumente mit unbestimmten Tonhöhen zugleich erklingen (z. B. T. 24–30, 52–55 oder 78–86), ließe auf einen vom Komponisten bewusst geplanten Zusammenhang schließen. Im Übrigen ist die Pauke jenes Instrument des gesamten Orchesters, welches am seltensten verwendet wird, jeder der drei übrigen Schlagwerkspieler beispielsweise kommt in etwa doppelt so häufig zum Einsatz. Am häufigsten spielen die Streichinstrumente, alle übrigen Instrumentengruppen sind in der Häufigkeit in etwa gleichmäßig verteilt. Das Soloklavier pausiert in nur 23 von insgesamt 311 Takten, somit spielt es wesentlich öfter als jedes Orchesterinstrument. Doch nicht nur die bloße Häufigkeit des Vorkommens eines Instrumentes oder einer Instrumentengruppe prägt den Eindruck des Hörers, sondern auch die Stärke dieses Vorkommens. Die Schlaginstrumente beispielsweise treten besonders dann dominierend in Erscheinung, wenn etwa Tam-tams, große Trommeln, Gongs, Becken 330 Während in 110 Takten ausschließlich unbestimmte Tonhöhen erklingen, werden bestimmte Tonhöhen lediglich in ca. 40 Takten verwendet. Auch die Zahl der gemischten Takte, in denen Instrumente mit bestimmten und unbestimmten Tonhöhen zugleich eingesetzt werden, beträgt nur 80.

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

u. dgl. in lauter Dynamik verwendet werden, wodurch die meisten anderen zugleich gespielten Orchesterinstrumente klanglich überdeckt werden (z. B. in T. 80). Zu bemerken ist auch, dass die Streicher in den meisten Fällen geteilt auftreten, auch (ungewöhnlicherweise) die Kontrabässe. Den extremsten Fall einer Streicherteilung in »Abschied« findet man in T. 277–281, wo der Streichersatz aus 43 Stimmen besteht. Insgesamt 20 verschiedene Rhythmen erklingen so gleichzeitig. Beim Hörer allerdings wird lediglich ein diffuser Klangeindruck entstehen, denn alle Streicher spielen Flageolett-Töne in leisester Dynamik (pppp bis p), in komplexen rhythmischen Überlagerungen. Hinzu treten außerdem andere Orchesterinstrumente und das Soloklavier in lauterer Dynamik, was die Aufmerksamkeit des Hörers sogar vom resultierenden leise säuselnden Klangteppich noch weglenkt. Wie bereits die Spielanweisungen zur Partitur verraten, verwendet Jarrell außer den traditionellen Spieltechniken zusätzlich auch einige besondere Effekte. Dazu gehören die gleichzeitig auszuführende Kombination von Triller und Flatterzunge (Bläser) bzw. von Triller und Tremolo (Streicher) oder das Bisbigliando in Horn und Trompete (d. h. das Wechseln zwischen zwei Griffpositionen, woraus ein Klangfarbentriller resultiert). Tatsächlich aber erscheint Bisbigliando auch in anderen Instrumenten, wie etwa in T. 3 (Harfe) oder in T. 104 ff. (Flöte 1 und Klarinette 1), was in den Spielanweisungen allerdings nicht vermerkt wurde. Im Soloklavier kommen in der Partitur verschiedene, nicht allesamt im Vorwort genannte, unkonventionelle Spieltechniken vor  : 1. mit der Hand auf die Saiten klopfen (»Tam-tam-Effekt«), z. B. T. 94 2. mit dem Fingernagel auf den Saiten (hinter den Dämpfern) gleiten, z. B. T. 98 3. normaler Anschlag, dabei Saite direkt nach dem Steg (stark oder leicht) dämpfen, z. B. T. 105 4. Flageolett-Töne, z. B. T. 122 (hier Mikroton) Diese speziellen Spieltechniken treten nur an ganz bestimmten Stellen innerhalb des Werkes auf (T. 93–137 und 176–228), was unmittelbar mit der später noch zu besprechenden formalen Gestaltung zusammenhängt. Zwischen dem Vorkommen ungewöhnlicher Spielarten des Solisten und jener des Orchesters besteht kein erkennbarer Zusammenhang. Die als mehrtöniger Vorschlag notierte Spielanweisung »Appogiatura, so schnell wie möglich zu spielen, beginnend am angegebenen Wert«331 ist mit konventionellen Spieltechniken auszuführen, und bildet vor allem ein kleines Element der (rhythmi331 Übersetzung der Verfasserin

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

schen) Unbestimmtheit innerhalb des ansonsten sehr detailliert festgelegten Notentextes. Zumeist tritt diese Notation bei Akkord-Tremoli (Soloklavier) oder Bisbigliando-Passagen auf. Weitere, nicht gesondert erwähnte Klangeffekte erscheinen in der Harfe, beispielsweise Pedal-Glissandi (etwa in T. 18) oder das starke Anreißen der Saiten, sodass diese gegeneinander schlagen (z. B. T. 47). Anders als die speziellen Spielweisen im Klavierpart stehen jene des Orchesters offenbar nicht in Zusammenhang mit der formalen Gestaltung des Werkes. Sie treten besonders in den Takten 39–51, 104–110, 232–237 und 267–269 auf, also gegenüber dem Solopart eher über das ganze Werk verteilt, aber in wesentlich geringerem Ausmaß (29 gegenüber 98 Takte des Klaviers). Formale Übersicht I Wie bereits erwähnt, besteht der formale Ablauf aus dem Wechsel von schnellen, aktiven, energiegeladenen und kontrastierenden langsamen, meditativen Abschnitten. Diesen Attributen könnte man weitere ergänzen, im Falle der langsamen Teile hat auch der Komponist selbst Anmerkungen den Charakter betreffend in der Partitur hinzugefügt  : »avec émotion et mystère« (»gefühl- und geheimnisvoll«, T. 119), »très lent, mystérieux, sombre« (»sehr langsam, geheimnisvoll, düster«, T. 214), aber auch »comme un souvenir récurrent, qui se précise peu à peu« (»wie eine Rückerinnerung, die nach und nach deutlicher wird«, T. 176). Während die schnellen Teile oft im hohen und höchsten Register liegen, werden in den langsamen Partien oft tiefe und tiefste Register verwendet. Dementsprechend wird auch die Dynamik  – verallgemeinert gesprochen  – eingesetzt, wobei schnelle Abschnitte mit tendenziell lauten dynamischen Stufen verbunden wurden, langsame Abschnitte v. a. mit leisen Dynamiken. Eine unterschiedliche Instrumentierung ist nur insofern zu erkennen, als dass in den langsamen Teilen wesentlich weniger Instrumente eingesetzt werden, jedoch sind ähnliche Instrumentenkombinationen wie in den schnellen Passagen vertreten. Die bereits erwähnten besonderen Spieltechniken im Soloklavier erscheinen ausschließlich in den ruhigen Abschnitten. Folgende Übersicht stellt den Wechsel zwischen den beiden verschiedenen Charakteren dar  : T. 1–92  : A T. 93–141  : B T. 142–175   A’ T. 176–231  : B’

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

T. 232–276  : A’’ T. 277–311  : B’’ (bzw. A → B)332 Ob ein Vergleich zwischen dem Wechsel von A- und B-Teilen mit dem Alternieren von Ritornell- und Solo-Episoden im Sinne des Komponisten ist und ein solcher Bezugspunkt zur Geschichte der Gattung intendiert war, lässt sich nur vermuten. Während die B-Teile meist plötzlich und scharf von den A-Teilen abgegrenzt einsetzen, entwickelt sich der Beginn der nachfolgenden A-Teile sukzessive, durch Einbeziehen von mehr und mehr A-Elementen, sodass beispielsweise der Beginn des fünften Abschnittes auch erst in T. 244 denkbar wäre. Ebenso wenig scharf abgetrennt ist der Übergang vom fünften zum letzten Abschnitt, denn anders als bei den bisherigen B-Teilen spielt das Soloklavier ab T. 277 weiterhin entweder laute Einwürfe oder schnelle Tonwiederholungen. (Beide Elemente stammen aus den A-Teilen.) Erst nach und nach wird auch der Klavierpart ruhiger und damit den übrigen B-Teilen ähnlicher. Wesentlich stärker als in T. 92/93 ist der Kontrast zwischen A- und B-Teil in T. 175/176 auskomponiert. Ab T. 93 kommt es zwar zum ersten Mal in »Abschied« zu einem vorläufigen Innehalten inmitten der zuvor hektischen Bewegungen, ab T. 176 jedoch folgt nicht bloß ein Innehalten, sondern ein veritabler Stillstand, ein »Totpunkt« innerhalb der Werkdramaturgie. Damit zusammenhängend beginnt der Orchestersatz in einem Minimalausmaß, die Flageolett-Töne des Solisten zu unterstützen bzw. zu ergänzen. Entsprechend lautet die Charakterbezeichnung bzw. Spielanweisung an dieser Stelle  : »comme un souvenir récurrent, qui se précise peu à peu«. Zu Beginn des ersten B-Teiles (T. 93) fehlt eine solche Bezeichnung, wohl auch, weil sich dieser durch den immer noch kompakten Orchestersatz und die lediglich im Vergleich zum vorigen Geschehen reduziert wirkenden Aktivitäten innerhalb dieses Satzes von dem vorangegangenen A-Teil vor allem hinsichtlich des Klavierparts unterscheidet. Weitere Unterteilungen können aufgrund des Wechsels der Instrumentation, des Materials, der Dynamik, des Tempos u. ä. vorgenommen werden. So könnte man etwa den ersten Teil folgendermaßen gliedern  : T. 1–23 T. 24–37 T. 38–55 (Klavier  : 54) 332 Auch Libor Havelka unterteilt den Werkablauf in je drei A- und drei B-Teile. Dabei operiert er allerdings teilweise mit falschen Taktzahlen (T. 140 statt 142, T. 309 statt 311). (Havelka, Libor  : Michael Jarrell  : Klavierkonzert »Abschied«  : Analyse, Diplomarbeit, Universität für Musik Wien, 2007)

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

T. 56 (Klavier  : 55)–79 T. 80–92 Der zweite Teil ist weniger eindeutig unterteilbar, mögliche neue Abschnitte könnten in T. 110, T. 119 oder T. 130 angesetzt werden. Auch im dritten Teil gibt es eine weniger scharfe Abgrenzung zweier Abschnitte, vor allem durch das neue Tempo begründbar ist eine Unterteilung bei T. 165. Wie schon der zweite Teil ist auch der Verlauf des vierten Teiles mehrfach durch Fermaten unterbrochen (T. 182/183, 186/187, 188/189, 191/192, 197, 201, 204/205, 208, 210). Dies lässt den Schluss zu, die Takte 176–210 als eigenen Abschnitt zu betrachten und einen neuen Abschnitt mit Ende der Fermaten ab T. 211 zu bestimmen. Was die Wahl des Materials und des Tempos betrifft, ist allerdings die Annahme eines neuen Abschnittes bei T. 214 wesentlich schlüssiger. Aus ähnlichen Gründen wie im ersten Teil möchte ich im fünften Teil folgende Gliederung vornehmen  : T. 232–243 T. 244–252 T. 253–265 T. 266–276 Der sechste Teil könnte in T. 292 oder 294 unterteilt werden, das Klavier führt jedoch ähnliche Figuren wie zuvor weiter fort, was den Wegfall des vielfach geteilten Streichersatzes sowie die äußerst reduzierte Anzahl von Orchesterinstrumenten ab T. 292 etwas »überspielt«. Zusammenfassend besteht der formale Ablauf also aus sechs großen Teilen bzw. 19 kleineren Unterabschnitten  : Teil

Anzahl der Takte

Anzahl der Unterabschnitte

A

92

5

B A’ B’ A’’ B’’

49 34 56 45 35

4 2 2 4 2

Anzahl der Takte der Unterabschnitte

23+14+18(17)+ 24 (25)+13 17+9+11+12 23+11 38+18 12+9+13+11 15 (17)+20 (18)

Zeitdauern (ungefähr)

3’40’’ 3’ 2’ 4’ 2’40’’ 2’20’’

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Der erste Teil ist (in Taktzahlen betrachtet) in etwa doppelt so lange wie die übrigen Teile im Durchschnitt. Dies bewirkt auch den überwiegenden Anteil der A-Teile (insgesamt 171 Takte) gegenüber den B-Teilen (insgesamt 140 Takte). Tatsächlich aber bewirken die so verschiedenen Tempi gegenüber der Anzahl der Takte völlig verschiedene Dauernverhältnisse. In der Realität handelt es sich um zwei in etwa gleich lange Anfangsteile, gefolgt von einem kürzeren A-Teil und einem gegenüber diesem doppelt so langen B-Teil. Der dritte A- und B-Teil haben – wie auch die beiden ersten – eine annähernd gleiche Länge. Wie man der obigen Tabelle entnehmen kann, gibt es trotz der größeren (Takt-) Länge des ersten Teiles wenige Unterschiede zwischen der Länge seiner Unterabschnitte und jener der übrigen Teile, da der erste Teil aus fünf statt ansonsten zwei oder vier Unterabschnitten besteht. Tendenziell setzen sich die ATeile aus mehr Abschnitten zusammen als die B-Teile. Als markantes Detail möchte ich auch hervorheben, dass der dritte Teil (A’) zugleich der (sowohl in Taktzahlen als auch in seiner tatsächlichen zeitlichen Dauer betrachtet) kürzeste ist, jedoch vom vierten, zeitlich längsten Teil des Werkes (B’) gefolgt wird. »Jarrell legt großen Wert darauf, dass der großformale Verlauf durch die Zuhörenden nachvollzogen und als semantisch geladene Erlebnisform begriffen werden kann«, so Christoph Steiner333. Diese Aussage trifft auch auf »Abschied« zu, denn die Charaktere der A- und B-Teile sind so unterschiedlich gestaltet, dass ein direkter Nachvollzug der jeweiligen formalen Position durch den Hörer möglich ist. (Als »semantisch geladen« wird das Klavierkonzert vermutlich schon aufgrund des Titels rezipiert.) Verhältnis von Solist und Orchester Betrachtet man, wo innerhalb des Stückes der Solist alleine, das Orchester alleine oder aber beide gemeinsam spielen, so ergibt sich im Falle von »Abschied« – anders als bei den übrigen hier detailliert besprochenen Werken – ein erstaunlich einheitliches Bild  : Mit nur wenigen kurzen (maximal fünf Takte langen) Unterbrechungen spielen das gesamte Stück über Solist und Orchester gemeinsam. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass allein diese Tatsache bereits mit der Gattungs-«Tradition« des Klavierkonzertes mit ihrem typischen Einander-Gegenüberstellen von Solist und Orchester bricht. Die obenstehende Unterteilung in A- und B-Teile wird somit nicht auf die Präsenz von Solist und/oder Orchester übertragen. Erst in T. 143 kommt es zum ersten Mal 333 Steiner, Christoph  : »Eines blauflimmernd bestimmten sich errinernd  : Michael Jarrells ›Assonance V‹«, in  : Dissonanz, August 1998, S. 26–33, hier S. 33

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

zu einem eintaktigen Klavier-Solo. Wesentlich früher gibt es halbtaktige (ab T. 51) bzw. ganztaktige Passagen (ab T. 93 und 95), in denen das Orchester ohne Klavier spielt. In T. 114–118 findet sich der längste rein orchestrale Abschnitt, doch hat auch dieser ein Ausmaß von nur fünf Takten. Die einzige längere Klavier-Solopassage ist am äußersten Ende des Werkes zu finden, ab T. 305. Ansonsten spielt der Solist außer im bereits erwähnten T. 143 völlig ohne Orchesterbegleitung nur in T. 146, 177, 201 und 299334. Während des Stückes handelt es sich stets um nur eintaktige unbegleitete Passagen. Eine Solo-Kadenz kann man an keiner Stelle des Werkes auffinden, außer man bezeichnet die letzten sieben Takte (T. 305–311) als solche, was aber aufgrund des »auslaufenden« Charakters dieses Endes meines Erachtens nach unpassend wäre. Oft spielen Solist und Orchester über sehr lange Strecken hinweg ohne Unterbrechung gemeinsam  : T. 2–51 T. 65–92 T. 122–142 T. 199–239 T. 243–265

(50 Takte) (28 Takte) (21 Takte) (41 Takte) (23 Takte)

Ebenso wie der erste Teil der längste im gesamten Werk ist, so findet man auch in dieser Auflistung den längsten Zeitraum gleich zu Beginn des Stückes. Die oben genannten Strecken bilden übrigens mehr als die Hälfte des Werkes (160 von 311 Takten). Zwar sind die Abstände zwischen den Wechseln von rein solistischen, rein orchestralen und gemeinsamen Passagen im gesamten Werk meist sehr kurz, doch ist zu beobachten, dass sie zum Ende hin noch kürzer werden. Ob dies eine bewusste Gestaltung Jarrells im Sinne einer Steigerung zum Werkende hin darstellt, sei dahingestellt. Die Feststellung, dass es nur sehr wenige rein solistische Passagen gibt, wirft die Frage auf, ob denn der Solist in »Abschied« überhaupt eine Vorrangstellung gegenüber dem Orchester innehat. Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich im Folgenden verschiedene Aspekte und Parameter näher betrachten  : 1. Der Klavierpart ist wesentlich virtuoser gehalten als alle Orchesterstimmen, obwohl auch diese teilweise ziemlich virtuose Passagen enthalten. (Eine solche Virtuosität findet sich auch innerhalb der einzelnen Instrumentengruppen bei nahezu jedem Instrument, nicht etwa nur bei den jeweiligen Stimmführern.) 334 In T. 299 spielt der Solist zwar nicht, aber der im Pedal gehaltene Klavierklang aus dem Takt zuvor wird ohne Orchesterzusatz hörbar.

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

2. Zu einer echten Polyphonie (etwa zwischen rechter und linker Hand) kommt es im Soloklavier während des ganzen Werkes nicht. In diesem Aspekt unterscheidet sich der Solist nicht von den einzelnen Orchesterinstrumenten. 3. Unterscheidet man innerhalb des gesamten Stückverlaufes Bereiche voneinander, in denen das Klavier klanglich (d. h. aufgrund des verwendeten Materials, des Registers, der Instrumentation, der Dynamik, der rhythmischen Dichte etc.) gegenüber dem Orchester im Vorder-, Hintergrund oder gleichberechtigt erscheint, so findet man in etwa ein zeitliches Verhältnis von 3 : 1 : 5 auf. Festzustellen ist auch, dass sich das klangliche Verhältnis zwischen Solist und Orchester im Verlauf des Stückes entwickelt  : Zu Beginn erscheinen beide Partner eher gleichberechtigt, erst ab kurz vor dem zweiten A-Teil (T. 139 ff.) tritt das Klavier öfter in den Vordergrund. Ebenso ist die klangliche Situation kurz vor Ende des Stückes gestaltet  : Bis zum Höhepunkt in T. 273–276 hin sind Klavier und Orchester zwei gleichberechtigte Partner, ab T. 277 aber tritt das Orchester mehr und mehr in den Hintergrund, bis schließlich der Solist alleine das Stück beendet. 4. Während das Orchester zwar alleine beginnt, es sich beim T. 1 aber quasi um einen Auftakt (1/4) handelt, man also eigentlich von einem gemeinsamen Beginn sprechen muss, beendet der Solist alleine das Werk. Zuvor nehmen nach und nach alle Orchesterinstrumente »Abschied«, wodurch dem Solisten eine besondere Vorrangstellung zukommt. 5. Bezüglich der Harmonik kann man hingegen die Beobachtung machen, dass eher das Orchester neue Harmonien vom Klavierpart übernimmt, als umgekehrt.335 6. Der Solist spielt wesentlich öfter als jedes Orchesterinstrument. Besonders die größere Virtuosität und das überwiegende Spiel des Klaviers im klanglichen Vordergrund weisen den Solisten als solchen gegenüber dem Orchester aus. Für die Bewertung, welcher der beiden Partner an welchen Stellen des Werkes prominenter wahrgenommen wird, könnte auch eine Rolle spielen, ob im Klavier oder im Orchester schnellere und dichtere Rhythmen vorkommen. Diese Abkoppelung eines Parameters erscheint mir allerdings nicht als sinnvoll, zumal auch die Überlagerung mehrerer langsamer Rhythmen im Orchester ein wesentlich dichteres Gesamtbild erzeugen kann, welches hier zu erfassen allerdings eine zu umfangreiche Aufgabe darstellen würde. Auch spielt für die Wahrnehmung des Hörers die Dynamik oder die Tonhöhenentwicklung eine wesentlich größere Rolle. 335 Eine detaillierte Besprechung der Harmonik folgt an späterer Stelle.

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Einzelaspekte Im Folgenden möchte ich einige Aspekte des Werkes gesondert und eingehender betrachten. Erst danach werde ich versuchen, diese in Beziehung zum obenstehenden Formverlauf zu setzen und zu überprüfen, ob es dabei zu Übereinstimmungen kommt. Insgesamt 21 Tempowechsel kommen in »Abschied« vor. Bei einer Spieldauer von 20 Minuten kommt es somit ziemlich häufig zu einem neuen bzw. zur Rückkehr zu einem alten Tempo. Oft handelt es sich allerdings um lediglich kleine Unterschiede zwischen den Tempi, etwa zwischen T. 176 ( = 48) und T. 198 ( = 52). Trotz der vielen Tempowechsel gibt es insgesamt nur acht verschiedene Tempi, auf frühere Tempi wird daher des Öfteren zurückgegriffen. Tendenziell werden am Anfang des Werkes schnellere, zum Ende hin langsamere Tempi verwendet. Während zu Beginn jedes B-Teiles (T. 93, T. 176 und T. 277) annähernd im gleichen Tempo gespielt wird ( = 52 bzw. 48), weisen die Anfänge der A-Teile (T. 1, T. 142 und T. 232) größere Unterschiede im Tempo auf ( = 80,  = 60 (56) und  = 52). Festzustellen bleibt aber jedenfalls, dass mit jedem Wechsel zu einem anderen Teil ein Tempowechsel einhergeht. Das langsamste Tempo wird in T. 214 erreicht, es ist genau halb so schnell wie das (schnellste) Anfangstempo. Danach wird auf dieses langsamste Tempo nicht mehr zurückgegriffen, sondern es werden bereits zuvor verwendete Tempi wiederholt. Am häufigsten werden Tempi zwischen  = 60 und  = 48 verwendet, also eine eher langsame Grundpulsation. Auffällig oft wechseln auch die Taktarten. Ihre Auswahl scheint jedoch nicht etwa durch ein eigenes System geregelt zu sein, sondern aus rein musikalischen Gründen zum Zwecke der Koordination. Eine Bevorzugung einfacher Taktarten (2/4, 3/4 und 4/4) ist offensichtlich. Anhand von Taktarten wie 2/4 + 3/16 (T. 120), 3/4 + 1/8 (T. 154) oder 1/4 + 1/16 (T. 237) ist aber deutlich erkennbar, dass Jarrell immer dann zu einem neuen Takt wechselt, wenn eine neue musikalische Aktion einsetzt. Die Länge der einzelnen Takte ist daher direkt vom musikalischen Geschehen abgeleitet. Fermaten erscheinen beinahe ausschließlich in den B-Teilen (besonders in T. 93ff. und T. 176ff.), was unmittelbar mit deren oben beschriebenen Charakter zusammenhängt. Während die Musik der A-Teile eher vorwärts drängt, verharrt sie in den BTeilen immer wieder statisch an einem Punkt. Insgesamt gibt es im gesamten Werk stattliche 26 Fermaten, mit einer Dauer von nur 1,5 bis hin zu 20 Sekunden (T. 276). Besonders lange Fermaten erscheinen gegen Ende des Werkes. Die Momente des Innehaltens werden durch die Verwendung von Liegeklängen, einer reduzierten Anzahl von Instrumenten und einer Zurücknahme der rhythmischen Aktivität verstärkt. Gelegentlich, jedoch nur für kurze Augenblicke, treten diese Elemente auch unabhängig von Fermaten auf.

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Betrachtet man die Instrumentation von »Abschied« gruppenweise, so ist zuallererst auffällig, dass die Streicher fast durchgehend zum Einsatz kommen. (Nur das Soloklavier spielt geringfügig öfter als die Streichergruppe.) An zweiter Stelle liegt die Perkussionsgruppe, gefolgt von den Holzbläsern. Die Blechbläser kommen zwar im Vergleich mit den übrigen Instrumentalgruppen am seltensten zum Einsatz336, jedoch bedeutet dies im Falle von »Abschied« immer noch ein Vorhandensein in mehr als 2/3 des gesamten Werkes. Eine Bevorzugung bestimmter Kombinationen von Instrumentalgruppen ist nicht erkennbar. Die Stellen, an denen Vertreter aus jeder der genannten Gruppen gemeinsam spielen (darunter befinden sich natürlich auch Tutti-Stellen), häufen sich signifikant ab T. 122, also in etwa in der zweiten Werkhälfte. Nur in den Takten 156 bis 175 treten nicht alle Gruppen gleichzeitig auf, ab T. 176 bis zum Ende hin aber kommt es erneut zu einer Häufung gemeinsamer Passagen wie ab T. 122. Über den Grund für dieses vermehrte Auftreten lässt sich nur spekulieren  : Möglicherweise soll es zu einer Steigerung (der Satzdichte, der Dynamik etc.) zum Ende des Werkes hin kommen  ; möglicherweise soll zu Beginn das Klavier, ab der Werkmitte hingegen das Orchester mehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Eine Verbindung mit dem formalen Aufbau scheint mir nicht gegeben, auch ein Zusammenhang mit dem Vorhandensein oder Fehlen des Klavierparts scheint nicht beabsichtigt worden zu sein. Bemerkenswert ist auch, dass in den Takten 1 bis 93 (d. h. im gesamten ersten A-Teil) sowie den Takten 202 bis 250 die Holz- und Blechbläsergruppe komplementär zueinander auftreten  : Wo die Holzbläser pausieren, spielen die Blechbläser, und umgekehrt. Das im Vergleich zu den übrigen Instrumentalgruppen seltenere Vorkommen der Blechbläser zeichnet sich bereits zu Beginn von »Abschied« ab  : Erst an spätester Stelle (T. 8) setzen die Blechbläser zum ersten Mal ein. Während am Werkbeginn innerhalb der Takte 1 bis 14 alle Instrumente ihren ersten Einsatz haben, ist das Werkende und damit das jeweils letzte Auftreten jedes Instrumentes wesentlich anders gestaltet, nämlich auf die letzten 39 Takte verteilt. Die meisten Instrumente enden spätestens in T. 291, also 20 Takte vor Schluss, nach dem Abschnitt mit extremer Streicherteilung. Die Streicher selbst kommen etwas länger zum Einsatz, allerdings lediglich zwei- bis dreifach geteilt. Ein neuerliches Stadium der Reduktion ist in den Takten 300 bis 304 erreicht (Perkussion, Viola, Kontrabass)  ; ab T. 305 spielt – wie bereits erwähnt – das Klavier das Werk alleine zu Ende. Durch die lang andauernde Reduktion der Orchesterinstrumente kommt es nicht nur zu einer immer stärker werdenden Bedeutung des Klaviers, sondern auch zu einer klangfarblichen und »kontrapunktischen« Zurücknahme zum Ende des Werkes hin, d. h. zu einer Beruhigung. 336 Die Harfe tritt noch seltener auf, ist aber nicht in eine Gruppe eingebunden.

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Während bei der gruppenweisen Betrachtung der Instrumentation eindeutig die Streicher am häufigsten, die Blechbläser hingegen am seltensten auftraten, so zeichnet sich bei der Betrachtung jedes einzelnen Instrumentes ein leicht abweichendes Bild ab  : Zwar liegen auch hier die Streicher an erster Stelle (allen voran die Violoncelli), gefolgt von Perkussion 2 und 1, doch treten beispielsweise die Hörner beinahe ebenso oft auf. Im Gegensatz dazu spielen die Posaunen wesentlich seltener, noch seltener die Trompeten. Interessant ist auch, dass es innerhalb der Holzbläser ebenfalls signifikante Unterschiede in der Häufigkeit gibt  : Die Klarinetten treten in etwa doppelt so oft wie die Oboen auf, welche gemeinsam mit der Pauke (die eine von den übrigen Perkussions-Spielern unabhängige Rolle innehat) an letzter Stelle einer HäufigkeitsSkala platziert wären. Vergleicht man dabei den letzten (Pauke) mit dem ersten Platz (Violoncello), so ist ein sehr großer Unterschied in der Bevorzugung bestimmter Instrumente festzustellen. (Das Violoncello kommt mehr als zehnmal so oft wie die Pauke vor.) Aus der obenstehenden Beschreibung ist abzuleiten, dass Jarrell offensichtlich weicher klingende Instrumente (wie etwa Klarinetten oder Hörner) gegenüber jenen mit einem kurzen Einschwingvorgang und markanterem Klang (z. B. Oboen, Trompeten) vorzieht. Jarrells Instrumentation ist extrem detailreich und damit am ehesten einem Kaleidoskop vergleichbar. Als Beispiel für das ständige, rasche Changieren von Klangfarben und der genauen Ausarbeitung feinster klanglicher Abstufungen sei T. 8 herangezogen. Der Orchestersatz lässt sich an dieser Stelle auf drei Elemente (Tremolo, zwei Akkordschläge und Anfangsimpuls im 32tel-Rhythmus) reduzieren  : Notenbeispiel 56

√b œ œ œ œ œ # œ œ œj & & &

Œ

Œ wæw

Œ

œ 

œ b b b œœœœ nœ J

w æ #w

‰. w æw

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Tatsächlich aber werden dieses Klangfeld und die Bewegung in 32teln auf zehn verschiedene Stimmen (mit unterschiedlichen Rhythmen, Bewegungsrichtungen, Dynamiken, Artikulationen u. a.) und 13 verschiedene Instrumente verteilt. Besonders innerhalb der resultierenden 32telfigur gibt es auf vielfältige Weise komplementär gestaltete Einzelschichten. Was die Instrumentation betrifft, so hat Jarrell die 32telfigur und die Tremoli ähnlich, die Akkordrepetition aber davon gänzlich verschieden besetzt (Blechbläser kommen  – mit einer Ausnahme  – nur hier vor). Innerhalb der einzelnen Instrumentalgruppen (Holz- und Blechbläser, Perkussion, Harfe, Streicher) kommt es auch im weiteren Verlauf von »Abschied« eher zu einer Vermischung von Klangfarben, die Gruppengrenzen jedoch werden oft für eine klare Trennung von Klangfarben und Elementen verwendet. Jarrells Harmonik in »Abschied« möchte ich im Folgenden anhand einiger Beispiele exemplarisch erläutern, eine vollständige harmonische Analyse wäre an dieser Stelle zu umfangreich. ( Jedoch handelt es sich bei den ausgewählten Stellen um für die Harmonik des gesamten Werkes typische.) Zu Beginn des Werkes arbeitet der Komponist vor allem mit Zentraltönen, die vielfach umspielt werden. Lineares Denken und ein Übereinanderlagern vieler unterschiedlich gestalteter Schichten steht hier eher im Vordergrund als fassbare vertikale Zusammenklänge. Die Zentraltöne wandern vom anfänglichen fis’’’’ hin zu e’ (ab T. 15), dazwischen gibt es einen gemischten Bereich (T. 8–14), in dem beide Zentraltöne zugleich erklingen. Jarrell selbst beschreibt den Beginn des Werkes folgendermaßen  : »L’idée de départ est celle d’une spirale qui se développerait quasiment vers l’infini. Au début, dans les registres de l’extrême aigu, des suites de notes sont soumises à un processus de filtrage constant (…). Ce processus s’opère avec une rapidité remarquable (…).«337 (»Die Ausgangsidee ist die einer Spirale, die sich quasi ins Unendliche entwickelt. Am Anfang, in den allerhöchsten Registern, wird die Folge der Noten einem konstanten Filterprozess unterworfen (…). Dieser Prozess läuft mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit ab (…).«338) Erst in T. 24 bricht der erste Akkord im fff ein, er umfasst folgende Töne  :

337 Michael Jarrell über »Abschied«, siehe http://www.editions-lemoine.fr/fr/ 338 Übersetzung der Verfasserin

241

242

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 57

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Es handelt sich hierbei um einen 13-tönigen Akkord, alle zwölf Töne wurden darin verwendet und der Ton h verdoppelt. Diese Oktavverdopplung (die für Jarrell ziemlich ungewöhnlich ist) wurde durch die chromatisch neben h’ liegenden Tonhöhen ais’ und c’’ verschleiert, außerdem werden zumindest Teile des Akkordes durch das zugleich forte angeschlagene Tamtam überdeckt, nach dessen Abklingen hat bereits das Klavier wieder eingesetzt und steht klanglich im Vordergrund. Der Aufbau des Akkordes in T. 24 weist keine bevorzugten Intervalle auf. Anders ist dies ab T. 33 der Fall  : Hier erklingt im Soloklavier zum ersten Mal ein Akkord, der aus einer kleinen Terz zwischen zwei kleinen Sexten aufgebaut ist  : Notenbeispiel 58 

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Ein solcher Akkordaufbau ist im weiteren Verlauf oft, ab T. 80 auch im Orchester, zu finden. Des Weiteren gibt es zahlreiche Akkorde, die von einer Kleine-Sext-/KleineTerz-Schichtung abgeleitet sind, und in welchen z. B. Zusatztöne in das Grundgerüst eingefügt oder aber zwei Intervalle zusammengefasst werden. Ein Beispiel dafür findet

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

sich bereits in T. 35 im Orchesterpart, wo der Akkord des Klaviers von T. 33 erweitert wird  : Notenbeispiel 59 

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Eine Verknüpfung eines solches Intervallaufbaus mit jenem Prinzip, alle zwölf Töne vollständig innerhalb eines Akkordes zu verwenden, welches bereits in Zusammenhang mit T. 24 besprochen wurde, zeigt folgendes Notenbeispiel, welches dem Orchesterpart in T. 52 ff. entnommen wurde  : Notenbeispiel 60

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Neben dem tatsächlich erklingenden Akkord wurde ein (möglicher) Ausgangsakkord notiert, der aus zumeist abwechselnd aufeinanderfolgenden kleinen Terzen und kleinen Sexten besteht. Die beiden verdoppelten Töne g und h werden – ähnlich wie in

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

T. 24 – in verschiedenen Intervallkonstellationen verwendet, sodass die Oktavverdoppelungen für den Hörer verschleiert werden. Zwar kommen weiterhin auch Akkorde mit anderem Intervallaufbau vor, etwa im Klavierpart in T. 67–79, die Mehrzahl der Akkorde bis hin zum Ende des Werkes aber sind aus dem Wechsel von kleinen Sexten und kleinen Terzen abgeleitet. Einige Beispiele aus dem Orchesterpart sind im Folgenden abgebildet  : Notenbeispiel 61 



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Stellt man alle Klavierakkorde einander gegenüber, so lassen sich an einigen Stellen Akkorde auffinden, die aus anderen, bereits zuvor erklungenen Akkorden abgeleitet sein könnten. Am deutlichsten ist dies in den Takten 152, 157 und 159 der Fall, wie folgendes Notenbeispiel zeigt  :

245

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 62 

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Ob allerdings folgende Akkordverwandtschaften vom Komponisten intendiert sind, ist nicht mit Sicherheit festzustellen  : Notenbeispiel 63 

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Diese Akkorde sind in ein ähnliches Umfeld eingebettet (z. B. T. 72 und T. 78), können aber auch in völlig unterschiedlichem Kontext und sogar in zwei verschiedenen Formteilen vorkommen (z. B. T. 152 und T. 198).

246

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

In der Aufeinanderfolge zweier Klänge gibt es bei Jarrell oft Verbindungstöne, die in beiden Klängen vorkommen und von zusätzlichen Wechseltönen ergänzt werden. Als ein typisches Beispiel für dieses Verfahren seien die Takte 141 und 142 herangezogen, hier kommt es zusätzlich zu einem Wechsel der Akkorde vom Klavier zum Orchester  : Notenbeispiel 64 

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Neben diesem Akkorddenken spielte für Jarrell offensichtlich auch eine Art »Qualität der Intervalle« bei seiner Auswahl der Tonhöhen eine wichtige Rolle. Christoph Steiner schreibt in diesem Zusammenhang über »Assonance V« für Violoncello und Ensemble  : »Die große Sekund ist für Jarrell neben Quint und Oktav das stabilste Intervall und steht daher oft am Anfang einer Ruhezone.«339 Ein Beispiel dafür ist im Klavierpart der Takte 176 bis 179 zu finden. An dieser Stelle beginnt der zweite B-Teil (eine »Ruhezone«) mit den Tönen g – a und F – Es, also zwei großen Sekunden. Möglicherweise haben solche Intervallcharakteristiken auch für die Komposition anderer Teile eine Rolle gespielt. Am Ende des Werkes wird der Klaviersatz zusehends chromatischer. Wie sämtliche Tonhöhen beispielsweise der Takte 293–298 aus zwei chromatischen Strängen (aufwärts  : as bis es, abwärts  : fis bis d) ableitbar sind, zeigt folgende Übersicht  :

339 Steiner 1998, S. 32

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Notenbeispiel 65 T. 294

T. 293

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Im ersten Notensystem wurden die Töne der Partitur ohne Rhythmus, jedoch in der originalen Reihenfolge übertragen. Darunter finden sich dieselben (absoluten) Tonhöhen, sie wurden aber bereits auf zwei verschiedene chromatische Stränge verteilt. Letztere sind auch im untersten System notiert, zur besseren Übersichtlichkeit reduziert auf eine Oktave. In T. 298 treffen sich die beiden Stränge, die Töne es und d können sowohl von oben als auch von unten erreicht werden. Nicht nur hinsichtlich des Intervallaufbaus der Akkorde ist die Harmonik des Soloklaviers mit jener des Orchesters eng verknüpft, sondern auch in Bezug auf die absoluten Tonhöhen. In den meisten Fällen spielt das Klavier einen oder mehrere Ausschnitte aus den Tonhöhen des Orchesters, auch umgekehrt ist dies mitunter der Fall. Lediglich einzelne Töne werden gegebenenfalls hinzugefügt. Ob allerdings die

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Tonhöhen des Orchesters aus dem Solopart abgeleitet sind, oder ob dies umgekehrt der Fall ist, lässt sich nicht feststellen. Durch die enge Verbundenheit der beiden Partner kommt es hier zu keinem Hierarchieverhältnis. Nicht nur hinsichtlich der Harmonik, sondern auch im Allgemeinen kann man das Verhältnis von Solist und Orchester vor allem als eine gegenseitige Unterstützung beschreiben. Mitunter kommt es auch zu Dialogen zwischen Solist und Orchester (z. B. in T. 61–66), ein »Wettstreit« im Sinne der ursprünglichen Bedeutung von »concertare« ist für mich allerdings an keiner Stelle des Werkes zu erkennen. Der Komponist beschreibt das Verhältnis von Solist und Orchester folgendermaßen  : »Le principe de l’opposition concertante entre l’individu et le collectif est conservé. En revanche, le piano est intégré à plusieurs reprises à l’orchestre afin que celui-ci influe sur la suite du discours (…).«340 (»Das Prinzip des konzertanten Gegensatzes zwischen dem Individuum und dem Kollektiv ist erhalten. Dagegen wird das Klavier wiederholt in das Orchester integriert, damit dieses auf den Verlauf des Diskurses Einfluss hat (…).«) Zwar kommen in »Abschied« auch Mikrotöne vor, doch spielen sie eine bemerkenswert untergeordnete Rolle. Sie erscheinen nur an folgenden Stellen  : T. 14 (Posaune 1, 2) T. 122–123 (Altflöte, Klavier) T. 126 (Klarinette 1, Klavier) An der ersten Stelle (T. 14) sind die Mikrotöne als Färbungen (Viertelton höheres dis’, Viertelton tieferes f ’) des »Zentraltones« e’ zu werten. Auch an den anderen beiden Stellen erklingen zugleich die entsprechenden temperierten Tonhöhen, auch hier hat daher die Mikrotonalität weniger die Funktion einer eigenständigen Harmonik, als vielmehr die eines Farbwertes. In dieser Funktion wäre sie z. B. dem Vibrato vergleichbar. Dieses wiederum wird aber in der Partitur mit keinem Wort erwähnt. Ob die Streicher im gesamten Werk mit oder ohne Vibrato spielen sollen, ist also nicht festgelegt. Folgendes Material wird sowohl im Soloklavier als auch im Orchester verwendet  : 1. schnelle Figuren 2a. Einzeltöne und Tonrepetitionen 3a. Triller und Tremoli 4. Akkorde

340 Michael Jarrell über »Abschied«, siehe http://www.editions-lemoine.fr/fr/ (s. Anm. 326)

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Darüber hinausgehend erscheinen im Soloklavier spezielle Klangeffekte, im Orchester außer Pizzicato ebenso Col legno battuto und Glissandi und an einer Stelle eine auch als solche wahrnehmbare »Melodie« (T. 80–82). Der Unterschied zwischen dieser Bezeichnung und allen übrigen, durchaus melodischen Einzelbewegungen im gesamten Werk liegt darin, dass in T. 80–82 die meisten der beteiligten Orchesterinstrumente homorhythmisch spielen und einen ähnlichen Tonhöhenverlauf haben. Außerdem erstreckt sich diese »Melodie« über einen weitaus größeren Zeitraum als alle übrigen melodischen Bewegungen. Letztere sind oft Teil eines vielschichtigen Satzgewebes und somit zumeist in ihrem melodischen Verlauf nicht genau wahrnehmbar. Die Übereinstimmung der wesentlichsten Materialien von Solist und Orchester ist dem einander entsprechenden Intervallaufbau ihrer Harmonik vergleichbar. Tonrepetitionen, Triller und Tremoli nehmen einen breiten Raum in »Abschied« ein. Dahinter steht vermutlich Jarrells Wunsch, eine dem Notentext zugrunde liegende, temporäre Statik durch ein schnelles Pulsieren zu beleben bzw. zu überlagern. So kommt es mitunter zum Eindruck einer ständig vorwärtsschreitenden, nervösen Bewegung, die tatsächlichen Harmoniewechsel aber haben ein wesentlich langsameres Tempo. Nicht nur im Falle von »Abschied«, sondern auch in Jarrells Werken im Allgemeinen sind Tonrepetitionen häufig aufzufinden, wie Peter Szendy feststellt  : »Another recurrent motif is the urgency generated by note-repetition. It is doubtless no accident that Pour les notes répétées is among the three Debussy’s Etudes that Jarrell has orchestrated.«341 Die Deutung der Wirkung von Tonrepetitionen auf den Hörer, die Antoine Pecqueur vermutet, geht meiner Ansicht nach allerdings zu sehr ins Spekulative  : »L’emploi suggestif des silences ou l’utilisation obsessionnelle de notes répétées à l’extrème amène l’auditeur aux confins d’une terra incognita, à la nature originelle.«342 (»Der suggestive Einsatz von Pausen oder die obsessive Verwendung repetierter Noten bis zum Extrem führt den Hörer an die Grenzen einer terra incognita, zur ursprünglichen Natur.«)343 Auch als »obsessiv« kann man die Tonrepetitionen in »Abschied« meines Erachtens nicht bezeichnen, ihre Funktion ist vermutlich eine rein musikalische. Betrachtet man die Häufigkeit und die Verteilung der Materialien innerhalb des Werkes, so ergibt sich für den Solo- und für den Orchesterpart ein jeweils unterschiedliches Bild  : Im Orchesterpart hat Jarrell eindeutig Einzeltöne und Tonrepetitionen (Material 2a und 2b) bevorzugt  ; in kaum einem Takt des Werkes ist weder das eine 341 Szendy 2007/2008 342 Pecqeur, Antoine  : Portrait Michael Jarrell, in  : revue musicale de suisse romande, 55 année, Nr. 4, décembre 2002, S. 26–29, hier S. 28 343 Übersetzung der Verfasserin

249

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Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

noch das andere Material aufzufinden. Beide spielen zwar gemeinsam mit Akkorden (Material 4) auch in der Klavierstimme eine wichtige Rolle, werden dabei aber von der Präsenz der schnellen Figuren (Material 1) übertroffen. Diese erscheinen im Orchesterpart ebenfalls wesentlich häufiger als alle übrigen Elemente, jedoch nur etwa halb so oft wie die beiden genannten Hauptmaterialien. Bemerkenswerterweise erscheint der erste Akkord im Klavierpart erst in T. 18, zudem beschränkt sich das Vorkommen von Klavier-Akkorden auf einige wenige Stellen (T. 18–35, 67–80, 138–159 und 227–275). Dazwischen erscheinen Akkorde im Klavierpart selten oder überhaupt nicht (z. B. T. 55–66, 110–129 u. a.), auch kommen sie ab T. 276 bis zum Ende des Werkes nicht mehr vor. Bei einem Instrument, das im Gegensatz zu den meisten Orchesterinstrumenten geradezu prädestiniert ist, Akkorde zu spielen, ist eine solche eingeschränkte Nutzung dieses Potenzials bemerkenswert. Schnelle Figuren kommen in der Klavierstimme zwar im gesamten Werk vor, fehlen aber länger in Folge besonders in den B-Teilen (T. 93–133 oder T. 172–197), was natürlich unmittelbar mit dem ruhigen Charakter dieser Teile zusammenhängt. Auch im Orchesterpart setzen die schnellen Figuren mit Beginn des ersten B-Teiles in T. 93 aus und erscheinen – nach kurzen Einwürfen dazwischen – erst wieder ab T. 250 häufiger. Triller und Tremoli (Material 3a und 3b) tauchen im Klavierpart an verschiedenen Stellen sporadisch auf, ohne erkennbaren Zusammenhang mit der Formgestaltung. Vergleicht man aber Solo- und Orchesterpart miteinander hinsichtlich des Auftretens von Tonrepetitionen und Tremoli (also den beiden Materialien, die bei gleichbleibender Grundtonhöhe eine innere Belebung der Musik bewirken), so ist ein deutlicher Konnex mit dem formalen Aufbau des Werkes erkennbar  : Beide Elemente fehlen sowohl im Klavier als auch im Orchester für längere Strecken (10–30 Takte) genau an jenen Stellen, wo die ruhigeren B-Teile beginnen bzw. innerhalb dieser Teile, unterscheiden sich darin also nicht von den bereits besprochenen schnellen Figuren. Glissandi spielen wie Pizzicati und Col legno battuto eine eher untergeordnete Rolle. Sie treten außerdem nur zu Beginn des Werkes in Erscheinung (bis T. 56). Außer in den Streichern kommen sie in der Harfe (Pedal-Glissando) vor, nicht aber in den Holz- oder Blechbläsern. Pizzicati erscheinen über das ganze Werk verteilt, ohne erkennbaren Zusammenhang mit der formalen Gestaltung. Die Spielart Col legno battuto hingegen tritt nur in wenigen Takten auf (T. 233–234, 238, 253 und 255). Unabhängig vom tatsächlich verwendeten Material kann man den Klavierpart zwei Kategorien zuordnen  : in schnelle Bewegungen und punktweise Aktionen. So lassen sich grob folgende neun Abschnitte unterteilen  :

251

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

T. 2–79  : schnelle Bewegung

A  : T. 1–92

T. 94–141  : punktweise

B  : T. 93–141

T. 176–192  : punktweise T. 193–241  : gemischt

B’  : T. 176–231 A’’  : T. 232–276

T. 80–83  : punktweise Aktionen T. 84–92  : schnell T. 142–172  : schnell

T. 243–ca. 273  : schnell T. 274–311  : gemischt

A’  : T. 142–175

B’’  : T. 277–311

Eine Entsprechung zur formalen Untergliederung besteht in den meisten Fällen, wobei der erste A-Teil in drei Abschnitte (a  – b  – a) unterteilt wird. (Allerdings beschränken sich die punktweisen Aktionen auf lediglich vier Takte, somit könnten sie auch vernachlässigt werden.) Einzig zu Beginn des dritten A-Teiles (T. 232) gibt es keine Korrespondenz mit den obenstehenden Abschnitten. Sogenannte »gemischte« Abschnitte treten erst im letzten Werkdrittel auf, davor sind die Grenzen klar zu ziehen. Bezüglich der Anzahl der Takte gibt es hier ein Verhältnis von schnellen zu gemischten und punktweisen Abschnitten entsprechend zu 6 : 4 : 3, die Abschnitte mit schnellen Bewegungen überwiegen somit. (Eine Parallele zur überwiegenden Anzahl der Takte der A-Teile ist denkbar.) Wie bereits erwähnt, stellt der Tonhöhenambitus des Klaviers öfter einen Ausschnitt aus jenem des Orchesters dar, als dies umgekehrt der Fall ist. In welchen Abschnitten im gesamten Werk der Klavierpart einen größeren oder genau gleichen Tonhöhenumfang umfasst, scheint keinen Zusammenhang mit dem Formverlauf oder mit anderen Parametern zu haben. Der Beginn des Werkes wird eindeutig durch die schnellen Bewegungen des Klaviers im höchsten Register (viergestrichene Oktave) bestimmt. Umso auffälliger ist es, dass Jarrell im weiteren Verlauf des Werkes dieses Klavierregister praktisch nicht mehr verwendet (außer in T. 50–51 und T. 151 sowie in den letzten beiden Takten des Werkes, T. 310 und 311), lediglich die dreigestrichene Oktave bildet eine Obergrenze. Dies ist auch im Orchester der Fall, wo außer in den Takten 1–14 die viergestrichene Oktave ebenfalls nur selten erreicht wird (T. 20, 22 und 52–55). Im Gegensatz dazu verwendet Jarrell die tiefsten Register des Klaviers und des Orchesters häufig und im gesamten Stück ziemlich gleichmäßig verteilt. Am Anfang wie auch am Ende des Werkes wird das tiefste Register allerdings in Klavier und Orchester vermieden. (Nur im Klavier wird es in T. 305 und 309 verwendet.) Zu einem sehr langen Abschnitt,

252

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

in dem das tiefste Register (Kontra- bis Subkontra-Oktave) durchgehend eingesetzt wird, kommt es von ca. T. 200 bis 250, d. h. unabhängig von der formalen Unterteilung in T. 232. Die beiden kontrastierenden Formteile B’ und A’’ (voneinander getrennt in T. 232) werden dadurch miteinander verbunden. Die dreigestrichene Oktave bildet auch bei den Spitzentönen der Klavier-Akkorde eine Obergrenze, die zum Großteil sogar lediglich im ein- und zweigestrichenen Oktavbereich liegen. In den meisten Fällen bewegen sich die Tonhöhen sowohl des Klaviers als auch des Orchesters innerhalb eines Rahmens von drei bis vier Oktaven. Während im Orchesterpart außerdem eher größere Tonumfänge (bis fünf Oktaven) bevorzugt werden, treten im Klavier öfter ein bis zwei Oktaven umfassende Rahmen auf. Ein Umfang von sieben Oktaven kommt nur äußerst selten vor (Klavier  : T. 88, Orchester  : T. 14 und 20). Der potenzielle Umfang des Klaviers, der den jedes Orchesterinstrumentes überschreiten würde, wird von Jarrell also vorwiegend nur innerhalb eines klassisch-romantischen Werken ähnlichen Bereiches genutzt. Im Verhältnis der Dynamik des Solisten gegenüber jener des Orchesters lässt sich eine Entwicklung innerhalb des Stückes feststellen. Nach den ersten 17 Takten, in denen das Klavier tendenziell lauter als das Orchester spielt, tritt der Solist gegenüber dem Orchester dynamisch in den Hintergrund (T. 18–30). Es folgt ein gemischter Abschnitt (T. 31–81), nach einem Intermezzo, in dem einander zwei dynamisch gleich starke Partner gegenüberstehen (T. 82–103), kommt es erneut zu einem gemischten Teil (T. 104–213). In den Takten 214–232 und 253–260 tritt wieder das Klavier in den Vordergrund, unterbrochen von einem gemischten Abschnitt (T. 233–252). Gegen Ende des Werkes überwiegen zunächst die Passagen, in denen beide Partner eine ähnliche Dynamik haben (T. 261–275), zuletzt aber spielt das Orchester eher lauter als das Klavier (T. 278–297), bevor am äußersten Ende des Werkes das Klavier ohne Orchester übrigbleibt. Im gesamten Stück gibt es im Klavierpart eine dynamische Spannweite von pp bis fff. Vierfaches Forte tritt an nur einer Stelle, T. 241 und 243, auf, zum drei- und vierfachen Piano kommt es erst in den letzten Takten des Werkes (T. 308–311). Die lauteste Dynamik des Stückes (T. 241 und 243) wurde interessanterweise an eine Stelle gesetzt, an der weder das Orchester ebenfalls laut spielen würde (tatsächlich  : pp/p), noch tritt sie als Höhepunkt einer zuvor stattfindenden Entwicklung auf. Auch das Material, das dabei im Klavier verwendet wird (Einzelton und Tonrepetitionen) ist – besonders durch die Repetitionsmechanik des Instrumentes – nicht unbedingt für ein vierfaches forte geeignet. (Viel eher wäre dies z. B. bei den Akkorden in T. 234–236 der Fall.) Die lauteste absolute Dynamik wird daher vermutlich nicht lauter wahrgenommen werden als beispielsweise Akkorde im dreifachen Forte. Sehr wohl hörbar und aus einer Entwicklung heraus schlüssig nachvollziehbar ist die leiseste Dynamik am Werkende, die

253

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

als logische Weiterführung der immer weniger werdenden Orchesterinstrumente und des immer reduzierteren Satzgefüges erscheint. Die Dynamik des Klavierparts kann in mehrere Abschnitte unterteilt werden, die grob der formalen Gliederung entsprechen  : T. 1–92  : mf bis fff

A  : T. 1–92

T. 138–154  : pp bis ff

A’  : T. 142–175

T. 94–137  : pp bis mf T. 155–175  : mf bis fff

T. 176–207  : pp bis poco f

T. 208–311  : abwechselnd pp bis ff und ca. f bis fff

B  : T. 93–141

B’  : T. 176–231

T. 208–213  : pp bis ff T. 214–225  : poco f bis fff T. 226–227  : pp bis ff T. 228–251  : mf bis ffff T. 252–260  : pp bis ff T. 261–277  : ff bis fff

T. 278–311  : pp bis poco f, zum Ende hin decrescendo bis pppp

A’’  : T. 232–276 B’’  : T. 277–311

Wie aus der obenstehenden Tabelle ersichtlich, sind sowohl Teil A als auch Teil B bei ihrem zweiten Auftreten durch die Dynamik-Abschnitte unterteilt. Von T. 208 bis 277 lässt sich keine Korrespondenz mit den Formabschnitten erkennen. Grob zusammengefasst, kann man die einzelnen Abschnitte folgendermaßen bezeichnen  : T. 1–92  : laut T. 94–137  : leise T. 138–154  : laut und leise T. 155–175  : laut T. 176–207  : leise T. 208–311  : laut und leise Die ruhigen B-Teile sind bei ihrem ersten und zweiten Auftreten auch bei dieser Zusammenfassung an leise Dynamik gebunden, die bewegteren A-Teile allesamt an laute oder zumindest gemischte, stark wechselnde dynamische Stufen.

254

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Formale Übersicht II Nachdem im Vorigen einige Aspekte des Werkes gesondert betrachtet wurden, möchte ich nun  – wie bereits angekündigt  – versuchen, die für den Hörer am deutlichsten wahrnehmbaren davon in Beziehung zum Formverlauf (der Folge von A- und B-Teilen) zu setzen. Zu diesen hier ausgewählten Aspekten gehören die Abschnittsbildung durch Passagen, die von Solist, Orchester oder beiden gemeinsam bestritten werden, weiters die Frage, ob der Solist im Vorder- bzw. Hintergrund spielt, Tempowechsel, das Material von Solo- und Orchesterpart, die Dynamik, der Tonhöhenumfang von Klavier bzw. Orchester sowie ganztaktige Tutti-Pausen  : Genaue Übereinstimmungen

ab T. 24

ab T. 38 ab T. 56 ab T. 80

B  : ab T. 93

A’  : ab T. 142

B’  : ab T. 176

Ungefähre Entsprechungen (+/– drei Takte)

Solist in Vorder-/Hintergrund, Material Solostimme, Material ­Orchester Tonhöhenumfang Solostimme, ­Tonhöhenumfang Orchester Tempowechsel

Solist in Vorder-/Hintergrund, Tempowechsel, Tonhöhenumfang Solostimme Tempowechsel

Solist in Vorder-/Hintergrund Solist in Vorder-/Hintergrund Solist in Vorder-/Hintergrund

Material Solostimme, Tonhöhenumfang Orchester, Dynamik Solostimme

S/O/S+O, Solist in Vorder-/Hintergrund, Material Solostimme, TuttiPausen

S/O/S+O, Tempowechsel, Material Solist in Vorder-/Hintergrund, Solostimme, Tonhöhenumfang Solo- Instrumentation gruppenweise, stimme, Tonhöhenumfang ­Orchester, Tutti-Pausen Dynamik Solostimme

A’’  : ab T. 232

Tempowechsel

B’’  : ab T. 277

Tempowechsel, Tonhöhenumfang Orchester

Solist in Vorder-/Hintergrund, ­Material Orchester

Solist in Vorder-/Hintergrund, Material Solostimme, Material Orchester, Tonhöhenumfang Solostimme, Dynamik Solostimme

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Es zeigt sich, dass die weitere Untergliederung des ersten A-Teiles durch wesentlich weniger kompositorische Mittel und Einzelaspekte unterstützt wird, als dies bei den Großteilen der Fall ist. Überraschenderweise kommt es beim Wechsel vom zweiten A- zum zweiten B-Teil zu den meisten Änderungen innerhalb einzelner Parameter. Der ohnehin bestehende Kontrast zwischen A- und B-Teilen wird somit hier besonders deutlich und auf vielfacher Ebene kompositorisch umgesetzt. Ein Grund dafür lässt sich in dem Bedürfnis des Komponisten nach einer gewissen Werkdramaturgie vermuten  : Der Kontrast, der zwischen erstem A- und erstem B-Teil bereits hergestellt wurde, wird nun bei seinem zweiten Auftreten verstärkt, was bei einer Wiederholung eines bestimmten Effektes aus Gründen der Reizerneuerung für den Hörer, der Variierung einer gleichen Grundidee oder aber zur Verdeutlichung derselben notwendig wird. Die bereits vorgenommene Feststellung, dass sich der zweite und dritte A-Teil sukzessive aus den vorangehenden B-Teilen entwickeln, alle B-Teile jedoch plötzlich und schärfer abgegrenzt einsetzen, wird durch die obenstehende Tabelle bestätigt  : Beim Wechsel zu Teil A’ und A’’ kommt es vor allem zu einer Veränderung des Tempos, gemeinsam mit dem Charakter zu Beginn von Teil B’ und B’’ hingegen wechseln auch andere Parameter. Symptomatisch für das gesamte Stück ist bereits das Erscheinungsbild von T. 1. Eine Gesamtbewegung  – in diesem Fall ein Auftakt, ähnlich einem schnellen Glissando aufwärts – entsteht durch mehrere verschiedene Einzelbewegungen, vergleichbar einem Film. Die Verschiedenartigkeit der einzelnen Bewegungen zeigt sich im Rhythmus, den Tonhöhen und dem Zeitpunkt des Einsatzes. Die Kombination aus Piccoloflöte, Harfe im höchsten Register und dreifach geteilten Violoncelli mit Flageolett-Tönen wird erweitert durch den Bell-tree, der die einzelnen konkreten Tonhöhen zusätzlich verwischt. Ein weiteres Beispiel für eine in »Abschied« typische Verteilung einer Gesamtbewegung ist in T. 3 in den Zweiten Violinen zu finden  : Summiert man alle Rhythmen, so entsteht insgesamt eine durchgehende 16tel-Sextolen-Bewegung. An einigen Stellen des Werkes entsteht beim Leser der Partitur (nicht beim Hörer) der Eindruck, es würde sich beim Notentext um das Festhalten einer Art Idealvorstellung handeln. Viele Details sind innerhalb eines Gesamtklanges für den Hörer nicht wahrnehmbar, tragen aber dennoch zu diesem Gesamtklang bei. Zu Beginn des ersten B-Teiles (T. 94–103) beispielsweise steht ein dreimal wiederholter Tutti-Akkord344, auf den eine jeweils unterschiedlich gestaltete Nachklang-Pause folgt. Vergleicht man 344 Lediglich die Pauke fehlt hier, sowie die dritte Piccoloflöte, die eine Verbindung vom Ende des vorigen Teiles herstellt, aber von T. 95 bis 103 pausiert.

255

256

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

die vier Akkorde (T. 94, 97, 100 und 103) miteinander, so lassen sich unzählige kleine Veränderungen feststellen, die vom Hörer zwar als geringfügiges Changieren in ihrer Gesamtheit, nicht aber im Detail wahrgenommen werden können. Diese Veränderungen liegen im rhythmischen und dynamischen Bereich sowie im Bereich der Tonhöhen. In T. 94, 97 und 103 erklingt dreimal derselbe Akkord, in T. 100 jedoch ein Akkord mit einem etwas reduzierten Ambitus, wie folgende Darstellung zeigt  : Notenbeispiel 66  

 

           



 

 

   

  

 



 



 



In T. 100 erklingt in der eingestrichenen Oktave ein beinahe vollständiger Cluster, durch den Wegfall der Randbereiche des vorherigen Akkordes kommt es zu einer stärkeren Zentrierung der Tonhöhen auf die mittlere Lage. Abstrahiert kann die Gestaltung des Tonhöhenbereiches von T. 94 bis 103 als a – a – b – a bezeichnet werden. Im rhythmischen Bereich hingegen kommt es zu einer Vielzahl von Entwicklungen, da jede der 21 verschiedenen Stimmen (insgesamt 56 Stimmen werden hier gebündelt) andere Veränderungen aufweist. Anders als die Gestaltung der Tonhöhen können die rhythmischen Entwicklungen nicht nur als a – a – b – a (Flöte 1), sondern auch als a – b – a – a (Oboe, Englischhorn, Violine I/2, Violoncello 2/3), a – b – b – a (Kontrafagott, Violine I/4), a – b – c – a (Klarinette, Bassklarinette, Violine I/3/5, Violoncello 1/4), a – b – c – b (Fagott 1) und a – b – c – d (Fagott 2) bezeichnet werden. Das Ausmaß der Veränderungen des Rhythmus wie auch jener der Dynamik ist dabei meist relativ gering. (Z. B. wird eine Vierteltriole zu einer punktierten Achtelnote.) Hinzu kommt, dass gleichzeitig in verschiedenen Instrumenten eine Zu- und eine Abnahme der rhythmischen Werte erfolgt, was die Nachvollziehbarkeit durch den Hörer weiter einschränkt. Viel eher hörbar ist etwa der Wechsel von chinesischem Becken (T. 93–94) zu Tam-tams (T. 97 und 100) oder das Fehlen des Soloklaviers in T. 97. (Erst in T. 98 setzt es erneut ein.) Um ähnlich detailreiche, jedoch undurchhörbare Stellen handelt es sich z. B. auch bei den Takten 29–30, dem kanonisch gebauten Streichersatz in T. 51 innerhalb eines mehrschichtigen Tuttis, T. 159 (22 rhythmisch, dynamisch, artikulatorisch und in den

Michael Jarrell  : »Abschied« für Klavier und Orchester

Tonhöhen verschiedene Stimmen), dem Streichersatz in T. 277 ff. u. v. a. Doch auch für die Spieler selbst, insbesondere den Solisten, reichen manche Passagen bis an die Grenzen des Spielbaren. Bei den extrem schnellen Akkordwechseln im Solopart der Takte 235/236 und 259/260 ergänzt Jarrell selbst eine Ossia-Version zum Notentext und notiert dazu  : »la version ›écrite‹ est une sorte d’idéal impossible. Il s’agit d’une suite d’accords / clusters qui varient, jouée à deux mains. L’›empreinte‹ des mains change chaque fois.« (»Die ›notierte‹ Version ist eine Art unmögliches Ideal. Es handelt sich um eine Folge von variierenden Akkorden/Clustern, mit zwei Händen gespielt. Der ›Abdruck‹ der Hände wechselt jedes Mal.«345 (Trotzdem notiert der Komponist seine »Idealversion« ganz genau.) Jarrell geht allerdings nicht in allen Bereichen bis an die Grenzen des technisch Möglichen  : Wie schon erwähnt, findet man innerhalb der Klavierstimme im gesamten Werk keine echte Polyphonie, sondern zumeist eine auf die beiden Hände des Pianisten verteilte Einstimmigkeit. Dies liegt einerseits an der Komplexität des Notentextes und der schnellen rhythmischen Werte (bis 32tel-Dezimolen bei  = 80), die zum Teil eine Verteilung auf zwei Hände notwendig machen. Zudem ginge eine Übereinanderschichtung zweier komplexer Rhythmen innerhalb der Klavierstimme an die Grenze der Spielbarkeit, zwar nicht hinsichtlich der Technik, jedoch hinsichtlich des Auffassungsvermögens eines Spielers. Andererseits scheint mir die erweiterte Einstimmigkeit durchaus eine bewusste kompositorische Vorgabe des Komponisten gewesen zu sein, da diese auch in weniger komplexen Passagen beibehalten wird. Erstreckt sich allerdings die Bewegung über mehrere Oktaven, so kann klanglich eine Quasi-Polyphonie entstehen.

345 Übersetzung der Verfasserin

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Nachwort

Zu Beginn dieses Buches wurde die Gegenüberstellung und somit die klare Unterscheidbarkeit von Solist und Orchester als wichtigstes Kriterium der »Gattung Klavierkonzert« bezeichnet. Genau dieses »Prinzip Klavierkonzert« ist es, das über alle stilistischen und historischen Grenzen hinweg stetig neu belebt wird. Festzuhalten ist daher, dass unter dem Gattungsbegriff »Klavierkonzert« am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Allgemeinen nicht ein Formschema oder ein bestimmtes Hierarchieverhältnis verstanden wird. Dieses Bewusstsein stellte auch das Fundament der Detailanalysen dar. Werkspezifische Aspekte wurden zwar jeweils berücksichtigt, die Frage nach dem Verhältnis von Solist und Orchester bildete jedoch selbst bei der Besprechung einzelner Details stets eine Art analytische Rezeptionsfolie. Zugleich stand bewusst eine möglichst ergebnisoffene Herangehensweise im Vordergrund. Mit Morton Feldmans »Piano and Orchestra« wurde gleich zu Beginn ein Werk ausgewählt, das die Frage der Legitimität der Bezeichnung »Klavierkonzert« und somit der Auswahl innerhalb dieses Buches dringend aufwirft. Zugleich bot diese Komposition Gelegenheit dazu, die eigenen analytischen »Werkzeuge« und Prämissen zu reflektieren und zu überdenken. Feldmans spezifische Klangsprache erfordert zudem eine besondere Art des Hörens, das völlige Fehlen von Virtuosität im »herkömmlichen« Sinne stellt auch die Interpreten vor neue Herausforderungen  : Ähnlich dem Analytiker steht bei Feldmans Werken das Vermitteln von Zusammenhängen über die Grenzen scheinbar lose aneinandergefügter Klänge hinweg im Vordergrund. Hierbei handelt es sich nicht um ein »Hineininterpretieren« aufgrund von überkommenen Analyseschemata, sondern – wie auch an Beispielen aufgezeigt wurde – um tatsächlich existierende Bezugnahmen, Abschnittsbildungen, Rückgriffe, dem vom Komponisten bewussten Einsatz von Permutationen einzelner Elemente innerhalb eines kurzen Abschnittes (T. 277–288) u. dgl. Was das Verhältnis von Solist und Orchester und somit die Frage nach dem Bezug Feldmans zur »Gattungstradition« betrifft, so ist dieses Werk tatsächlich als Grenzfall einzustufen. Allein durch die Wahl des Titels aber wird ein Publikum eine gewisse Hörhaltung einnehmen, fokussiert auf das Klavier als Soloinstrument gegenüber dem

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Nachwort

Kollektiv des Orchesters. Auch wenn manche analytischen Befunde gegen eine Einordnung des Werkes als »Klavierkonzert« sprechen, so stellt es gleichsam den »Nullpunkt« einer Gattung dar, die von den anderen detailliert besprochenen Komponisten wesentlich traditionsgebundener aufgegriffen wurde. Diese Aussage mag besonders im Falle des zweiten analysierten Werkes, »Ausklang« von Helmut Lachenmann, verwundern. Durch seine vielfache Auseinandersetzung mit »Traditionen« jeglicher Art, besonders auch Hörtraditionen, müsste Lachenmann eigentlich den extremsten Fall der Brechung von ebendiesen Traditionen darstellen. Dennoch handelt es sich bei »Ausklang« um eine viel eindeutigere Absetzung des Solisten vom Orchester, zudem um einen rondoartigen formalen Aufbau (ABABAForm), und somit um eine klarere Unterscheidbarkeit von bewegten und ruhigen Teilen, als dies bei Feldmans Komposition der Fall ist. Es gibt direkte Bezugnahmen zur Tradition des Solokonzertes wie etwa das zweimalige Einbauen einer »Solokadenz« – auch wenn diese bei einem Komponisten wie Lachenmann klarerweise unter Anführungszeichen zu setzen ist. Auch seine eigene »Tradition« hat Lachenmann in diesem Werk reflektiert, was durch die Bezugnahmen auf andere Kompositionen, besonders jene für Klavier solo, dargestellt wurde. Zuletzt wurde über die Frage der Gattungstradition hinausgehend versucht, die Position von »Ausklang« innerhalb des Gesamtwerkes zu beleuchten und so die Problematik eines Komponisten darzustellen, der durch unzählige theoretische Äußerungen eine Basis von Ansprüchen geschaffen hat, die er selbst und der Hörer an sein Werk setzen könnte. Völlig andere ästhetische Prämissen lagen der Analyse des »Konzertes für Klavier und Orchester« von György Ligeti zugrunde. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein Beispiel für Ligetis Art der Integration vielfältigster Einflüsse unter Bewahrung und Schaffung einer für ihn charakteristischen Musiksprache, sondern auch – gemeinsam mit Witold Lutosławskis Klavierkonzert – um eines der für den Analytiker unproblematischsten Werke dieses Buches. Beide Komponisten gehen mit der Frage nach der Auseinandersetzung mit der »Gattungstradition« relativ unproblematisch (wenngleich nicht unreflektiert) um. In beiden Fällen handelt es sich um mehrsätzige Werke, was sie von den übrigen hier besprochenen Klavierkonzerten unterscheidet. Ligetis und Lutosławskis Kompositionen stellen in diesem Zusammenhang gleichsam die »traditionellsten« Beispiele der Gattung dar. Gerade im Falle Lutosławskis wurde zusätzlich versucht, die Rolle des Hörers, sein Erinnerungsvermögen und somit seine Erwartungshaltung bezüglich des kommenden Geschehens miteinzubeziehen, um so über herkömmliche Analysekategorien hinausgehend neue Perspektiven aufzuzeigen. Konträr zur Haltung Ligetis und Lutosławskis gegenüber der Gattungstradition erscheint das in etwa zehn Jahre später entstandene Werk »… à la recherche …« von Gerd Kühr. Für diesen Komponisten stellte es geradezu ein »Problem« dar, überhaupt

Nachwort

für Klavier zu komponieren. Umso mehr war es eine Herausforderung, sich mit der für ihn zu behaftet erscheinenden Gattung Klavierkonzert auseinanderzusetzen. Der Titel kann so auch als Suche nach einer Lösung für diese »Probleme« darstellen. Die Position des Solisten gegenüber dem Orchester aber wird trotz des vorsichtigen Umgangs Kührs mit »Traditionen« verschiedenster Art an keiner Stelle des Werkes infrage gestellt. Dies ist beim letzten näher besprochenen Komponisten, Michael Jarrell, sehr wohl der Fall. Wie gleich zu Beginn des Kapitels aufgezeigt wurde, handelt es sich bei »Abschied« zwar um eine eigenständige Komposition, doch wurden zahlreiche Passagen des Orchesterparts aus anderen Werken Jarrells direkt übernommen und neu kombiniert. Die Solostimme hingegen erscheint in diesem Zusammenhang als austauschbar und fakultativ. Wüsste man nichts von diesen Übernahmen, so würde man Jarrells Werk vermutlich auch analytisch völlig anders bewerten und einordnen. Der Frage nach der Auseinandersetzung von Solist und Orchester wurde daher auch unter Bedachtnahme dieses Aspektes nachgegangen.

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Register

Dieses Register beschränkt sich zum Zwecke einer besseren Übersichtlichkeit auf die im Text erwähnten Komponisten, Werke und Interpreten. Bach, Johann Sebastian 73f. Kantate »Aus tiefer Not schrei ich zu dir«, BWV 38 73 Barenboim, Daniel 14 Berg, Alban 123 Violinkonzert 123 Berio, Luciano 12f. Concerto für zwei Klaviere und Orchester 12f. points on the curve to find … 12 Birtwistle, Harrison 10f., 15 Antiphonies 10f., 15 Bonaventura, Anthony di 87 Bonaventura, Mario di 87 Chopin, Frédéric 85, 106, 121, 136, 178ff. Klavierkonzert e-Moll, op. 11 136, 179f. Damerini, Massimiliano 48 Eötvös, Peter 48 Feldman, Morton 12, 19–45, 50, 78, 135f., 171, 259f., 263f. Cello and Orchestra 23f., 26, 31, 38 Coptic Light 23 Crippled Symmetry 23 Flute and Orchestra 24, 26, 28, 31, 33, 38 Neither 31 Oboe and Orchestra 22, 24, 26, 28, 31, 37f. Orchestra 22 Piano and Orchestra 12, 19–45, 50, 135f., 171, 259f. Piano, Violin, Viola, Cello 23 String Quartet and Orchestra 22

The Viola in My Life 23, 37 Violin and Orchestra 24, 31, 38 Furrer, Beat 12 Konzert für Klavier und Orchester 12 Gadenstätter, Clemens 13 comic sense 13 Glass, Philip 16 Tirol Concerto 16 Grisey, Gérard 15 Vortex temporum I, II und III 15 Haas, Georg Friedrich 11f., 15 Klavierkonzert 11f., 15 Huber, Klaus 11 Intarsi 11 Jarrell, Michael 17, 225–257, 261, 264 Abschied 225–257, 261 Abschied II 228f. Assonance IX 226 From the leaves of shadow 226 … mais les images restent … 227f. Kühr, Gerd 17, 183–224, 260f. Agleia sucht Pollicino und findet Hans 184 … à la recherche … 183–224, 260f. Concertare 184 Dreiklangspiel für zwei Klaviere 184 Movimenti 184f. Quasi una variazione 184 Ricordarsi 184 Stop the Piano 184, 187

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Register Lachenmann, Helmut 13, 17, 47–84, 135, 171, 260, 265–269 Allegro sostenuto 70, 76f. Ausklang 47–84, 171, 260 Das Mädchen mit den Schwefelhölzern 47 Echo Andante 74f. Gran Torso 73 Guero 74, 80 Harmonica 60f. Mouvement (– vor der Erstarrung) 72 Notturno 60 Nun 78 Serynade 48, 75f., 78 Souvenir 47 Tanzsuite mit Deutschlandlied 73 Wiegenmusik 74f. Lang, Klaus 15 The book of serenity 15 Larcher, Thomas 225 Ligeti, György 17, 52, 70, 85–135, 260, 269ff. Apparitions 88, 122 Atmosphères 88, 92, 121 Continuum 93 Doppelkonzert für Flöte, Oboe und Orchester 85, 141 Drei Stücke für zwei Klaviere 93 Hamburgisches Konzert 89 Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten 85f. Klavieretüden 89f., 93, 110f., 113, 124 Konzert für Klavier und Orchester 17, 52, 85–134, 260 Konzert für Violoncello und Orchester 85, 121 Le Grand Macabre 87, 102, 110 Lontano 91, 110, 121 Lux aeterna 110 Musica ricercata 113 Nonsense Madrigals 89 Poème Symphonique 93 Requiem 110, 121 Sonate für Viola solo 89 1. Streichquartett 113 Trio für Violine, Horn und Klavier 87, 93, 110, 113 Volumina 121 Lutosławski, Witold 11, 17, 52, 135–182, 260, 271–273

Chain 2 136, 177, 181 Concerto for Cello and Orchestra 136, 141, 181 Concerto for Orchestra 167 Concerto for Piano and Orchestra 17, 52, 135–182, 260 Epitaph 176 Livre pour orchestre 163, 177 Partita 177, 180 Second Symphony 163 String Quartet 163 Third Symphony 163, 176f. Messiaen, Olivier 14f., 263 Un vitrail et des oiseaux 14f. Oiseaux exotiques 14f. Reveil des oiseaux 15 Mundry, Isabel 14, 263 Panorama ciego 14 Ohana, Maurice 11 Concerto pour piano et orchestre 11 Palm, Siegfried 23 Penderecki, Krzysztof 13f. Dies irae 13 Resurrection 13f. Threnos 13 Rihm, Wolfgang 14, 83 Sotto voce. Notturno für Klavier und kleines ­Orchester 14 Schiff, András 11 Sciarrino, Salvatore 15f. Clair de lune op. 25 15f. Staud, Johannes Maria 13 Im Lichte. Musik für zwei Klaviere und Orchester 13 Suragawa, Yukiko 48 Urbanner, Erich 12 Klavierkonzert »76« 12 Woodward, Roger 23 Zimerman, Krystian 135f., 179

DANIEL BRANDENBURG, FRIEDER REININGHAUS DANIEL ENDER (HG.)

NEUE MUSIK WIRD HISTORISCH ÖSTERREICHISCHE MUSIKZEITSCHRIFT, JG. 68, HEFT 3/2013

Über ein Jahrhundert ist das Phänomen der „Neuen Musik“ inzwischen alt, ohne dass sich grundsätzlich etwas an der Kluft zwischen den „Neutönern“ und weiten Teilen des Publikums geändert hätte. Aus der historischen Distanz ist jedoch die widersprüchliche Gegentendenz wahrnehmbar, dass sich seither bereits „Klassiker der Moderne“ etabliert haben. Dieses Heft der ÖMZ versucht, den Prozess der Historisierung der Neuen Musik in den Blick zu nehmen, und fragt nach den Prinzipien der Kanonisierung und Repertoirebildung im 20. und 21. Jahrhundert. Außerdem sucht es nach Spuren historischer Einflüsse in der zeitgenössischen Musik und thematisiert die potenzielle Gefahr des Veraltens selbst bei gegenwartsnahen Werken u.a. von Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Friedrich Cerha. 2013. 120 S. ZAHLR. S/W-ABB. BR. 165 X 235 MM | ISBN 978-3-205-78933-8

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

DANIEL BRANDENBURG, FRIEDER REININGHAUS DANIEL ENDER (HG.)

1913 – SKANDALKONZERTE ÖSTERREICHISCHE MUSIKZEITSCHRIFT, JG. 68, HEFT 2/2013

Zwei Ereignisse des Jahres 1913 haben unverrückbar Eingang in die jüngere Musikgeschichte gefunden: zum einen die Uraufführung von Igor Strawinskis Ballett „Le Sacre du Printemps“ in Paris, zum anderen das legendäre Wiener Skandalkonzert mit Werken von Anton Webern, Alexander Zemlinsky, Arnold Schönberg und Alban Berg, das inmitten von dessen „Altenberg-Liedern“ und noch vor Gustav Mahlers „Nun will die Sonn‘ so hell aufgeh‘n!“ abgebrochen werden musste. Beide Ereignisse lässt dieses Heft der ÖMZ Revue passieren. Skandalös sind Uraufführungen zeitgenössischer Kompositionen inzwischen freilich kaum mehr. Zu erkunden ist darum auch das weitgehende Verschwinden dieses Phänomens aus dem Bereich der Hochkultur und seine Verlagerung in die massenmedial verbreitete Popularkultur. 2013. 120 S. ZAHLR. S/W-ABB. BR. 165 X 235 MM | ISBN 978-3-205-78932-1

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RICHARD BLETSCHACHER

THEATERSTÜCKE FÜR MUSIK II KAMMEROPERN – KIRCHENOPERN – MELODRAMEN – BEARBEITUNGEN

Nachdem der erste Band der Theaterstücke für Musik von Richard Bletschacher die abendfüllenden Opern enthielt, versammelt der hier vorgelegte zweite Band einerseits die kleiner dimensionierten Werke, die weniger musikalischen Aufwand erfordern: Kammeropern, Melodramen, aber auch Stücke, die ihre Aufführung am besten in Kirchenräumen finden sollten. Als Komponisten wirken mit: Peter Ronnefeld, Kurt Schwertsik, Iván Eröd, Erich Urbanner, H. K. Gruber, Perikles Liakakis und Robert Pobitschka. Danach folgen vier Werke, deren Autorschaft Richard Bletschacher nicht für sich allein beanspruchen kann: die Ergänzung eines von Mozart hinterlassenen Textfragments „Die Brautwerbung“, die szenische Fassung von Mozarts Kantate „Davidde penitente“ zusammen mit seiner Schauspielmusik zu „König Thamos“, die textliche Neufassung der Operette „Indigo“ von Johann Strauß und endlich die Ergänzung und textliche Neufassung von Schuberts Fragment „Sakontala“. 2013. 393 S. GB. MIT SU. 235 X 155 MM | ISBN 978-3-205-78855-3

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RichaRd BletschacheR

theateRstücke füR Musik

Robert Bletschacher, über vier Jahrzehnte Mitglied der Wiener Staatsoper, hat sich als Regisseur und Chefdramaturg nicht nur um das Repertoire vom Barock bis zur Moderne verdient gemacht, er hat auch als Autor gemeinsam mit einigen der angesehensten Komponisten einen bedeutsamen Beitrag zur Neubelebung und Weiterentwicklung des europäischen Musiktheaters erbracht. Neben einem guten Dutzend abendfüllender Werke hat er Texte und Spielvorlagen für Kammeropern, Kirchenopern, Melodramen und experimentelle Stücke geschaffen. Fast alle wurden von renommierten Musikverlagen veröffentlicht und auf großen deutschsprachigen Bühnen uraufgeführt. Ihrer zwanzig bilden seither ein kleines, vielgestaltiges Kompendium zeitgenössischen Musiktheaters der letzten Jahrzehnte und, wie zu hoffen ist, noch für Jahre darüber hinaus. 2011. 475 S. Gb. mit SU. 155 x 235 mm. iSbN 978-3-205-78724-2

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