Das wiedervereinigte Deutschland - eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik? [1 ed.] 9783428499595, 9783428099597

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Das wiedervereinigte Deutschland - eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik? [1 ed.]
 9783428499595, 9783428099597

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Das wiedervereinigte Deutschland eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik?

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 71

Das wiedervereinigte Deutschland - eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik?

Herausgegeben von

Karl Eckart und Eckhard Jesse

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Das wiedervereinigte Deutschland- eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik? I hrsg. von Kar( Eckart und Eckhard Jesse. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung; Bd. 71) ISBN 3-428-09959-1

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany

© 1999 Duncker &

ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09959-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706§

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ...... ...................................................................................... .

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Wolfgang Schäuble Wie geht die Entwicklung weiter? Deutschland vor der Jahrhundertwende ... II Eckhard Jesse Von der "Bonner Republik" zur "Berliner Republik"? Mehr Kontinuität als Wandel

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Wilhelm Bürklin Jammer-Ossis versus Besser-Wessis? Die politische Kultur im vereinigten Deutschland

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Geoffrey K. Roberts Ist ein neues Parteiensystem entstanden? Mehr Wandel als Kontinuität ....... 53 Ernst Nolte Vom vereinigten Deutschland zum vereinigten Europa? Deutschland im "langen Jahrzehnt" ................ .. ........................................................ .... 65 Jens Hacker Eine neue Rolle Deutschlands im internationalen Kräftefeld? Mehr Verantwortung für das vereinte Deutschland -- --- ---- -- -·-······· ··················· ·········--- 77 Gerald R. Kleinfeld Ist den Deutschen zu trauen? Das Ausland und das vereinigte Deutschland __117 Richard Sehröder Wann ist die Einheit vollendet? Zum Stand der deutschen Einigung __ _____ ____ 135 Auswahlbibliographie -------- ---- ------ ------------- --------- ----- ---- --------------- --- ------- 145 Verfasser und Herausgeber-- ----------------------···------------------ --- ---- ----- ------·--- 155

VORWORT Diese Publikation dokumentiert die 20. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, die in der Zeit vom 19. bis 20. März 1998 im Roten Rathaus in Berlin stattfand. Es war eine Jubiläumstagung: Zwanzig Jahre zuvor - am 19. April 1978- war die Gesellschaft aus der Taufe gehoben worden. Ihr zentrales Anliegen bestand darin, die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit zu fördern. Mit der Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 ist die Gesellschaft für Deutschlandforschung keineswegs überflüssig geworden. So geht es darum, die Vergangenheit aufzuarbeiten, die Gegenwart zu bilanzieren und Perspektiven fur die Zukunft aufzuzeigen. Das Thema der Jubiläumstagung lautete: "Das wiedervereinigte Deutschland - eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik?" Dieser Frage ist nicht nur durch den Umzug von Bundestag und Bundesregierung nach Berlin eine besondere Aktualität zugewachsen. Die Tagung wurde von Vorträgen umrahmt, deren Referenten bei der deutschen Einigung eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Der damalige Bundesinnenminister (und heute Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag) Wolfgang Schäuble gilt als "Vater" des Einigungsvertrages. Der frühere Fraktionsvorsitzende der SPD in der ersten und einzigen demokratisch gewählten Volkskammer, Richard Schröder, der heute Theologieprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin ist, hat 1990 mehrfach die eigene Richtung bedrängt, dem Einigungsvertrag zuzustimmen. Wolfgang Schäuble hob den schnellen Wandel auf vielen Gebieten hervor z. B. dank neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Deutschen müssen als eine der fuhrenden Industrienationen auf dem Weltmarkt ihre Wettbewerbsfähigkeit verteidigen. Hierzu gehören Reformen (z. B. im Steuersystem, im Hochschulsystem und in der Arbeitsmarktpolitik). Durch die Globalisierung gewinnen äußere Faktoren so stark an Bedeutung wie niemals zuvor. Der Nationalstaat stößt laut Schäuble an die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit, auch wenn Europa noch lange auf die Nationalstaaten als Identitätsebene angewiesen bleibt. Der Autor plädiert für die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips; die solidarische Hilfe der Gemeinschaft habe erst dann einzusetzen, wenn die Kräfte des Einzelnen nicht ausreichen. Allerdings dürfe Solidarität bei den Deutschen, die seit Beginn der neunziger Jahre wieder in einem Land leben, nicht zu kurz kommen. Richard Sehröder äußert sich essayartig zum Stand der deutschen Einigung, um die es gegenwärtig nicht so gut bestellt sei wie im Jahr der deutschen Ein-

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Karl Eckart und Eckhard Jesse

heit. Er verdeutlicht, daß die Antwort nach dem Stand der deutschen Einheit wesentlich von den Maßstäben abhängt, die man anlegt. Die Wahlerfolge der PDS, die laut Sehröder als eine "undefinierte Partei" firmiert, seien ein Gradmesser flir den Stand der deutschen Einheit. Der Autor fordert keine Ausgrenzung der PDS, wohl aber eine Abgrenzung von ihr. Laut Sehröder ist die deutsche Einheit u. a. dann vollendet, wenn man Ost-West-Unterschiede so gelassen betrachten könne wie Nord-Süd-Unterschiede. Dazu hat er einen Beitrag geleistet. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse und Mitherausgeber dieses Bandes fUhrt in die Thematik ein. Anhand verschiedener Beispiele (institutionelle Ordnung, politische Kultur, Parteiensystem, streitbare Demokratie, Außenpolitik) wird verdeutlicht, daß die Verwendung von plakativen Begriffen wie "Bonner Republik" und "Berliner Republik" in die Irre fuhrt. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich kontinuierlich weiterentwickelt. Das gilt flir die Zeit von 1949 bis 1990 ebenso wie flir die neunziger Jahre. Allerdings ist 1990 mit der deutschen Vereinigung kein Bruch eingetreten. Wie haben keine "dritte deutsche Republik" bekommen. Durch den Beitritt der DDR ist kein neuer Staat entstanden. Jedoch bedeutet die Erweiterung in mancher Hinsicht auch eine Veränderung. Der Potsdamer Politikwissenschaftler Wilhelm Bürklin geht der Frage nach, ob sich die politische Kultur in den alten und in den neuen Bundesländern unterscheidet. Jedenfalls sprechen viele davon, daß sich "Jammer-Ossis" und "Besser-Wessis" seit der deutschen Einheit auseinandergelebt haben. Bürklin kritisiert die diffuse Entgrenzung des Begriffs der inneren Einheit. Auf diese Weise gilt jede Abweichung zwischen Ost und West als Störung der nationalen Integration. Mit der Idee der pluralistischen Demokratie sei ein solches Verständnis nur schwer vereinbar. Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gefährden keineswegs die Demokratie. Gleicht sich die ökonomische Entwicklung im Osten und Westen Deutschlands an, dürfte die Unzufriedenheit in den neuen Bundesländern nachlassen. Es liegt auf der Hand, daß das geringere Vertrauen in die Mechanismen der sozialen Marktwirtschaft in den Problemregionen besonders ausgeprägt ist. Dieser Befund gehe also nicht auf Sozialisationseffekte zurück. Der britische Parteienforscher Geoffrey K. Roberts untersucht Kontinuität und Wandel des Parteiensystems. Dabei bezieht er sich vor allem auf fünf Eigenschaften des Parteiensystems: die Zahl der Parteien, ihre Stärke, die ideologische Bandbreite des Parteiensystems, die Koalitionsbereitschaft der Parteien und die territoriale Homogenität des Parteiensystems. Sein Befund ist eindeutig: Ungeachtet gewisser Kontinuitäten hebt der Autor insbesondere die Unterschiede des Parteiensystems gegenüber der Zeit vor der deutschen Einheit hervor. Mit der PDS - einem Erbe der DDR - ist eine fünfte Partei dazugekommen, die die Koalitionsstrategie der SPD erschwert. Die FDP und das Bündnis 90/Die Grünen sind in den neuen Bundesländern ohne Bedeutung. Diese und andere

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Vorwort

Faktoren gestatten den Schluß, daß das Parteiensystem der (neuen) "Berliner Republik" sich deutlich von dem der "Bonner Republik" abhebt. In den Wandlungen sieht der Autor insgesamt keine Gefahr fur die Demokratie. Der Berliner Historiker Ernst Nolte prüft die Frage, ob die Vereinigung Deutschlands die Vereinigung Europas nach sich zieht bzw. nach sich ziehen sollte. Nach der Gegenüberstellung einer positiven und negativen Urteilstendenz bietet der Autor einen historischen Rückblick an (nicht zuletzt mit Blick auf Widerstände gegen die erste deutsche Einigung durch Bismarck). Sein Fazit: Die vergrößerte Bundesrepublik möge die konsequente, aber nicht exklusive Fortsetzung der alten Bundesrepublik sein. Sie habe den Weg zu einem Europa zu bahnen, das weniger als ein Bundesstaat, aber mehr als ein Staatenbund ist. Der Regensburger Politikwissenschaftler Jens Hacker bejaht die Frage, ob dem vereinigten Deutschland im internationalen Kraftfeld eine neue Rolle zufällt. Die Bundesrepublik komme nicht umhin, künftig mehr Verantwortung zu übernehmen. Der Autor unterstützt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994, wonach der Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATOGebiets durch das Grundgesetz gedeckt ist. Er plädiert auch ftir die Osterweiterung der NATO. Die Bundesrepublik Deutschland müsse weiterhin in der westlichen Wertegemeinschaft verankert sein. In diesem Sinne liegt die neue Bundesregierung auf derselben Linie wie die alte. Insofern laufe auch die Bezeichnung "Berliner Republik" aufkeinen grundsätzlichen Wandel hinaus. Der amerikanische Historiker Gerald R. Kleinfeld, der sich in seinem persönlich gefärbten Essay besonders der Frage annimmt, wie das Ausland, insbesondere die USA, die Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung einschätzt, vertritt die These, daß sich die Betrachtungsweise Deutschlands durch die Vereinigten Staaten bereits vor der deutschen Einheit gewandelt hat. Auch wenn sich die wirtschaftlichen, die innenpolitischen und die internationalen Verhältnisse zumal ftir die Deutschen verändert haben, so besteht das Vertrauen der USA fort. Für Kleinfeld zeichnet sich die "Berliner Republik" gegenüber der "Bonner Republik" durch Kontinuität aus, ungeachtet mancher Veränderungen. Daher sei die Frage, ob den Deutschen zu trauen sei, nach fünfzig Jahren Demokratie kaum zu verstehen. Einige Vorträge wurden beträchtlich aktualisiert (unter Einbeziehung der Bundestagswahl 1998) und mit wissenschaftlichem Apparat versehen, bei anderen blieb die essayartige Vortragsform erhalten. Wenn auch die Antworten auf die Leitfrage unterschiedlich ausgefallen sind, so herrschte doch Konsens vor, daß der Weg der Bundesrepublik eine Fortsetzung verdient, wie immer das Staatswesen zu charakterisieren sei. Karl Eckart und Eckhard Jesse

Wolfgang Schäuble WIE GEHT DIE ENTWICKLUNG WEITER? DEUTSCHLAND VOR DER JAHRHUNDERTWENDE 1.

Erfolge ohnegleichen haben wir zu verzeichnen, wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts zurückblicken. Blicken wir dagegen nach vorne, sehen wir Probleme über Probleme. Nach Zerstörung, Gewalt und Verirrung leben wir am Ausgang des Jahrhunderts in Wohlstand und Sicherheit, in individueller und kollektiver Freiheit und in selbstverständlicher Partnerschaft mit unseren Nachbarn. Und gleichwohl herrschen Zukunftsangst und Orientierungssehnsucht, Angst vor Veränderungen und gleichzeitig die Ahnung, daß nichts bleibt, wie es war. Widersprüchlich sind auch die Erfahrungen in unserer Alltagswelt - wachsende soziale Probleme einerseits und ausgebuchte Flüge in die Karibik zur gleichen Zeit, über 4,5 Millionen Arbeitslose in einer Gesellschaft, die ohne den alljährlichen Einsatz hunderttausender ausländischer Erntehelfer, aber auch ohne ausländische Mitbürger in der Gastronomie zu verhungern droht. Im Osten unseres Vaterlandes ist vor allem die enorme Diskrepanz zwischen dem, was seit der Vereinigung alles erreicht wurde, und dem Leiden an den Problemen, die sich seitdem aufgetan haben. Die Widersprüchlichkeit geht weit über den Bereich von Wirtschaft und Sozialem hinaus. So haben wir nach dem Ende des Ost- West-Konflikts nicht den Ausbruch des ewigen Friedens, sondern ganz neue, schwerer kalkulierbare Krisenszenarien. Und während Fukuyama noch vom Ende der Geschichte schrieb, diskutieren wir heute: "Was hält die freiheitliche Gesellschaft zusammen?" und: Auf welche Fundamente läßt sich die Stabilität unserer Freiheitsordnung dauerhaft gründen, nachdem die Herausforderung der bedrohenden Alternative entfallen ist? Tastend noch suchen wir uns in einer neuen Zeit und einer sich wandelnden Welt zu orientieren. Wie wird die Welt von morgen aussehen? Was zählt? Was gilt? Was bringt uns weiter?

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Wolfgang Schäuble

2.

Die Welt um uns ist in Bewegung geraten. Mit atemberaubendem Tempo entwickeln sich Länder und Kontinente aufeinander zu - Stichwort Globalisierung der Märkte, Globalisierung des Wissens, Globalisierung aber auch aller Daseinsrisiken. Die Welt rückt enger zusammen, Entfernungen schrumpfen, Grenzen schützen nicht mehr. Ob Umweltgefahren oder Fragen der inneren oder äußeren Sicherheit - längst sind die Probleme dieser Welt unteilbar geworden. Die Welt ist, auch was die Gemeinsamkeit der Risiken, Bedrohungen und vor allem die Verteilungskonflikte betrifft, ein "globales Dorf' geworden. Daß sich im globalen Dorf die Menschen stärker an ihren Nachbarn orientieren, das ist nicht verwunderlich. Das Wohlstands- und Konsummodell, das wir in den reifen Industriegesellschaften des Westens pflegen, ist flir die Menschen in den industriellen Schwellenländern und in den Ländern der Dritten Weit höchst attraktiv, obwohl es sich dabei um ein ausgesprochenes Minderheitenmodell handelt. 15 % der Weltbevölkerung in Mittel- und Westeuropa und in Nordamerika nehmen heute 80% des weltweiten Ressourcenverbrauchs in Anspruch. Aber das hält die anderen 85% der Weltbevölkerung nicht davon ab, im Zuge der Globalisierung sich unser Wohlstandsniveau zum Leitbild zu nehmen. Dieses Wohlstandsmodell setzt einen enormen Stoff- und Energieverbrauch voraus und ist mit großen Umweltbelastungen verbunden. Je weiter sich dieses Modell verbreitet, desto mehr muß sich weltweit die Ökobilanz verschlechtern. Man schätzt, daß der Energiebedarf gerade in den schwächer entwickelten Regionen dieser Erde jährlich um rund 3 % zunehmen wird. Das wiederum bedeutet eine gewaltige Zunahme an Luftschadstoffen - flir Lateinamerika und Afrika z.B. rechnet man für die nächsten zwei Jahrzehnte mit einer Zunahme der Kohlendioxyd-Emissionen um das Eineinhalb- bis Zweifache. Nun werden wir von den ärmsten Ländern dieser Erde nicht gut erwarten können, daß sie sich weiter mit ihrem geringen Lebensstandard begnügen, nur damit der Weltenergieverbrauch und die damit verbundene Umweltbelastung nicht noch zusätzlich ansteigt. Es werden daher die westlichen Industrieländer einen überproportionalen Beitrag zur Energieeinsparung und zur Schadstoffreduzierung erbringen müssen, wenn sich die globalen Umweltprobleme nicht ernsthaft zuspitzen sollen. Auf jeden Fall zwingt uns die Dynamik globaler Wachstumsprozesse, ein neues Verständnis von der Knappheit von Ressourcen zu entwickeln, das gekoppelt sein muß mit der Bereitschaft, auch entsprechend globale Handlungsoptionen zu entwickeln und wahrzunehmen. In der enger werdenden weltwirtschaftliehen Verflechtung wachsen die Märkte zusammen, ökonomische Entfernungen schrumpfen. Neue Informa-

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tions- und Kommunikationstechnologien ennöglichen den Zusammenschluß von Kapitalmärkten, die Vemetzung von Produktionskapazitäten. Modeme Verkehrsinfrastruktur erlaubt den schnellen und preiswerten Transport von Gütern rund um den Globus. Das bedeutet, daß heute jeder Standort in unmittelbarer Konkurrenz steht mit jedem anderen Standort auf der Welt, in einem harten Wettbewerb um Produktionsanteile und Arbeitsplätze, einem Wettbewerb, in dem es Gewinner gibt und Verlierer, wobei die westlichen Industrieländer Gefahr laufen, eher zu den Verlierern zu zählen als zu den Gewinnern. Wenn wir unserem Land das erreichte Niveau an wirtschaftlichem Wohlstand dauerhaft sichern wollen, dann geht das nur, wenn wir im internationalen Standortwettbewerb weiterhin in der ersten Liga spielen. Als fUhrende Industrienation, die zudem stark vom Export abhängig ist, muß es uns Deutschen vor allem darum gehen, unsere Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten zu verteidigen und notfalls zurückzugewinnen. Der internationale Wettbewerb wird heute vor allem um technologische Spitzenprodukte ausgetragen. Unser Land hat gute Chancen, in diesem Wettbewerb mitzuhalten. An Kreativität mangelt es uns nicht. In den Patentstatistiken rangieren wir heute wieder an erster Stelle, vor Japan und den Vereinigten Staaten. In einer globalisierten Wirtschaft müssen wir uns aber daran gewöhnen, bei unseren eigenen Entscheidungen dem Gesichtspunkt der internationalen Wettbewerbsflihigkeit im Zweifel Vorrang zu geben vor Gesichtspunkten der nationalen Verteilungsgerechtigkeit Wir müssen unseren Blick stärker nach draußen richten, auch wenn es unserer gewachsenen Neigung zu Introvertiertheil widerspricht. Am Ende des Jahrhunderts bestätigt sich damit auch unter wirtschaftpolitischen Aspekten der alte Primat der Außenpolitik. Zugleich verliert aber im Zeichen der Globalisierung der nationalstaatliche Ordnungsrahmen rapide an Bedeutung - und das nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Der Wegfall der Grenzen bringt neue Gefahrdungen mit sich, durch Organisierte Kriminalität, terroristische Bedrohung, fundamentalistische Bewegungen aller Art. Die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit verschwimmt zusehends. Überall auf der Welt verlassen Menschen infolge kriegerischer Auseinandersetzungen ihre Heimat, fliehen vor Verfolgung und Unterdrückung, suchen Zuflucht bei uns in den westlichen Wohlstandsgesellschaften. Und daß die Luftverschmutzung vor Staatsgrenzen nicht haltmacht, auch das hat sich inzwischen herumgesprochen. Äußere Einflüsse haben seit jeher ihren Einfluß auf innerstaatliche Entwicklungen gehabt - auf wirtschaftliche Blüte oder Niedergang, inneren Zusammenhalt oder Zerfall der Ordnung. Aber daß der Einfluß äußerer Faktoren derartig dominierend geworden ist wie in unseren Tagen - die Entwicklung der Aktienkurse an fremden Börsen, die auf unsere Binnenkonjunktur durchschlägt, die

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Wolfgang Schäuble

Zuwanderung von Flüchtlingen aus anderen Ländern, die die Wahlchancen rechtspopulistischer Bewegungen befördert, die Einkommensbedingungen indischer Software-Ingenieure, die Einfluß gewinnen auf die Zukunft unserer Computerindustrie - das ist ein Novum, das unser überkommenes Staatsverständnis grundsätzlicher in Frage stellt. Verteilungskonflikte sind global geworden, ich sagte es schon. Das drückt sich auch in den Wanderungsbewegungen aus, die an Toleranz und Offenheit der Menschen in den Industrieländern neue Herausforderungen stellen. Weil Zuzugsbegrenzungen alleine nicht helfen - wiewohl sie zur Vermeidung von Überforderung unverzichtbar sind -, bleibt die Integration der ausländischen Mitbürger eine für die Zukunftsfähigkeit unserer Ordnung entscheidende Aufgabe, und umgekehrt müssen wir die Ursachen der Wanderungsbewegungen durch Hilfe und Prävention viel entschiedener bekämpfen, um trotz aller Integration und Zuzugsbegrenzung nicht zu scheitern. All dies überfordertjedes einzelne Land, zumindest in Europa. Der Nationalstaat, den wir kennen und in dessen Kategorien wir noch immer denken, stößt angesichts all dieser weltumspannenden Risiken und Gefahrdungen an Grenzen seiner Problemlösungs- und Handlungsfähigkeit Kein Staat dieser Erde, und sei er noch so mächtig, kann Herausforderungen dieser Art und Größenordnung auf sich allein gestellt bewältigen. Ohne europäische Integration und atlantische Integration sind Stabilität und Sicherheit nicht zu bewahren. Und das europäische Einigungswerk ist im Zeichen wachsender weltwirtschaftlicher Interdependenz und Verflechtung, angesichts immer neuer regionaler Zusammenschlüsse - vom ASEAN-Pakt in Südostasien über NAFTA in Nordamerika bis Mercosur in Südamerika - zur conditio sine qua non für unsere wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit geworden. 3.

Durch technischen Fortschritt und Rationalisierung verändert sich auch unsere Arbeitswelt in atemberaubenden Tempo. Mit immer weniger Arbeit wird immer mehr produziert. Heute schon haben wir weltweit mehr Arbeitsplätze im tertiären Sektor als in der industriellen Produktion. Menschliches Wissen - gemessen an der Summe gedruckter Informationen - verdoppelt sich alle fünf bis sieben Jahre - kein Wunder, daß die Veränderungen im Laufe eines Berufslebens fiir unsere Kinder unendlich viel größer sein werden als noch vor ein, zwei Generationen. Die Arbeitswelt unsere Kinder wird darum mit der Arbeitswelt unserer Eltern nur noch wenig gemein haben. Nicht mehr industrielle Großunternehmen werden bestimmend sein, sondern immer mehr kleinere und mittlere Unternehmen,

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viele Neugründungen mit wenigen Beschäftigten, die in der Lage sind, sich flexibel einem Markt anzupassen, der mehr und mehr von Dienstleistungen aller Art, zum Teil hochspezialisiert, geprägt sein wird. Aber diesen Arbeitsmarkt erschließen wir nicht damit, daß wir vorhandene Arbeit lediglich neu verteilen . In der globalisierten Wirtschaft schaffen wir soziale Gerechtigkeit nicht durch Verteilungsbürokratien, sondern durch einen funktionsfähigen Arbeitsmarkt- ergänzt um breitere Vermögensbildung. Wir werden aller Voraussicht nach nicht mehr jedem einen traditionellen Vollzeitarbeitsplatz garantieren können, mit 38-Stunden-Woche, voller arbeitsrechtlicher und sozialversicherungsrechtlicher Absicherung und dann 40 Jahre im selben Betrieb. Aber eine akzeptable Beschäftigungschance, sei es Teilzeit, sei es ein Einfacharbeitsplatz, sei es ein Beschäftigungsverhältnis auf gemeinnütziger Basis, das sollte jedem zugänglich sein. Das erfordert mentale Veränderungen gegenüber Dienstleistungen, neue Flexibilität im Arbeitsrecht und in der Tarifpolitik, stärkere Lohnspreizung vor allem ftir geringer Qualifizierte. Grundsätzlich muß jede Arbeit, die in Deutschland getan werden muß und nachgefragt wird, auch flir Deutsche zumutbar sein. Und grundsätzlich muß jeder, wenn er arbeitet, mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Weil aber die niedrigen Löhne, die flir mancherlei Tätigkeiten aus Wettbewerbsgründen nur gezahlt werden können, nicht ausreichen, um ein nach unseren Maßstäben auskömmliches Einkommen zu sichern, brauchen wir eine neue Kombination und bessere Verzahnung von Arbeits- und Transfereinkommen, "geringere Anrechnung auf Sozialhilfe" oder "Kombilohn", wie immer man das nennen mag. Das muß Hand in Hand gehen mit einer durchgreifenden Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, denn deren Ausgestaltung blokkiert bei uns die Dynamik im Bereich von Niedriglohn- und Teilzeittätigkeiten. Und das ist eine der Ursachen, warum wir etwa im Vergleich zu den Niederlanden so wenig Flexibilität bei der Teilzeitbeschäftigung haben. Kapital ist mobiler als Arbeitskraft. Wer über Kapital verfugt, der kann sich Verwertungschancen heute rund um den Globus suchen, kann die günstigsten Anlagebedingungen wählen, die günstigsten Standortbedingungen. Der Arbeitnehmer aber bleibt auf den Verwertungschancen buchstäblich sitzen, die ihm sein lokaler, regionaler, nationaler Bezugsrahmen bietet. Rückschläge, die sein Standort erleidet, treffen ihn unmittelbar, seine Möglichkeiten auszuweichen sind in der Regel begrenzt. So eilt der DAX von Rekord zu Rekord, das Nettolohnniveau und die Beschäftigtenzahlen schrumpfen. Wir haben in dieser Hinsicht ein Gerechtigkeitsproblem, das sich immer drängender stellt. Wenn gesamtwirtschaftlicher Wohlstand aus den Erträgen von

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Wolfgang Schäuble

Kapital und Arbeit entsteht und wenn der Anteil der Kapitalerträge stark zunimmt, dann müssen möglichst alle nicht nur Einkommen aus Arbeit, sondern eben auch Kapitalerträge haben. Die Lösung kann nur bestehen in einer erheblich breiteren Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital, zumal über die Einflihrung investiver Lohnbestandteile. So werden auch variable Erwerbsbiographien möglich und erträglich. Im Wettbewerb um Innovation und technologische Spitzenleistungen werden wir auf Dauer nur mithalten können, wenn auch unser Bildungs- und Ausbildungssystem Weltspitze bleibt oder wieder wird. Mit unserem dualen System der beruflichen Ausbildung, von der Gesellenprüfung bis zum Meisterbrief, gehören wir noch immer zur Weltspitze. Daß auch unsere Hochschulen wieder Anschluß an das Weltniveau finden müssen, versteht sich fast von selbst. Eines unserer ganz großen Probleme sind die zu langen Studienzeiten in Deutschland. Wir brauchen eine Straffung der Studiengänge, neue Abschlüsse, die schneller erreicht werden können, auch eine Verkürzung der Schulzeiten. Wir brauchen mehr Flexibilität, mehr Eigenverantwortung und Motivation auch flir die Hochschulen und ihr Lehrpersonal, und deshalb glaube ich, daß die aktuelle Novelle des Hochschulrahmengesetzes in die richtige Richtung zielt. Wenn es darum geht, daß wir uns unsere Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Weltwirtschaft sichern oder, soweit sie verlorengegangen ist, wieder zurückerobern, wenn es darum geht, daß in Deutschland wieder mehr investiert wird und neue Arbeitsplätze entstehen, dann müssen wir unser Steuersystem in Ordnung bringen. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen ist es im vergangenen Jahr gelungen, die betriebliche Vermögenssteuer und die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen. Damit sind alle arbeitsplatzfeindlichen Substanzsteuern in Deutschland beseitigt. Im Januar 1997 haben wir mit den Petersberger Beschlüssen ein Konzept flir eine durchgreifende Reform der Einkommens- und Körperschaftssteuer vorgelegt, das flir mehr Steuergerechtigkeit sorgt und das von allen Experten einhellig begrüßt worden ist. Weniger Ausnahmen, niedrigere Steuersätze flir alle und eine durchgreifende Nettoentlastung - an diesen Zielmarken halten wir fest. Andere vergleichbare Länder haben diesen Weg schon vor geraumer Zeit eingeschlagen und erreichen heute mit wesentlich niedrigeren Steuersätzen ein vergleichsweise höheres Steueraufkommen. Warum? Weil sich Steuerhinterziehung bei niedrigeren Steuersätzen weniger "lohnt", weil die Anreize zur Arbeitsaufnahme bei abgesenktem Eingangssteuersatz wieder zunehmen, weil die Steuern im eigenen Land und nicht im Ausland entrichtet werden und weil niedrigere Gewinnsteuersätze Kapital anlocken, statt es zu vertreiben. Wachstum, Investitionen und Beschäftigung nehmen spürbar zu, wie die Erfahrungen in den USA, in Großbritannien und anderswo eindrucksvoll belegen.

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Wenn es um Anpassungsfiihigkeit, um Flexbilität und Innovation geht, dann sind die kleinen Einheiten den bürokratischen Großorganisationen immer überlegen. Das gilt in der Wirtschaft wie in der Politik, und es gilt im nationalstaatliehen ebenso wie im europäischen Rahmen. Kleine Einheiten, die die Lage vor Ort kennen, die unmittelbar Zugriff haben, sich auch persönlich verantwortlich filhlen, finden im Zweifel bessere Lösungen, haben mehr Phantasie und Kreativität als ferne Bürokratien. Deswegen setzen wir auf Deregulierung und Entbürokratisierung, auf dezentrale Lösungen, auf Vertrauen in die Menschen, nicht in die Apparate, auf Eigenverantwortung und Wettbewerb, auf Leistungsbereitschaft und freiwillige Solidarität. Überall bei unseren Nachbarn in Europa wächst auch die Einsicht, daß es sich nachteilig aufwirtschaftliche Dynamik und Wettbewerbsfiihigkeit auswirkt, wenn ein zu hoher Anteil der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung durch öffentliche Hände fließt. In Deutschland ist der Anteil der Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden und der Sozialversicherungen am Bruttosozialprodukt - bedingt insbesondere durch die Sonderbelastungen des Aufbaus Ost - zeitweise auf über 50 % angestiegen. Wenn aber die Hälfte dessen, was erwirtschaftet wird, in öffentlichen Kassen landet, dann darf sich niemand über die demotivierende Wirkung wundem. Denn die Kehrseite eines zu hohen Staatsanteils ist eine Steuer- und Abgabenbelastung, die leistungshemmend wirkt, Privatinitiative, Risikobereitschaft und Schaffensfreude untergräbt und einer staatlichen Betreuungsbürokratie den Weg ebnet, die die Gesellschaft entsolidarisiert, weil sie immer mehr Leistungen dem Staat aufbürdet. Anspruchsdenken, Leistungsverweigerung und Trittbrettfahrermentalität sind die Kehrseite einer Gesellschaft, in der der Staat über einen zu großen Anteil des Sozialprodukts verfilgt. Hinzu kommt eine demographische Entwicklung, bei der durch steigende Lebenserwartung und gesunkene Geburtenzahlen der Anteil der Älteren rasch ansteigt. Und wie sich familiäre und soziale Strukturen verändern, dafilr mag der Hinweis genügen, daß in deutschen Großstädten der Anteil der Einpersonen-Haushalte bis zu 50% beträgt. Mehr Eigenverantwortung, mehr Eigenvorsorge und Sparsamkeit und Effizienz der Mittelverwendung in den kollektiven Sozialsystemen sind angesichts dieser Entwicklungen unausweichlich - so unbequem uns auch die konkreten Entscheidungen dazu sein mögen. Solidarität und Subsidiarität sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig. Dezentralisierung und Subsidiarität funktionieren aber nur, wenn die Verantwortung filr die Folgen von Entscheidungen auch den jeweils zuständigen 2 Eckan /Jesse

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trifft. Deshalb muß das Paradoxon beseitigt werden, daß die Tarifpartner die maßgeblichen Entscheidungen filr den Arbeitsmarkt autonom treffen, die Folgen ihrer Entscheidungen aber- Arbeitslosigkeit - der Politik angelastet werden. Auch unser Föderalismus wird notleidend, wenn unterschiedliche Entwicklungen durch Ausgleichssysteme so überdeckt werden, daß die Verantwortlichkeit filr Fehlentwicklungen nicht mehr erkennbar ist. Das ist das Problem, das dem Streit um den Länderfinanzausgleich in der Sache zugrunde liegt. Wettbewerb deckt Schwachstellen auf. Das muß auch in der Schul- und Hochschulpolitik gelten, wo wir größere Differenzierung brauchen, statt über das Einstimmigkeitsprinzip der Kultusministerkonferenz Innovation und Effizienz zu blockieren. Und ohne ein effektives Subsidiaritätsprinzip wird in der Europäischen Union die Agenda 2000 nicht zu bewältigen sein. Bei den ganz unterschiedlichen Strukturen und Traditionen in Europa wird nur ein wirksamer Föderalismus verhindern können, daß Europa am Ende in bürokratischer Regelungswut erstickt. Noch einmal: Eigenverantwortung und Solidarität sind keine Gegensätze. Nur die freiheitliche Ordnung, in der jeder seine Kräfte einsetzt und entfaltet, ermöglicht soziale Hilfe und verhindert die Entmündigung der Bürger durch hypertophe und entmutigende Bürokratie. Was der Einzelne selbst besorgen kann, soll ihm die Gemeinschaft nicht abnehmen, sonst ist das Ergebnis nicht der mündige, sondern der "betreute Mensch", wie ihn der Soziologe Helmut Schelsky beschrieben hat. Die solidarische Hilfe der Gemeinschaft soll erst einsetzen, wo die Kräfte des Einzelnen tatsächlich überfordert sind. Subsidiarität behält insofern Vorrang vor Solidarität. 5.

Das Subsidiaritätsprinzip beruht im Grunde genommen auf einem sehr viel älteren Gedanken, der die abendländische Sozialphilosophie seit der Antike geprägt hat: auf dem Gedanken des rechten Maßes und der Mitte, des Ausgleichs und der Vermittlung der Extreme. So dient das Subsidiaritätsprinzip dem Ausgleich zwischen Individuum und Gemeinschaft, peilt die rechte Mitte zwischen Eigenverantwortung und solidarischer Fürsorge, zwischen Autarkie und Abhängigkeit. Gerade die freiheitlich pluralistische Gesellschaft unserer Tage, der die auseinanderstrebenden, zentrifugalen Kräfte gleichsam in die Wiege gelegt sind, ist entscheidend darauf angewiesen, die rechte Mitte, die richtige Balance zu finden zwischen Individualinteressen einerseits, den Anforderungen der Gemeinschaft andererseits, zwischen individuellen Rechten und sozialen Pflichten.

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Das aber setzt Zugehörigkeit voraus, Identität, das Wissen, einer Gemeinschaft anzugehören und auf sie angewiesen zu sein. Keiner lebt für sich allein. Auch in Zeiten von Globalisierung und europäischer Integration bleibt der Nationalstaat die Organisationsebene, in der Menschen Rechte und Pflichten als verbindlich empfinden. Auch wenn kein Staat in Europa - schon lange nicht mehr - die klassischen Aufgaben von staatlicher Souveränität auf sich alleine gestellt erfiillen kann, so bleibt Europa doch noch lange auf die Nationalstaaten als maßgebliche Legitimations- und Identitätsebene angewiesen. Solidarität hat auch mit dieser Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu tun, mit Schicksals- oder Verantwortungsgemeinschaft. Im so lange geteilten und nun wieder vereinten Deutschland können wir das erleben. Und das heißt nicht nur Vorrang fiir den Aufbau Ost, sondern auch Bereitschaft, Veränderungen und Lasten der Vergangenheit gemeinsam zu tragen. Das flillt nicht leicht, wie nicht nur die Umzugsdebatte in Bonn zeigt. Das erleben wir täglich in den Mühen, Unrecht aus Teilung und Diktatur mit rechtsstaatliehen Mitteln zu bewältigen. Geschichte kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber eine "friedliche Revolution", die auch den Nachfolgern der gestürzten Machthaber die Teilhabe am demokratischen Wettbewerb eröffnet, die kann den Rechtsstaat auch nicht partiell außer Kraft setzen. Das schafft neue Verletzungen, wie die Debatte um die Enteignungen 45 - 49 täglich zeigt, in Ost und West, in der eben nicht nur eine Seite recht hat. Ohne Verständnis und Verständigungsbereitschaft auf beiden Seiten kann Einheit nicht werden. Die aber ist Voraussetzung von Identität, auch nationaler Solidarität, ohne die wir Zukunfts- und Innovationsflihigkeit nicht hinreichend gewinnen, was weit über den wirtschaftlichen und sozialen Bereich hinaus Voraussetzung filr die Stabilität unserer Freiheitsordnung sein wird. Und die freiheitliche Verfassung lebt- nach dem klassischen Satz von Bökkenförde - von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Das ist der Wertekanon, der die freiheitliche Gesellschaft zusammenhält, das Grundverständnis von Rechten und Pflichten, Rücksichtnahme und Aufeinanderangewiesensein. Je stärker die Grundlagen von Freiheit, um so geringer die Gefahr, daß Lenins Satz "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" uns den Weg in den Archipel Gulag oder in den Orwellschen Überwachungsstaat fUhrt. Und je stabiler die Fundamente 'ton Werten und Identität, um so geringer ist die Gefahr, daß Beharrungs- und Widerstandskräfte notwendige Innovation, Anpassung an stattfmdende Veränderungen verhindern. Darum geht es immer, und im Deutschland vor der Jahrhundertwende besonders. Erfolge sind kein Ruhekissen. "Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb' es, um es zu besitzen." Stillstand ist Rückschritt.

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Wolfgang Schäuble

Aber Grund zum Klagen ist das nicht. Menschliche Existenz heißt Veränderung, Voranschreiten, Entwicklung, das ist die Grundlage auch der Faust'schen Wette. Und die meisten unserer Probleme sind ja in Wahrheit die Folgen großer Erfolge. Nicht weil es uns im Vergleich zu anderen auf dieser Welt oder früheren Generationen schlechter geht, haben wir Grund zum Sorgen, sondern eher, weil Wohlstand - wirtschaftlich wie politisch - auch Plage sein kann. Und wer viel hat, fUrchtet viel zu verlieren. Aber wenn die Probleme Ergebnis großer Erfolge sind, dann muß das doch eher Zuversicht begründen. Und weil menschliche Existenz nicht Stillstand ist, bleibt Zukunft immer eher Verheißung als Bedrohung. Und am Ende dieses Jahrhunderts, wenn man die politischen, wirtschaftlichen, sozialen Realitäten einigermaßen nüchtern wertet, gilt dies gewiß nicht weniger als je zuvor. Globalisierung heißt schließlich auch, daß wir mehr als jemals zuvor überall auf der Welt präventiv wie korrigierend und helfend gegen Fehlentwicklungen handeln können. Von meinem baden-württembergischen Landsmann Hölderlin stammt das Wort: "Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch." So wird uns der wachsende Veränderungsdruck aus Globalisierung, technologischer Revolution, sozialen Entwickungen auch Beine machen, gegen unsere Neigung, Besitzstände zu verteidigen. In Wahrheit verändert sich auch viel mehr in Deutschland, als die Stillstandsdebatten gelegentlich vermuten lassen. Hier im Roten Rathaus zu Berlin, in der deutschen Hauptstadt, muß man nur einen Blick nach draußen werfen, um das fast mit Händen greifen zu können. Ich hatte einmal einen evangelischen Bischof, der mir lange genug über all das Elend in unserem Lande geklagt hatte, zu trösten versucht, indem ich ihn auf die alte Erfahrung hinwies, daß der Gottesdienstbesuch um so schlechter ist, je besser es den Menschen materiell geht, was auf unsere Zeit übertragen wohl doch heiße, daß es ganz so schlimm im Materiellen noch nicht sein könne. Weil ihm das noch nicht ausreichte, habe ich ihm die Hoffuung vermittelt, daß wenn es wirklich einmal materiell schlechter gehen wUrde, dann wenigstens der Gottesdienstbesuch wieder besser werde. Sie sehen, Hölderlin hat recht. Wir sollten im Deutschland vor der Jahrhundertwende mit Dankbarkeit zurück und mit Zuversicht und Freude nach vorne blicken.

Eckhard Jesse

VON DER "BONNER REPUBLIK" ZUR "BERLINER REPUBLIK"? MEHRKONTINUITÄT ALS WANDEL I. Einleitung "Daß die Einigung[ ... ] zu einer simplen Ostausdehnung der Bundesrepublik verkommen [ist], [ist] letztlich auch deren Schaden, enn es [hat] in der DDR ja nicht nur Schlechtes gegeben, sondern auch Modemes, Nachahmens- und Bewahrenswertes. Ich bin übrigens der festen Überzeugung[ ... ], wenn in der Bundesrepublik Männer wie Wehner, Brandt, Mischnik oder Strauß das Sagen gehabt hätten, wäre auch ein anderer Weg der Einigung möglich gewesen, der beiden Seiten gerechter geworden wäre." 1 Egon Krenz, von dem dieses Zitat stammt, wünschte sich eine "neue Republik" (am liebsten die "alte" DDR mit ihm an der Spitze) und muß konstatieren, daß wir eine "erweiterte Republik" bekommen haben. Andere dagegen wollten die "alte Republik" behalten und sehen die Gefahr einer "neuen Republik". So spricht der bekannte linke Publizist Henryk M. Broder schlicht von einer "Verostung"2 Deutschlands. Man kann demnach zwischen dem normativen und dem empirischen Aspekt unterscheiden - zwischen dem, was wünschenswert ist, und dem, was "Fakt" ist, um einen Terminus aus dem "Osten" zu benutzen, der in den letzten Jahren im "Westen" eine gewisse Konjunktur gehabt hat. Es gibt damit vier Strömungenerstens diejenige, die eine neue Bundesrepublik Deutschland erblickt und diese fiir gutheißt; zweitens diejenige, die die neue Bundesrepublik eher als schädlich ansieht; drittens schließlich die Richtung, welche die erweiterte Bundesrepublik ablehnt und viertens diejenige, die sie bejaht. 3 Ich verzichte auf eine Aufdröselung der Positionen, die insofern kompliziert wäre, als die jeweilige Begründung selbst filr dieselbe Position sich mitunter kraß voneinander unterscheidet. Wie ansonsten meistens, steht nicht links gegen rechts, geht es auch weniger I

So Egon Krenz, zitiert nach Siegfried Kogelfranz, Diktatoren im Ruhestand. Die einstigen Ostblockchefs im Gespräch, Berlin 1997, S. 64 f. 2

Vgl. Henryk M. Broder, Verostung, in: Jörg Dieter Kogel/Wolfram SchUtte!Harro Zimmermann (Hrsg.), Neues Deutschland. Innenansichten einer wiedervereinigten Nation, Frankfurt a.M. 1993, S. 38-41. )

Vgl. dazu Ralf Altenhof, Keine akademische Wortklauberei. Eine "neue" oder eine "erweiterte Bundesrepublik" nach der Wiedervereinigung?, in: Ders./Eckhard Jesse (Hrsg.), Das wiedervereinigte Deutschland. Zwischenbilanz und Perspektiven, DUsseldorf 1995, S. 219-242

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um Ost gegen West- und schon gar nicht um alt gegen jung oder um Frau wider Mann. Die Frage, ob das vereinigte Deutschland eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik ist und sein soll, stellt eine für das Selbstverständnis der Bundesrepublik faszinierende Thematik dar, die - selten genug - von hergebrachter Lagermentalität weitgehend frei ist. Der Konservative Johannes Gross und der Linke Jürgen Habermas sprechen in neuen Büchern unisono von der "Berliner Republik". 4 Selbstverständlich mag die Antwort auf die Kernfrage nach der Charakterisierung der vereinigten Bundesrepublik Deutschland viel davon abhängen, auf welchen Bereich man sich bezieht, bevor es überhaupt möglich ist, eine sinnvolle Gesamteinschätzung zu geben. Ich gehe so vor, daß ich mich auf vier Felder konzentriere, ohne aber im einzelnen Indikatoren flir Kontinuität und Wandel zu benennen: politische Kultur, Parteiensystem, streitbare Demokratie, Außenpolitik. Mein Beitrag ist stark subjektiv-essayistisch angelegt und untermauert nicht jede einzelne These - schon gar nicht detailliert. Schließlich will ich ein deutliches Fazit ziehen und mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg halten. Die Antwort auf die Frage im Titel mutet einigermaßen paradox an und relativiert etwas das als brisant empfundene Problem nach der erweiterten und der neuen Bundesrepublik. Zunächst geht es mir um andere Bezeichnungen, wirkliche oder scheinbare Gründungsakte.

2. "Gründungsstufen" und Zäsuren Zuweilen wurde in Anlehnung an die Weimarer Republik von der "Bonner Republik" gesprochen - allerdings nicht so oft, wie das heute scheinen mag, da Bücher über die "Geschichte der Bonner Republik 1949-19995" erscheinen und die neue "Berliner Republik" plakativ von der alten "Bonner Republik" abgehoben wird. Sie galt anfangs vielfach als Schönwetterdemokratie", bis die ängstliche und oft wiederkehrende Frage "Ist Bonn doch Weimar?"6 allmählich mit einem deutlicheren Nein als zuvor beantwortet wurde, auch wenn Ängste immer wieder einmal die Erinnerung an die erste deutsche Demokratie erinnern.7 Zur Stabilisierung trug die Gründung der "Berner Republik" 8 bei. Ge-



Vgl. Johannes Gross, BegrUndung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995; JUrgen Habermas, Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII, Frankfurt a.M. 1995. 5

Vgl. Marion Dönhoff/Helmut Schmidt!fheo Sommer (Hrsg.), ZEIT-Geschichte der Bonner Republik 1949-1999, Reinbek bei Harnburg 1999. 6 7

Sie bezieht sich auf das Buch von Fritz Rene Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956.

Vgl. Friedrich Balke/Benno Wagner (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil historischer Vergleiche. Der Fall Bonn-Weimar, Frankfurt a.M./New York 1997. 8

Der Begriff findet sich bei Lothar Mikos/Harry Nutt, Als der Ball noch rund war. Sepp Herberger-ein deutsches Fußballeben, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 128-153.

Von der "Bonner Republik" zur "Berliner Republik"?

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meint ist damit das neue Selbstbewußtsein aufgrunddes Gewinns der Fußballweltmeisterschaft durch die deutsche Nationalelf am 4. Juli 1954 im Bemer Wankdorfstadion. Obwohl es die westdeutsche Elf war, habe ich bewußt vom deutschen Sieg gesprochen, denn dieser wurde als gesamtdeutscher empfunden. Ein "Wir sind wieder wer" -Geftlhl machte sich vielerorts in der "Fußballnation" breit, und zwar keineswegs im überheblichen Sinne, auch wenn im Stadion die erste Strophe der Nationalhymne gesungen wurde. Jedenfalls war der 3:2 Sieg über die favorisierten Ungarn durch die als "Helden von Bem" gefeierten Spieler mehr als ein sportliches Ereignis. Fast jeder weiß nach Jahrzehnten, wo er sich seinerzeit aufhielt. Ich beispielsweise hockte als fünfjähriger Steppke vor einem riesengroßen Radio in einer kleinen Rostocker Pension, vernahm die Stimme von Wolfgang Hempel, der durchaus die große Stunde zu würdigen wußte, und sah, wie mein Vater Freudentränen in den Augen hatte. Später ist von einer "inneren Nachgründung 1967/68"9 durch die Studentenbewegung die Rede gewesen, als habe es 1949 eine "verhinderte Neuordnung" und einen "erzwungenen Kapitalismus" gegeben, wie eine Gründungslegende lautet. Die deutsche Demokratie ist später - im Zuge der 68er-Bewegung - zugleich gekräftigt als auch entkräftet worden. Die Paradoxie erklärt sich damit, daß mehr Liberalität mehr Illiberalität begünstigte. Das eine bedingte das andere. Die "deutsche Unruhe" (Wilhelm Hennis) von 1968 - sie war westlich und antiwestlich zugleich. Wir haben vor dreißig Jahren nahezu einen kulturrevolutionären Bruch erlebt, während für viele Menschen in der DDR das Jahr "1968" das Ende der Hoffnung auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" bedeutete. Man kann den Begriff der "Gründung" weit auslegen, an die "ungleichen Gründerväter" Konrad Adenauer und Ludwig Erhard erinnern 10 und eine Reihe von "Gründungsstufen" nennen 11 - etwa die Westintegration unter Konrad Adenauer wie die Öffnung gen Osten unter Willy Brandt, ebenso an die Standhaftigkeit der Regierung und der Öffentlichkeit gegen das Übel des Terrorismus nicht nur im Herbst 1977. Noch bevor die DDR der Bundesrepublik beitrat, gab der Soziologe Niklas Luhmann "Anregungen zu einem Nachruf auf die Bundesrepublik" preis - nicht zuletzt wegen der "Herausforderungen der Zukunft". 12 Als sich der Deutsche 9

So Claus Leggewie, Die Kritik der Politischen Klasse und die Bürgergesellschaft. Muß die Bundesrepublik neugegründet werden?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 31/93, S. 8 10

Vgl. Andreas Metz, Die ungleichen Grtlnderväter. Adenauers und Erhards langer Weg an die Spitze der Bundesrepublik, Konstanz 1998. II

Vgl. etwa AmulfBaring, Gründungsstufen, Gründungsväter, in: Ders., Es lebe die Republik, es lebe Deutschland. Stationen demokratischer Erneuerung 1949-1999, Stuttgart 1999, S. 65-74. 12

Vgl. Niklas Luhmann, Dabeisein und Dagegensein. Anregungen zu einem Nachruf auf die Bundesrepublik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22. 8. 1990; siehe die Antwort von Ernst Nolte, Untergang der Bundesrepublik. Zur Frage der Kontinuität in der Nachkriegsgeschichte, in:

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Bundestag am 20. Juni 1991 in einer knappen Entscheidung nach einer von beiden Seiten zum Teil ideologisiert gefiihrten Debatte mit 337 gegen 320 Stimmen filr Berlin als dem Sitz der Regierung und des Bundestags aussprach, ist in der Folge vermehrt von der (kommenden) "Berliner Republik" gesprochen worden - als schlage die Republik damit einen neuen Kurs ein. Nach dem Regierungswechsel 1998 erhielt die Diskussion neue Nahrung, zumal Bundeskanzler Gerhard Sehröder im Gegensatz zu seinem Vorgänger Helmut Kohl (und zum Bundespräsidenten Roman Herzog) dem Begriff der "Berliner Republik" etwas abgewinnen kann. Seine Regierung der "neuen Mitte" wirke in der "neuen Mitte" Deutschlands. Als der Deutsche Bundestag am 19. April 1999 zum ersten Mal im umgebauten Reichstag zusammentrat, war das tUr viele von hoher Symbolkraft - für manche in dem Sinne, daß nun der Beginn der "Berliner Republik" erreicht sei, "leider" oder "glücklicherweise", je nach Perspektive. Aus unterschiedlichen Richtungen ist die Rede davon, mit dem Untergang der DDR sei ebenso die Bundesrepublik Deutschland untergegangen. Es werde "Zeit, auch die ehemalige Bundesrepublik endgültig für tot zu erklären und das Testament über ihre Hinterlassenschaft zu eröffnen" 13 - als lasse sich eine lebendige Demokratie gleichsam durch einen "Federstrich" aus der Welt schaffen. Für Claus Leggewie handelt es sich bei der "Berliner Republik" um eine "potentielle Neu-Gründung", "die der inneren und äußeren Einwanderung Rechnung tragen muß. 16 Millionen Ostdeutsche kann man nicht wie dumme Nachhilfeschüler einer erfolgreichen Demokratie 'anschließen', und knapp sieben Millionen Einwanderer lassen sich nicht als passive Manövriermasse einer bewährten Sozialverwaltung überantworten" 14 - als sei dieses oder jenes praktiziert oder auch nur beabsichtigt.

3. Vier Bereiche im Vergleich Wie stellt sich heute - 50 Jahre nach ihrer Gründung - die Bundesrepublik Deutschland dar? Wo gibt es Kontinuitäten, wo Diskontinuitäten? Befinden wir uns auf dem Weg zur "Berliner Republik", zu einer "neuen Republik", gar zu einer "dritten Republik" 15? Welche Ergebnisse - mit Blick auf Kontinuität und Wandel- fördern die erwähnten vier Bereiche zutage? Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5. 9 . 1990; beide Aufslitze finden sich gekürzt in dem folgenden Band: Volker Gransow/Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt, Köln 1991, S. 204 f., S. 220-223. 11

,. Hans Michael Kloth, Die ehemalige BRD, in: Der Spiegel, Heft 25/1997, S. 43. Leggewie (Anm. 9), S. 8.

" So Wolfgang Herles, Geteilte Freude. Das erste Jahr der dritten Republik. Eine Streitschrift,

Monehen 1992.

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Zunächst zur politischen Kultur: Diese gleicht sich in den neuen Bundesländern jener in den alten allmählich an. Wer die offene Bürgerkultur des Westens der Obrigkeitskultur des Ostens gegenüberstellt 16, bedient sich einer Klaviatur, die manches Klischee bestätigt. Tatsächlich differieren die Wertorientierungen in Ost und West nicht so gravierend, wie zunächst angenommen wurde. Unterschiede im Demokratieverständnis bestehen allerdings nach wie vor, was etwa die Zufriedenheit mit der Wirklichkeit der Demokratie betrifft17 - nicht nur wegen der verbreiteten "Ostalgie" .18 Es gibt aber auch viele Kontinuitäten zwischen Ost und West. Die Diskussion über die "Geschichtspolitik" spielt sich weitgehend in den alten Bahnen ab. Für die einen ist die Last der NSVergangenheit nicht hinreichend bewältigt, fiir die anderen erschöpft sich die Aufarbeitung in Ritualen. Der heftige Streit zwischen Martin Walser und lgnaz Bubis um die rechte Form der "Vergangenheitsbewältigung", der im Jahre 1998 die Geister schied, verlief nicht zwischen Ost und West. Die "langen Schatten"19- sie halten an. Wie könnte es auch anders sein! Ostdeutsche sind vierzig Jahre lang einer anderen Sozialisation ausgesetzt gewesen, wenngleich westliche Einflüsse, vermittelt etwa über Medien und Verwandtenbesuche, einen Kontrapunkt gebildet haben. Die DDR war weitaus mehr auf die "Vergleichsgesellschaft" des Westen orientiert, ja fixiert als umgekehrt. Dieser Umstand erleichtert Ostdeutschen das Zurechtfinden im fiir sie neuen System, mag auch zwischen Theorie und Praxis eine große Kluft bestehen und in den neuen Bundesländern eine Marktwirtschaft vorhanden sein, die das Epitheton "sozial" mitunter ad absurdum fiihrt. Pessimisten wie Joachim Gauck glauben, daß der Vollzug der "inneren Einheit" in sozio-kultureller Hinsicht - wegen der "Erblast all dieser Jahrzehnte politischer Ohnmacht, die unserer Haltung geschadet hat und die tief in unsere Mentalität eindrang" 20 - länger als die wirtschaftliche Angleichung dauern könnte, wobei zwischen beiden Elementen freilich ein Zusammenhang besteht. Optimisten hingegen sehen die 16

In der Tendenz findet sich dieser Tenor bei Martin und Sylvia Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland, MOnehen 1993; siehe auch dies., Politische Kultur, in: Grundwissen Politik, 3. Auf!., Frankfun a.M. 1997, S. 167-237. 17

Vgl. beispielsweise Dieter Fuchs/Edeltraud Roller/Bemhard Weßels, Die Akzeptanz der Demokratie des vereinigten Deutschland. Oder: Wann ist ein Unterschied ein Unterschied?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 51/97, S. 3-12. 18

Vgl. Egon Seren, Revisionistische Tendenzen und sinnstiftende Publizistik seit 1989 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Organisation, Meinungen und Literatur, in: in guter Verfassung. Erfuner Beiträge zum Verfassungsschutz, Erfun 1997, S. 33-108; ders., Linker Revisionismus? Allgemeines, Theoretisches, Organisatorisches, Argumentativ-Exemplarisches - mit einem Blick auf Thüringen, in: ln guter Verfassung II. Erfuner Beiträge zum Verfassungsschutz, Erfun 1998, S. 179-276. 19

Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Berlin 1989. 20

Joachim Gauck, Noch lange fremd, in: Der Spiegel, Heft 40/1997, S. 51 .

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"innere Einheit" im Sinne "gesteigerter Vielfalt" 21 weitgehend schon als vollzogen an. Zum Parteiensystem: Dieses ist entgegen manchen Mutmaßungen im Kern das alte geblieben22, auch wenn sich die PDS -"tief verwurzelt[ ... ] im ostdeutschen Mileu" 23 - in den neuen Bundesländern länger zu halten scheint als vielfach angenommen. Sie ist das eigentliche Neue - neben dem ostdeutschen Bündnis 90, das durch den Zusammenschluß mit den Grünen diese aufgrund ihrer andersartigen Traditionen stärker in eine pragmatische Richtung gedrängt hat und weit prägender (gewesen) ist, als es die mageren Wahlresultate in den neuen Bundesländern nahelegen24 - von den Mitgliederzahlen gar nicht zu reden. Vieles spricht dafür, daß die PDS im Parteiensystem keine originären Akzente setzen kann, auch wenn sie sich gegenwärtig paradoxerweise als ostdeutscher Interessenvertreter profiliert, obwohl die SED weitgehend für das Desaster verantwortlich gewesen ist, gegen das die PDS - faktisch eine "Partei der Besserverdienenden" - nun zu Felde zieht. Zum ersten Mal seit 1949 hat sich 1998 im Bund ein ungefilterter Regierungswechsel vollzogen. Dieser Einschnitt stellt eine demokratische Normalität dar und deutet keinen Aufbruch in eine neue Republik an. Obwohl der Zusammenschluß zweier gegensätzlicher Systeme historisch ohne Präzedentien gewesen ist, konnte das Parteiensystem vom Osten auf den Westen übertragen werden. Auch der eingeschränkte Spielraum für den Parteienwettbewerb ist durch bewährte konkordanzdemokratische Elemente (z.B. Rolle des Bundesrates) erhalten geblieben. 25 Gleichwohl unterscheidet sich die Struktur der Parteien in den jungen Ländern von der in den alten. 26 So sind interparteiliche Konflikte in den neuen Bundesländern angesichts gravierender Herausforderungen geringer, intraparteiliche dagegen wegen des in manchem

11

Vgl. Hans-Joachim Veen, Innere Einheit - aber wo liegt sie? Eine Bestandsaufuahme im siebten Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 40-41/97, S. 28. 22

Vgl. etwa die Beiträge in dem Sammelband von Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Opladen 1997. 23

So Christian von Ditfurth, Ostalgie oder linke Alternative. Meine Reise durch die POS, Köln 1998, S. 270. 24

Vgl. JUrgen Hoffinann, Die doppelte Vereinigung. Vorgeschichte, Verlauf und Auswirkungen des Zusammenschlusses von GrUnen und BUndnis '90, Opladen I998. 2l

26

Vgl. Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 2. Aufl., Opladen 1998.

Vgl. Gerhard Linnemann, Die Parteien in den neuen Bundesländern. Konstituierung, Mitgliederentwicklung, Organisationsstrukturen, MUnster 1994; Josef Schmid/Frank Löb1er/Heinrich Tiernano (Hrsg.), Probleme der Einheit. Organisationsstrukturen und Probleme von Parteien und Verbänden, Macburg 1994.

Von der "Bonner Republik" zur "Berliner Republik"?

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noch nicht gefestigt genug erscheinenden Parteienbetriebs größer. 27 Insgesamt ist meine Diagnose weit von der Daniel Hamiltons entfernt: "Die Wähler in der Berliner Republik neigen zu Protestverhalten und Experimenten. Die Wähler der Bonner Republik waren stabilitätsorientiert."28 Ist in Vergessenheit geraten, daß in der Vergangenheit immer wieder einmal die eine oder andere rechtsoder linksextremistische Welle fiir Aufsehen sorgte?29 Und noch ist wahrlich nicht ausgemacht, daß sich die Republik seit 1990 durch "Protestverhalten und Experimente" auszeichnet. Zur streitbaren Demokratie: Eng mit der politischen Kultur und dem Parteiensystem hängt die Entwicklung der streitbaren Demokratie zusammen. Nach 1945 wurde diese Demokratieschutzkonzeption, die auf Abwehrbereitschaft, Wertgebundenheit und Vorverlagerung staatlicher Eingriffe basiert, häufig damit gerechtfertigt, daß ein wenig konsolidierter Staat einer derartigen "Krükke" bedürfe. Heute heißt es vielfach, unser - gefestigter - Staat benötige keine streitbare Demokratie (mehr). 30 Das sei ein Zeichen der Unsicherheit. Man kann das Argument umdrehen: Eine selbstbewußte Demokratie hat ihre Werte zu verteidigen - in erster Linie durch geistige Auseinandersetzung mit extremistischen Positionen, gegebenfalls durch administrative Vorkehrungen. Der antiextremistische Konsens tst unter Intellektuellen geflihrdet31 , wie das bereits fllr die Vergangenheit galt. Die Konfliktlinien laufen weniger- nicht nur in dieser Frage - zwischen Ost und West als zwischen links und rechts. "Die Meinungsfllhrerschaft der 68er in intellektuellen Angelegenheiten scheint auch die oft beschworene Paradigmenwende von 1989 weitgehend unbeschadet überstanden zu haben.'m Die POS wird vielfach nicht (mehr) als linksextremistisch eingestuft. Was Wolfgang Rudzio bereits 1988 als "Erosion der Abgren27

Vgl. Eckhard Jesse, Die Parteien in den neuen Bundeslandern, in: Winand Gellner/HansJoachim Veen (Hrsg.), Umbruch und Wandel in westeuropäischen Parteisystemen, Frankfurt a.M. 1995, S. 223-236. 28

Daniel Hamilton, Jenseits von Bonn. Amerika und die .,Berliner Republik", Frankfurt a.M. 1994, S. 38. 29

Vgl. Jorgen W. Falter/Hans-Gerd Jaschke/Jorgen R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Opladen 1996. 30

In diesem Sinne Claus Leggewie/Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe ftlr die Verteidigung der Demokratie. Mit zwei Exkursen von Alexander Molter und Wolfgang Stenke, Reinbek bei Harnburg 1995; siehe auch dies., Die Berliner Republik als "streitbare Demokratie"? Nachruf auf die freiheitliche demokratische Grundordnung, in: Blätter filr deutsche und internationale Politik 37 (1992), S. 598-607. 31

Vgl. Eckhard Jesse, Antiextremistischer Konsens. Von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart, in: Karl G. Kick!Stephan Weingarz!Ulrich Bartosch (Hrsg.), Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag, Berlin 1998, S. 151-169. 32

Richard Herziger, Wandlungen eines Mythos. Die Kulturrevolutionäre von 1968- Garanten der liberalen Kultur in Deutschland?, in: Claudia Keller (Hrsg.), Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Antifaschismus. Geschichte und Neubewertung, Berlin 1996, S. 252.

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28

zung" zwischen dem demokratischen Sozialismus und dem antidemokratischen Sozialismus angeprangert hatte33 , setzt sich fort. Durch den Zusammenbruch des Kommunismus in der DDR ist dieser Entwicklung entgegen manchen Vermutungen jedenfalls nicht Einhalt geboten worden. Hingegen wird das Etikett "rechtsextremistisch" großzügig verteilt. Es fallt folgender Widerspruch auf: Viele reden von einer Erosion der Abgrenzung am rechten Rand, obwohl sie kaum bestehtl4 ; und kaum einer spricht von der Erosion der Abgrenzung am linken Rand, obwohl sie unübersehbar existiert. Nur ist das kein spezifisches Charakteristikum für die neunziger Jahre. Mangelnde Äquidistanz gegenüber links- und rechtsaußen hat Tradition. Seit der Einheit wurde keine inländische linksextremistische Organisation verboten, hingegen eine Reihe rechtsextremistischer. Die Situation in den siebzigerund achtziger Jahren war nicht anders. Zur Außenpolitik: Im Vergleich zu vielen anderen Bereichen, bei denen offenkundig Kontinuität dominiert, denkt man nur an den gesamten institutionellen Sektor, sieht es im außenpolitischen Bereich fürwahr anders aus. Lange war davon die Rede, die europäische Einheit sei eine Voraussetzung fiir die deutsche Einheit. Nun ist es umgekehrt gekommen. Die deutsche Einheit forciert die europäische Einheit. Die Paradoxie geht weiter. Die deutsche Einheit ist, um mit Timothy Garton Ash zu reden, dem Chronisten der osteuropäischen "Refolutionen"35 - dieses Kunstwort soll die Mischung aus Reform und Revolution symbolisieren - "im Namen Europas" vor sich gegangen 36 ; die europäische Einheit schreitet dagegen maßgeblich "im Namen Deutschlands" voran - wenngleich vielfach ex negativo im Sinne einer Einbindung der Deutschen. Die - gestiegene - außenpolitische Rolle und Verantwortung Deutschlands etwa im militärpolitischen Bereich ist offenkundig. Die Bundesrepublik kann sich nicht mehr auf eine Insel der Seligen zurückziehen, auch wenn manche Verantwortliche das gerne täten. 37 Deren Dilemma nimmt sich wie folgt aus: "Deutschland sitzt fest zwischen der Scylla des kollektiven Gedächtnisses, das ihm den normalen Machtgebrauch versagt, und der Charybdis gegenwärtiger Erfordernisse, die darauf drängen, daß es seine Verantwortung in Europa und J)

Vgl. Wolfgang Rudzio, Die Erosion der Abgrenzung. Zum Verhältnis zwischen der demokratischen Linken und Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1988. 34

Vgl. Eckhard Jesse, Fließende Grenzen zum Rechtsextremismus? Zur Debatte Ober Brückenspektren, Grauzonen, Vemetzungen und Scharniere am rechten Rand - Mythos und Realität, in: Falter/Jaschke/Winkler (Anm. 29), S. 514-529.

"

Vgl. Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990, München 1990. l6

37

Vgl. ders., Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993.

Vgl. Gregor Schöllgen, Angst vor der Macht. Die Deutschen und die Außenpolitik, Berlin 1993; Christian Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Weltmacht wider Willen?, aktualisierte Neuausgabe, Berlin 1997; ders., Die Außenpolitik des vereinigten Deutschlandsangesichtsneuer Krisen und Kriege, in: Eckart Klein!Karl Eckart (Hrsg.), Deutschland in der Weltordnung 1945-1995, Berlin 1996, S. 11-138.

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sogar vielleicht weltweit akzeptiert." 38 Das Engagement vollzieht sich in engem Einvernehmen mit dem Westen. Außenpolitische Alleingänge sind weder angestrebt noch überhaupt möglich. Um Hans-Peter Schwarz zu paraphrasieren: Vielleicht pendelt sich die neue Außenpolitik der "Zentralmacht Europas" 39 zwischen der einstigen "Machtbesessenheit" und der späteren "Machtvergessenheit"40 ein. Eine Machtpolitik im Sinne revisionistischer Forderungen steht bei allen tragenden gesellschaftlichen Gruppierungen nicht an, auch wenn das Wort der souveränen Bundesrepublik bei internationalen Verwicklungen mehr gefragt ist als einst. Die Veränderungen beruhen allerdings nicht nur auf der Wiedervereinigung Deutschlands, sondern auch - und vor allem - auf den tektonischen Verschiebungen der internationalen Konstellationen, die sich naturgemäß in der Bundesrepublik Deutschland, ebenso ein "Kind des Kalten Krieges" (Aifred Grosser) wie die DDR, besonders stark bemerkbar gemacht haben41. Manche Ausländer warnen vor einem großen Deutschland, das sie an ein "Großdeutschland" erinnert, manche haben seit der Vereinigung Angst vor Deutschland - übrigens mehr im intellektuellen Milieu als in der breiten Bevölkerung. Ein "viertes Reich"42 ist wahrlich nicht im Anmarsch. Die Frage, was das Ausland über das vereinigte Deutschland mit Blick auf seinen neuartigen oder erweiterten Charakter denkt, ist bei aller Vorsicht vor kollektivistischen Zuschreibungen vielleicht charakteristisch fiir Deutschland - Ausdruck einer gewissen Identitätsschwäche oder Zeichen besonderer Sensibiliät? Vielleicht muß der eine Aspekt den anderen nicht ausschließen. Zur innen- und außenpolitischen Westbindung gibt es keine angemessene Alternative. Das wurde in der ersten deutschen Republik von relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen anders gesehen, galt jedoch in der zweiten vor dem Schlüsseljahr 1989 ebenso- wobeijene Form der Westbindung nicht überzeugt, die ohne NATO auszukommen sucht, wie umgekehrt die Westbindung sich nicht in militärischer Bündnistreue erschöpft, sondern auf gemeinsamen ideellen Grundlagen basiert. Nicht nur der Kosovo-Konflikt zeigt, daß ungeachtet der deutschen Einheit die Westbindung Wurzeln geschlagen hat. Die weitgehende Unterstützung des Kampfeinsatzes der Bundeswehr außerhalb Deutsch31

So Andrei S. Markovits S./Simon Reich, Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht Mit einem Vorwort von Joschka Fischer, Berlin 1998, S. 27. 39

Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994. 40

Vgl. ders., Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985. 41

Vgl. Wolfram F. Hanrieder, Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, 2. Aufl., Paderbom u.a. 1995. 42

So Heleno Salla, Das Vierte Reich. Deutschlands später Sieg, Harnburg 1990.

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Iands bei großen Teilen der Intellektuellen dürfte zum einen mit einem Wandel der Grünen zusammenhängen, zum andern damit, daß die Regierung von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen getragen wird.

4. Ist-Zustand Die Beispiele zeigen, daß Kontinuität zwischen der Bundesrepublik Deutschland bis 1990 und dem vereinigten Deutschland überwiegt. Gleichwohl sind die Veränderungen, die Deutschland erflihrt, wahrhaftig nicht zu leugnen, wie ein Blick auf die Ära Kohl vor 1990 (acht Jahre) und nach 1990 (ebenfalls acht Jahre) belegt. 43 Pointiert heißt es bei dem Bonner Politikwissenschaftler Ludger Kühnhardt: "Längst vollzieht sich der Wandel nicht mehr nur im Osten, sondern wird auch dem Westen zugemutet; zuweilen muß er einem selbstzufrieden gewordenen Westen abgerungen werden, zuweilen wird er dort zu blokkieren versucht, aus Angst vielleicht, allzu arg in die östlichen Veränderungsstrudel hineingezogen zu werden. Die deutsche Gesellschaft hat sich aufgemacht auf die Suche nach einem sozialen Konsens. Für Westdeutschland bedeutet dies, von einem sozialen Konsens zu einem neuen zu gelangen, der unvermeidlich geworden ist; für Ostdeutschland bedeutet dies, nach der sechzigjährigen Prägung durch zwei Diktaturen zu einem neuen Selbstverständnis und freiheitlichen Sozialkonsens zu finden; für Ost und West gemeinsam bedeutet dies, daß die beiden Teilgesellschaften sich verändern, während der Staat ein gemeinsamer geworden ist." 44 Die Bundesrepublik Deutschland hat sich vor der deutschen Einheit ohnehin beständig gewandelt, um vieltaltigen Herausforderungen gewachsen zu sein. Ihre Grundlagen wurden dabei allerdings niemals aufgegeben. Der soziale Konsens, von dem Kühnhardt spricht, basierte auf einer "Politik des mittleren Weges" 45 - und er basiert weiterhin darauf. In der Tat schreitet die Säkularisierung beständig voran, aber das ist ein Prozeß, der lange vor I 989 eingesetzt hat - und nur zum Teil auf die geringe Konfessionsgebundenheit in den jungen Bundesländern zurückgeht. Bisher ist viel von der Bundesrepublik Deutschland vor 1990 die Rede gewesen - und nur wenig von der Deutschen Demokratischen Republik. Was bleibt von ihr? Wohl so gut wie nichts, was das politische System betrifft; je43

Vgl. Georg Simonis (Hrsg.), DeutschllJ!Id nach der Wende. Neue Politikstrukturen, Opladen 1998; Göttrik Wewer (Hrsg.), Bilanz der Ara Kohl. Christlich-liberale Politik in Deutschland 1982-1998, Opladen 1998.

..

26.

45

So Ludger Kühnhardt, Von der Bundesrepublik nach Deutschland, in: MUT, Heft 8/1997, S.

So Manfred G. Schmidt, Die Politik des mittleren Weges. Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 9-10/90, S. 23-31.

Von der "Bonner Republik" zur "Berliner Republik"?

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doch viel, denkt man an die Aktivitäten jener Oppositionellen46, die das- zugegeben: marode - System friedlich zum Einsturz gebracht haben, und an jene Bürger, deren Aufbauwillen unter schwierigen Konstellationen beinahe schon sprichwörtlich geworden ist. Manche Kritiker - es sind nicht wenige - sprechen davon, das System der Bundesrepublik sei der DDR übergestülpt worden. Wer von "Anschluß" und von "Kolonialisierung" redet47 , kann nicht im seihen Atemzug die Veränderungen andeutende Vokabel der "Berliner Republik" verwenden. Im übrigen war es der wahrlich gut verstehbare Wunsch der DDRBürger, das politische und wirtschaftliche System der Bundesrepublik - auch mit der Konsumfreiheit - möglichst schnell zu übernehmen. Von "Kolonialisierung" kann nur reden, wer sich, und sei es indirekt, die Legitimitätsprinzipien des untergegangenen Systems zu eigen macht. Die deprimierende Hinterlassenschaft der DDR entzieht Legenden den argumentativen Boden. Jener Staat, der glaubte, mit den historischen Gesetzmäßigkeiten in Einklang zu stehen, ging in dem Staat auf, der sich nur widerwillig als "Provisorium" konstituiert hatte. Wie die Bundesrepublik in den ersten vierzig Jahren die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse auf ihr Panier schrieb, ist das seit 1990 erst recht ein vorrangiges Gebot - und nicht engstirnige Besitzstandswahrung. Diese dominiert freilich in den alten Bundesländern. Und manche Ostdeutsche können sich nicht so recht damit abfinden, daß es unmöglich ist, von heute auf morgen vierzig Jahre effiziente und dynamische Entwicklung in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht aufzuholen. Daß erst nach dem Ende der DDR - seltsam genug- partiell eine DDR-Identität auflebt, ist auch eine Reaktion auf zum Teil unvermeidliche Verwerfungen. Um mit Michael Rutschky zu reden: "Erst jetzt [... ] unter den Bedingungen freier Kommunikation entsteht überhaupt die DDR, als eine abgegrenzte Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft, die Walter Ulbricht ebenso enthält wie Mielkes Lederhütchen, die Stasi, die Versorgungsschwierigkeiten, den ersten Sex auf Hiddensee und den glücklichen Zusammenbruch 1989."48 5. Soll-Zustand

Die Ausfilhrungen bezogen sich bis jetzt mehr auf die Frage nach dem "Sein". Wie ist es um das "Sollen" bestellt? Die "Bonner Demokratie" bedarf 46

Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, 2. Aufl., Berlin 1998; Eberhard Kuhrt/GOnter Holzweißig!Hannsjörg F. Buck (Hrsg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Analysen, Erfahrungsberichte, Dokumente, Opladen 1999. 47

Vgl. etwa: Wolfgang DOmekeiFritz Vimar (Hrsg.), Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, MOnster 1995. 41

Michael Rutschky, Unverrückbare BRD. Von der Beharrungskraft des Unfesten, in: Frankfurter Rundschau v. 29./30./31. März 1997.

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einer Fortsetzung. Es besteht kein Grund, die nationale Einheit gegen den Republikanismus auszuspielen und umgekehrt. "Verfassungspatriotismus" steht uns - nicht nur uns - gut an. Unausgegorene Ideen eines wie immer zu verstehenden "dritten Weges" -wirtschaftlich, politisch, militärisch, kulturell- sollten keine dominierende Rolle mehr spielen - und sie spielen auch keine mehr. Die Deutschen haben "ihre Lektion" gelernt. Die Entscheidung filr Berlin war wahrhaft kein "Verrat an den Grundlagen unseres Staates"49, wie der bekannte Hamburger Historiker Fritz Fischer meinte, und ein Votum zugunsten von Bonn hätte sich auch nicht als Konterkarierung des Vereinigungsprozesses auffassen lassen. Hingegen ist es schwer verständlich, daß der bisherige nationale Feiertag, der 17. Juni, paradoxerweise in dem Moment zugunsten eines kUnstliehen Datums - dem 3. Oktober - abgeschafft wurde, in dem das Ziel sich erfüllte, für das die Demonstranten 1953 unter Einsatz ihres Lebens auf die Straße gegangen waren - filr Freiheit und Einheit. Auch wenn man immer wieder das Gegenteil hört und liest: Das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West wird dadurch begUnstigt, daß keine qualitativ neue Republik entstanden ist. Wäre die Bundesrepublik z.B. in institutioneller Hinsicht ebenfalls "umgekrempelt" worden, hätte das unabsehbare Konsequenzen für die Entwicklung der Einheit Deutschlands haben können. Die schnelle und unvorbereitete Eingliederung der DDR stellte die politisch Verantwortlichen ohnehin vor große Probleme. Experimente im Westen wären gerade filr die Menschen in den neuen Bundesländern, die auf die westlichen Transferleistungen angewiesen sind, kontraproduktiv gewesen. Wie soll das vereinigte Deutschland heißen? Es ist die "Bundesrepublik Deutschland" geblieben. Der Begriff der "Berliner Republik" kann höchst vieldeutig aufgefaßt werden. So nehmen ihn manche gedankenlos in den Mund, ohne sich Rechenschaft Uber damit verbundene Assoziationen abzulegen: Der Staat wird einfach nach dem Regierungssitz benannt. Schließlich gebrauchen viele die schillernde Wendung deshalb, weil sie auf die neuartigen Herausforderungen aufmerksam machen wollen50, ohne angemessen zu berücksichtigen, daß nicht in erster Linie die deutsche Einheit filr die gewaltigen Veränderungen und Versäumnisse verantwortlich gewesen ist. Und natUrlieh verwenden den Terminus von der "Berliner Republik" jene, die mit einer "anderen Republik" liebäugeln .

•9

Zitiert nach Volker Ullrich, Unerschrocken ein Tabu gebrochen. Der Hamburger Historiker Fritz Fischer wird 90 Jahre alt, in: Die Zeit v. 5. März 1998. '10

Vgl. Ulrich Schacht!Heimo Schwilk, FUr eine Berliner Republik. Streitschriften, Reden, Essays nach 1989, München 1997.

Von der "Bonner Republik" zur "Berliner Republik"?

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6. Zusammenfassung Mein Fazit: Das Koordinatensystem, wie es in der Bundesrepublik bestand, hat sich seit der deutschen Einheit in seinem innenpolitischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Raster im Kern nicht geändert. Innere Stabilität und äußere Verläßlichkeit gehören nach wie vor zu den Grundfesten der Bundesrepublik Deutschland51 - 50 Jahre nach ihrer Gründung, zehn Jahre nach dem Umbruch in der DDR, der den Terminus "Revolution" verdient, nicht den der "Wende". Insofern erscheint mir- in deskriptiver wie in präskriptiver Hinsichtdie Wendung von der "neuen Republik" ebenso unreflektiert zu sein wie die von der "Berliner Republik", erst recht die von der "dritten Republik". Noch eine ketzerische und selbstkritische Bemerkung: Vielleicht ist die Alternative zwischen der neuen und der erweiterten Bundesrepublik nur künstlicher Natur, liegt doch eine dialektische Antwort nahe: Das "Erweiterte" ist das "Neue", das "Neue" das "Erweiterte". Hinzu kommt: Was wir mit dem Wort von der "Globalisierung" umschreiben - ich nenne beispielhaft nur die weltweite Migration und die Gentechnologie -, läßt die Frage nach den Konturen der "Berliner Republik" vielleicht als semantische Nabelschau erscheinen. Viel Lärm um nichts? Einerseits ist das richtig, denn der Streit um die Terminologie hat einigermaßen ridiküle Formen angenommen. Dies gilt ebenso fiir die Frage nach der angemessenen Bezeichnung des Pariametsgebäudes in Berlin. Als würde der Obrigkeitsstaat wieder aufleben, wenn man an dem Namen "Reichstag" festhielte.52 Andererseits kann mit einer griffigen Formel Politik gemacht werden. Auch wer von der "Berliner Republik" zu sprechen gewillt ist, sollte wissen: Ein Ortswechsel von Parlament und Regierung ist "kein Richtungswechsel" (Roman Herzog).

,.

Vgl. Eckhard Jesse, 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Haben wir eine Verschiebung des politischen Koordinatensystems?, in: MUT, Heft 5/1999, S. 28-41. 'Z Vgl. die sarkastischen Bemerkungen von Michael Stürmer, Von der Ahnungslosigkeit der Saubermllnner - Politische Korrektheit als Wahn. Die Vorbehalte gegen den Begriff Reichstag gehen ins Leere, in: Die Welt v. 19. Aprill999. 3 Eckart /Jesse

Wilhelm Bürklin JAMMER-OSSIS VERSUS BESSER-WESSIS? DIE POLITISCHE KULTUR IM VEREINIGTEN DEUTSCID-AND 1. Einleitung und Problemstellung

Daß die innere Einheit Deutschlands gelingen wird, daran gibt es keinen Zweifel. Fraglich ist nur, wann die noch bestehenden Vorbehalte abgebaut sind und die sprichwörtliche Mauer in den Köpfen 1 gefallen sein wird. Denn auch im neunten Jahr gemeinsamer Staatlichkeil gibt es noch bemerkenswerte, fast charakteristische Unterschiede im Denken und Handeln der Deutschen in Ost und West. Damit sehen sichalljene getäuscht, die, wie seinerzeit Kurt Sontheimer, die Hoffnung hegten, daß dem Fall der Mauer auf schnellem Fuß die mentale Wiedervereinigung folgen werde. Selbst der im Juli 1997 vorgelegte erste Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit räumt ein, daß die Umgestaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung die Menschen in den neuen Ländern weit stärker in Mitleidenschaft gezogen hat als erwartef. Für viele Mitbürger hat der Transformationsprozeß neben dem abrupten Wandel der bis dahin gewohnten Lebensbedingungen einen Bruch ihrer bisherigen Identitäten und Orientierungen gebracht. Der erhoffte und erkämpfte Gewinn der Freiheit war ftlr manche nicht zugleich mit umfassender persönlicher Zufriedenheit verbunden. Und der Bericht flihrt fort: "Noch nicht alle Deutschen ftlhlen sich zur Zeit in ihrem Lande zu Hause". 4 Als abgeschlossen könne der Einigungsprozeß erst dann bezeichnet werden, "wenn neben der materiellen Einheit die innere Einheit vollendet ist". 5 Verfassungen lassen sich mit einem Federstrich ändern, die gelebte Verfassung, die Verfassungswirklichkeit, paßt sich dem nur verzögert an.

1 Vgl. Hans-Joachim Maaz, Der Geftlhlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Berlin 1990; ders.: Das gestürzte Volk oder die unglückliche Einheit. Berlin 1991.

Vgl. Kurt Sontheimer: Deutschlands Politische Kultur. München 1990. Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.): Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 1997, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/8450, Bonn 1997. 4 Ebd., S. 13. 5 Ebd. 2

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Als wichtigste Ursachen ftlr die nachhinkende innere Einheit nennt der Bericht auf seiten der Ostdeutschen ein ausgeprägtes Vertrauens-, Verständnisund Zustimmungsdefizit zur demokratischen Werteordnung des Grundgesetzes und seinen rechtsstaatliehen Institutionen. Dem entspricht auf westdeutscher Seite ein Informations- und Verständnisdefizit über ehemalige Machtstrukturen und das Alltagsleben in der DDR. Auf dieser Grundlage konnten sich die wechselseitigen emotionalen Vorbehalte "Ost gegenüber West" und "West gegenüber Ost" mit voller Symbolkraft entfalten: hier die vermutete Arroganz des Westdeutschen, der sich als Sieger im Wettkampf der Gesellschaftsordnungen ftlhlt; dort die vermutete Undankbarkeit und Lernunwilligkeit des Ostdeutschen, der sich weigert, die Spielregeln der Leistungsgesellschaft anzuerkennen. Vertieft werden die wahrgenommenen oder auch nur vermuteten Gegensätze durch einen Mangel an Selbstwertgefilhl der Ostdeutschen. Sie empfinden sich oft als "Bürger Zweiter Klasse" und leiden unter der vermeintlichen Geringschätzung ihrer bisherigen DDR-Biographie.6 Diese wechselseitigen emotionalen Vorbehalte wurden auf die publizistisch einprägsame Formel vom arbeitsscheuen "Jammer-Ossi" und arroganten "Besser-Wessi" gebracht. Wie Winfried Gebhard und Georg Kamphausen herausgearbeitet haben, gehen einige linke Intellektuelle sogar noch einen Schritt weiter und bemühen die seit Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" berühmt-berüchtigte Dichotomie von Kultur und Zivilisation, um die Ost-Biographien moralisch aufzuwerten7 : Hier der durch Zivilisation und Materialismus verdorbene Wessi, "dort der zwar arme, aber die wahren Werte und den besseren Teil der deutschen Kultur bewahrende ,Ossi'". 8 Seit der Veröffentlichung des Berichts der Bundesregierung hat sich der Zustand der so defmierten inneren Einheit nicht verbessert. Wie die verschiedenen Umfrageergebnisse nahelegen, haben sich die Gräben sogar noch vertieft. So hat, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die nach 1990 stetig zurückgegangene Zahl der Ostdeutschen, die sich als "Bürger Zweiter Klasse" sehen, seit 1996 wieder zugenommen. 9 Wie sind diese und ähnliche demoskopische Befunde zur politischen Kultur im vereinten Deutschland zu bewerten? Zeigen sie, wie das etwa Max Kaase vermutet, daß sich der Prozeß der Ost-West-Annäherung umVgl. ebd., S. 17. Vgl. Richard. Herzinger, Die obskuren Inseln der kultivierten Gemeinschaft: Heiner Müller, Christa Wolf, Volker Braun- deutsche Zivilisationskritik und das neue Anti-Westlertum, in: Die Zeit vom 4. Juni 1993. 1 Winfried Gcbhardt/Gcorg Karnphausen, Mentalitätsunterschiede im wiedervereinigten Deutschland? Das Beispiel zweier landlieber Gemeinden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 16/1997, s. 29. 9 Vgl. Dieter Walz/Wolfgang Brunner, Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Oder: Warum sich die Ostdeutschen als BUrger 2. Klasse ftlhlen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51/1997, S. 13. 6

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gekehrt hat und die politisch-kulturelle Einheit in immer weitere Feme rückt? 10 Oder darf bezweifelt werden, wie etwa Hans-Joachim Veen meint 11 , daß die betreffenden Einstellungen zum Kernbestand dessen gehören, was legitimerweise als identitätsstiftende politische Kultur des vereinten Deutschland gelten kann? Hat Veen gar Recht, wenn er die provokante These aufstellt, daß wir die innere Einheit bereits erreicht haben - allerdings nur in dem, was sie legitimerweise bedeuten kann? 12 Damit ist eine Frage aufgeworfen, von der jede Bilanz der politischen Kultur des vereinten Deutschlands auszugehen hat: Wieviel Einheit brauchen wir? 13 Wie breit muß das Spektrum von Einstellungen und subjektiven Befindlichkeiten sein, auf denen die innere Einheit gegründet werden kann? Denn tatsächlich gehört bei weitem nicht alles, was bisher in Umfragen gemessen worden ist, auch zum unverzichtbaren Kernbestand der gemeinsam geteilten politischen Kultur. Daher spiegeln nicht alle Ost-West-Unterschiede, über die in steter Regelmäßigkeit berichtet wird, ein Problem der inneren Einheit wider. 2. Zur Abgrenzung des Begrifft der inneren Einheit

Die Frage, wie weit die politisch-kulturelle Einheit heute erreicht ist, muß in zwei Schritten beantwortet werden. Zunächst ist empirisch festzustellen, in welchen Bereichen überhaupt (noch) Einstellungsunterschiede zwischen Ostund Westdeutschen bestehen - etwa im Bereich der Familie oder der Politik und wie groß diese Unterschiede sind. Weitaus schwieriger ist die zweite Frage, ob die Unterschiede für die innere Einheit überhaupt von Bedeutung sind. Die hier zu beantwortende Frage ist also, was im Kern die innere Einheit Deutschlands ausmacht und was zum Grundbestand der gemeinsam geteilten politischen Kultur gehört. Doch nach welchen Kriterien soll das entschieden werden? Wir brauchen letztlich einen Konsens darüber, wieviel Einheit die Demokratie braucht und wieviel Unterschiedlichkeit sie zulassen kann.

10 Vgl. Max Kaase/Petra Bauer-Kaase, German Unification 1990-1997: The long, long road. Unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 1998; dies., Deutsche Vereinigung und innere Einheit 19901997, in: Heiner Meu1emann (Hrsg.): Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland. Erklärungsanslitze der Umfrageforschung, Opladen 1998, S. 251-268. 11 Vgl. Hans-Joachim Veen, Innere Einheit- aber wo liegt sie? Eine Bestandsaufnahme im siebten Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 4041 , S. 19-28; ders., Die innere Einheit ist schon da, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Juli 1997. 12 Vgl. ders., Innere Einheit (Anm. I 1), 28. 13 Vgl. Ilse Spittrnann: FUnf Jahre danach - Wieviel Einheit brauchen wir?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/1995, S. 3-8.

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Aus den Sozialwissenschaften ist bei der Beantwortung dieser Fragen nur wenig Hilfe zu erwarten: Ein Konsens, was im einzelnen zur politischkulturellen Einheit Deutschlands gehört, ist bisher nicht in Sicht. 14 Nach Kaase richtet sich die Erforschung der inneren Einheit auf "individuelle Befindlichkeiten, die durch repräsentative nationale Befragungen erhoben und danach aggregiert werden".' 5 Das Augenmerk einer so verstandenen Forschungsthematik "innere Einheit" sei dementsprechend auf folgende Fragen gerichtet: "(1) wie ähnlich oder unähnlich die Menschen in West- und Ostdeutschland in ihren Mentalitäten, Lebensweisen und nicht zuletzt politischen Orientierungen zum Zeitpunkt der Vereinigung waren und (2) ob bzw. wie sich diese Orientierungen seither verändert haben" .16 In dieser eher prozessualen Begriffsbestimmung sieht Veen 17 den Hauptgrund daftir, daß die zahlreichen Analysen einen bunten Kriterienkatalog dessen hervorgebracht haben, was vermeintlich zum Kernbestand der inneren Einheit gehören soll. Dieser Katalog umspannt ein weites Feld von Ähnlichkeiten und Unterschieden der Menschen in West- und Ostdeutschland. 18 Er beinhaltet etwa auf makrosoziologischer Ebene die Einstellungen zu Demokratie und Marktwirtschaft oder die regional-spezifische Kultur- und Brauchtumspflege. Auf individueller Ebene wird ein breites Spektrum alltagskultureller Lebensweisen im Bereich von Ehe und Familie genannt, einschließlich des Sexualverhaltens. 19 Und wenn aus psychoanalytischer Perspektive daftlr plädiert wird, daß auch die "innere Demokratisierung" und "Selbstbefreiung" der Deutschen in Ost und West zum Ziel der deutschen Einheit werden muß20, dann gewinnt man, so Veen, " eine bange Ahnung davon, was alles gemeint sein kann, wenn die innere Einheit ins Visier genommen wird" 21 • Die diffuse Entgrenzung des Begriffs der inneren Einheit ist filr die Forschung hinderlich - ftlr die Demokratie geradezu problematisch. Denn wenn alles und jedes, von der Nachbarschaftsbeziehung bis zur demokratischen Ein-

14

Vgl. Veen, Innere Einheit (Anm. I I), S. 19.

Vgl. Max Kaase, Innere Einheit, in: Wemer Weidenfeld /Kari-Rudolf Korte (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit, Neuausgabe, Sonn 1996, S. 385. 16 Ebd. 17 Vgl. Veen, Innere Einheit (Anm. I 1), S. 20. 15

18 Vgl. ebd.; Kaase/Bauer-Kaase, German Unification (Anm. IO); dies., Deutsche Vereinigung (Anm.IO). 19 Vgl. Aike Hessei/Michael Geyer/Julia WUrz!Eimar Brähler, Psychische Befindlichkeiten in Ost- und Westdeutschland im siebten Jahr nach der Wende. Ergebnisse einer empirischen Untersu;;hung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B I3/I997, S. 15-24. 20 Vgl. Hans-Joachim Maaz, Psychosoziale Aspekte im deutschen Vereinigungsprozeß, in: Aus Politik und Zeitgeschichte BI 9/I 99 I, S. 3-10. 21 Veen, Innere Einheit (Anm. II), S. 20.

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stellung, zum gemeinsamen Kulturbestand erklärt wird, dann muß auch jede Abweichung als Störung der nationalen Integration gelten. Eine solche Homogenisierung der Bevölkerung aber widerspräche der Idee der pluralistischen Demokratie, die unterschiedliche Einstellungen, Mentalitäten und Wertorientierungen der Bürger ermutigt und schützt. Das Ideal einer homogenen Gesellschaft mit seinem typischerweise überhöhten Gemeinschaftsmythos gehört in den Bereich der totalitären Herrschaftsformen. Folgt man der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, verlangt die freiheitlich-pluralistische Demokratie nur einen Minimalkonsens. Dieser beschränkt sich auf die Anerkennung der durch die Verfassung vorgegebenen Staatsordnung. Zu deren Wertgrundlagen gehören zunächst die Grundsätze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung - Konrad Hesse unterscheidet hier zwischen den Verfahrensgrundsätzen der gewaltenteiligen Wettbewerbsdemokratie und den institutionellen Festlegungen der Staatsstruktur in Artikel 20 GG. 22 Darüber hinaus wird man dazu bei konsequenter Prüfung auch, weil aus den Festlegungen der individuellen Grundrechte kaum anders ableitbar, die Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft rechnen müssen. Daß die Grenzen dessen, was unter sozialer Marktwirtschaft verstanden wird, fließend sind und einer politischen Deutung unterliegen, heißt nicht, daß die marktwirtschaftliche Ordnung selbst zur Disposition steht. Ob es über diesen Minimalkonsens hinausgehende Elemente der politischen Kultur gibt, die in Ost und West übereinstimmen müssen, um von "innerer Einheit" reden zu können, ist durchaus diskussionswürdig. Das gilt sowohl ftlr den immer wieder genannten außenpolitischen Konsens zur Westintegration als auch filr die Existenz einer Grundsympathie der Deutschen ftlreinander. 23 Ganz unbestreitbar gehört der außenpolitische Konsens über die Westintegration zu den zentralen geistig-moralischen Grundlagen der alten Bundesrepublik. Es läßt sich aber mit gutem Grund bezweifeln, daß dieser Konsens ftlr die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich bestandsnotwendig war. Übertragen auf die heutige Zeit kann man die Frage stellen, ob die Zustimmung zur europäischen Einigung wirklich ein notwendiges Element der gemeinsamen politischen Kultur Deutschlands darstellt. Für die nationalen Grundsympathien gilt, daß sie etwa zu Zeiten des deutschen Kulturkampfes weit schwächer gewesen sein dürften als heute zwischen Ost und West. Wovon also soll gesprochen werden, wenn im folgenden von innerer Einheit die Rede ist? Eine sinnvolle Eingrenzung des Begriffs der inneren Einheit auf die relevanten Aspekte politischer Kultur kann an den Arbeiten von Almond 22 Vgl. Konrad Hesse, GrundzUge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, Karlsruhe 1995, S. 293 f. 23 Vgl. Veen,lnnere Einheit (Anm. II).

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und Verba anknüpfen. 24 Diese definieren politische Kultur als psychologisches Konstrukt. Es sei die Gesamtheit aller politischen Verhaltensweisen und Einstellungen kognitiver, affektiver und wertender Art gegenüber dem politischen System und den in seinem Rahmen auszufiillenden politischen Rollen. Damit sind zunächst einmal alle alltagskulturellen Differenzen zwischen Ost und West aus der Betrachtung ausgeschlossen. Dies ist insofern plausibel, als beispielsweise unterschiedliches Sexualverhalten in Ost und West natürlich kein Problem fur die innere Einheit Deutschlands bedeuten kann. Darüber hinaus konnte David Easton zeigen 25 , daß die verschiedenen politischen Einstellungen und Überzeugungen der Menschen eine hierarchische Ordnung aufweisen: An oberster Stelle stehen alle Einstellungen, die sich auf die politische Gemeinschaft und die übergeordneten demokratischen Werte beziehen. Im mittleren Bereich finden sich das politische System und seine Strukturen, im untersten Bereich die politischen Akteure und die konkreten Ergebnisse der Politik. Von größter Bedeutung fiir die Stabilität eines politischen Systems ist die Anerkennung der politischen Gemeinschaft und der Grundwerte der Demokratie. Als am wenigsten bedrohlich gilt entsprechend, wenn die Einstellungen zu den politischen Parteien und der Tagespolitik in Kritik oder Ablehnung umschlagen. Die Zustimmung der Bürger zur politischen Gemeinschaft und den allgemeinen demokratischen Werten erfiillt fiir die Demokratie eine "Pufferfunktion", die darin besteht, daß Unzufriedenheit mit der aktuellen Tagespolitik, den politischen Parteien oder dem politischen Personal nicht sofort zu einer Ablehnung der demokratischen Ordnung fiihrt. Die Loyalität der Bürger zum politischen System kann aber nur dann auch über politische Vertrauenskrisen hinweg gesichert werden, wenn die Bürger die verschiedenen Bezüge politischer Kultur tatsächlich auch so abgestuft bewerten, d.h. eine relativ große Zustimmung zur politischen Gemeinschaft und den Grundwerten der Demokratie besteht. Überträgt man diese Überlegungen nun auf den Begriff der inneren Einheit, dann folgt daraus unmittelbar, daß zwischen Ost und West bestehende Unterschiede in der Bewertung der Tagespolitik noch kein grundlegendes Problem fiir die bundesrepublikanische Demokratie darstellen müssen. Selbst gravierende Ost-West-Divergenzen in konkreten politischen Streitfragen stellen die innere Einheit Deutschlands nicht in Frage, so lange in beiden Landesteilen die demokratischen Grundwerte akzeptiert werden und eine hinreichende Identifikation mit der gemeinsamen Nation besteht. Das hier entwickelte Verständnis des Begriffs der inneren Einheit weist große Übereinstimmung mit dem regieH Vgl. Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963. zs Vgl. David Easton, A Systems Analysis ofPolitical Life, New York u.a 1965.

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rungsoffiziellen Begriffsverständnis auf. Im ersten Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit heißt es, daß dort unter dem Prozeß der inneren Einigung "der Weg des einzelnen zum aktiven und verantwortungsbewußten Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage der durch die Verfassung vorgegebenen Werteordnung" 26 verstanden wird. Innere Einigung wird also auch von offiziellen Regierungsstellen nicht einfach als Homogenisierung aller möglichen (und unmöglichen) Einstellungen verstanden, sondern als fortdauernder Prozeß, an dessen Ende die Herstellung eines Konsenses über die wertbezogenen und institutionellen Grundlagen der Demokratie steht. 3. Die demoskopischen Befunde und ihre theoretische Interpretation

3.1. Unterschiedliche Erklärungsansätze fUr Unterschiede •

Die empirischen Befunde der Umfrageforschung deuten auf charakteristische Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen hinsichtlich bestimmter politischer Grundwerte und demokratischer Einstellungen hin. Vor dem Hintergrund des eben entwickelten Begriffsverständnisses scheint die innere Einheit Deutschlands noch nicht verwirklicht zu sein. Es ist aber in der Wissenschaft hochgradig umstritten, wie die empirisch auffindbaren Unterschiede theoretisch zu interpretieren sind und welche Szenarien fUr die zukünftige Entwicklung formuliert werden können.



Einige Autoren führen die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen auf die Sozialisation der Menschen in sehr unterschiedlichen politischen Kontexten zurück. 27 Dem staatssozialistischen System der untergegangenen DDR sei es zumindest partiell gelungen, "seine" Werte und Normen den Menschen in Ostdeutschland dauerhaft zu vermitteln. Die Ursachen der heute noch zu beobachtenden Ost-West-Unterschiede liegen in der theoretischen Perspektive dieser Sozialisationshypothese, also in der Vor-WendeZeit.

26

Deutscher Bundestag (Anm. 3), S. 17.

Vgl. Kai Arzheimer/Markus Klein, Die friedliche und die stille Revolution. Die Entwicklung gesellschaftspolitischer Wertorientierungen in Deutschland seit dem Beitritt der ftlnfneuen Länder, in: Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997, S. 37-59; Dieter Fuchs, Welche Demokratie wollen die Deutschen?, in: Ebd., S. 81-113; ders./Ede1traud Roller!Bernhard Weßels, Die Akzeptanz der Demokratie des vereinten Deutschlands. Oder: Wann ist ein Unterschied ein Unterschied?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51/1997, 3-12; Kaase!Bauer-Kaase, German Unification (Anm. 10); dies., Deutsche Vereinigung (Anm. 10). 27

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Demgegenüber geht die von Detlef Pollack28 so genannte Erfahrungshypothese davon aus, daß die Ursachen ftlr die gegenwärtig zu beobachtenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland erst in der Nach-WendeZeit liegen. Zum Zeitpunkt der Vereinigung seien die Einstellungen von West- und Ostdeutschen einander sehr ähnlich gewesen und erst die Erfahrungen mit den "prekären Folgen der Wiedervereinigung"29 hätten dazu gefUhrt, daß die Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands ein von ihren westdeutschen Landsleuten abweichendes Einstellungsprofil herausgebildet hätten.

Diese beiden konkurrierenden Erklärungsansätze lassen sich im Kern auf alle Aspekte der gemeinsamen politischen Kultur Deutschlands anwenden. Sie lassen dabei jeweils sehr unterschiedliche Schlußfolgerungen bezüglich der weiteren Entwicklung der politischen Kultur im vereinten Deutschland zu. Geht man von der Gültigkeit der Sozialisationshypothese aus, dann folgt daraus, daß die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen noch lange bestehen bleiben und sich im äußersten Fall erst im Zuge der Generationensukzession angleichen. Die Erfahrungshypothese hingegen impliziert, daß mit Erreichung der materiellen Einheit, also der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West, sich sehr schnell auch die innere Einheit einstellen wird. Im ersten Fall ist die Herstellung der inneren Einheit der Steuerungsmöglichkeit durch die Politik weitgehend entzogen. Im zweiten Fall hingegen wäre eine Politik, die beherzt auf die Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland zielt, gleichzeitig auch eine Politik zur Förderung der inneren Einheit. Da die beiden skizzierten Erklärungsansätze je nach Einstellungsebene - von der Tagespolitik bis zu den zentralen Werten der politischen Gemeinschaft variieren, milssen im folgenden die verschiedenen Aspekte der inneren Einheit Deutschlands getrennt voneinander diskutiert werden. In Anlehnung an die Differenzierung von Easton unterscheiden wir dabei zwischen der nationalen Identität (politische Gemeinschaft) sowie den Einstellungen zu Demokratie, Marktwirtschaft und Wohlfahrtstaat (politisches Regime). 3.2. Nationale Identität Zu den seit der deutschen Einheit am meisten beachteten Ergebnissen der politischen Kulturforschung gehören die Zeitreihen zur Entwicklung deutschdeutscher Identitäten. Die ersten Untersuchungen zeigten eine erstaunliche 28 Vgl. Detlef Pollack, Das BedUrfnis nach sozialer Anerkennung. Der Wandel der Akzeptanz von Demokratie und Marktwirtschaft in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13/1997, S. 9.

29

Ebd., S. 8.

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Parallelität im Denken von Ost- und Westdeutschen, die sofort als typisch deutsch charakterisiert wurde. Gemeint ist die nur schwach ausgeprägte Bereitschaft, sich als Deutscher zu bekennen oder gar auf seine Nationalität stolz zu sein. Hier stehen "Jammer-Ossis" und "Besser-Wessis" im internationalen Vergleich neben den Japanern auf dem letzten Platz. 30 Offenbar, so könnte man daraus folgern, hat die in Ost und West gleichermaßen unterdrückte Neigung, sich zur deutschen Nation - und damit vermeintlich auch zu nationalistischen Ideen - zu bekennen, die selben historischen Wurzeln. Sozialisationsbedingte Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen scheinen hinsichtlich dieses Aspekts der gemeinsamen politischen Kultur folglich nicht zu existieren. Als noch erstaunlicher galt 1990, daß die Deutschen in Ost und West einmütig als wichtigsten Grund ihres Nationalstolzes die wirtschaftlichen Leistungen Deutschlands nannten. 31 Schließlich galt als sicherer Beleg fiir die rasche nationale Integration, daß kurz nach der Wende 61 Prozent der Ostdeutschen angaben, sich eher als Deutsche denn als Ostdeutsche zu fiihlen. Seither aber hat, so berichten die Umfragen, die Ost-Identifikation wieder zugenommen. 1994 gaben nur noch 34 Prozent der Ostdeutschen an, sich eher als Deutsche zu fühlen, hingegen 60 Prozent, daß sie sich als Ostdeutsche fiihlen. 32 Diese Zahlen haben sich seither weitgehend stabilisiert. 33 Auf der Grundlage dieser Zahlen wurde die Vermutung geäußert, daß sich viele Ostdeutsche im vereinten Deutschland noch nicht zu Hause fiihlen. Ebenfalls verändert hat sich die inhaltliche Bedeutung der nationalen Identifikation.34 Im Westen zunächst zum Positiven: Dort kommt heute fast jeder zweite Westdeutsche dem von Dolf Steroberger beschriebenen Typus des Verfassungspatrioten nahe: Er ist in erster Linie stolz auf das Grundgesetz. Die wirtschaftlichen Leistungen als primäre Quelle des Nationalstolzes sind mittlerweile auf den zweiten Rang abgerutscht. Der nach dem Zweiten Weltkrieg lange wachgehaltene Vorwurf, die Bundesrepublik sei eine "Schönwetterdemokratie", hat damit seine Grundlage verloren. Mit dem Begriff der Schönwetterdemokratie wurde die Erwartung beschrieben, daß die Deutschen nur so lange

30 Vgl. Hans-Dieter Klingemann, Mapping Political Support: A Cross-Time and Cross-Country Perspective, Berl in 1997. 31 Vgl. Peter Ph. Mohler, Unterstatzung fllr das politische System der deutschen Einheit oder: Wohin geht das politische System der Bundesrepublik, in: Michael Braun!Peter Ph. Mohler (Hrsg.), Blickpunkt Gesellschaft 4. Soziale Ungleichheit in Deutschland, Opladen 1998 S. 249281.

32 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Eine Nation zu werden ist schwer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom IO.August 1994. 31 Vgl. Bettina Westle, Einstellungen zur Nation und zu den MitbOrgem, in: Gabriel (Anm. 27), S. 61-80; Mohler (Anm. 31). 34

Vgl. Mohler (Anm. 31).

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zum demokratischen System stehen würden, wie ihr "Wirtschaftswunder" anhält. Die reale Entwicklung der politischen Kultur der alten Bundesrepublik hat diese These widerlegt: Auch in wirtschaftlich schweren Zeiten standen die Westdeutschen zur Demokratie. Die demokratischen Grundhaltungen erfüllen ihre Pufferfunktion: Man kritisiert zwar die aktuelle Politik, ist aber ansonsten mehrheitlich davon überzeugt, daß die demokratische Ordnung legitim ist. 35 Der Typus des Verfassungspatrioten ist bei den Ostdeutschen ebensowenig verbreitet wie der Stolz auf die Wirtschaft. Mittlerweile verbinden die Ostdeutschen ihren Nationalstolz häufiger mit wissenschaftlichen Leistungen und dem Sport. 36 Sie greifen damit auf Werte zurück, die sich von denen des "siegreichen" westlichen Systems - Wirtschaft und politische Ordnung - unterscheiden. Im Osten stehen die Leistungen der Menschen - z.B. in Sport und Wissenschaft - im Vordergrund. Das noch immer vorhandene wirtschaftliche Gefalle macht fiir viele eine Identifikation mit der Wirtschaft unmöglich, von einem daraus folgenden selbstbewußten Verfassungspatriotismus ganz zu schweigen. Damit aber bleiben die geistig-moralischen Stützpfeiler einer ostdeutschen SonderIdentität nur schwach. Auch die wechselseitigen Vorurteile zwischen Ost- und Westdeutschen haben sich parallel zur Wirtschaftsentwicklung entwickelt. Die Bilder vom jeweils anderen Deutschen haben sich eher noch getrübt. Mittlerweile glauben fast 80 Prozent der Ostdeutschen, daß viele Westdeutsche am liebsten so leben würden, als hätte die Wiedervereinigung nicht stattgefunden. Ebenso geben sie sich trotzig überzeugt, daß die Bonner Regierung zu wenig tut, um die Arbeitsplätze im Osten zu sichern. Vergleichbar dazu hat sich im Westen das Bild des nur bedingt leistungsbereiten Jammer-Ossi gehalten. 37 Doch wie sind diese Einstellungen zu bewerten? Für Max Kaase sind die charakteristischen Vorurteile und Identifikationen der Beleg dafiir, daß sich die mentale Kluft zwischen Ost- und Westdeutschen vertieft, weil die Ostdeutschen ihre frühere DDR-Identität wieder stärker als positives Element ihrer Biographie entdecken. 38 Kann die kritische Distanzierung tatsächlich als Rückorientierung zur DDR interpretiert werden? Man darf dies bezweifeln. So räumt etwa der an der Frankfurter Viadrina lehrende Detlef Pollack ein, daß die Befindlichkeit der Ostdeutschen sowohl die Langzeitwirkung früherer politischer Prägung als auch der Reflex auf aktuelle Probleme sein kann. 39 "Dies kann damit zusammenhänH

Vgl. Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture Revisited, Boston!foronto 1980.

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Vgl. Mohler (Anm. 31 ), S. 270.

Vgl. Kaase/Bauer-Kaase, German Unification (Anm. 10); dies., Deutsche Vereinigung (Anm. 10). 38 Vgl. Kaase/Bauer-Kaase, German Unification (Anm. 10), S. 20. 39 Vgl. Pollack (Anm 28). 37

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gen, daß sie sich, zumindest partiell, noch immer mit der DDR identifizieren, oder damit, daß sie sich auf diese Weise gegen die öffentlich vollzogene Abwertung ihrer Vergangenheit wehren und das entstandene Mißachtungs- und Unterlegenheitsgefiihl gegenüber den Westdeutschen zu kompensieren versuchen".40 Pollack meint also, daß das Hauptmotiv der neuen Ost-Identität nicht als "Wunsch zurück in die DDR" verstanden werden kann, sondern als das ungestillte Bedürfnis nach sozialer Anerkennung durch die Westdeutschen. Aber auch andere Forschungsergebnisse deuten daraufhin, daß die neue Ostidentifikation nicht die DDR meint, sondern den Wunsch nach Zugehörigkeit, und sei es zur Gruppe gleichgesinnter Benachteiligter. Hier bietet sich in Ermangelung anderer Alternativen die gemeinsam geteilte Ost-Herkunft an. Wie bei anderen Bezügen regionaler Identität auch, ist dazu noch nicht einmal Voraussetzung, daß diese Klammer eines geteilten Schicksals real existiert; es reicht aus, daß sie in der öffentlichen Meinung als soziales Konstrukt erkennbar ist. Für die Zugehörigkeits-These sprechen auch die Untersuchungen Mummendeys zu regional verankerten ostdeutschen Identitäten. Diese hätten in der ökonomisch schwierigen Umbruchsituation die Funktion der Stabilisierung individuellen Selbstwertgefilhls übernommen. Damit aber würden die veränderten regionalen Identitäten nicht eine Abkehr von der nationalen Identifikation bedeuten. Sie fungierten eher als identitärer Anker in ökonomisch schwierigen Umbruchsituationen. Wie unveröffentlichte Arbeiten von Carsten Zelle zeigen, schließt eine solche Orientierung allerdings positive Bezüge zur nationalen Ebene oder gar zu anderen Westregionen nicht aus. Zelle konnte z.B. zeigen, daß Bürger aus Brandenburg eine besondere Nähe zu Nordrhein-Westfalen hatten. Offenbar schafft Begegnung zwischen Partnerländern doch größere Nähe. In dieselbe Richtung deuten die Analysen zu den Ursachen des bei Ostdeutschen verbreiteten Gefilhls, "Bürger zweiter Klasse" zu sein. Zur Erinnerung: Dieser Anteil war bis 1995 stetig zurückgegangen und nimmt seither wieder zu. Die Autoren Walz und Brunner sehen darin ebenfalls keine psychologisch begründete DDR-Identifikation, denn das Gefilhl, Bürger zweiter Klasse zu sein, hing im Zeitverlauf immer stärker mit wirtschaftlichen und sozialen Faktoren zusammen. 41 Es fußt primär auf einem sozioökonomischen Benachteiligungs-

40 Vgl. ders./Gert Pickei/Jörg Jacobs, Wächst zusammen was zusammengehört? Subjektive und objektive Komponenten sozialer Ungleichheit in Ost- und Westdeutschland, in: Ronald Lutz (Hrsg.), Armutsforschung und Sozialberichterstattung in den neuen Bundesländern, Opladen 1998, S. 15. • 1 Vgl. Walz/Brunner (Anm. 9); dies., Selbstidentifikation der Ostdeutschen 1990-1997. Warum sich die Ostdeutschen als BUrger zweiter Klasse ftlhlen, wir uns aber nicht auf die 'innere Mauer' treffen, in: Meulemann (Anm. 10), S. 229-250.

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empfinden. 42 Gleichberechtigt fühlen sich in zunehmendem Maße Rentner und Pensionäre, junge Hochgebildete, CDU-Wähler und die Bürger Sachsens. Es sind also nicht "die Ostdeutschen", die sich wegen ihrer vermeintlich nicht anerkannten DDR-Biographie abgelehnt fiihlen, sondern nur diejenigen unter ihnen, die sich benachteiligt fiihlen. Daher muß auch die entsprechende Vermutung Pollacks43 zurückgewiesen werden, daß Verbesserungen vor allem durch den Abbau der vermeintlichen "Überheblichkeit des Westens" erreicht werden könnten. Nötig ist vielmehr eine durchgreifende Änderung der Verhältnisse aufwirtschaftlicher Ebene. 3.3.Einstellungen zur Demokratie Hinsichtlich der Einstellungen zur Demokratie ist zunächst festzuhalten, daß die Demokratie als Ordnungsform sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland eine hohe Zustimmung genießt. Im Jahr 1991 hielten 86 Prozent der West- und 70 Prozent der Ostdeutschen "die Demokratie grundsätzlich fllr die beste Staatsform".44 Die überwiegende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in beiden Landesteilen befürwortet also grundsätzlich die Demokratie. Auch die konkreten Prinzipien der Demokratie finden in Ostdeutschland eine vergleichbar hohe Zustimmung wie in Westdeutschland. 45 Eine prinzipielle Opposition der Ostdeutschen zur demokratischen Regierungsform die sich nach 40jähriger Erfahrung mit einem diktatorischen Regime eingestellt haben soll, ist also nicht festzustellen. Etwas anders stellt sich die Situation dar, wenn man nach der konkreten Ausgestaltung der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland fragt. Die entsprechende Frage lautet: "Glauben Sie, die Demokratie, die wir in Deutschland haben, ist die beste Staatsform, oder gibt es eine andere Staatsform, die besser ist?"46 Der Anteil der Befragten, der die Demokratie der Bundesrepublik ftlr die beste Staatsform hält, liegt in Westdeutschland in den Jahren I 990-I 995 zwischen 70 und 80 Prozent, in den neuen Bundesländern im selben Zeitraum nur zwischen 30 und 40 Prozent. Die Akzeptanz der konkreten Augestaltung der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland ist in den neuen Bundesländern deutlich niedriger als in den alten. Sucht man nach Gründen ftlr diese ge42 43

Vgl. Walz!Brunner (Anm. 9), S. 19. Vgl. Pollack (Anm. 28).

44 Dicter Fuchs, Wohin geht der Wandel der demokratischen Institutionen in Deutschland?, in: Gerhard Gohler (Hrsg.), InstitutionenwandeL Sonderheft des Leviathan, Opladen 1997, S. 276.

45 Vgl. Russen J. Dalton, Communists and Democrats: Democratic Attitudes in the Two Germanies, in: British Journal of Political Science 24 (1994), S. 469-493; Fuchs, Welche Demokratie (Anm. 27). 46

Fuchs/Roller/Weßels (Anm. 27), S. 4.

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ringere Unterstützung der bundesrepublikanischen Demokratie in den neuen Bundesländern, dann geraten zwei konkurrierende Erklärungen ins Blickfeld: Die erste Erklärung hebt auf das unterschiedliche Demokratieverständnis von Ost- und Westdeutschen ab. Nach Fuchs47 zeichnen sich die Ostdeutschen dadurch aus, daß sie im Gegensatz zu den Westdeutschen, die ein liberales Modell der Demokratie präferieren, das Modell des demokratischen Sozialismus befürworten: Soziale Grundrechte, plebiszitäre Mitwirkungsmöglichkeiten und die staatliche Garantie sozialer Wohlfahrt und Gerechtigkeit gehören für sie zu den Essentials der Demokratie. Da all diese Aspekte in den Augen der Ostdeutschen im Grundgesetz nicht entsprechend umgesetzt seien, resultiert nach Fuchs eine geringere Zufriedenheit mit der real existierenden bundesrepublikanischen Demokratie. Die Ursache für das unterschiedliche Demokratieverständnis von Ostund Westdeutschen ist nach Fuchs in der Sozialisation in zwei grundverschiedenen politischen Systemen zu suchen: hier die repräsentative Demokratie der individualistischen Leistungsgesellschaft BRD, dort die plebiszitär angelegte, wenn auch nicht praktizierte, direkte Volksdemokratie des paternalistischen Fürsorgestaates DDR. Doch an dieser sozialisationstheoretischen Begründung des unterschiedlichen Demokratieverständnisses von Ost- und Westdeutschen können Zweifel angemeldet werden. Diese Zweifel gründen auf der Tatsache, daß mit der üblichen Interpretation von Umfragedaten Ost-West-Unterschiede überschätzt und falsch bewertet werden. Die Gründe hierfür seien im folgenden kurz ausgeführt: Nicht jeder Ost-West-Unterschied, der sich in einer Umfrage zeigt, ist auch ein Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen. Oder, um es genauer zu sagen, ein Unterschied, der auf frühere oder heutige Prägungen zurückgeht. Ein Vergleich mag das verdeutlichen: Wenn bis in die 1990er Jahre in Bayern häufiger die christlichen Parteien gewählt wurden, dann war das kein landsmannschaftlicher Effekt. Vielmehr gab es in Bayern einfach einen sehr hohen Bevölkerungsanteil von Katholiken, die zu weit höheren Anteilen die Union wählten. Die Umfrageforschung nennt das einen Kompositionseffekt Auch bei den Demokratievorstellungen von Ost- und Westdeutschen zeigt sich ein solcher Kompositionseffekt Diesmal aber ist er darüber hinaus durch divergierende parteipolitische Affinitäten begründet: Bei den Grünen, der PDS und großen Teilen der SPD gibt es vergleichbare Vorlieben für das Modell des demokratischen Sozialismus- und zwar in Westdeutschland ebenso wie in den neuen Bundesländern. Allerdings gibt es im Osten, dem historischen Stammland der Sozialdemokratie, aufgrund der begünstigenden Sozialstruktur (hoher Arbeiter- und Konfessionslosenanteil) eine strukturelle parteipolitische Mehrheit

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Vgl. Fuchs, Welche Demokratie (Anm. 27).

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fiir die linken Parteien.48 Die größere Akzeptanz des Modells des demokratischen Sozialismus ist folglich nicht notwendigerweise ein Produkt der DDRSozialisation, sondern vielmehr das Ergebnis unterschiedlicher parteipolitischer Kräfteverhältnisse in Ost- und Westdeutschland. Eine zweite - eher mit den Erfahrungen der Menschen argumentierende - Erklärung sieht den Grund filr die geringere Unterstützung der bundesrepublikanischen Demokratie in der deutlich niedrigeren Zufriedenheit der Ostdeutschen mit dem konkreten Funktionieren der Demokratie. Die Zufriedenheit mit der Wirklichkeit der Demokratie liegt in den neuen Ländern zwischen 1990 und 1996 jeweils um gut 20 Prozentpunkte unter dem entsprechenden Wert in den alten Ländern. 1996 zeigten sich ca. 60 Prozent der West- und ca. 40 Prozent der Ostdeutschen mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. 49 Die fehlenden Jahrzehnte Erfahrung mit der demokratischen Regierungsform filhrten dazu, daß viele Ostdeutsche zwischen dem demokratischen System und der aktuellen Politik kaum unterscheiden. Systemfragen sind filr sie unmittelbarer mit den konkreten Leistungen der Regierung verbunden; fast so, als ob die demokratische Ordnung in wirtschaftlichen Krisenzeiten zur Disposition stehen würde. Schönwetterdemokratie in den neuen Bundesländern? Die fehlende habituelle Systemakzeptanz erklärt auch, daß sich die Einstellungen zur Demokratie parallel zur wirtschaftlichen Lage seit der "Wende" verschlechtert haben. Am Anfang stand die Hoffnung auf raschen Wohlstand und "blühende Landschaften". Diese Erwartungen wurden in dem Ausmaß enttäuscht, wie sich die wirtschaftliche Anpassung in Relation zu den aus der Politik geweckten Erwartungen verzögerte. Es ist paradox: Weil sie so große Erwartungen an das westliche System hatten, sehen heute viele Ostdeutsche die Probleme des Wiederaufbaus der Wirtschaft nicht mehr als Spätfolge des DDRSozialismus, sondern als Schwäche der marktwirtschaftliehen Ordnung. Hier wurde das Problem der politischen Emanzipation nicht durch Befreiung von mentalen Abhängigkeiten gelöst, sondern verschoben: Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Alternative wurden die Erwartungen einfach auf die neue demokratische Regierung übertragen. Die demokratische Regierungsform wird nicht aus Prinzip akzeptiert, sondern wegen ihrer versprochenen wirtschaftlichen Leistungen. Sie wird entsprechend abgelehnt, wenn die erwarteten Leistungen ausbleiben. Die Zweifel neh41 Wilhelm BUrklin, Die Struktur politischer Konfliktlinien im vereinten Deutschland. Eine Nation - zwei getrennte politische Kulturen?, in: Christiana Albertina, Forschungsbericht und Halbjahresschrift der Universität Kiel34 (1992), S. 15-32. 49 Vgl. Fuchs/Roller/Weßels (Anm. 27), S. 5; Fuchs, Wohin geht der Wandel (Anm. 44), S. 280. Dieter Fuchs gelangt mit einem etwas anderen Indikator, der direkt nach der Zufriedenheit mit der Demokratie fragt, zu ähnlichen Zahlen.

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men zu, ob diese Gesellschaftsfonn es wert ist, verteidigt zu werden. Dieser Aspekt des Systemzweifels wurde mit der folgenden Interviewfrage erhoben: "Wenn sie einmal an das Leben in Deutschland denken: Ist unsere Gesellschaftsordnung, so wie sie jetzt in der Bundesrepublik ist, wert, verteidigt zu werden, oder haben Sie da Zweifel?"50 1994 stimmten noch 76 Prozent der West- und immerhin 53 Prozent der Ostdeutschen zu. Heute, nachdem die wirtschaftliche Lage filr rasche Erholung kaum Aussicht gibt, stehen fast unverändert 69 Prozent der Westdeutschen fest zur Gesellschaftsordnung, in den neuen Ländern hat die Gruppe der Überzeugten aber mittlerweile auf 36 Prozent abgenommen. Mangelndes Vertrauen in die Fähigkeit des Systems zeigt sich auch daran, daß fast zwei Drittel der Ostdeutschen (62 Prozent) fUrchten, daß das Land auf eine Krise zusteuert. Im Westen beträgt der entsprechende Wert gerade einmal39 Prozent. 5 1 3.4. Einstellungen zur Marktwirtschaft und zum Wohlfahrtsstaat Die Unterstützung des Systems der sozialen Marktwirtschaft gehört nach dem von uns entwickelten Begriffsverständnis zu denjenigen Aspekten der politischen Kultur, die bei der Untersuchung der inneren Einheit Deutschlands von Relevanz sind. Betrachtet man die Entwicklung der Einstellungen zur Marktwirtschaft vor dem Hintergrund der beiden oben eingefUhrten rivalisierenden Erklärungsmuster, so spricht einiges filr die Erfahrungshypothese. So ist der Anteil der Ostdeutschen, der positiv über das ökonomische System der Bundesrepublik denkt, von 69 Prozent im Jahr 1990 nahezu linear auf 22 Prozent im Jahr 1997 gefallen. 52 Auch die Analysen von Kai Arzheimer und Markus Klein 53 zeigen, daß die Zustimmung der Ostdeutschen zum marktwirtschaftliehen System zwischen 1990 und 1995 deutlich zurückgegangen ist. Zum Zeitpunkt der Vereinigung waren die Ostdeutschen der Marktwirtschaft gegenüber sogar positiver eingestellt als die Westdeutschen! Wenn es aber so ist, daß die "Marktwirtschaft einschließlich ihrer leistungsabhängigen sozialen Unterschiede 1990 von der Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung akzeptiert ... [war] und ein Verfall dieser Zustimmung erst nach und nach einsetzte, dann heißt das, daß man die heutigen Vorbehalte der ostdeutschen Bevölkerung ge-

lO Elisabeth Noelle-Neumann, Was ist anders als 1994?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Februar 1998.

" Vgl. ebd. ' 2 Renate Köcher, Die Zweifel wachsen in Ost und West. Arbeitslosigkeit und Reformblockaden unterminieren das Vertrauen in die politische und wirtschaftliche Ordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. März 1997. ' 3 Vgl. Arzheimer/Kiein (Anm. 27). 4 Eckan/ Jesse

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genüber dem westlichen Institutionensystem und seinen Funktionsprinzipien nicht auf ein Erbe des DDR-Sozialismus zurückführen kann". 54 Die Ursache für die rückläufige Akzeptanz der Marktwirtschaft ist folglich eher den Ereignissen in der Nach-"Wende"-Zeit zuzuschreiben, insbesondere aber der sich nur schleppend vollziehenden Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse. Verschärft werden die mit der deutschen Einheit verbundenen ökonomischen Probleme durch die mit der Globalisierung der Wirtschaft und dem internationalen Standortwettbewerb verbundenen Herausforderungen. Die politische Auseinandersetzung dreht sich immer weniger um die Verteilung ökonomischen Wachstums, denn um die Verteilung unausweichlicher Einsparungen und Zumutungen im System sozialer Sicherung. 55 Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß selbst in Westdeutschland der Bevölkerungsanteil, der positiv über das ökonomische System der Bundesrepublik denkt, von 57 Prozent im Jahr 1994 auf 40 Prozent im Jahr 1997 gefallen ist. 56 Angesichts der beschriebenen ökonomischen Probleme zeigen die Deutschen in Ost und West vergleichbare Reaktionen. Sie erhoffen sich Rettung vom Staat. Auch nach 40 Jahren Sozialismus haben sich in Ost- und Westdeutschland verschiedene, allerdings keinesfalls grundverschiedene Vorstellungen über die Rolle von Staat und Wirtschaft herausgebildet. Der Wohlfahrtsstaat hat in Deutschland eine Tradition, die ihre Wurzeln vor der Gründung beider Teilstaaten hat. Diese Tradition auf den DDR-Sozialismus zurückführen zu wollen, ist historisch falsch. Mehr noch, es waren in Deutschland stets die bürgerlichen oder konservativen Regierungen, die den Ausbau des Sozialstaates massiv vorangetrieben haben. Die Ära Kohl ist nur das letzte Beispiel in der auf Bismarck zurückgehenden Reihe. Es mag die wenigen Wirtschaftsliberalen in Deutschland schmerzen, aber in dieser Frage sind sich die Deutschen in Ost und West untereinander sehr viel ähnlicher als im Vergleich zu den Bevölkerungen vieler anderer westlicher Demokratien. Der mittlerweile zum Begriff gewordene "rheinische Kapitalismus" stellt eine weit engere Klammer zwischen Ost- und Westdeutschen dar, als beide Teilstaaten wahrzunehmen bereit sind. Vor diesem Hintergrund mag es zunächst erstaunen, daß sich dennoch Unterschiede im Staatsverständnis Ost- und Westdeutscher beobachten lassen. 57 Daß es Aufgabe des Staates sei, für Arbeitsplätze zu sorgen glauben 74 Prozent der Ostdeutschen - aber immerhin auch 54 Prozent der Westdeutschen. Bei der Alterssicherung oder der Absicherung gegen Krankheitsfolgen liegen die Eins. Pollack (Anm. 28), S. 8. " Vgl. Kaase!Bauer-Kaase, German Unification (Anm. 10), S. 20. 56 Vgl. Köcher (Anm. 52). s? Vgl. Noelle-Neumann, Was ist anders als 1994 (Anm. 50).

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stellungendeutlich näher beieinander (mit 77 zu 64 Prozent bzw. 61 zu 46 Prozent). Viele andere Beispiele könnten genannt werden. Auf der Grundlage dieser vergleichsweise geringen Unterschiede - sie liegen zwischen 13 und 20 Prozentpunkten- lassen sich Zweifel anmelden, ob sich Ost- und Westdeutsche überhaupt signifikant voneinander unterscheiden. Auch in diesem Beispiel können die Ost-West-Unterschiede auf einen Kompositionseffekt zurückgefiihrt werden. Dieser bezieht sich auf die Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern hinsichtlich der Betroffenheit von wirtschaftlichen Problemen. Weil in den neuen Ländern der Anteil der von wirtschaftlichen Problemen betroffenen Personen deutlich größer ist als in der alten Bundesrepublik, liegt auch der Bevölkerungsanteil von Personen höher, der der marktwirtschaftliehen Ordnung kritisch gegenüber steht. Darüber hinaus existiert noch ein zweites methodisches Problem: In den Umfragen werden zwei nicht vergleichbare Gebiete gegenübergestellt: hier der in wirtschaftlichen Fragen eher homogene Osten, dort der sehr heterogene Westen, wo die Problemregionen weit weniger in Erscheinung treten. Würde man in den alten Ländern nur diese Problemregionen zusammenfassen -von den Werft- bis zu den Stahlstandorten -, dann würden sich, so meine These, keine Ost-WestEffekte mehr zeigen: Hier wie dort fänden wir massive Forderungen nach mehr Staat und mehr grundsätzliche Kritik an der Marktwirtschaft sowie der Demokratie. Dann würden wir auch das geringere Vertrauen Ostdeutscher in die Marktwirtschaft nicht mehr als Spätfolge der sozialistischen Erziehung interpretieren können, sondern als Reflex auf die wirtschaftlichen Probleme, die in den neuen Ländern besonders deutlich zutage treten. Ich schlage daher vor, diese Form der Interpretation von Ost-West-Unterschieden in den Umfragen möglichst bald ad acta zu legen. 4. Zusammenfassung und Ausblick

Faßt man die im vorliegenden Aufsatz angestellten Überlegungen zusammen, dann kommt man hinsichtlich der Frage nach der inneren Einheit Deutschlands zu eher ermutigenden Ergebnissen. Zunächst ist zu betonen, daß nicht jeder Einstellungsunterschied zwischen Ost- und Westdeutschen ein Problem der inneren Einheit darstellt. Ganz im Gegenteil: Die pluralistische Gesellschaft verlangt geradezu nach einer Vielfalt in den Einstellungen und Werthaltungen ihrer Bürger. Die innere Einheit ist nur dann in Gefahr, wenn die politische Gemeinschaft und das politische Regime nicht die ungeteilte Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger aus Ost und West erhalten. Und tatsächlich deuten die Befunde der Umfrageforschung darauf hin, daß in den neuen Ländern die Selbstidentifikation als Deutscher partiell zugunsten einer Art Ost-Identität zurückgedrängt wurde und außerdem die konkrete Ausgestaltung der bundes4*

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deutschen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft auf geringere Akzeptanz trifft als in Westdeutschland. Die innere Einheit scheint also noch nicht hergestellt zu sein. Fraglich ist allerdings, ob die zwischen Ost- und West zu beobachtenden Unterschiede wirklich Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind. Nur wenige der empirisch zu beobachtenden Einstellungsunterschiede lassen sich plausibel als sozialisationsbedingte Differenzen deuten, die aus den Erfahrungen der Menschen in unterschiedlichen politischen Systemen resultieren und mit denen man demzufolge dauerhaft rechnen müßte. Sehr viel plausibler scheint es, die oben beschriebenen Unterschiede entweder auf Erfahrungs- oder aber auf Kompositionseffekte zurückzuführen. Die größere Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit der Demokratie und der Marktwirtschaft kann nicht zuletzt durch die sehr viel schwierigere ökonomische Lage in den neuen Ländern erklärt werden. Mit der Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse in Ost und West sollten sich daher mittelfristig auch diese Einstellungen angleichen. Die in Ostdeutschland größere Akzeptanz des Modells des demokratischen Sozialismus erklärt sich nicht zuletzt durch sozialstrukturelle Eigenheiten der neuen Länder, die linke Parteien und deren Politikentwürfe begünstigen. Die mit der deutschen Einheit in der Bevölkerung Gesamtdeutschlands gewachsene Zustimmung filr sozialstaatliche und redistributive Politikentwürfe ist angesichts der Herausforderungen der Globalisierung nicht unbedingt funktional. Für die innere Einheit Deutschlands aber stellt das kein Problem dar. Denn wäre das der Fall, dann müßte man auch aus der Tatsache, daß sich die alten Bundesländer, wie etwa Bayern und Nordrhein-Westfalen, hinsichtlich ihrer politischen Traditionen und Mehrheitsverhältnisse teilweise deutlich unterscheiden, ein Problem der inneren Einheit Deutschlands ableiten.

Geo.ffrey K Roberts IST EIN NEUES PARTEIENSYSTEM ENTSTANDEN? MEHRWANDEL ALS KONTINUITÄT I. Einleitung Um über das deutsche Parteiensystem zu sprechen, ist es notwendig, den Begriff des Parteiensystems allgemein zu erklären. Ein Parteiensystem besteht sowohl aus der Gesamtheit der politischen Parteien innerhalb eines politischen Systems als auch aus den gegenseitigen Beziehungen dieser Parteien miteinander. Es gibt viele Dimensionen eines Parteiensystems. Die fiinf Eigenschaften des Parteiensystems, die wichtig sind, um die Stabilität oder den Wandel des deutschen Parteiensystems zu analysieren, lauten wie folgt: (a) die Zahl der Parteien; (b) die Stärke der verschiedenen Parteien; (c) die ideologische Bandbreite des Parteiensystems; (d) die Koalitionsbereitschaft der Parteien; (e) die territoriale Homogenität des Parteiensystems. (a) Die Zahl der Parteien hängt davon ab, welches Kriterium man benutzt, um diese Zahl festzustellen. Giovanni Sartori spricht von "relevanten Parteien", d.h. Parteien, die eine Rolle bei der Regierungsbildung spielen können, oder Parteien, die eine Art "Vetorecht" besitzen. 1 Es ist etwas einfacher, besonders in dem Fall Deutschlands, nur die Parteien zu zählen, die Landtagsoder Bundestagsmandate bekommen haben. (b) Die Stärke der verschiedenen Parteien ist ebenso von Bedeutung. Man könnte von einem CDU/CSU-dominierten Parteiensystem in den filnfziger und sechziger Jahren sprechen, weil - zumindest auf Bundesebene - die Union einen großen Vorsprung bei mehreren nacheinanderfolgenden Bundestagswahlen gegenüber der Sozialdemokratie hatte. Bei der Bundestagswahl 1969 ging diese Dominanz zu Ende. Da die FDP mit der SPD eine Koalition einging, geriet die Union ins Hintertreffen. Von 1983 an hatte die Union wieder eine dominante Stelle innerhalb des Parteiensystems: Ihr Vorsprung gegenüber der Sozialdemokratie betrug filnf bis zehn Prozentpunkte, wobei die SPD niemals 40 Prozent der Stimmen zu erreichen ver-

1

Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems. A Framework for Analysis, Cambridge

1976, S. 121-125.

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mochte. 1998 änderte sich dies: Zum zweiten Mal - nach 1972 - erhielt die SPD mehr Stimmen als die Union. (c) Die ideologische Bandbreite des Parteiensystems hat Folgen u.a. ft.lr den Parteienwettbewerb, für die Koalitionsmöglichkeiten und für die Stabilität des politischen Systems. Ein Vergleich der Weimarer Republik mit der Bundesrepublik Deutschland macht den Einfluß extremistischer Parteien deutlich. Die POS hat bei Landtagswahlen in den neuen Bundesländern gezeigt, wie wichtig eine relativ kleine, linksextremistisch orientierte Partei bei der Regierungsbildung sein kann. (d) Die ideologische Bandbreite ist auch ft.lr die Koalitionsbereitschaft der Parteien von Bedeutung. Wenn einige Parteien als "Anti-System-Parteien" klassifiziert werden müssen, kommen sie flir demokratische Parteien als Koalitionspartner nicht in Frage, so daß die Koalitionsoptionen ziemlich begrenzt sein können. Allerdings gilt dies nicht immer. So ging die SPD in Mecklenburg-Vorpommern mit der POS eine Koalition ein. (e) Die territoriale Homogenität des Parteiensystems darf nicht vernachlässigt werden. So ist das nordirische Parteiensystem wegen der religiösen und der nationalen Spannungslinien ("cleavages") ganz anders als das Parteiensystem Großbritanniens. Falls diese Konfliktlinien eines Tages verschwinden würden, könnte Nordirland ein "normales" britisches Parteiensystem bekommen. Das Parteiensystem Belgiens ist ein Beispiel ft.lr ein Parteiensystem, das regional heterogen ist. (Diese Heterogenität ist in erster Linie durch die Sprachen bedingt.) Deutschland hatte stets regionale Unterschiede, die sich im Parteiensystem widerspiegelten. Diese Unterschiede haben seit 1945 die Entwicklung eines integrierten Parteiensystems nicht verhindert. Spricht man von einem Wandel eines Parteiensystems, dann bedeutet es, daß eine oder mehrere dieser Dimensionen sich verändern. Der Wandel kann z.B. durch eine neue Partei, die bei einer Parlamentswahl Erfolge erzielt (z.B. der Front National in Frankreich seit 1984 oder die Progressive Democrats in Irland seit 1987) verursacht sein. Eine Partei kann an Bedeutung gewinnen (z.B. die Freiheitliche Partei Österreichs, der 1994 fast jeder vierte Wähler bei der Nationalratswahl seine Stimme gab) oder an Bedeutung verlieren (z.B. die Gaullisten in Frankreich seit den siebziger Jahren) oder eine Partei kann ihre Position innerhalb des Parteiensystems ändern (z.B. die "eurokommunistischen" Parteien Italiens und Spaniens in den siebziger Jahren). Es hat auch mannigfache Wandlungen innerhalb des Parteiensystems der Bundesrepublik Deutschland vor 1990 gegeben. Der ideologische Modernisierungsprozeß der SPD nach Verabschiedung des Bad Godesberger Grundsatzprogramms von 1959 ermöglichte es der SPD zehn Jahre später, sich

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als gleichrangiger Konkurrent der CDU/CSU bei den Bundestagswahlen zu stellen, so daß das Parteiensystem nach 1969 eine andere Gestalt als das der fiinfziger und sechziger Jahren erhielt. Der Identitätswechsel der FDP zur Zeit der Großen Koalition von einer mehr rechtsliberalen zu einer linksliberalen Partei, der eine Kooperation mit der SPD ermöglichte, hat den Angelpunkt des Parteiensystems nach 1969 zunächst nach links verschoben. Der Erfolg der Grünen bei der Bundestagswahl 1983 hat das Dreiparteiensystem verändert, so daß seit 1983 -allmählich -eine Art "Zweiblockparteiensystem" entstanden istmit gravierenden Konsequenzen fllr die Rolle der FDP als dem bisher einzigen "Mehrheitsbeschaffer". 2. Das Parteiensystem bis zur Bundestagswah/1990

Die Schaffung eines gesamtdeutschen Parteiensystems im Jahre 1990 war ein einmaliges Experiment. Niemals zuvor haben demokratische Parteien versucht, mit bekehrten, ehemaligen kommunistischen Blockparteien einerseits und neuerrichteten demokratischen Parteien anderseits zu fusionieren. 1988, dem Jahr vor den umwälzenden Ereignissen in der DDR, die zum schnellen Untergang des SED-Regimes beigetragen haben, war das Parteiensystem der Bundesrepublik sehr stabil. Aufgrund der Erfolge der Grünen bei den Bundestagswahlen 1983 und 1987, die zu einem Vierparteiensystem gefilhrt haben, gab es eine klare Trennungslinie zwischen den Parteien der Regierungskoalition (CDU/CSU und FDP) einerseits und denen der Opposition (SPD und Grüne) andererseits. Die Wähler hatten eine Wahl zwischen zwei möglichen Regierungen: entweder die Union und die Liberalen oder die Sozialdemokraten und die Grünen. Linksextremistische Parteien waren ebenso bedeutungslos wie rechtsextremistische. Das Parteiensystem der DDR im Jahre 1988 war, wie in der Vergangenheit, ein "Parteiensystem", das aus der SED und vier anderen Blockparteien (der LDPD, der CDU, der NDPD und der DBD) bestand- ein Parteiensystem ohne Parteienwettbewerb. Die SED war die "Staatspartei". Wandlungen innerhalb dieses Systems gab es nicht. Die Vorherrschaft der SED wurde durch die ZK Abteilung "befreundete Parteien" gesteuert und gewährleistet. Im Jahr 1990, dem Jahr der Wiedervereinigung Deutschlands, haben vier Gruppen von Parteien die Entwicklung in Richtung auf ein gesamtdeutsches Parteiensystem beeinflußt: die Bürgerrechtsgruppen, die Sozialdemokratische Partei in der DDR, die ehemaligen Blockparteien und - last but not least - die Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bürgerrechtsgruppen - wie z.B. "Neues Forum", "Demokratie Jetzt", oder "Initiative Frieden und Menschenrechte", - haben wichtige Impulse zur

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Demokratisierung der DDR geleistet. Viele Aktivisten dieser Gruppen wollten nicht Mitglieder einer Partei sein, um flexibler und offener (einige Mitglieder würden wohl behaupten: "demokratischer") bleiben zu können. Andere Mitglieder oder Anhänger haben diese Entscheidung nicht mitgetragen und einen parteiähnlichen Status filr ihre Gruppe eingefilhrt (z.B. der "Demokratische Aufbruch", deren Gründungskongreß als Verein im Oktober, als Partei im Dezember 1989 stattgefunden hat). Die Notwendigkeiten der Wahlkampfprozeduren haben die Bürgerbewegungsgruppen im Frühjahr 1990 gezwungen, eine parteiähnliche Organisation zu bilden: das Bündnis '90. Dieses trat auch bei anderen Wahlen im Jahr 1990 an: bei den Kommunalwahlen im Mai, den Landtagswahlen im Oktober und der Bundestagswahl im Dezember. Später wurde aufgrund gesetzlicher Notwendigkeiten der Status einer Partei angestrebt. Im September 1991 entstand das Blindins '90 als Partei. Diese fusionierte im Mai 1993 mit den Grünen. Einige neue Parteien wurden in der DDR 1989/90 gegründet. Nur zwei davon waren von Bedeutung. Weil es keine sozialdemokratische Partei nach der Bildung der Sozialistischen Einheitspartei im Jahre 1946 in der DDR gab, wurde 1989 eine neue Sozialdemokratische Partei ins Leben gerufen. Diese Partei, die sich bewußt zunächst als SDP (Sozialdemokratische Partei der DDR) konstituierte, um sich von der SPD in der Bundesrepublik zu unterscheiden, wurde am 7. Oktober in Schwante gegründet. Die DSU (Deutsche Soziale Union) entstand als Sammelbecken verschiedener, meistens gemäßigt rechtsorientierter Gruppen im Januar 1990. Zunächst bekam die DSU Unterstützung von der CSU. Weil die DSU politisch unzuverlässig und bei Wahlen einigermaßen erfolglos war und weil die CDU eine Partnerschaft der CSU mit einer Konkurrenz der CDU höchst unangenehm fand, ging diese Unterstützung durch die CSU im Jahre 1993 zu Ende. Die dritte Gruppe waren die ehemaligen Blockparteien: die LDPD, die CDU, die NDPD, die DBD und die SED. Einige der mit der SED verbrüderten Parteien hatten schon im Herbst 1989 das SED-Regime kritisiert - Mitglieder der CDU mit ihrem "Brief aus Weimar" oder Teile der LDPD, die politische Reformen in der DDR anmahnten. Alle diese Parteien waren zwar aus dem "Demokratischen Block" in den ersten Dezemberwochen 1989 ausgetreten, aber noch in der Modrow-Regierung geblieben. Dieser Umstand war filr die LDPD und die Ost-CDU ein Hindernis auf dem Weg zu engerer Kooperation mit den Liberalen und der Union des Westens. Der Reformprozeß der SED im Dezember 1989 tangierte sowohl die Organisation als auch das Programm der Partei. Im Januar 1990 in "Partei des Demokratischen Sozialismus" (POS) umbenannt, hat diese Partei bewußt die organisatorischen und finanziellen Verbindungen zur alten SED beibehalten. Diese Entscheidung hat später Vorteile gebracht

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(z.B. in Fonn eines schon bestehenden Netzwerkes von Mitgliedern), aber auch offenkundige Nachteile (z.B. wegen der diktatorischen Vergangenheit). Die Parteien der Bundesrepublik spielten selbstverständlich auch eine Rolle bei der Entwicklung eines gesamtdeutschen Parteiensystems. Die FDP hatte versucht, Kontakte zur LDPD aufrechtzuerhalten. 2 Zu Beginn des Jahres 1990 haben Vertreter der SPD und der Union Gespräche mit Politikern der ostdeutschen Sozialdemokraten und Christdemokraten geftlhrt. Der Volkskammerwahlkampf 1990 machte eine Kooperation zwischen west- und ostdeutschen Parteien unvenneidlich - trotz eines Appells des Runden Tisches, daß westliche Parteien sich nicht in den Wahlkampf einmischen sollten. Ein Wahlbündnis dreier liberaler Parteien ("Bund Freier Demokraten") wurde unter der Schinnherrschaft der FDP ins Leben gerufen. Die "Allianz für Deutschland", die Unterstützung von der CDU und CSU in der Bundesrepublik Deutschland bekam, war ein Bündnis zwischen der Ost-CDU, der DSU und des Demokratischen Aufbruchs. Die SPD der DDR bekam finanzielle und organisatorische Hilfe von der SPD in Westdeutschland. Nur die Grünen in Westdeutschland hielten sich zurück. Sie wollten die Selbständigkeit der ostdeutschen Grünen anerkennen und respektieren. Diese Verbindungen zwischen west- und ostdeutschen Parteien verstärkten sich nach der Volkskammerwahl im März 1990, die mit einem klaren - und überraschenden - Sieg für die "Allianz für Deutschland" endete. Als es klar war, daß die Wiedervereinigung Deutschlands nicht nur eine beschlossene Sache war, sondern auch schon im Jahr 1990 stattfinden würde, war die Schaffung vereinigter Parteien politisch notwendig. Fusionsprozesse wurden schnell in Gang gesetzt. 3 Im August 1990 fusionierten die Liberalen in Hannover, Ende September die ost- und westdeutschen Sozialdemokraten in Berlin und am I. Oktober die CDU des Westens und des Ostens in Hamburg. Die Grünen der alten und neuen Länder haben eine gemeinsame Partei direkt nach der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 geschaffen. Die CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen blieben die einzigen Parteien, die gute Chancen hatten, bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl Bundestagsmandate in den alten und neuen Bundesländern zu bekommen. Gleichwohl hatten alle Parteien Probleme, die in einem engen Zusammenhang zur Wiedervereinigung Deutschlands standen. Doch stellte sich die Situation für die einzelnen Parteien höchst unterschiedlich dar: 2 Vgl. Monika Faßbender, "Verklammerung". Zur Erinnerung an den gesamtdeutschen Disput in Bad Hornburg vom 31. Man 1966, in: Liberal 33 (1991), S. 91-94; Bemard Bode, LiberalDemokraten und "deutsche Frage", Frankfurt a. M. 1997, S. 255-303. 3 Vgl. Frank Löbler/Josef Schmid!Heinrich Tiemann (Hrsg.), Wiedervereinigung als Organisationsproblem, Bochum 1992; Geoffrey K. Roberts, Party Politics in the New Germany, London 1997, S. 83-101.

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Die Schwierigkeiten der CDU mit ihrer Mitgliedschaft in den neuen Ländern, insbesondere wegen der Rivalität zwischen den sogenannten "Blocktlöten"4 und den Mitgliedern, die erst nach dem Untergang des Blockparteiensystems rekrutiert waren, lagen offen zutage. Die Dominanz der "alten Garde" war insbesondere von Volker Rühe, damals Generalsekretär der CDU, kritisiert worden, aber es gab auch ostdeutsche CDU-Mitglieder (z.B. Arnold Vaatz), die sich höchst unzufrieden mit der Situation innerhalb der ostdeutschen Länder äußerten. Die FDP konnte ihre relativ große Mitgliedschaft in den neuen Ländern nicht behalten. Zur Zeit der Wiedervereinigung besaß sie als einzige Partei (außer der POS) mehr Mitglieder in Ost- als in Westdeutschland. Sie hatte nicht nur die Mitglieder der LDPD übernommen, sondern auch die der NDPD. Die FDP sieht sich vor ähnliche Probleme gestellt wie die CDU. Der SPD fehlt es in den neuen Bundesländern an ihrer traditionellen Verankerung bei der Arbeiterschaft, weil viele Arbeiter die CDU wählten. Als neugeschaffene Partei in der DDR verfUgt die SPD über keine "Blockpartei" als Partner- was einerseits ein Vorteil war, weil sie behaupten konnte, daß sie im Gegensatz zur CDU und FDP frei von jeder Verantwortlichkeit filr die Missetaten des alten Regimes war, andererseits ein gravierender Nachteil (fehlende organisatorische Netzwerke und andere politische Ressourcen). Die Grünen, die gegen die deutsche Einheit Stellung bezogen hatten, mußten ihren Stil und ihre Strategie überdenken. Eine Reform der Programmatik wie der Organisation war vonnöten. Viele der "Fundis" traten aus der Partei aus. Mittlerweile ist eine funktionsfähigere Organisation zustandegekommen. Die Ergebnise der Bundestagswahlen von 1990, 1994 und 1998 bieten eine Chance, um feststellen zu können, ob und inwieweit sich das Parteiensystem nach der deutschen Einheit gewandelt hat. 3. Das Parteiensystem seit 1990

Die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990, kurz nach der deutschen Einheit (3. Oktober 1990), endete mit einem erwarteten Ergebnis5 : Die Union und die FDP erreichten eine klare Mehrheit. Die SPD verlor nicht zuletzt wegen ihrer halbherzig angesehenen Einigungspolitik an Stimmen. Die Grünen erreichten in den alten Bundesländern nicht einmal filnf Prozent der Stimmen und kamen damit nicht in den Deutschen Bundestag (hingegen das ostdeutsche Bündnis 90). Dank einer filr das Wahlgebiet Ost und das Wahlgebiet West gesondert ' Vgl. Christian von Ditfurth, Blockflöten, Köln 1991. 5 Vgl. ftlr Einzelheiten Hans-Dieter Klingemann!Max Kaase (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1990, Opladen 1994.

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geltenden Fünfprozentregelung erhielt die PDS Bundestagsmandate (Wahlgebiet Ost: 11,1 Prozent; Wahlgebiet West: 0,3 Prozent), obwohl sie bundesweit mit 2,4 Prozent der Stimmen und einem Direktmandat weder die Fünfprozenthürde noch drei Direktmandate erreicht hatte. Sowohl die Bundestagswahlen als auch die anderen Wahlen (sogenannte "Nebenwahlen") im "Superwahljahr" 1994 hatten bestätigt, daß das Parteiensystem der Bundesrepublik im Ost und West noch nicht völlig einheitlich geworden ist. Die CDU/CSU, die SPD, das Bündnis 90/Die Grünen und die FDP erzielten alle weitaus bessere Bundestagswahlergebnisse im Westen Deutschlands als in seinem Osten. Die PDS hat 19,8 Prozent der Stimmen in den neuen Ländern, dagegen nur 0,9 Prozent in den "alten" gewonnen. Bei Landtagswahlen in den neuen Ländern konnte die FDP in keinem neuen Bundesland, die Partei der Grünen nur in Sachsen-Anhalt Mandate gewinnen. Die PDS war in allen fünf Landtagen wieder vertreten, dazu noch mit einem deutlich besseren Ergebnis. Die Bestrebungen der PDS, in den alten Ländern Mitglieder und Wähler an sich zu ziehen, scheiterte überwiegend. Die Landtagswahlen in Bremen 1995 setzten ein Zeichen, wonach die PDS kaum Resonanz im Westen finden kann. Sie bekam dort nur 2,4 Prozent der Stimmen, erreichte also nicht einmal das Ergebnis der Bundestagswahl 1994 (2, 7 Prozent). Was sich 1994 gezeigt hatte, setzte sich bei den nachfolgenden Wahlen fort. 6 Das kleine "Superwahljahr" 1998 führte zwar zu einem Regierungswechsel in Bonn, doch war dieser nicht auf ein kraß unterschiedliches Wahlverhalten von Ost und West zurückzuführen. Wie 1994 schnitten bei der Bundestagswahl 1998 die Union, die SPD, das Bündnis 90/Die Grünen und die FDP im Wahlgebiet West besser ab als im Wahlgebiet Ost. 7 Die PDS hingegen vermochte sichim Westen wie im Osten- weiter zu steigern. Sie überwand mit 5,1 Prozent der Stimmen sogar die Fünfprozenthürde (Wahlgebiet West: 1,2 Prozent; Wahlgebiet Ost: 21,6 Prozent). Weder dem Bündnis 90/Die Grünen noch der FDP gelang der Einzug in die Landesparlamente von Sachsen-Anhalt und Mecklen-

6 Vgl. Eckhard Jesse, Das deutsche Parteiensystem nach der Vereinigung, in: German Studies Review 21 (1998), S. 69-82; ders., Die Entwicklung des Parteiensystems und der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Von den vierziger Jahren bis in die neunziger Jahre, in: Emil Hübner/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Parteien in Deutschland. Zwischen Kontinuität und Wandel, 2. Aufl ., München 1999 (i.E.). 7 Vgl. Matthias Jung/Dieter Roth, Wer zu spät geht, den bestraft der Wähler. Eine Analyse der Bundestagswahl 1998; Oscar W. Gabriei/Frank Brettschneider, Die Bundestagswahl 1998: Ein Plebiszit gegen Kanzler Kohl?; Kai Arzheimer/Jürgen W. Falter, "Annäherung durch Wandel"? Das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 1998 in Ost-West-Perspektive; Hans Rattinger/Jürgen Maier, Der Einfluß der Wirtschaftslage auf die Wahlentscheidung bei den Bundestagswahlen 1994 und 1998, jeweils in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 52/98, S. 3-18, S. 20-32, S. 33-43, S. 45-54.

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burg-Vorpommern. (In Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird wegen der Verlängerung der Legislaturperiode auf filnf Jahre erst 1999 gewählt.) Wer die filnf oben erwähnten Dimensionen des Parteiensystems auf die Parteien und das Parteiensystem seit 1994 verwendet, kann zeigen, daß sich das Parteiensystem von heute (Ende 1998) im Verhältnis zu dem von vor zehn Jahren deutlich gewandelt hat. (a) Die Zahl der Parteien: 1988 gab es vier Parteien (wenn man CDU und CSU als eine Partei sieht): die Union, die SPD, die FDP und die Grünen. In keinem Landtag waren andere Parteien vertreten, außer der rechtsextremistischen DVU, die 1997 ein einziges Mandat in der Bürgerschaft von Bremen gewonnen hatte, und des Südschleswigschen Wählerverbandes in Schleswig-Holstein -jeweils auf Grund von Sonderregelungen im Wahlgesetz von Bremen und Schleswig-Holstein. Nach der Bundestagswahl 1998 sind filnf Parteien im Bundestag vertreten: die vier oben genannten und die PDS. Die PDS ist in allen fiinf ostdeutschen Landtagen vertreten. Man kann die Vertretung der Republikaner in einem Landtag (dem von BadenWürttemberg) außer acht lassen, denn anderswo haben die Republikaner keine großen Chancen, Mandate zu bekommen. Die erhöhte Zahl der Bundestagsparteien hat mehrere Konsequenzen filr die Koalitionsoptionen der Parteien. (b) Die Stärke der Parteien: Wandlungen hat es auch bei dieser Dimension gegeben. Die Union konnte sich zunächst gut behaupten, fiel jedoch bei der Bundestagswahl 1998 auf deprimierende 35, I Prozent (in den neuen Bundesländern, wo sie bis dahin stärkste Partei gewesen war, sogar auf unter dreißig Prozent). Auch die FDP verlor 1994 und 1998 Stimmen, besonders drastisch im Wahlgebiet Ost. Die Wahlergebnisse von 1994 (6,9 Prozent) und I 998 (6,3 Prozent) sind filr die Liberalen kein Grund fiir große Hoffnung. Die SPD war nach der Wiedervereinigung zunächst schwächer als vorher - ein Trend, der mit dem Regierungswechsel 1982/83 vorhanden war. Doch steigerte sich die Partei 1994 und vor allem 1998. Wie in der Zeit zwischen I 969 und 1980 konnte sie wieder die Marke von 40 Prozent überschreiten. Das Bündnis 90/Die Grünen ist seit I 994 die "dritte Kraft", trotz deprimierender Stimmenanteile im Osten. Die PDS hat sich nicht nur in den neuen Ländern von 11,1 (1990) über 19,8 (1994) auf 21 ,6 (1998) Prozent verbessert, sondern auch in den alten - allerdings auf einem weitaus niedrigerem Niveau (1990: 0,3 Prozent; 1994: 0,9 Prozent; I 998: 1,2 Prozent). (c) Die ideologische Bandbreite des Parteiensystems: Das politische Überleben der PDS als Bundestagspartei hat den Angelpunkt des Parteiensystems seit 1990 nach links verschoben. Selbstverständlich ordnet die Bevölkerung die

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POS links von der SPD und den Grünen ein.8 Für viele ostdeutsche Wähler gilt die POS als eine "nonnale" demokratische Partei, die große Mehrheit der westdeutschen Wähler hingegen betrachtet die POS weithin als eine extremistische Partei.9 Deshalb sind die Koalitionsoptionen der SPD nicht einfach. Was im Osten möglich ist {Tolerierung durch die POS oder sogar Koalition mit ihr), läßt sich nicht auf den Bund übertragen. (d) Die Koalitionsbereitschaft der Parteien: In der "alten" Bundesrepublik werden alle Bundestagsparteien, zumindest theoretisch, als mögliche Koalitionspartner wahrgenommen (Die CDU und die Grünen sind auf der Kommunalebene sogar Bündnisse eingegangen). 10 Seit dem Einzug der POS in den Bundestag gibt es Koalitionsprobleme. Für CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne kann die POS auf der Bundesebene kein möglicher Koalitionspartner sein. Sogar die Tolerierung einer rot-grünen Koalitionsregierung durch die POS wurde vor den Bundestagswahlen 1994 und 1998 von der SPD ausdrücklich abgelehnt. Die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung durch die POS in Sachsen-Anhalt nach den Landtagswahlen 1994 und 1998 hatte die Koalitionsstrategie der SPD in Bonn erschwert. Die Bonner Regierungsparteien haben dieses "Magdeburger Modell" als Waffe gegen die SPD hemmungslos genutzt - 1994 mit, 1998 ohne Erfolg. Wolfgang Thierse und die Mehrheit der SPD-Landesvorsitzenden in Ostdeutschland haben filr einen differenzierten Umgang mit der POS plädiert, u.a. auch deswegen, weil den Landtagen nur drei Parteien angehören. 11 Damit sind die Koalitionsoptionen der SPD erweitert worden. Ende des Jahres 1998 gibt es in Sachsen-Anhalt eine von der POS tolerierte Alleinregierung der SPD, in Thüringen eine Große Koalition von CDU und SPD und in Mecklenburg-Vorpommem eine Koalition der SPD mit der POS. Die Anwesenheit der POS im Bundestag schafft ein weiteres Problem filr die Bildung von Koalitionen nach Bundestagswahlen. 1994 wäre bald keine "nonnale" Koalition wegen der parlamentarischen Existenz der POS zustande gekommen. Die "schwarz-gelbe" Koalition hatte nur eine knappe Mehrheit von zwei Sitzen, wenn man die Überhangmandate außer acht läßt. 1 Interessant ist, daß bei einer Umfrage mit einer Rechts-Links-Skala ostdeutsche Befragte einen größeren Abstand zwischen POS und SPD als westdeutsche Befragte erkennen. Vgl. Kai Anheimer/Markus Klein, Die Wähler der REP und der POS in West- und Ostdeutschland. Ein empirischer Vergleich, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus Demokratie, Baden-Baden 1997, Bd. 9, S. 45. 9 Ebd., S. 62. 10 Vgl. JUrgen Hoffinann, Schwarz-Grüne BUndnisse in der Kommunalpolitik, Sankt Augustin 1997, S. 57-67. 11 Vgl. Axel Brückom, Jenseits des Magdeburger Modells, in: Backes/Jesse (Anm. 5), S. 183 f.; Eckhard Jesse, Koalitionsveränderungen 1949 bis 1994: LehrstUcke ftlr 1998?, in: Zeitschrift ftlr Parlamentsfragen 29 (1998), S. 460-477.

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Und "1998 erreichte "rot-grün" (ohne die 13 Überhangmandate) lediglich eine Mehrheit von acht Mandaten. Wenn 1994 und 1998 weder "schwarzgelb" noch "rot-grün" eine Mehrheit der Mandate bekommen hätte, wäre eher eine große Koalition die einzige Lösung gewesen. (e) Die territoriale Homogenität des Parteiensystems: Selbstverständlich hat ein foderalistischer Staat wie die Bundesrepublik ein regional differenziertes Parteiensystem. Es gab zum Beispiel immer ein Nord-Süd-Gefälle, wobei die SPD im Norden stärker war als im katholisch geprägten Süden. Bayern hat eine Sonderversion des westdeutschen Parteiensystems behalten, gerade weil die nur in Bayern organisierte CSU eine dominante Partei ist. (Trotz ungünstiger bundespolitischer Rahmenbedingungen konnte die CSU vierzehn Tage vor der Bundestagswahl ihren ohnehin schon hohen Stimmenanteil von 52,8 Prozent um 0,1 Punkte steigern.) Seit der Wiedervereinigung Deutschlands aber ist ein viel wichtigerer regionaler Unterschied entstanden: der Unterschied zwischen dem Parteiensystem Westdeutschlands und dem Parteiensystem Ostdeutschlands. Dieser Unterschied macht es unmöglich, von einem homogenen deutschen Parteiensystem zu sprechen. Die Heterogenität des Parteiensystems hat drei Aspekte: Erstens sind SPD und CDU deutlich schwächer in den neuen Bundesländern als in den alten. Dies gilt filr alle Bundestagswahlen seit 1990. Diese Diskrepanz fällt noch dramatischer aus: In Ostdeutschland hat die SPD nur etwa 3,5 Prozent ihrer Mitglieder, die CDU rund 10 Prozent. 12 Innerhalb der SPD-Elite gibt es gravierendere Konflikte zwischen ost- und westdeutschen Politikern (z.B. über das Verhalten gegenüber der PDS) als innerhalb der Union. 13 Allerdings bestehen auch Konflikte in der CDU zwischen Politikern der alten und der neuen Landesparteiorganisationen, z.B. über die Rolle der OstCDU innerhalb der GesamtparteL 14 Diese Probleme innerhalb der CDU sind aber nicht so wichtig filr die Strategie der Partei. Zweitens haben sich die FDP und das Bündnis 90/Die Grünen zu fast ausschließlich westdeutschen Parteien entwickelt. Beiden fehlen ostdeutsche Mitglieder und Wähler. In Westdeutschland ist die FDP in vier, das Bündnis 90/Die Grünen in allen Landtagen vertreten. Die FDP ist Mitglied der Regierungskoalition in Rheinland-Pfalz (mit der SPD), Baden-Württemberg und Hessen Ueweils mit der CDU), das Bündnis 90/Die Grünen in Hamburg, Schleswig12 Elmar Wiesendahl, Wie geht es weiter mit den Großparteien in Deutschland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 1-2/98, S. 10; Wolfgang Ismayr, Das politische System Deutschlands, in: Ders. (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 428. 13 BrUckom (Anm. II ), S.l83 f. 14 Vgl. Ute Schmidt, Sieben Jahren nach der Einheit. Die ostdeutsche Parteienlandschaft im Vorfeld der Bundestagswahl 1998, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 1-2/98, S. 44-46.

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Holstein und Nordrhein-Westfalen (jeweils mit der SPD). In Ostdeutschland gehört, wie bereits erwähnt, weder die FDP noch das Bündnis 90/Die Grünen einem Landesparlament an. Drittens hat die PDS nicht nur eine, sondern sogar drei wichtige Rollen innerhalb des ostdeutschen Parteiensystems filr sich in Anspruch genommen: Sie ist zugleich eine sozialistische Partei, eine regionale Partei und eine ProtestparteL Dieser Unterschied hängt wesentlich davon ab, daß viele ostdeutsche Wähler die PDS als eine demokratische Partei einstufen. Diese Wähler haben andere Sorgen, andere politische Prioritäten, andere Werte als westdeutsche. Arbeitslosigkeit ist in den neuen Ländern schlimmer als in den alten. (Das dürfte auch ein wesentlicher Grund dafiir sein, daß die rechtsextremistische Deutsche Volksunion bei der Landtagswahl 1998 in Sachsen-Anhalt sensationelle 12,9 Prozent der Stimmen erreichen konnte.) Alle fiinf ostdeutschen Länder profitieren vom Landesfinanzausgleich, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das bedeutet, daß die PDS mittelfristig ein Wählerreservoir filr sich behalten kann. Solange das der Fall ist, bleiben Ost-West-Unterschiede innerhalb des gesamtdeutschen Parteiensystems bestehen. 4. Schlußbemerkungen

1.

Es ist unübersehbar, daß das deutsche Parteiensystem seit 1990 eine ganz andere Form bekommen hat als das der "alten" Bundesrepublik. Das Parteiensystem hat regionale Verschiedenheiten von einer solchen Bedeutung, daß man von einem Parteiensystem neuen Typs sprechen muß: einem Typ von einem Parteiensystem, das mit "siamesischen Zwillingen" viel Ähnlichkeit besitzt.

2.

Obwohl alle Parteien gesamtdeutsche Organisationen haben und Kandidatenlisten bei Bundestagswahlen in ost- wie in westdeutschen Ländern aufstellen, gibt es derart wichtige Unterschiede, daß man in mancher Hinsicht nur zum Teil von ein und derselben Partei sprechen darf. Um ein Beispiel zu nennen: Die Mitgliedschaft der CDU in den neuen Ländern ist in vieler Hinsicht anders als die in den alten Bundesländern. In Ostdeutschland machen Arbeiter 14 Prozent, in Westdeutschland nur sechs Prozent der Mitglieder aus. Dagegen sind 21 Prozent der westdeutschen CDU-Mitglieder selbständig und nur 12 Prozent der ostdeutschen. Bei einer Selbsteinschätzung der Schichtzugehörigkeit sagten 47 Prozent der ostdeutschen Parteimitglieder (dagegen nur 13 Prozent der westdeutschen) daß sie sich der Arbeiterschicht zurechneten. 15 Auch in anderer Hinsicht sind

u Wilhelm P. BUrklinNiola Neu/Hans-Joachim Veen, Die Mitglieder der CDU, SanktAugustin 1997, S. 26, 86.

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die Parteiensysteme West- und Ostdeutschland so verschieden, daß man von einer großen Scheidelinie innerhalb des gesamtdeutschen Parteiensystems sprechen muß. Oskar Niedermayer hat eine größere Fragmentierung (Zahl der "effektiven" Parteien), eine größere Asymmetrie (Differenzen zwischen den Prozenten der Stimmen filr die Union und der SPD) und eine größere Volatilität (kumulierte Differenzen der Stimmenanteile der Parteien bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen) in Ostdeutschland als in Westdeutschland nachgewiesen. 16 Die Schwäche der Grünen in Ostdeutschland erklärt sich z. T. mit dem Bestehen einer "anders gelagerten Parteienlandschaft"17 als in Westdeutschland. 3.

Selbstverständlich haben andere Faktoren als die Wiedervereinigung Deutschlands die Wandlungen der Parteien und des Parteiensystems seit 1990 erheblich beeinflußt. Einige haben alle Parteien tangiert (z.B. Parteienverdrossenheit), andere sind nur filr bestimmte Parteien von Bedeutung (z.B. strategische Probleme der SPD oder das Identitätsproblem der FDP). 18 Sicher ist aber, daß viele Probleme ihre Wurzeln im Wiedervereinigungsprozeß und den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen der Integration beider Teile Deutschlands haben. Solange diese Probleme fortbestehen, werden die halb-getrennten "siamesischen Zwillinge" in Deutschland weiter existieren.

4.

Macht das viel aus? Stellen diese Wandlungen eine Gefahr filr das demokratische System dar? Es ist ein wichtiger Unterschied, ob man ein Parteiensystem mit vier Bundestagsparteien oder ein solches mit filnf hat. Die Bildung von Regierungskoalitionen könnte dadurch erheblich erschwert werden. Weil die filnfte Partei die PDS ist, eine Partei am linken Rand des Parteiensystems, gibt es Probleme filr die Wahl- und Koalitionstrategie der SPD - auch und gerade nach der gewonnenen Bundestagswahl 1998. Die Wandlungen des Parteiensystems stellen jedoch insgesamt keine Gefahr filr die hiesige Parteiendemokratie dar. Sie erscheinen jedoch so stark, daß der Befund gilt: Berlin ist nicht Bonn!

16 0skar Niedennayer, Das gesamtdeutsche Parteiensystem, in: Oscar W. Gabriei/Oskar Niedennayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 1997, S. 113. Allerdings mUßte dieser Befund nach der Bundestagswahl 1998 relativiert werden. 17 Ebd., S.l24. 18 Uirich von Alemann!Rolf G. Heinze/Josef Schmid, Parteien im Modemisierungsprozeß, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 1-2/98, S. 29 f.

Ernst No/te

VOM VEREINIGTEN DEUTSCHLAND ZUM VEREINIGTEN EUROPA? DEUTSCHLAND IM "LANGEN JAHRZEHNT'' 1. Einleitung Das Fragezeichen im Titel des Vortrags hat nur dann einen Sinn, wenn die Einheit Europas in ihrer gegenwärtigen, zuletzt durch den Vertrag von Amsterdam gekennzeichneten Gestalt nicht von der gleichen Art ist wie die Einheit Deutschlands, deren Vollendung oder Wiederherstellung am 3. Oktober 1990 gefeiert wurde. Wäre Europa ein Bundesstaat, wie die Bundesrepublik Deutschland ein Bundesstaat ist, würde das Fragezeichen überflüssig sein, und die Aufgabe könnte nur darin bestehen, die einzelnen Etappen der Entstehung dieses Bundesstaates nachzuzeichnen; mithin würden lediglich Seinsaussagen zu machen sein. Eine Frage des Sollens, d.h. der Wertung, könnte allenfalls dann aufkommen, würde es als Problem gelten, ob eine Fortentwicklung Deutschlands und/oder Europas zum Einheitsstaat nach französischem Muster wünschenswert oder gar unvermeidbar sei. In der aktuellen Situation stellt sich dieses Problem nicht, wohl aber ist die Frage unumgänglich, ob Europa zu einem Bundesstaat werden sollte, ja sogar, ob die bisherige Entwicklung positiv oder nicht vielmehr negativ, d.h. verurteilenswert ist. Fragen nach dem Sein und Fragen nach dem Sollen verschlingen sich also; und im ganzen gesehen, lassen sich ebenso positive wie negative Urteile finden. Ich werde so vorgehen, daß ich zunächst die positive und dann die negative Urteilstentenz wiedergebe, danach einen Rückblick in die Geschichte vornehme - in erster Linie auf den Deutschen Zollverein und die Widerstände gegen die erste deutsche Einigung durch Bismarck, aber auch in größter Kürze auf die Entstehung der amerikanischen Bundesverfassung. Am Ende suche ich zu einem Urteil zu gelangen. 2. Positive Entwicklung Kaum ein anderes Wort ist während der zwölf Monate vom November 1989 bis zum Oktober 1990, vom "Fall der Mauer'' bis zum feierlichen Vollzug der Einheit, so häufig zu hören gewesen, wie das sonst ganz randständige Wort 5 Eckan /Jesse

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"Wahnsinn". "Wahnsinnig", d.h. "unglaublich, unfaßbar" erschienen den Menschen die Ereignisse, die als "Zusammenbruch der DDR" und "Wiedervereinigung Deutschlands" unzureichend beschrieben sind, weil sie aufs engste mit dem inneren und äußeren Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa verbunden waren, welche doch "für die Ewigkeit" gegründet zu sein schienen. Eben erst hatte Erich Honecker gesagt, die Mauer werde noch hundert Jahre stehen, und im Juni 1989 war im "Europa-Archiv" der Artikel eines angesehenen Autors zu lesen, der konstatieren zu müssen glaubte, die Forderung nach einer Wiedervereinigung sei weitgehend von der politischen Agenda der Öffentlichkeit verschwunden und das Erreichen des Ziels sei in eine ferne und unverbindliche Zukunft verschoben; unter der jüngeren Generation herrsche bereits die Meinung vor, die DDR sei "Ausland"; damit zeichne sich eine neuartige "Normalität" ab, die indessen gute Chancen für die weitere Entspannung zwischen den verfeindeten Welthälften biete.' Es gibt deshalb sehr gute Gründe dafür, daß s~hon bald von dem "annus mirabilis" der deutschen Wiedervereinigung gesprochen wurde, aber mit fast ebensoviel Recht darf man heute von einem "wunderbaren Dezennium" der europäischen Einigung von 1989 bis 1998 reden. Nicht, als wenn dieser Prozeß erst 1989 begonnen hätte: die römischen Verträge waren ja seit über drei Jahrzehnten unterzeichnet, und auch die Währungsunion war bereits vorher beim Gipfel in Hannover 1988 fest ins Auge gefaßt worden. Die europäische Einigung hatte in der zweiten Nachkriegszeit viel früher begonnen und konnte weit eher bedeutende Erfolge verzeichnen als die deutsche Wiedervereinigung. 1973 war die Zahl der sechs Gründungsmitglieder der "Europäischen Gemeinschaft" durch die sogenannte Norderweiterung auf neun gestiegen, und in den achtziger Jahren wurde durch die Süderweiterung die Zwölfzahl erreicht. Aber man muß sich vergegenwärtigen, daß noch 1989 der "Binnenmarkt" nicht vollendet war und daß sogar die Erweiterung auf 15 Mitglieder in weiter Feme lag, von der "Osterweiterung" zu schweigen, die sich doch geradezu aufzudrängen schien, da die Umbrüche in Polen und Ungarn die deutsche Wiedervereinigung überhaupt erst möglich gemacht hatten, während diese Wiedervereinigung dann ihrerseits mindestens zu einem mächtigen Faktor fUr den Sturz der übrigen kommunistischen Regime in Osteuropa wurde. Es war also ganz naheliegend und keineswegs das Symptom einer grundlegenden Veränderung des Ausblicks, wenn der deutsche Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom I 0. Mai 1990 sagte, die deutsche und die europäische Einheit seien zwei Seiten ein und derselben Medaille.

182.

Vgl. Gerhard Schweigler, Normalität in Deutschland, in: Europa-Archiv 44 (1989), S. 173-

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Die deutsche Einigung war mithin ein Resultat jener Adenauerschen Politik der "Westintegration", die von so vielen Kritikern für die Besiegelung der deutschen Spaltung erklärt worden war, und sie gab ihrerseits einen weiteren und machtvollen Anstoß für eine umfassendere Einigung Europas. Im Dezember 1991 wurde vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs der Vertrag von Maastricht ausgehandelt, mit dem die Einfilhrung der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den "Zwölf' beschlossen wurde, wenn auch die Ratifizierung durch die nationalen Parlamente und mögliche Modifizierungen durch Volksabstimmungen noch in der Zukunft lagen. Das Gegenbild in Osteuropa war eine welthistorische Auflösung, nämlich die Auflösung der Sowjetunion, welche die Präsidenten der Russischen Föderation, Weißrußlands und der Ukraine im gleichen Monat in Minsk vornahmen, nachdem der Versuch der KPdSU, sich durch einen Putsch an der Macht zu halten, im August 1991 gescheitert war. Während sich in Osteuropa und auf dem Balkan die Unabhängigkeitserklärungen häuften, gewann der langwierige Prozeß der westeuropäischen Einigung tendenziell einen gesamteuropäischen Charakter: Die Verhandlungen mit den früheren EFTA-Staaten Österreich, Schweden und Finnland wurden auf den Weg gebracht, und schon im Mai 1992 konnte Bundeskanzler Kohl sagen, Deutschland sei jetzt nur noch von Freunden umgeben. Wenn 1974 und dem Sinne nach auch schon früher formuliert worden war, das deutsche Dilemma habe bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts darin bestanden, daß das Land zu schwach gewesen sei, um Europa zu beherrschen, und zu stark, um in Europa zu wohnen, so war das Dilemma nun zugunsten des "Wohnens" aufgelöst, und zwar eines "Wohnens", das nicht mehr, wie noch 1989, auf einer gewaltsamen Teilung beruhte, denn gerade ausländische Autoren schraken nicht davor zurUck, Deutschland als die Führungsmacht des neuen Europa zu bezeichnen, und zwar als eine FOhrungsmacht, die toto coelo von dem auftrumpfenden und gewalttätigen Anspruch des Hitlerschen Großdeutschland entfernt war. Jedermann wußte, daß diese Führungsmacht der weitaus größte Nettozahler in der Europäischen Gemeinschaft war und daß seine politische Führungsschicht Ober alle Parteigrenzen hinweg einhellig filr die Einfilhrung des "Euro" eintrat, obwohl in der Bevölkerung jene Ängste und Sorgen vorherrschten, die außerhalb Deutschlands in dem negativen Plebiszit der Dänen und in dem BeinaheScheitern der von Mitterrand betriebenen Volksabstimmung in Frankreich zum Vorschein kamen. So ratifizierte Deutschland den Maastricht-Vertrag zwar als letztes Land der EG, aber doch mit der überwältigenden Mehrheit der Abgeordneten, und im Januar 1994 begann die zweite Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in der sich alle Regierungen zu einer Politik der strikten Stabilität und des Abbaus der Schuldenlast verpflichteten.

s•

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Die Beschlüsse der Regierungskonferenz von Amsterdam im Juni 1997 machten nach kaum noch bestrittener Meinung die Einführung des "Euro" unumkehrbar, und bei der Reform der "Europäischen Union" sind beachtliche Fortschritte erzielt worden; zwar wurde weder das Prinzip der Mehrheitsabstimmung im Rat unzweideutig akzeptiert noch einigte man sich darauf, welche Stimmgewichte den Teilnehmerstaaten nach der nun in unmittelbare Sichtweite gelangten Erweiterung um mehrere ost- und mitteleuropäische Länder zukommen sollten, aber wenn die lnstitutionalisierung einer "Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik" nicht sehr weit vorankam, so sahen doch Optimisten in der Ernennung des Generalsekretärs des Rates zum "Hohen Vertreter" das Vorspiel für die Etablierung eines europäischen Außenministeriums: Jedenfalls gab es schwerwiegende Gründe für das Urteil, daß der Prozeß der europäischen Einigung seit 1989 eine Erfolgsgeschichte sondergleichen gewesen sei. 3. Negative Entwicklung

Aber dieses positive Urteil war doch keineswegs unstrittig, und es konnte unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten in Frage gestellt werden. In europäischer Perspektive war mindestens die fast immer mit Zweifeln verbundene Feststellung nicht zu umgehen, daß die Einführung des Euro einen "Sprung ins Dunkel" darstelle. Würde sich die neue Währung in der Welt dasselbe Vertrauen erwerben können, das der Deutschen Mark jahrzehntelang als der nach dem Dollar wichtigsten Währung zuteil geworden war? Was würde die Folge sein, wenn Volkswirtschaften, die nach Entwicklungsstand und Produktivität sehr verschieden waren, durch eine einheitliche Währung, ohne das hilfreiche "Polster'' möglicher Wechselkursänderungen, starr miteinander verbunden wurden? Müßten nicht gigantische Transferzahlungen von den reicheren zu den ärmeren Ländern stattfmden, oder würde der Ausgleich dadurch erfolgen, daß die Produktion sich weitgehend in diese ärmeren Länder mit ihren geringeren Lohnkosten verlagerte? Würde es ein "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" geben, ein Kerneuropa als Zentrum und ein Randeuropa als wenig angesehene Peripherie? War nicht ein "Europa der Vaterländer'', d.h. ein Staatenbund, die bessere, weil viel weniger risikoreiche und der bisherigen Geschichte Europas weit eher entsprechende Lösung? Etablierte sich nicht in Brüssel eine riesige Bürokratie, die das ganze Leben mit einem ertötenden Netz kleinlicher Regeln und Vorschriften überspannte? Und es ließ sich ja in der Tat nicht ernsthaft leugnen, daß es mit der "Freundschaft", von der Deutschland nun angeblich auf allen Seiten umgeben war, nicht eben zum besten stand. Nicht wenige Kritiker waren davon überzeugt, daß die französische und die britische Europapolitik von dem Bestreben geleitet sei, die DM und die Deutsche Bundesbank aus der Welt zu schaffen, um dann ihre

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nationale und egoistische Politik ohne Einschränkungen fortsetzen bzw. wiederaufnehmen zu können. Erst recht war von einer "Europäisierung" der nuklearen Streitkräfte nie die Rede. Italien scheute nicht einmal davor zurück, öffentlich wie unter der Hand durch hypothetische Versprechungen dem deutschen Wunsch nach einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat entgegenzuwirken. So war es nur allzu wahrscheinlich, daß die Konflikte, die sich nun nicht mehr auf kriegerische Weise entladen konnten, zunächst hinter den verschlossenen Türen der europäischen Beschlußgremien und dann auch in den Medien einen vergifteten und hinterhältigen Charakter annehmen würden. Und offenbar blieb bei allen Partnern Deutschlands mindestens unterschwellig der Verdacht lebendig, daß die durch ihre geographische Lage so unübersehbar herausgehobene Zentralmacht des Kontinents sogar nach dem freiwilligen Verzicht auf DM und Bundesbank einen übergroßen Einfluß in der Union haben werde, selbst wenn sie nicht danach strebe, ein "Viertes Reich" zu werden, sondern sich statt dessen zur Lehrmeisterin Europas in Sachen einer "zivilgesellschaftlichen" Politik mache. In der Tat muß die europäische Zukunft vor allem davon abhängen, ob die Deutschen jenen "Nationalismus", dessen Macht von Autoren der verschiedensten Richtungen filr sämtliche Weltgegenden immer wieder konstatiert wird, definitiv "überwunden" haben oder ob sie ihn auf diese oder jene Weise zurückgewinnen werden, entweder als Nationalbewußtsein, das gleichberechtigt, wenngleich verschiedenartig, neben dem Nationalbewußtsein der Nachbarnationen seinen Platz findet, oder aber als kompensatorischen Trotz, der aus der Feindschaft, welcher er sich ausgesetzt weiß, eine Haltung von aggressiver Defensivität entwickelt. Der erste Weg, die "Überwindung" des Nationalismus, macht die Deutschen zu einer singulären Nicht-Nation unter Nationen, die aber möglicherweise diesen Nationen das Gesicht der Zukunft einer vollendeten und nicht einmal mehr "amerikanischen" Weltzivilisation vor Augen hält; der zweite Weg bedeutet nach der Meinung von vielen Nicht-Deutschen eine beklagenswerte Relativierung und Angleichung; der dritte könnte eine eigene Art von Zukunft haben, wenn die "Neue Weltordnung", deren Protagonisten die Menschheit auf geordnete Weise zu Frieden und Harmonie filhren wollen, noch des öfteren ein so fragwürdiges Aussehen annimmt, wie es gegenwärtig im Verhalten der amerikanischen Supermacht zum Vorschein kommt - nämlich in der permanenten Todesdrohung gegenüber einer fast wehrlosen Bevölkerung, deren Diktator man erst in seinem Angriffskrieg gegen ein Nachbarland unterstützt, dann wegen eines gravierenden Verstoßes gegen das Völkerrecht im Auftrag der UN besiegt und nun auf abstoßende Weise, bis "in das Schlafzimmer hinein", gedemütigt hat, ohne doch den Mut aufzubringen, die filr dessen wohlverdienten Sturz erforderlichen Landstreitkräfte einzusetzen.

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Daß seriöse deutsche Autoren den zweiten Weg und nicht etwa den dritten einzuschlagen wünschen und daß eine solche Kritik nicht unterdrückt werden darf, sollte die gemeinsame Überzeugung auch derjenigen sein, die diesen Einwendungen nicht zustimmen können. So kritisiert Arnulf Baring nicht nur jene europäische Einigung, welche durch die Einführung des Euro die Mark zum Verschwinden bringt und dadurch eine Haupterrungenschaft der bisherigen Integration, nämlich den Freihandel gefährdet, sondern für ihn ist schon der konkrete Vollzug der deutschen Einheit tadelnswert, weil er weder Enthusiasmus noch Energie über die Anfangsphase hinaus zu mobilisieren vermochte. Daher unterstreicht Baring mit Nachdruck, daß die Nation nicht verschwinden und Deutschland sich also nicht in Europa auflösen wird. 2 Ebenso wie Arnulf Baring scheut sich Konrad Adam nicht, die Masseneinwanderung bzw. Massenasylsuche zum Thema zu machen, deren Zahlen die amerikanischen weit hinter sich lassen und die gerade nicht, wie in den USA, das Angebot von Arbeitsplätzen als Hauptimpuls haben. 3 Vor allem greift Adam jedoch das "technokratische Europa" an, das kein Geflihl anzusprechen vermag und in einem ökonomischen Effizienzdenken stecken bleibt, so daß nur noch der Konsument und nicht mehr der Bürger für das europäische Leben bestimmend ist. Aber er fuhrt auch ganz nebenher einen höchst aufschlußreichen Beleg dafür an, daß die Übennacht der technokratisch-kommerziellen Tendenz erst nach dem Ende des Bismarckreiches und vielleicht sogar erst nach dem Zwischenspiel des Nationalsozialismus zum Durchbruch kam. Es handelt sich um einen Satz des bedeutenden Nationalökonomen Adolph Wagner, der sich noch um 1900 über das "vaterlandslose Kapital" zu entrüsten vermochte, "das in seiner Gewinnsucht nicht einmal vor Betriebsgründungen im Ausland zurückschreckt". 4 Wie tiefgreifend und umwälzend die Veränderungen der zweiten Nachkriegszeit bis hin zur Investitionspolitik der Multinationalen Konzerne und auch zu der weltweiten Suche der Treuhandgesellschaft nach Investoren waren - wie wenig also die "kapitalistische Produktionsweise" der Zeit von Marx und Engels schon wirklich "Kapitalismus" war -, läßt sich nicht leicht anschaulicher machen als durch dieses Zitat. Von hier aus ist jene dritte Urteilstendenz zu charakterisieren, diejenige der radikalen Nationalisten oder - nach der Selbstbezeichnung - Nationalrevolutionäre. Ihr negatives Urteil über den europäischen Einigungsprozeß und selbst Schimpfreden gegen den "rheinbündischen Friedensfürsten aus Oggersheim" unterscheiden sie noch nicht grundsätzlich von anderen Kritikern, und manchmal scheint nichts Auffallenderes vorzuliegen als ein Austausch von Worten: 2

1997

Vgl. Amulf Baring, Scheitert Deutschland? Abschied von unseren Wunschwelten, Stuttgart

3 Vgl. Konrad Adam, Die Republik dankt ab. Die Deutschen vor der europäischen Versuchung, Berlin 1998. 4

Ebd., S. 116.

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daß Deutschland in Europa "eingebunden" werden soll, ist eine ständig wiederholte Aussage der offiziellen Politik, aber sobald statt dessen das Wort "gefesselt" gebraucht wird, taucht Swifts Gulliver vor dem geistigen Auge auf. Der wirkliche Unterschied liegt darin, daß die Vorgänge, die man so heftig beklagt und angreift, auf ein "Komplott" zurückgefilhrt werden, auf ein Komplott jener deutschfeindlichen Kreise unter den Alliierten, die nach ihrem Geständnis im Zweiten Weltkrieg nicht so sehr gegen Hitler und den Nationalsozialismus wie gegen Deutschland kämpften und die heute immer noch maßgebend oder durch gleichgesinnte Nachfolger ersetzt sind. Es sind diese Machthaber innerhalb der Westmächte, die das nach wie vor besetzte Deutschland mittels einer Klasse dienstwilliger und privilegierter Kollaborateure regieren und nun nicht bloß die Abschaffung Deutschlands, sondern sogar die Auslöschung des deutschen Volkes betreiben, indem sie die Überschwemmung des Landes mit "Asylsuchenden" und Wirtschaftsflüchtlingen aus aller Welt zulassen und fördern. Dabei werden auch Wendungen gebraucht, die durch den Nationalsozialismus völlig diskreditiert zu sein schienen wie etwa "Umvolkung" und "Untergang im erstrebten Völker- und Rassenbrei der geplanten Einen Welt". Aber von größerer Relevanz erscheinen Termini wie "kleine Wiedervereinigung" oder "Teilvereinigung". In aller Regel handelt es sich jedoch nicht um eine Fortsetzung jener "antiwestlichen" Tendenzen in der "alten" Bundesrepublik, die von ihren Gegnern angeklagt werden konnten, das Spiel der DDR zu spielen, sondern der eindeutige Antikommunismus bleibt erhalten, und daraus resultiert die Kennzeichnung der "neuen" Bundesrepublik als "BRDDR" oder "DDR light". Wer mit einem Kampfbegriff wie "Neonazis" auskommen zu können glaubt, macht es sich zu leicht. Es war ja ein nur allzu naheliegendes Interesse der Bundesrepublik, nach der Wiedervereinigung nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, das plötzlich vergrößerte Deutschland kehre in alte Bahnen zurück und berge ein großes Potential von Nationalismus in sich, der ein "Viertes Reich" schaffen und die verlorenen Ostgebiete zurückerobern wolle. Daraus resultierte eine "Sensibilität" und Nervosität, die in der Tat den Eindruck aufkommen lassen konnte, die "antifaschistische" Propaganda, die in der DDR in ihrer ganzen Einseitigkeit uneingeschränkt das Feld bestimmte, aber in der "alten" Bundesrepublik durch den Antitotalitarismus konterkariert wurde, sei nun auch in dem wiedervereinigten Deutschland alleinherrschend geworden. Eine "antifaschistische" Demokratie ist ja, mehr als 50 Jahre nach dem Tode Hitlers und Mussolinis, sogar dann eine amputierte Demokratie, wenn sie sich mit einer höchst eigenartigen Veränderung der Bedeutung des Begriffs "Volksverhetzung" begnügt. Vieles von dem, was in den Organen des radikalen Nationalismus gesagt wurde, erregte indessen mit Recht Anstoß: Nicht nur Termini wie "Umvolkung" und "BRDDR", sondern auch Wendungen wie "die auschwitzideologisch einge-

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schüchterten Deutschen" oder "die real vegetierende Canossa-Republik". 5 Aber in aller Regel handelte es sich doch nur um die Radikalisierung weit verbreiteter und volkstümlicher Urteile, und was bedeutet "Meinungsfreiheit", wenn bloß die schmale Bandbreite vernünftiger Urteile zugelassen ist? Wäre eine Linke nicht tot, wenn sie nur noch reformistisch wäre und von ihren radikalen, ja extremistischen Randgruppen nicht immer neue und oft bekämpfenswerte Anstöße erhielte? Der Gedanke der europäischen Einigung ist stärker, als daß er die Verfechter der alten Souveränitätsvorstellung mit juristischen Mitteln bekämpfen müßte, und hier und da tauchen bei den ernsthafteren der radikalnationalistischen Autoren Gedankengänge auf, die nicht bloß das Nachdenken an die Stelle der Emotion setzen, sondern sogar in schwarze Verzweiflung münden: es seien globale Phänomene, die in Deutschland als bösartiges Komplott zwecks Zerstörung der Nation betrachtet worden seien; in Frankreich und sogar in den USA gebe es dieselben Erscheinungen überbordender Einwanderung; selbst in England ließen sich ernste Sorgen um die nationale Identität finden .

4 Historischer Rückblick Ein Blick zurück in die Geschichte der ersten deutschen Einigung mag hilfreich sein - gerade dann, wenn ein Beispiel gewählt wird, für das die heutigen Nationalrevolutionäre schwerlich irgendeine Sympathie haben werden. Als Bismarck im Jahre 1866 den Deutschen Bund gesprengt, Österreich aus Deutschland ausgestoßen und durch die Annexion von vier ehemals selbständigen Staaten den "Norddeutschen Bund" gegründet hatte, kam in Bayern die "Patriotenpartei" auf, die nach der Meinung ihrer nationalliberalen Gegner aus lauter Reaktionären und ultramontanen Klerikalen bestand, die aber offensichtlich über breite Unterstützung im Volk verfUgte, denn bei den Wahlen im Jahr 1869 gewann sie die Mehrheit. Im Januar 1871 wurde nach dem gemeinsamen Sieg des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen Staaten im bayerischen Landtag um die "Versailler Verträge" gerungen, in denen die Vertreter Bayerns und der König selbst ihre Zustimmung zu der Schaffung eines deutschen Bundesstaates gegeben hatten, so daß Bayern seine bisherige Selbständigkeit verlor. Vom Siegerstolz und von der gesamtdeutschen Welle nationaler Begeisterung getragen, schloß sich ein großer Teil der bisherigen Mehrheit den Beflirwortern der Verträge an, aber es war immerhin noch fast ein Drittel der Abgeordneten, die mit starker Überzeugung, ja mit Leidenschaft flir die Erhaltung der bayerischen Souveränität gegen die "Mediatisierung" durch das "Großpreußen" Bismarcks eintraten und dessen "perfide, fluchwürdige Politik" anklagten. Durchweg berief man sich auf die föderativen Traditionen des alten Reiches und des 5 Die angefllhrten Termini sind in der anspruchsvollsten Zeitschrift der extremistischen deutschen Rechten zu finden, den "Staatsbriefen".

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Deutschen Bundes, die eine viel bessere Grundlage für eine gute Zukunft seien als die "absolutistisch-militärische Hegemonie" der Krone Preußen, welche nicht nur die innere Freiheit zerstören, sondern in ihrer Sucht nach der Herrschaft über Europa in Kürze auch große Kriege führen werde. Bayern solle als ein "unterjochter Stamm" an die Krone Preußen "gefesselt" werden, obwohl Deutschland doch nach dem Worte Schellings ein "Volk von Völkern" und dem Zentralismus der Franzosen entgegengesetzt sei. Das verhängnisvolle "Prinzip der Nationalitäten" sei von Napoleon III. erfunden worden und wer dagegen auftrete, erwerbe sich ein Verdienst "nicht bloß um Bayern, sondern um Deutschland, um die ganze zivilisierte Welt". Ein fränkischer Abgeordneter sagte, er fürchte, daß das Böse, was die Franken durch Preußen im Frankenland erfahren hätten, nun auch das große bayerische Land erreichen könne, und ein anderer Abgeordneten fand die einfache Formel: "Jeder Mensch kann nur ein Vaterland haben, und dieses Vaterland ist für mich Bayern".6 Aber diese bayerischen Parlamentarier hätten noch auf manches andere hinweisen können, etwa auf die Tatsache, daß sich in Hannover, das ja, anders als Bayern, von Preußen annektiert wurde, ebenfalls ein heftiger Widerstand entwickelte, der bis zur Organisierung einer bewaffneten Truppe, der welfischen Legion, reichte, und daß in Zeitschriften der preußischen Konservativen ein knappes Jahrzehnt zuvor mit ganz ähnlicher Inbrunst geschrieben worden war: "Wir kennen nur ein Vaterland, und dieses ist Preußen".7 Nach der Auffassung der Nationalliberalen handelte es sich um partikularistische Kräfte, die einen zum Scheitern verurteilten Kampf gegen die Bildung der größeren, der deutschen, Einheit flihrten, welche dem "Willen der Geschichte" entsprach. Und doch schlug die Geschichte keinen so einfachen und durchsichtigen Gang ein, wie die Vorkämpfer des Bismarck-Reiches glaubten. Nicht ganz wenige jener fiir reaktionär erklärten Argumente der bayerischen Patrioten tauchten nach 1945 in den ersten Diskussionen über die europäische Einigung wieder auf, und trotzaller tiefgreifenden Veränderungen darf man mit einigen Kömehen Salz sagen, daß die Nachfahren jener "Patrioten" heute in Bayern das Heft in der Hand haben. "Die Geschichte" geht verschlungenere Wege, als ihre angeblichen Wortflihrer meinen; gleichwohl ist unbestreitbar, daß die "Patrioten" im historischen Unrecht waren und daß heute die deutschen Nationalrevolutionäre ebenso im historischen Unrecht sind. Es bedarf keiner Aufregungen und keiner Strafverfolgungen, um diese Auffassung in der Öffentlichkeit zur herrschenden zu machen oder als herrschende zu erhalten. Es könnte im Ge6 "Wider Kaiser und Reich 1871. Reden der verfassungstreuen Patrioten in den bayerischen Kammern Ober die Versailler Vertrage", mit Einfllhrung, Anmerkungen, Nachwort und Register von Elmar Roeder, Monehen 1977 (Original 1871). (Zitate: S. 221,49, 52f., 85, 62, 192). 7

Berliner Revue 35 ( 1869), S. 442.

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genteil gerade fiir diejenigen, die sich früh zu den Anhängern der europäischen Einigung zählten, beunruhigend sein, wie wenig an artikuliertem Widerstand der Verzicht auf die deutsche Währung und die deutsche Souveränität hervorgerufen hat und ob nicht dem anscheinend gleichartigen Verzicht der übrigen europäischen Nationen eine ganz andere Qualität zuzuschreiben ist. Strikte Gleichberechtigung und Gleichbetroffenheit bei nicht bloß materiellem Gewinn und Verlust ist die einzige Maxime, die der nationalradikalen Attacke überzeugende Argumente entgegenzusetzen vermag. Auch im Hinblick auf das Verhältnis von ökonomischer und politischer Einigung Europas stellen sich also ernste Fragen, die indessen nicht ganz von so viel Emotionalität geprägt sind wie die Frage des Verzichts auf Souveränität. Lehrt nicht die geschichtliche Erfahrung, daß bloße Währungsunionen keinen Bestand haben, wenn sie nicht in politische Unionen eingebettet sind? Im Jahre 1857 schlossen die Staaten des Deutschen Bundes den "Wiener Münzvertrag", der im Prinzip ein einheitliches, ganz Mitteleuropa umfassendes Wirtschaftsgebiet schuf. Aber dieser verheißungsvolle Ansatz überlebte den politischen und kriegerischen Kampf zwischen Preußen und Österreich nicht, und 1867 fand er sein Ende. Die "lateinische Münzunion" zwischen Frankreich, Italien und einigen anderen Ländern existierte länger als ein halbes Jahrhundert, aber sie überstand die Wirren und Turbulenzen der ersten Nachkriegszeit nicht. Der Deutsche Zollverein, so scheint es, war ein reiner Binnenmarkt, und erst infolge der Bismarckschen Reichsgründung wurde die einheitliche Währung geschaffen. So wenig es zulässig ist, in der preußischen Zollvereinspolitik von Anfang an den Willen zu einer politischen Einigung zu sehen, so wenig läßt sich bestreiten, daß hier schon sehr früh auch andere als bloß wirtschaftliche Interessen im Spiel waren. Preußen war der größte Nettozahler im Zollverein, und es kam den kleineren Staaten in der Regel weit entgegen. Das Prinzip der einstimmigen Beschlußfassung wurde strikt beachtet, und daraus wären ständige Reibungen hervorgegangen, hätte Preußen als der weitaus größte Staat sein Gewicht nicht auf informelle Weise zur Geltung bringen können. Die Verschiedenheit der Währungen stellte kein ernsthaftes Hindernis dar: Der preußische Taler und der süddeutsche Gulden standen als die Hauptwährungen in einem festen Wechselverhältnis zueinander, und insofern bildete das Gebiet des Zollvereins doch eine Währungseinheit. Erstaunlicherweise wurde sie nicht einmal durch den deutschen Bürgerkrieg von 1866 zerstört, und 1867 bildete sich der Zollverein durch die lnstitutionalisierung einer Volksvertretung, des Zollparlaments, aus einem Zoll-Staatenbund zu einem Zoll-Bundesstaat um. Ob die Macht der ökonomischen Kräfte und Interessen allein ausgereicht hätte, die Wirtschaftseinheit zu einer politischen Einheit zu machen, darf bezweifelt werden; der Zollverein und die tendenzielle Währungsunion waren ein sine qua non der deutschen Einigung, nicht eine causa sufficiens.

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Das weltgeschichtlich wichtigste Beispiel für den Übergang von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat ist die Vorgeschichte der amerikanischen Verfassung von 1787. Die Konfoderation der 13 Staaten, die den Unabhängigkeitskrieg gegen England gewonnen hatte, war nicht nur deshalb schwach, weil die Kommunikation schwierig war, sondern sie beruhte auf der Überzeugung, daß es echte Demokratie nur in kleinen Gemeinschaften geben könne und daß jede Stärkung der zentralen Behörden eine Gefährdung der Demokratie darstelle. In einer außerordentlichen geistigen Anstrengung gelang es den "Föderalisten" um Hamitton und Madison, die Überzeugung zur Vorherrschaft zu bringen, daß elementare Entwicklungsnotwendigkeiten die Einrichtung einer auf Wahlen beruhenden Volksvertretung und des Präsidentenamtes auf die Tagesordnung setzten. Währungsfragen spielten keine Rolle, denn den Dollar gab es als Zahlungsmittel seit dem Unabhängigkeitskrieg. Schlechterdings entscheidend war die Bestimmung, daß "das Volk der Vereinigten Staaten", und nicht jeweils das Volk der Einzelstaaten, der oberste Souverän sei. Erst durch diese Willenserklärung, die auf die Realität der weitgehenden Homogenität des Staatsvolks gegründet war, wurde aus dem Staatenbund der Bundesstaat. 5. Perspektiven

Aus diesen zwei historischen Beispielen lassen sich zwei Folgerungen für die europäische Einigung ableiten. Erstens: In einer europäischen Währungsunion gibt es, wie im Zollverein, einen stärksten Partner. Deutschland aber ist den übrigen Staaten bei weitem nicht so überlegen, wie Preußen es war. Es muß aufs sorgfaltigste das Prinzip des "Wohnens" beachten und darf nicht versuchen, auf dem möglichen Weg zur politischen Union mit einigem Nachdruck die Führung zu übernehmen. Zweitens: Diese politische Einigung, wie immer sie aussehen mag, kann auf unabsehbare Zeit nicht den Charakter eines genuinen Bundesstaates gewinnen, denn es wird für unabsehbare Zeit nicht ein relativ homogenes "Volk Europas" geben. Abschließend dürfte es zulässig sein, im Blick auf die Zukunft hypothetisch zwei entgegengesetzte Möglichkeiten zu artikulieren: Es ist möglich, den Einigungsprozeß Europas, wie er sich bisher vollzogen hat, als die bessere Version der ersten deutschen Einigung und als die konsequente Fortsetzung der Wiedervereinigung des Jahres 1989/90 zu betrachten. Damit wird die Frage, ob wir heute in einer erweiterten oder einer neuen Bundesrepublik leben, unzweideutig im Sinne der ersten Alternative entschieden. Dann ist die Kritik derjenigen leicht zurückzuweisen, die sich aus der vergeblichen Liebe zu einer verlorenen Souveränität wie einst die bayerischen "Patrioten" zu heftigen Ausbrüchen gegen die gegenwärtigen Zustände hinreißen lassen. Falls sich jedoch die Be-

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filrchtungen und Vorhersagen derjenigen Autoren realisieren sollten, die gerade durch die Fortschritte der europäischen Einigung und zumal durch die Einfilhrung des "Euro" eine Ausbeutung Deutschlands kommen sehen, welche weit über jene freiwilligen Verzichtleistungen Preußens hinausginge, dann wird dieses Europa scheitern, denn gegen eine gravierende Verschlechterung ihrer Lebensumstände begehren zumal die einfachen Menschen mit Heftigkeit auf. Vielleicht würde dann sogar der ganze bisherige Prozeß der Einigung Europas auf ähnliche Weise als ein Fehlweg angesehen werden, wie bekanntlich nicht selten die Bismarcksche Einigung Deutschlands als ein beklagenswerter Sonderweg betrachtet wird. Die Bundesrepublik aber müßte zu einem neuen und filr die Individuen möglicherweise weit weniger angenehmen Staat werden. Die Politiker sind nicht darum zu beneiden, daß sie im Bewußtsein eines möglichen Scheitern ihre Entscheidung treffen müssen. Die Historiker, die "rückwärtsgewandten Propheten", können ihnen nur dadurch helfen, daß sie im Blick auf die Vergangenheit Alternativen aufzeigen. Aber sie brauchen deshalb ihre persönlichen Präferenzen nicht zu verbergen, und die meine besteht darin, daß die vergrößerte Bundesrepublik die konsequente, aber nicht exklusive Fortsetzung der alten Bundesrepublik sein möge und daß sie den Weg zu einem Europa bahnt, das zwar weniger als ein Bundesstaat, aber mehr als ein bloßer Staatenbund ist.

Jens Hacker EINE NEUE ROLLE DEUTSCHLANDS IM INTERNATIONALEN KRÄFTEFELD? MEHR VERANTWORTUNG FÜR DAS VEREINTE DEUTSCHLAND 1. Einleitung

Darüber, ob Deutschland eine neue Rolle im internationalen Kräftefeld übernehmen soll, läßt sich trefflich streiten, nicht jedoch darüber, daß das wiedervereinigte Deutschland in Zukunft außenpolitisch mehr Verantwortung tragen muß - und dazu auch bereit ist. Über diese Einsicht besteht bei den politisch verantwortlichen Kräften - gemeint sind hier CDU/CSU, SPD und FDP- Einigkeit. Seit der Bildung der von SPD und Bündnis 90/Die Grünen getragenen Bundesregierung sind letztere bestrebt, im Schnellverfahren in allen relevanten außenpolitischen Bereichen notwendige Anpassungen vorzunehmen. Mit ihren prononcierten Reise-Aktivitäten wollten Bundeskanzler Gerhard Sehröder und Außenminister Joseph Fischer der in manchen Staaten frühzeitig geäußerten Sorge entgegenwirken, die neue Bundesregierung meine es mit der von ihr vielbeschworenen Kontinuität deutscher Außenpolitik nicht ernst. Auf die bisher entwickelten außenpolitischen Vorstellungen der seit dem 27. Oktober 1998 amtierenden neuen Bundesregierung wird später zurückzukommen sein. Über mein Thema wird nicht erst seit heute, sondern seit der Unterzeichnung des Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 und verstärkt seit dem 12. Juli 1994 lebhaft diskutiert, als das Bundesverfassungsgericht ein Urteil von historischem Rang fällte. Während mit dem Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991 die Vier-Mächte "ihre Rechte und Verantwortlichkelten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes" beendeten und das staatlich vereinte Deutschland die volle Souveränität erlangte, ist erst mit dem 12. Juli 1994 die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik voll handlungs-, bündnis- und partnerschaftsfähig. Nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern der Westen insgesamt sieht sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Bipolarität großen Herausforderungen gegenüber, da die aus dem sowjetischen Machtbereich entlassenen Staaten und westlich orientierten ehemaligen Sowjetrepubliken - wie die drei baltischen Staaten und die Ukraine - in die bewährten westlichen Si-

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cherheitsstrukturen eingebunden werden möchten. Gefordert sind hier neben der Nordatlantik-Pakt-Organisation (NATO) und der Westeuropäischen Union (WEU) die Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Nachfolgerorganisation der KSZE, und die Europäische Union. Seit 1990 lautet die zentrale Frage, wie das im Bereich der früheren Warschauer Allianz entstandene Sicherheitsvakuum ausgefüllt werden kann: Sind die bisher existierenden Institutionen in der Lage, den neuen Herausforderungen gerecht zu werden? Eine Prüfung der deutschen Publizistik im Hinblick auf die Bonner Außenpolitik seit der Zeitenwende vom Herbst 1989 bis Ende 1991 - also von der Öffnung der Mauer in Berlin (9. November 1989) und der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands (3. Oktober 1990), der Auflösung des Warschauer Paktes (1. Juli 1991) und dem Ende der UdSSR (21. Dezember 1991)- fUhrt zu dem beruhigenden Ergebnis, daß die vorübergehend entwikkelten Vorstellungen über eine Neubestimmung des Standortes Deutschland in Europa und eine Einschränkung oder Verwässerung der "Westbindung" inzwischen stark in den Hintergrund getreten sind. Wer auf die "nationale" Karte setzt und die "Westbindung" oder "Westverankerung" der Bundesrepublik Deutschland reduzieren möchte, sollte nicht vergessen, daß das vorbehaltlose Bekenntnis der alten Bundesrepublik zu Europa und zur westlichen Wertegemeinschaft wesentlich dazu beigetragen hat, den politisch verantwortlichen Kräften im europäischen Ausland 198911990 die Angst vor einem staatlich wiedervereinigten Deutschland zu nehmen. Hier haben jene politischen Kreise in der Bundesrepublik, die die anzustrebende Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zu früh aus dem Auge verloren hatten, gern mit dem Hinweis argumentiert, neben den politischen Führungen lehnte auch die Mehrheit der europäischen Völker eine Wiederherstellurig der staatlichen Einheit Deutschlands strikt ab. Dabei wurde bewußt übesehen oder verdrängt, daß die in Westeuropa lebenden Völker stets mehrheitlich ftlr die Überwindung der staatlichen Teilung Deutschlands eingetreten sind. Gegenteiliger Ansicht waren vornehmlich die politischen Führungen in Paris und London. Permanent durchgeftlhrte Umfragen legen dafUr eindringlich Zeugnis ab. Anders lag die Situation verständlicherweise in Polen und auch in der Tschechoslowakei. Diesen Sachverhalt haben bis 1989/90 jene bundesdeutschen Politiker, Publizisten und Wissenschaftler verdrängt oder verfälscht dargestellt, die sich mit der staatlichen Teilung des Landes abgefunden oder sie gar aus unterschiedlichen Motiven heraus ftlr richtig, gerecht und unabänderlich gehalten haben 1•

1 Vgl. dazu die Nachweise bei Jens Hacker, Deutsche IrrtUrner-Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen. Um ein Nachwort erweiterte, durchgesehene Taschenbuch-Ausgabe

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Christian Müller, einer der besten Kenner der deutschen außen- und innenpolitischen Szenerie und langjähriger Bonner Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung", stellte im August 1997 fest, "keinerlei politische Ungewißheit oder territoriale Zweideutigkeit belastet die geographische Kontur der Bundesrepublik Deutschland. Das ist ein Novum in der europäischen Geschichte." Heute "lebt der neu erstandene deutsche Nationalstaat, nun zwar nach beträchtlicher territorialer, aber von keiner irredenta mehr ernsthaft angefochtenen Amputation, nicht nur im Frieden mit all seinen neuen europäischen Nachbarstaaten, sondern erstmals in der Geschichte auch in gutem Einvernehmen und teilweise sogar in enger Partner- und Freundschaft mit allen großen und mittleren Mächten von Washington über Paris und London bis hin nach Moskau. Das Deutschland Helmut Kohls, des Kanzlers der zweiten deutschen Einheit, sucht diese Konstellation einer selten günstigen 'second chance' keineswegs zu einem weiteren Solo-Tanz als Wirtschaftsgigant von wachsendem politischen Gewicht in einem Konzert weltpolitischer Rivalenmächte zu nutzen. Bonn ist auch nach der Wiedervereinigung entschlossen auf euro-atlantischem Kurs geblieben und hat bisher all die Unkenrufe und falschen Propheten von einem erneuten Schaukelkurs oder gar nochmaligem Hegemoniestreben Lügen gestraft." Christian Müller geht noch einen Schritt weiter: "Aus der Asche der totalen Niederlage und moralischen Ächtung ist zwar der deutsche Phönix nun in einer Gestalt wiedererstanden, die an Potential und Prestige fast alles übertrifft, was Deutschland in früheren Epochen vergeblich und dann zuletzt sogar verbrecherisch zu erlangen versucht hatte. Doch im Unterschied zu einst ist in Bonn längst die Lehre aus der Vergangenheit gezogen worden, daß selbst ein Optimum deutscher Macht und Stärke nicht zur Errichtung einer Hegemonie ausreichen würde und daß deshalb nun die nationalen Interessen der Deutschen etwas ganz anderes verlangen[ ... ] Vor allem aber bezeichnet die Existenz der Bundesrepublik Deutschland inzwischen die längste Friedensperiode in der nationalstaatlichen Geschichte der Deutschen. " 2 Dieses kompetente Urteil erleichtert meine weiteren Ausruhrungen insoweit, als ich manche Kritik an der deutschen Außenpolitik vor und nach der Zeitenwende fiir überspitzt, ungerecht oder ungerechtfertigt halte. Es gehört zum guten Ton eines Teils der deutschen Politikwissenschaft, mit der Bonner und sich abzeichnenden Berliner Außenpolitik hart ins Gericht zu gehen. So ist ein umaufgrundder 3. Auflage, Frankfurt a.M./Berlin 1994, S. 342-345. Vgl. zu den inzwischen abgeebbten nationalen Tendenzen im Schrifttum die weiteren Nachweise bei Jens Hacker, Integration und Verantwortung - Deutschland als europäischer Sicherheitspartner, Bonn 1995, S. 282-285. Vgl. zu dieser Problematik außerdem Heimo Schwilk!Uirich Schacht (Hrsg.), Die selbstbewußte Nation - "Anschwellender Boxgesang" und weitere Beitrage zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M./Berlin 1994. 2 Christian Müller, Abschied von der deutsche Frage- Deutschlands europäische Verankerung im Westen, in: Neue ZUreher Zeitung, Internationale Ausgabe vom 9./10. August 1997.

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fangreicher, Ende 1997 erschienener Literaturbericht über die "deutsche Außenpolitik in der Analyse" mit der Überschrift "Vom 'Scheinzwerg' zum 'Scheinriesen '" erschienen, in dem seit 1994 verfaßte wichtige Monographien zum Thema vorgestellt werden 3 • Bedenklich erscheint, daß das Interesse der Bevölkerung an Außenpolitik in den neunziger Jahren nach der Auflösung der Ost-West-Konfrontation "auf das Niveau der filnfziger Jahre zurückgefallen" ist: "Damals interessierten sich 39 Prozent der westdeutschen Bevölkerung filr politische Berichte und Meldungen aus dem Ausland. In den folgenden Jahrzehnten nahm das öffentliche Interesse ständig zu, bis Anfang der siebziger Jahre auf 47 Prozent, Anfang der achtziger Jahre 65 Prozent; Anfang der neunziger Jahre, im Zuge der dramatischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa, erreichte das Interesse seinen Höhepunkt. Heute finden außenpolitische Entwicklungen gerade noch bei 42 Prozent der westdeutschen und 39 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung Aufinerksamkeit."4 Bemerkenswert ist an den Umfrage-Ergebnissen des Instituts filr Demoskopie Allensbach, daß "in eigentümlichem Gegensatz zu dem geringen Interesse an außenpolitischen Entwicklungen. [... ] die Überzeugung der Mehrheit" steht, "daß Deutschlands Zukunft in Europa und der europäischen Integration liege. 52 Prozent sehen in Europa Deutschlands Zukunft, nur 27 Prozent widersprechen dabei. Politisch Interessierte sind von dieser Vision noch weitaus mehr überzeugt als Desinteressierte, nicht aus einem Gefilhl des Fatalismus, der Unabwendbarkeit heraus, sondern aufgrund der Überzeugung, daß daraus neue Chancen und Gestaltungsspielräume wachsen [... ] Die Ausrichtung auf Europa hat die Mehrheit verinnerlicht, nicht aus euphorischer Europa-Begeisterung, sondern in einer nüchternen Überzeugung, daß dies der vernünftige Weg sei. Dies prägt auch die Ziele, die die Bevölkerung filr die deutsche Außenpolitik formuliert: Nur eine Minderheit erwartet, daß deutsche Außenpolitik eng an deutschen Interessen ausgerichtet sein soll. Die Mehrheit wünscht eine selbstbewußte Politik, die aber ständig auch die Interessen der europäischen Nachbarn im Blick hat, Pflege der Beziehungen, Aufbau von Freundschaften mit möglichst vielen Ländern, TUröffuer zu sein filr die deutsche Wirtschaft, stets eine gemeinsame Linie mit den anderen Mitgliedern der Europäischen Union suchen, selbstbewußt auftreten; das sind die Vorgaben, die die Mehrheit der 3 Ingo Peters, Vom "Scheinzwerg" zum "Scheinriesen"- deutsche Außenpolitik in der Analyse, in: Zeitschrift ftlr Internationale Beziehungen 4 (1997), S. 361-388. 4 So Renate Köcher, In der deutschen Provinz - Das Interesse der Bevölkerung an Außenpolitik geht rasch zur1lck, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. September 1997. Vgl. dazu auch Institut ftlr Demoskopie Allensbach, In der deutschen Provinz - Das Interesse der Bevölkerung an der Außenpolitik geht steil zur1lck (mit zahlreichen Tabellen und Schaubildern), Allensbach 1997.

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Bevölkerung fiir die deutsche Außenpolitik macht. Zu dieser Erkentnis will die Provinzialisierung der Perspektive, der Rückzug auf den Nahbereich nicht passen, und die Politik wäre schlecht beraten, sich dieser Entwicklung anzupassen."5

Auch wenn dieser Aspekt nicht unmittelbar zu meinem Thema gehört, sei darauf verwiesen, wie wenig erbaulich auch die Antworten sind, die das Institut fiir Demoskopie Allensbach auf die Frage "Was man in der Tageszeitung vorrangig liest" erhalten hat. Den 42 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, die sich fiir außenpolitische Themen interessiert, stehen 60 Prozent gegenüber, die immerhin politische Berichte und Meldungen aus Deutschland liest, während das Interesse von 81 Prozent der westdeutschen Bevölkerung lokalen Berichten aus dem Ort gilt6 • Über die zunehmende Provinzialisierung eines guten Teiles lokaler oder regionaler Zeitungen darf man sich also nicht wundem. Die interessante Frage, ob zwischen dem rUckläufigen außenpolitischen Interesse in der Bevölkerung und der abnehmenden außenpolitischen Kompetenz der Parteien ein Zusammenhang besteht, ist hier nicht zu beantworten. Amulf Barings Feststellung ist richtig, der Kreis außenpolitischer Sachkenner sei sehr geschrumpfe. Die Provinzialisierung der außenpolitischen Perspektive, die bei über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung zu konstatieren ist, führt er auch darauf zurück, daß ihr der "alte Gefahrensinn" weithin abhanden gekommen sei, "denn wir sind mit dem Rücken zu allen absehbaren Gefahren eingeschlafen"8. Barings richtiger Befund ist nach der Bundestagswahl vom 27. September 1998 noch insoweit zu ergänzen, als von den wenigen außenpolitischen Sachkennern der Parteien mehrere dem neuen Bundestag nicht mehr angehören. 2. Die Diskussion um das ,.nationale Interesse" Deutschlands

So folgenreich die Zeitenwende von 1989 bis Ende 1991 auch ist, so leben wir in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht in einer Phase "großer Entwürfe": Nüchternheit, Pragmatismus und Realismus sind gefragt und gefordert. Wenn deutsche Politologen und Zeithistoriker lauthals das Bonner Auswärtige Amt auffordern, endlich das "nationale Interesse" oder die "nationalen Interessen" des staatlich vereinten Deutschland zu defmieren, dann sollten sie zunächst schon selbst versuchen, den für die deutsche Außenpolitik Verantwortlichen dabei Schützenhilfe zu geben. Auch den Fundamental' So Köcher (Anm. 4). Nachweis ebd. (Schaubild I). 7 ArnulfBaring, Scheitert Deutschland? Abschied von unseren Wunschwelten, Stuttgart 1997 (Kap. II: Außenpolitischer Wandel). I Ebd., s. 182. 6

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kritikem deutscher Außenpolitik, die interessanterweise vorwiegend konservativer Provenienz sind9, fällt es schwer, systematisch angelegte und konkrete Vorarbeiten und Vorschläge zu unterbreiten. Der hohe Anspruch, das "nationale Interesse" oder die "nationale Interessen" der Bundesrepublik Deutschland zu umschreiben, ist aus mehreren Gründen schwer zu erfilllen und nicht allein ein deutsches Problem. Hier sei auf Henry A. Kissingers Bemühungen hingewiesen, das "nationale Interesse" der USA zu formulieren: "Natürlich ist der Begriff 'nationales Interesse' alles andere als ein Terminus, der sich selbst erklärt. In der Tat bräuchten wir eine intensive Debatte über die Inhalte dieses Begriffs." Kissinger fragt weiter: "Doch ist es ein Unterschied, ob man ausgehend von den nationalen amerikanischen Interessen die eigene Führungsrolle dazu nutzt, die multilaterale Position zu gestalten oder ob man die Definition des nationalen Interesses abhängig macht von einem multilateralen Konsens [... ] Soll Amerika seine Sicherheit in Bündnissen suchen, die auf dem nationalen Interesse basieren, oder im vagen Konzept der kollektiven Sicherheit?" 10 Wenn es selbst einem so erfahrenen Theoretiker und außenpolitischen Praktiker wie Henry A. Kissinger schwer fällt, das "nationale Interesse" der USA zu definieren, dann sollten deutsche Wissenschaftler und Publizisten etwas bescheidener und zurückhaltender in ihrer Kritik an der Bonner Außenpolitik zumal dann sein, wenn sie selbst keine ausgereiften alternativen Vorschläge vorzubringen vermögen. Es war und ist ein Irrtum anzunehmen, den Vereinigten Staaten, der nach der Auflösung des Ostblocks und der UdSSR alleinigen Supermacht, würde es auf Anhieb oder allmählich gelingen, den neuen Status als alleiniger Weltmacht zu defmieren. Daß sie dabei vor beachtlichen Problemen stehen, offenbaren nicht nur die Auseinandersetzungen in Amerika über die außenpolitischen Interessen und Prioritäten Washingtons, sondern auch die sie begleitende politische und politikwissenschaftliche Publizistik. Das Ende des Ost-West-Konflikts und der Bipolarität sowie die Auflösung des Ostblocks und der UdSSR haben die USA ebenso überrascht wie Europa. Washington sieht sich mit gewaltigen Aufgaben konfrontiert. Die Suche nach überzeugenden außenpolitischen Konzepten und die darüber in Amerika lebhaft gefUhrte Diskussion haben weitreichende Auswirkungen auf die Formulierung der Außenpolitik der Staaten Europas, der Europäischen Union und der westlichen Sicherheitsorganisationen. Die unübersichtliche Situation in Rußland mit den nicht kalkulierbaren Entwicklungen und möglichen Konsequenzen ftlr die Mitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und den ostmittelVgl. dazu die Nachweise bei Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. 1), S. 273-279. Dt. Text in: Welt am Sonntag vom 5. März 1995; Henry A. Kissinger, Die Atlantische Gemeinschaft neu begründen, in: Internationale Politik 5 (1995), Nr. I, S. 20-26. 9

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und südosteuropäischen Staatengürtel erschwert jede außenpolitische Positionsbestimmung des Westens - nicht nur der USA. Wer das "nationale Interesse" oder die "nationalen Interessen" Deutschlands zu bestimmen sucht, muß dies in größeren Zusammenhängen - im europäischen und atlantischen Kontext - tun. Kein Zweifel besteht an der strategisch einmaligen Lage Deutschlands in Europa, die es so schwierig macht, das "nationale Interesse" oder die "nationalen Interessen" des Landes zu umreißen. Die Schwierigkeiten beginnen bereits damit, wie die mit dem 3. Oktober 1990 größer gewordene Bundesrepublik Deutschland als Teil der internationalen Staatengesellschaft einzustufen ist. Wenig sinnvoll erscheint es, darüber zu spekulieren oder zu streiten, ob Deutschland eine "Weltmacht", "Großmacht", "Mittelmacht", "Weltmacht wider Willen" oder "Zentralmacht" geblieben oder geworden ist, da es an schlüssigen und überzeugenden Definitionen mangelt. Christian Hacke hat seine erstmals 1988 erschienene Studie "Weltmacht wider Willen" überschrieben, ein Titel, der - wie der Autor 1993 meinte - zum Erscheinungszeitpunkt des Buches ungewöhnlich gewesen sei, "sich aber nach 1990 nicht als falsch erwiesen hat, wollte der Autor 1988 schon darauf hinweisen, daß die Bundesrepublik zu machtvoller und zugleich verantwortungsbewußter Außenpolitik im globalen Maßstab aufgerufen war" 11 • Nun ist "Weltmacht wider Willen?" nur noch der Untertitel des Buches "Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland" und zugleich mit einem Fragezeichen versehen. Vielleicht ist es sinnvoller, zumindest über die von Arnulf Baring vorgeschlagene Klassifizierung der Bundesrepublik Deutschland als "Regionalmacht" nachzudenken. Christian Hacke gehört - neben Hans-Peter Schwarz12, Gregor Schöllgen 13 und Arnulf Baring 14 - zu den schärfsten Kritikern der Bonner Außenpolitik vor und nach 1989. Hackes zentraler Vorwurf geht dahin, die Bundesregierung habe 11 Christian Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland - Weltmacht wider Willen? Aktualisierte und erweiterte Neuauflage, Berlin 1997, S. 20. Die zweite, aktualisierte und erweiterte Neuausgabe erschien 1993. Vgl. dazu die Rezension von Wilhelm G. Grewe, Weltmacht, Großmacht, Mittelmacht - Auf der Suche nach einer Außenpolitik des vereinten Deutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. November 1993. Grewe meint, daß das wiedervereinigte Deutschland dem "Weltmachtstatus nllhergerOckt" sei. Vgl. dazu auch Peters (Anm. 3), S. 370. 12 Vgl. dazu die Nachweise bei Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. I), S. 273-278. Vgl. dazu auch Hans-Peter Schwarz' jüngste Studie "Die Zentralmacht Europas - Deutschlands RUckkehr auf die WeltbUhne", Berlin 1994, in der die "Bibliographie raisonnee" kein systematisch angelegtes Schrifttumsverzeichnis enthlllt.

13

1993.

Vgl. Gregor Schöllgen, Angst vor der Macht. Die Deutschen und die Außenpolitik, Berlin

14 Baring (Anm. 7); ders. in Zusammenarbeit mit Volker Zastrow, Unser neuer Größenwahn Deutschland zwischen Ost und West, Stuttgart 1988; ders., Deutschland, was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf Jobst Siedler, Berlin 1991.

6•

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schon vor 1988 versäumt, "Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt zu definieren und danach zu handeln [... ] Ängstlichkeit und schwächliche Arroganz, diese beiden Merkmale deutscher Außenpolitik, kamen gerade noch 1990 wieder zum Ausdruck[ ... ] Mit diesem pazifistischen deutschen Streben, an dem die Welt genesen sollte, mit dieser Angst vor der Macht, die man ummünzte in kleinbürgerliche Friedensharmonie, war das neue vereinigte Deutschland auf denkbar schlechteste Weise ausgerüstet, um die neuen außenpolitischen Krisen und Kriege angemessen, d.h. im eigenen Interesse und zum Wohle anderer bedrohter, überfallender oder unterdrückter Staaten und Völker zu lösen." 15 Mit dieser pauschalen Kritik schießt der Autor weit über das Ziel hinaus. Bis zur Überwindung der staatlichen Teilung Deutschlands war die Bonner Außenpolitik gut beraten, eine verantwortungsvolle und pragmatische Machtpolitik zu treiben, ohne einem grenzenlosen Pazifismus zu verfallen. Die Fundamentalkritiker pflegten und pflegen gern zu übersehen, daß in der deutschen Öffentlichkeit bis zur Zeitenwende der Pazifismus weit verbreitet war, ohne daß die offizielle Politik dem kritiklos folgte. Auch ist Christian Hacke insofern nicht konsequent, als er allen Bundeskanzlern die Einsicht attestiert, daß die Außenpolitik sich weniger in Möglichkeiten darbietet, als vielmehr unter dem Zeichen zur Anpassung stehe: "Unter unterschiedlichen historischen Bedingungen suchten alle die Gegebenheiten der internationalen Politik durch geschmeidige Anpassung filr die Interessen der Bundesrepublik zu nutzen. Anpassung als Mittel und Methode berücksichtigt die Interessen der Nachbarn und der Regionen, um die Staatsräson und die Interessen der Bundesrepublik, das heißt ihr wirtschaftliches und politisches Wohlergehen und ihrer militärischen Sicherheit, zu gewährleisten."16 Unter den Fundamentalkritikern der Bonner Außenpolitik hat auch HansPeter Schwarz versucht, die "nationalen Interessen Deutschlands" vor und nach 1989 zu defmieren. Doch er kam und kommt nicht umhin, sich in Widersprüche zu verwickeln. Sprach er noch im Oktober 1993 unter Berufung auf Carl Schmitt von der "Außenpolitik ohne Konzept", so gelangte er wenig später zu diesem ausgewogeneren Urteil: "Die heutigen europäischen Mächte sind unentrinnbar im Netz der Interdependenz gefangen, dem sie sich ohne schwerste Schädigung der eigenen Interessen nicht entziehen könnten. Wohlfahrtsinteressen, Statusinteressen, Sicherheitsinteressen, alles stünde auf dem Spiel, wollte ein Akteur wieder im Zustand der Volltrunkenheit den Alleingang versuchen. Alles Gerede von Re-Nationalisierung der Außenpolitik verkennt diesen grundlegenden Sachverhalt." Doch nicht genug damit: "In dieser Hinsicht ist Deutschland kein Sonderfall, sondern ein westlicher NormalfalL Alle Staaten in 1'

Hacke (Anm. 11 ), S. 20, 390.

16

Ebd., S. 345.

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der Europäischen Union, in der NATO und darüber hinaus haben zwar noch einen gewissen Einfluß darauf, wie sie die Interdependenz gestalten möchten etwas mehr oder weniger autonom, vorwiegend in diesem oder jenem 'Klub' stärker nach Amerika hin offen oder mehr auf Europa bezogen. An der Grundtatsache als solcher ändert das jedoch wenig. Zwar ist die Bundesrepublik das stärkste Land in Europa; doch den Fesseln der Interdependenz vermag sie sich genauso wenig zu entziehen wie die wenigen Ieistungsflihigen Staaten. Dies zu erkennen, ist keine besondere politische Tugend, es hat wenig mit Friedenspolitik, mit Altruismus oder mit neuem Denken zu tun - es ist ein schlichtes Erfordernis des gesunden Menschenverstandes. Kein Gedanke also in der Hinsicht, Deutschland könne eine entfesselte Außenpolitik betreiben. Das wäre nicht einmal möglich, so es dies wollte." 17 Diese nüchterne, realistische und richtige Einschätzung der außenpolitischen Möglichkeiten Deutschlands relativiert alle hochtrabenden Versuche, mit hohem theoretischem Anspruch der offiziellen Außenpolitik ein in sich schlüssiges Konzept zu empfehlen, das das "nationale Interesse" oder die "nationalen Interessen" umreißt. Während Gregor Schöllgen bis 1994 seine massive Kritik mit den Stichwörtern "Scheu vor der Macht", "Die Angst der Deutschen vor der Wirklichkeit" und "Ängstlicher Riese im Vakuum" umschrieb 18, ist er 1998 zu einer wesentlich positiveren Bilanz der Bonner Außenpolitik gelangt. Er weist darauf hin, es gäbe kein zweites Land, das innerhalb von wenigen Jahrzehnten sein politisches Gesicht so oft habe ändern müssen wie Deutschland, "viermal seit 1918: vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, von dieser zur Diktatur des Dritten Reiches und von dort zur Bundesrepublik, die ihrerseits heute, nach den Ereignissen der Jahre 1989/90, wieder eine andere ist, als die von 1949." Schöllgen filgte hinzu: "Zu diesem Anderssein gehörte eben auch diese Machtkomponente. Weniger, daß die Deutschen glaubten, sie hätten wieder Macht als vielmehr, daß alle anderen uns in dieser Machtposition gesehen und deshalb verlangt haben, Deutschland solle seinem Gewicht entsprechend agieren. Heute muß ich sagen: Es ist gelungen, diesen Erwartungen in hohem Maße gerecht zu werden [... ]" 19• Zu den publizistisch besonders einflußreichen Kritikern nicht nur der Bonner Außenpolitik, sondern auch der inneren Situation Deutschlands gehört seit langem Arnulf Baring, der auch - wie bereits vermerkt - in seiner jüngsten Analyse "Scheitert Deutschland? Abschied von unseren Wunschwelten" in sehr differenzierter Weise die einzelnen Aspekte des "Außenpolitischen Wandels" analySchwan (Anm. 12), S. 173 f. Vgl. dazu auch Peters (Anm. 3), S. 367-372. Vgl. dazu die Nachweise bei Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. 1), S. 273 mit Anm. 61. 17

18

19 "Die Vergangenheit darf Europa nicht einholen". Interview mit Gregor Schöllgen, in: Die Welt vom 5. Januar 1998.

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siert. Doch erhebt er nicht den Anspruch, sein kritisches Urteil anhand eines theoretischen Konzepts zu begründen. Da er sich weitgehend auf eine Analyse beschränkt und nicht den Ehrgeiz entwickelt, politikwissenschaftlich ausgerichtete theoretische Rezepte vorzuschlagen, läuft er nicht Gefahr, sich in Widersprüche zu verwickeln. Barings Beobachtung von der "wachsenden Gleichgültigkeit der Vereinigten Staaten" steht im Widerspruch zu den Aussagen bekannter amerikanischer Europa- und speziell Deutschland-Kenner. So gelangte Henry A. Kissinger in seiner umfangreichen, 1994 erschienenen und stark beachteten Studie "Diplomacy", deren deutsche Übersetzung den umständlichen Titel "Die Vernunft der Nationen- Über das Wesen der Außenpolitik" trägt, zu dem Ergebnis, kein Land könne ein Interesse daran haben, "daß sich Deutschland und Rußland wieder aufeinander fixieren, sei es als Partner, sei es als Kontrahent. Sind sie sich zu nahe, so schüren sie die Furcht vor einem Kondominium; liegen sie im Streit, so wird ganz Europa in eskalierende Krisen verwickelt. Daher ist es im gemeinsamen Interesse Amerikas und Europas, eine entfesselte nationale Politik Deutschlands und Rußlands im Zentrum Europas zu vermeiden. Ohne die Vereinigten Staaten können Großbritannien und Frankreich das politische Gleichgewicht in Europa nicht wahren, wäre Deutschland der Versuchung des Nationalismus ausgesetzt und Rußland seines globalen Ansprechpartners beraubt. Die USA ohne Europa wiederum würden sich in psychologischer und geographischer Hinsicht zu einer Insel weitab der Küsten Eurasiens entwickeln." 20 Bedenkenswert ist Amulf Barings Anregung, ob Deutschland nicht die Rolle eines "Juniorpartners der USA in Europa!" anstreben sollte. Doch deutet er diese Vision nur an, ohne zu fragen, welche Auswirkungen dies vor allem auf die Positionen Frankreichs, Großbritanniens und wohl auch Italiens hätte. Ebenso berechtigt ist Barings Frage, ob der frühere Außenminister Klaus Kinkel gut beraten war, so intensiv auf einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der UNO zu pochen. Zu dieser wichtigen Frage äußert sich die Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen filr den 14. Deutschen Bundestag zurückhaltender: "Deutschland wird die Möglichkeit nutzen, ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu werden, wenn die Reform des Sicherheitsrats unter dem Gesichtspunkt größerer regionaler Ausgewogenheit abgeschlossen ist und bis dahin der grundsätzlich bevorzugte europäische Sitz im Sicherheitsrat nicht erreicht werden kann." In seiner ersten Regierungserklärung vom I 0. November 1998 führte Bundeskanzler Gerhard Sehröder dazu aus: "Die Möglichkeit, Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der 20 Henry A. Kissinger, Die Vernunft der Nationen - Über das Wesen der Außenpolitik, Berlin 1994, S. 914 f.

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Vereinten Nationen zu werden, werden wir wahrnehmen, sofern ein gemeinsamer europäischer Sitz nicht erreichbar ist." 21 Die Bundesregierung sollte wissen, daß die Charta der UNO die Möglichkeit, Europa einen Ständigen Sitz im Sicherheitsrat einzuräumen, nicht vorsieht, da dies nur Einzelstaaten vorbehalten ist. Wegen der tiefen Neigung prominenter bundesdeutscher Politikwissenschaftler und Zeithistoriker zumeist konservativer Provenienz, die Bonner Außenpolitik vor und nach der Zeitenwende äußerst kritisch unter die Lupe zu nehmen, darf die Tatsache nicht übersehen werden, daß andere Analytiker sehr viel wohlwollender die neue Rolle Deutschlands in der Welt beurteilt und hervorgehoben haben, daß die Bundesrepublik zumeist dem Prinzip des Multilateralismus und nicht des Unilateralismus gefolgt ist. Auch habe sie sich von der richtigen Erkenntnis leiten lassen, daß jegliche Ostpolitik ihre Grundlage in der Westpolitik finden müsse22 • Zusammenfassend läßt sich feststellen: Den Fundamentalkritikern der Bonner Außenpolitik, die auch gerne mit dem Schlagwort von der "deutschen Scheckbuch-Diplomatie" agieren, ist einmal entgegenzuhalten, daß man strikt die Phase bis zum 15. März 1991, dem Tag der Unterzeichnung des Zwei-plusVier-Vertrags, von jener danach unterscheiden muß. In der dann einsetzenden Periode bildet das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 eine tiefe Zäsur. Erst mit dieser Entscheidung kann man von einer "normalen" deutschen Außenpolitik sprechen. 3. Ein neuer verfassungsrechtlicher Rahmen für die deutsche Außenpolitik?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 zeichnet sich in nahezu allen zentralen Fragen durch Klarheit aus. Der Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets ist durch das Grundgesetz gedeckt, auch der bewaffnete, wenn die Bundesregierung zuvor die Zustimmung des Bundestags mit einfacher Mehrheit eingeholt hat. In der Debatte am 22. Juli 1994 im Bundestag sagte dazu Bundesaußenminister Kinkel:

21 Text der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998, in: Das Parlament, Nr. 45 vom 30. Oktober 1998, S. 6- 10 (10); Text der Regierungserklärung G. Schröders, in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 74 vom II. November 1998, S. 901 -914 (913). 22 So Emst-Otto Czempiel, Die Rolle Deutschlands in der neuen Welt(Un)Ordnung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 43 (1992), S. 613-620 (613). Vgl. dazu auch Wilfried von Bredow, Die Mittelmacht - Über die Rolle des vereinten Deutschland in der internationalen Politik, in: Bemd Guggenberger!Klaus Hansen (Hrsg.), Die Mitte - Vermessungen in Politik und Kultur, Opladen 1993, S. 161-176; ders., Neue Horizonte filr die deutsche Außenpolitik, in: Liberal 37 (1993), H. 2, S. 25-32. Vgl. dazu auch die Nachweise bei Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. 1), S. 273-285.

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"Ein zentrales außen- und sicherheitspolitisches Ziel der Bundesregierung ist damit erreicht. Nach Wiedervereinigung und Wiedererlangung unserer vollen Souveränität ist deutsche Außen- und Sicherheitspolitik voll handlungs- und bündnisfahig. Das gilt im Rahmen der UNO wie flir NATO, Europäische Union und WEU." Nachdrücklich betonte der Außenminister, die Karlsruher Entscheidung sei "nicht nur bei uns, sondern ebenso im Ausland mit großer Aufmerksamkeit verfolgt worden. Ihr Inhalt entspricht nicht nur dem politischen Ziel der Bundesregierung, sondern auch der Erwartung der Völkergemeinschaft, sowie unserer Partner und Freunde, daß das wiedervereinigte Deutschland mehr weltpolitische Verantwortung übernimmt." 23 Auch unter dem europäischen Aspekt ist das Karlsruher Urteil von zentraler Bedeutung. Dank dem jahrelangen innenpolitischen Streit um die Auslegung des Grundgesetzes fehlte es der Bundesrepublik an der notwendigen Bündnisund Partnerschaftsfähigkeit in der NATO und WEU und darüber hinaus in der Europäischen Union. Das Bonner Ansinnen, in den Kreis der Ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats aufgenommen zu werden, mutete peinlich und anachronistisch an, da sich die Bundesregierung nicht in der Lage sah, den 1973 mit dem Beitritt zur Weltorganisation übernommenen Verpflichtungen gerecht zu werden. Ungerecht und überspitzt war die Behauptung, mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 verwandle sich die Bundeswehr, "mit höchstrichterlicher Genehmigung, von einer Verteidigungsannee in eine Kriseninterventionsannee. Der neue Titel für Rühe müßte also künftig so lauten: Kriseninterventionsminister." 24 Die Ängste vor einer "Militarisierung der deutschen Außenpolitik" waren und sind insofern verfehlt, als es mögliche Einsätze deutscher Soldaten außerhalb des NATO-Gebiets nur in Absprache mit den Verbündeten geben wird. Das gilt gleichfalls fiir die Teilnahme der Bundeswehr an UNO-Aktionen. Deut23 Text der Rede in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 70 vom 26. Juli 1994, S. 657-659 und Das Parlament vom 5. August 1994, S. 2. Vgl. dazu auch Claus Gennrich, Kinkel: Jetzt sind wir frei- wenn der Sicherheitsrat zustimmt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Juli 1994; Kinkel und Scharping deuten das Bundeswehr-Urteil, ebd. 24 So Heribert Prantl, Das Tor geht auf, davor liegt der Sumpf. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet heute Ober Auslandseinslitze der Bundeswehr, in: SUddeutsche Zeitung vom 12. Juli 1994; ders., Wir können- aber: sollen wir?, in: SUddeutsche Zeitung vom 13. Juli 1994; ders., Das deutsche Reifezeugnis, in: SUddeutsche Zeitung vom 16./17. Juli 1994. Weitere Nachweise bei Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. 1), S. 257-270. Vgl. zur Bedeutung und zu den Auswirkungen des Karlsruher Urteils vom 12. Juli 1994 Klaus Dau/ Gotthard Wöhrmann (Hrsg.), Der Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte. Eine Dokumentation des AW ACS-, des Somalia- und des Adria-Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, Heidelberg 1996; Nina Philippi, Bundeswehr - Auslandseinslitze als außen- und sicherheitspolitisches Problem des geeinten Deutschland, Frankfurt a.M. u. a. 1997.

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sehe Alleingänge erscheinen daher von vomeherein ausgeschlossen. Wer dies nicht einzusehen vennag oder einsehen will, ignoriert die Einbindung Deutschlands in die NATO, die WEU und auch in die Europäische Union. Diese Erkenntnis erleichterte es den politischen Führungen mancher Staaten in Europa 1990 wesentlich, die durch die Herstellung der staatlichen Einheit größer gewordene Bundesrepublik Deutschland zu akzeptieren. Die Kritiker der Karlsruher Entscheidung vom 12. Juli 1994 sind zu fragen, ob nach ihrer Auffassung der "deutsche Sonderweg" in der Außenpolitik zeitlich unbegrenzt sein sollte. Jedennann ist doch klar, daß eine Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Aktionen in historisch belasteten Gebieten außerhalb jeder Diskussion steht. Das Verhalten Bonns in der Jugoslawien-Krise und die teilweise rational nicht nachvollziehbaren Reaktionen in westlichen Hauptstädten haben eindringlich dokumentiert, wie sehr die Bundesrepublik auch in Zukunft die Lehren aus der Geschichte im Auge behalten muß. Selbst der schärfste Kritiker der Bonner Außenpolitik vor und nach 1989, Christian Hacke, meint, das Abkommen von Dayton habe einige ennutigende Akzente gesetzt: "Im Ansatz wird eine kooperative Sicherheitspolitik sichtbar, in der auch die NATO neue Verpflichtungen übernimmt, die von Deutschland mitgetragen werden. Erstmals wird Deutschland auch militärisch ein regionales Friedenabkommen mit sichem." 25 Spätestens hier hätte Christian Hacke darüber nachdenken sollen, ob seine Fundamentalkritik, die Bundesregierung habe die "neuen realpolitischen Möglichkeiten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, nach der Vereinigung Deutschlands und angesichts der neuen außenpolitischen Herausforderungen konzeptionell noch nicht umgesetzt" 26 , nicht nur nicht ungerecht und überzogen, sondern auch unzutreffend ist. Nein, der Bundesregierung unter Bundeskanzler Kohl ist zu attestieren, daß sie seit dem 12. Juli 1994 dafür gesorgt hat, "Normalität" in die deutsche Außenpolitik einkehren zu lassen. Der "von vielen Deutschen in Zeiten west-östlicher Hochspannung gehegte Traum, sich wie eine 'große Schweiz' nicht nur aus der Geschichte, sondern auch aus Arglist und Bedrängnis der internationalen Politik zu verabschieden, ist weitgehend ausgeträumt. Noch sind zwar die weißen Bettlaken, die mancher Bundesbürger während des Krieges der Alliierten gegen die Besetzung Kuwaits durch den Irak an der biedenneierlichen Eigenheimfassade befestigte, in lebhafter Erinnerung. Doch inzwischen operieren deutsche Soldaten zwecks Friedenssicherung sogar in Sarajewo - und dies Seite an Seite mit französischen Soldaten. Ort und Art eines solchen Einsatzes, dem andere in Kambodscha, Somalia oder im Irak vorausgegangen waren, markieren einen fundamentalen Wandel in DeutschH

26

Hacke (Anm. II), S. 427 f. Ebd., S. 427.

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Iands schrittweise verstärkter Übernahme internationaler Verantwortung im Verbund mit den westlichen Alliierten [... ] Daß inzwischen eine klare Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie und sogar ein Teil der GRÜNEN sich nicht mehr der Einsicht in die Notwendigkeit eines verstärkten Engagements der Bundeswehr filr mehr als bloße Landes- und Bündnisverteidigung verschließen, deutet das Ausmaß des Wandels im außen- und sicherheitspolitischen Denken des wiedervereinigten Deutschland an.'m Christian Müllers Urteil vom August 1997 kann dahingehend ergänzt werden, daß auch die neue Bundesregierung Sehröder/Fiseher von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen hat, daß sich die europäischen und atlantischen Partner Deutschlands auf das Engagement der Bundesrepublik bei gemeinsamen militärischen Aktionen verlassen können. 4. Europäische Integration mit nationalstaatlicher Verantwortung

Zu den Grundmaximen der Bonner Europa-Politik gehörten seit der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland 1949 die europäische Integration und die zwischenstaatliche Kooperation. An dieser Prämisse hat Bundeskanzler Kohl auch nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands festgehalten. Er wußte, daß bei dem Bemühen, eine "gesamteuropäische Sicherheits-Architektur" zu schaffen, der Bundesrepublik Deutschland eine zentrale Rolle zukam. Dabei ging und geht es nicht um die Formulierung eines oder des "großen Entwurfs" oder ausgefeilter Konzepte, die zwar politikwissenschaftliche Theoretiker zu befriedigen vermögen, filr die Gestaltung der Zukunft Europas aber wenig geeignet sind. "Europa", das sich vieler Definitionen erfreut, befmdet sich seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation und der Bipolarität in einer Übergangsphase, deren Abschluß angesichts der vielen Unsicherheiten und Unwägbarkeilen noch nicht abzusehen ist. Alle politisch verantwortlichen Kräfte wußten, daß nun auch und gerade an die Europa-Politik der Bundesrepublik Deutschland erhöhte Anforderungen gestellt werden. "Bonn" hatte seit dem 15. März 1991 genügend Zeit, sich auf diese Situation einzustellen und wahrzunehmen, wie sehr die Nachbarn darüber wachen, in welcher Weise Deutschland seiner Partnerschafts- und Bündnisflihigkeit gerecht wird. Was die internationale Kooperations- und Partnerschaftsflihigkeit angeht, weist Deutschland eine beachtliche Bilanz auf. So filhrte der Bundesminister des Auswärtigen, Kinkel, am 24. August 1994 vor der Deutschen Gesellschaft filr Auswärtige Politik in Bonn aus: "[ ... ] als stark exportorientiertes Land brauchen wir stabile internationale Rahmenbedingungen wie die Luft zum Atmen. Das ist nicht kostenlos: Wir tragen 8,9 Prozent des UNO27

So Müller (Anm. 2).

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Haushalts, 22,8 Prozent bei der NATO, 28,5 Prozent bei der EU. Unser Anteil an der westlichen Hilfe filr Mittel- und Osteuropa und den GUS-Staaten liegt bei Zwei Drittel. Und das trotz einer außergewöhnlichen inneren Kräfteanspannung."28 Diese eindrucksvollen Zahlen waren und sind einer breiteren Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt. Die Bundesregierung hat wesentlich zur Verwirklichung des "flexiblen Konzepts abgestufter Verflechtung" (Klaus Kinkel), also zur Eingliederung der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten in die westliche Werte- und Verteidigungsgemeinschaft beigetragen. Voraussetzung dafilr waren das deutsch-sowjetische Vertragswerk vom 9. und 12. Oktober 1990 sowie die Regelung des deutsch-polnischen Verhältnisses vom 14. November 1990 und 17. Juni 1991 29. Auch bei der Ausgestaltung der Beziehungen der Europäischen Gemeinschaft und späteren Europäischen Union zu den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas sowie zur UdSSR/Rußland und Ukraine hat "Bonn" entscheidend mitgewirkt. Sowohl filr die Europäische Union als auch Präsident Boris Jelzin ist der Abschluß des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens vom 24. Juni 1994 eine große politische Leistung. Der Europäischen Union ist es gelungen, zentrale politische Forderungen durchzusetzen und Rußland auf die Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Prinzipien zu verpflichten30• Der Westen- nicht nur die Europäische Union -hat in den vergangenen Jahren darauf geachtet, daß aus der Vertiefung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Russischen Föderation von dieser ein wie auch immer gearteter Anspruch auf eine Vormachtstellung im untergegangenen Imperium nicht entwickelt werden kann. Die politischen Führungen der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten wachen sehr aufmerksam darüber, ob der Westen zu ihren Lasten Moskau ein Mitspracherecht einräumt, das sie nicht hinzunehmen bereit sind. Während die russische Führung, wenn auch zögernd und widerwillig inzwischen akzeptiert hat, daß die früheren Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes souverän und unabhängig sind und ihre außenpolitischen Beziehungen allein gestalten können, vermochte sich Moskau bislang nicht mit der Tatsache abzufinden, daß sich auch die drei baltischen Staaten ihrer Souveränität und Unabhängigkeit erfreuen und damit ihre Außenpolitik selbständig formulieren können. 28 Text der Rede in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 76 vom 29. August 1994, S. 713-715 (714). Ungeschickt und undiplomatisch war es, daß Außenminister Kinkel Großbritannien unerwähnt ließ. Eine Marginalisierung oder Selbst-Marginalisierung Londons konnte und kann nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegen. 29 Vgl. dazu mit Nachweisen Hacker,lntegration und Verantwortung (Anm. 1), S. 110 - 120. 30 Vgl. dazu mit Nachweisen ebd., S. 236-243.

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Nachdem am 16. Dezember 1991 die Außenminister Polens, Ungarns und der Tschechoslowakischen Föderativen Republik die Assoziierungs-Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft, die sogenannten Europa-Verträge unterzeichnet hatten, folgten am 1. Februar 1993 Rumänien und am 8. März 1993 Bulgarien. Das am 16. Dezember 1991 von der ehemaligen Tschechoslowakei und der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnete, aber nie in Kraft getretene Abkommen wurde durch den Abschluß der zwei Assoziierungs-Abkommen mit der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik am 4. Oktober 1993 ersetze 1• Mit den künftigen Beziehungen der Europäischen Gemeinschaft zu den mittel- und osteuropäischen Ländern sowie zu den europäischen GUS-Staaten befaßte sich der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs auf seiner Tagung vom 21. und 22. Juni 1993 in Kopenhagen. Den bereits mit der Gemeinschaft assoziierten Ländern - Bulgarien, Polen, Rumänien, der Slowakischen und der Tschechischen Republik und Ungarn - wurde die Perspektive einer vollen Mitgliedschaft unter bestimmten Kriterien eröffnet32 • Im Dezember 1995 ersuchte der Europäische Rat anläßlich seiner Tagung in Madrid die Kommission, ein schlüssiges Konzept für die Stärkung und Erweiterung der Europäischen Union auszuarbeiten. Diesem Auftrag kam die Kommission mit der Vorlage ihrer "Agenda 2000" nach, die der Präsident der Kommission, Jacques Santer, am 16. Juli 1997 dem Europäischen Parlament in Straßburg vorstellte. Er gab bekannt, daß die Kommission nach sorgfliltiger Prüfung der Beitrittsanträge dem im Dezember 1997 in Luxemburg zusammentretenden Europäischen Rat die Eröffnung von Verhandlungen mit fünf mittel- und osteuropäischen Länder - Ungarn, Polen, Estland, der Tschechischen Republik und Slowenien - zu Beginn des Jahres 1998 vorschlage. Ebenso plädiere sie für den Beginn von Verhandlungen mit Zypern, das schon 1993 eine positive Stellungnahme der Kommission erhalten hatte. Nach Ansicht der Kommission erfüllen Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien und die Slowakei noch nicht die Voraussetzungen für Vertrags-Verhandlungen33 • Die politischen Kriterien filr eine Vgl. dazu die Nachweise ebd., S. 239 mit den Anm. 236-239. Vgl. dazu die Nachweise bei Hacker, Integration und Verantwortung (Anm I), S. 239. Text der Schlußfolgerungen in: Europa-Archiv 48 (1993), D 258-268 (263) f. 33 Text der Agenda 2000, in: Internationale Politik 52 (1997), Nr. 10, S. 85-113 (89-104). Vgl. dazu auch Heinrich Mantzke, in: Ebd., S. 75-77; Josef Janning und Claus Giering, Mythos der Erweiterungsflthigkeit - Die EU vor ihrer ersten Osterweiterung, in: Ebd., Nr. II, S. 31-38; Manfred Rist und Rene Höltschi, Facettenreiche Osterweiterung der Europäischen Union. Wirtschaftliche Herausforderung - politische Notwendigkeit, in: Neue ZUreher Zeitung, Internationale Ausgabe Nr. 274 vom 23./24. November 1996. Vgl. zu den Beziehungen der EG/EU bis zum Herbst 1994 auch die Nachweise bei Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. 1), S. 236-245; Alyson J. K. Bailes, Die noch offenen Fragen der EU-Erweiterung, in: Internationale Politik 52 (1997), Nr. 12, S. 69-73. 31

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Aufnahme in die Europäische Union sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der Menschenrechte und der Schutz von Minderheiten, während als wirtschaftliche Kriterien eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit genannt werden, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Auf seiner Tagung in Luxemburg vom 12. und 13. Dezember 1997 hat der Europäische Rat nochmals betont, daß alle genannten Staaten auf der Grundlage derselben Kriterien Mitglieder der Europäischen Union werden sollen und daß sie unter denselben Voraussetzungen am Beitrittsprozeß teilnähmen 34 • Zu diesem Zweck hat der Europäische Rat in Luxemburg beschlossen, eine EuropaKonferenz einzurichten, "in der sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie diejenigen europäischen Staaten zusammenfinden, die filr einen Beitritt in Frage kommen und die Werte sowie die internen und externen Ziele der Union teilen". Was die Vertiefung der europäischen Integration angeht, ging man bei der Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Union in Maastricht vom 7. Februar 1992 von der Erkenntnis aus, daß die angestrebte Währungsunion von einer Politischen Union flankiert werden müßte. Da man sich über diesen wichtigen Aspekt der europäischen Einigung nicht zu verständigen vermochte, wurde die Errichtung der Politischen Union auf Maastricht II im Jahre 1997 verschoben. In der Präambel zum Maastricht-Vertrag ist von der Entschlossenheit der Signatare die Rede, "eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung filhren könnte, und so die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern [... ]" Außerdem bekräftigten sie das Ziel, "den Prozeß der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzufUhren [... ]"35 • Mit der Formel "Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas" vermied man bewußt eine juristisch verbindliche und überzeugende Zielsetzung. Nach dem herkömmlichen deutschen Rechtsverständnis ist zwischen bundesstaatlich und staatenbündisch konzipierten Zusammenschlüssen von 34 Text der Schlußfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 12 vom 16. Februar 1998, S. 141-150 (142). Vgl. dazu auch die Erklärung Bundeskanzler Kohls vom 23. Dezember 1997 in Luxemburg (ebd., S. 151 f.). ll Text in: Europäische Union- Europäische Gemeinschaft. Die Vertragstexte von Maastricht mit den deutschen Begleitgesetzen. Bearbeitet und eingeleitet von Thomas Läufer, Bonn 1995, S. 18 f.

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Staaten zu differenzieren. Daher war es verständlich, daß sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 gehütet hat festzustellen, der Vertrag impliziere eine staatenbündische oder bundesstaatliche Ordnung ftlr Europa. Leitsatz 8 der Entscheidung lautet: "Der Unions-Vertrag begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der- staatlich organisierten -Völker Europas [...], keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat." Und an anderer Stelle heißt es: "Der Vertrag begründet einen europäischen Staatenverbund, der von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationale Identität achtet; er betrifft die Mitgliedschaft Deutschlands in supranationalen Organisationen, nicht eine Zugehörigkeit zu einem europäischen Staat [... ] Die Europäische Union ist nach ihrem Selbstverständnis als Union der Völker Europas ein auf eine dynamische Entwicklung angelegter[ ... ] Verbund demokratischer Staaten [...]"36• Von der im Maastricht-Vertrag verabredeten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ist die Europäische Union noch weit entfernt. Auch Maastricht II, der Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997, "bietet nur einige Retuschen. Aber von weiterem Verzicht auf nationale Souveränität zugunsten Europas ist nichts zu sehen. Kann es sein, daß Frankreich in den Jahren vor und nach Maastricht I nur deshalb über eine politische Union verhandelt hat, weil es beftlrchten mußte, daß der Kanzler andernfalls die Währungsunion nicht akzeptieren oder zu Hause würde nicht durchsetzen können? Und folgt daraus, daß die Franzosen das hehre Projekt der politischen Union prompt einschlafen ließen, als sie sahen, daß sie den Euro auf jeden Fall bekommen wUrden, so daß es keine Mühen mehr bedürfte?"37 Auch wenn der Vertrag von Amsterdam den Titel V "Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik des Vertrags von Maastricht" in einigen wichtigen Punkten spezifiziert, kann von einer Politischen Union keine Rede sein. So meinen Kritiker, es werde eine Währung "ftlr ein Europa geschaffen, das es noch nicht gibt" 38 • Wohlwollendere Beobachter argumentieren, die Einfiihrung der gemeinsamen Euro-Währung werde "die Teilnehmerstaaten der Währungsunion in einer Weise miteinander verbinden, daß daraus nicht nur ftlr die europäische Wirtschaftspotenz nach außen ein erheblicher Vorteil entstehen dürfte, sondern auch eine neue Dynamik ftlr den weiteren politischen Zusam-

36 Text in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Band 89, TUbingen 1994, S. 155213 (156, 181, 184).

17 So Winfried Münster, Wo, bitte, ist die europäische Idee?, in: SUddeutsche Zeitung vom 2. Mllrz 1998. 38 So ebd.; Baring (Anm. 7), S. 133, der auch bedauert, daß Bundeskanzler Kohl das Junktim zwischen Währungsunion und gleichzeitiger Politischer Union aufgegeben hat: "[...]eine gemeinsame Wahrung setzt im Grunde einen Staat voraus, der sie stUtzt."

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menschluß innerhalb Europas einsetzen könnte. Dies bleibt trotz allen Widerständen und Rückschlägenjedenfalls das Ziel der Bonner Politik."39 Bundesaußenminister Kinkel verwies darauf, daß Deutschland zusammen mit Frankreich die treibende Kraft in den Verhandlungen gewesen sei: "Unsere gemeinsamen Initiativen etwa zur Flexibilität, haben ganz wichtige Impulse gegeben. Zwischen Bonn und Paris gibt es im übrigen keine Meinungsverschiedenheiten darüber, daß in bestimmten Fragen in bezug auf die Institutionen nachgebessert werden soll und muß. Das haben wir im übrigen in Amsterdam vertraglich festglegt. Dieser Punkt wird immer in den Diskussionen übersehen."40 Der Bundesaußenminister betonte, daß im Vertrag von Amsterdam die Kontrolle durch das Europäische Parlament deutlich verbessert worden sei: "Sein Recht zur Mitentscheidung ist um 23 Anwendungsflille erweitert worden. Wir haben der Mitwirkung des Parlaments Bereiche geöffnet, die ihm bisher total verschlossen waren .... soll die Stärkung des Kommissions-Präsidenten zu einer Steigerung der Effizienz fUhren. In den Bereichen, die von besonderer Bedeutung sind - etwa in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik - , wurden die Möglichkeiten zur Mehrheitsentscheidung deutlich erweitert. In diesem Punkt wäre Deutschland durchaus bereit gewesen, noch weiter zu gehen." Der Vertrag von Amsterdam bedeutet einen beachtlichen Fortschritt im Bereich der Justiz- und Innenpolitik. Innerhalb "von filnf Jahren nach lokrafttreten des Vertrags soll die Union zu einem Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts ausgestaltet werden. Dieser umfaßt die Gewährleistung des freien Personenverkehrs innerhalb der Europäischen Union in Verbindung mit unmittelbar damit zusammenhängenden flankierenden Maßnahmen bei den Außengrenzkontrollen, der Visa-Politik, der Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik und den Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität."41 Ein weiterer programmatischer Ansatz des Amsterdamer Vertrags betrifft die Arbeitsweise der Organe, u. a. Mitentscheidung des Europäischen Parlaments. Mit "den neuen Bestimmungen ist ein beachtlicher Teil nationalstaatlicher

39

So MUiler (Anm. 2).

-oo Text der Erklärung Außenminister Kinkeis vom II. Dezember 1997, in: Bulletin des Presse-

und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 100 vom 15. Dezember 1997, S. 1289-1292 (1290). Text des Vertrags von Amsterdam, ebd., Nr. 94 vom 27. November 1997 und in: Internationale Politik 52 (1997), Nr. II, S. 99-127 (gekürzte Fassung). Diese dokumentarische Zusammenstellung enthält weitere wichtige Dokumente zum Vertrag von Amsterdam. 41 So Wilhelm Schönfelder/Reinhard Silberberg, Auf dem Weg zum Ziel -Die Ergebnisse des Vertrags von Amsterdam, in: Internationale Politik 52 (1997), Nr. 11 , S. 18-24 (18 f.). Vgl. zum Vertrag von Amsterdam außerdem Eberhard Rhein: Die EU ä 25- Wie regierbar ist sie?, in: Ebd., s. 25-30.

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Kompetenzen in der Justiz- und Innenpolitik 'vergemeinschaftet"'42 • Vor allem auf deutsches und französisches Drängen baut der Amsterdamer Vertrag die Perspektive für eine gemeinsame Verteidigung aus. Dabei hat auch die Perspektive einer Integration der Westeuropäischen Union (WEU) in die Europäische Union Eingang gefunden. Hierüber kann der Europäische Rat einen einstimmigen Beschluß fassen und ihn den nationalen Parlamenten zur Ratifikation unterbreiten. Die Kritik am Vertrag von Amsterdam konzentriert sich vornehmlich auf die offengebliebenen institutionellen Fragen, wie die Stimmengewichtung im Rat und die Zahl der Kommissare43 • Bundeskanzler Kohl erntete nicht nur Beifall, sondern auch Kritik, als er in seiner Rede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Katholische Universität Löwen am 2. Februar 1996 ausführte, "die Politik der europäischen Einigung ist in Wirklichkeit eine Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert. So hat es auch mein verstorbener Freund Francois Mitterrand gesehen. Am 17. Januar 1995 sagte er vor dem Europäischen Parlament in Straßburg: 'Der Nationalismus, das ist der Krieg!' Ich weiß, einige möchten dies nicht gerne hören. Meine Warnungen mögen eine unangenehme Wahrheit enthalten. Es zählt aber nicht, diese Grundfrage zu leugnen." 44 Nachdrücklich muß daran erinnert werden, daß gerade Bundeskanzler Kohl bis 1990/91 vehement die These vertreten hat, eine Währungsunion ohne Politische Union sei undenkbar. Dabei verwies er stets auf die Tatsache, daß die Wirtschafts- und Währungsunion und die Politische Union nach seinem Verständnis immer das grundlegende Ziel der Römischen Verträge gewesen sei. So erklärte er am 6. November 1991, wenige Wochen vor der Konferenz von Maastricht, vor dem Deutschen Bundestag: "Die Politische Union ist das unerläßliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die jüngere Geschichte und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, daß die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist." 45 Die Konferenz von Maastricht beschloß die Währungsunion, ohne gleichzeitig die zuvor angestrebte Politische Union zu vereinbaren. Frankreich und Großbritannien gelang es, die von ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht erwünschte So Schönfelder/Silberberg (Anm. 41), S. 19. Vgl. dazu im einzelnen ebd., S. 20-22. " Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 12 vom 8. Februar 1996, S. 129-131 (130). Sehr kritisch geht A. Baring mit Kohls Europa-Vorstellungen ins Gericht. Vgl. ders. (Anm. 7), Kap. 111: Die Europäische Währungsunion. 45 Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 124 vom 7. November 1991, S. 985-990 (987). Sehr instruktiv dazu Winfried Münster, Der Tanz um den Euro, in: SUddeutsche Zeitung vom 4./5. Apri11998. 42 43

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Errichtung der Politischen Union zu verschieben und in den Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 die vagen "Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" aufzunehmen. Während ftlr Amulf Baring, einen der heftigsten Kritiker der "Europa"-Politik der Bundesregierung Kohi!Kinkel, die Einheit Europas "ein Mythos"46 ist, lobte Christian Müller Kohls unbeirrbares Festhalten daran, "die deutsche Politik ein ftlr allemal in ein europäisches Korsett zu schnüren. Wenn Mißgunst und Aberwitz daraus nun mancherorts wieder ein deutsches Hegemoniestreben in europäischem Gewand abzuleiten versuchen, laufen sie Gefahr, der bald wieder in Berlin formulierten deutschen Politik selber eine Pickelhaube aufzusetzen, wie sie indes nur museal im Zeughaus Unter den Linden vorhanden ist."47 Angesichts der divergierenden außenpolitischen Interessen und der bisher wenig effektiv gestalteten Bestimmungen über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam konnte es nicht überraschen, daß die Irak-Krise ftlr die Europäische Union kein zentrales Thema bildete. Während 1990 und 1991, nach der irakiseben Invasion Kuwaits und dem Waffengang der USA die Europäische Gemeinschaft mit einer Stimme sprach und die meisten Mitgliedstaaten der damaligen Zwölfergemeinschaft Streitkräfte zur militärischen Befreiung Kuwaits zur Verftlgung stellten, beftlrwortete die Europäische Union dieses Mal eine politische Lösung, indem sie auf eine Durchsetzung der UNO-Resolutionen, also auf eine ungehinderte Prüfung durch Unscom-Kontrolleure, drängte. Hinzu kam, daß man in den wichtigen Hauptstädten Europas - vor allem in Paris und London - divergierende Ansichten über die Irak-Krise vertrat. Die Tatsache, daß die Europäische Union von vomherein keine gemeinsame Position zu erarbeiten versucht hat, geht auch darauf zurück, daß gemäß Artikel J. 8 des Vertrags von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 der Vorsitz die Union "in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" vertritt. Obwohl Großbritannien in der IrakKrise die Haltung der USA uneinschränkt unterstützte, wollen die Briten "sich in außen- und erst recht in sicherheitspolitischen Dingen nun mal nicht vor den EU-Karren spannen lassen. Hier geht es um nationale Fragen. Die Regierung in London gehörte - unabhängig von der politischen Farbe - sowohl in Maastricht als auch in Amsterdam zu den Bremsern jeder größeren außenpolitischen Handlungsfähigkeit der EU, von einer Militarisierung der EU ganz zu schweigen. Jede andere Regierung hätte als EU-Vorsitzende vielleicht den prekären Spagat zwischen Washington und dem Kontinent versucht, die Briten sind dieser Versuchung gar nicht erlegen."48 46

47

Baring (Anm. 7), S. 126 f. Müller (Anm. 2).

43 So der Kommentar "Die EU auf sicherer Distanz in der Irak-Krise", in: Neue ZUreher Zeitung, Internationale Ausgabe Nr. vom 19. Februar 1998. Vgl. dazu auch Elizabeth Pond, Der

7 Eckart I Jesse

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5. Deutschlands Interesse an einer Osterweiterung der NATO

In West und Ost ist man sich darüber einig, daß die NATO die erfolgreichste Allianz in der Geschichte militärischer Bündnisse bildet. Angesichts der Tatsache, daß die ostmittel- und sildosteuropäischen Staaten so schnell wie möglich Vollmitglieder der NATO werden wollen, sei daran erinnert, daß in der Präambel zum NATO-Vertrag vom 4. April 1949 die Signatare ihre Entschlossenheit erklärten, "die Freiheit, das gemeinsame Kulturerbe ihrer Völker, gegründet auf den Prinzipien der Demokratie, auf die Freiheit des Einzelnen und die Grundsätze des Rechts, sicherzustellen". Hier wird deutlich, daß die westliche Verteidigungsallianz von Anfang an als ein militärisches und politisches Bündnis konzipiert war, das daher zutreffend als Sicherheits- und Wertegemeinschaft bezeichnet wird. Die 16 Mitglieder der NATO haben sich ständig seit 1990 mit den umwälzenden Veränderungen in Europa befaßt und seit 1993 eine mögliche Ausdehnung ihres Geltungsbereiches auf einige Staaten Ostmittel- und Südosteuropas geprüft. Interessanterweise ist der Gedanke an eine mögliche Ostausdehnung der NATO zuerst in Europageäußert worden. So wie Helmut Schmidt beanspruchen kann, den NA TO-Doppelbeschluß als erster westlicher Staatsmann in die politische Diskussion eingeführt zu haben49, war es Volker RUhe, der frühere Bundesminister der Verteidigung, der in seinem Vortrag "Gestaltung euro-atlantischer Politik - eine Grande Strategy für eine neue Zeit" am 26. März 1993 in London die NATO-Ausdehnung nach Osten neben der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union vorgeschlagen hat. Damals führte Rübe aus: "Die 'Eindämmungspolitik' des Kalten Krieges muß durch eine Politik politischer und wirtschaftlicher Kooperation und Entwicklung abgelöst werden. [... ] Was filr die wirtschaftliche Dimension zutrifft, gilt auch filr die sicherheitspolitische. Wir dürfen unsere Nachbarn im Osten nicht von den euro-atlantischen Sicherheitsstrukturen ausschließen. Osteuropa darf auch sicherheitspolitisch kein 'konzeptionelles Niemandsland' sein." Der Bundesverteidigungsminister trat filr eine politische Konzeption ein, die zwei Forderungen erfilllen müßte: "Erstens muß sie die vitalen Sicherheitsinteressen unserer Nachbarn im Osten berücksichtigen und die Tatsache, daß diese Staaten immer der europäischen Völkergemeinschaft angehört haben. Zweitens muß diese Konzeption auch die Auswirkungen einer erweiterten Mitgliedschaft auf die strategische Stabilität im gesamten euro-atlantischen Raum berücksichzynische Blick auf Europa. In der Irak-Krise versucht Amerika den Alleingang. Wie steht es um die Partnerschaft?, in: Die Zeit vom 26. Februar 1998. 49 Vgl. dazu die Nachweise bei Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. 1), S. 17 mit Anm. I.

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tigen. Wir brauchen einen ausgewogenen Ansatz. Die riesigen Potentiale und die geostrategische Lage Rußlands sprengen europäische Dimensionen. Sie schließen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in unseren Bündnissen aus. Dies muß aber kompensiert werden - durch verstärkte sicherheitspolitische Kooperation im Rahmen des NATO-Kooperationsrates, der Vereinten Nationen und der KSZE und ergänzt durch ein Netz politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit." Darüber hinaus wies Rühe darauf hin, daß die Atlantische Allianz keine "geschlossene Gesellschaft" sein dürfe: "Ich kann keinen stichhaltigen Grund dafilr sehen, künftigen Mitgliedern der Europäischen Union die NATO-Mitgliedschaft vorzuenthalten. Ich frage mich auch, ob die Mitgliedschaft in der Europäischen Union unbedingt dem Beitritt zur NATO vorausgehen muß." 50 Rühes Rede war insoweit wegweisend, als sie auch die Problematik einer möglichen zeitlichen Synchronisierung der Osterweiterung der NATO und der Europäischen Union angesprochen hat. Die NATO bewegte sich bis zum Frühjahr 1997 auf einem schwierigen und mühsamen Balance-Akt, da sie einerseits den Sicherheitsinteressen der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten soweit wie möglich entgegenkommen wollte, ohne andererseits die Russische Föderation vor den Kopf zu stoßen oder gar auszugrenzen. Der westlichen Verteidigungsgemeinschaft ist zu attestieren, daß sie mit viel Geschick und Fingerspitzengefilhl dieser komplizierten Situation weitgehend gerecht geworden ist. Die westliche Welt hat die richtigen Konsequenzen aus der Erkenntnis gezogen, daß Rußland zwar keine Supermacht, aber immer noch eine politische Großmacht ist. Die Russische Föderation ist zu einem Partner des Westens geworden, bildet jedoch gleichfalls aufgrund der prekären inneren politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse weiterhin ein Risiko filr den Westen. Da niemand in Zukunft politische Rückschläge in der Russischen Föderation auszuschließen vermag, ist dies der wichtigste Grund, der die Staaten Ostmittelund Südosteuropas sowie die Ukraine nach dem .Ende des Ostblocks und der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität und Unabhängigkeit veranlaßt hat, in den westlichen Sicherheitsgürtel einbezogen zu werden. Bis zum 27. Mai 1997 mußte der Westen, nicht nur die USA, strikt darauf achten - um es zu wiederholen -, mit Moskau keine Arrangements zu treffen, die im ehemaligen sowjetischen Imperium als unzulässiges Mitspracherecht der Russischen Föderation gedeutet werden konnten. Trotz der Bereitschaft der NATO, dem Wunsch Moskaus zu entsprechen, in einem speziellen Abkommen die Sonderbeziehungen zwischen der Allianz und der Russischen Föderation zu regeln, um es im Gegenzug filr eine OsterweitelO Text der Rede in: Der Bundesminister der Verteidigung (Hrsg.), Material ftlr die Presse, Bonn vom 26. März 1993, S. 13 f.

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rung des westlichen Bündnisses auf den ostmittel- und südosteuropäischen Raum zu gewinnen, glich dieses Ansinnen der Quadratur des Kreises. Nach der Präsidentenwahl in Rußland am 16. Juni und 3. Juli 1996, aus der der bisherige Amtsinhaber Boris Jelzin als Sieger hervorging, hat sich Moskau zwar noch nicht mit der Erweiterung der NATO abgefunden, trug aber seine Einwände in gedämpfteren Tönen vor. Selbst fllr unverbesserliche Optimisten der Osterweiterung der NATO erschien es wie ein Wunder, daß am 27. Mai 1997 in Paris die Staats- und Regierungschefs der 16 NATO-Staaten und der russische Präsident Jelzin die "Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantik-Vertrags-Organisation und der Russischen Föderation" unterzeichnet haben. Sechs Wochen später, am 8. Juli 1997, verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs des Nordatlantischen Bündnisses die "Erklärung von Madrid zur Euro-Atlantischen Sicherheit und Zusammenarbeit", mit der die Tschechische Republik, Ungarn und Polen eingeladen wurden, Beitrittsgespräche mit der NATO zu beginnen. Die westliche Militärallianz möchte den Ratifikationsprozeß so rechtzeitig beendet sehen, daß die Mitgliedschaft zum fllnfzigjährigen Jubiläum des Washingtoner Vertrags im April 1999 wirksam werden kann. Außerdem wurde in Madrid am 9. Juli 1997 die "Charta über eine ausgeprägte Partnerschaft zwischen der Nordatlantik- Vertrags-Organisation und der Ukraine" unterzeichnet, die die Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine "auf eine substantiellere Ebene" heben soll51 • Einen wichtigen Beitrag, eine neue europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, hatten bereits die 52 Mitgliedstaaten der OSZE, der Nachfolgeorganisation der KSZE, mit dem am 20. März 1995 auf der Abschlußkonferenz in Paris angenommenen "Stabilitätspakt fllr Europa" geleistet, um die Signatare auf die einvernehmliche Regelung von Grenz- und Minderheitenfragen zu verpflichten. Dies ist insofern von zentraler Bedeutung, als die NATO nicht gewillt war und ist, neue Mitglieder aufzunehmen, die das Bündnis möglicherweise mit Grenz- und Nachbarschafts-Konflikten belasten könnten. In der Zeit zwischen dem Frühjahr 1994 und Sommer 1997 sind in Ostmittel- und Südosteuropa zahlreiche bilaterale Grund-, Grenz- und Kooperationsverträge geschlossen worden, mit denen die Unterzeichner hoffen, den Anforderungen gerecht zu 51 Vgl. dazu mit Nachweisen Jens Hacker, Die Osterweiterung der NATO und die Einbindung Rußlands in die europäische Sicherheitsarchitektur, in: Hansjörg Brey/GUnther Wagenlehner (Hrsg. ), Die Staaten SUdosteuropas und die europäisch-atlantischen Strukturen. Eine Bestandsaufnahme, München 1998, S. 33-56; ders., Integration und Verantwortung (Anm. 1), S. 221-226; Lotbar RUhl, Die NATO-Erweiterung - im Osten nichts Neues. Gefahren einer Überkompensation ftlr russisches Einlenken, in: Neue ZUreher Zeitung, Internationale Ausgabe Nr. 34 vom II . Februar 1997. Vgl. dazu auch das Kommunique der Ministertagung des Nordatlantik-Rats vom 16. Dezember 1997 in Brussel. Text, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 4 vom 13. Januar 1998, S. 25-31.

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werden, von deren ErfUllung die westliche Militärallianz die Aufuahme neuer Staaten abhängig gemacht hat52 • Dem Westen ist zuzubilligen, daß er mit viel Geduld, Zähigkeit und Einftlhlungsvermögen bemüht war, die diplomatische Führung in Moskau, vor allem Präsident Jelzin, davon zu überzeugen, daß eine Erweiterung der NATO auf den ostmittel- und südosteuropäischen Raum die Sicherheit Rußlands nicht gefährdet, da sie sich stets als eine defensive Allianz verstanden hat und auch weiterhin versteht. Moskau mußte sich widerwillig damit abfinden, daß die früheren Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts und die drei baltischen Staaten, die Stalin nach seinem Komplott mit Hitler 1939 gewaltsam 1940 der UdSSR einverleibt hat, die Freiheit der Bündniswahl besitzen. Ebenso wie die frühere sowjetische bezieht sich auch die russische Führung gern auf die KSZE-Schlußakte vom I. August 1975, ohne allerdings einen darin festgelegten Grundsatz zu beherzigen. Im I. Korb "Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte" ist das Recht der Teilnehmerstaaten festgelegt, "internationalen Organisationen anzugehören oder nicht anzugehören, Vertragspartei bilateraler oder multilateraler Verträge zu sein oder nicht zu sein, einschließlich des Rechtes, Vertragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein; desgleichen haben sie das Recht auf Neutralität." Von deutscher Seite wurde die Ostausdehnung der NATO nicht zuletzt deshalb beftlrwortet, da dann die Ostgrenze des Landes nicht mehr zugleich die Ostgrenze der westlichen Verteidigungsallianz bildet. Bundeskanzler Kohls nicht unstrittige These, der Westen solle vorsichtig und behutsam vorgehen und dabei auf Präsident Jelzin gehörig Rücksicht nehmen, hat sich retrospektiv als richtig erwiesen und fand frühzeitig die Unterstützung der wichtigsten westlichen Staats- und Regierungschefs. Eine andere Frage ist, ob Bonn mit seiner betonten Zurückhaltung in der Diskussion über die Zahl der AufbahrneKandidaten geschickt und überzeugend taktiert hat. Daß Rumänien und Slowenien trotz ihres intensiven Werbens unberücksichtigt blieben, schien zunächst einen Vorteil zu haben: Die NATO könne nun die geplante zweite Aufuahmerunde nicht allzu weit hinausschieben. In dieser Zeit sollte es Aufgabe des Westens sein, die russische Führung davon zu überzeugen, daß auch die drei baltischen Staaten über das Recht der Allianzwahl verfUgen. Die Beftlrchtungen, der amerikanische Kongreß könne möglicherweise wegen der fmanziellen Kosten, die die Osterweiterung der NATO nach sich ziehen wird, diesen Schritt ablehnen, waren verfrüht. So hat der Außenpolitische Ausschuß des US-Senats mit überwältigender Mehrheit am 4. März 1998 der ersten Stufe der NA TC-Erweiterung zugestimmt und damit den Weg ftlr eine Ratifizierung des Vertrages durch den gesamten Senat geebnet. Der Ausschuß vo52

Vgl. dazu mit Nachweisen Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. 1).

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tierte mit 16:2 Stimmen ftir die Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns. "Die Abstimmung gilt als Signal ftir die Parlamente aller NATOMitglieder, weil die amerikanischen Vorbehalte gegen die Erweiterung jetzt ausgeräumt scheinen." 53 So konnte NATO-Generalsekretär Javier Solana auf der Herbst-Tagung der NATO-Außenminister in Brüssel verkünden, daß der Ratifikationsprozeß fiir die Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik durch die Parlamente der 16 NATO-Staaten am 8. Dezember 1998 abgeschlossen worden sei; damit stehe ihrer Aufnahme seitens der Allianz nichts mehr entgegen. Solana ftigte hinzu, er werde die obligatorischen Briefe an die drei neuen Mitgliedstaaten abschicken, sobald diese die Voraussetzungen daftir geschaffen hätten. Wie es heißt, haben alle drei Staaten diese Voraussetzungen noch nicht erfiillt. "Im Kommunique des Ministertreffens werden die neuen Mitglieder aufgefordert, 'ihre Anstrengungen zur Erfüllung der relevanten militärischen Mindestforderungen der Allianz zu beschleunigen'. In der NATO rechnet man damit, daß ihr Beitritt erst wenige Wochen vor dem Gipfeltreffen, etwa Mitte März, vollzogen werden kann." 54 Es scheint, daß zumindest auf der Gipfelkonferenz anläßlich des fünfzigjährigen Jubiläums der westlichen Verteidigungs- und Wertegemeinschaft im April 1999 nicht mit der Bereitschaft Washingtons gerechnet wird, fiir eine zweite Runde die möglichen Kandidaten Slowenien, Rumänien, Bulgarien sowie eventuell die baltischen Staaten zu benennen. Bisher ist im Rahmen des Bündnisses zwar die Frage nach den möglichen finanziellen Kosten einer Ostausdehnung der Allianz, nicht jedoch danach geprüft worden, bis zu welchem Ausmaß

53 So der Kommentar: "Erfolg ftlr NATO im US-Senat", in: SUddeutsche Zeitung vom 5. März 1998. Vgl. dazu auch Robert von Rimscha, Ja zur NATO gesichert? Das Ende der SenatsAnhörungen in Washington, in: Der Tagesspiegel vom 26. Februar 1998; Abstimmung Ober NATO-Erweiterung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. April 1998. In der Nacht zum I. Mai 1998 billigte der US-Senat die Osterweiterung der NATO mit einer Vierfilnftel-Mehrheit. Vgl. dazu "NATO Candidates Hail U. S. Vote for Expansion", in: International Herald Tribune vom 2./3. Mai 1998; US-Senat billigt Osterweiterung der NATO, in: Der Tagesspiegel vom 2. Mai 1998; Stefan Kornelius, Mit Sachverstand und Schärfe - In der Debatte um die NATOOsterweiterung liefert der US-Senat ein Beispiel filr Autorität, in: SUddeutsche Zeitung vom 2.13. Mai 1998; Clinton begrOßt Votum des Senats filr NATO-Erweiterung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Mai 1998. Da Bundesverteidigungsminister Rohe die Diskussion Ober die möglichen Kosten der NATO-Osterweiterung bewußt hinausgezögert hat, war es nicht leicht, die Bonner Vorstellungen dazu auszumachen. Sehr informativ nun dazu August Pradetto/Fouzieh Metanie Alamir (Hrsg. ), Die Debatte Ober die Kosten der NATO-Osterweiterung, Baden-Baden 1998.

5' So Karl Feldmeyer, Fischer will auf die Präsenz der Amerikaner in Europa nicht verzichten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Dezember 1998. Von den 16 NATO-Mitgliedern haben als letztes Anfang Dezember die Niederlande die Erweiterungsverträge ratifiziert. Vgl. dazu "NATO-Aussprache Ober das neue strategische Konzept", in: Neue ZUreher Zeitung, Internationale Ausgabe Nr. 286 vom 9. Dezember 1998.

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sie erweitert werden kann, ohne ihren politischen und militärischen Auftrag völlig aus dem Auge zu verlieren. Bis zum Frühjahr 1999 harren andere zentrale Fragen gleichfalls einer Lösung: die Erarbeitung eines "Neuen Strategischen Konzepts", das voraussichtlich die nuklearen Aspekte der NATO-Strategie unerwähnt läßt und sie nur fortschreibt. Eine wichtige Veränderung der Strategie hatte die NATOGipfelkonferenz in ihrer "Londoner Erklärung" vom 5./6. Juli 1990 vorgenommen, als sie die Verringerung von Nuklear-Waffen mit der neuen militärischen Situation in Europa begründete: "Im veränderten Europa werden die Bündnispartner [... ] in der Lage sein, eine neue NATO-Strategie zu beschließen, die Nuklearkräfte wahrhaft zu Waffen des letzten Rückgriffs macht." Die "neue Militärstrategie des Bündnisses" führe von der "Vorneverteidigung" weg und hin zu "verminderter Präsenz im vorderen Bereich; sie verhindert die 'flexible Erwiderung' , so daß sie eine verminderte Abstützung aufNuklearwaffen widerspiegelt [... ]"55 Das Jubiläumstreffen im April 1999 in Washington soll auch die Frage schlüssig beantworten, "welche Entwicklung das Bündnis nach dem Wegfall seines Entstehungsgrundes, des Ost-West-Konflikts, nehmen und welches Selbstverständnis und welche sich daraus ergebende Aufgabenstellung es für sich in Anspruch nehmen will. Zu diesem Klärungsprozeß gehört die Entscheidung darüber, ob die gegenseitige Verpflichtung der Mitglieder zur kollektiven Selbstverteidigung unverändert die Kernaufgabe der Allianz bleibt oder ob die militärische Intervention zur Wahrung des Friedens in Europa auf der Grundlage des territorialen Status quo gleichwertig zum Verteidigungsauftrag hinzutritt. Dadurch würden Rolle und Selbstverständnis des Bündnisses neu definiert." 56 Strittig ist darüber hinaus die Frage der "Selbst-Mandatierung". Es geht darum, ob sich die NATO ohne vorherige ausdrückliche Beschlüsse des UNOSicherheitsrates oder der Organisation ftlr Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) das Recht nehmen darf oder kann, "in einem Konflikt zu intervenieren, der ihre - selbstdefinierten - Interessen betrifft. Diesem Konzept steht nicht nur Deutschland skeptisch gegenüber - und im Bundestag ist die Ablehnung nicht nur auf GRÜNE und SPD beschränkt - , sondern die Mehrheit der Allianz-Mitglieder. Daß die Nato auch ohne Mandat des Sicherheitsrates (OSZE scheidet weitgehend aus) aktiv werden kann, wenn sie dazu entschlossen ist,

''Text der "Londoner Erklärung" vom 5./6. Juli 1990, in: Europa-Archiv 45 (1990), D 456460 (459). Vgl. dazu auch Feldmeyer (Anm. 54). 56 So Karl Feldmeyer, Die NATO auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Dezember 1998.

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und zwar bis hin zur Drohung mit militärischen Schlägen, hat sie auf dem Balkan gezeigt ..." 57 Den Verfechtern der These, man sollte die "Selbst-Mandatierung" der NATO zur Regel machen, ist entgegenzuhalten, daß sich der Handlungsspielraum der Allianz keinesfalls erhöhen dürfte. In der Praxis geht es hier vor allem um Interventionen in Konflikte, die nicht zwischenstaatlicher, sondern innerstaatlicher Natur sind. Gerade in diesen komplizierten Situationen müssen die jeweiligen nationalen Interessen klar und deutlich definiert werden. Und das geschieht leichter von Fall zu Fall als unter dem "Diktat" einer allgemeinen und möglicherweise verbindlichen Regel. Schließlich muß bis zum Jubiläumsgipfel im April 1999 die Frage geklärt werden, wie die Kooperation mit jenen Ländern, die der NATO nicht angehören, "im Rahmen des Programms 'Partnerschaft fiir den Frieden', im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPC) weiter ausgestaltet werden soll, insbesondere die mit Rußland." 58 Die Monate bis dahin sind noch von anderen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten begleitet. Dazu gehört einmal die prekäre innere Situation Rußlands. Niemand vermag vorauszusagen, wie die von der NATO gewünschte verstärkte Kooperation unter der Ägide des Ständigen Gemeinsamen NATO-RußlandRates weitergeführt werden kann. Darüber hinaus ist die NATO entschlossen, "das Potential des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrates (EAPR), der neue Konsultations- und Kooperationsstränge mit Partnern erschlossen hat, und das der erweiterten Partnerschaft fiir den Frieden (PfP) durch die Steigerung des Umfangs und der Intensität von Partnerschaftsaktivitäten voll" 59 auszuschöpfen. Der "Partnerschaft fiir den Frieden", die anläßlich des NATO-Gipfeltreffensam 10. und 11. Januar 1994 in Brüssel ins Leben gerufen worden war, haben sich inzwischen 27 Staaten angeschlossen. Zuvor, am 7. und 8. November 1991 in Rom, als die NATO ihr "neues Strategisches Konzept" unterbreitete, hatte sie u.a. vorgeschlagen, den "Nordatlantischen Kooperationsrat" ins Leben zu rufen, um die Konsultation und Kooperation in politischen und Sicherheitsfragen mit den Führungen der Staaten Ostmittel- Südost- und Osteuropas zu institutionalisieren. Am 29. Mai 1997, zwei Tage nach der Unterzeichnung der Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation in Paris, bereitete die Ministertagung des Nordatlantik-Rates in Sin57 So Günther Nonnenmacher, Der Kern der Strategie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. November 1998. 58 So Feldmeyer (Anm. 56). 59 So das Kommunique der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 16. Dezember 1998 in Brussel. Text, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 4 vom 13. Januar 1998, S. 25-31 (25).

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tra/Portugal das NATO-Gipfeltreffen in Madrid am 8. und am 9. Juli vor. Es wurde beschlossen, der Tagung des Nordatlantischen Kooperationsrates am 30. Mai 1997 in Sintra/Portugal vorzuschlagen, gemeinsam den Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat ins Leben zu rufen. Er trat an die Stelle des Nordatlantischen Kooperationsrates und soll die positiven Erfahrungen dieses Gremiums und der "Partnerschaft für den Frieden" miteinander verbinden, "indem er den übergreifenden Rahmen für politische und sicherheitsrelevante Konsultationen sowie für eine gestärkte Zusammenarbeit im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden bildet, deren grundlegende Elemente Gültigkeit behalten werden.... Wir sind erfreut über die dynamische und erfolgreiche Entwicklung der Partnerschaft für den Frieden mit 27 Staaten."60 Am 30. Mai 1997 traten der Nordatlantische Kooperationsrat und der EuroAtlantische Partnerschaftsrat in Sintra/Portugal zusammen, um das "Grundlagendokument des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats" zu verabschieden, der je nach Bedarf in unterschiedlicher Zusammensetzung tagen und in der Regel einmal monatlich auf Botschafterebene in Brüssel zusammentreten wird. Die derzeitigen Mitglieder des Nordatlantischen Kooperationsrats und Teilnehmerstaaten der Partnerschaft für den Frieden werden auf Wunsch ohne weiteres Mitglieder des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrates, der anderen OSZETeilnehmerstaaten zum Beitritt offensteht, die in der Lage und bereits sind, seine grundlegenden Prinzipien anzunehmen und zu seinen Zielen beizutragen61. 6. Europa und die USA

Von allen europäischen Staaten hat die Bundesrepublik Deutschland vor und nach der Zeitenwende vom Herbst 1989 bis Ende 1991 am stärksten darauf gedrängt, daß die euro-transatlantische Partnerschaft sichergestellt bleibt. Sie war sich immer bewußt, daß sie ihre Sicherheit, ihren Wohlstand und ihr Gewicht in der Welt der Westbindung oder Westverankerung verdankte. Es gehört zu den großen Verdiensten der Bundesregierung Kohl/Genseber - um es noch einmal zu wiederholen -, daß sie seit dem Amtsantritt im Oktober 1982 bis zur "Wende" 1989/90 nie einen Zweifel an dieser Grundprämisse Bonner Außenpolitik aufkommen ließ. Diese Politik war die unerläßliche Voraussetzung da-

Vgl. dazu die Nachweise bei Hacker (Anm. 51), S. 51 mit Anm. 39. Vgl. dazu die Nachweise, ebd., S. 51-53 mit Anm. 40. Vgl. zur Entwicklung der "Partnerschaft ftlr den Frieden" und des Nordatlantischen Kooperationsrates Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. 1), S. 221-236. 60 61

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für, daß die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands 1990 nach westlichen Maßstäben vollzogen wurde62 • Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Kohl ließ in keiner Phase ihrer Außenpolitik Zweifel an der Westbindung aufkommen. Gerade wegen des vorbehaltlosen Bekenntnisses zur Wertegemeinschaft und Verteidigungsfähigkeit des Westens blieb die Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren ein verläßlicher und wichtiger Partner im westlichen Bündnis. Dies wußte vor allem die amerikanische Führung zu schätzen, so daß Präsident George Bush in seiner programmatischen Rede vom 31. Mai 1989 in Mainz sagte: "Die Amerikaner und die Bundesrepublik waren immer enge Freunde und Verbündete. Heute übernehmen wir darüber hinaus noch eine gemeinsame Aufgabe - als Partner in einer Führungsrolle."63 Damals und später ist teilweise in der Öffentlichkeit übersehen worden, daß Präsident Bush Deutschland zu einem und nicht dem "partner in leadership" der USA erhoben hatte64 • Mit dieser Formel konnten auch London und Paris leben. Die Bündnistreue und Verläßlichkeit Bonns haben entscheidend dazu beigetragen, daß die amerikanische Administration mit Präsident Bush und Außenminister James A. Baker den Prozeß der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands 1990 wesentlich stärker und beherzter gefördert hat als die politischen Führungen Frankreichs und Großbritanniens. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Bipolarität hat sich - verständlicherweise - auch das Verhältnis der USA gegenüber Europa verändert. Die Vereinigten Staaten bilden nach der staatlichen Auflösung der UdSSR die einzige Weltmacht. Dieses neuen Status sind sich die politisch verantwortlichen Kräfte in Washington auch bewußt. Obwohl die Vereinigten Staaten als pazifische Macht nicht nur nach Europa blickten, sondern stets auch vor allem Ostund Südostasien im Auge hatten, wußte und weiß die Führung in Washington um die Bedeutung Europas für die USA. Leo Wieland, der Washingtoner Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und einer der besten Kenner der USA, skizzierte das amerikanisch-europäische Verhältnis Anfang 1998 so: "Wenn es darauf ankommt, stimmen im transatlantischen Verhältnis die Konstanten unverändert. Die gemeinsamen Werte und die gemeinsamen InterVgl. dazu mit Nachweisen ebd., S. 282-285. Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 54 vom 2. Juni 1989, S. 484-488 (484). 62

63

64 Darauf hat der Bonner Korrespondent der "Neuen ZUreher Zeitung", Christian Müller, in einem seiner Berichte Uber den Besuch des amerikanischen Präsidenten Clinton in Bonn aufmerksam gemacht. Vgl. Christian Müller: Staatsbesuch Clintons in Deutschland, in: Neue ZUreher Zeitung, Fernausgabe Nr. 160 vom 13. Juli 1994. Weitere Nachweise bei Hacker, Integration und Verantwortung (Anm. 1), S. 271-273.

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essen bilden ein tragflihiges Netz. Für die Vereinigten Staaten, die als pazifische Macht natürlich auch konzentriert nach Westen blicken, haben die gegenwärtigen Wirtschafts- und Währungskrisen in Asien zusätzlich ftlr orientierende Ernüchterung gesorgt. Die europäischen 'Vettern' mit ihren enger verwandten demokratischen Institutionen und ihrer vergleichbaren politischen Kultur gelten von New York bis Los Angeles ohne Einschränkung wieder als die wichtigsten, zuverlässigsten und stabilsten Verbündeten Amerikas." 65 Als die Europäische Gemeinschaft 1990 begann, auf die sich in Europa abzeichnende Zeitenwende adäquat zu reagieren, war sie gleichzeitig bemüht, das transatlantische Verhältnis auf eine neue Basis zu stellen. Davon zeugen die Gemeinsamen Erklärungen zu Beziehungen zwischen der EG und Kanada vom 22. und den Vereinigten Staaten vom 23. November 1990. In beiden wurden die "transatlantische Solidarität für die Wahrung von Frieden und Freiheit [... ]"66 beschworen und gleichzeitig die gemeinsamen Ziele sowie Bereiche der Kooperation umschrieben und die Konsultationen institutionalisiert. Während die Erklärung von 1990 "zu einer Zeit der Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich über die Zukunft der NATO ausgehandelt wurde" und "lediglich eine pflichtschuldige Bestätigung der Atlantischen Allianz, ihrer Grundsätze und Ziele"67 enthielt, ging die "Neue Transatlantische Agenda", die beim Gipfeltreffen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten am 3. Dezember 1995 in Madrid unterzeichnet wurde, einen entscheidenden Schritt weiter. Darin heißt es: "Wir bekräftigen die Unteilbarkeit der transatlantischen Sicherheit. Die NATO bleibt ftlr ihre Mitglieder das Erbstück der transatlantischen Sicherheit und sorgt ftlr die unerläßliche Verbindung zwischen Nordamerika und Europa. Eine weitere Anpassung der politischen und militärischen Strukturen der Allianz, so daß sowohl das volle Spektrum ihrer Aufgaben als auch die Entwicklung der im Entstehen begriffenen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität deutlich werden, wird den europäischen Pfeiler der Allianz stärken."68 Bemerkenswert war, daß sich die "Neue Transatlantische Agenda" auch klar zum Beitritt neuer Mitglieder zur NATO und Europäischen Union äußerte und feststellte, "diese Prozesse, die autonom, aber dennoch komplementär sind", sollten "wesentlich zum Ausbau von Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in ganz Europa beitragen. Die Unterstützung der Partnerschaft für den Frieden •s Leo Wieland, Zeichen der neuen Normalität in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Januar 1998. "" Texte beider Erklärungen in: Europa-Archiv 46 (1991), D 16-21 (16, 20). 67 So John Van Oudenaren, Die Neue Transatlantische Agenda, in: Internationale Politik 51 (1996), Nr. 5, S. 49-52 (50). 68 Text ebd., S. 111-132 (112).

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sowie des Nordatlantischen Kooperationsrats und die Schaffung einer Sicherheitspartnerschaft zwischen der NATO und Rußland sowie zwischen der NATO und der Ukraine werden zu einer beispiellosen Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen fUhren. Wir stärken die OSZE, damit sie ihren Möglichkeiten zur Verhütung destabilisierender regionaler Konflikte und zur Förderung der Aussichten auf Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Demokratie fllr alle gerecht werden kann."69 Nicht Obersehen werden sollte schließlich die weitere Feststellung, "unsere gemeinsame Sicherheit kann noch erhöht werden durch eine Stärkung und Bestätigung der Bande zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten innerhalb des Beziehungsgeflechtes, das uns schon miteinander verbindet". Darüber hinaus knüpft die "Neue Transatlantische Agenda" an die Transatlantische Erklärung von 1990 und die Schlußfolgerungen des Gipfeltreffens im Dezember 1995 an. Die "Neue Transatlantische Agenda" betont auch eine neue globale Dimension der Partnerschaft: "Wir sind uns der Verantwortung bewußt, die wir im Hinblick auf ein gemeinsames Vorgehen bei der Lösung von Konflikten in Krisengebieten, gemeinsamen präventiv-diplomatischen Maßnahmen, der Koordinierung unserer Unterstützungsanstrengungen, der Leistung humanitärer Hilfe und der Unterstützung von Entwicklungsländern bei ihrem Streben nach Wirtschaftswachstum und Selbstversorgung tragen." 70 Auch in Zukunft wird das europäisch-transatlantische Verhältnis nicht frei von Reibungen und Konflikten sein. Niemand vermag zu sagen, wann "Europa" vor allem in außen- und sicherheitspolitischen Fragen mit einer Stimme sprechen wird. Ebensowenig vermag man zu übersehen, welche Rechtsform Europa bei zunehmender Vertiefung und Erweiterung der Integration annehmen wird. Vieles hängt vom Verhalten der Mitglieder der Europäischen Union ab - vor allem von der Bereitschaft, ob sie zumindest langfristig die politische Integration Europas vorantreiben wollen und gewillt sind, auf Kompetenzen zu verzichten, über die sie jetzt noch in nationalstaatlicher Verantwortung verfUgen. Noch vermag auch niemand zu prophezeien, ob die Einfiihrung der gemeinsamen Europäischen Währung automatisch positive Auswirkungen auf die weitere politische Kooperation in der Union hat. So gilt es abzuwarten - um es zu wiederholen - , ob und inwieweit es zukünftig noch sinnvoll und opportun ist, "Europa" an den herkömmlichen Kriterien des "Staatenbundes" und "Bundesstaates" zu messen oder sich darauf einzustellen, daß dieser Kontinent so gravierend neue Formen der Kooperation entwickelt, daß es zutreffender ist, im Sinne des Bundesverfassungsgerichts von

69

Text ebd., S. 112 f.

70

Text ebd., S. 118. Vgl. dazu auch Van Oudenaren (Anm. 67), S. 50 f.

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einem "Staatenverbund" zu sprechen71 • Hier darf wohl daran erinnert werden, daß die Väter der europäischen Integration in den filnfziger Jahren fest davon überzeugt waren, ein Europa auf bundesstaatlicher Basis zu errichten72• Schließlich wird auch weiterhin darüber diskutiert werden, in welchem Verhältnis die nationalen Identitäten der zur Europäischen Union gehörenden Staaten zu der in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam formulierten "europäischen Identität" stehen. Frank R. Pfetsch hat in einer grundlegenden Analyse herausgearbeitet, daß die drei Formulierungen über "europäische Identität" in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam darauf hindeuteten, "daß sich der Identitätsbegriff der an der Gemeinschaft beteiligten Staaten eher als außenpolitische oder eigenstaatliche Selbstbehauptung denn als positive europäische Selbstbestimmung nach innen definiert. Der Text des EU-Vertrages bezieht die europäische Identität auf gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der einzelnen Staaten, die ihrerseits über nationale Identitäten verfilgen."73 Pfetsch weist hier nicht nur auf die Präambel zum Vertrag über die Eu71 Vgl. dazu oben Kap. IV mit den Nachweisen in den Anm. 35 f. Vgl. dazu aus der umfangreichen Literatur vor allem Bruno Kahl, Europäische Union: Bundesstaat - Staatenbund - Staatenverbund? Zum Uneil des BVerfG vom 12. Oktober 1993, in: Der Staat 33 (1994), S. 241-258; Andreas Follesdai/Peter Koslowski (Hrsg.), Democracy and the European Union, Berlin/Heidelberg 1998; Thomas Oppermann/C1aus Dieter Classen, Europäische Union: Erftlllung des Grundgesetzes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 28/93, S. 11-20; Hacker, Integration und Verantwonung (Anm. 1), S. 273-282. 72 Die hierzu vorliegende Literatur kann verständlicherweise nicht rekapitulien werden. Zu den grundlegenden Werken über die Entstehung und Entwicklung der Integration Europas ab Anfang der ftlnfi:iger Jahre gehön die umfangreiche Studie von Walter Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, '5. Uberarb. und erw. Auf!., DUsseldorf/Wien 1979. Unmißverständlich stellte Hallstein eingangs fest: "Es ist nicht wahr, daß begrifflich und tatsächlich der Nationalstaat die einzige gültige Verwirklichung politischer Einheit - und damit des Staatsgedankens - in unserer Zeit sei, wie man gelegentlich aus Frankreich hön [...] Jener französische Einwand übersieht vor allem was aus dem völligen Mangel fllderaler Erfahrung verständlich ist-, daß in Europa eine Föderation angestrebt wird, ein Bundesstaat, nicht ein Einheitsstaat. Im Bundesstaat aber bestehen die Gliedstaaten weiter, und zwar nicht bloß auf dem Papier. Sie werden nicht durch das größere Gemeinwesen aufgehoben. Wir Deutschen wissen das aus einer langen historischen Erfahrung und erleben es täglich in der Wirklichkeit der Bundesrepublik" (S. 13). Vgl. dazu auch die Ansprache, die Bundespräsident Kar! Carstens auf dem Staatsakt am 2. April 1982 in Stuttgart gehalten hat, mit dem Walter Hallstein verabschiedet wurde. Text in: Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.), Abschied von Walter Hallstein, Bonn 1982, S. 4-10 (8): "Nicht alle seine Ziele hat er erreicht. Der große Traum von der europäischen Föderation als eine Art europäischem Bundesstaat ist nicht verwirklicht worden. Dies ist seine größte Enttäuschung gewesen. Aber er hat Grundlagen gelegt und veneidigt [.. .]" Vgl. zur Problematik von Staatenverbindungen auch Alois Riklin, Die Europäische Gemeinschaft im System der Staatenverbindungen, Bem 1972; Hans-Peter Schwarz, Europa fllderieren - aber wie? Eine Methodenkritik der europäischen Integration, in: Gerhard Lehmbruch/Klaus von Beyme/lring Fetscher (Hrsg.), Demokratisches System und politische Praxis der Bundesrepublik, München 1971, S. 377-443. 73 Frank R. Pfetsch, Die Problematik der europäischen Identität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 25/98, S. 3-9 (3); Gisela MüllerBrandeck-Bocquet, Ein fllderalistisches Europa? Zur Debatte über die Föderalisierung und Regio-

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ropäische Union vom 7. Februar 199274 hin, sondern auch auf "Titel I Gemeinsame Bestimmungen", worin sich die Union u. a. "die Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene" als Ziel setzt (Art. B), um an anderer Stelle hinzuzufügen: "Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen" (Art. F)75 • Auch wenn man darüber streiten kann, ob es sinnvoll war, im Vertrag von Maastricht die "Identität Europas" so pronociert der "nationalen Identität" der Mitgliedstaaten gegenüberzustellen, sind die jeweils gewählten Fonnulierungen flexibel genug, das Verhältnis beider Identitäten zueinander vom weiteren Verlauf der Integration des Kontinents zu bestimmen.

7. Schlußbetrachtung Bei der Regelung der "deutschen Frage" 1989/90 hat die Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu den Organisationen des Westens, vor allem zur NATO und Europäischen Gemeinschaft eine, wenn nicht die entscheidende Rolle gespielt. An dieser Prämisse deutscher Außenpolitik, also der von allen demokratischen Kräften bejahten festen Verankerung der Bundesrepublik in der westlichen Wertegemeinschaft, darf auch in Zukunft nicht gerüttelt werden: "Bei dieser westlichen Verankerung muß es auch bleiben, nachdem der OstWest-Konflikt beendet ist. Die westlichen Werte brauchen zu ihrer Bewährung nicht etwa der sichtbaren Bedrohung durch den äußeren Feind. Freiheit und Gerechtigkeit gelten seit Artistoteles aus sich selbst heraus. Wir brauchen daher nicht weniger Partnerschaft mit den USA, sondern mehr, nicht weniger Integration in den Westen, sondern mehr."76 nalisierung der zukünftigen Europliischen Politischen Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 45/91, S. 13-25; dies., Der Amsterdamer Vertrag zur Reform der Europäischen Union - Ergebnisse, Fortschritte, Defizite, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 47/97, S. 21-29; Hans Schauer, Nationale und europäische Identität. Die unterschiedlichen Auffassungen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 10/97, S. 3-13. 74 Zit. oben in Kap. IV, Anm. 35. 75 Text in: Europäische Union- Europäische Gemeinschaft, (Anm.35), S. 20 f. Frank R. Pfetsch erinnert daran, daß die Außenminister der damals neun Mitgliedstaaten der Europliischen Gemeinschaft am 14. Dezember 1973 in Kopenhagen erstmals ein "Dokument über die europäische Identität" verabschiedet haben, das "als eine heute noch gültige offizielle Aussage über die europllische Identität" gelten könne; ders. (Anm.73), S. 3. Text (Auszug) der Dokumentation vom 14. Dezember 1973 bei Curt Gasteyger, Europa von der Spaltung zur Einigung. Darstellung und Dokumentation 1945-1997, Bonn 1997, S. 303-305; vollständiger Text in: Europa-Archiv 29 (1974), D 50-53. 76 So Bundespräsident Roman Herzog in seiner Rede beim Festakt zum 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Gesellschaft ftlr Auswartige Politik am 13. März 1995 in Bonn. Text der

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Von dieser zentralen Erkenntnis geht auch die Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen fiir den 14. Deutschen Bundestag aus: "Die USA sind der wichtigste außereuropäische Partner Deutschlands. Die enge und freundschaftliche Beziehung zu den USA beruht auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Interessen. Sie bleibt eine unverzichtbare Konstante der deutschen Außenpolitik. Pflege und Ausbau der deutsch-amerikanischen und der europäisch-amerikanischen Beziehungen sind Voraussetzungen ftlr eine Politik, mit der die neuen globalen Herausforderungen friedlich bewältigt werden können." 77 In seiner ersten Regierungserklärung vom 10. November 1998 hat Bundeskanzler Sehröder - im Gegensatz zur Koalitionsvereinbarung - das Verhältnis Deutschlands zu den USA vor dem Thema "Europäische Außen- und Sicherheitspolitik" behandelt: "Die Freundschaft mit Amerika ist eine Freundschaft, die sich bewährt hat und vor keiner Bewährungsprobe steht. Wir garantieren sie nicht nur aus Kontinuität und Bündnistreue heraus, nein, wir garantieren sie aus jenem Vertrauen, das nur aus partnerschaftlichem Miteinanderreden und Miteinanderfilhlen entstehen konnte. Wir stehen überzeugt zu unseren Verpflichtungen im Rahmen der Atlantischen Allianz. " 78 Die Absicht der neuen Bundesregierung, die Instrumente der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik auszubauen und zu nutzen, kann sie schnell unter Beweis stellen, da die Bundesrepublik Deutschland in der ersten Jahreshälfte 1999 die Präsidentschaft der Europäischen Union übernommen hat. Auch wenn es der neuen Bundesregierung unbenommen bleibt anzuregen, im Rahmen der NATO über konzeptionelle Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle zu diskutieren, handelte sie ungeschickt und undiplomatisch, in der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 festzuschreiben: "Zur Umsetzung der Verpflichtungen zur atomaren Abrüstung aus dem AtomwaffensperrVertragwird sich die neue Bundesregierung fiir die Absenkung des Alarmstatus

Rede unter dem Titel "Die Globalisierung der deutschen Außenpolitik ist unvermeidlich", in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 20 vom 15. Man 1995, S. 161-165 (162). Vgl. dazu das hohe Lob von Theo Sommer, Außenpolitik mit Augenmaß. Roman Herzog Ober Deutschlands Rolle in der Welt: Gute Tips ftlr Kabinett und Bundestag, in: Die Zeit vom 17. Man 1995. 77 Text in: Das Parlament (Anm. 21), S. 10; Text auch in: Internationale Politik 53 (1998), Nr. 12, S. 67-79 (74). Wenig hilfreich dazu die Analyse von Egon Bahr, "Amerika wird zum militärischen Schutz Europas nicht mehr gebraucht", in: Die Welt vom 12. November 1998. Mit den USA hatte Bahr schon vor der Zeitenwende von 1989 stets beachtliche Probleme, die sich keinesfalls auf strategische Streitpunkte beschränkten. Wenig Oberzeugend ist auch sein BOchlein: "Deutsche Interessen- Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik", MOnehen 1998. 71 Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (Anm. 21), S. 912; Text auch in: Internationale Politik 53 ( 1998), S. 84-91 .

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der Atomwaffen sowie fiir den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen." 79 Nicht nur in Paris und London, sondern auch und gerade in Washington stieß dieser Vorschlag, den dann Bundesaußenminister Fischer mehrfach zu begründen versucht hat, auf entschiedenen Widerspruch. So sah sich Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping u.a. bei seinem Antrittsbesuch in den USA genötigt, die Position seines Kollegen Fischer zu korrigieren. Die Amerikaner verhehlten und verhehlen nicht, daß sie sich als ftlr die Nuklearstrategie kompetent betrachten und nicht hinzunehmen bereit sind, daß die gültige Nuklearstrategie mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen von einem NATO-Mitglied in Frage gestellt wird80• Trotz des klaren Bekenntnisses zur Kontinuität unterscheidet sich das außenpolitische Programm der neuen Bundesregierung von ihrer Vorgängerio zumindest darin, daß Bundeskanzler Sehröder bestrebt ist, die Beziehungen zu Großbritannien auf eine Stufe zu stellen, die dem besonderen Verhältnis zu Frankreich entsprechen oder mmindest ähneln soll. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob dies auch den politischen Interessen der politischen Führung in London entspricht. Außerdem fallt auf, mit welcher Intensität und Verve die neue Bundesregierung die Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die Nachfolgeorganisation der KSZE, stärken möchte. Dabei will die amerikanische Administration sichergestellt wissen, "daß jede institutionelle Veränderung im Einklang mit den Grundprinzipien steht, die der atlantischen Partnerschaft seit 50 Jahren so gut gedient haben. Das bedeutet: Es darf keine Abkoppelung, Duplizität oder Diskriminierung geben." Die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright begründete dies so: "Erstens wollen wir eine Abkoppelung vermeiden: Die NATO ist Ausdruck der unerläßlichen transatlantischen Verbindung. Sie sollte eine Organisation souveräner Verbündeter bleiben, in der die europäische Entscheidungstindung nicht von der übergeordneten des Bündnisses abgekoppelt ist. Zweitens wollen wir Duplizität vermeiden: Die Verteidigungsmittel sind zu knapp bemessen, als daß die Verbündeten ihre Streitkräfteplanung, die Errichtung von Befehlsstrukturen und die Beschaffungs-Entscheidungen gleich doppelt vornehmen könnten - einmal innerhalb der NATO und erneut in der Europäischen Union. Und drit-

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Text in: Das Parlament (Anm. 21 ).

Vgl. dazu Karl Feldmeyer, Formvollendet lassen die Amerikaner ihre Verstimmung spUren. Fischers Aussagen zur Nuklearpolitik verderben Scharping den Antrittsbesuch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. November 1998; ders., Debakel beim Ersteinsatz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom I 0. Dezember 1998; RUdiger Moniac, Die Bonner Haltung zur Nato gibt Rätsel auf, in: Die Welt vom 16. November 1998; Fischer scheitert mit Atomwaffen-Vorschlag, in: Die Welt vom 9. Dezember 1998. 80

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tens wollen wir jede Diskriminierung von NA TC-Mitgliedern vermeiden, die nicht der EU angehören." 81 Der Grad der Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union und die westlichen Sicherheitsbündnisse sollte eigentlich ausreichen, um immer wieder zutage tretende Ängste im übrigen Europa ad absurdum zu fUhren. Deutsche Außen-, vor allem Europa-Politik muß jeden Anschein vermeiden, eine Isolierung in Kauf zu nehmen oder hegemoniale Gelüste zu entwickeln. Auf der anderen Seite erwartet man von Deutschland ein erhöhtes Engagement und die Bereitschaft, couragiert die "nationalen Interessen" des Landes zu definieren. Es ist gut zu wissen, daß sich die fUhrenden außenpolitischen Repräsentanten der Parteien dieser Problematik bewußt sind. Das verdeutlichten schon die Überschriften der "Reden zur Außenpolitik der Berliner Republik", die von Mitte 1997 bis Mitte 1998 auf Einladung der Deutschen Gesellschaft fllr Auswärtige Politik in Berlin gehalten wurden. Während Wolfgang Schäuble sein Referat "Die Bewährungsprobe der Normalität" überschrieb, wählte Rudolf Scharping diesen Titel: Selbstbewußt und zurückhaltend zugleich. Joseph Fischer sprach davon, "die Selbstbeschränkung der Macht muß fortbestehen". Weniger aussagekräftig waren die Überschriften der Vorträge von Hermann Otto Solms "Das Schicksal vieler Völker entscheidet sich in der Außenpolitik" und Bundesaußenminister Kinkel "Deutsche Außenpolitik vor der Herausforderung der Globalisierung". Nur Michael Glos, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, gab seinem Referat eine aussagekräftigere Überschrift: "Die Option des Heraushaltens gibt es nicht mehr - Bekenntnis zu deutschen lnteressen"82• Erfreulicher11 Madeleine Albright, "Die Nato muß größer und flexibler werden", in: SUddeutsche Zeitung vom 7. Dezember 1998. Vgl. zur Einordnung der OSZE Jasper von Altenbockum, Adlerauge, sei wachsam - Die OSZE und der Streit um die Hegemonie in der Sicherheitspolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Dezember 1998. In Oslo fand Anfang Dezember 1998 die Ratstagung der Außenminister der OSZE-Mitglieder statt. Zur Bonner Position bemerkte der Autor: "Eines der wichtigsten Ergebnisse des Treffens von Oslo war der Seitenwechsel Deutschlands nach dem Bonner RegierungswechseL Die Äußerungen aus der deutschen Delegation ließen kaum RUcksicht aufNato-lnteressen erkennen. Angesichts solcher neudeutscher OSZE-Gläubigkeit wurden manche Nato-Anwärter wie die im Baltikum, die sich Hoffnungen auf deutsche Unterstützung fllr eine schnelle zweite Erweiterungsrunde der Nato machen, blaß im Gesicht. Aus Deutschland hieß es dazu mit anderen Worten, die Nato sei selbst schuld, wenn man jetzt stärker auf die OSZE setze, nachdem sich herumgesprochen habe, daß Aspiranten im Osten nur 'vertröstet' wUrden. Stärker fllr das deutsche OSZE-Engagement wiegt jedoch, daß man die Nato einseitig mit Militär, die OSZE aber mit 'ziviler Kooperation' verbindet." 12 Texte der Reden Schäubles, Scharpings, Solms', Glos', Fischers und Kinkeis sowie Alfted Grossers, in: Karl Kaiser (Hrsg.), Zur Zukunft der deutschen Außenpolitik- Reden zur Außenpolitik der Berliner Republik, Bonn 1998. Vgl. zur Diskussion Uber die deutsche Außenpolitik in der Zeit vor dem Regierungswechsel in Bonn im September/Oktober 1998 Sven Papcke, Zur Neuorientierung deutscher Außenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 12/98, S. 3-13; Mattbias Zimmer, Return ofthe Mittellage? The discourse of the Centrein German Foreign Policy, in: German Politics 6 (1997), Heft I,"· 23-38.

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weise fUhrt auch ein sorgfaltiges Studium dieser Texte zu dem Ergebnis, daß alle politisch verantwortlichen Kräfte im staatlich wiedervereinigten Deutschland die "deutschen Interessen" gleich oder zumindest sehr ähnlich umschreiben. Während bis zum Bonner Regierungswechsel im September/Oktober 1998 die Formel "Berliner Republik" nur gelegentlich in der Publizistik gebraucht wurde, ohne damit bestimmte programmatische Aussagen zu verbinden, hat Bundeskanzler Sehröder in seiner ersten Regierungserklärung vom 10. November 1998 die Termini "Bonner Demokratie" und "Berliner Republik" prononciert einander gegenübergestellt: "Wir gehen nicht nach Berlin, weil wir in Bonn gescheitert wären - ganz im Gegenteil: Das vierzigjährige Gelingen der Bonner Demokratie, die Politik der Verständigung und guten Nachbarschaft, die Leuchtkraft eines Lebens in Freiheit haben dazu beigetragen, die deutsche Teilung zu überwinden und das zu ermöglichen, was heute gemeinhin 'Berliner Republik' genannt wird. Jürgen Habermas und viele andere erhoffen sich von dieser 'Berliner Republik' ein 'ziviles Land, das sich kosmopolitisch öffnet und behutsam-kooperativ in den Kreis der anderen Nationen einfilgt'."13 Um alle Zweifel auszuräumen, er verbinde mit der Formel "Berliner Republik" eine grundlegend neue deutsche Außenpolitik, fUgte der Bundeskanzler hinzu: "Aber es hat in der öffentlichen Diskussion auch Einwände gegen diesen Begriff gegeben. Manchen klingt 'Berlin' immer noch zu preußisch-autoritär, zu zentralistisch. Dem setzen wir unsere ganz und gar unaggressive Vision eine 'Republik der Neuen Mitte' entgegen. Diese Neue Mitte grenzt niemanden aus. Sie steht filr Solidarität und Innovation, filr Unternehmungslust und Bürgersinn, filr ökologische Verantwortung und eine politische Führung, die sich als modernes Chancen-Management begreift. Symbolisch nimmt diese Neue Mitte Gestalt an in Berlin- mitten in Deutschland und mitten in Europa [ ... ]" Da gelegentlich zumindest im Ausland gefragt wurde, ob die Formel "Berliner Republik" aus deutscher Sicht wirklich ausschließlich filr Kontinuität stehe, sah sich Bundespräsident Roman Herzog anläßtich des Neujahrsempfangs des Diplomatischen Corps in Berlin genötigt, um den Staaten der Welt zu versichern, daß sie sich auch angesichts des Umzugs in die "Berliner Republik" nicht "um die Politik Deutschlands sorgen müssen [... ] die Koordinaten deutscher Politik werden sich auch nach dem Regierungswechsel und dem Umzug nach Berlin nicht verändern. Gelegentliche Sorgen, die sich mit historisch belasteten Vorstellungen über eine angeblich filr die Versuchungen der Macht anflUligere 'Berliner Republik' verbinden, halte ich ftlr grundlos."84 Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (Anm. 21 ), S. 911 . Zitiert in dem Bericht "Herzog: Keine Sorge vor 'Berliner Republik"', in: Der Tagesspiegel vom 14. Januar 1999. Vollstandiger Text der Ansprache des Bundespräsidenten vom 13. Januar 13

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Eine neue Rolle Deutschlands im internationalen Kräftefeld?

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Der Berliner Politikwissenschaftler Hartmut Jäckel hat kürzlich besonders eindrucksvoll und überzeugend die Problematik unter dem Titel "'Berliner Republik' -ein falsches Etikett" auf den Punkt gebracht: "Wird also gar nichts anders? Nein, dieser Schluß wäre falsch. Abgesehen davon, daß ein freiheitliches Gerneinwesen ohnehin unaufhörlichem Wandel unterworfen ist, dürfte der Hauptstadtwechsel zumindest den Stil der deutschen Politik prägen. Wer täglich durch das stärker pulsierende Leben einer facettenreichen und geschichtsträchtigen Metropole herausgefordert wird, denkt und agiert sicherlich anders, offener, kritischer, vielleicht auch souveräner als in dem engeren Ambiente Bonns. Überdies wird mancher Ostdeutscher endlich das Geftlhl verlieren, zuwenig wahrgenommen zu sein. Ein lebendiger Genius loci vermag viel. Das ist Berlins Stärke. Sie läßt im Verein mit den Bonner Tugenden keine neue Republik entstehen, wohl aber einen Effekt, der nach Belieben als Ruck, als Aufbruch oder einfach als ein Mehr an Weltläufigkeit gedeutet werden kann." 85 In diesem Sinne bestehen gegen die Kennzeichnung "Berliner Republik" keine Bedenken, wenn allerdings auch zu beachten ist, daß in der Vergangenheit zwar von "Bonner Demokratie", nicht aber von der "Bonner Republik" gesprochen worden ist.

1999 in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 3 vom 19. Januar 1999, S. 26-28 (27). Vgl. auch die Ansprache von Bundesprllsident Roman Herzog anläßlich der Verleihung der EhrendoktorwUrde Berlins an ihn mit dem Titel: "Ein Ortswechsel - kein Richtungswechsel"; Text, ebd., Nr. 6 vom 9. Februar 1999, S. S7 f. (S8): "Der Umzug vom Rhein an die Spree ist ftlr die Bundesrepublik ein Ortswechsel, kein Richtungswechsel." Programmatische Aussagen zur Außenpolitik machte der Bundesprllsident in seiner Eröffnungsansprache zum Weltwirtschaftsforum Davos am 28. Januar 1999; Text, ebd., Nr. 9 vom 2S. Februar 1999, S. 97- 101. Darin benutzte er prononciert die vornehmlich von Carl Friedrich von Weizslk:ker entwickelte Formel "Weltinnenpolitik". Vgl. dazu Ulrich Bartosch: Weltinnenpolitik-ZurTheorie des Friedens von Carl Friedrich von Weizsacker, Berlin 199S. " Hartmut Jäckel, "Berliner Republik" - ein falsches Etikett, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Januar 1999.

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Gerald R. Kleinfeld IST DEN DEUTSCHEN ZU TRAUEN? DAS AUSLAND UND DAS VEREINIGTE DEUTSCHLAND 1. Wandlungen vor 1989/90

Westdeutschland gibt es nicht mehr. Ist den Deutschen zu trauen? Das Ausland und das vereinigte Deutschland? Zunächst möchte ich Ihnen sagen, daß ich mir nicht zutraue, aus einer globalen Sicht eine Antwort auf das global gestellte Thema zu geben. Wem wUrden Sie glauben, daß er ftlr alle Nationen eine richtige Analyse Uber die Frage abgeben könne, die mein Thema beinhaltet? Es gebietet mir die intellektuelle und wissenschaftliche Redlichkeit, daß ich die Frage, ob das wiedervereinigte Deutschland eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik ist, aus der Sicht eines Amerikaners beantworte. Aber ich bin sicher, daß meine Antwort identisch ist mit der Position, die zum Thema in den wichtigsten Länder dieser Welt besteht. Dies sind meine Thesen: Aus meiner Sicht begannen die Vereinigten Staaten ihre Betrachtungsweise Deutschlands bereits vor der Wiedervereinigung zu ändern. Deutschland befand sich bereits vor der Wiedervereinigung in einem Wandlungsprozeß. Vieles von dem, was wir als Resultat der Wiedervereinigung betrachten, ist in Wirklichkeit das Ergebnis einer fortdauernden Metamorphose, eines Reifungsprozesses der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung 1949. Während sowohl die Sichtweise der Vereinigten Staaten und die Deutschlandpolitik der USA als auch die deutsche Politik bereits vor I 989 sich in einem Wandel befand, wurde dieser Prozeß für beide Seiten wesentlich beeinflußt durch die epochalen Ereignisse von 1989 und 1990. Deutschlands politische und ökonomische Rahmenbedingungen haben sich seit der Wiedervereinigung nicht wesentlich verändert, aber beide befmden sich in einer Situation, die man als "neuen Streß" bezeichnen könnte. Dieser Streß fmg vor der Wiedervereinigung an, und auch das wiedervereinigte Deutschland muß sich mit ihm auseinandersetzen. Anders ausgedrUckt: Es gab vor allem im ökonomischen Bereich bereits vor 1989 einen Modernisierungsdruck, der durch die Wiedervereinigung lediglich verzögert, aber nicht aufgehoben worden ist. Deutschlands europäische, transatlantische und globale Beziehungen wurden vor 1990 geschaffen, und sie bilden bis heute die außenpolitischen Rahmen-

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bedingungen für das vereinigte Land. Auch diese sehen sich einer steten Evolution ausgesetzt, die ebenfalls vor 1989 zurückreicht Was die deutsch-amerikanischen Beziehungen angeht, so hatten sich diese bereits vor 1990 hin zu einer echten Partnerschaft entwickelt, die durch die Wiedervereinigung Deutschlands eine neue Dimension erhalten hat. 1 Es gibt eine neue transatlantische Beziehung, die u.a. dadurch gekennzeichnet ist, daß die Weltpolitik heute nur noch von einem überlebenden Hegemon geprägt wird. Pies beeinflußt die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Folglich entwickeln sich diese weiter, und zwar auf Grund der veränderten sicherheitspolitischen Lage in einem stärkeren Maße als in der Vergangenheit, aber gleichwohl existiert die institutionelle Struktur der Partnerschaft weiter. Die Kontinuität ist evident, gleichzeitig ist der Wandel offensichtlich. Wenn ich die Frage diskutiere, wie das Verhältnis des Auslands zum vereinigten Deutschland aussieht, so geschieht dies zuerst mit einer Analyse der inneren Faktoren der deutschen Politik und dann mit einer Analyse der internationalen Beziehungen. Denn im Ausland wird sehr sorgfältig beobachtet, was im Innern Deutschlands vor sich geht. Selbst wenn die selektive Wahrnehmung der amerikanischen Medien nur bestimmte Ausschnitte der deutschen Innenpolitik behandelt, so darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die verschiedenen Eliten der USA sehr sorgfältig registrieren, was in der Bundesrepublik geschieht. Die amerikanische Wirtschaft beobachtet die Ökonomie der Bundesrepublik genau. Die kulturellen Eliten verfolgen, was in Berlin und anderswo vor sich geht. Die politische Elite beobachtet die Entwicklungen im Bund, aber auch in den einzelnen Ländern. Man darf also nicht den Fehler begehen, das Deutschlandbild der Amerikaner und die Deutschlandpolitik der USA nur aus der "New York Times" abzuleiten. Das wäre nicht nur einseitig, sondern auch irreführend. Und Ähnliches gilt auch für Großbritannien, Frankreich, Spanien und Länder wie Polen, Ungarn und selbst Japan oder Indonesien, Südkorea, Thailand usw.

2. Veränderung der wirtschaftlichen Lage Was die deutsche Innenpolitik angeht, so ist fllr den Analytiker die Frage der Ökonomie besonders interessant. Hat sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands seit der Wiedervereinigung verändert? Viele Veränderungen, die nach 1990 offensichtlich wurden, zeichneten sich bereits vorher ab. Dies hatte man in den USA registriert. Der wirtschaftliche Modernisierungsdruck war Beobachtern auf beiden Seiten des Atlantik vor 1989 evident. In den USA ging man davon aus, daß die Bundesrepublik ihre Politik der ökonomischen Integration in 1 Vgl. Erhard Fomdran, Die Vereinigten Staaten von Amerika und Europa, Baden-Baden 1991 , S. 182; Hans W. Gatzke, Germany and the United States: A Special Relationship?, Cambridge 1980, S. 279.

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Westeuropa konsequent fortsetzen würde; gleichzeitig begannen Amerikaner jedoch damit, verstärkt deutsches Investitionskapital über den Atlantik zu ziehen. Während in Deutschland die Lohnkosten und die Lohnnebenkosten dramatisch gestiegen waren, blieben diese in den USA in einer ftlr Investoren sehr attraktiven Weise niedrig. Unternehmensfusionierungen wirkten sich darüber hinaus kostendämpfend aus. Die vorzüglichen Leistungen des deutschen Sozialsystems hatten und haben einen negativen Effekt hinsichtlich des Auslandskapitals. Sie wirken nämlich eher abschreckend auf Manager, die ihre Entscheidungen angesichts eines scharfen globalen Wettbewerbs zu treffen haben. Wenn ich es richtig sehe, hat keine der fUhrenden deutschen Parteien auf dieses Problem entschieden reagiert. Zwar hat die Bonner Regierung sich verschiedentlich dazu geäußert und wohl auch einige kleinere Schritte unternommen, aber es gibt in der Bundesrepublik keine Maßnahmen, die mit dem dramatischen Reformwerk, das Margret Thatcher und die Konservativen in Großbritannien und das Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten unternahm, vergleichbar wäre. Ein Ergebnis dieser deutschen Immobilität besteht darin, daß die Amerikaner die westdeutsche Wirtschaft als außerordentlich verwundbar durch internationale Wettbewerber betrachten und diese nur noch einigermaßen geschützt sehen durch eine exzellente Produktivität, die Konzentration auf Spitzenprodukte in einzelnen Industriebereichen und durch einen in der Tat außerordentlich wettbewerbsflihigen Mittelstand. Was Westdeutschlands Integration in die westeuropäische Staatengemeinschaft angeht, so kann man diese als eine Antwort auf ökonomische und außenpolitische Herausforderungen betrachten. Das Gros der deutschen Exporte ging und geht in die Staaten der Europäischen Union, und durch die EU besitzt Deutschland eine größere Basis, um als Wettbewerber auf den globalen Märkten aufzutreten. Sind dies Vorteile der europäischen Integration, so reichten sie aber schon in den achtziger Jahren kaum noch aus, um die Probleme der deutschen Landwirtschaft und auch der deutschen Industrie zu lösen. Was man heute als Reformstau diskutiert, gab es bereits in den 80er Jahren, und es wurde auch damals diskutiert, wenngleich angesichts weitaus niedrigerer Arbeitslosenzahlen mit geringerer Resonanz. Die Probleme wurden nicht als so entscheidend angesehen, und alle politischen Parteien zögerten, die Strukturen der sozialen Marktwirtschaft kritisch zu überdenken. Es galt als unvorstellbar, die amerikanischen oder die britischen Wirtschaftsreformen als Modell zu betrachten, und ein solcher Versuch wäre wahrscheinlich auchangesichtsder kulturellen Unterschiede zwischen Deutschen und Anglo-Amerikanern gescheitert. Während Amerikaner den Einfluß des Staates auf die Wirtschaft eher verurteilen, war der größte Arbeitgeber in Westdeutschland die Post. Lange Zeit lehnten die Deutschen umfassende Privatisierungen ab, und auch die Hinweise auf den Ausbau des Dienstleistungssektors fanden wenig Resonanz. Die

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Verschlankung der Wirtschaft setzte nur zögerlich ein, statt dessen verlangten die Gewerkschaften kürzere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich. Während asiatische und amerikanische Produkte billiger wurden, ging dieser Prozeß in Deutschland weiter, wodurch das Land seine Wettbewerbsfähigkeit immer mehr verlor. Teilzeitarbeit, Ladenöffnungszeiten, flexible Arbeitszeitkonten und flexible Tarifbestimmungen, all das waren in der deutschen Gesellschaft nicht besonders beliebte Themen. Auch die deutsche Geschäftswelt zeigte sich nicht gerade fuhrend im Prozeß des globalen Strukturwandels, wie ein Blick auf den Einsatz von Computertechnologien in deutschen Unternehmen und auf andere verwandte Gebiete verdeutlicht. Die soziale Marktwirtschaft bietet lange Urlaubszeiten, gute Sozialleistungen und einen allgemeinen Wohlstand. Die Produktivität schien auszureichen. Was die soziale Marktwirtschaft und die deutsche Politik nicht leisteten, war genügend Innovation, um auf die Herausforderungen reagieren zu können, die von anderen Märkten ausgingen. Die Folgen sind schmerzhaft: Die Arbeitslosigkeit stieg dramatisch an. Während diese Probleme bereits in den 80er Jahren erkennbar waren, ereignete sich am Ende des Jahrzehnts die Wiedervereinigung, durch welche die öffentlichen Kassen plötzlich mit enormen Kosten belastet wurden. Viel Geld ging in den Wiederaufbau Ostdeutschlands, vieles floß auch in die Taschen der ostdeutschen Verbraucher, die zunächst einmal verständlicherweise ihre Konsumbedürfnisse befriedigten. Die steigenden Konsumausgaben 1990 und in den folgenden Jahren sorgten ftir einen konjunkturellen Aufschwung, der zusammen mit einer Vielzahl neuer Probleme, die durch die Wiedervereinigung auftauchten, öffentliche Aufmerksamkeit beanspruchte. Deshalb ließ der so dringend erforderliche Reformdruck auf die Wirtschaft nach. Die neuen Bundesländer erhielten nicht nur Milliarden aus dem Westen, sondern auch eine Unzahl von bürokratischen Regelungen, Gesetzen, Praktiken und anderen Systemkennzeichen, die sich als modemisierungshemmend erwiesen hatten. Die Produktivität im Osten war niedriger als im Westen, aber in scharfem Gegensatz dazu lagen auch die Produktionskosten höher, und nicht zuletzt die Erwartungen der betroffenen Menschen waren gewaltig. 17 Millionen neue Bundesbürger hofften auf eine funktionierende, erfolgreiche und leistungsfähige soziale Marktwirtschaft. Daß sich genau dieses System der sozialen Marktwirtschaft bereits unter Streß befand, konnten die Westdeutschen ignorieren, weil sie nunmehr die Vorstellung entwickelten, alle Schwierigkeiten rührten von den ökonomischen Folgen der Wiedervereinigung her. 2 In Wirklichkeit rührten die Probleme der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland aus

2

Siehe R. Gerald Livingston, Life after Kohl, in: Foreign Affairs 76 (1997), Heft 6. S. 2-7.

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den Schwierigkeiten dieses Systems her, mit den globalen Herausforderungen fertigzuwerden. 3 Ich übersehe gewiß nicht, daß ein erheblicher Teil der ökonomischen Probleme des vereinten Deutschlands durch die enormen Anstrengungen verursacht wird, Ostdeutschland zu integrieren, zu modernisieren und wieder aufzubauen. Ich übersehe nicht, daß das kommunistische Regime seinen Herrschaftsbereich ausgebeutet, die Umwelt vergiftet und die Ressourcen zerstört hat. Zur Hinterlassenschaft der SED-Diktatur gehören Wirtschaftsruinen, Gebäuderuinen, Verkehrsruinen und ein vorsintflutliches Kommunikationssystem. Allein der Aufbau dieser Bereiche kostet Billionen Mark. Wahrscheinlich noch schwieriger sind die Probleme, die die Bevölkerung hat, sich neuen Verhältnissen anzupassen, neu zu lernen, um sich in einerneuen Umgebung erfolgreich zu betätigen. Aber es scheint mir besonders wichtig zu sein zu betonen, daß zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung der Westen Deutschlands sich eben nicht äußerster Gesundheit erfreute. Im Gegenteil: Das westdeutsche System und mit ihm seine Krankheitssymptome wurden auf den Osten übertragen. Es ist abwegig zu glauben, daß die heutigen Probleme Ostdeutschlands darin bestehen, wie lange Subventionen aus dem Westen gezahlt werden. Das ist wieder nur ein Kurieren an den Symptomen. In Wirklichkeit steht der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland die Anpassung an eine neue globale Ordnung bevor. Wenn ein konservativer westdeutscher Politiker amüsiert feststellt, daß Tony Blair sich rechts von der CDU befindet, dann drückt er damit sein Interesse an einer deutschen Lösung der Arbeitslosenrate und der ökonomischen Probleme aus, und er deutet seine Überzeugung an, daß eine solche Lösung sich stark von angelsächsischen Herangehensweisen unterscheiden möge. Mir scheint, diese Auffassung bewegt sich im mainstream der deutschen Diskussion. Tatsächlich können wir heute ein ganzes Bündel von Einzelmaßnahmen beobachten, zu denen neue Verhandlungsweisen zwischen Untemehmensvertretern und Gewerkschaften, mehr Flexibilität auf den Arbeitsmärkten, längere Öffnungszeiten der Geschäfte, die Ausdehnung von Maschinenlaufzeiten etc. gehören. Insgesamt betrachtet erwecken sie durchaus den Eindruck, als würde Deutschland heute endlich Modernisierungen in Angriff nehmen, wie sie in den USA und in Großbritannien vor fast 20 Jahren begannen. Heute hat Deutschland über 4 Millionen Arbeitslose, und es scheint, als hätte die Gesellschaft begriffen, daß das System in seiner bestehenden Form nicht mehr erfolgreich ist. Zusammenfassend kann man feststellen, daß die ökonomischen Probleme Deutschlands keinesfalls neu, aber heute nicht zuletzt wegen der Folgen der 1 Vgl. W. R. Smyser, The German Economy: Colossus at the Crossroads, 2. Aufl., New York 1993, S. 3 I -34, 295-303 .

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Wiedervereinigung besonders dringlich sind. Die Wiedervereinigung hat die Lage verschärft. Der kontinuierliche Fluß deutscher Investitionen in den Vereinigten Staaten in den 80er und auch in den 90er Jahren belegt eindeutig, wo sich Investitionen besser lohnen. Die niedrige Investitionsrate in Deutschland selbst, ganz zu schweigen von der extrem niedrigen Rate amerikanischer und anderer Auslandsinvestitionen in der Bundesrepublik, ist ebenfalls ein Indikator fiir den Ernst der Lage. Es ist offensichtlich, daß die Deutschen auf die Regierung schauen, von der sie eine Lösung ihrer Probleme erhoffen. Amerikaner würden in dieser Situation eher auf die Wirtschafts- und Arbeitswelt schauen und fragen, ob die dortigen Praktiken oder gar die Ziele nicht ausreichen, um einen nationalen Wirtschaftsaufschwung zu ermöglichen. Deutschlands fortgesetzter Exportboom, begleitet und teilweise verursacht durch eine schwächere D-Mark, zeigt, daß die deutsche Wirtschaft stärker ist als mancher Kritiker vermutet. Auch einige Befiirworter des Euro hoffen auf eine weichere Währung. Diese Kreise, die so eine expandierende Wirtschaft erwarten, sehen den Euro als ein Mittel zur Export-Förderung, was die D-Mark, die emotional so stark mit Stabilität gekoppelt ist, nicht ist. 3. Veränderung der innenpolitischen Verhältnisse

Die zweite Frage, die ich diskutieren möchte, lautet: Haben sich die politischen Verhältnisse seit der Wiedervereinigung verändert? Institutionen spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung einer Gesellschaft und bei deren Entwicklung. Für die Institutionen der Bundesrepublik Deutschland gilt cum grano salis, was bereits hinsichtlich der sozialen Marktwirtschaft festgestellt wurde. Sie zeichnen sich durch Kontinuität aus, aber sie befinden sich zugleich im Wandel. Die wichtigste Institution von allen ist das Grundgesetz, die freiheitliche Verfassung der Bundesrepublik. Wir Amerikaner sind stolz darauf zu sagen, daß wir eine Verfassungsnation sind, a "constitutional people". Wir konstituieren uns als Nation nicht durch Ethnizität, sondern durch eine gemeinsame Weltanschauung, die durch die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika repräsentiert wird. Es handelt sich dabei um die nunmehr älteste geschriebene Verfassung der Welt. Was alljene übersehen, die uns als junge Nation zu betrachten gewohnt sind: Die USA sind ein Land mit großen Traditionen. Es gibt auf der ganzen Welt kein Land, das eine ältere geschriebene Verfassung besitzt. Die Verfassung der Bundesrepublik ist dagegen jung. Aber genau wie die amerikanische Verfassung beinhaltet sie ein Wertesystem. Auch das Grundgesetz steht fiir eine Weltanschauung, fiir die freiheitlichdemokratische Grundordnung. Es ist ein Organisationsstatut und eine Weltanschauung zugleich. Man könnte vielleicht sogar von einer Philosophie des Grundgesetzes sprechen, und diese ist im neuen, vereinten Deutschland ebenso lebendig, wie sie es in der alten Bundesrepublik war. Gewiß gibt es Probleme.

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Beispielsweise existieren zu viele einzelne Bundesländer. Insgesamt jedoch handelt es sich um eine ausgesprochen erfolgreiche Verfassungsordnung, die den Deutschen Kontinuität garantiert. Das Grundgesetz gehört zu den kontinuierlichen Rahmenbedingungen, die auch Ostdeutschland einbinden. Aber es ist eine lebende Verfassung. Das bedeutet, sie paßt sich dem politischen und gesellschaftlichen Wandel an. Wandel gehört zu ihren inhärenten Prinzipien. Wenngleich auch die staatlichen Institutionen und die politischen Parteien fortexistieren, so entstehen doch neue Beziehungssysteme, und die Parameter verändern sich im Laufe der Zeit. Die Verfassung als solche bildet die stabile Basis. Sie ist als Grundordnung eine unveränderliche Rahmenbedingung. Zum Wandel, den wir Amerikaner sehr gut verstehen, weil unsere Geschichte dafiir genügend Beispiele bietet, gehört in Deutschland die Rolle der kleineren Parteien. Man kann kaum voraussagen, was mit der FDP geschehen wird; und Veränderungen bei den Grünen waren bereits vor 1989 erkennbar. Die Grünen sind inzwischen Regierungspartei in mehreren Bundesländern und - seit 1998 - im Bund. Differenzen zwischen solchen Persönlichkeiten wie Joschka Fischer, Jürgen Trittin und Christian Ströbele sind evident; ebenso evident ist der Machtwille der Partei - und zwar bei allen Richtungen. Ein wirklich neuer Faktor im deutschen Parteiensystem ist die PDS. Während die PDS kaum in der Lage zu sein scheint, die Machtverhältnisse im Bundestag zu beeinflussen, sieht deren Rolle in den ostdeutschen Ländern ganz anders aus. Dort bringen es die Mehrheitsverhältnisse mit sich, daß manche Landesregierung ohne den Machtfaktor PDS nicht gebildet werden kann. 4 Die Beispiele Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sind bekannt. Man kann im Hinblick darauf argumentieren, daß die Berliner Republik sich tatsächlich von der Bonner Republik unterscheidet. 5 Denn etwas Vergleichbares hat es früher nicht gegeben. Allerdings kannte auch die alte Bundesrepublik Parteien, die eher am Rande des politischen Spektrums standen, die aber, wie die PDS heute, innerhalb der Rahmenbedingungen des politischen Systems arbeiteten. Dennoch darf man nicht übersehen, daß die PDS ein anderes System anstrebt. Der Wandel der politischen Kultur in Deutschland ist nicht allein das Ergebnis oder eine Folge der Wiedervereinigung. Es ist auch das Ergehens eines Reifungsprozesses innerhalb der europäischen Ordnung selbst. Die deutsche Gesellschaft entwickelt sich heute, einschließlich der östlichen Bundesländer, innerhalb der demokratischen politischen Kultur, die sich seit 1949 in der Bundesrepublik entfaltet hat. Seit 1990 bildet sie die Grundlage auch fiir die ' Vgl. David Conradt/Gerald R. Kleinfeld/George K. Romoser/Christian Soe, Germany's New Politics, Providence 1995, S. 221-254. 5

9.

Daniel S. Hamilton, Beyond Bonn: America and the Berlin Republic, Washington 1994, S.

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Entwicklungen in den neuen Bundesländern. Und diese politische Kultur ist Teil des größeren Kontextes der europäischen und transatlantischen Staatengemeinschaft. Die demokratische politische Kultur ist das Bindeglied unserer transatlantischen Gemeinschaft. Zwar gibt es nach wie vor Unterschiede. So sind die Deutschen, wie ich bei der Diskussion der sozialen Marktwirtschaft bereits ausführte, stärker auf den Staat fixiert als wir Amerikaner oder die Briten, und in dieser Hinsicht vielleicht etwas mehr den Franzosen verwandt. Doch diese Unterschiede gehören zur pluralistischen Struktur unserer demokratischen Staatengemeinschaft. Mit Interesse verfolgen wir Amerikaner; welche besonderen Wege die Deutschen gehen. Ein Beispiel ist das Hochschulrahmengesetz. Manche Amerikaner werden geneigt sein, das vorläufige Scheitern dieses Gesetzentwurfes auf die deutsche Unflihigkeit zurückzuführen, durch Reformen ihre Schwächen auszugleichen. Zweifellos befindet sich das deutsche Hochschulsystem in einem reformbedürftigen Zustand, muß man die deutsche Universität als eine Universität in der Krise bezeichnen. Es wäre jedoch verfehlt, das Schicksal des Hochschulrahmengesetzes und die Schwierigkeiten bei der Hochschulreform darauf zurückzuführen, daß das vereinte Deutschland noch keinen Weg in die Zukunft gefunden habe. Ich selbst beurteile die Verhältnisse nicht so pessimistisch. Das politische System funktioniert, und es gibt Versuche in Deutschland, die Probleme zu lösen und die Schwierigkeiten zu überwinden, dabei aber sowohl die kulturellen als auch die politischen Verhältnisse zu berücksichtigen. Mit Interesse verfolgen wir, daß einige Hochschulpolitiker in der Bundesrepublik Deutschland, um auf unser Beispiel zurückzukommen, amerikanische Konzepte sorgfältig studieren. Man spricht über Studiengebühren, sollte aber berücksichtigen, daß das amerikanische Hochschulsystem ein weitaus größeres Netzwerk von Stipendien kennt. Man muß auch berücksichtigen, worauf Peter Glotz und Michael Daxner hingewiesen haben, daß die Veränderungen eines Elementes unweigerlich Auswirkungen auf andere Elemente haben. Wenn man Studiengebühren einführt, muß der Arbeitsmarkt flexibler werden flir Studierende, die Teilzeitbeschäftigung anstreben. Amerikaner und Ausländer generell neigen dazu, ihre eigenen Lösungsansätze vorschnell auf andere Systeme übertragen zu wollen. Es gibt keine amerikanischen Lösungen für deutsche Probleme. Das gilt ftlr die Hochschulgesetzgebung ebenso wie filr die anderen Bereiche. Wenn es heute in Deutschland Unsicherheiten über den Kurs der Veränderungen gibt, dann hat das weniger mit den Folgen der Wiedervereinigung als vielmehr mit den globalen Herausforderungen zu tun. Dennoch kommt man bei einer Diskussion von Kontinuität und Diskontinuität nicht umhin festzustellen, daß es in der heutigen Bundesrepublik etwas gibt, was die Bonner Republik nicht kannte: Es gibt heute ein deutsches mezzogiorno, eine Region ökonomischer Schwäche und politischer Fragilität. Die schon angesprochene Rolle der PDS im Osten beweist dies. Der langwierige

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Prozeß des Wiederaufbaus Ost und die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern verlangen Anstrengungen, die weitaus größer und zeitraubender sind, als vennutet worden war. Dies hat Auswirkungen auf das ganze Land, und es wirkt sich auch auf dessen Außenpolitik aus. Zum schon vor 1989 existierenden Modernisierungsstreß kam 1990 der WiedervereinigungsstreB hinzu. Niemand verlangt jedoch in Deutschland einen revolutionären Wandel, wenn man einmal von der PDS absieht. Die hauptsächlichen politischen Kräfte beschreiten den Weg der Evolution. Die Frage ist, ob bei andauerndem Streß und größer werdenden Problemen Diskontinuitäten die Oberhand gewinnen. Einige Amerikaner warnen davor, daß Deutschland abdriftet. Abdriften, vom Kurs abkommen, heißt: Die Berliner Republik orientiert sich um, weg vom Westen, weg von der Gemeinschaft, sie verliert ihre Verläßlichkeit. Würde dies Regierungspolitik, dann hätten wir es in der Tat mit einem anderen Deutschland zu tun. Dies filhrt uns zur nächsten Frage. 4. Veränderung der internationalen Politik

Wie lautet die deutsche Antwort auf die neuen Rahmenbedingungen der internationalen Politik? Steht diese Antwort in der Tradition Bonns? Ist es eine Antwort, die mehr an die Verhältnisse vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert? Oder gibt es eine völlig neue Antwort? Es war immer abwegig zu vennuten, daß Deutschland bleiben könnte, wie es einmal genannt wurde: "ökonomischer Riese, aber politischer Zwerg". Westdeutschlands Außenpolitik entwickelte sich teilweise als ein Satellit Frankreichs, teilweise als ein Satellit der Vereinigten Staaten. Nur sehr allmählich fand Bonn eine unabhängigere Rolle. Als Teil Westeuropas suchte Bonn die Integration auf drei Ebenen, und zwar auf jeder von ihnen eine enge Integration: Zum ersten gab es das Bemühen um eine enge Anlehnung an Frankreich, was im Elysee-Vertrag geregelt wurde, zum zweiten eine Integration in die westeuropäische Gemeinschaft, verwirklicht zunächst durch die Europäische Gemeinschaft filr Kohle und Stahl und die Römischen Verträge sowie später durch die Vertragswerke der EWG, der EG und der EU; zum dritten schließlich waren die transatlantischen Verpflichtungen angesiedelt, verwirklicht durch die NATO. Auf jeder dieser Ebenen suchte der neue westdeutsche Staat freiwillig eine untergeordnete Rolle, nicht zuletzt um jede Fonn des Nationalismus zu venneiden. Die alte Bundesrepublik schwor offiziell und inoffiziell dem Nationalismus ab. Viele Westdeutsche bezeichneten sich mit Stolz als Europäer. Der Weg zu einer echten Partnerschaft war ein langer, geebnet und teilweise auch gewiesen durch ein sehr schnelles ökonomisches Wachstum und die Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkrieges. Westdeutschland, die alte Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung, war ein verwundbares Mitglied des NATO-Bündnisses, ein treuer Alliierter der

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Vereinigten Staaten während des Kalten Krieges, ein überzeugtes Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft. Obwohl niemals vollständig souverän, gelang es dieser Bundesrepublik nichtsdestoweniger, das Deutschlandbild der Amerikaner maßgeblich zu verändern. Die beiden Weltkriege hatten das Image der Deutschen in den Vereinigten Staaten stark beeinflußt und die Beziehungen sehr problematisch gestaltet. Diese negative Bilanz hatte sich ergeben, obwohl es enge kulturelle Beziehungen gab und die deutsche Einwanderung in die Vereinigten Staaten dazu gefilhrt hatte, daß 27 Prozent der amerikanischen Bevölkerung von Deutschen abstammten. Das furchtbare NS-Image der Deutschen in den Vereinigten Staaten wurde allmählich von der demokratischen westdeutschen Geseltschaft überwunden. Millionen amerikanischer Soldaten, Studenten und Touristen, die Westdeutschland aus persönlicher Anschauung kannten, und nicht zuletzt die enge Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten während des Kalten Krieges hatten ein neues Deutschlandbild geschaffen. Als Machtfaktor hatte die Bundesrepublik 1955 einen Status erreicht, der durchaus dem Frankreichs und Großbritanniens hinsichtlich der Beziehungen zu den USA entsprach. Wenn Vorbehalte, Distanz und auch Vorurteile die Kennzeichen der Jahre unmittelbar nach Kriegende 1945 waren, wenn man also den Deutschen mißtraute, darin hatte sich dies im Verlauf der Jahrzehnte grundlegend gewandelt, so daß in den 80er Jahren das Verhältnis insbesondere der Vereinigten Staaten, aber, wenngleich nicht ganz so stark, auch das der anderen Bevölkerungen Westeuropas gegenüber den Deutschen durch Vertrauen, Freundschaft und den Willen nach Zusammenarbeit gekennzeichnet war. Westdeutschland war vom Gegner zum Alliierten, vom Paria zum Partner geworden. Das Wirtschaftswunder mit seinen außergewöhnlichen Wachstumsraten und dem Wohlstand, den es produzierte, sowie der soziale Friede, trugen zu dieser geänderten Einstellung bei. Respekt gewannen die Deutschen nicht zuletzt dadurch, daß der Export der Bundesrepublik ein beeindruckendes Spitzenniveau erreichte, das sich auf der Höhe der viel größeren Vereinigten Staaten bewegte. Auch die Bundeswehr hatte sich Ansehen erworben, sie galt als unverzichtbar filr die westliche Verteidigung. Die Außenpolitik der Bundesrepublik reflektierte diese Veränderungen und leitete einen Wandel ein, d.h. sie wurde unabhängiger. Die Amerikaner erkannten diesen Wandel frühzeitig. Während bis in die 60er Jahre hinein Bonn Amerikas Junior-Partner war, wenn nicht gar ein Satellit, dann folgte eine Phase, in der sich die Beziehungen ausbalancierten. Es entstand eine Art von "special relationship". In den 80er Jahren zeigten sich deutlich die Veränderungen. Viele amerikanische Wissenschaftler begannen über die deutsche Identität zu schreiben. Es gibt eine ganze Reihe amerikanische Spezialliteratur zu diesem Problem, und es handelt sich dabei nicht um eine amerikanische Entdeckung oder Erfmdung.

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Auch in Frankreich, Großbritannien und vielen anderen Ländern existiert eine derartige Literatur. Sie entstand parallel zur Diskussion in Deutschland selbst. Während nach dem Zweiten Weltkrieg die Westdeutschen sich gegenüber dem Patriotismus zögerlich verhielten, aus Furcht davor, als Nationalisten denunziert zu werden, hatten europäische Konzepte Konjunktur. Deutsche zögerten nicht, sich als Europäer zu bezeichnen, und entsprechend häufig wurde das Ende des Nationalstaates diagnostiziert. Im Gegensatz dazu erschienen die Amerikaner ausgesprochen patriotisch, vielleicht sogar nationalistisch. In den 80er Jahren änderte sich diese Position. Man konnte beobachten, wie Deutsche - verständlicherweise - wieder mit einem gewissen Stolz auf ihr Land blickten. Ich weise deshalb hierauf besonders hin, weil es abermals ein Fehler wäre, das sichtbare deutsche Nationalgefilhl nur mit der Wiedervereinigung in Zusammenhang zu bringen. Die Deutschen hatten in den Jahren vor 1989 begonnen, patriotischer zu denken und dies auch zu artikulieren. Für Amerikaner, nicht nur filr sie, sondern auch filr Franzosen und andere, war das nicht erstaunlich. Aber Amerikaner hatten nicht zuletzt wegen der Größe ihres Landes einen unverkrampften Zugang zu diesem Wandel. In ihren Augen repräsentierte Bonn ein ganz anderes Deutschland als das vorausgegangene Hitlers, "a remarkable transformation."6 Ronald Reagan hatte immer wieder auf den Kalten Krieg als einen Konflikt verschiedener Ideen hingewiesen, als eine Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Tyrannei. Er schätzte die strategische Partnerschaft zwischen Washington und Bonn, sehr hoch ein. In Reagans Politik, einschließlich seiner Verteidigungspolitik, die im SOl-Programm ihren Höhepunkt fand, nahm die Bundesrepublik eine zentrale Rolle ein. Reagan repräsentierte eine spezifisch amerikanische Mischung von Realpolitik mit weltanschaulichen Idealen. Als der Präsident mit Michael Gorbatschow das erste Abrüstungsabkommen unterzeichnete, verstand er dies als den Anfang eines endgültigen Sieges westlicher Ideale. Er beschränkte sich nicht darauf. Er ging nach Berlin und rief vor der Mauer mit dem Rücken zum Brandenburger Tor: Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder! Dies geschah nicht, um den Westdeutschen Lob ftlr eine strategische Partnerschaft zu zollen. Reagan brachte zum Ausdruck, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht nur als militärischer Bündnispartner der Vereinigten Staaten akzeptiert worden war, sondern daß man sich mit der Bundesrepublik auch in einer Wertegemeinschaft ftlhlte. Weniger als ein halbes Jahrhundert nach Hitlers brutaler Tyrannei markierte dieses Ereignis den gravierenden Wandel.

6 U.S. Botschafter Richard Burt, in: Dennis L. Bark/David R. Gress, A History of West Germany, Band I, Cambridge 1989, S. XII.

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Reagans Nachfolger George Bush machte den nächsten Schritt. Ein Jahr nach Reagan bot er der Bundesrepublik in seiner berühmten Mainzer Rede den Status eines "partner in leadership", eines Partners in der Führung der westlichen Gemeinschaft an. Bush schwebte eine aktive Partnerschaft vor, mit Verpflichtungen, die weit über das hinausgingen, was zum damaligen Zeitpunkt die westdeutsche Öffentlichkeit zu akzeptieren bereit war. Das Angebot war nichtsdestoweniger ein bemerkenswerter Beweis für die Qualität der Beziehungen und fur deren Bedeutung. Auf dem kleinen Deutschland ruhten beträchtliche Erwartungen der Supermacht jenseits des Atlantik. Daß weder die deutsche Öffentlichkeit noch die Bundesregierung sich in der Lage sah, diese Herausforderung anzunehmen, zeigte gleichzeitig: Die Bonner Republik war noch nicht selbständig genug. Bush erfuhr dies während des Goltkrieges, als Deutschland abseits stand und anstelle von Truppen nur Geld gab. Großbritannien und Frankreich waren hingegen auf dem Schlachtfeld präsent. Auch filr diesen Bereich gilt also, daß der Wandel bereits im Gange war, als sich die Vereinigung der beiden Staaten vollzog. Aber die deutsche Wiedervereinigung brachte fur die Außenpolitik einige Komplikationen, einige Enttäuschungen und vor allem neue Verpflichtungen. Kaum zeichnete sich die deutsche Einheit ab, waren auswärtige Beobachter sehr stark damit beschäftigt, die Rolle des vereinten Deutschland in Europa und in der Welt zu diskutieren. Einige beklagten die bisherige Rolle als "politischer Zwerg". Man griff einen Buchtitel des deutschen Politikwissenschaftlers Hans Peter Schwarz auf "Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit". Andere Beobachter waren weitaus mißtrauischer. Für Timothy Garton Ash hatte Westdeutschland seine nationalen Interessen nur hinter dem europäischen Namen versteckt. 7 Er behauptete, die deutsche Buropapolitik und die deutsche Außenpolitik, die vorgab, im Namen Europas zu handeln, entsprach durchaus nicht immer Europas Interessen. Schon früher hatte Henry Kissinger, als er amerikanischer Außenminister war, mehrfach darüber geklagt, daß Bonn sich hinter dem Europa-Argument verstecke, daß die europäische Politik herhalten müsse als Entschuldigung filr Verweigerungen, die in Wirklichkeit von Bonn ausgingen. Das bezog sich nicht nur auf die transatlantischen Beziehungen. Die Wiedervereinigung und der Zusammenbruch der Sowjetunion, begleitet von der Auflösung des sowjetischen Imperiums in Osteuropa, veränderten die Lage nachdrücklich. 8 Wenn sich schon nicht "partnership in leadership" zwischen Washington und Bonn erreichen ließ, dann mußte sich wenigstens das Niveau der partnerschaftlichen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland anheben lassen. Schließlich war der beiderseitige Respekt 7

Vgl. Timothy Garten Ash, In Europe's Name, New York 1993.

8

Elizabeth Pond, Beyond the Wall, Washington 1993, S. 264.

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gewachsen. In Washington und in Bonn war man sich der Tatsache bewußt, daß die bilateralen Beziehungen auf einem soliden Fundament gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Werte aufgebaut waren, und daß dieses Fundament tragtahig war, selbst wenn es in Einzelfragen unterschiedliche Positionen gab. Gleichwohl ist das neue Europa nicht mehr identisch mit dem Europa der Jahrzehnte zwischen Zweitem Weltkrieg und 1989. Zwar existiert einiges von dem alten Europa weiter, und auch die Berliner Republik trägt am Erbe der Bonner Republik, was nicht das schlechteste ist, aber das Antlitz Europas hat sich doch grundlegend verändert. Es ist deshalb für die Bundesrepublik heute schwer, ihre traditionelle Außenpolitik einfach fortzusetzen. Als die neue Lage in Europa in eine Debatte über den Wandel der Europäischen Union mündete, versuchte das vereinte Deutschland die beiden Aspekte, Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft, zu kombinieren. Der damit verbundene Streß für die Institutionen der europäischen Integration ist evident. Die Bundesrepublik leistete auch einen entscheidenden Beitrag zu Maastricht, weil sie auf diese Weise hoffte, ihre erfolgreiche Politik der europäischen Integration fortsetzen zu können. Was Maastricht so schwierig macht: Es enthält nicht nur einen Lösungsentwurf für die alte Europäische Gemeinschaft, sondern soll gleichzeitig die Integration mitteleuropäischer Staaten leisten, besser gesagt: Das Europa des Maastricht-Vertrages muß Staaten integrieren, deren Geschichte in den letzten Jahrzehnten isoliert osteuropäisch verlief. Einige Skeptiker fühlten sich sofort an die Zwischenkriegszeit erinnert. Auch in Amerika gab es Stimmen, die vor dem alten deutschen Imperialismus gegenüber Osteuropa warnten. Immer wieder wird diese historische Erinnerung instrumentalisiert, um tagespolitische Effekte zu erzielen. Es gibt keinen "Drang nach Osten" mehr, eher einen "Zwang nach Osten."9 Die Bundesrepublik Deutschland verfolgt keine traditionelle deutsche Außenpolitik. Sie versucht im Gegenteil, den erfolgreichen Bonner Weg der Integration fortzusetzen. Ganz gewiß bringt es Deutschlands wirtschaftliche Stärke mit sich, daß Einflußzonen entstehen. Aber man braucht nur auf die Beziehungen zu Polen zu schauen, um zu begreifen, daß dies in keiner Weise der deutschen Polenpolitik der 20er Jahre ähnelt. In Wirklichkeit versucht Bonn, die Früchte des Elysee-Vertrages mit Frankreich nach Osten zu übertragen. Über ökonomische Partnerschaft soll Freundschaft entstehen. Das Mißtrauen, das diesen Prozeß begleitet, rührt von Deutschlands wirtschaftlichem Gewicht her. Gleichzeitig ist Deutschlands wirtschaftliche Stärke filr die Nachbarstaaten ein unschätzbarer Gewinn, denn diese Bundesrepublik versucht nicht einseitig Vorteile zu erlangen, sondern sie versucht zum Nutzen aller Beteiligten Investitionen vorzunehmen. Die wirtschaftlichen Investitionen sind auch als politische Investitionen konzipiert. 9 Gregory Treverton, Forces and Legacies Shaping a New Germany, in: Gary L. Geipel (Hrsg.), Germany in a New Era, lndianapolis 1993, S. 64.

9 &:kart/Jesse

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Natürlich ist dies ein delikater, um nicht zu sagen: ambivalenter Vorgang. Denn die ökonomische Dimension filhrt u.a. dazu, daß wirtschaftlich erfolgreiche östliche Nachbarstaaten Deutschlands auch als Wettbewerber auftreten. Schon heute ist beispielsweise die polnische Landwirtschaft ein Problem filr Deutschland und die Europäische Union. Europäische Integrationspolitik ist vor diesem Hintergrund außerordentlich kompliziert. Die Vorzüge der Integrationspolitik und Deutschlands konsequenter Weg bei der Fortsetzung dieses Kurses dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Berliner Republik gegenwärtig und besonders in der Zukunft zu einer kühleren Berechnung nationaler Interessen neigen wird. Die Integration ist kein Selbstzweck. Wir sehen dies am Beispiel mehrerer Souveränitätsdebatten, die heute in Deutschland geführt werden. Die von Bayern durchgesetzten Vorbehalte, artikulieren Deutschlands nationale Interessen in der Migrationspolitik. Eine größere europäische Union, die zudem befreit ist vom Druck des Kalten Krieges, wird noch stärker von divergierenden nationalen Interessen geprägt werden. In Deutschland selbst wird auch zu herticksichtigen sein, daß die Ostdeutschen den Optimismus der Westdeutschen hinsichtlich der EU nicht in gleichem Maße teilen, weil ihre Geschichte anders verlief und weil ihr ökonomischer StreB heute anders aussieht. Deutschland wird also stärker die Kosten der europäischen Integration diskutieren. Es wird gleichzeitig primär auf Mitteleuropa und Osteuropa konzentriert bleiben, während Frankreich eher auf das Mittelmeer schaut. Noch ist nicht abzuschätzen, welche Rolle die EU künftig spielen, wie stark sie beispielsweise die deutsche Wirtschaft beeinflussen wird und in welcher Weise sie in der Lage ist, Mittel- und Osteuropa zu stabilisieren. Europa, ein größeres und integriertes Europa, ist ein wesentliches Element der Außenpolitik des vereinten Deutschlands, vielleicht das wichtigste überhaupt, so wie es das kleinere westliche Europa filr die alte Bundesrepublik war. Einige Wissenschaftler sehen zugleich eine "Europäisierung Deutschlands" und eine "Germanisierung Europas." 10 Die angesprochenen Veränderungen, die nachlassenden Emotionen gegenüber dem Europagedanken und die wachsende Bedeutung nationaler Interessen werden sich auf die deutsch-französischen Beziehungen auswirken. Die Solidität der deutsch-französischen Beziehungen war ein Anker filr die deutsche Außenpolitik seit Adenauer. Keines der beiden Länder hat heute ein Interesse daran, die Substanz der Beziehungen zu schwächen. Im Gegenteil, beide Seiten bemühen sich, die enge Partnerschaft zu erhalten. Aber die veränderten Verhältnisse in Europa machen dies zunehmend schwierig. Daher kann es nicht überraschen, daß Deutschland eine engere Zusammenarbeit mit Großbritannien und auch mit anderen Ländern anstrebt. Unterschiedliche Ein10

Siehe Peter Katzenstein, Tamed Power: Gennany in Europe,lthaca 1997.

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schätzungen der Politik gegenüber der Industrie, dem Handel und der Landwirtschaft können sich auf die deutsch-französischen Beziehungen negativ auswirken. Die Lage auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt und die Notwendigkeit, die deutsche Wirtschaft zu modernisieren, machen es der Politik wesentlich schwerer, sich konzessionsbereit zu zeigen. Eine besondere Anforderung besteht darin, daß die erforderlichen Korrekturen in der deutschen Wirtschaftsund Finanzpolitik mit den Rahmenbedingungen der deutschen Europapolitik übereinstimmen müssen. Bonn kann dabei zur Zeit weitaus weniger als in der Vergangenheit die finanziellen Interessen anderer Mitgliedsstaaten berücksichtigen. Der neue Bundeskanzler Gerhard Sehröder hat sich entsprechend geäußert. Eine Reihe von Faktoren vergrößert den Streß, nicht zuletzt die Überalterung der deutschen Bevölkerung, welche die Rentenkassen und insbesondere die Pensionsleistungen des Staates schwieriger und schwieriger gestaltet. Und doch muß Deutschland seiner herausragenden europäischen Rolle, ja sogar seiner globalen Rolle als fUhrende Weltwirtschafts- und Finanzmacht gerecht werden. Amerikaner beobachten diese Entwicklungen sehr aufmerksam, und sie filhlen sich in ihrer Erwartung bestätigt, daß die Größe vieler Aufgaben besser gemeinsam im transatlantischen Bund bewältigt wird. Doch die Berliner Republik schaut weiter. Der Handel und die Finanzbeziehungen mit Asien haben beträchtlich zugenommen. Auch der Handel mit Lateinamerika steigt an. Deutschland ist heute einer der wichtigen Akteure bei der Bewältigung der asiatischen Finanzkrise. Die Kapitalschwäche asiatischer Staaten hat Rückwirkungen auf die deutschen Banken. Die deutsche Wirtschaft insgesamt wird in Mitleidenschaft gezogen. Auch die globale Umweltpolitik wird maßgeblich von Bonn mit geprägt, nicht zuletzt, weil die deutsche Offentlichkeit in diesem Bereich besonders sensibel ist. Heute ist der ehemalige politische Zwerg ein fUhrender Faktor der Weltpolitik. Seine feste Verankerung in der Europäischen Union wird ihm noch mehr Macht verleihen. In der internationalen Finanzpolitik übt Deutschland einen stabilisierenden Einfluß aus. In Washington beobachtet man das nicht mit Mißtrauen oder gar Ablehnung, und Amerikas Stärke läßt·natürlich nicht den Gedanken an Angst vor den Deutschen hochkommen, stattdessen richtet sich das Augenmerk auf Chancen filr weitere gemeinsame Kooperationen. Sporadisch tauchen Diskussionsbeiträge über die Transatlantische Freihandelszone auf. Verschiedene Diskussionsredner haben die Schaffung einer solchen Freihandelszone der nordatlantischen Partner angeregt, um der Gefahr etwaiger Handelskriege vorzubeugen. Der Vorschlag könnte noch einen anderen Zweck erftlllen. Der inzwischen stark ritualisierte Dank über vergangene Leistungen, über die amerikanische Unterstützung bei der Wiedervereinigung etc. sagt der jungen Generation nicht mehr sehr viel. Auch viele Ostdeutsche dürften derartige Erinnerungen

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emotional eher unbewegt zur Kenntnis nehmen. Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen kann nicht auf Erinnerungen an vergangene Leistungen allein aufbauen. Sie bedarf einer Überprüfung der tatsächlichen Interessen beider Partner, ihrer Erwartungen und vor allen Dingen der Perzeption der Politik durch die öffentliche Meinung. John Newhouse, der lange Zeit Berater des amerikanischen State Department war und zu den prominenten amerikanischen Beobachtern der europäischen Politik gehört, hat einen gewissen Kurswandel in der deutschen Politik ausgemacht. Er meint, daß sich dadurch die transatlantischen Beziehungen verändern werden. Die Amerikaner erwarten nach dem Ende des Kalten Krieges eine wachsende Kluft zwischen ihrem Land und den Europäern. Die Perzeption der Politik durch die Öffentlichkeit darf nicht unterschätzt werden. Sie kann eine eigene Kraft gewinnen. Auf Grund der veränderten internationalen Lage schätzen die Amerikaner ihre Beziehungen neu ein. Sie beurteilen ihre globalen Interessen neu. Aus ihrer Sicht sind die USA heute die einzige verbleibende Supermacht. Daraus ergeben sich gewisse Probleme fUr die Bündnisbeziehungen. Heute wird den internationalen Handelsbeziehungen größere Aufmerksamkeit geschenkt als zur Zeit des Kalten Krieges. Die neue Generation der politischen und wirtschaftlichen Elite in den Vereinigten Staaten orientiert ihre Weltsicht an diesen Faktoren und nicht an den Erfahrungen vergangeuer Jahrzehnte. Der Wert der Bundesrepublik Deutschland als treuer Natoverbündeter spielt heute eine weitaus geringere Rolle. So wie die Berliner Republik heute ein wesentlich unabhängigerer Akteur der internationalen Politik ist, als es die Bonner Republik je war, so stehen fUr die Vereinigten Staaten heute in Deutschland ganz andere Interessen auf dem Spiel. Welche Form die Partnerschaft beide Länder finden wird, um die Erfolge der Vergangenheit fortzusetzen, ist noch offen. Gewiß hat die Bundeswehr seit 1990 nicht alle amerikanischen Hoffnungen und Erwartungen erfilllt. Doch was getan werden kann, trug in Bosnien inzwischen Früchte. Inwieweit diese Entwicklung einen Weg in die Zukunft weist, hängt nicht zuletzt von den innenpolitischen Veränderungen in beiden Ländern ab. 5. Perspektiven für Deutschland

Eine neue Generation deutscher Eliten wird sich mit den sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen auseinandersetzen müssen, und sie wird dabei auch die europäischen Rahmenbedingungen nicht verletzen. Die ererbte institutionelle Ordnung gibt der deutschen Politik auch fUr die Zukunft einen festen Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens werden die Deutschen auf Veränderungen reagieren. Die Geographie wird ebenso wie Institutionen (die NATO oder die EU) eine Rolle bei der Gestaltung der deutschen Politik spielen.

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Dieser Kontext wird sich nicht verändern. Gleichwohl sind die Herausforderungen da. Einige Beobachter, wie John Newhouse, befilrchten bestimmte Trends. "Deutschland," so Newhouse, "driftet." 11 Deutsche und Amerikaner haben ein gemeinsames Interesse an Stabilität und demokratischer Entwicklung in Europa. Das vereinte Deutschland braucht beides ebenso wie die Vereinigten Staaten. Nur die Demokratisierung und der ökonomische Fortschritt in Mittel- und Osteuropa garantieren eine friedliche Entwicklung auf dem Kontinent. Unter diesem Aspekt ist das Engagement der transatlantischen Partner z. B. in Polen zu sehen. Die deutschen Investitionen in diesem Land haben eine Höhe von 4,5 Milliarden DM erreicht, die amerikanischen liegen etwa gleich auf mit 2,5 Milliarden Dollar. Zwischen den Investitionen in Polen, dem Maastricht-Vertrag und der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik besteht ein Zusammenhang. In diesen größeren Kontext gehört auch die transatlantische Partnerschaft. Man wird darauf hinweisen müssen, daß Deutschlands Zukunft von der europäischen Entwicklung abhängt und daß der Erfolg des einen nicht ohne den Fortschritt des anderen erreicht werden kann. Abschließend möchte ich auf mein eingangs formuliertes Argument zurückkommen, daß viele Wandlungsprozesse, die seit der Wiedervereinigung öffentlich beobachtet werden, in Wirklichkeit schon zuvor begannen. Und meine zweite These lautete, daß insbesondere im Bereich der Institutionen filr die deutsche Politik Kontinuität gilt. Das Bild, das ich gezeichnet habe, sieht ein Deutschland, das geprägt ist von der alten Bundesrepublik, aber dennoch nicht mit dieser genau übereinstimmt. Es ist ein sich weiterentwickelndes Deutschland, in einem sich weiter entwickelnden Europa und in einer veränderten globalen Situation. Auch Amerika verändert sich, und folglich können auch unsere Beziehungen nicht statisch bleiben. Wir sind also gezwungen, neue Wege zu beschreiten. Einige amerikanische Beobachter weisen in diesem Zusammenhang auf eine deutsche Kurskorrektur hin. Andere sehen diese nicht. Sie unterstreichen lediglich die Besonderheiten der deutschen politischen Kultur. Wenn wir die Veränderungen gemeinsam gestalten wollen, dann gehört dazu, daß wir voneinander Jemen. Die Deutschen sollten deshalb durchaus kritisch sein und neugierig betrachten, welche Rezepte die angelsächsische Welt anbietet. Sie werden dabei feststellen, daß es sich nicht nur um Rezepte handelt, die geeignet filr die Herstellung von Hamburgern sind. Die Bewertung ob die deutsche Politik vertrauenswürdig ist, orientiert sich für mich an der geschriebenen Verfassung, der kulturellen Wirklichkeit und ihrer Politik seit 1949. Ich habe nicht gesehen, daß die Deutschen ihrer Verfas11 Siehe John Newhouse, Europe Adrift, New York 1997. David Calleo ist anderer Meinung: Ders., An American Sceptic in Europe, in: Foreign Affairs 76 ( 1997), Heft 6, S. 146-150.

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sung untreu geworden sind, ihre kulturellen Werte verraten hätten und in ihrer Politik gegen die Grundsätze von Freiheit und MenschenwUrde verstoßen hätten. Darum habe ich eigentlich auch die Frage nicht verstanden, ob den Deutschen zu trauen ist.

Richard Sehröder WANN IST DIE EINHEIT VOLLENDET? ZUM STAND DER DEUTSCHEN EINIGUNG Derzeit festigt sich das Urteil in der öffentlichen Meinung, daß es mit der deutschen Einigung schlechter stehe als im ersten Jahr, denn die Einigungsbegeisterung sei in Ost und West weitgehend zerstoben. Unmut und Unverständnis machen sich breit. Die Westdeutschen, so hörten wir jetzt von namhafter Seite, fragen sich, warum sie weiter den Aufbau Ost durch Riesentransfers bezahlen sollen, wenn im Osten so viele PDS wählen. Schon wieder also werden Sanktionen angedroht fUrs verkehrte Wahlverhalten? Das kennen wir doch aus der DDR. Und die 80 Prozent, die nicht PDS wählen, sollen gleich mithaften fUr die 20 Prozent, die PDS wählen? Zum Glück gab es geharnischten Widerspruch von allen Seiten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß nicht wenige im Westen so denken. Sie fordern von den Ostdeutschen mehr Dankbarkeit und Wohlverhalten - ganz wie es die SED von ihren Bürgern forderte. Aber wer Dankbarkeit einfordert und das mit der Forderung nach Wohlverhalten verbindet, fordert in Wahrheit Unterwerfung: Gib zu, daß du von meiner Gnade lebst, und die kann ich dir auch entziehen. Wenn das auf die Spitze getrieben wird, nennt man das Erpressung. Und Erpressung ist eine der schwersten Demütigungen, die einem Menschen mit Selbstachtung zugefUgt werden können. Es steht mit der deutschen Einigung so gut oder so schlecht, wie wir öffentlich und mehrheitlich über sie denken und reden. Sie hat ihr Sein im Bewußtsein. Man kann hier nicht sagen: Die Stimmung ist besser als die Lage, denn die Lage ist die Stimmung, und die Stimmung ist die Lage. Das Ost-WestVerhältnis ist so gut oder so schlecht, wie wir übereinander denken und sprechen. Wie wir übereinander denken und sprechen, das hängt einmal davon ab, wie gut oder schlecht wir uns kennen, und das hängt auch davon ab, nach welchen Maßstäben wir unser Verhältnis beurteilen. Erstens: Nach internationalen Maßstäben sind die deutschen Vereinigungsprobleme winzig. Nach der Zerfall des sowjetischen Imperiums haben die Tschechen und Slowaken und die Völker der Sowjetunion die neue Freiheit dafUr genutzt, sich friedlich zu trennen. In Jugoslawien brach ein barbarischer Bürgerkrieg aus. Die Deutschen haben sich in Freiheit vereinigt. Ja, sagt man, das war 1990. Aber heute? Es gibt in Schottland, im Baskenland, in Korsika

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separatistische Tendenzen, jedoch überhaupt keine in Deutschland. Wir sind durch die Vereinigung kein internationaler Problemfall geworden. Wer eine Anschauung davon haben will, wie schwierig Wiedervereinigung sein kann, der schaue sich die beiden Koreas genauer an. Zweitens: Deutschland ist schon immer ein plurales Land gewesen mit einem deutlichen Nord-Süd-Gefalle, der bis in dieses Jahrhundert hinein durch den konfessionellen Gegensatz geprägt war und der heute keine konfrontierende Rolle mehr spielt. Aber Bayern und Ostfriesen, das bleiben doch noch zwei Welten. Das regt niemanden auf, denn es überrascht niemanden mehr. Ich behaupte nun: Die Ost-West-Unterschiede sind nicht unbedingt größer, sondern vor allem ungewohnt, deshalb vor allem stören sie, und sie sind asymmetrisch. Der Osten nämlich hat in der deutschen Einigung gewaltige Umstellungsleistungen in allen Lebensbereichen des Alltags durch die Übernahme der westlichen Ordnungen vollbracht. Für die Westdeutschen dagegen hat sich durch die deutsche Einigung der Alltag kaum verändert. Sie konnten weithin das Ereignis im Fernsehen verfolgen. Die ehemaligen DDR-Bürger sind jetzt DDR-Bürger ohne DDR. Die Verhältnisse, auf die sie trainiert waren, sind weggebrochen, und die neuen Verhältnisse müssen sie sich erst noch trainieren. Die Westdeutschen dagegen bewegen sich in ihnen wie der Fisch im Wasser. Der Osten ist zudem mit den zermürbenden Problemen der posttotalitären Situation konfrontiert. Nach dem Ende einer Diktatur stehen sich die ehemals Mächtigen und die ehemals Ohnmächtigen plötzlich gegenüber, und die meisten haben sich zu fragen, ob sie sich denn angemessen verhalten haben in der Diktatur. Zudem müssen sie diese "Vergangenheitsbewältigung" vor Zuschauern vollziehen. So oder so gerät sie deshalb in den innerdeutschen Kampf um Anerkennung. Drittens: Die Vereinigung bringt es mit sich, daß die Westdeutschen den Osten nach ihren Maßstäben beurteilen. Warum denken und verhalten die sich so anders als wir? Die deutsche Vereinigung hat sich über die Grenze der Blökke hinweg vollzogen. Der angemessene Vergleichspunkt für die Entwicklung in Ostdeutschland, für eine postsozialistische Entwicklung also, ist aber selbstverständlich die Entwicklung in den anderen ehemals sozialistischen Staaten. Das ist fiir Westdeutsche sehr schwer zu vollziehen, denn Polen, die Tschechien oder Ungarn kennen sie ja noch weniger als Ostdeutschland. Die Mauer war auch für sie eine Sichtblende. Sie sind tatsächlich in Frankreich mehr zuhause als in Polen und empfinden das nicht einmal als einen Mangel, obwohl nunmehr beide unmittelbare Nachbarländer sind. Auch das ist übrigens eine interessante Asymmetrie. Die Ostdeutschen waren über Jahrzehnte durchs Fernsehen abends Zaungäste des Westens. Vergleicht man Ostdeutschland mit den anderen ehemals sozialistischen Ländern, so zeigt sich z.B., daß auch dort postkommunistische Parteien beachtliche Wahlerfolge haben. Was Demokratisierung und Elitenwechsel be-

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trifft, schneidet Ostdeutschland in diesem Vergleich recht gut ab. Aber auch die Ostdeutschen vergleichen ihre Lage nicht mit der der östlichen Nachbarn, sonder mit Westdeutschland. In Polen und in der Tschechei ist die Stimmung in der Bevölkerung besser als in den neuen Bundesländern, denn sie vergleichen ihre jetzige Lage mit ihrer fiüheren. Sie sehen den Gewinn der Freiheit deutlicher, obwohl auch sie Härten der Umstellungen hinnehmen mußten. Die Ostdeutschen dagegen sehen zuerst die Defizite gegenOber den Westdeutschen: Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch (gemessen an der Nachfrage, nicht an der Erwerbstätigenquote), die Einkommen sind niedriger (die Arbeitsproduktivität ist es aber auch), das private Vermögen ist geringer und in den Betrieben und Behörden sitzt ganz oben zumeist ein Westdeutscher. Viertens: Über den Ost-West-Unterschieden wird meistens übersehen, daß die Ost-Ost-Unterschiede oftmals größer sind als die Ost-West-Unterschiede. Auch sie sind nämlich ungewohnt und nicht selten hart. Erst nach der Öffnung der Stasi-Akten wurden den Opfern die Täter bekannt. Der Prozeß gegen einige Mitglieder des Politbüros wurde zwar von einer knappen Mehrheit gutgeheißen, aber andere sprechen von Siegerjustiz, politischem Strafrecht und Rache. Und eine kleine Gruppe von Bürgerrechtlern sagt, die ganze juristische Aufarbeitung des SED-Unrechts sei bloß eine Farce. Es müßten viel mehr viel härter bestraft werden. Gelassenheit ist ein knappes Gut in einer posttotalitären Situation. Und da fitllt mir auf: Während im Westen die öffentliche verbale Konfrontation oft sehr hart ausfitllt, war dann alles nicht so tiefernst gemeint. Im Osten ist es eher umgekehrt. Fünftens: Seit 1945 sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West geflüchtet. Teils um politischer Verfolgung zu entgehen, teils nach ihrer Enteignung, teils weil ihr berufliches Fortkommen aus politischen Gründen blockiert worden ist. Andere haben einfach bessere Lebenschancen gesucht. Sie haben ihre DDR-Erfahrungen nach Westen mitgenommen, und das waren zumeist dramatische Erfahrungen aus der Stalin-Uibricht-Zeit. Nach dem Bau der Mauer, unter Honecker, hat sich aber das Diktatorische in der DDR sukzessiv gemildert. Feindsender hören wurde erlaubt. Nach und nach wurden fUr einen immer größeren Kreis Westreisen möglich. Und wer wegen Republikflucht oder aus politischen Gründen ins Gefängnis kam, hatte eine reelle Chance, vom Westen freigekauft zu werden. Wir hatten schließlich eine Diktatur mit Samthandschuhen, wie Manfred Stolpe das gegenüber westlichen Politikern zu bezeichnen pflegte - eine Diktatur, die allerdings manchmal die Handschuhe auszog und die Folterwerkzeuge zeigte, manchmal auch anwandte. Zwar wurde das Stasi-Spitzel-System in jener Zeit enorm ausgebaut. Aber das wurde erst nach dem Ende der DDR so richtig sichtbar. Im übrigen war ja fUr die DDR-Bürger auch die gesellschaftliche Wirklichkeit im eigenen Land nur begrenzt erkennbar. Die Flüchtlinge von einst haben ein anderes DDR-Bild als die meisten

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derjenigen, die geblieben sind. Die Zurückgebliebenen beurteilten das DDRBild der FlUchtlinge als Übertreibung. Und das befördert auf Seiten der ehemaligen DDR-BUrger den Identitätstrotz. Umfragen belegen regelmäßig, daß die kritische Distanz der ehemaligen DDR-BUrger zur SED-Herrschaft abnimmt. Viele sagen: So schlecht war die DDR gar nicht. Das sagen auch solche, die zu DDR-Zeiten ein ausgesprochen kritisches Verhältnis zur DDR hatten. Zwischen Ost und West wird ein Kampf um Anerkennung ausgetragen. Viele ehemalige DDR-BUrger hören: Eure Wirtschaft hat nichts getaugt, nicht einmal ein ordentliches Auto habt ihr zustandegebracht, und irgendwie wart ihr doch alle StUtzen des Systems. Sie nehmen diese Kritik sozusagen persönlich und sagen dann eben: So schlecht war die DDR auch nicht. Diese DDR-Identität post festurn ist eine Trotzreaktion im innerdeutschen Anerkennungskampf Sie kann sich aber auch auf Erfahrungen berufen. Da es offenbar schwer ist, die im einzelnen zu erzählen, sagen viele Ostdeutsche dann einfach: Wer das nicht erlebt hat, kann das nicht beurteilen. Im Ubrigen ist die Verteilung der Besatzungsmächte 1945 und deren Folgen, also die Gnade der westlichen Geburt, überhaupt kein Verdienst. Allerdings sollten wir uns nicht allzusehr auf die Ost-West-Probleme konzentrieren. Auf der innerdeutschen Agenda-Liste stehen gesamtdeutsche Probleme, die im Osten bloß pointierter in Erscheinung treten. Und die Kinder, die dieses Jahr in die Schule kommen, sind in den neunziger Jahren geboren. Die heutigen Abiturienten waren 1989 keine zehn Jahre alt. Wann ist die deutsche Einheit vollendet? Ich nenne zwei Bedingungen: wenn wir mit den Ost-West-Unterschieden so gelassen umgehen können wie mit den Nord-SUd-Unterschieden und wenn wir uns so aneinander gewöhnt haben, daß wir eine gemeinsame Geschichte erzählen können, auch von den zurückliegenden ftlnfzig Jahren. Kommen wir zu einem anderen Thema, das eng mit der Frage nach dem Stand der deutschen Einigung verquickt ist. Wie schon 1994 ist auch 1998 die POS zum Thema harter Auseinandersetzungen geworden. Und zwar auf eine Weise, die eher spaltet als verbindet. Deshalb will ich versuchen, Ihnen einen detaillierten Eindruck von diesem Zankapfel zwischen Ost und West zu geben. Die PDS ist noch immer eine undefinierte Partei. Daß es in einer Partei FlUgel gibt, ist normal. Im Falle der POS liegen aber die FlUge! so weit auseinander, daß eigentlich eine Klärung Uber den innerparteilichen Grundkonsens nötig wäre. Den vermeidet die POS bewußt, um einer Spaltung zu entgehen. Die PDS ist weiterhin eine Partei im Übergang. Es ist allgemein bekannt, daß die POS zu neunzig Prozent aus ehemaligen SED-Mitgliedern besteht. Weniger bekannt ist, daß nur ca. vier Prozent der ehemaligen SED-Mitglieder der POS angehören. Die anderen 96 Prozent sind

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heute entweder parteilos oder in anderen Parteien. Zahlen darüber liegen mir nicht vor, aber es wäre ein Irrtum zu meinen, daß sich in der SPD besonders viele ehemalige SED-Mitglieder befinden. Das Gegenteil ist der Fall. Während der Wahlkampfes zur Volkskammer Anfang 1990 sind auf den Wahlplakaten aus Bonn SED, PDS und SPD gleichgesetzt worden. Daraufhin beschloß der erste SPD-Parteitag Ende Februar 1990 in Leipzig, grundsätzlich keine SEnMitglieder aufzunehmen. Der Beschluß wurde zwar bald danach auf dem Parteitag in Halle dahin geändert, daß die Ortsvereine im Einzelfall entscheiden sollen. Da diese aber nicht selten zu Gesinnungsprüfungen neigen, ist der Zugang ehemaliger SED-Mitglieder noch immer sehr schwierig. Die CDU ist da oft unkomplizierter. Lassen Sie mich kurz auf die Verhältnisse in der DDR eingehen. Es gab im Groben drei Gründe, der SED beizutreten: die Beförderung der eigenen Karriere; die Absicht etwas zu bewegen und zu verbessern; und die Überzeugung, daß der Sozialismus der SED die beste Sache der Welt sei. Die erste Gruppe ist am schnellsten aus der SED ausgetreten. Von der zweiten Gruppe sind einige enttäuscht über die nachträglich offenbarte Innenansicht der DDR. Andere verharren in einem Identitätstrotz und verteidigen die DDR, mit der sie ihr Lebenswerk verbinden, mit Haut und Haar. Das sind zumeist Ältere. Eine dritte Gruppe möchte nun endlich den wahren Sozialismus aufbauen. Sie lastet das Versagen des SED-Sozialismus dem Stalinismus an und dem vergreisten Politbüro. Sie wünscht sich die DDR nicht zurück, ist aber auch mit den neuen Verhältnissen unzufrieden. Zum Vergleich seien die Gründe genannt, die seinerzeit zum Eintritt in eine der Blockparteien veranlaßten. Unter denen gab es übrigens folgenden Unterschied. CDU und LDPD hatten einen originären Ursprung und befanden sich ursprünglich durchaus im Gegensatz zur SED. Zweimal verlor die CDU in den Anfangsjahren durch Veranlassung der Sowjetischen Militäradministration ihren Vorsitzenden. Erst um 1948 hat sich die SED diese beiden Parteien unterworfen. Dagegen sind die Bauernpartei (DBD), die 1990 mit der CDU fusionierte, und die NDPD (filr bekehrte Nationalsozialisten gedacht), die 1990 in der FDP aufging, als reine Satrapenparreien 1948 von der SED selbst gegründet worden. Der Eintritt in diese Parteien war seit den filnfziger Jahren nicht mehr Ausdruck eines politischen Widerspruchs zur SED. Offiziell war der Unterschied zwischen den Parteien gar nicht mehr programmatisch, sondern sollte der der sozialen Situation sein, die unter Führung der SED den Sozialismus aufbauen. Manche sind durch den Eintritt in eine Blockpartei der Anwerbung durch die SED zuvorgekommen, um dem unerfreulichen Institut des Parteiauftrags, der scharfen innerparteilichen Disziplin und den sehr hohen Mitgliedsbeiträgen der

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SED zu entgehen. Manche haben so ihre Karriere abgesichert mit Verzicht auf Spitzenpositionen, die SED-Mitgliedern vorbehalten waren. Im Falle der OstCDU wollten manche dem Bekenntnis zur atheistischen Ideologie der SED entgehen. Trotzdem war die CDU nicht etwa eine kirchliche Partei. Mit Ausnahme von Thüringen haben die evangelischen Landeskirchen auf Distanz zur CDU geachtet. Nur sehr wenige Pfarrer waren Mitglieder der CDU, und die waren unter den Kollegen nicht sehr gut angesehen. Der Unterschied zwischen der SED und ihren Blockparteien war also so groß nicht. Immerhin gab es in CDU und LDPD die Erinnerung daran, einmal von der SED domestiziert worden zu sein. Nicht wenige empfanden es als demütigend, unter der dauernden Kuratel der SED zu stehen. Andere kompensierten den Makel, nicht zur SED zu gehören, mit Übereifer. Und beide Parteien hatten im Westen Schwesterparteien aus derselben Tradition, nicht aber die SED. Da in der DDR am 7. 10. 89 eine Sozialdemokratische Partei neu gegründet worden war, die sich pointiert gegen die SED stellte, war der SED der Weg etwa der ungarischen Kommunistischen Partei, nämlich Auflösung, Abspaltung eines altkommunistischen Flügels und Neugründung einer sozialistisch-sozialdemokratischen Partei, versperrt. Die Selbstauflösung der SED ist zwar kurz diskutiert, aber dann um des Erhalts des SED-Vermögens und des gewaltigen Mitarbeiterstabes schnell abgewiesen worden. Aus dem Lande Brandenburg liegen mir Zahlen von 1996 vor, die auf Auskünften der Parteien selbst beruhen. Danach hat in Brandenburg die CDU 9.000, die SPD 6.700 und die PDS 18.000 Mitglieder, d.h. mehr Mitglieder als alle anderen Parteien zusammen. In den ehemaligen Bezirksstädten Cottbus, Frankfurt/Oder und Potsdam hat die POS sogar dreimal so viele Mitglieder wie CDU und SPD zusammen. Aber die PDS nimmt stetig ab, denn 58 Prozent der Mitglieder sind über 60 Jahre alt (SPD: 13,5 Prozent, CDU: 23 Prozent). Sie kann den Altersschwund nicht entfernt durch Neueintritte kompensieren. Die PDS ist eine stark überalterte Partei. Den Stamm bilden diejenigen, filr die sich mit der DDR ihr Lebenswerk verbindet. Die 30-60-jährigen stellen in der PDS 40 Prozent, in der CDU 71 Prozent und in der SPD 79 Prozent. Vor allem fehlt der POS die Jugend. Die SPD hat inzwischen in absoluten Zahlen genauso viele Mitglieder unter 30, obwohl die PDS dreimal stärker ist. All diese Zahlen muß man auf die Einwohnerzahl beziehen mit dem Resultat, daß die Bereitschaft zu einer Parteimitgliedschaft allgemein sehr gering ist. Mit diesem Erscheinungsbild der PDS, überalterte Partei, kontrastiert nun ungemein das Erscheinungsbild ihrer Wähler. Am wenigsten wird sie von den über 65-jährigen gewählt. Denn die erinnern sich noch an die Stalinzeit. Dagegen hat sie sehr viele jugendliche Wähler. Nicht nur sie wählen die PDS vor allem aus Protest. Ein Beispiel: Im Rentenbescheid sind die Jahre des freiwilligen dreijährigen Dienstes bei der Volksarmee nicht anerkannt. Reaktion: Dann

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wähle ich POS. Natürlich nicht, weil die das ändern kann, sondern sozusagen aus Rache. Nicht die Partei, wohl aber die Wählerschaft hat seit 1990 zugelegt, allerdings auch wieder nicht so sehr viel, denn bei den Volkskammerwahlen lag sie bei 16,3 Prozent. Insgesamt erhielt die POS bei der Bundestagswahl 1998 21,6 Prozent in den neuen Bundesländern. Sie hat also nur wenig mehr Wähler als die SED Mitglieder hatte - ohne daß behauptet werden soll, daß das personell dieselben sind. Man darf diese Zahlen nicht an westlichen Maßstäben messen, sondern muß sie mit den anderen ehemals sozialistischen Ländern vergleichen und darf diese Zahlen dennoch nicht verharmlosen. Denn diese Mitglieder sind wohlorganisiert und motiviert und haben z.T. viel Zeit. Das stellt ein gewaltiges Potential dar, dem die anderen Parteien nichts Vergleichbares entgegensetzen können, da sie bei ihren relativ zur Mitgliederzahl hohen Wahlergebnissen permanent unter Personalmangel leiden. So ist denn auch die POS sehr stark in den Vorfeldorganisationen vertreten, im Mieterbund, im Arbeitslosenverband, in Bürgerinitiativen und bei der Rentenberatung. Sie setzt sich dort kräftig ein, und das wird ihr auch gedankt. Auch in den Medien gibt es übrigens beachtlich viele POS-Sympathisanten. Die POS ist nicht die Partei der Arbeiter und auch nicht die der Arbeitslosen. Es überwiegen Angestellte und Akademiker. Es gibt auch eine Arbeitsgemeinschaft Unternehmer in der POS. Das erklärt sich daraus, daß sich in der POS ein Teil der DDR-Elite versammelt hat. Wenn sie nicht gerade arbeitslos sind, verdienen sie heute nicht schlecht. Das heißt: Das Ressentiment der meisten POS-Mitglieder ist nicht das des wirtschaftlichen Abstiegs. Der erzwungene Abschied von der Macht, die Zumutung, nicht recht gehabt zu haben, und der Verlust eines gesellschaftlichen Status schmerzt vor allem die POS-Mitglieder. Ist die POS eine kommunistische Partei? Man muß wissen, daß viele POSMitglieder gekränkt sind, wenn man sie als Kommunisten bezeichnet. Sie sehen sich selbst als Demokraten und als Sozialisten. Und jedenfalls paßt die POS nicht in das klassische Bild einer kommunistischen Partei. Eher kann man sie mit den eurokommunistischen Parteien Westeuropas vergleichen, denn es fehlt ihr der Rückhalt der sowjetischen Macht und die ideologische Geschlossenheit des Marxismus-Leninismus. Aber noch immer zählt sie Lenin zu ihren Gewährsmännern, obwohl doch hinreichend bekannt ist, daß Lenin vor und nach der Revolution die parlamentarische Demokratie, die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat dezidiert abgelehnt hat. Doch ist die POS keine Partei, die den Umsturz plant. Es gibt radikal gesonnene Grüppchen "in und bei der POS", aber die Kommunistische Plattform z.B. hat ihren Sitz im Vorstand der POS verloren (ihn freilich mittlerweile wieder gewonnen). Ist sie eine Kaderpartei? Nicht in dem Sinne, daß die Parteifilhrung einfach, wie das hieß, durchstellen kann. Aber im zweiten Glied und an der Basis ist die

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alte Parteidisziplin noch verinnerlicht. Generell gilt: Die öffentlichen Vertreter der POS sind zumeist nicht typisch für die durchschnittlichen Mitglieder der POS. Während Gysis "bunte Truppe" alternativ, keck und links auftritt, sind die Mitglieder eher auf "law and order" ansprechbar. Sie sind für das Gute und gegen alles Schlechte, aber weder für Emanzipation noch für bestimmte Grundwerte ganz entschieden. Was sie am stärksten bindet, ist der Korpsgeist Innerhalb der Altmitglieder ist übrigens das alte SPD-Feindbild der SED noch stark verbreitet. Die SPD ist flir sie die Partei der Opportunisten, der Umfaller, der Prinzipienlosen. Sie begreifen nicht oder wollen nicht begreifen, daß es die SPD mit der sozialen Demokratie ernst meint und nicht bereit ist, ein bißchen vom freiheitlichen Rechtsstaat und der parlamentarischen Demokratie aufzugeben zugunsten einer- angeblich - sozialeren Ordnung. Ist die POS eine demokratische Partei? Sie ist eine Partei innerhalb einer Demokratie, was aber etwas anderes ist und nur heißt: Sie ist nicht verboten. Es dürfte sehr schwerfallen, ihr formell Verfassungsfeindlichkeit nachzuweisen. Es wird auch viel abgestimmt in der POS, und von diesbezüglichen Wahlfälschungen ist nichts bekannt. Sie versteht sich selbst als demokratische Partei, aber sie will eine andere bessere Demokratie, wie sie sagt. Diese bessere Demokratie soll nicht mehr primär repräsentative Demokratie sein. Was sie meint, dokumentiert der Verfassungsentwurf der POS. Es ist in Ost und West gar nicht so einfach zu verdeutlichen, daß diese angeblichen Vervollkommnungen der Demokratie eine Verschlimmbesserung darstellen. Sie führen nämlich über die Räte das Prinzip "Entscheidungsbefugnis durch Betroffenheit" ein und untergraben das demokratische Prinzip: "Entscheidungsbefugnis durch allgemeine gleiche und freie Wahlen". Die POS setzt, ein wenig modifiziert, die Vorbehalte von Marx und Lenin gegenüber dem Parlamentarismus fort. Sie möchte die Demokratie beleben auf einem Wege, der die parlamentarische Demokratie beschädigen wird, sage ich. Aber für diesen Vorbehalt bekomme ich im Osten wenig Zustimmung, weil eine grundsätzliche Demokratie-Diskussion gar nicht geführt wird. Die POS kämpft nicht gegen den Parlamentarismus. Ich habe den Eindruck, auch an der Spitze der POS sind die entsprechenden Grundsatzfragen nicht klar. Der Vorsitzende Bisky sagt: "Einige unserer Mitglieder wollen das System reformieren, andere wollen es überwinden", offenbar ohne zu merken, daß das genau die Grundsatzfrage ist: Will man die Ordnung des Grundgesetzes grundsätzlich akzeptieren oder will man sie grundsätzlich überwinden? Die POS ist keine parlamentarische Boykottpartei. Ihre Abgeordneten in Kommunen und Landtagen halten sich an die parlamentarischen Spielregeln. Sie sind oft aktiver und agiler als Abgeordnete anderer Parteien. Daß CDU-Abgeordnete oder SPDAbgeordnete einen POS-Antrag unterstützen, ist im Osten nichts Ungewöhnliches. Die POS ist keine Partei, die den Umsturz plant.

Wann ist die Einheit vollendet?

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Ist die PDS die Partei der Ostdeutschen? Sie hat im Westen nicht Fuß gefaßt, im Osten wird sie von 80 Prozent nicht gewählt. Indessen verzerrt diese richtige Angabe doch das wahre Bild. Denn viele Bürger in den neuen Bundesländern wollen, daß die PDS politische Verantwortung übernimmt. So halten 61 Prozent der Brandenburger die PDS ftir erforderlich, um ostdeutsche Wähler zu integrieren, die ansonsten keine politische Heimat hätten. Und in dieser Einschätzung steckt etwas sehr wichtiges. Stellen wir uns vor, die PDS wäre verboten worden. Wohin würden sich dann ihre Wähler wenden? Ein ganzer Teil von ihnen würde rechtsradikal wählen. Daftir gibt es ein Indiz. Von denen, die bei den Magdeburger Landtagswahlen 1998 mit der Zweitstimme die rechtsextremistische DVU gewählt haben, haben die meisten, nämlich 23 Prozent, der PDS ihre Erststimme gegeben. Das beweist übrigens, daß die übliche Einteilung in rechts und links so von diesen Wählern jedenfalls nicht vollzogen wird. Und wenn die CSU gelegentlich erklärt, die SPD solle die PDS auf allen Ebenen genauso ignorieren, wie die CSU die Republikaner ignoriert, dann merkt man, daß Bayern weit im Süden liegt, denn das völlige Ignorieren einer 20-Prozent-Partei, die nach Mitgliedern dreimal so stark ist wie die CSU und Teile der Staatselite darstellt, das müßte uns die CSU erst einmal vormachen. Und die CDU denkt im Osten auf kommunaler Ebene gar nicht daran, die PDS zu ignorieren. Ich will mit all dem gar nicht sagen, die PDS solle als ganz normale und also auch koalitionsfähige Partei betrachtet werden. Vielmehr gilt folgender Befund: Die Bevölkerung im Osten betrachtet die PDS nicht als eine radikale Partei, und sie ist auch nicht radikal im üblichen Sinne des Wortes. Fassungslos allerdings bin ich, wenn ich hier und da im Osten die Ansicht höre, die PDS sei demokratischer als die CDU. Da müssen wir offenbar noch einmal grundsätzlich darüber reden, was denn Demokratie heißt und was den Konsens der Demokraten ausmacht. Die Mehrheit der Volkskammer hat die PDS gegen ihren damaligen Willen in die deutsche Einheit mitgenommen. Wir müssen ein Interesse daran haben, daß sie dort auch ankommt. Zwischen Ausgrenzung und Umarmurig gibt es ein Drittes: die sachliche Auseinandersetzung mit Widerspruch hier und Zustimmung da und die politische Abgrenzung vom politischen Gegner statt der Ausgrenzung als politischen Feind. Im übrigen muß es die politische Aufgabe aller demokratischen Parteien sein, der PDS den Wind aus den Segeln zu nehmen. Richard von Weizsäcker hat an die PDS drei Forderungen gestellt: Sie solle die deutsche Einheit bejahen, sich vom diktatorischen Regime der SED distanzieren und das Grundgesetz bejahen. In der Tat wären wir dann in einer neuen Situation. Sie wird das aber wohl so schnell nicht tun, weil sie sich dann wahrscheinlich spalten würde. Die Wahlerfolge der PDS sind immer auch ein Gradmesser, ein Symptom ftir den Stand der deutschen Einheit in der Frage des politischen Konsens.

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Und was muß nun geschehen, damit wir in der deutschen Vereinigung weiter vorankommen? Wir brauchen mehr persönliche Kontakte und Begegnungen. Die Westdeutschen haben noch immer erheblichen Nachholbedarf bei der Wahrnehmung der hinzugekommenen neuen Bundesbürger. Viele haben ja inzwischen durch verschiedenartige Engagements im Osten eine Anschauung von den dortigen Verhältnissen gewonnen. Es bedarf nämlich einiger Begegnungen, um überhaupt zu merken, wonach man fragen muß. Erst aus den vielen kleinen Steinehen bildet sich dann das Mosaik, ein Eindruck vom Leben in der DDR und dessen Folgen. Jedenfalls sollten sich diejenigen solcher Erkundungsgänge unterziehen, die über die DDR-Verhältnisse einst und jetzt urteilen wollen. In einem Leserbrief der FAZ hat am 13. Juni 1998 jemand beklagt, daß die Bundesregierung nicht im Jahreswechsel 1989/90 die SED konsequent verboten hat. Der Unfug wird gedruckt! Damals war die SED regierende Partei eines Nachbarstaates der Bundesrepublik Deutschland. Die Ankündigung einer solchen Absicht durch die Bundesregierung wäre mit Sicherheit ein unüberwindliches Hindernis auf dem Weg zur deutschen Einheit geworden, flir den bekanntlich die Zustimmung der Sowjetunion nötig war. Und die Ostdeutschen sind in der Ordnung des Grundgesetzes noch nicht ganz angekommen. Sie sagen nicht selten: "Die Demokratie löst die Probleme ja auch nicht" und denken dabei an all das, was sie beschwert oder empört im öffentlichen Leben. Sie müssen lernen, ihre Kritik genauer zu plazieren und nicht "die Demokratie" pauschal, sondern die jeweilige politische Entscheidung haftbar machen. Wenn schlechter Fußball gespielt wird, muß es nicht immer an den Regeln liegen. Es liegt zumeist an der Mannschaft. Sie müssen allerdings auch den Wunderglauben fahrenlassen, Politik könne alle Probleme zu aller Zufriedenheit lösen. Das wirtschaftliche Nachhinken des Ostens hinter dem Westen hat doch zuerst einmal mit den Hinterlassenschaften der DDRMißwirtschaft zu tun. Gemeinsam müssen wir offenbar erst noch begreifen, was uns die deutsche Vereinigung wirklich gebracht hat. Am 3. Oktober 1990 ging für Deutschland die Nachkriegszeit zu Ende. Erstmals lebt Deutschland in allseits vertraglich anerkannten Grenzen, denn Deutschland in den Grenzen des 3. Oktober 1990 ist das ganze Deutschland. Und Deutschland ist in einem europäischen Verbund zuhause, der es vor der deutschen Gefahr des Sonderweges schützt. Und wem haben wir die deutsche Einheit zu verdanken? Bundeskanzler Kohl verdient den Titel eines Kanzlers der Einheit. Das ist wahr. Wenn aber der Papst oder Präsident Clinton Helmut Kohl flir die deutsche Einheit danken, dann möchte ich sie alle in aller Bescheidenheit daran erinnern: Ohne die friedliche Revolution in der DDR und ohne den Beitrittsbeschluß der frei gewählten Volkskammer wäre Helmut Kohl nicht der Kanzler der Einheit geworden.

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