Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen von 1919: Versuch einer internationalen Regelung der Arbeitszeit in Europa [1 ed.] 9783428473717, 9783428073719

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Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen von 1919: Versuch einer internationalen Regelung der Arbeitszeit in Europa [1 ed.]
 9783428473717, 9783428073719

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STEPHAN GRABHERR

Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen von 1919

Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Trier, Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken, Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg

Band 5

Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen von 1919 Versuch einer internationalen Regelung der Arbeitszeit in Europa

Von

Stephan Grabherr

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Grabherr, Stephan: Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen von 1919: Versuch einer internationalen Regelung der Arbeitszeit in Europa I von Stephan Grabherr. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ; Bd. 5) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07371-1 NE:GT

D25 Alle Rechte vorbehalten

© 1992 Duncker & Humb1ot GmbH, Berlin 41

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-07371-1

Vorwort Der vorliegende Band befaßt sich aus der Sicht eines Historikers mit einem Gegenstand der neuesten Geschichte, der gerade den Juristen in besonderem Maße interessiert. Er verwirklicht insofern zwei Anliegen der "Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte", die im dritten Band der Reihe ("Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte-Ergebnisse und Perspektiven der Forschung", 1991) einleitend programmatisch genannt waren: das Bemühen um interdisziplinären Austausch und die Einbeziehung der neuesten Rechtsund Verfassungsgeschichte. Erst das Zusammenwirken von Vertretern der Rechtswissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Politischen Wissenschaft kann der Gegenwart die Gemeinsamkeiten der europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte als prägenden Bestandteil der europäischen Kulturgeschichte insgesamt und damit als eine maßgebliche Voraussetzung heutiger europäischer Integrationsbemühungen im erforderlichen Maße erschließen. Und erst die Auseinandersetzung mit der jüngsten Rechtsgeschichte läßt erkennen, inwieweit die Gemeinsamkeiten der "alteuropäischen Gesellschaft" im Zeitalter des Nationalstaates fortwirkten und durch neue Ansätze und Formen internationalen Zusammenwirkens ergänzt und vertieft wurden. Das Arbeitsrecht als ein entscheidend durch die Industrialisierung und ihre Folgen geprägtes Rechtsgebiet und als eine verhältnismäßig junge rechtswissenschaftliche Disziplin von herausragender sozialer Bedeutung für die Gegenwart stellt dabei eine besondere Herausforderung dar, Gemeinsamkeiten und Unterschieden nationaler Rechtsentwicklungen in Europa für die Modeme nachzugehen. Das Thema dieses Bandes zeigt dabei zugleich, wie die "europäische" Rechtskultur in der Moderne nicht mehr auf den geographischen Raum Europa beschränkt ist und doch der Vergleich einzelner Staaten gerade in diesem Raum Aufmerksamkeit verdient. Trier, im April 1992

Reiner Schulze

Inhalt A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Die Anfänge Internationaler Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

I. Die Wurzeln Internationaler Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

II. Der Versailler Friedensvertrag Teil XIII . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . ....

21

1. Die Labour Charter . . .. ... .. . .. . ... .. . ... .. . ... ... .. . .... .. . ... ...........

21

2. Das Statut der International Labour Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

III. Deutschlands Beitritt zur International Labour Organisation im Jahre 1919 ................. ... ....... ... ...... ......... ........................

26

C. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen von 1919 .. .. .. .. .. .. .. .. .. .

29

D. Der Versuch einer internationalen Regelung der Arbeitszeit in Europa - Prüfstein für die International Labour Organisation und Gegenstand der auswärtigen Sozialpolitik Deutschlands, Frankreichs und Englands....

38

I. Die Jahre 1920 bis 1923 .............. .......................................

38

1. Die International Labour Organisation und das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen: Standortbestimmung und Bewährungsproben

38

2. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen als Gegenstand der auswärtigen Sozialpolitik der Weimarer Republik .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

68

3. Die allgemeinen Beziehungen zwischen der International Labour Organisation und der Weimarer Republik .. .... .......... ...... ...... ..

89

II. Das Jahr 1924- Der Dawesplan und die internationale Regelung der Arbeitszeit in Europa .. . . . . .. ... ... ... ... ... . .. ... ... ... .... ... ... ... ... ... ..

100

1. Das Bureau International du Travail als Anwalt des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens (bis Juni 1924) ...... ....... ...... ...... ..

100

a) Deutschland ... . .. . . . . . . ... ... ... ... ... . .. . . . . .. .... ... ... . . . ... ... ... . . 100 b) England . .. . .. . . . . . .. .. . . .. . .. . .. .. . .. . . .. .. . . .. . . .. .. . .. .. . . . .. . .. ... ..

132

2. Die Internationale Arbeitskonferenz vom Juni/Juli 1924 - ein ,.Scherbengericht über Deutschland"? .. . . . . . . . . . . . .. . .. . .. . .. .. .. . . .. .. 148 3. Das Bemer Treffen der Arbeitsminister vom September 1924 .... ..

173

a) Die Vorgeschichte- ein verhindertes Junktim zwischen Arbeitszeit und Reparationen .. . .. . .. . .. . . .. . .. . . . . . . .. .. . .. . .. .. . . .. .. . .. . .. 173 b) Der Verlauf des Arbeitsministertreffens und seine Ergebnisse .. . 205

8

Inhalt 4. Die Auswirkungen auf die Arbeitszeitpolitik bis Anfang 1925 . . .. ..

225

a) Die Ratifikation als Ziel deutscher Arbeitszeitpolitik . . . . . . . . . . . . . 225 b) Das Protokoll-Projekt des Reichsarbeitsministers . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Ill. Die allgemeinen Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und der International Labour Organisation ab 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 IV. Die Londoner Konferenz der Arbeitsminister vom März 1926 - Ein "soziales Locamo"? . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . .. . .. .. . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . 273

1. Die Vorgeschichte ... . . ... . .. ... ... ... . . .. .. .. .. .. ... .. ... .. . .. .. . . . . . .. ..

273

a) Deutsche Arbeitszeitpolitik im internationalen Kontext . . . . . . . . . . . 273 b) Internationale Vorverhandlungen - zwischen ,,kalter Revision" und Interpretation des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens

289

2. Der Verlauf der Konferenz, ihre Ergebnisse und unmittelbaren Auswirkungen- Artikel 14: Die reparationspolitische Achillesferse des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 V. Von der Londoner Konferenz bis zum englischen Revisionsbegehren im Jahre 1928 .. ... ... . ... .. . . . . . .. ... . .. ... . .. ... . .. .. . ... ... .... . . . ... . . . . . . ... . . 352

1. Deutsche Arbeitszeitpolitik nach London . .. .. . . . .. . . . .. . . . . . .. .. . .. . . . 352 2. Auf dem Weg zur Revision in Genf . . . . . . .. .. .. .. . .... . .. .. . ... .. .. .. ..

369

VI. Die Ablehnung der Revision des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens im März 1929 I Juni 1930 . . . .. . . . .. . . . . .. . . .. . . . . .. . .. . .. . . . . . . .. . . .. . 397 VII. Bis zum Austritt Deutschlands aus der International Labour Organisation im Jahre 1933 . ... ..... . . . .. ... ... ... . .. ... ... .. . ... .. . .. . . ... . . . ... ... . .. . .. . . 418

E. Ein kurzes Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

F. Anhang .. .. . .. . ... ... ...... .... .... .. . .. ... ... . . .... . .. .. . ... .. . .. .... . ... . . . . ... .... 437 I. Biographien .. . .. . . .. . . .. .. . . .. . . . .. . .. . .. . . . . .. . .. . . . . .. . .. .. . . .. . . . . . .. . .. . ..

437

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

G. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463

Abkürzungsverzeichnis ADB ADGB AdR AfA AfA-Bund ASLEF BIT

Allgemeiner Deutscher Beamtenbund Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Alcten der Reichskanzlei Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände Allgemeiner freier Angestelltenbund Associated Society of Locomotiv Engincers and Firemen Bureau International du Travail

BVP

Bayerische Volkspartei

CAT CGT DBB DGB DDP DIHT DMV DNVP

Cabinet Albert Thomas Confederation Internationale du Travail Deutscher Beamtenbund Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Demokratische Partei Deutscher Industrie- und Handelstag Deutscher Metallarbeiterverband Deutschnationale Volkspartei

DVP GB

Deutsche Volkspartei Governing Body Internationaler Gewerkschaftsbund IGB Internationale Arbeitskonferenz IAK International Labour Organisation ILO Mission Interalliee de Contröle des Usines et des Mines MICUM Nachlaß NL National Union of Railwaymen NUR RAM Reichsarbeitsministerium RAMinister = Reichsarbeitsminister Reichsverband der Deutschen Industrie Rdl RGBl. Reichsgesetzblatt Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstags und SBR Drucksachen SFIO StiGH TGWU TUC

Section Fran~aise de !'Internationale Ouvriere Ständiger Internationaler Gerichtshof Transport and General Workers' Union Trade Union Congress

10 VRWR VDA VdESI WAZ ZAG ZStA

Abkürzwtgsverzeichnis Vorläufiger Reichswirtschaftsrat Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen Zentralarbeitsgemeinschaft (Ehemaliges) Zentrales Staatsarchiv, Potsdam

A. Einleitung 1919 wurde sie gegründet, im Jahre 1969 erhielt sie den Friedensnobelpreis. Die Rede ist von der International Labour Organisation, der ältesten UN-Sonderorganisation. Außergewöhnlich ist nicht nur ihre langjährige Tradition, sondern auch ihre innere Struktur, die sich an einem Punkt fundamental von anderen internationalen Organisationen unterscheidet: neben Vertretern der Regierungen entsenden auch die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverhände eines Mitgliedslandes ihre Repräsentanten in die Gremien der International Labour Organisation (ILO). Dieses Prinzip des Tripartismus läßt die nationale Außenpolitik eines Staates nicht unberührt. Die Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden zu selbständigen Akteuren im "internationalen" Geschehen und tragen damit zu einer, vielleicht demokratischeren Außenpolitik bei, die sich nicht mehr nur inter nationes abspielt. Trotzdem, die auswärtige Sozialpolitik eines Landes kann nicht isoliert von seiner allgemeinen Außenpolitik gesehen werden. Gerade für die Weimarer Republik, der sich diese Untersuchung u.a. widmet, gilt dies in besonderem Maße. Denn in der ILO war Deutschland bereits ab 1919 vollwertiges Mitglied, wohingegen die allgemeinpolitische Bande zwischen Berlin und Genf erst im Jahre 1926 mit dem Beitritt zum Völkerbund geknüpft wurde. Die auswärtige Sozialpolitik war als Neuling auf diplomatischem Parkett gleichzeitig Vorreiter deutscher Außenpolitik nach 1918. Aus der Sicht der ILO bedeutete die Phase unmittelbar nach ihrer Gründung 1919 eine Zeit, in der sich das im Versailler Friedensvertrag niedergelegte System der Internationalen Sozialpolitik erst konstituieren und seinen Platz neben der traditionellen Politik der internationalen Beziehungen erkämpfen mußte. Heute spricht man von der zweigeteilten ILO. Einerseits sucht die Genfer Organisation durch Verabschiedung von sozialpolitischen Konventionen und Empfehlungen die Arbeits- und Lebensbedingungen in allen Ländern zu verbessern. Auf der anderen Seite versteht sich die ILO auch als Entwicklungshilfeorganisation, die z.B. durch Fort- und AllSbildungsprogramme einen unmittelbaren Beitrag zur Überwindung des Nord-Süd-Gefälles leistet. In der Zwischenkriegszeit beschränkte sich die

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A. Einleitung

Tätigkeit der ILO auf den ersten Bereich. Die von der Internationalen Arbeitskonferenz 1919 in Washington als erste verabschiedete Konvention betraf die Einführung des 8-Stunden-Tages und der 48-Stunden-Woche. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen sollte zum Prüfstein sowohl für die ILO als Ganzes als auch für das Bureau International du Travail werden, das von 1919 bis 1932 unter Leitung von Albert Thomas stand. Nachdem die USA dem Völkerbund und der ILO nicht beigetreten war, bestand das primäre Ziel der Genfer Arbeitsorganisation darin, die Ratiftkation des Übereinkommens durch die europäischen Industriestaaten zu erreichen. Es war der erste Versuch einer internationalen Regelung der Arbeitszeit in Europa. Nach dem II. Weltkrieg verlagerte sich der Schwerpunkt der internationalen Arbeitszeitverhandlungen in Europa immer mehr von der ILO auf die Gremien der Europäischen Gemeinschaft. Trotz dieser Einbindung in einen gesamteuropäischen Integrationsprozeß prägen nach wie vor bereits in der Zwischenkriegszeit typische Konfliktfelder und Interessenunterschiede die Versuche, einen arbeitszeitpolitischen Konsens zwischen den Staaten Europas zu finden. 1 Die auswärtige Sozialpolitik der Weimarer Republik maß dem Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen große Bedeutung bei. Bereits im sog. Stinnes-Legien-Pakt 1918 hatten die Kontrahenten vereinbart, daß die Einführung des 8-Stunden-Tages in Deutschland auf Dauer nur Gültigkeit haben sollte, wenn dieser auch durch internationale Vereinbarung festgeschrieben würde. Mit der Ratifizierung des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens wäre aber nicht nur diese Bedingung des Stinnes-Legien-Pakts erfüllt worden. Möglicherweise hätten so manche sozialpolitischen Konflikte, wie z.B. der Ruhreisenstreit von 1928, die Republik von Weimar weniger erschüttert, wenn durch die Internationalisierung eines Mindestprogramms der arbeitszeitpolitische Grundkonsens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern von 1918 auf einem soliden, unangreifbaren Fundament gestanden hätte. Ordnet man somit nationale Arbeitszeitpolitik in einen internationalen Kontext ein, so kann der Bereich der Wirtschaftspolitik nicht unberücksichtigt bleiben. Die Arbeitszeit gehört zu den Bedingungen, unter denen die Industrie in einem Land produziert und die beim Konkurrenzkampf auf den Weltmärkten als Vor- oder Nachteil zu Buche schlagen. Die außenwirtschaftlichen Beziehungen waren in der Zwischenkriegszeit mit einem 1 Vgl. 'Streit um EG-Arbeitszeitregelung', in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.12.1991

A. Einleitung

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schwerwiegenden Problem belastet: die Frage der Reparationen und der interalliierten Schulden. Anband der Diskussionen und Verhandlungen über die Ratifikation des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens werden in diesem Zusammenhang zwei Aspekte zu untersuchen sein: Zum einen stellt sich die Frage, ob und inwieweit das Reparations- und Schuldenproblem eine internationale Verständigung über die Arbeitszeit in Europa erschwerten. Auf der anderen Seite boten vielleicht gerade die Verhandlungen über eine Ratifikation des Arbeitszeitübereinkommens für Deutschland Ansatzpunkte, um auf arbeitszeitpolitische Folgelasten zu hoher Reparationsforderungen aufmerksam zu machen. Stand die auswärtige Sozialpolitik also in Diensten der Erfüllungs- und/ oder Revisionspolitik ? Schließlich wirft die internationale Dimension des Arbeitszeitproblems ein neues Licht auf die Entstehungsgeschichte der für die weitere politische Entwicklung der Weimarer Republik so wichtigen Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923.

Internationale Sozialpolitik bewegt sich im Überschneidungsbereich von Außen- und Innenpolitik. Möglicherweise war gerade dies der Grund, warum Internationale Sozialpolitik in der Zwischenkriegszeit bislang nicht Gegenstand, insbesondere der deutschen Historiographie2 geworden ist. Obwohl sich eine Vielzahl von Studien mit dem Problem der Arbeitszeit während der Weimarer Republik auseinanderset:zf, wird dessen internatio2 Siehe hierzu nur Heidrun Maschl, Arbeitergesetzgebung auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, (Diss.) Salzburg 1971; Deutschland und die Internationale Arbeitsorganisation. Mitarbeit des Deutschen Reiches bis 1933. Beitritt der Bundesrepublik Deutschland im Juni 1951, in: Bundesarbeitsblatt Nr. 9 vom September 1951, S. 403407. An zeitgenössischen Arbeiten sind zu erwähnen: F. Ritzmann. Internationale Sozialpolitik, ihr geschichtliche Entwicklung und ihr gegenwärtiger Stand, Mannheim 1925, F. Tänzler, Internationale Sozialpolitik, eine Darstellung der Internationalen Arbeitsorganisation, Ber!in 1926 (=Schriften der VDA, Heft 14). Thilo Morhardt, Die Rechtsnatur der Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation: greift zwar auf Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit zurück, doch steht bei ihm die rechtliche Dimension im Vordergrund; vgl. in diesem Zusammenhang auch Hermann Hahlo , Wirkung und Ratifikation arbeitsrechtlicher Beschlüsse der Internationalen Arbeitsorganisation, Berlin 1929 sowie Berger/Kuttig/Rhode, Internationales Arbeitsrecht, Berlin 1931. Beiträge wie die von K. Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik, Köln 1976; T. Buff, Sozialpolitik im Kontext nationaler und internationaler Politik: Spanien 1919 1939,(Diss.) Bern 1987; Daniel P. Moynihan, The United States and the International Labour Organisation, 1889-1934; (Diss., Aetcher School of Law and Diplomacy), 1960; N.K. Kakkar, lndia and the ILO. History of Fifty Years, Delhi 1970, fehlen für den Bereich der deutschen a~swärtigen bzw. Internationalen Sozialpolitik ab 1919. Es seien an dieser Stelle nur einige der zentralen Beiträge herausgegriffen: Sabine Bischaff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, Berlin 1987; H.-H. Herzog, Ökonomie und Politik des Achtstundentags in der Weimarer Republik. Eine empirisch-historische Studie zur staatlichen Arbeitszeitregelung 1918-1926, (Diss.) Marburg 1975; Karl Hinrichs, Motive und Interesse im Arbeitszeitkonflikt. Eine Analyse der Entwicklung von Normalarbeitszeitstan-

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A. Einleitung

nale Dimension nur ganz am Rande behandelt.4 Zwar räumt Leuchten5 dem Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen einen breiteren Raum ein, doch beschränkt sich seine Untersuchung auf die Auswertung veröffentlichten Quellenmaterials. Noch dürftiger sind die Forschungsergebnisse, nähert man sich dem Thema über Studien zur deutschen Außenpolitik.6 Über die International Labour Organisation liegen dagegen von ausländischen Autoren mehrere Arbeiten vor, die jedoch weder deren Politik in der Zwischenkriegszeit schwerpunktmäßig behandeln noch die internationale Verständigung über die Arbeitszeit in den Mittelpunkt ihres Interesses rücken.7 Die vorliegende Arbeit will diese Lücke schließen. Sie will die Politik der International Labour Organisation, der Weimarer Republik, Frankreichs und Englands im Rahmen einer internationalen Regelung der Arbeitszeit in Europa während der Zwischenkriegszeit zusammenhängend darstellen und analysieren.

dards, Frankfun 1988; Günther Scharf. Geschichte der Arbeitszeitverkürzung, Köln 1987; Dieter Schiffmann, Von der Revolution zum Neunstundentag. Arbeit und Konflikt bei BASF, 1918-1924, Frankfun 1983; Michael Schneider, Streit um Arbeitszeit. Geschichte des Kampfes um Arbeitszeit in Deutschland, Köln 1984; lrmgard Steinisch, Arbeitszeitverkürzung und sozialer Wandel. Der Kampf um die Achtstundenschicht in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie 1880..1929, Berlin/New York 1986; G.D. Feldmann/1. Steinisch, Die Weimarer Republik zwischen Sozial- und Winschaftsstaat. Die Entscheidung gegen den 8Stunden-Tag, in: Archiv für Sozialgeschichte 18 (1978), S. 353-439. 4 Vgl. z.B. S. Bischoff, S. 127 f; G. Scharf, S. 4n ff I. Steinisch, S. 439, Fußnote 201; Jürgen Bellers, Außenwinschaftspolitik und PC?,litisches System der Weimarer Republik, Münster 1988, S. 158 f. Den umfassendsten Uberblick über die Geschichte des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens gibt: 50. Sonderheft nm1 Reichsarbeitsblalt. Das Obereinkommen von Washington über den Achlstlmdentag 1919- 1929. Unterlagen und Erläuterungen, Joachim F~her, Herben Rhode unter Mitarbeit von Walter Weber, Berlin 1929 Der Kampf um den Achtstundentag. Auseinandersetzungen um die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit in der Weimarer Republik, (Diss.) Augsburg 1978. 6 Z.B. Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985 und auch neuerdings Manfred Berg, Gustav Stresemann und die Vereinigten Staaten von Amerika. Weltwinschaftliche Verflechtung und Revisionspolitik 1907-1929, Baden-Baden 1990, thematisieren die Internationale Sozialpolitik nicht. Maria Zenner, Paneien und Politik im Saargebiet unter dem Völkerbundsregime 1920 - 1935, Saarbrücken 1966 geht auf die Beziehungen zur 1~0 im Rahmen ihres Themas ein. Zu den wichtigsten zählen: A. Alcock, History of the International Labour Organisation, London 1971; G.N. Barnes, History of the International Labour Office, London 1926; VictorYves Ghebali, The International Labour Organisation. A Case Study on the Evolution of UN Specialised Agencies, Dordrecht 1989; John S. Gillespie, The Rote of the Director in the Development of the International Labour Organisation (Diss., Columbia University), 1956; DA. Morse, The Origin and Evolution of the ILO and its rote in the World Community, New York 1969; Abdul-Karim Tikriti, Tripanism and the Internationale Labour Organisation, Stockholm 1982. Siehe auch die unter Fußnote 1 _genannten Arbeiten über die Beziehungen eines bestimmten Landes zur ILO. Einen guten Uberblick über die Tätigkeit der ILO im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens gibt: Zehn Jahre Internationale Arbeitsorganisation, Internationales Arbeitsamt (Hrsg.), Genf 1931.

A. Einleitung

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Grundlegend für die Untersuchung der Politik der ILO sind die Protokolle der jährlich stattfmdenden Internationalen Arbeitskonferenz (International Labour Conference 1919 ff = ILC 1919 ff) und des Verwaltungsrats (Governing Body 1919 ff = GB 1919 ff), der etwa alle drei Monate zusammentrat. Für die Tätigkeit des Bureau International du Travail (BIT) bildet der Nachlaß des damaligen Direktors, Albert Thomas, und seines Stellvertreters, Harold B. Butler8, den zentralen Quellenbestand. Der größte Teil des sehr umfangreichen Nachlasses von Albert Thomas befmdet sich in Genf und ist gut erschlossen (Cabinet Albert Thomas = CAT...). Da Thomas, der frühere französische Munitionsminister, das Bureau International du Travail nach französischen Verwaltungsgrundsätzen leitete, nahm sein Cabinet direkten Einfluß auf die Tätigkeit der einzelnen, ihm nachgeordneten Arbeitseinheiten.9 Die Akten des "Cabinet Albert Thomas" geben deshalb einen guten Überblick über die Politik des Bureau International du Travail als ganzes und ermöglichen einen Einblick in den Entscheidungsprozeß der Leitungsebene. Um ein vollständiges Bild von der Politik des damaligen Direktors zu erhalten, wurde zusätzlich der restliche Teil seines Nachlasses ausgewertet, der sich in den Archives Nationales in Paris befmdet und für die Zeit ab 1919 in erster Linie Korrespondenz des Direktors enthält (94 AP....). Weitere Informationen waren den Akten der "Division Diplomatique" des Bureau International du Travail zu entnehmen. 10 Trotz einer umfassenden Auswertung der Akten Albert Thomas und der Diplomatischen Abteilung dokumentieren diese Bestände ein Ereignis nicht, das von großer Bedeutung für die Geschichte des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens ist: Protokolle und maschinenschriftliche Aufzeichnungen11 über das Berner Treffen der Arbeitsminister im Jahre 1924 fehlen. Um diese Lücke zu schließen, wurde auf einen Aktenbestand des englischen 8 Bwler Archives ( = Handakten aus dessen Zeit als Stellvenretender Direktor; 1919 - 1932); Bwler Papers ( = Handakten aus dessen Zeit als Direktor des BIT; 1932 - 1938). 9 Siehe E. J. Phelan, Yes and Alben Thomas, New York 1949, S. 64 f, der auch die Schwierigkeiten einer Abstimmung mit dem englischen System der Aktenführung anschaulich beschreibt. Charakteristisch für Thomas Arbeitsweise sind seine sog. Notes. Diese enthalten Anweisungen an seine Bediensteten, beinhalten Zusammenfassungen über Gespräche und Auslandsreisen oder geben - als Note personneUe besonders gekennzeichnet - das Denken und die politischen Absichten des Direktors wieder. Für die Frage der Arbeitszeit von herausragender Bedeutung ist auch die Sachakte "CAT 6C-7-l/2 (Questions Sociales, Duree du Tra-

~Y);~sbesondere D (ivision Diplomatique) /601 ( = Akten betreffend die RatifiZierung der

ersten ILO-Konvention. des Washingtoner Arbeit.szeitübereinkommens) /2010/25 ( • Englafid); /24 ( = Deutschland); /22 ( = Frankreich). Trotz intensiver Suche ließen sich lediglich kleine Arbeitshinweise auffinden, die auf ein Protokoll des BIT hindeuten. Außerdem liegt eine mehrseitige, handschriftliche StichwonAufzeichnung von Thomas (CAT 6C-7-1) über das Berner Treffen vor, aus der sich aber keine kohärenten und zuverlässigen Informationen gewinnen lassen.

16

A. Einleitung

Arbeitsministeriums zurückgegriffen, in dem sich sowohl ein vom Bureau International du Travail erstelltes Protokoll als auch eine Niederschrift des englischen Arbeitsministeriums über das Berner Treffen befindet.12 Wer die auswärtige Sozialpolitik der Weimarer Republik einer quellenkritischen Untersuchung unterziehen will, steht vor dem Problem, daß die Akten des Reichsarbeitsministeriums, soweit die Regelung der Arbeitszeit betroffen ist - sei es national13 oder international -, nur äußerst bruchstückhaft Auskunft geben. Genaueren Aufschluß erhält man aus der im Nachlaß Albert Thomas enthaltenen Korrespondenz mit dem damaligen Leiter des Berliner Zweigbüros der IL0 14 und aus den Berichten und Briefen des aus der Christlichen Gewerkschaftsbewegung stammenden Mitarbeiters von Albert Thomas, Hermann Henseler. 15 Ferner geben die veröffentlichten (AdR Nr....) und unveröffentlichten (R 43 1/...) Akten der Reichskanzlei einen Überblick über Grundzüge der auswärtigen Sozialpolitik Deutschlands ab 1919. Da diese wie gesagt nicht losgelöst von der allgemeinen Außenpolitik der Weimarer Republik zu begreifen ist, wurde zusätzlich auf Aktenbestände des Auswärtigen Amts und der deutschen Auslandsvertretungen in Genf, Bern, Paris und London zurückgegriffen (PA/ ...}16• Der Einordnung in einen breiteren Kontext dient auch die Darstellung der allgemeinen Beziehungen zwischen Deutschland und der International Labour Organisation in jeweils gesonderten Kapiteln. Die Stellungnahmen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter zum Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen wurden vollständig berücksichtigt, soweit sie sich innerhalb der ILO-Gremien manifestierten. 12 Die entsprechende Akte des Ministry of Labour, General Department, International Labour "Hours Convffltion. Meeting of Ministers of Labour from Belgium, France, Germany, Great Britain on 8 Sept. 1924" (Lab 2/994/IL 125/29) befindet sich im Public Record Office, London. Aus dieser Akte ergeben sich auch Einblicke in die englische Politik im Hinblick auf die Vorbereitung der Londoner Arbeitszeitkonferenz vom März 1926. Außerdem wurde ein Memorandum des englischen Arbeitsministers vom 29.03.1926 (CAB 24/179, C.P. 137) und das Protokoll über die Kabinettssitzung vom 29.01.1926 (CAB 23/52, CAB 2 (26) 7) verwerdet. 1 Vgl. die Arbeit von S. Bischoff. 14 Für die Zeit bis zur Übernahme des Zweigbüros durch Willy Donau im Jahre 1925 ist die Korrespondenz äußerst spärlich. Danach ist der - oft persönliche und vertrauliche - Schriftverkehr fast lückenlos dokumentien, CAT 5-2-5, -6(A), -6(8), -7. Daneben liegen die offiziellen Bericht des Zweigbüros vor, die allerdings nur allgemein über dessen Tätigkeit und die sozif~politischen Entwickungen in Deutschland Auskunft geben. Dieser 18 Mappen umfassende und bisher noch weitgehend ungeordnete Bestand konnte zu:r ersten Mal eingesehen werden (Henseler Papiere). 1 Die Akten des für die Internationale Sozialpolitik zuständigen Referats der Rechtsabteilung waren allerdings weder im Politischen Archiv in Bonn noch im (ehemaligen) Zentralen Staatsarchiv in Potsdam (Anfang 1989), wo der Großteil der Bestände der Rechtsabteilung für die Zeit zwischen 1919 und 1930 lagen, aufzufinden.

A. Einlcirung

17

Protokolle über die Sitzungen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmergruppe im Verwaltungsrat und auf der Internationalen Arbeitskonferenz, in denen die jeweilige Politik der beiden Gruppen im kleinen Kreis vorbesprochen und abgestimmt wurde, befinden sich leider nicht im Archiv des Bureau International du Travail. Die Stellungnahmen auf internationaler Ebene und das Aktenmaterial des Bureau International du Travail erlauben jedoch, die wichtigsten Grundlinien nachzuvollziehen. Was die deutschen Gewerkschaften anlangt, so wurde neben Publikationen und Beiträgen in der Gewerkschaftspresse in erster Linie die für die Weimarer Republik nunmehr vollständig vorliegende Edition der ·ouellen zur Geschichte der Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert" (ADGB DOKUMENTE ...) herangezogen. Eine flächendeckende Auswertung der Bestände der Industrie- und Arbeitgeberverbände in Deutschland sowie eine breit angelegte, quellenkritische Analyse der Positionen ausländischer Verbände und Regierungen zu diesem Thema wäre über den Rahmen dieser Arbeit hinausgegangen. Sie muß deshalb ebenso künftigen Studien vorbehalten bleiben wie die Analyse der Arbeitszeitverhandlungen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft. Danken möchte ich der Friedrich-Naumann-Stiftung, die durch ein Stipendium die Grundlage für diese Arbeit geschaffen hat. Besonders hervorgehoben sei auch die große Unterstützung, die ich während meiner Genfer Aufenthalte vom Leiter des ILO-Archivs, Herrn Zoganas, und von Frau de Rosen sowie während meiner Banner Zeit von Frau Dr. Keipert und Herrn Dr. Gehling im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts erfahren habe. Herr Prof. Dr. Ulrich Kluge betreute die Dissertation mit wertvollen Anregungen und kritischen Ratschlägen, die wesentlich zu ihrem Gelingen beitrugen. Für die Drucklegung fand ich großzügige Unterstützung von seiten der International Labour Organisation (Herr Dr. Weber, Direktor des Zweigamts in Bonn) und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Meiner Frau, Malena Mor6n de Grabherr, ist dieses Buch gewidmet.

2 Grabherr

B. Die Anfänge Internationaler Sozialpolitik I. Die Wurzeln Internationaler Sozialpolitik Im Jahre 1818 überreichte Robert Owen, ein englischer Spinnereibesitzer, der bereits ein Jahr zuvor die gesetzliche Einführung des 8-Stunden Tages gefordert hatte, dem in Aachen tagenden Kongreß der Heiligen Allianz zwei Denkschriften. Darin wurden die Mächte aufgefordert, in allen Ländern Maßnahmen zum Schutz der Arbeiter gegen Unwissenheit und Ausbeutung zu ergreifen und einen Ausschuß für Arbeitsfragen einzusetzen. Von 1838 bis 1859 nahm ein Industrieller aus Mühlhausen im Elsaß, Daniel Legrand, den Owenschen Gedanken wieder auf. Er wandte sich an die Regierungen der europäischen Industrieländer (z.B. 1857 an die Regierung von Österreich und an den deutschen Zollverein) und verlangte, "den Erlaß einzelstaatlicher Gesetze und eines internationalen Gesetzes zum Schutze der Arbeiterklasse gegen vorzeitige Heranziehung zur Arbeit und Überanstrengung, die erste und hauptsächliche Ursache des körperlichen Verfalls, der moralischen Verwilderung und der Untergrabung des Familienlebens zu veranlassen."' Die ersten Ansätze zur Internationalen Sozialpolitik kamen so von Vertretern des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts. 2 Ihre Auswirkungen waren gering. Erst mit den Forderungen der Arbeiterorganisationen und deren zunehmenden Einfluß im Gefolge der Industrialisierung sowie dem Entstehen der bürgerlichen Sozialreform (z.B. Gründung des Vereins für Sozialpolitik 1872) wurde das Verlangen nach internationalen Arbeiterschutzbestimmungen politisch relevant. 1889 wurde auf einem Kongreß zu Paris, an dem Vertreter mehrerer Länder teilnahmen, ein Interna1 Zitiert nach Internationales Arbeitsamt. Zehn Jahre Internationale Arbeitsorganisation. Genf 1931. S. 4: zur Vorgeschichte der ILO siehe insbesondere John W. Follows, Antecedents of the International Labour Organisation. Oxford 1951. James T. Shotwell, The Origins of the International Labour Organisation. Vol. 1: History. Vol. II: Documents, New York 1934, Victor-Yves Ghebali. Thc International Lal>our Organisation. A Case Study on the Evolution of UN Specialised Agencies. Dordrecht 1989. Nicolas Valticos. Droit international du travail. Pari~ 19832. S. 5f. Paul Perigord. The International Labour Organisation, New York 1926. Zu etwähnen sind noch Charles Hindley, Louis Rene Villerme, J.A. Blanqui, Daniel Mareska; vgl. V.-Y. Ghebali, S. 2.

I. Die Wurzebt Internationaler Sozialpolitik

19

tionales Arbeiterschutzprogramm aufgestellt, das vor allem die Einführung des 8-Stunden Tages forderte.3 Im darauffolgenden Jahr, im März 1890, fand in Berlin eine Internationale Sozialpolitische Konferenz statt. Sie war von der Schweiz initiiert und von Kaiser Wilhelm II. aus innenpolitischen Gründen organisiert worden! 15 Staaten hatten Vertreter entsandt. Die französische und englische Delegation umfaßte auch Arbeitervertreter, die deutsche Delegation Regierungs- und Arbeitgeberrepräsentanten. Als Ergebnis der Diskussionen, die sich auch mit der Regelung der Arbeitszeit in den Bergwerken befaßten, nahm man eine Reihe von Grundsätzen zum Frauen-, Jungendlichen- und Kinderschutz an, deren Durchführung die beteiligten Staaten als wünschenswert ansahen. 5 Insgesamt jedoch hatte diese erste Arbeiterschutzkonferenz die erhoffte internationale Zusammenarbeit im Arbeiterschutz nicht gebracht. Verbindliche Abmachungen blieben aus. Trotzdem gab die Konferenz z.B. in Deutschland einen positiven Impuls für die weitere Arbeiterschutzgesetzgebung.6 Der ursprüngliche Plan, eine derartige Konferenz zu wiederholen, verwirklichte sich nicht. So blieb es wiederum den privaten Vereinigungen und Einzelpersonen überlassen, den Weg zu internationalen Abkommen auf dem Gebiet der Sozialpolitik zu ebnen. Dem ersten großen Arbeiterschutzkongreß in Zürich (1897), der von Arbeitervertretern aus 16 Ländern beschickt wurde und der ein umfassendes Arbeiterschutzprogramm verabschiedete, folgte im September 1897 ein Kongreß von Wissenschaftlern und Fachleuten der Arbeitsaufsicht aus verschiedenen Ländern. Sein praktisches Ergebnis bestand darin, daß nach einigen Jahren der Vorbereitung 1901 in Basel der Internationale Verein für den gesetzlichen Arbeitsschutz ins Leben gerufen wurde. 7 Diese private Vereinigung gründete in den einzelnen Ländern Landessektionen und errichtete als ihr Sekretariat ein Internationales Arbeitsamt mit Sitz in Basel. Der Vorbereitung durch das Internationale Arbeitsamt, das von den jeweiligen Regierungen finanziell unterstützt wurde, war es zu verdanken, daß auf einer Diplomaten-Konferenz in Bern .\ Siehe 50. Sonderheft zum Reichsarbeitsblatt. "Das Übereinkommen von Washington über den Aclllstundentag 1919- 1929". Berlin 1929. S. 21. ~ Karl-Erich Born. Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1970, S. 167: vgl. auch die Information für das Londoner Zweigamt des Bureau International du Travail (o.D.). CAT 6C-18. 5 Vgl. "50. Sonderheft .. .". ebd.: K.-E. Born. S. 177. 6 Vgl. die Gewerbeordnungsnovelle von 1891. Sie verbot die Sonntags- und Fabrikarbeit von Kindern unter 13 Jahren und begrenzte die Arbeitszeit der Jugendlichen unter 16 Jahren auf 10 sowie die der Frauen auf 11 Stunden täglich. Zudem wurde der Bundesrat ermächtigt, für Betriebe mit besonders schweren Arbeitsbedingungen einen sanitären Maximalarbeitstag für erwachsene männliche Arbeiter zu bestimmen. K.-E. Born. S. 177. 7 J.H. ShotweiL Vol. I. S. 24ff: siehe auch Judit Garamvölgyi. Transnationalismus als Nahtstelle zwischen Innen- und Außenpolitik. S. 301. 2"

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B. Die Anfange

(1906) die Paraphierung der ersten internationalen Konventionen gelang, nämlich über das Verbot der Verwendung von weißem Phosphor in der Zündholzfabrikation und über die Nachtarbeit der Frauen.8 Der Ausbruch des ersten Weltkriegs verhinderte zunächst weitere Abkommen. Wegen ihrer Bedeutung für die Kriegswirtschaft rückte die Arbeiterschaft der europäischen Staaten jedoch auch sozialpolitisch in eine wichtigere Rolle. Auf einem Treffen der Gewerkschaftsführer aus den Ententeländer in Leeds 1916 wie auch beim Gewerkschaftstreffen der Mittelmächte in Bern 1917 wurde u.a. eine Beschränkung der Arbeitszeit gefordert.9 Die Dokumente von Bern und Leeds, die nicht nur zentrale sozialpolitsche Ziele enthielten, sondern auch die Errichtung eines ständigen internationalen Überwachungsorgans forderten, konnten auf der zweiten internationalen Gewerkschaftskonferenz in Bern im Februar 1919 zu einem gemeinsamen 15-Punkte Programm verschmolzen werden. Dieses fand sowohl die Zustimmung der Gewerkschaftsvertreter der Entente als auch der besiegten Mittelmächte. 10 Adressat des Programms war die bereits tagende Versailler Friedenskonferenz. Ihr kam damit nicht nur die Aufgabe der wirtschaftlichen und politischen Abwicklung eines Weltkriegs zu, sondern sie sah sich auch noch dem Druck einer Arbeiterschaft ausgesetzt, die die Verwirklichung ihrer sozialpolitischen Forderungen als Ausgleich für Entbehrungen zum Wohle der nationalen Gemeinschaft während des ersten Weltkriegs einforderte. 11

8 9

J. Garanwölgyi, ebd: "Zehn Jahre .. .". S. 6. Sprach die Resolution von Leeds (J.T. Shorwell. Vol Il. S. 23 -26) von einer zehnstündigen Arbeitszeit. so beinhaltete die ßerner Entschließung (a.a .O .. S. 44 - 49) eine Begrenzung der Arbeitszeit auf acht Stunden. Die Resolutionen sind teilweise abgedruckt in: "50. Sonderheft .. ."0 s. 26ff. 1 Vgl. J. Garanwölgyi. S. 303 11 a.a.O .. S. 302

II. Der Versailler Friedensvertrag Teil

xm

I

1. Die Labour Charter

Das 15-Punkte Programm von Bern diente als Grundlage für die Ausarbeitung einer an das Statut der International Labour Organisation (ILO) im Versailler Friedensvertrag angefügten sogenannten Labour Charter (Art. 427 = Abschnitt II des Teils XIII). Neun der Forderungen vom Februar 1919 wurden übernommen. Neben der Proklamierung des Grundsatzes der Koalitionsfreiheit, der Annahme einer wöchentlichen Arbeitsruhe von mindestens 24 Stunden, der Beseitigung der Kinderarbeit, der gleichen Entlohnung von Mann und Frau, der Einrichtung eines Aufsichtsdienstes u.a. fmdet sich "als zu erstrebendes Ziel überall da, wo es noch nicht erreicht ist", die Annahme des 8-Stunden Tages oder der 48-Stundenwoche. Die Gründe, warum sich die Versailler Friedenskonferenz mit sozialpolitischen Fragen beschäftigte, liegen nicht nur in dem erwähnten Anspruchsdruck der nationalen Arbeiterschaft, der sich in grenzüberschreitenden Erklärungen manifestierte. Die Alliierten Friedensmacher widmeten sich neben territorialen, militärischen und allgemein-politischen auch außenwirtschaftlichen Fragen. Vor allem gegenüber Deutschland war die Festsetzung ökonomischer Friedensbedingungen (wie die Begründung von Reparationszahlungen aufgrund des Kriegsschuldartikels 231 oder von handelspolitischen Beschränkungen bis zum 10. Januar 1925)2 ein wichtiger Diskussionspunkt In diesem Zusammenhang hatte jede an der Friedenskonferenz beteiligte Regierung das Interesse, kostenträchtige sozialpolitsche Neuerungen, wie z.B. die Verkürzung der Arbeitszeit, auch seinen Konkurrenten auf dem Weltmarkt aufzuerlegen.3 Daß neben dem humanitären Ziel einer 1 Diese Bestimmungen kehren unverändert wieder in Teil XIII des Yenrags von St. Germain (10.09. 1919), in Teil XIII des Vertrags von Trianon (04.06. 1920) und in Teil XIII des Vertrags von Neuilly (27. 11. 1919): zur Enstehungsgeschichte des Teils XIII Versailler Vertrag siehe neben den unter Fußnote 1 (S. 1) genannten Werken Heidrun Maschl, Arbeitergesetzgebung auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. (Diss.) Salzburg 1971. 2 Grundlegend für die handelspolitischen Beschränkungen war Artikel 281 Versailler Friedensvertrag. Unter dem Druck dieser Bestimmung hatte Deutschland am 21. 7. 1920 von sich aus grundsätzlich allen Ländern die Meistbegünstigung eingeräumt, Wemer Weidenfeld, S. 273. 3 J. Garamvölgyi, S. 304

22

B. Die Anfänge

Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch dieser Konkurrenzaspekt eine Rolle spielte, geht z.B. aus der Präambel des I. Abschnittes des XIII. Teils des Versailler Friedensvertrags hervor: Wenn darin gesagt wird, daß die "Nichteinführung wirklich menschenwürdiger Arbeitsbedingungen durch ein Volk die Bemühung anderer Völker um Verbesserung des Loses der Arbeitnehmer in ihren Länder hemmen < würde>", so brachte man damit von der sozialpolitischen Warte aus gesehen nur das zum Ausdruck, was aus wirtschaftlicher Sicht die Belastung der Konkurrenzfähigkeit durch einseitige nationale Sozialpolitik bedeutete. Desweiteren spielte der Einfluß der bolschewistischen Revolution eine Rolle. Wenn sie auch nicht den Entschluß der Versailler Friedenskonferenz, die Internationale Sozialpolitik auf die Tagesordnung zu setzen, herbeigeführt hatte, so verlieh sie doch den Forderungen der nationalen Arbeiterbewegungen ein größeres Gewicht. Denn der "bolschewistische Bazillus", der sich seit Januar 1919 in Europa auszubreiten schien, war möglicherweise durch großzügiges Entgegenkommen gegenüber den Forderungen der Arbeiter und der Errichtung einer Internationalen Arbeitsorganisation unschädlich zu machen.4 Schließlich mag noch von Einfluß gewesen seins, daß den Versailler Akteuren bewußt war, daß auch die deutsche Delegation in Versailles sozialpolitische Friedensregelungen vorschlagen würde. Nach der Annahme des Friedens von Brest-Litowsk hatte der Reichtstag im März 1918 eine Resolution verabschiedet, in der versprochen worden war, daß jeder künftige Friedensvertrag bindende Abmachungen auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes und der Sozialversicherung enthalten werde. 6 Am 10. Mai 1919 übergab Graf Brockdorff-Rantzau dem Obersten Rate der Alliierten einen acht Artikel umfassenden Gegenentwurf über das Internationale Arbeitsrecht. Dieser beinhaltete neben organisatorischen Bestimmungen im Hinblick auf die neu zu gründende Arbeitsorganisation u.a. die Forderung nach Einführung des 8-Stundentages.7 Insgesamt gesehen ist dem Urteil von Garamvölgyi zuzustimmen, die die Motive für die Aufnahme der Sozialpolitik in den Versailler Friedensvertrag als ein Geflecht von innen- und außenpolitischen Erwägungen, von durch die sowjetische Revolution verstärktem innenpolitischen Druck auf außen

4

ebd.: V.-Y. Ghebali, S. 8.

s J. Garamvölgyi, S. 304.

J.T. Shotwell, Vol. I, S. 244ff. "50. Sonderheft ...". S. 29: zu den deutschen Vorschlägen siehe auch die Artikel von Ewald Kuttig und Edward Phelan in: J.T. ShotweiL Vol. I. S. 221ff und S. 259ff. 6

7

II. Der V ersailler Friedensvertrag

23

politische Entscheidungen sowie von innen- und außenwirtschaftliehen Überlegungen charakterisiert.8 So wurde am 31. Januar 1919 von der Friedenskonferenz ein Ausschuß für Internationale Arbeitsgesetzgebung eingesetzt.9 Die Frage einer Labour Charter gehörte zu den umstrittensten Punkte, weil man sich zunächst nicht über deren Rechtscharakter einig wurde. 10 Der englische Regierungsvertreter Barnes und der französische Arbeiterführer Jouhaux waren der Meinung, daß eine Proklamation im Friedensvertrag unmittelbar anzuwendendes Recht darstellen müßte. Die Mehrheit der Delegierten tendierte dagegen dahin, einer zu verabschiedenden Labour Charter lediglich den Charakter eines verbindlichen Auftrags für die künftige Arbeitsorganisation zu geben. Auch bestanden zunächst Differenzen über den Inhalt einer derartigen Labour Charter. 11 In der Plenarsitzung vom 28. April 1919 verabschiedete die Friedenskonferenz die oben dargestellte, auf neun Punkte reduzierte Labour Charter. Sie hatte nur deklaratorische Bedeutung und wurde durch Betreuungsklauseln für die Kolonial- und Entwicklungsländer ergänzt.12 2. Das Statut der International Labour Organisation Den Schwerpunkt des Teils XIII des Versailler Friedensvertrages stellte der erste Abschnitt über die "Arbeitsorganisation" dar, das Statut der ILO. Diese 40 Artikel waren ebenfalls Ergebnis des vom 1. Februar 1919 bis 24. März 1919 tagenden Ausschusses für Internationale Arbeitsgesetzgebung. Sie wurden in zwei Schritten am 11. und 28. April von der Vollversammlung der Friedenskonferenz angenommen. 13 Zuvor waren zahlreiche, einzelne Sachprobleme zu überwinden. Außerdem stand der Vorsitzende des Ausschusses, der Amerikaner Samuel Gompers, bis zuletzt der Idee einer Internationalen Arbeitsorganisation und einer von Staaten zu ratifizierenden Arbeitsgesetzgebung ablehnend gegen8

a.a.O .. S. 305. Zur Zusammensetzung des Ausschusses siehe J. Garamvölgyi, S. S. 306; "Zehn Jahre ... ", S. II: V.-Y. Ghebali. S. 9 weist darauf hin. daß zwei verschiedene politische Strömungen im Ausschuß vertreten waren: Während A. Fontaine. E. Mahaim. M. Delevingne Vertreter der in privaten Vereinigungen organisierten Sozialreform waren. gehörten L. Jouhaux, G. Barnes und S. Gompers der Gewerkschaftsbewegung an. 10 J. Garamvölgyi. S. 307: ausführlich hierzu J. ShotweiL Vol. I. S. 185- 196, 212-220. 11 Zum Ganzen J. Garamvölgyi, S. 308. 12 Zur Auseinandersetzung zwischen Industrie- und Entwicklungs- bzw. Kolonialländem, J. Garamvölgyi, ebd. 13 V.-Y. Ghebali, S. 9. 9

24

B. Die Anfänge

über. Kompromißlösungen, die dem föderativen Charakter der Vereinigten Staaten Rechnung trugen, erhielten zwar die Zustimmung von Gompers. 14 Doch die Vereinigten Staaten ratifizierten den Versailler Vertrag letzten Endes nicht und blieben sowohl der ILO als auch dem Völkerbund fern. Die neue Internationale Arbeitsorganisation umfaßte eine allgemeine Konferenz der Mitglieder (Internationale Arbeitskonferenz = IAK) und ein Internationales Arbeitsamt (Bureau International du Travail = BIT) unter Leitung des Verwaltungsrats (Art. 388). Zu den Hauptaufgaben der IAK gehörten die Erarbeitung und der Abschluß von internationalen Konventionen. Diese Übereinkommen wurden erst nach erfolgter Ratifikation für die Staaten verpflichtend. 15 Damit hatte sich der deutsche Vorschlag, wonach die IAK mit einer 4/5 Mehrheit bereits verbindliche Beschlüsse fassen konnte, nicht durchgesetzt. Hatte die IAK eine Konvention mit 2/3 Mehrheit verabschiedet (Art. 405) und wurde diese von einem Staat ratiftziert, so sahen Art. 409 bis 420 ein Kontroll- und Überwachungsinstrumentarium vor, das die effektive Umsetzung der Konventionen gewährleisten sollte. Im Extremfall konnte dies sogar soweit führen, daß nach dem Abschlußbericht einer einzusetzenden Untersuchungskommission, die "schuldigen" Staaten mit wirtschaftlichen Sanktionen durch die anderen Mitglieder der ILO zur Einhaltung des ratifizierten Übereinkommens gezwungen werden konnten (vgl. Art. 418 ff.). Das Internationale Arbeitsamt (BIT) fungierte als Büro der Konferenz, als Verwaltungsorgan sowie internationales Dokumentations- und Informationszentrum (Art. 396). Es wurde von einem Direktor geleitet, der seine Anweisungen vom Verwaltungsrat erhielt und "demgegenüber er für den Geschäftsgang wie für die Erfüllung aller ihm übertragenen Aufgaben verantwortlich " (Art. 394). Das Personal des BIT, das durch den Direktor angestellt wurde, sollte sich aus Mitarbeitern verschiedener Nationalitäten zusammensetzen und eine gewisse Anzahl von Frauen umfassen (Art. 395). Den Arbeitsministerien der Mitgliedsstaaten wurde in Art. 397 das Recht eingeräumt, durch Vermittlung ihres Regierungsvertreters im Verwaltungsrat direkt mit dem Direktor zu verkehren. Im Jahre 1920 wurden daher die Angelegenheiten der ILO vom Auswärtigen Amt, das in der Vorkriegszeit im Zusammenspiel mit dem Reichsamt des Ionern die Internationale Sozialpolitik bearbeitet hatte, auf das Reichsarbeitsministerium (RAM) übertragen. Von ihm wurde seitdem nicht nur der Schriftverkehr aller deutschen Behörden mit dem BIT 14 15

J. Garanwölgyi, S. 307: siehe vorallem Artikel405 Versailler Vertrag. ·so. Sonderheft ...". S. 29.

II. Der Versailler Friedensvertrag

25

federführend abgewickelt, sondern es war auch das RAM, das die Regierungsdelegationen zu den jährlichen Konferenzen zusammenstellte. 16 Das auch bis zum heutigen Tage einzigartige der ILO ist die personelle Zusamensetzung der IAK und des Verwaltungsrats: Neben den Staaten sind auch die Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichbereichtigt vertreten. So setzt sich z.B. eine Konferenzdelegation aus zwei Regierungs- und je einem Arbeitnehmer- bzw. Arbeitgebervertreter zusammen. 17 Diese Ausgestaltung des dreigliedeigen Aufbaus, die auf einen Vorschlag Englands zurückging18, war im Ausschuß der Friedenskonferenz noch stark umstritten. 19 Nach Art. 389 wurden die Delegierten, die nicht der Regierung angehörten, im Einvernehmen mit den maßgebenden Berufsorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer des betreffenden Landes bestimmt. Vor allem die Gruppen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer trafen sich während der Konferenz zu internen Beratungen, die oftmals eine einheitliche, staatenübergreifende Stimmabgabe zur Folge halte. 20

16

Friedrich Syrup, "Deutsche Sozialpolitik .. .". S. 299. Im Venvaltungsrat saßen 12 Regierungs- und je 6 Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter. Von den 12 Regierungsvertretern wurden 8 von den Mitgliedsstaaten ernannt, denen die größte industrielle Bedeutung zukam (Art. 393). Unter ihnen befand sich Deutschland. 18 Die Idee zu einer direkten Vertretung sozialer Gruppen auf internationaler Ebene fand sich bereits in einem Bericht . den der Sozialist Leonard Woolf für die Fabian Society of London erstellt hatte (ders .. International Government. London 1916). Sein unmittelbares Vorbild hatte der britische Vorschlag in den Projekten und Ansätzen der Whitley - Kommission, J.T. ShotweiL Vol. I, S. 105- 126. 19 Siehe hierzu J. Garamvölgyi. S. 310, J.T. ShotweiL Vol. I, S. 134ff. Gegen den Vorschlag Englands. durch die Zweipersonenvertretung staatlicher Interessen die Ratifikationschancen zu erhöhen und auch die Souveränität der Nationalstaaten nicht außer acht lassen, wandten sich Gompers und andere Gewerkschaftsvertreter mit dem Argument, der Staat sei ein Organ der Arbeitgeber. Die Beteiligung von Sozialisten an der Regierung in vielen Ländern kurz nach Ende des I. Weltkriegs wurde hiergegen vorgebracht. Die zahlenmäßige Gleichstellung aller Delegierten eines Landes hätte zudem bedeutet. daß bei einem Zusammengehen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber die nach Art. 405 erforderliche 2/3 Mehrheit zur Annahme einer Konvention ohne \1itwirkung staatlicher Vertreter zustandegekommen wäre. 20 Die Geschäftserdung der JAK verlieh den Gruppen auch das Recht, selbständig über die Besetzung der ihnen zustehenden Kommissionssitze zu entscheiden. So wurde z.B. der italienische Arbeitnehmervertreter nach der faschistischen Machtübernahme in keine Kommission mehr gewählt. J. Garamvölgyi, S. 311. 17

ll. Deutschlands Beitritt zur International Labour Organisation im Jahre 1919 Gemäß Art. 387 Versailler Friedensvertrag war die Mitgliedschaft im Völkerbund mit der in der ILO verbunden. Deutschland trat zwar erst 1926 dem Völkerbund bei, wurde jedoch bereits 1919 Mitglied der ILO. Rechtliche Schwierigkeiten wurden durch politische Entscheidungen aus dem Weg geräumt. Bereits im Arbeitsausschuß der Friedenskonferenz hatten insbesondere die gewerkschaftlichen Vertreter betont, daß es aus wirtschaftlichen und moralischen Gründen notwendig sei, alle großen Industriestaaten in den Kreis der Internationalen Sozialpolitik einzubeziehen.1 Eine ausdrückliche Erklärung zur Aufnahme Deutschlands scheiterte jedoch im Februar 1919 am Veto des amerikanischen Gewerkschaftsvertreters Garnpers 2, der sich der Ansicht des englischen Regierungsvertreters Barnes anschloß, wonach diese Frage von der Kommission nicht zu lösen sei. Nachdem die deutsche Regierung Mitte Mai 1919 in einem Begleitschreiben zu ihrem Gegenentwurf eines Vertrags über das Internationale Arbeitsrecht es ebenfalls für "unumgänglich" gehalten hatte, "daß alle Staaten ohne Ausnahme dem Übereinkommen beitreten, auch wenn sie nicht dem Völkerbund angehören sollten" 3, vertrat der Ausschuß folgende Meinung: Deutschland sollte unmittelbar nach der ersten IAK in Washingtonzur ILO zugelassen werden. Auch sei ein ständiger Sitz im Verwaltungsrat vorzusehen, da Deutschland zu den acht Staaten gehöre, denen die größte industrielle Bedeutung im Sinne von Art. 393 zukomme. Die in Washington von der ersten IAK verabschiedeten Konventionen sollten Deutschland mitgeteilt werden .~

1 "50. Sonderheft ...", S. 30; zusammenfassend hierzu H. Maschl, S. 274ff. und Abdui-Karim Tikriti, S. 135f. 2 H. Maschl, S. 275; einen weiteren Vorstoß der italienischen Arbeitgeber-, Arbeitnehmer u~d Regierungsvenreter lehnte die Kommission im März: 1919 ebenfalls ab. Zitiert nach "50. Sonderheft ... •, S. 30. 4 Schreiben des Ausschusses vom 15.05. 1919 an den Generalsekretär der Friedenskonferenz. abgedruckt im Bericht des die Washingtoner Konferenz vorbereitenden Ausschusses, der von dessen Präsident Artbur Fontaine am 29. 10. 1919 der Konferenz vorgelegt wurde, ILC 1919, S. 12f. 15.

III. Deutschlands Beitritt

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Der Oberste Rat der Alliierten schloß sich der Ansicht des Arbeitsausschusses an und teilte sie Deutschland vor der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit.5 Ferner empfahl er der Washingtoner Konferenz, eine Mitgliedschaft Deutschlands wohlwollend zu prüfen.6 Damit setzte man sich über rechtlichen Bedenken hinweg, die Artbur Fontaine in der Ausschußsitzung am 15. Mai 1919 im Hinblick auf Art. 387 geäußert und auch dem Generalsekretär der Friedenskonferenz vorgetragen hatte.7 Die ursprüngliche Entscheidung, Deutschland erst nach der ersten Internationalen Arbeitskonferenz als Mitglied in die ILO aufzunehmen, hatte sich im Laufe des Sommers 1919 noch zugunsten Deutschlands verändert. Am 2. August 1919 hatte der Internationale Gewerkschaftskongreß in Amsterdam alle teilnehmenden Landeszentralen verpflichtet, nur dann eigene Delegierte für die Washingtoner Konferenz zu benennen, wenn die " Vertreter der Gewerkschaftsbewegung aller Länder, ohne irgendwelche Ausnahme" mit den gleichen Rechten zugelassen würden. Karl Legien setzte den Internationalen Gewerkschaftsbund insofern unter Druck, als er auf einer Bundesausschußsitzung des ADGB anregte, das Verhältnis zum 1GB davon abhängig zu machen, wie sich dieser zur Zulassung Deutschlands tatsächlich verhalten werde: "Erklärt sie sich bereit, ohne die Hinzuziehung Deutschlands dorthin zu gehen, haben wir kein Interesse mehr an der Internationale"8 • Am 23. August 1919 bekräftigte der 1GB in einer Bürositzung daraufhin seine Position.9 Am 11. September 1919 entschied der Oberste Rat der Friedenskonferenz vor allem auf Betreiben der italienischen Delegation, "that the question of the admission of German and Austrian delegates to the forthcoming labour congress at Washington should be left to the decision ofthat congress. In the meantime, the Allied and Associated Governments would put no obstacles in the way of German or Austrian delegates desirous of proceeding to Washington in anticipation of a decision in their favour". 10

s Schreiben vom 19.05.1919 an den Ausschuß. abgedruckt bei H. Maschl. S. 279 und Bericht des vorbereitenden Ausschuß. ILC 1919. S. 15. 8 Schreiben vom 27.0 5. 1919 an den Ausschuß der Friedenskonferenz, abgedruckt ebd. Am 29.05. legte Brockdorff-Rantzau "gegen den. den wenn auch nur zeitweiligen Ausschluß Deutschlands .. feierlich Verwahrung ein". zitiert nach H. Maschl. S. 281. 7 Bericht des vorbereitenden Ausschuß. ILC 1919, S. 15; siehe auch "Zehn Jahre ...', S. 25. 8 Sitzung des Bundesausschusses vom 19. und 20. 8. 1919. ADGB DOKUMENTE 3. 9 ADGB DOKUMENTE 3; siehe auch H. Maschl. S. 282. 10 Abgedruckt im Bericht des vorbereitenden Ausschusses, ILC 1919, S. 15; bereits am 6. 9. hatte der Ausschuß der Friedenskonferenz ein positives Votum abgegeben, ebd. S.a. H. Maschl, S. 283.

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B. Die Anfänge

Die Internationale Arbeitskonferenz in Washington machte von dem ihr eingeräumten Recht, die Mitgliedschaft Deutschlands in der ILO selbst zu beschließen und deren Zeitpunkt zu bestimmen, am 30. Oktober 1919 Gebrauch. Mit der Gegenstimme des französischen Arbeitgebervertreters und der Enthaltung des polnischen Arbeitnehmervertreters11 beschlossen die Delegierten, Deutschland und Österreich in die ILO aufzunehmen "with the same rights and obligations possessed by the other members" .12 Wie wichtig die Zulassung Deutschlands gerade im Hinblick auf die zu verabschiedende Konvention über den 8-Stundentag war, wurde aus einem Redebeitrag Jouhaux deutlich: "Do you think that you will be able to apply this particular legislation to Germany and Austria tomorrow if you have not alliowed them to be present at the conference, nor allowed them to take part in discussions of the question" .13 Mit Fernschreiben vom 3. November 1919 begrüßten die deutschen Gewerkschaften den positiven Beschluß aus W ashington. 14 Die deutsche Delegation15 hatte jedoch Schwierigkeiten sich in Göteburg nach Washington einzuschiffen, "as a result of the blockade in the oversea traffic at the beginning of the month". 16 Bevor man dann die erste Reisemöglichkeit am 18. November wahrnehmen konnte, erhielt die deutsche Delegation die Nachricht aus Washington, daß die Konferenz bereits Ende November beendet sein werde. Der unfreiwillige Verzicht auf die Reise hatte somit zur Folge, daß deutsche Vertreter nicht am Beschluß über das Washingtoner Übereinkommen über den Achtstundentag teilnehmen konnten. Die Diskussionen um eine Ratifikation dieses Übereinkommens durch die europäischen Staaten sollte ein herausragendes Thema Internationaler Sozialpolitik in der Zwischenkriegszeit werden.

Vgl. zur Begründung die Erklärung des polnischen Delegierten, ILC 1919 (Minutes), S. des französischen Delegierten, S. 21ff. ILC 1919 (Minutes), S. 26. :: a.a.O .• S. 23. a.a.O .. S. 33. 15 Die Österreichische Delegation unternahm die Reise aus Geldmangel nicht, Ludwig Preller6 S. 244. 1 Telegramm der deutschen Delegation vom 27. 11. 1919. abgedruckt ILC 1919 (Minutes), s. 177. 11

3\~und

C. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen von 1919 Die erste Internationale Arbeitskonferenz verabschiedete ein Übereinkommen über die Arbeitslosigkeit, den Mutterschutz, die Nachtarbeit von Jugendlichen und Frauen sowie über das Mindestalter der Zulassung zur gewerblichen Arbeit. Auf ihrer 24. Sitzung, am 28. November 1919 nahm die Internationale Arbeitskonferenz (IAK) außerdem den Entwurf eines Übereinkommens über die Begrenzung der Arbeitszeit in gewerblichen Betrieben auf 8 Stunden täglich und 48 Stunden wöchentlich an. 1 Dieses sogenannte Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen (WAZ), dessen französischer und englischer Wortlaut maßgebend war, umfaßte 22 Artikel. 2 Auf sie wird entsprechend ihrer Bedeutung hier nur teilweise eingegangen. Insbesondere die Art. 9, 10, 11, 12 und 13 enthielten Sonderregelungen für Länder wie Japan, Griechenland, China und andere, die ähnlich den Art. 15 und 16 bezüglich einzelner Verfahrensweisen für den Gang der Diskussionen und eine Ratifizierung in den europäischen Industriestaaten nicht relevant waren. Die übrigen Bestimmungen lassen sich in zwei Gruppen fassen: Zum einen Vorschriften materiellrechtlicher Art, die wiederum in Arbeitszeitgrundsätze und deren Ausnahmen gegliedert sind, zum anderen die Gruppe der Verfahrensregeln und schließlich Vorschriften über den Geltungsbereich. Geltungsbereich Art. 1 zählte verschiedene Beispielsfälle auf, die dem Begriff des gewerblichen Betriebs, für den das WAZ Geltung beanspruchte, näher umreissen sollte. Es fielen darunter z.B. a) Bergwerke und andere Anlagen zur Gewinnung von Bodenschätzen, 1 ILC 1919 (Minutes), S. 186. Den 82 Ja-Stimmen standen die 2 Nein-Stimmen Kanadas und Norwegens sowie eine Enthaltung gegenüber. 2 Der englische und französische Wortlaut sowie die amtliche deutsche Übersetzung sind abgedruckt in: "50. Sonderheft ...", S. Sff und in den vom BIT 1949 herausgegebenen Bänden "Übereinkommen und Empfehlungen. 1919- 1949".

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C. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen

b) Gewerbe, in denen Gegenstände hergestellt, umgearbeitet, ausgebessert etc. wurden, einschließlich des Schiflbaus und der Gewerbe zur Elektrizitätserzeugung, c) Bauunternehmen, bezogen auf Bauwerke, Eisenbahnen,elektrischen Anlagen, Straßen etc., d) Unternehmen zur Beförderung von Personen oder Gütern auf Straßen, Eisenbahnen, Binnengewässern oder zur See. In dem Entwurf des vorbereitenden, d.h. des von der Friedenskonferenz zur Vorbereitung der IAK von Washington eingesetzten Ausschusses war die See- und Binnenschiffahrt nicht enthalten? Entsprechend den Wünschen der Arbeitnehmergruppe auf der Vollsitzung der IAK wurde dies geändert.4 Doch Satz 2 des Art. 1 sah auch vor, daß die Bestimmung über die Beförderung zur See und auf Binnengewässern durch eine besondere Konferenz zur Regelung der Arbeitsverhältnisse der Schiffsleute und der Binnenschiffer getroffen werden sollte. Bereits auf der zweiten IAK, die im Frühjahr 1920 in Genua tagte, war dies der Fall. Der vom BIT vorgelegte Vorentwurf eines Übereinkommens über die Arbeitszeit auf See konnte jedoch aufgrund unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten nicht verabschiedet werden.5 Das WAZ galt nicht für handels- oder landwirtschaftliche Betriebe. Die Grenzziehung zwischen Handel und Landwirtschaft einerseits und Gewerbe andererseits, war der zuständigen Behörde in jedem Lande selbst aufgegeben (Art. 1 letzter Satz). Der Grund für die Herausnahme der Handelsbetriebe, zu denen auch Banken und Verwaltungsbehörden rechneten6, lag für den von der IAK eingesetzten Ausschuß 7 in der Schwierigkeit den 8Stundentag in Läden und kleinen Warenhäuser durchzuführen sowie in der Tatsache, daß diese noch nicht ausgereiften Fragen weiterer Prüfung bedurften.8 Die entgegengesetzte, im Ausschuß gescheiterte Forderung nach Einbeziehung des Handels war nicht darauf gerichtet, die kleinen Betriebe 3 Der Entwurf ist abgedruckt in: ILC 1919(Minutes of the Commission on Hours of Labour, Geneva 1923), S. 4-6. 4 ·so. Sonderheft ...", S. 121. Fußnote. 4; ILC 1919 (Minutes), S. S3ff. s ·so. Sonderheft...", S. 121, Fußnote 6 6 Bulletin Officiel Bd. II, S. 423. 7 Allgemein zu den Beratungen vgl. E. Mahaim, S. 10. 8 ILC 1919 (Minutes of the Commission on Hours of Labour), a.a.O., Report of the Commission, S. 38.

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zu erfassen, sondern zielte auf größere Handelsunternehmen und Banken.9 Öffentliche gewerbliche Betriebe wie z.B. staatliche oder kommunale Eisenbahnen oder Gaswerke, die also keine hoheitliche Verwaltungsaufgaben erfüllten, wurden vom Geltungsbereich des WAZ hingegen umfaßt. 10 Die internationale Regelung der Arbeitszeit in der Landwirtschaft war als Tagesordnungspunkt für die dritte Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz 1921 vorgesehen, konnte jedoch wegen des Widerstandes der französischen Delegation nicht aufrechterhalten werden. 11 Die von der Arbeitnehmergruppe im Konferenzausschuß gefordete Einbeziehung der Heimarbeit wurde wegen des Problems einer Überwachung des 8-Stundentages und des damit verbundenen Eingriffs in die Privatsphäre zurückgewiesen. Ebensowenig galten die Arbeitszeitregeln für Betriebe, in denen ausschließlich Mitglieder derselben Familien beschäftigt waren (Art. 2 Satz 2). 12 Arbeitszeitgrundsätze Art. 2 erster Satz, die Kernbestimmung des WAZ lautete in seinem Wortlaut: "Die Arbeitszeit der in allen öffentlichen oder privaten gewerblichen Betrieben oder ihren Nebenbellieben beschäftigten Personen daif acht Stunden täglich und aclztzmd~·ierzig Stzmden wöclzentliclz nicht überschreiten". Der deutsche amtliche Wortlaut des WAZ verwendete einheitlich den Begriff Arbeitszeit, wohingegen in der französischen bzw. englischen Fassung bald von "heures du travail" bzw. "'hours of work" (Art. 3 u. 4), bald von "dun!e du travail" bzw. "working hours" (Art. 2) die Rede war. Ob die Verfasser, sei es im vorbereitenden oder im Konferenzausschuß, dabei bestimmte Absichten verfolgten, ließ sich nicht ermitteln. 13 Nachdem der vorbereitende Ausschuß in seinem Entwurf nicht den 8-Stundentag, sondern nur die 48-Stundenwoche vorgeschlagen hatte 14, beantragten die Arbeitnehmer im Konferenzausschuß, auch den 8-Stundentag festzuschreiben.u Der englische Regierungsvertreter Barnes entgegnete mit dem Hinweis auf 9

ILC 1919 (Minutes of the Commission), a.a.O., S. 9. ILC 1919 (Minutes of the Commission), a.a.O., Repon of the Commission, S. 38 Siehe dazu unten Kapitel D I 12 ILC 1919 (Minutes of the Commission), a.a.O., Report of the Commission, S. 38. 13 Vgl. "50. Sonderheft .. .", S. 123. Fußnote 1. 1 ~ Der Verzicht auf den Achtstundentag ging auf den Vorschlag des Vertreters der englischen Regierung zurück. Man wollte eine größere Elastizität des Übereinkommens erzielen und einen wöchentlichen Ruhetag sichern. Schlußbetrachtungen des vorbereitenden Ausscl!usses. abgedruckt in: "50. Sonderhcft...". S. 36f. 44. 1 ILC 1919 (Minutes of the Commission). a.a.O .. S. 14. 10 11

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C. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen

Art. 427 Versailler Friedensvertrag, wonach die Wahlmöglichkeit zwischen 8-Stundentag und 48-Stundenwoche bestehe; ferner werde die Forderung der Arbeitnehmer zu Problemen mit den Tarifverträgen in England führen.16 Oudegeest, der holländische Arbeitervertreter, hob hervor, "< that > the adoption of the 8-hour-day was necessary from a psychological point of view", und meinte damit das Ziel, die Arbeiter durch Erfüllung dieser symbolträchtigen Forderung nach den Entbehrungen des Weltkriegs mit dem Staat zu versöhnen. 17 In der darauffolgenden Abstimmung wurde die Ar· beitnehmerforderung mit 7 zu 6 Stimmen zurückgewiesen. Am nächsten Tag griff man die Frage jedoch wieder auf, die frühere Abstimmung wurde aufgehoben und die Sitzung über das Wochenende hinaus vertagt. Dies war nicht zuletzt die Wirkung einer Drohung der Arbeitnehmervertreter, ihre Mitarbeit anderenfalls im Ausschuß einzustellen. 18 In der darauffolgenden Montagssitzung standen sich die Anträge der Arbeitnehmergruppe, des kanadischen Regierungsvertreters Robertson, des englischen Regierungsvertreters Barnes und des belgiseben bzw. holländischen Regierungsvertreters Mahaim bzw. Nolens gegenüber. Der Antrag Nolens/Mahaim, der das Prinzip des 8-Stundentages und der 48-Stundenwoche anerkannte, daneben aber Ausnahmen vorsah, setzte sich nach kurzer Diskussion durch. 19 Vorallem die Ausnahmebestimmungen des Art. 2 b und c, die den Interessen des englischen Regierungsvertreters entgegenkamen, sicherten diesen Erfolg.20 Nicht ausdrücklich geregelt war die Frage, ob die 48-Stundenwoche den Sonntag mitumfaßte oder nicht. Auf der dritten Internationalen Arbeitskonferenz in Genf 1921 wurde jedenfalls der Entwurf eines Übereinkommens über den wöchentlichen Ruhetag in gewerblichen Betrieben sowie eine Empfehlung betreffend den wöchentlichen Ruhetag in Handelsbetrieben angenommen. Das Ruhetagsübereinkommen, das sich in seinem Geltungsbereich an das W AZ anlehnte, wurde bis 1930 von 16 Staaten, darunter Belgien, Frankreich, Italien, Polen und der CSR ratifiziert. Grundsätzlich sollte danach den in gewerblichen Betrieben beschäftigten Personen innerhalb eines Zeitraums von 7 Tagen eine Ruhezeit von mindestens 24 aufeinanderfolgenden Stunden gewährt werden. 21 Deutschland und England ratifizierten das Übereinkommen im Unterschied zu Frankreich nicht.

16 Ebd. 17 A.a.O.. S. 15. 18

A.a.O .. S. 16. A.a.O .. S. 16ff (Sitzung vom 17. I I. 1919). A.a.O .. S. 17. Zum Wirken des holländischen Delegationsleiters Nolens hinter den Kulissen. B.W. Schaper. S. 212. 21 "50. Sonderheft...". S. 125. Fußnote 9. "Zehn Jahre .. .". S. 131. 19 20

C. Das Washingtoner ArbeitszeitObereinkommen

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Ausnahmebestimmungen Die Arbeitszeitgrundsätze des WAZ galten nicht für Personen, die mit der Aufsicht oder Leitung beauftragt waren oder eine Vertrauensstellung (Angestellte) bekleideten (Art. 2 a).22 Art. 2 b enthielt eine flexible Sonderregelung, die im Konferenzausschuß im Kompromißwege eingefügt worden war : "Beträgt nach Gesetz, Gewohnheit oder Vereinbarung zwischen Berufsverbänden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (oder, in Ermangelung solcher Verbände zwischen Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer) die Arbeitszeit an einem oder mehreren Tagen der Woche weniger als acht Stunden, so kann durch Verfügung der zuständigen Behörde oder durch Vereinbarung zwischen den genannten Verbänden oder Vertretern der Beteiligten eine Überschreitung der achtstündigen Arbeitszeit an den übrigen Tagen der Woche zugelassen werden. Diese Überschreitung darf indessen nicht mehr als 1 Stunde täglich betragen". Damit wurde die von Barnes im Hinblick auf die besonderen Verhältnisse in England gegen die strenge Festschreibung des 8-Stundentages geäußerten Bedenken aus dem Wege geräumt. 23 Wegen der neunstündigen Obergrenze konnte der Samstag als Arbeitstag nicht entfallen. Für Schichtarbeit erlaubte Art. 2 c eine andere Verteilung der Arbeitszeit, deren durchschnittliche Höhe sich jedoch verteilt auf einen Zeitraum von 3 Wochen innerhalb der Washingtoner Arbeitszeitgrundsätze halten mußte. 24 Art. 3 sanktionierte ebenfalls eine für den Arbeitnehmer entgeltlose Überschreitung der achtstündigen Arbeitszeit, a) im Falle einer -auch nur drohenden- Betriebstörung, b) wenn "dringliche Arbeiten" an Maschinen oder Betriebseinrichtungen durchzuführen waren oder c) wenn höhere Gewalt vorlag. 25

22 Vgl. dazu "50. Sonderheft...". a.a.O .. S. 125. Fußnote 9.

23

So der Vorschlag Nolens/Mahaim. dem der Konferenzausschuß am 17. 11. 1919 zustimmte. ILC 1919 (Minutes of the Commission). a.a.O ., S. 16. u Vgl. "50. Sonderheft .. .". S. 125f. Fußnote 11. 25 A.a.O .. S. 126. 3 Grabherr

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C. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen

Art. 4 enthielt eine spezielle Arbeitszeitregelung für "Arbeiten, die ihrer Natur nach einen ununterbrochenen Fortgang mit Schichtenwechsel erfordern". Der Unterschied zu Art. 2 c, der auch für Schichtarbeiten galt, bestand in Folgendem: Bei Art. 4 war der dauernde Schichtbetrieb technisch bedingt, wohingegen Art. 2 c die "normale" Schichtarbeit betraf. Die Möglichkeit, von den Arbeitszeitgrundsätzen des WAZ ohne einen Lohnzuschlag abzuweichen, war bei Art. 4 größer: Wurde im Falle des Art. 2 c die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden beibehalten, so konnte sie bei Eingreifen des Art. 4 bis zu 56 Stunden ausgedehnt werden. Von dem Entwurf des vorbereitenden Ausschusses, der eine Liste der unter Art. 4 fallenden kontinuierlichen Betriebe enthalten hatte, nahm der Konferenzausschuß Abstand. Man hatte weder die Zeit, noch ausreichendes Dokumentationsmaterial, um für eine Liste die Verwantwartung übernehmen zu wollen. 26 Unklar blieb daher auch, ob die Eisenbahnen wegen ihres Betriebs an 7 Tagen unter Art. 4 fielen. 27 Durch Art. 5 erhielten die Tarifvertragsparteien "ausnahmsweise", d.h. bei Nichtanwendbarkeit der Arbeitszeitgrundsätze des Art. 2, die Möglichkeit, durch Vereinbarungen untereinander "die tägliche Arbeitszeit auf der Grundlage eines für einen längeren Zeitraum aufgestellten Arbeitsplanes" zu regeln, sofern diese Vereinbarungen staatlich zugelassen oder genehmigt worden waren. 28 Die durchschnittliche Arbeitszeit durfte aber im Gegensatz zu der Ausnahme bei kontinuierlichen Betrieben 48 Stunden in der Woche nicht überschreiten. Auch entfiel die I-Stunden Grenze des Art. 2 b. Hintergrund des vom Konferenzausschuß neu eingefügten Art. 5 waren dortige Diskussionen über die Frage, in welchen Industriezweigen außer den kontinuierlichen Betrieben eine Durchbrechung der Arbeitszeitgrundsätze zulässig sein sollte.29 Zur Aufstellung einer Liste, wie es das Vorbereitungskomitee getan hatte, sah man sich aufgrund fehlender Informationen ebenfalls nicht in der Lage. Der Frage der Arbeitszeit des Eisenbahnpersonals kam in der Diskussion ein wichtiger Stellenwert zu. Schließlich bildete man einen Unterausschuß, der als Kompromißlösung die Übertragung der Entscheidungskompetenz für Ausnahmen von den Arbeitszeitgrundsätzen auf die Tarifvertragsparteien vorschlug.30

26 ILC 1919 (Minutes). a.a.O., Report of the Commission, S. 40. Siehe dazu Schreiben des BIT-Direktors an die schweizerische Bundesregierung vom 11. 5.J920. (Bulletin Officiel. Bd. Ill. S. 425). in dem die Frage verneint wurde. Im Einzelnen "50. Sonderheft...". S. 128. Fußnote 3. 29 ILC 1919 (Minutes of the Commission). a.a.O .. S. 24. 30 A.a.O .. S. 26 27

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Art. 6 ermächtigte die Behörden durch Verordnung für einzelne Gewerbe oder Berufe dauernde oder vorübergehende Ausnahmen von den Arbeitszeitgrundsätzen zuzulassen. Vor dem Erlaß solcher Verordnungen mußten die jeweiligen Berufsverbände angehört werden. Dauernde Ausnahmen waren gestattet für Vorbereitungs- und Ergänzungsarbeiten, die "notwendigerweise außerhalb der für den Betrieb allgemein festgesetzten Arbeitszeit vorgenommen werden müssen oder für gewisse Gruppen von Personen, deren Arbeit in besonderem Maße Unterbrechungen mit sich bringt" (Art. 6 a)?1

Staatliche Verordnungen, die von·ibergellende Ausnahmen beinhalteten, waren nur "bei außergewöhnlicher Häufung der Arbeit" zulässig. Für jeden einzelnen Fall mußte die Höchstzahl der zulässigen Überstunden vorgeschrieben sein. Eine absolute Obergrenze für Überstunden wurde aber damit nicht festgelegt. Dafür sollten die Überstunden mindestens um 25 % höher bezahlt werden (Art. 6 b dritter Satz). Der vorbereitende Ausschuß hatte in seinem Entwurf noch eine absolute Grenze für Überstunden in den auf Listen beigefügten Industriezweigen vorgesehen. Im Konferenzausschuß wurde aus den o.g. Gründen auf die Erstellung von Listen verzichtet. Ebenso wurden Anträge auf Streichung bzw. Erhöhung des Überstundenzuschlages abgewiesen.32 Art. 14, der später zur Achillesferse des WAZ wurde, enthielt eine allgemeine Ausnahmeregelung vom Achtstundentag: "Die Bestimmungen dieses Übereinkommens können in jedem Staate durch die Regienmg im Falle eines Krieges oder anderer Ereignisse, welche die Landessicherheit gefährden, außer Kraft gesetzt werden".

Im wesentlichen entsprach diese Fassung dem Entwurf des vorbereitenden Ausschusses. Ihren Antrag im Konferenzausschuß, in Art. 14 über die Landessicherheit hinaus noch die Aufrechterhaltung öffentlicher Dienste als Ausnahmefall zu normieren, zog die Arbeitgebergruppe zurück. Ebenso scheiterte der Antrag des kanadischen Regierungsvertreters Robertson, den Begriff Landessicherheit ("national safety") durch öffentliche Sicherheit 31 Die Übersetzung 'deren Arbeit in besonderem Maße Unterbrechungen mit sich bringt" stellte eine Kompromißlösung zwischen dem englischen ("whose work is essentially intermittent") und dem französischen Wortlaut ('dont le travail est specialement intermittent") dar, die an dieser Stelle voneinander abwichen. Siehe dazu "50. Sonderheft...', S. 130, Fußnote 3

u9Y ii.c 1919 (Minutes), a.a.O., Report or the Commission, Fußnote 1. 3•

s. 41; '50. Sonderheft...', s 129,

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C. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen

("public safety") zu ersetzen.33 Auf diese Vorgänge verwies der Ausschußbericht ausdrücklich, um die dadurch gewonnene Klarheit des Begriffs Landessicherheits zu betonen.>~ Art. 7 des WAZ statuierte eine Informationspflicht der nationalen Regierungen gegenüber dem BIT. Demzufolge mußte dem BIT a) ein Verzeichnis über Arbeiten übersandt werden, die ihrer Natur nach einen ununterbrochenen Fortgang erforderten, b) der Stand der im Art. 5 vorgesehenen Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien und der aufgrund des Artikels erlassenen Verordnungen und ihre Anwendung mitgeteilt werden. Jährlich erstattete das BIT dann der Internationalen Arbeitskonferenz darüber Bericht. Gemäß den Art. 17 und 18 trat das WAZ an dem Tage in Kraft, an dem die Ratifikation durch 2 Mitglieder der ILO beim Sekretariat des Völkerbunds eingetragen wurde und der Generalsekretär des Völkerbundes dies sämtlichen Mitglieder mitgeteilt hatte. Nach der Ratifikation durch Rumänien und Griechenland war dies am 13.06.1921 der Fall. Bindungswirkung hatte das WAZ allerdings trotz seines ersten ''Inkrafttreten" nur für Staaten, die es ratifiziert hauen. Deshalb verpflichtete das WAZ jedes andere Mitglied erst an dem Tage, an dem dessen Ratifikation beim Sekretariat eingetragen worden war. Art. 20 bestimmte, daß das WAZ erst 10 Jahre nach dem ersten Iokrafttreten gekündigt werden konnte, also zum 13.06.1931. Da für die Kündigungsfrist das Ratifikationsdatum eines Staates unbedeutend war, konnten sich auch sehr viel kürzere Bindungszeiten ergeben. Schließlich sah Art. 21 vor, daß der Verwaltungsrat des BIT "mindestens alle zehn Jahre einmal der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommen zu erstatten und darüber zu entscheiden < hatte> , ob seine Durchsicht oder Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll". 33 3-1

ILC 1919 (Minutes of the Commission). a.a.O .. S. 29. ILC 1919 (Minutes), a.a.O., Repon of the Commission, S. 42.

C. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen

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Am vorletzten Tag der Ausschußsitzung brachte der Vorsitzende des Gremiums, der Labour Abgeordnete und spätere Arbeitsminister Tom Shaw noch eine Entschließung der Arbeitnehmergruppe mit folgendem Wortlaut ein: "The provisions of this Convention shall not interfere with any better conditions already in operation, or agreed upon, for all or part of the workers of any country. Neither shall they interfere with any negotiations now proceeding in which the workers are asking for better conditions than the Convention provides". Diese Entschließung wurde nicht in das WAZ übernommen, weil man der Ansicht war, es verstehe sich von selbst, daß die Konventionen der ILO nur Mindestarbeitsbedingungen festlegten. Außerdem bestimmte Art. 405 Abs. 11 des Versailler Friedensvertrages, daß in keinem Falle aufgrund der Ratifizierung eines Übereinkommens von einem Mitgliedsstaat verlangt werden könne, daß er den durch seine Gesetzgebung den Arbeitnehmern schon gewährten Schutz vermindere. Trotzdem wurde auf Betreiben des Ausschußvorsitzenden die Entschließung in den Abschlußbericht einbezogen.35

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ILC 1919 (Minutes of the Commission). a.a.O .. S. 32.

D. Der Versuch einer internationalen Regelung der Arbeitszeit in Europa - Prüfstein für die International Labour Organisation und Gegenstand der auswärtigen Sozialpolitik Deutschlands, Frankreichs und Englands I. Die Jahre 1920 bis 1923 1. Die International Labour Organisation und das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen: Standortbestimmung und Bewährungsproben

Bis zum englischen Revisionsbegehren vom Juli 1921. In Deutschland war die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter durch die Anordnung des Demobilmachungsamtes vom 23.11. und 17.12.1918 erfolgt. Die tägliche Höchstarbeitszeit wurde damit auf 8 Stunden festgelegt. Möglichkeiten zur Durchbrechung dieses Grundsatzes beschränkte man auf ein wirtschaftlich notwendiges Minimum. Neben der gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit hatten die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften bereits am 15.11.1918 in einer unmittelbaren Regelung den Achtstundentag begründet. Seine dauernde Aufrechterhaltung stellten sie allerdings unter die Bedingung seiner internationalen Vereinbarung. 1 In den Jahren bis 1923 spielte die deutsche Position, sei es die der Regierung, der Gewerkschaften oder der Arbeitergeberverände, im Rahmen der internationalen Diskussionen über die Ratifizierung des WAZ eine eher untergeordnete Rolle. Auf das Verhältnis Deutschlands zur ILO im allgemeinen und auf die nationalen Debatten, die die Ratifizierung nicht aus dem Auge ließen, wird daher in einem späteren Kapitel gesondert eingegangen. In Frankreich hatte ein Rahmengesetz vom 23.04.1919 den Grundsatz des Achtstundentages und der 48-Stundenwoche in Industrie- und Handelsbe1 Wohlgemerkt nicht: internationale Durchführung! Sabine Bischoff, S. 31ff, Gerald D. Feldman. "Origins ...". S. 45ff.

I. Die Jahre 1920 bis 1923

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trieben festgeschrieben. Erst im Wege einzelner Verordnungen, die die öffentliche Verwaltung für "Berufe, Gewerbe- und Handelszweige oder Berufskategorien, für das ganze Land oder für ein bestimmtes Gebiet" erließ, erhielten diese prinzipiellen Vorgaben des Gesetzes ihre unmittelbare Wirkung. Bis 1929 wurden etwa 80 Verordnungen erlassen.2 Den Achtstundentag im Bergbau fixierte das Gesetz vom 24.06.1919. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, ist hier zu betonen, daß die französische Arbeitszeitregelung ihrem Wortlaut nach von der tatsächlichen Arbeitszeit, "Ia dun~e du travail effectif' (Art. 1 des Arbeitszeitgesetzes), ausging.3 Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich unterlag in Großbritannien nur der Bergbau einer gesetzlichen Beschränkung der Arbeitszeit. In den anderen Industriezweigen bestimmten Tarifverträge, von denen etwa 90 % der Beschäftigten profitierten, die 48-Stundenwoche bzw. den Achtstundentag. Teilweise sahen die Tarifverträge sogar kürzere Arbeitszeiten vor.4 Die Regelung der Arbeitszeit in anderen europäischen Ländern soll hier außer Betracht bleiben. Für den Gang der internationalen Diskussionen um die Ratifizierung des WAZ war dies ohnehin von nachrangiger Bedeutung.5 Wenn nationale Arbeitszeitbestimmungen in konkreten Situationen eine Rolle spielten, wie z.B. die Verlängerung der Arbeitszeit in Italien 1926, wird an dortiger Stelle darauf zurückzukommen sein. Im November 1919 hatte die erste Internationale Arbeitskonferenz das WAZ verabschiedet. Griechenland (19.11.1920) und Rumänien (13.06.1921) waren die ersten Staaten, die es ratifizierten. Am 24.08.1921 schloß sich die Tschechoslowakei als erster europäischer Staat von größerer industrieller Bedeutung an.6 Frankreich legte dem Parlament am 29.04.1920 ein Ratifikationsgesetz vor. Obwohl die Washingtoner Konvention unter Berücksichtigung des französischen Arbeitszeitgesetzes vom April 1919 erarbeitet worden war, zeigten sich Unstimmigkeiten zwischen nationaler und internatio2 Das Gesetz ist abgedruckt in: 50. Sonderheft.. .. S. 171f: dort befindet sich auch ein Überblick liber die Regelung der Arbeitszeit in Frankreich. Siehe auch ILC 1921 (Director's Report). S. 96-Hf. 3 Zur Darstellung der einzelnen Regelungen siehe auch ILC 1921(Director's Report), ebd. 4 ILC !921(Director's Report), S. 978 ff: "SO. Sonderheft...", S. 184. 5 Zur überblicksmäßigen Darstellung siehe die alljährlichen Berichte des BIT-Direktors für die IAK. Die Arbeitszeitregelungen Belgiens, der USA, der Sowjetunion, der Schweiz, Österreichs. Polens, Italiens und der Tschechoslowakei sind auch im "SO. Sonderheft...•, erläutert. 6 Übersicht über die Ratifizierungen bis zum Juli 1929 in: "SO. Sonderheft...", S. 139: Ohne Bedingung halten ratifiziert Belgien(6.9.1926), Bulgarien(14.2.1922), Chile(IS.9.1925), Griechenland(l9.11.1920), lndien(14.7.1921), Luxemburg(16.4.1928), Portuga1(3.7.1928), Rumänien(I3.6.1921) und die Tschechoslowakei(24.8.1921). An unterschiedliche Bedingungen knüpften Österreich(12.6.1924 ). Italien(6.10.1924), Lettland(IS.8.1925}, Frankreich(2.6.1927) und Spanien(22.2.1929) ihre Ratifikation.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

naler Regelung der Arbeitszeit.7 Es waren indes nicht inhaltliche Probleme, die eine sofortige Ratifizierung durch Frankreich verzögerten, sondern Schwierigkeiten verfassungsrechtlicher Art: Man war der Auffassung, die französische Verfassung erlauben dem Präsidenten der Republik nicht, den Entwurf eines Übereinkommens zu ratifizieren, der nicht durch formell Bevollmächtigte Frankreichs unterzeichnet, sondern nur wie das WAZ auf einer Konferenz mit der Mehrheit der Stimmen beschlossen sowie vom Präsidenten der Konferenz und vom Direktor des BIT unterzeichnet worden war. Gelöst wurde dieses Problem dadurch, daß Frankreich mit Belgien am 24.01.1921 u.a. ein Abkommen abschloß, daß dem im Washington gefaßten Arbeitszeitbeschluß im Wortlaut entsprach. Ein über den Fortgang aufgenommenes Protokolls sollte für weitere Staaten zur Unterzeichnung offen gehalten werden. Das BIT sah in dem von Frankreich eingeschlagenen Verfahren einen Verstoß gegen den Geist des Teils XIII des Versailler Friedensvertrages. Denn das Fehlen der Unterzeichnung durch Bevollmächtigte war eben gerade Ausdruck des Tripartismus, mit dem sich Frankreich durch die Ratifikation des Friedensvertrages einverstanden erklärt hatte. Jedoch erst am 17.03.1924 teilte die französische Regierung dem BIT mit, daß es sich zukünftig nicht mehr diplomatischer Abkommen mit anderen Mitgliedern der ILO bedienen werde.8 Hatten die verfassungsrechtlichen Probleme zwar nicht zur Folge, daß das Ratifikationsgesetz vom April 1920 zurückgezogen wurde, so verzögerten sie doch das Ratifikationsverfahren so erheblich, daß im Frühjahr 1921 England in den Mittelpunkt der Diskusssionen um die Ratifikation des WAZ rückte. Bereits vor der Washingtoner Konferenz hatte die National Industrial Conference, die von der englischen Regierung im Februar 1919 einberufen worden war, ein Provisional Joint Committee eingesetzt, in dem sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer speziell mit der Frage der Arbeitszeit befassen sollten.Q Das Komitee empfahl die 48-Stundenwoche. 10 Am 18.08.1919 ging ein entsprechender Gesetzentwurf an das Parlament. Die Tatsache jedoch, daß er weder Seeleute noch landwirtschaftliche Arbeiter in den Genuß des 7 Report presented by the Director to the Committee. Annex A to the Report of the Eight Hours Committee, Appendix X zu GB(19. Sitzung vom 13.6.1923), S. 499 ff, 505 f. Vgl. auch Special Report on the Situation with Regard to Ratification of the Hours Convention, Appc;ndix XIV zu ILC 1922, S. 947 ff, 996. 8 Zum Ganzen siehe "Zehn Jahre .. .". S. 336ff; "50. Sonderheft .. .", S. 65.f. Das Schreiben Poincares befindet sich in: Archives Nationales , F 22/325. Dort auch die Antwort Thomas vom 02.05.1924 9 ILC 192l(Director's Report), S. 980, Rodney Lowe, "Adjusting to Democracy ...", S. 96f, siehe auch H.A. Clegg, S. 281 f. 10 Vgl. R. Lowe,"Adjusting To Democracy ... ". S. 97.

I. Die Jahre 1920 bis 1923

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gesetzlichen Achtstundentags brachte, erfuhr heftige Kritik. Nach weiteren Konsultationen mit dem Provisional Joint Committee erarbeitete das Arbeitsministerium einen neuen Entwurf, der nun auch für die Landwirtschaft galt und einzelne Bestimmungen enthielt, die, so der englische Arbeitsminister, T.J. Macnamara, in der Parlamentssitzung vom 22.03.1921, zur leichteren Umsetzung des WAZ eingefügt worden seien. 11 Der Gesetzentwurf wurde dem Parlament jedoch nicht vorgelegt. Dabei spielte vor allem eine Rolle, daß die Mitglieder der National Industrial Conference einigen der aufgrund des WAZ eingearbeiteten Artikel, wie z.B. der Obergrenze von täglich maximal 9 Stunden bei einer nur 5-tägigen Arbeitswoche, starken Widerstand entgegenbrachten! 2 Die Tendenz in England ging zu einer Revision des WAZ. Im BIT war bereits Anfang 1921 bekannt, daß Sir Montague Barlow, der Parlamentarische Staatssekretär im Arbeitsministerium, die Revision propagierte. 13 Sein Ziel war es, die Konvention zu überarbeiten, ohne zuvor -wie in Art. 21 WAZ festgelegt- einen Bericht des Verwaltungsrates der ILO über die Anwendung des Übereinkommens einzuholen. Ein im BIT erstelltes Rechtgutachten von Anfang 1921 kam zu dem Schluß, daß eine Anwendung des Art. 21 zur Lösung der englischen Ratifikationsprobleme dieser Bestimmung einen ganz anderen Sinn geben würde als es die Autoren in Washington beabsichtigt hätten. Art. 21 könne daher nicht "en faveur de Ia n!vision immediate de Ia Convention sur les 8 heures" herangezogen werden. Zumindest müsse der Verwaltungsrat zwischengeschaltet werden.'~ Anfang Juni 1921 beabsichtigte Montague Barlow dem englischen Kabinett 4 mögliche Alternativen für ein weiteres Vorgehen in der Ratifikationsfrage vorzuschlagen. 15 1. Keine Ratifikation im jetzigen Zeitpunkt, jedoch die Bereitschaft der englischen Regierung, ein neues Übereinkommen "embodying certain necessary amendments", zu diskutieren; 2. Eine Ratifikation mit materiellen Vorbehalten; 3. Eine Erklärung gegenüber der ILO, daß England zwar rati11 12 13

ILC 192l(Dirertor's Report), ebd. Rodney Lowe, "Hours of Labour ...", Economic History Review 1982, S. 254ff, 257. Siehe das Rechtsgutachten von Jose de Villalonga vom Januar 1921 zu Artikel 21 WAZ, D 6 Privater und offizieller Brief an Poincare vom 18.05.1922. CAT 7-572. Thomas ging es um Schadensbegrenzung. Die französische Regierung bat er, nach Wegen zu suchen, "pour calmer les eh!ments franr;ais qui ne eessent d'attaquer le Bureau, et pour ehereher vraiment par quelle procedure nous pouvons aboutir a une vie normale et a un travail fecond". 67 "Zehn Jahre .. .", S. 108. A. Alcock. S. 55 (auch zur Begründung der Entscheidung), B.W. Sehaper. S. 242ff: Die Kompetenz "en matiere d'organisation et de developpment de Ia production dans l'agrieulture" wurde der ILO jedoch abgesprochen (S. 245).

I. Die Jahre 1920 bis 1923

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tale en capitale, juif errant de Ia politique sociale, pour tenter d'obtenir, sinon des ratifications, au moins cette amorce de m!gotiations indispensables pour aboutir a des resultats."68 Fast im gleichen Atemzug betonte er, daß solche Verhandlungen vielleicht nicht ausreichend seien.69 Damit wollte Albert Thomas zum Ausdruck bringen, daß ein grundsätzliches Problem zu lösen war, welches den Fortschritt der Internationalen Sozialpolitik belasten konnte: Art. 21 des WAZ sah zwar eine Revision vor, dies jedoch nur unter den Staaten, die das Übereinkommen bereits ratifiziert hatten. Ein Verfahren zur Änderung einer von der Internationalen Arbeitskonferenz beschlossenen, aber von der Staatengemeinschaft noch nicht ratifizierten Konvention regelten weder Art. 21 noch andere Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags. Auf der IAK 1922 wurde deshalb die Frage diskutiert, wie in Zukunft ILO-Übereinkommen unter erleichternden Voraussetzungen abzuändern seien. Da sich verfassungsrechtliche Probleme bei einem in die jeweilige Konvention integrierten Abänderungsverfahren ergaben, beschloß die Konferenz eine andere Vorgehensweise: Die sogenannte doppelte Lesung. Erst auf einer zweiten Konferenz galt die Abstimmung über eine Konvention als endgültig. Die dadurch verursachte Zeitverzögerung wurde aber nicht durch die erhoffte, größere Akzeptanz eines Konventionsentwurfs bei der zweiten Abstimmung wettgemacht, so daß man 1926 das System der doppelten Beratung einführte. Im ersten Jahr fand danach eine allgemeine Beratung statt, in deren Verlauf beschlossen wurde, ob die Frage auf die Tagesordnung der nächsten Konferenz gesetzt werden sollte. Es wurden zudem jene Punkte bezeichnet, auf die sich ggf. die endgültigen Beschlüsse der Konferenz erstrecken sollten.70 Das WAZ, dies belegt die aufgezeigte Entwicklung, war in der für sozialpolitische Reformen günstigen Umbruchphase der unmittelbaren Nachkriegszeit zustandegekommen. Daß es damit an formellen und materiellen Unzulänglichkeiten litt, hatte auch in dem zeitbedingt noch unausgereiften Beratungsverfahren seine Ursache. Dieses Manko trat zu einem Zeitpunkt besonders hervor, als sich das Tempo des sozialpolitischen Fortschritts verlangsamte. Ob der Motor der Internationalen Sozialpolitik, das BIT, einer internationalen Regelung der Arbeitszeit wieder neuen Antrieb verleihen konnte, sollten die Verhandlungen mit England zeigen.

t>S Tho mas auf der JAK. ILC (09.11.1921). S. 237. Insgesamt wurde auf der dritten JAK die Frage der Ratifika tion und der Verwaltungsratsbeschluß nur am Rande diskutiert. "' A.a.O .. s. 238. 70 Zum Ganzen "Zehn Jahre ...". S. 72 und "50. Sonderheft ...". S.71.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Die Verhandlung des BIT mit England und deren Folgen "C'est taute une m!gotiation a pousser activement", notierte Albert Thomas am 24.10.1921.71 Zur Vorbereitung dieser wichtigen Verhandlungen erhielt Thomas von Picquenard, Directeur du Travail im französischen Arbeitsministerium und ein Freund des BIT-Direktors72, Unterstützung. Auf der elften Sitzung des Verwaltungsrates im Januar 1922 erklärte er im Namen der französischen Regierung, daß nach dem französichen Arbeitszeitgesetz, das sechs Monate vor Washington verabschiedet worden war und fast wörtlich mit der Konvention übereinstimme, unter bestimmten Voraussetzungen regelmäßige Mehrarbeit an Sonntagen zulässig sei. 73 Mit diesem Vorstoß sollten offensichtlich die englischen Eisenbahnprobleme überwunden werden. Für den Fall, daß diese Interpretation die Bedenken der englischen Regierung noch nicht zerstreuen sollte, schlug Picquenard die Einholung eines Gutachtens ("advisory opinion) des StiGH als schnellstmögliches Verfahren vor. Dieser letzte Teil der französischen Initiative hatte für das BIT allerdings einen entscheidenden Haken: Der Vorschlag eines Rechtsgutachtens des StiGH konterkarierte die Bestrebungen des BIT, eine eigene Interpretationskompetenz für die ILO zu begründen. Die ganze Tragweite dieses Aspekts wird vor dem Hintergrund einer anderen Entwicklung deutlich: Zur gleichen Zeit bestritt Frankreich die Zuständigkeit der ILO bei der Frage einer internationalen Regelung der Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft.74 Als Lösungsmechanismus für die bestehenden Konflikte offerierte Frankreich in beiden Fällen die Einholung eines Rechtsgutachtens des StiGH. Während beim Problembereich Landwirtschaft auch das BIT an die Einschaltung des StiGH dachte, die französische Regierung jedoch, ohne die Genfer Behörde vorab zu informieren, den StiGH vermittelt durch den Völkerbundsrat um ein Rechtsgutachten anging75, hatte man beim WAZ weder im Verwaltungsrat noch im Kreise des BIT ein derartiges Vorgehen in Erwägung gezogen. Die ILO wollte selbst interpretieren und das BIT war 71 CAT6C-7-l.

72 73

Siehe Brief Thomas an Picquenard vom 04.01.1922. CAT 7-560. Im einzelnen GB (17.01.1922). Appendix IX: "Note presented by Mr. Picquenard with regard to the interpretation of the Washington Convention concerning the Eight Hour Day". Picquenard wies auch darauf hin. daß Ausnahmeregelungen immer erst nach vorheriger Konsultation der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen ergingen. 74 Siehe z.B. die Diskussionen auf derselben Verwaltungsratssizung. GB (17.1.1922). 75 B.W. Schaper. S. 243. Die Frage der Kompetenz in landwirtschaftlichen Angelegenheiten führte zu scharfen Auseinandersetzungen innerhalb des Verwaltungsrats und insbesondere zwischen Thomas und dem französischen Arbeitgebervertreter Pinot. Siehe auch Thomas Brief an den Vorsitzenden des Verwaltungsrats. Fontaine. o.D .. CAT 7-328.

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vom Verwaltungsrat mit Verhandlungen in England betraut worden. Die Einholung eines Gutachtens des StiGH, dessen Ergebnis höchst ungewiß war, stand zur aktuellen Beschlußlage in Widerspruch und hätte obendrein die unmittelbaren Ziele der ILO durchkreuzt. Der Vorschlag Picquenards, obwohl er die Eisenbahnproblematik in England lösen wollte, war in seinem Kern ein Danaergeschenk für die ILO. Am 23.03.1922 führte Albert Thomas die entscheidenden Verhandlungen in London mit Sir Montague Barlow, Sir Horace J. Wilson und einigen Beamten des englischen Arbeitsministeriums.76 Mit dem Vertreter der Arbeitgeber, General Baylay sowie den Vertretern der Arbeitnehmer, E. Poulton, traf Albert Thomas gesondert zusammen.n Die Gespräche brachten keinen Fortschritt im Sinne des BIT: "Au fond, tous nos efforts sont vains: voila Je resultat Je plus clair de l'entrevue. II nous a ete declare officiellement que l'Angleterre ne ratifierait pas sous Ia forme actuelle".78 Obwohl das BIT die Tarifverträge der Eisenbahnen als mit dem WAZ vereinbar angesehen hatte und trotz des Vorstoßes der französischen Regierung in der Verwaltungsratsitzung vom Januar 1922, hielten die englischen Verhandlungspartner an ihrer gegenteiligen Auffassung fest. Was die grundsätzliche Frage der nach dem WAZ zulässigen anderen Verteilung der Arbeitszeit anlangte, so führten die Gespräche zu einer weiteren Klärung der unterschiedlichen Positionen: In England zeichnete sich eine Entwicklung hin zur 5-Tagewoche ab, indem die erlaubte 48-Stundenarbeit anders auf die Woche verteilt wurde. Zum Beispiel: die Arbeiter in den Schokoladenfabriken Londons und die Druckeri9 wollten im Wege tarifvertraglicher Vereinbarung jeden Tag 9,5 bis 10 Stunden arbeiten, um den Samstag von Arbeit freizuhalten. Vergleicht man diese Regelung mit dem WAZ, so stellten sich folgende Probleme: Art. 2 b sah zwar den Fall vor, daß durch Tarifvertrag eine andere Verteilung der Arbeitszeit vorgenommen wurde, begrenzte die tägliche Arbeitszeit jedoch auf 9 Stunden. Auch 7" :'\eben Barlow und Wilson waren Oswald Allen. Wolff und Hennessy anwesend, Note von T!Jomas vom 28.3.1922. CAT 6C-7-2. ' 7 Edward L. Poulton war u.a. Sekretär der National Union of Boot and Shoe Operatives (1908-1929), Mitglied des TUC General Council (1917-1930) und ArbeitnehmeJVertreter im Verwaltungsrat. General A.C. Baylay war dort Arbeitgebervertreter und ein "Midlands engen~iring employer" (Margaret Stewart, "Britain and the ILO", London 1969, S. 27f). Note von Themas vom 28.3.1922, CAT 6C-7-2. Special Report on the Situation with Regard to Ratification of the Hours Convention. ILC (1922) Appendix XIV; Supplementary Report of the Director. GB (April 1922) Annex A. Siehe auch einen Brief an Lccocq vom 31.12.1921 (94 AP 382), in dem sich der Direktor pessimistisch über die Erfolgsaussichten der vwh.andlungen geäußert hatte. Ahnlieh lag der Fall bei den Bauarbeitern. die in ihrem Tarifvertrag im Winter und Sommer unterschiedliche Arbeitszeiten festgelegt hatten (Note l110mas vom 28.3.1922, a.a.O.).

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Art. 5 bezog sich auf eine andere tarifvertraglich fixierte Verteilung der Arbeitszeit; sogar ohne eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf 9 Stunden. Art. 5 des WAZ trug deshalb nach offizieller Lesart des BIT den englischen Entwicklungen ausreichend Rechnung.80 Das Problem bestand jedoch darin, daß Art. 2 b die spezielle Ausnahmeregelung für den Fall darstellte, daß "an einem oder mehreren Tagen der Woche weniger als 8 Stunden" gearbeitet wurde. Art. 5 war sozusagen die Ausnahme der Ausnahme, die jedoch bei enger Auslegung nur eingreifen konnte, wenn die Voraussetzung der ersten Ausnahmebestimmung, also Art. 2 b, nicht erfüllt waren. Die Vertreter des englischen Arbeitsministeriums beharrten auf dieser engen Auslegung der Bestimmung und widersprachen der Interpretaion des BIT. Sogar der englische Arbeitnehmervertreter, Poulton, betonte, daß dem englischen Arbeiter sehr an der neuen Form der Verteilung der Arbeitszeit gelegen sei.81 Im Gegensatz zu seiner Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsrat, bekannte auch Albert Thomas in einer privaten Aufzeichung über die Verhandlungen in London, daß es schwierig sei, die Tarifverträge in diesem Falle mit dem WAZ in Einklang zu bringen.82 Doch weder die speziellen Schwierigkeiten der Eisenbahner noch die tarifvertraglich eingeführte 5-Tagewoche waren die entscheidenden Hindernisse, die von seiten der englischen Verhandlungspartner Thomas bei seiner Mission in den Weg gestellt wurden. Selbst wenn sich England der offiziellen Interpretation des BIT angeschlossen und den Ausweg über Art. 5 WAZ akzeptiert hätte, bestand eine Schwierigkeit fort: Sie entsprach einesteils der grundlegenden Rechtstradition Englands, gesetzliche Kodiflkationen zu vermeiden, andererseits war sie Ausdruck der damaligen politischen Richtung, die während des ersten Weltkriegs angewachsene staatliche Intervention auf dem Feld der Arbeitsverhältnisse wieder zurückzuschrauben. "The collective contracts which have been drawn up between employers' and workers' organisations are of no value from the point of view of the draft Convention unless they are conflrmed by an Act of public authority. For this to be possible in Great Britain, an Act would have to be passed giving express powers to the Government to makc spccial confirmations. Thc Director was informed that there was no possibility of an Act heing passcd on Lhis question at the present moment".83

80 81

82 83

Siehe Supplementary Repor! von 1922. a.a.O .. Thomas Note vom 28.3.1922, a.a.O .. Ebd.

Supplementary Repor! von 1922. a.a.O.: vgl. auch die Äußerung Montague Barlows, GB (4.4.1922). s. 19.

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Die Durchsetzung einer derartigen gesetzlichen Ermächtigung war politisch nicht realistisch. Wie die Politik der englischen Regierung in der Frage einer weiteren Ausdehnung der Trade Boards, die unter anderem in einzelnen Industriezweigen Mindestlöhne festsetzten, zeigte, war der englische Staat bestrebt, die Festsetzung der Arbeitsbedingungen dem freien Spiel der Tarifvertragsparteien zu überlassen. Bereits im März 1921 hatte das Kabinett eine weitere Ausdehnung der Trade Boards untersagt. Dieser Entscheidung hatte sich das Arbeitsministerium zu beugen. "Britain's cultural resistance to bureaucracy, employer hostility and trade union ambivalence towards state intervention" und "internal weakness" führt Lowe als die hauptsächlichen Gründe auf, warum das Arbeitsministerium mit seiner Trade Board Politik scheiterte.&~ Diese können auch die Hintergründe der englischen Haltung zur Ratifizierung des WAZ beleuchten: Sei es Butlers Überraschung, daß das Kabinett am 01.07.1921 trotzanderer Meinung des Arbeitsministeriums einen Revisionsantrag befürwortete, sei es daß man sich der unmittelbaren Festsetzung der Arbeitszeit oder einer Sanktionierung der diesbezüglichen Tarifverträge durch Gesetz widersetzte. Die Situation war aus der Sicht des BIT aussichtslos. Deshalb trat Albert Thomas am 21.03. mit den englischen Vertretern auch in Gespräche über mögliche Veränderungen des WAZ ein. Die Engländer schlugen zwei Varianten vor: Entweder solle man der täglichen Arbeitszeit nur durch den 25 %igen Zuschlag ab der achten Stunde eine Schranke setzen, oder eine jährliche Obergrenze für die Zahl der Überstunden festlegen.as Garantie gegen eine Ausbeutung der Arbeitnehmer seien die starken Gewerkschaften.86 Dem entgegnete Albert Thomas, "que cela pouvait etre vrai du point de vue national, mais que, laisser pleine liberte aux patrons et ouviers de s'entendre, sans aucune intervention de l'autorite publique c'etait aller a Ia perte de toute garantie de vue international. Dans un interet national, pour frapper a mort l'industrie concurrente d'un voisin, les patrons et les ouvriers ... peuvent fort bien passer une entente qui aboutisse a des heures suppleSI R.Lowe. "Adjusting to Democracy ...".S. !OOff: ein mit Lord Cave als Vorsitzendem eingesetztes Komitee kam zu dem Schluß. daß die Trade Boards zwar aufrechzuerhalten seien, sie sich aber wie in der Vorkriegszeit auf die Verhinderung der Ausbeutung der Arbeitnehmer beschränken sollten ("prevention of sweating"), a.a.O .. S 100. &S In den Diskussionen wurde oft die Frage der anderen Verteilung der Arbeitszeit im Sinne von Art. 2 b und Art. 5 mit der Frage der tatsächlichen Überstunden im Sinne von An. 6 vermischt: Während Art. 2 b und Art. 5 nur "unechte" Überstunden gestatteten, da die 8- bzw. 48- stündige Arbeitszeit auf einen längeren Zeitraum gesehen erhalten blieb, erlaubte An. 6 "echte" Überstunden entweder bei einer außergewöhnlichen Häufung der Arbeit oder bei notwendigen Vorbereitungs- und Ergänzungsarbeiten. Bei den Verhandlungen in London 1922 stand die Verteilung der Arbeitszeit. d.h. die "unechten" und nicht mit einem 25%igen Lohnzuschlag zu vergütenden Überstunden im Mittelpunkt. 86 Note von Thomas vom 28.3.1922. a.a.O ..

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mentaires sans Iimite ... Internationalement, c'est Ia mort de Ia Iegislation ouvriere".87 Hatte Teil XIII des Versailler Friedensvertrags das in der internationalen Politik bisher einzigartige System des Tripartismus innerhalb der ILO eingeführt, so mußte Albert Thomas hier die begrenzte Reichweite der Neuerung erkennen: Die Beteiligung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirkte bei der Ausarbeitung und Verabschiedung sozialpolitischer Konventionen. Garanten für internationalen sozialpolitischen Fortschritt konnten indes nur Staaten bieten, die international gebunden waren und in ihrem Territorium die Normen sozialpolitischer Übereinkommen umsetzten. Aus diesem Grund konnte sich das BIT auch nicht mit der zwar wahren Behauptung der Engländer einverstanden erklären, in England sei der Achtstundentag bereits so gut wie überall verbreitet. Die bloß tatsächliche Durchführung einer Reform genügte aus Sicht der Internationalen Sozialpolitiker eben nicht: "Ce qui importe, c'est Je Iien a etablir de pays a pays, d'engagements a faire prendre par differentes contrees".88 Mit dem WAZ war dieses Ziel momentan nicht zu erreichen. Albert Thomas, der ein Revisionsverfahren als Lösungsmöglichkeit bisher nicht ausgeschlossen, es aber offiziell nicht propagiert hatte, kam zu einem klaren Entschluß und änderte seine Politik: "La conclusion est donc qu'en vertu de l'article 21 de Ia Convention, nous ferions bien de proceder a une revision", notierte er am 28.03.1922 für sich, Butler und Phelan.89 Der Direktor hatte erkannt, daß er nur zwischen zwei Alternativen wählen konnte: Ein Festhalten am WAZ mit der Folge, daß es übertrieben gesagt praktisch das Papier nicht mehr Wert war, auf dem es geschrieben stand. Oder: "... il fait consacrer Je principe des huit heures. Les huit heures etalon. II admet toute une serie de derogations. Mais, il y a une base minima acceptee par tous !es Etats industriels, et vers Ia quelle on täche d'elever tous les autres".90 Albert Thomas entschied sich für die letztere, trotzder zu erwartenden heftigen Kritik der Arbeitnehmer: "Mais Ia premiere est peutetre Ia mort du Bureau".91 Ausschlaggebend für Albert Thomas Entschluß, eine Revision vorzubereiten, war nicht allein der Eindruck, den die ablehnende Haltung der Engländer auf ihn gemacht hatte, sondern auch die Erkenntnis, daß in anderen Länder Europas die Beibehaltung des Achtstundentags mehr und mehr in Frage stand. Die Kampagne der französischen 87 88

Ehd. Ehd.

: ~~~:: vgl. auch den Dricf an Millerand vom 02.11.1921. 94 AP 391. 91 Ehd. Z\tr Kampagne der französischen Arbeitgeiler gegen den Achtstundentag in dieser Phase siehe Gary Cross. Les trois huils. in: French Historical Studies 1985 (14). S. 240ff. 256: "From November 1921 to November 1922. hardly a business association failed to condemn the eight-hour law as fatal to their industry and to French economic power".

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Arbeitgeber gegen die verkürzte Arbeitszeit, der schweizerische Gesetzentwurf vom 01.07.1922 und die Nachrichten aus Deutschland über ein mit vielen Ausnahmen bestücktes neues Arbeitszeitsgesetz gingen Albert Thomas durch den Kopf: "Les huit heures etalon", der 8-Stundentag als Mindeststandard der Arbeitsbedingungen in Europa, den ein revidiertes und mit flexiblen Ausnahmeregelungen versehenes Arbeitszeitübereinkommen garantieren sollte, wurde Albert Thomas Zielvorstellung. Er setzte dies vorsichtig in die Tat um. In einem Bericht für die Apriltagung 1922 des Verwaltungsrats brachte er den Vorschlag ein, das BIT zu beauftragen, von den verschiedenen Regierungen, die das WAZ noch nicht ratifiziert hatten, Informationen über deren Gründe hierfür einzuholen. Eine kommende IAK sollte dann über eine Revision einzelner Bestimmungen entscheiden.Q2 Der Verwaltungsrat beauftragte einstimmig den Direktor, Erkundigungen über die verbreitete Zurückhaltung bei der Ratifikation des WAZ einzuholen und darüber der IAK einen objektiven Bericht vorzulegen.93 Dies geschah auf der Konferenz vom 18. 10. bis 3. 11. 1922. Der 88seitige "Special Report on the Situation with Regard to the Ratification of the Hours Convention"94 verdeutlichte nochmals, daß außer in England auch in Frankreich und Deutschland schwerwiegende Hindernisse einer Ratifikation des WAZ im Wege standen. Bei dem Problem einer staatlichen Sanktion von Überstunden sowie von Tarifverträgen, die eine andere Verteilung der Arbeitszeit vorsahen, offenbarte sich die unterschiedliche Auffassung der kontinentalen Länder Frankreich und Deutschland im Vergleich zu Großbritannien, das einen Eingriff der öffentlichen Gewalt in die Selbstregelungskräfte der Tarifvertragsparteien ablehnte.95 Andererseits hatten Frankreich und England mit der 9stündigen Obergrenze des Art. 2 b gleichermaßen Schwierigkeiten. Frankreich erachtete den Text jedoch als "sufficiently elastic to obviate any real contradiction with the regulations in question",96 eine Einstellung, die auch der Politik des BIT zugrundegelegen und sich in dem Vorstoß Picquenards im Januar 1922 manifestiert hatte. Abgesehen von diesen Schwierigkeiten bei der Normsetzung versuchte der Special Report auch wirtschaftliche Beweggründe der Staaten gegen eine Ratifizierung zu erfassen. Die durch eine Arbeitszeitverkürzung zu er92

Supplcmcnrary Rcport. a.a.O .. Gß (-'.4.1922). S. 23. 9~ ILC (1922). Appendix XIV. Auf die Ergebnisse des Berichts bezüglich anderer europäischer Länder wird nicht eingegangen. YS Special Report. S. 1024. 1026. Darin sah Thomas neben der Frage nach der täglich möglichen Überschreitung der achtstündigen Arbeitszeit die beiden wichtigsten Punkte, mit denen sich eine Reform des WAZ zu befassen habe. Note personneile vom 6.10.1922. CAT 6C-7-l. % Special Rcport. a.a.O .. S. 998. 93

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wartende Belastung der industriellen Produktion wurde von den Regierungen in ihren Auskünften an das BIT ebenso angeführt wie eine dadurch bedingte Verschlechterung der Konkurrenzbedingungen auf dem internationalen Markt.97 Zum Beispiel hatten sich Anfang 1922 die englischen Schiffswerften beschwert, daß die Unternehmen in Deutschland und Holland mehr Stunden pro Tag arbeiteten. Andererseits litt die deutsche Textilindustrie im Vergleich zu ihren Konkurrenten an der kurzen Arbeitszeit.98 Das BIT konnte die Probleme wirtschaftlicher Provinienz nur anreißen. Hatte man im Jahr 1921 noch geglaubt, daß die Zulassung der bedingten Ratifikation, d.h. einer Ratifikation unter der Bedingung, daß auch die Konkurrenten des betreffenden Landes ratifizierten, einen Ausweg öffnen würde, so mußte Albert Thomas auf der IAK von 1922 eingestehen, daß sich diese Hoffnung nicht erfüllt hatte.99 Insgesamt betrieb das BIT in seinem Special Report die vom Verwaltungsrat geforderte objektive Informationspolitik über die Ursache der verbreiteten Nichtratifikation des WAZ. In Bezug auf die zukünftige Vorgehensweise der ILO urteilte das BIT, daß es ratsam sei, "to consider the possibility of adopting somc procedurc for revision". 100 Die IAK vom 1922 nahm den Special Report des BIT zur Kenntnis, diskutierte ihn kurz, ergriff jedoch keine weiteren operativen Maßnahmen. Durch die erfolglosen Verhandlungen Albert Thomas in London im Frühjahr 1922 waren die englischen Regierungsvertreter, insbesondere die des Arbeitsministeriums in die Kritik geraten. Da sich jedoch auch in anderen europäischen Ländern eine Kampagne gegen den Achtstundentag ausbreitete, stand England nicht allein im Schußfeld. Zudem war deutlich geworden, daß spezielle Interessen der englischen Arbeiter und hiervon wiederum einzelner Gruppen (z.B. die Eisenbahner) eine Ratifizierung erschwerten. Die englischen Eisenbahnergewerkschaften wollten daraufhin den politischen "Schwarzen Peter" loswerden. Anfang 1923 brachte der General Council des Trade Unions Congress die Meinung zum Ausdruck, "that no valid excuse can be made for not ratifying".101 Zur Begründung verwies der General Council auf zwei Aspekte: Zum einen hätten die englischen Regierungsvertreter in Washington 1919 der Konvention zugestimmt und zum anderen stehe die englische :~ Special Report. a.a.O .. S. 1033.

A.a.O .. S. 1034. ILC (1922). S. 154. 100 Special Rcport. a.a.O .. S. 1032. 101 "Rcports of Deputations to . 'VIinisters". (Ed. hy TUC, Londo n 1923), S. 23, D 601/2010/25/1/1. S. 138. 99

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Überstundenregelung mit dem WAZ in Einklang. Zusammen mit anderen Arbeitervertretern trug Poulton am 05.02.1923 diese Resolution dem englischen Arbeitsminister, Sir CA.M. Barlow vor. Dabei kam das Gespräch auch auf das Problem der Eisenbahnertarife. Poulton erklärte: "Equally, .. do I submit to you that the railwaymen say that there are no difficulties urged that from their Standpoint cannot be overcome and yet confirm the Washington Convention". 102 Eine klare Aussage also für das WAZ, wie es schien. Poulton hatte außerdem zuvor mit den Vertretern der beiden Eisenbahnergewerkschaften gesprochen. Zwischen den beiden Gewerkschaften bestand eine scharfe Rivalität: John Bromley, der Sekretär der Associated Society of Locomotiv Engineers and Firemen, und James Henry Thomas, der Generalsekretär der National Union of Railwaymen, die den größten Teil der Eisenbahner organisiert hatte .103 Bei genauerer Betrachtung zeigte sich aber, daß die Eisenbahner ihre Meinung gegenüber dem WAZ nicht grundlegend geändert hatten. Bromley halte in einer schriftlichen Erklärung betont, daß man sich zwar nicht um Überstunden oder Sonntagsarbeit reiße. Bestehe jedoch die Notwendigkeit zu Sonntagsarbeit, so solle man diese als bezahlte Überstunden einstufen. Von der in den Tarifverträgen garantierten 48-Stundenwoche, also vom Vorteil einer Bezahlung auch bei tatsächlich nicht gearbeiteten Wochenstunden, wollte man nicht Abstand nehmen. J.H. Thomas auf der anderen Seite hatte sich nicht schriftlich festgelegt und im Gespräch mit Poulton ausgeführt, "that it will take time to try to get over the technical difficulties", bevor England ratifizieren könne. 104 Die Schwierigkeiten, die besonderen tarifvertraglichen Bedingungen der englischen Eisenbahner in den RahmeJ;J. des WAZ zu bringen, hatten sich also nicht wesentlich gebessert. Die Arbeiterdelegation brachte gegenüber dem Arbeitsminister nur zum Ausdruck, daß man willens war, Lösungen zu suchen, und die Probleme nicht unüberwindlich seien. Am 11.04.1923 stellte Poulton den Antrag, der Direktor solle sich erneut mit der englischen Regierung in Verbindung setzen und England wegen seines Abstimmungsverhaltens in Washington in die Pflicht nehmen. 105 Albert Thomas selbst riet von der Annahme dieses Antrages ab, weil es eine Verpflichtung der Staaten zur Ratifikation nicht gebe. Verabschiedete KonvenA.a.O .. S. 25. Ebd. Rcpons of Deputations. S. 25. Aus einer undatierten Aufzeichnung (etwa Anfang 1923), D (>01-201 0-25-1-1. mit dem Titel "Attirude of \-tr. J.H. Thomas" geht ebenfalls hervor, daß Thomas grundsätzlich eine r Rarifikat ion gegenLiber stehe. sich jedoch nicht schriftlich festzule"c.ll pnegte. Rb GB ( IIA. l923). S. 199: der Anrrag wurde von der Arbeirergruppe insgesamt unterstützt. 102 103

1Q.l

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tionen müßten nur den zuständigen innerstaatlichen Organen zur Beratung vorgelegt werden. Dies war in England geschehen. Das von Poulton vorgeschlagene Vorgehen des BIT hätte nicht nur zu einem "diplomatic reverse" in der Sache geführt, sondern auch das BIT in den Augen souveräner Staaten in Mißkredit 106 gebracht. Das Angebot des englischen Regierungsvertreters im Verwaltungsrat und Parlamentarischen Staatssekretärs im Arbeitsministerium, H.B. Betterton, die Verhandlungen mit dem BIT wieder aufzunehmen, wies Albert Thomas ebenfalls als "useless" zurück. Dem Direktor erschien in der gegebenen Situation eine Revision "hardly less dangeraus than non-ratification". Deshalb unterstützte er einen Antrag des französischen Gewerkschafters Jouhaux, der den Moment für günstig hielt, "to appoint a special Comittee to undertake enquiries for this purpose , to study the question as a whole and to place definite proposals for a solution before the Governing Body". 107 In der folgenden Sitzung wurde Jouhaux Vorschlag, der auf das WAZ begrenzt war, mit 13 zu 9 Stimmen angenommen.108 Der Gegenantrag der Arbeitgebcrscite, der den Aufgabenbereich des Komitees auf alle Konventionen ausdehnen und damit verwässern wollte, scheiterte knapp mit 11 zu 12 Stimmen. Die erste ILO-Kommission zum Thema Arbeitszeit Die erste ILO-Kommission, die sich aus 9 Mitgliedern zusammensetzte109, hatte formal nicht die Aufgabe eine Revision des WAZ vorzubereiten. Sie sollte dem Verwaltungsrat bis zu dessen nächster Sitzung Vorschläge unterbreiten, mit welchen Mitteln die Ratifikation des WAZ vorangetrieben werden könne. 110 Die Revision stand dabei aber als mögliche Lösung im Raum. Zur Vorbereitung der Sitzungen hatte der Direktor des BIT einen Bericht über die allgemeine Lage der Ratifizierung des WAZ und die Möglichkeiten eines weiteren Vorgehens seitens der ILO erstellt. 111 Darin bezeichnete er das WAZ als Prüfstein für die weitere Entwicklung des BIT und dessen Einfluß in der Internationalen Sozialpolitik. Obwohl größte Vorsicht gebo106 107 108

So Thomas GB (11.4.1923). S. 201.

Ebd.

GD a.a.O .. S.206. Als VIiiglieder der Kommission wurden von Regierungsseite bestimmt Adatci. Betterton. de Vlichelis. von Arbeitgeberseite liodacz. Olivetti. Pinot und von den Arbeitnehmern Jouhaux. Poulton und Leipart: GD ( 12.4. 1923). S. 224. 110 Siehe die endgültige Formulierung der Resolution GB (11.4.1923). S. 205. 111 Der Bericht ist abgedruckt GD (13.6.1923) Annex zu dem Bericht der Kommission (Appendix X). S. 498ff. 109

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ten sei, lehnte er ein weiteres Zuwarten der ILO in der Sache ab. Denn dadurch werde Autorität und Glaubwürdigkeit der Organisation aufs Spiel gesetzt.112 Vor einer möglichen Revison des WAZ wollte Albert Thomas jedoch zwei Bedingungen erfüllt sehen: Das Prinzip der achtstündigen Arbeitszeit sollte nicht angetastet werden: " Partial amendments to the Convention should only apply to the provisions of the Convention which raise questions of interpretation or which conflict with recognised special technical necessities" .113 Die zweite Bedingung ergab sich aus der Erkenntnis, daß das WAZ gegenwärtig "a sort of standard as regards regulations of hours of work" darstellte und trotz des FehJens formeller Ratifikationen direkt oder indirekt Einfluß auf die meisten Staaten ausübte. 114 Dieser Wert des WAZ als "labour standard" drohte in dem Moment verloren zu gehen, in dem eine schrankenlose Revision wahrscheinlich erschien. Für Albert Thomas war es daher eine der unabdingbaren Voraussetzungen einer Revision, "to know with certainty that such revision would Iead to ratification". Diese Sicherheit ließ sich wegen der Souveränität der Nationalstaaten weder durch rechtliche noch durch moralische Verpflichtungen erreichen. Albert Thomas entwickelte die Idee, sich im Wege eines bestimmten Verfahrens, in das die Staaten vor einer Revision einzubinden waren, gegen eine schrankenlose Veränderung des WAZ zu sichern. Dabei ging er von der Überlegung aus, daß erstens in England das Fehlen eines die Tarifverträge sanktionierenden Gesetzes die Ratifikation behinderte, und daß zweitens in anderen europäischen Ländern Arbeitszeitgesetze in Bearbeitung (z.B. in Deutschland) waren, die sich an den Bestimmungen des WAZ orientierten. War es ursprünglich das prioritäre Ziel gewesen, die nationale Gesetzgebung an das WAZ anzupassen, so sollte nun der umgekehrte Weg eingeschlagen werden: "If the International Convention cannot be the regulator of national legislation, it must be the resultant".115 Ausgehend von den nationalen Gesetzgebungsvorhaben sollten die Staaten eng umrissene Vorschläge ("definite proposals") einreichen, an denen abzulesen war, wo genau Unstimmigkeiten mit dem WAZ bestanden. Nur die Anhindung der Veränderungswünsche an nationale Gesetzgebungsprojekte konnte nach Ansicht des BIT eine Revision ins Blaue hinein verhindern. 116 112

88. I !.I

So Thomas auf der ersten Kommissionssitzung am 2.6.1923. D 601/910/3 (Minutes), S. Bericht für die Kommission a.a.O .. S. 502.

11 ~ Thomas eJWähnte in diesem Zusammenhang Schweden. wo die internationale Art>cits-

zcitregelung in der Parlamentsdiskussion eine Rolle gespielt hatte, Belgien. wo die Arbeitszeitregelung dem WAZ entspreche und nicht zuletzt die Schweiz: a.a.O ., S.502f. Zur Situation in Polen Kommissionssitzung, D 601/910/ 3 (Minutes). S. 89. 115 Bericht fiir die Kommission. a.a.O .. S. 503. 116 A.a.O .. S. 504.

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Da England im Gegensatz zu Frankreich, Belgien und Deutschland noch kein Arbeitszeitgesetz in Angriff genommen, aber ein Revisonsverfahren beantragt hatte, lag die Stoßrichtung des Vorschlags von Albert Thomas auf der Hand. England sollte den Gesetzgebungsprozeß einleiten und in der Folge sein Revisionsbegehren genauer spezifizieren. 117 Ihre erste Sitzung hielt die Kommission in Paris Anfang Juni 1923 ab. Theodor Leipart, der Vorsitzende des ADGB und Arbeitnehmervertreter in der Kommission, nahm dar an nicht teil. In einem Brief vom 11.05.1923 hatte er Albert Thomas mitgeteilt, daß ihm Frankreich bei geplanten Reisen zum französischen Gewerkschaftskongreß in den Jahren 1921 und 1923 ein Visum verweigert habe. Zwar könne er jetzt als vom Verwaltungsrat gewähltes Mitglied einreisen, doch ginge es ihm ums Prinzip: Er wolle als Gewerkschafter einreisen. Mit Schreiben vom 18.05.1923 lehnte das BIT Leiparts Antrag auf Verlegung des Tagungsortes ab, bot jedoch an, für ihn auch ein Visum als Gewerkschafter zu besorgen. Dieses Angebot stellte Leipart nicht zufrieden. In einer Zeit, in der der passive Widerstand gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets tobte, wollte Leipart nicht nach Paris reisen:" ... und fühle mich sehr beschwert, daß an dem Tagungsort Paris festgehalten wird"." 8 Kein gutes Zeichen also für die Beziehungen der deutschen Gewerkschaften zur ILO. Auf der ersten Sitzung der Kommission wurden neben dem Vorschlag des Direktors drei Möglichkeiten eines weiteren Procedere der ILO in der Frage des WAZ erörtert. Zum einen brachte der Arbeitnehmervertreter Poulton die Interpretationslösung wieder ins Spiel. Obwohl er von Jouhaux darin unterstützt wurde, hatte dieser Ansatz kaum eine realistische Chance, von der Kommission angenommen zu werden. Der Verwaltungsrat hatte bereits implizit seine Abneigung erkennen lassen." 9 Die zweite mögliche Vorgehensweise lehnte sich an den Vorschlag des Direktors an, unterschied sich aber von diesem dadurch, daß keine Anhindung des Revisionsbegehrens an ein nationales Gesetzgebungsvorhaben gefordert wurde. Schließlich bot sich eine Politik des Abwartens an, die wenigstens den Wert der Konvention als "labour standard" aufrechterhielt. Dreh- und Angelpunkt der Diskussion war also die Frage, ob Revisionspolitik betrieben werden sollte, und wenn ja unter welchen Voraussetzungen, oder ob die Sicherung des status quo durch 117 Wörtlich sagte Thomas auf der ersten Kommissionssitzung. Minutes a.a.O .. S. 89: "IL est necessaire cn tous cas qu"une lcgislation sur Ia duree du travall ait ete preablement adoptee par le Parlement britannique". 118 Schreiben Leipart an Thomas vom 28.5.1923. D 601/ 910 (dort auch die vorerwähnten Schreiben). Leipart benannte auch keinen Stellvertreter. Der Vorfall wurde auch noch einmal auf der Verwaltungsratssitzung vom 13.6.1923 angesprochen (S. 427). 119 D 601/910/3 (Minutes), S. 92f.

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Untätigkeit der ILO in den Vordergrund zu rücken war. Die Antwort darauf hing in erster Linie vom Verhalten der englischen Seite ab. Der Regierungsvertreter Sir Frederic Leggett, dessen Zurückhaltung gegenüber der ILO nur von seiner Abneigung gegenüber der National Industrial Conference überboten wurde, 120 ergänzte die rechtlichen Einwände zunächst um die sozialpolitische Überlegung, wonach die strenge Anwendung des WAZ der Entwicklung in England zur Fünftagewoche entgegenwirke.121 Auch Poulton bedauerte in diesem Zusammenhang, daß Art. 3 b die Neunstundengrenze aufstelle. 122 Daß die englischen Arbeitnehmer aber einen gesetzlichen Eingriff zur Regelung der Arbeitszeit nicht ablehnten, unterstrich er. Die tieferen Gründe der englischen Ablehnung einer Ratifizierung traten jedoch erst deutlicher hervor, nachdem der italienische Arbeitgebervertreter Olivetti im Alleingang die gegenwärtige schlechte wirtschaftliche Lage als ausschlaggebendes Hindernis einer Ratifizierung angesprochen hatte: "La meilleure politique sociale a !'heure actuelle consiste a stabiliser l'equilibre mondial plutöt qu'a favoriser les reformes sociales qui seraient contraires aux interets economiques". 123 Diese Äußerung, die von Arbeitnehmerseite heftig angegriffen wurde, nahm Albert Thomas am Ende der Sitzung zum Anlaß, den englischen Regierungsvertreter zu einer eindeutigen Stellungnahme zu bewegen. 1u Den bohrenden Fragen entzog sich F. Leggett nicht. Seine klare Antwort war wegweisend: Da Voraussetzung für sozialen Fortschritt eine befriedigende wirtschaftliche Lage sei, könne man nicht umhin zu sagen,"que ce n'est pas actuellement le cas. En presence d'une pareille situation, on ne peut reduire Je champ de Ia dicussion a une simple question · de details d'application". 125 Mit einer englischen Ratifikation war damit in absehbarer Zeit genausowenig zu rechnen wie mit der Vorlage eines Arbeitzeitsgesetzes als Grundlage für detaillierte Revisionsvorschläge. Unter den gegebenen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in England hatte die Politik des BIT, deren Kernpunkt die Anhindung eines Revisionsverfahrens an nationale Gesetzgebungsvorhaben war, keine Aussicht auf Erfolg. England wollte das WAZ weder ratifizieren noch revidieren, son-

120 Rodncy Lowc. "Adjusting to Dcmocracy ... ". S. 98f. 1929 rückle Leggett zum Leiter der Abtcilllng lndustrial Relations und 193') zum Dcputy Sccrctary auf. 121 \1inutcs a.a.O .. S. 91. 122 A.a.O .. S. 90 und 92. Siehe auch ßcricht der Kommission GB (13.6.1923), Appendix X, S. 498. 123 \1inutes a.a.O .. S. 93f. 12• A.a.O .. S. 98f. 125 A.a.O., S. 102.

5 Grabherr

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

dcrn eine internationale Bindung auf dem Sektor Arbeitszeit tunliehst vermeiden. Die Karten lagen auf dem Tisch. Die Kommission verabschiedete schließlich eine Resolution, wonach vor einer möglichen Revision des WAZ genaue Verbesserungsvorschläge der einzelnen Staaten gefordert wurden. Die beiden Arbeitnehmervertreter und der englische Regierungsvertreter enthielten sich der Stimme126• Auf der letzten Sitzung der Kommission am 13.06.1923 in Genf erklärte Jouhaux im Namen der Arbeitnehmergruppe, "qu'aucune decision ne pouvait etre prise actuellement sur une question aussi delicate .. ." 127 und stellte damit die angenommene Resolution wieder in Frage. Diesem Vorschlag wollte sich Albert Thomas nicht anschliessen. Nachdem seine Bedingungen für ein Revisionsverfahren nicht erfüllt worden waren, lehnte er eine Revision und eine Politik des weiteren Zuwartens ab. Mittlerweile hatten sich außer Polen wohl 12B andere Regierungen an das BIT gewandt und ausgeführt, daß sie wegen der augenscheinlich bevorstehenden Revision des WAZ ihre nationalen Arbeitszeitgesetzgebungsvorhaben zurückstellten. Darüber hinaus berichtete die Presse, daß die Revision von der Kommission eingeleitet werde. Sowohl unter dem Druck der öffentlichen Meinung als auch in Verfolgung eigener Grundsätze war dem BIT in dieser Situation an der Erhaltung des WAZ als "international labour Standard" sehr gelegen. Eine möglicherweise zur Schau gestellte Unentschiedenheil der ILOGremien hätte dessen Aufweichung befördert. Diese Position vermochte Albert Thomas auf der 19. Verwaltungsratssitzung am gleichen Tag im wesentlichen durchzusetzen. Der Verwaltungsrat beschloß die Vertagung des Problems, wie in der Ratifikationsfrage vorzugehen sei, auf die nächste Sitzung. Gleichzeitig entsprach er dem Wunsch Albert Thomas und stellte klar, "that no procedure of revision had been instituted and that governments still bad before them the original text of the Convention as adopted at Washington". 129 Als am 15.10.1923 der Verwaltungsrat wieder zusammentrat, erklärte der englische Regierungsvertreter Betterton, daß er für die Resolution der Kommission eintrete, jedoch einen Ergänzungsantrag vorzubringen habe. Hatte die Resolution der Kommission davon gesprochen, daß vor einer Entscheidung über die Einleitung eines Revisionsverfahrens, die Regierungen, 126 127

A.a.O .. S. 107. D 610/910/3 (Minutes), S. 6. t2S Thomas erwähnte dies auf der Sitzung der Kommission am 13.6.1923, a.a.O., S. 7. Da die angeführten Schreiben nicht auffindbar waren. könnte hier auch ein taktischer Schachzug des DiWktors vorliegen. 1 Gß (13.6.1923), S. 427.

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die eine Ratifikation grundsätzlich anstrebten, daran aber durch einzelne Unstimmigkeiten des WAZ gehindert würden, ihre Schwierigkeiten in Form von genauen Vorschlägen kundtun sollten, so erweiterte der Antrag Settertons den Kreis auf alle Staaten, die noch nicht ratifiziert hatten. 130 Zu Recht bemerkte Albert Thomas, daß man damit wieder auf den Stand der Dinge vom April 1922 zurückgeworfen sei, als der Verwaltungsrat den Direktor beauftragt hatte, einen "'Special Report" zu verfassen. Die Arbeitnehmergruppe sprach sich ausdrücklich gegen die Einleitung eines Revisionsverfahrens aus. Dies entsprach einem einstimmigen Beschluß des Komitees des IGB. 131 Die Arbeitnehmergruppe griff aber den Antrag Poultons, die Regierungen anzuhalten, Arbeitszeitgesetze mit besonderer Berücksichtigung der Ausnahmebestimmungen vorzulegen, um danach bei der ILO konkrete Verbesserungsvorschläge für das WAZ einzureichen, auf. Dies stand mit der Ablehnung der Revision zum jetzigen Zeitpunkt nicht in Widerspruch. Denn erst nach Eingang der Vorschläge sollte über konkrete Maßnahmen zur Förderung der Ratifizierung nachgedacht und entschieden werden. Trotzdem ließ der Antrag der Arbeitnehmergruppe, die vor allem im Hinblick auf die öffentliche Meinung notwendige Trennschärfe zur Einleitung eines Revisionsverfahrens vermissen. Albert Thomas befürwortete diesen Antrag nicht. Dies lag weniger daran, daß, wie er es formulierte, dem BIT "a policy of force"' gegenüber souveränen Regierungen nicht zustand. 132 Der Direktor war vielmehr Realist genug zu erkennen, daß das BIT in der gegebenen Situation vor allem England nicht erfolgreich unter Druck setzen konnte. Als sich ab 21.01.1924 die politischen Verhältnisse mit der neuen Arbeiterregierung in England geändert hatten, scheute Albert Thomas nicht davor zurück, seine Ziele, die er in seinem Bericht für die 1. ILO-Kommission formulierte haue und die sich nicht wesentlich vom Antrag der Arbeitnehmervertreter unterschieden, entschlossen durchzusetzen. Die Anträge der Arbeitnehmergruppe, des englischen Regierungsvertreters Betterton wie auch die Resolution der Kommission wurden mit 13 zu 6 bzw. 12 zu 5 bzw. 8 zu 6 Stimmen vom Verwaltungsrat abgelehnt. Zufrieden konnte der Direktor am Schluß der Sitzung feststellen, daß der Verwaltungsrat damit das Revisionsbegehren der englischen Regierung von 1921 zurückgewiesen habe. 133 Die Gefahr, durch Unentschiedenheil der ILO in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, es liege eine Revision des WAZ in der Luft, war ebenfalls gebannt. Das WAZ von 1919 blieb als "labour standard"' erhalten. Dies ist als ein Erfolg des BIT und Albert Tho130 131

Gß (15.10.1923), S. 565. So Jouhaux auf der Vetwaltungsralssitzung, a.a.O .. S. 567.

132

Ebd.

133

A.a.O .. S. 568.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

mas zu verbuchen. Da man sich nicht starr an den Text des Washingtoner Übereinkommens geklammert hatte, hatte sich das BIT nicht den Blick auf mögliche Revisionsansätze verstellt. Das Festhalten am Prinzip des Achtstundentages und an den als erforderlich erachteten Voraussetzungen einer Revision gewährleistete andererseits, daß ein einmal erzielter Fortschritt der Internationalen Sozialpolitik nicht leichtfertig wieder aufs Spiel gesetzt wurde. Nicht durchzusetzen vermochte das BIT die ursprünglich favorisierte lnterpretationslösung, die der ILO einen erheblichen Bedeutungszuwachs im Rahmen der Internationalen Sozialpolitik gebracht hätte.

2. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen als Gegenstand der auswärtigen Sozialpolitik der Weimarer Republik

Nachdem Deutschland von der ersten IAK im Oktober 1919 neben Österreich mit gleichen Rechten und Pflichten zur ILO zugelassen worden war, konstituierte sich am 24. November 1919 der 24köpfige Verwaltungsrat des BIT. Dabei wurde für Deutschland der Sitz eines Arbeitnehmer- und Regierungsvertreters freigehalten. Drei Tage später ernannte die deutsche Seite den Reichstagsabgeordneten und Gewerkschaftsführer Karl Legien sowie den Beamten im RAM, Geheimrat Dr. Leymann, zu ihren Repräsentanten bei der neugegründeten Arbeitsorganisation. 1 ~ An die Stelle von Legien trat 1920 Theodor Leipart, der 1925 von Hermann Müller-Lichtenberg abgelöst wurde. Der erste deutsche Regierungsvertreter wurde 1924 durch Geheimrat Dr. Feig aus dem RAM ersetzt, der seinerseits 1928 Geheimrat Dr. Weigert Platz machte mußte. Seit 1922 entsandten auch die deutschen Arbeitgeber ein allerdings nur stellvertretendes Mitglied, Kommerzienrat Vogel aus Chemnitz, in den Verwaltungsrat Obwohl Deutschland erst im Juni 1920 in Genua auf einer Internationalen Arbeitskonferenz vertreten war, ergaben sich aus der deutschen Beteiligung an der ILO Verpflichtungen, die sich auch auf die im Herbst 1919 in Washington verabschiedeten Übereinkommen bezogen. Arl. 405 Abs. 5 Versailler Friedensvertrag vcrpllichtetc die Mitglieder der ILO, innerhalb J ahrcsfrist nach Schluß einer Konferenz einen Übereinkommensentwurf "den Stellen zu unterbreiten, unter deren Zuständigkeit die betreffende Frage fällt, damit sie zum Gesetz erhoben oder Maßnahmen anderer Art getroffen werden". 135 Da die Washingtoner Arbeitskonferenz erst auf der 1~

135

Sitzung des Reichskabinetts vom 28.11.1919. AdR :-.Ir. 117. Text des Versailler Friedensvertrags. RGBI. 1919. 1289.

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Verwaltungsratsitzung im Januar 1920 offiziell für beendet erklärt worden war 136, lief die Frist zur Vorlage des WAZ bis zum 26.01.1921. Ein bereits am 10.06.1919 dem damaligen RAMinister Bauer, vorgelegtes Arbeitszeitgesetz wurde nicht Gegenstand parlamentarischer Beratungen. 137 Der ab Juni 1920 neu ernannte RAMinister Heinrich Brauns, der den wechselnden Kabinetten bis 1928 angehörte 138, beauftragte bei seiner Amtsübernahme seinen Mitarbeiter Regierungsrat Neitzel, ein Arbeitszeitgesetz auszuarbeiten, das den in Washington gefaßten Beschlüssen Rechnung tragen sollte. 139 Gemeint war damit nicht nur das WAZ, sondern auch das Übereinkommen über die Festsetzung der Altersgrenze für die Zulassung von Kindern zu gewerblicher Arbeit, das Übereinkommen betreffend die Nachtarbeit der Jugendlichen in der Industrie, das Übereinkommen betreffend die Nachtarbeit der Frauen und das Übereinkommen betreffend die Beschäftigung der Frauen vor und nach der Niederkunft. In dem am 14.09.1920 vorgelegten Gesetzentwurf machte sich der Einfluß des WAZ zum Beispiel dadurch bemerkbar, daß im Gegensatz zu dem Entwurf vom Juni 1919 eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit zum Ausgleich ausgefallener Stunden an anderen Tagen auf eine Stunde täglich begrenzt war (§ 3). 14° Für geleistete Überstunden sollte entsprechend dem WAZ ein 25 %iger Lohnzuschlag eingeführt werden (§ 18). In einer Ressortbesprechung mit Vertretern der Landes- und Reichsministerien betonte Dr. Leymann vom RAM, daß § 18 ausschließlich durch das WAZ bedingt sei: "Es wäre zweifellos besser, wenn Bestimmungen über die Entlohnung völlig aus dem Gesetz heraus gelassen werden könnten" . 1 ~ 1 Während der Lohnzuschlag für Überstunden in dem abgeänderten Gesetzentwurf vom 19.10.1920 1 ~ 2 nach wie vor im Sinne des WAZ geregelt war, fiel die neunstündige Obergrenze des § 3 national-wirtschaftlichen Erfordernissen zum Opfer. Gegenüber dem Argument, die augenblickliche Kohleknappheit erfordere aus energiewirtschaftliehen Gesichtspunkten längere Arbeitszeiten an möglichst wenigen Tagen 1 ~3 , hatte der Verweis des RAM 136 Beim tatsächlichen Ende der I. IAK war der Friedensvenrag und damit die Satzung der ILO noch nicht ratirizien, B.W. Schaper, S. 214. 137 Zum Inhalt siehe Sabine Bischoff. S. 41f. 138 Vgl. Brauns Biographie im Anhang. 139 Sabine Bischoff. S. 43f. 140 Der Entwurf vom 14.09.1920 ist abgedruckt bei S. Bischoff. Anlage 2. 1 ~ 1 Niederschrift über die Beratung des Entwurfs eines Gestzes der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter am 28.09.1920. ZStA/RAM/2128/BI. 58ff. 76. 142 Entwurf eines Gesetzes über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter und Erläuterungen nebst Schreiben Brauns· vom 19.10.1920. ZStA/RAM/2128/81. 76-93. 143 :-liedcrschrift iiber eine Ressortbesprechung mit u.a. einem Vertreter des RWiMinisteriums vom 28.09.1920. a.a.O .. 131. 71. So auch die Argumentation der Arbeitgeber, Niederschrift der ßerillung des Entwurfs eines Gesetzes über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbciler illll 12.11.1920 int RAM. Hmbg. StA..Filsc. 1. 56.

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auf die Regelung des WAZ keine Überzeugungskraft mehr. Indem § 3 des abgeänderten Entwurfs vom 19.10.1920 Arbeitszeitverlängerungen zum Ausgleich von Arbeitszeitverkürzungen "bei außergewöhnlichen Betriebsverhältnissen" bis zu 11 Stunden täglich zuließ, zeigte sich, daß Vorgaben der lntematiOJwlen Sozialpolitik in Krisensituationen hinter den nationalwirschaftliclzen Notwendigkeiten zurückzutreten hatten. Dies war in Frankreich nicht anders. 1 ~

Obwohl eine Ratifikation des WAZ erst nach Annahme eines nationalen Arbeitszeitgesetzes erfolgen sollte145, legte der RAMinister gleichwohl mit Schreiben vom 10.01.1921 das WAZ dem Reichskabinett vor und bat, die Beratung über die Ratifizierung auf die Tagesordnung zu setzen. 146 In der Sitzung vom 15.01.1921 beschloß das Kabinett auf Vorschlag des Reichsministers des Auswärtigen von der Ratifizierung "vorläufig abzusehen".147 Als Gründe für diese Entscheidung sollte angegeben werden, daß man nirgendwo den Beginn der Durchführung des WAZ sehe, daß Deutschland in der Durchführung des 8-Stundentages den anderen Ländern am weitesten voraus sei und daß sich die deutsche Regierung nicht weiter binden könne, bevor nicht Klarheit über die wirtschaftlichen Verpflichtungen bestehe. Diese Begründung entsprach im wesentlichen auch den Bedenken, die das RAM bereits am 10.01.1921 gegen eine Ratifikation vorgetragen hatte: Zehnjährige Bindung, Beeinträchtigung der Konkurrenzfähigkeit gegenüber den anderen Hauptindustrieländern und keine Mitgliedschaft der USA in der ILO. Dennoch hatte das RAM die Annahme des Übereinkommens in der Hoffnung empfohlen, daß auch die anderen maßgebenden Ländern das WAZ ratifizieren würden. 1• 8 Ausschlaggebend im Kabinen blieb die Erwägung des Auswärtigen Amts, daß vor einer Ratifizierung sozialpolitischer Übereinkommen die Frage der außenwirtschaftliehen Verpflichtungen, also der Reparationszahlungen, geregelt sein müsse. Dieses Ziel hatte man im Januar 1921, obwohl sich bei den Verhandlungen über das Seydouxprojekt Ansätze einer Lösung zeigten, noch nicht erreicht. Erst auf der Pariser Konferenz des Obersten Rats der Alliierten vom 24. bis 29.01.1921 wurden die deutschen Reparationen auf

1 ~ Vgl. Special Report on the Situation with Regard to Ratification of the Hours Convention. Appendix XIV. in: ILC 1922, S. 947ff, 996. 145 A.a.O .. S. 4: In einer Ressortbesprechung des Gesetzentwurfs vom 13.11.1920 (Niederschrift. Hmbg. StA. Fase. I. 56) wurde die Frage der Ratifikation nur ganz am Rande erwähnt. L-1 R 43 I/2073. BI. 89- 103. 147 AdR ~r. 156. L-18 Schreiben des RAM vom 10.01.1920. R 43 1/2073. BI. 99

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226 Milliarden Goldmark festgesetzt. Der enge Zusammenhang zwischen der Frage der Reparationsvetpf/ichtungen wzd der Ratifikation des WAZ tauchte damit zum ersten Mal auf. Bis Ende der zwanziger Jahre sollte er die Geschichte des WAZ begleiten. Mit seiner Entscheidung vom 15.01.1921 hatte das Kabinett nicht nur die Ratifikation des WAZ abgelehnt, sondern auch die Vorlage eines Ratifikationsgesetzes an die gesetzgebenden Körperschaften unterbunden. Selbst das Auswärtige Amt erkannte jedoch nach einer Initiative des RAM 149 an, daß Art. 405 Abs. 5 des Versailler Friedensvertrages auch das Deutsche Reich als Mitglied der ILO dazu verpflichte, das WAZ bis zum 26.01.1921 wenigstens den gesetzgebenden Körperschaften vorzulegen. Um dieser formellen völkerrechtlichen Verpflichtung nachzukommen, beschloß das Kabinett am 21.01.1921 unter Aufhebung seiner früheren Entscheidung, das WAZ dem Reichsrat und dem Reichstag doch zuzuleiten. 150 Eine Änderung der inhaltlichen Position der Reichsregierung in der Ratifizierungsfrage war damit nicht verbunden. Zwei Monate später, am 21.03.1921 kündigte Brauns einen neuen Gesetzentwurf zur Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter an. Das am 18.02.1921 für den 31.03.1922 festgesetze Ende der Demobilmachung und die damit verbundene Ablösung der vorläufigen Demobilmachungsverordnungen durch endgültige Arbeitszeitvorschriften rückte näher. Desweiteren ergab sich aus Art. 19 des WAZ die Verpflichtung, im Falle der Ratifizierung die Vorgaben des Arbeitszeitübereinkommens bis zum Juli 1921 in innerstaatlich verbindliches Recht umzusetzen. Um diesen zeitlichen Rahmen einigermaßen einzuhalten, legte Brauns am 23.06.1921 dem seit Mai neuen Kabinett unter der Leitung von Wirth einen Arbeitszeitgesetzentwurf vor.151 Während der RAMinister von der Ratifikation des 5. Washingtoner Übereinkommens bezüglich des Wöchnerinnenschutzes wegen der finanziellen Mehrbelastung ausdrücklich abriet, demonstrierte er hinsichtlich der Ratifikation des WAZ Handlungsbereitschaft. In einer späteren Sitzung des sozialpolitischen Ausschusses des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates (VRWR) erklärte der Vertreter des RAM, Klehmet, man habe "nach der damaligen Lage" mit einer 149 Schreiben des RAM an den RKanzler vom 19.01.1921, R 43 1/2073, BI. 105f; Schreiben des Auswärtigen Amts an den RKanzler vom selben Tag. a.a.O., BI. 107f. ISO AdR Nr. 160. . 151 Der Entwurf ist abgedruckt im 28. Sonderheft zum RArbBI.. Berlin 1923; S. Bischoff, S. 48. Bei einer Besprechung im RAM. von der der Gewerkschaftsvertreter Quist berichtete, äußerte sich Brauns dahingehend. daß die Teilnahme an der ILO, eine beschleunugte Vorlage" des Gesetzentwurfs für gewerbliche Arbeiter erfordere. Der Gesetzentwurf für die Angestellten sei demgegenüber zurückzustellen. Bundesausschußsitzung vom 22.03.1921. ADGB DOKlJ:-.iE!\'TE 29.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften zur Ratifizierung gerechnet, und ""folglich mußte das Gesetz, das die Ausführung bringen muß, sich auch auf den Boden der Annahme des Übereinkommens stellen". 152 Diese Erwartung des RAM hatte seinen Grund in Folgendem: Erst im Juli 1921 sah sich Großbritannien in einer offiziellen Erklärung außerstande, das WAZ in der gegenwärtigen Form zu ratifizieren. Den Hinweisen auf eine ablehnende Haltung der Engländern war das RAM am 04.06.1921 durch eine Anfrage beim BIT nachgegangen. In seinem Antwortschreiben erklärte das BIT, es habe sich lediglich um beiläufige Äußerungen des englischen Arbeitsministers anläßlich einer Parlamentsdebatte gehandelt, eine förmliche Stellungnahme liege dem BIT aber nicht vor. 153 Bedeutender als die internationale Situation war für die Ausarbeitung eines mit dem WAZ möglichst konformen Arbeitszeitgesetzes die parlamentarische Beschlußlage. Der RAMinister, der dem unter SPD-Beteiligung regierenden Kabinett Wirth (seit dem 10.05.1921) angehörte, berücksichtigte bei seiner Lagebeurteilung eine Erklärung des Sozialpolitischen Ausschusses des VRWR vom 07.02.1921. Darin hatte der Ausschuß, und am 26.02.1921 das Plenum, der Regierung die Ratifikation des WAZ empfohlen und gleichzeitig die Erwartung ausgesprochen "daß auch die übrigen Länder sich diesem Übereinkommen anschließen werden". 154 Der Vorschlag der Arbeitgeberseite, dem WAZ nur dann zuzustimmen, wenn auch die Hauptindustrieländer ratifizieren, hatte keine Mehrheit gefunden. Dem Beschluß des VRWR war eine Resollllion der Zentralarbeitsgemeinsclwft vorangegangen. Am 02.12.1920 hatte der geschäftsführende Vorstand der ZAG "nach langen, sehr eingehenden Verhandlungen" beschlossen, der Regierung anzuraten, "die Washingtoner Beschlüsse, unter der ausdrücklichen Voraussetzung, daß auch andere Staaten die Ratifikation vollziehen, zu ratifizieren" .155 In zwei Sitzungen hatte der sozialpolitische Ausschuß der ZAG diese Entscheidung vorbereitet. 156 Am 02.09.1920 152 153 154

44. Sitzung vom 17.11.1921. ZStA/VRWR/519. BI. 256ff. 279. Schreiben an Dr. Leymann vom 27.06.1921. D 601/2010/ 25/1. Jacke! 1. 13. Sitzung des sozialpolitischen Ausschusses. ZStA/VRWR/516, BI. 21. Zum Beschluß des Plenums. ILC 1921 (Director's Report), S. 977. 155 Pressebericht über die ZAG-Sitzung in ZStA/ZAG/34. BI. 16 und 9, BI. 563. Ein Protokoll über diese Sitzung war in den Akten nicht aufzufinden. Die Verknüpfung der deutschen Ratifikation mit der Ratifikation in anderen Ländern sei auf Betreiben der Arbeitgeber aufgenommen worden, so Dr. Riepert auf der 13. Sitzung des Sozialpolitischen Ausschusses des VRWR am 7.2.1921. ZStA/VRWR/516. BI. 3. 156 Sitzungen vom 23.8. und 2.9.1920. Niederschriften ZStA/ ZAG/51. BI. 236ff und 296. Dr. Lippart (Direktor der Maschinenfabrik Augsburg-Nümberg AG) hatte mit Datum vom 21.6.1920 der ZAG ein Gutachten über die Beschlüsse der ILO in Washington übersandt, ZStA/ZAG/47. BI. 406. das Grassmann auf der Sitzung vom 23.8. einer scharfen Kritik unterzog.

I. Die Jahre 1920 bis 1923

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brachten Dr. Meißinger für die Arbeitgeber und Dr. Brey für die Arbeitnehmerseite die jeweiligen Argumente vor. Der Arbeitgebervertreter erklärte zwar, daß mit einer Ablehnung der Ratifikation nicht zugleich die Abschaffung des 8-Stundentages in Deutschland verbunden sei. 157 Aber wie bereits das Überschichtenübereinkommen mit den Gewerkschaften im Bergbau vom Februar 1920 gezeigt habe, könne "mit Einverständnis der deutschen Arbeiter .. über kurz oder lang eine Änderung in den gesetzlichen Bestimmungen über die Arbeitszeit in Erwägung kommen". 1sa Eine Ratifikation des WAZ und die sich damit ergebende zehnjährige Bindung beschnitt nicht nur die Tarifautonomie, sondern führte in den Augen Meissingers auch zu einer für Deutschland gefährlichen Pflichtenkollision: Bei Nichterfüllung der Reparationspflichten drohe eine Besetzung des Ruhrgebiets und damit der Verlust eines jeden Arbeitsschutzgesetzes -, bei einem Verstoß gegen ein ratifiziertes W AZ sei man dem Kontroll- und Sanktionmechanismus des Teils XIII des Versailler Friedensvertrages ausgesetzt. Da eine Verlängerung der Arbeitszeit wegen drückender Reparationslasten notwendig werden konnte, lag so ein "unüberbrückbaren Abgrund" zwischen den Reparations- und den möglichen internationalen Arbeitszeitverpflichtungcn.15 in aller Form nicht nur von dem deutschen Vertreter, sondern auch von dem Vertreter des internationalen Arbeitsamtes, Thomas, bearbeitet worden." 253 Das am ~9 F. Syrup. S. 300: E. Phelan. S. 86 ff. Insbesondere der 1GB bestand darauf, daß die deutsche Arbeiterdelegation in einer offiziellen Erklärung die Methoden des Unterseebootkrieges mißbillige. In einer von Wissell unterschriebenen und von Thomas der Konferenz verlesenen Erklärung fand sich die deutsche Regierungsdelegation unter anderem bereit, ihre Bereitschaft zur Wiedergutmachung aller erlittenen Schäden zu bekräftigen. Die Erklärung ist abgedruckt bei E. Phelan. S. 89. Fußnote 2. Gleichzeitig bedauerte man die große Anzahl von Opfern durch den Unterseebootkrieg. "which Germany in her distress undertook in order to defe~ herself against the blockade". z So ein Stichwortkonzept für das Referat Graßmann zum Wirtschaftsabkommen über Oberschlesien. ADGB DOKC~E:";TE 52b. 251 Sitzung des Bundesausschusses vom 24.01.1922. ADGB DOKUMENTE 52a. 252 A.a.O .. Fußnote 26. 253 Bericht über die Konferenz im Arbeitsministerium am 28.01.1922, HiKo/NB/148, 81.104. Siehe auch ADGB DOKUMEI\'TE 52, Fußnote 26 und Aufzeichnung von Chappey für Thomas vom 03.11.1921. 94 AP 378. Chappey sprach hier ein gemeinsames Papier des BIT und des Völkerbundes an. das man in die Verhandlungen einbringen wollte. Er schlug vor, Thomas solle sich mit Sir Eric Drummond treffen. um das gemeinsame weitere Vorgehen zu beraten. In einem früheren Brief (09.09.1921) hatte er dem Direktor auf dessen Bitte hin geraten, das BIT solle in der Frage Oberschlesiens ("Melange du politique et du social") eine aktive Rolle spielen. Chappey selbst vertrat das BIT dann bei den Verhandlungen Ende 1921, wurde aber von den deutschen Gewerkschaften nicht als neutraler !VIittler akzeptiert, Vermerk Baumeisters vom 05.02.1922 über ein Gespräch mit Chappey. :'1/L Wissell Nr. 48, 10734. Zur Ober-

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15.05.1922 unterzeichnete deutsch-polnische Oberschlesienabkommen führte zu einer Verselbständigung gewerkschaftlicher Bezirksstellen im polnischen Teil, erhielt den Gewerkschaften aber in Einzelfragen, zum Beispiel beim Rechnungswesen, durchaus eine gewisse Verbindung zur deutschen Zcntrale ..z5.J In der Wahrnehmung des ADGB hatte das BIT bei den Genfer Verhandlungen die deutschen Interessen aber nicht ausreichend unterstützt2s5 bzw. keine neutrale Mittlerrolle eingenommen: "Zwar genieße Thomas wegen seiner sozialpolitischen Arbeit vor dem Kriege bei uns sehr viel Ansehen, aber er täusche sich, wenn er annehme, daß er dieses Ansehen und Vertrauen ohne weiteres auf andere Leute, besonders Franzosen, übertragen könne, von denen wir nicht eine ähnliche Vergangenheit kennen. Zudem sei deutschen Gewerkschaften nichts mehr zuwider als Objekt zu sein in wichtigen Dingen". 256 Den gleichen Eindruck mußten die Freien Gewerkschaften haben, als sie im November 1921 auf die sozialen Folgewirkungen von Eingriffen der Interalliierten Rüstungskontrollkommission in die deutsche Rüstungsindustrie aufmerksam machen wollten. Die unter Vorsitz des französischen Generals Nollet stehende Kommission versuchte die deutschen Rüstungsbetriebe von Marine und Heer, die seit Kriegsende zur gemeinwirtschaftlich organisierten "Deutsche Werke AG" zusammengefaßt und auf Friedensproduktion umgestellt worden waren, an der Herstellung von rüstungswichtigen Industriegütern zu hindern. Der ADGB protestierte gegen diese Maßnahmen bei den Botschaftern der Entente und sandte an die Gewerkschaftszentralen in Frankreich, England und Italien sowie an das BIT eine Denkschrift, die die damit verbundenen sozialen Lasten für die 60000 Beschäftigten darstellte. Mit Schreiben vom 14.11.1921 lud Wissen Thomas und Vertreter der ILO zu einer entsprechenden Informationsreise durch Deutschland ein. An der am 21.11. begonnenen Reise nahmen jedoch Vertreter des BIT nicht teil. Der Direktor hatte eine offizielle Verbindung des BIT mit der Reise und dem beabsichtigten Informationsziel nicht gewünscht.257Die Zurückhaltung in diesem Fall war aber eher untypisch für die

schlesienfrage und der Rolle des BIT siehe die Korrespondenz zwischen Chappey und Thom~ ab Sommer 1921. 94 AP 378. Gemäß An. VI (ADGB DOKUMENI'E 56) hatte die eigenständige Rechnungsführung "i~ Rahmen des gesamten Kassenwessens der Gewerkschaft" zu erfolgen. 5 Bericht GraBmanns über den Stand der Verhandlungen in Genf vom 21.02.1922, Hllio/:'-IB/147/97: ADGB DOKUMENTE 56. Fußn01e 2. b Vermerk Baumeisters vom 05.02.1922 über ein Gespräch mit Chappey, a.a.O .. 257 Schreiben Wissell an Themas. 94 AP 394: Bericht Wissells über die Besichtigungsreise. CAT 5-2-12. Weitere Einzelheiten in der Sitzung des Bundesausschusses vom 13.12.1921, ADGB DOKC:vtE:'\'TE 50. Fußnote 8. Themas reiste im Dezember nach Deutschland, Bericht hierzu in CAT 5-2-3. Nach seiner Reise im :vtärz 1922 kritisiene er in einem Brief an

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Politik des BIT. Denn außer in den mit Oberschlesien verknüpften sozialpolitischen Problemen versuchte Thomas, die Genfer Behörde als unparteiischen Schiedsrichter bei internationalen Fragen mit sozialpolitischer Relevanz und als "autorite morale" zu etablieren. Einen besonderen Stellenwert nahm hier die Reparationsproblematik ein. Nachdem am 16.7.1920 in Spa ein Abkommen über deutsche Kohlelieferungen als Reparationsleistungen zustandegekommen war, befürchteten die deutschen Bergarbeiter eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und der ohnehin angespannten Versorgungslage. In einem Schreiben an den englischen Premier Lloyd George und den französischen Präsidenten Millerand vom 26.7.1920 griff Thomas die Sorgen der Bergarbeiter auf und schlug vor: "To give the International Labour Office some measure of cantrot in the Ruhr business would be to give Germany the guarantee of an international cantrot and one to which she could raise no possible objection... 258 In der Folge wurden die Kohleforderungen reduziert, was aber nicht zuletzt auch auf die Befürchtung Englands vor einer Gefährdung des eigenen Kohleexports zurückzuführen war.2.w Auf lange Sicht hatte Thomas gar das Ziel, .. de rattacher Ia Commission des reparations a Ia Societe des Nations ou de creer taut autre organe saus le contröle de Ia dite Societe...260 Die Entwicklung verlief jedoch in anderen Bahnen, als 1924 die Reparationsfrage mit der Einsetzung des Daweskomitees und der nachfolgenden Bestellung eines Reparationsagenten zunehmend unter amerikanischen Einfluß geriet. Während sich Brauns gegenüber dem Völkerbund im Herbst 1922 als "personellement hostil" 261 bezeichnete und als Gründe dafür die Entscheidungen bezüglich Oberschlesiens und des Saargebiets angab, verfolgte er gegenüber der ILO eine Politik, die weder beim Problem der Ratifikation Poincarc (27.03.1922. CAT 7-572) die ungeschickte Politik der Interalliierten Militärkommission. die zu Problemen bei der Vorbereitung der Genueser Konferenz geführt hätte. 258 CAT 6A-3-4-1; Thomas vetwies in seinem Schreiben auf Art. 5 des Kohlenabkommens. Darin war die Errichtung einer unter deutscher Beteiligung stehenden Kommission in Essen geplant. die Mittel und Wege zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Bergarbeiter finden sollte. Aus französischer Sicht hatte dies den Sinn. die Förderleistung zu erhöhen und umfangreichere Reparationslieferungen zu erzielen: siehe dazu auch Peter Krüger, "Außenpolitik .. .". S. 110 und ein 30-seitiges Memoire sur !es negociations de Spa vom 31.07.1920. CAT6A-3-4-1. 259 P. Krüger. ebd .. l(-() ßrief an Lucien Hubert vom 26.08.1922. 94 AP 381. Hubert war neben Mario Roques !'Aitarheiter von Thomas in dessen Z.cil als Minister gewesen. Mitglied des Senats und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschussses. Die Idee einer Verschmelzung der Reparationskommission mit dem Völkerbund hatte er in einem 9-seitigen Schreiben an Thomas vom 27.03.1922. a.a.O .. entwickelt. Thomas griff die Idee begeistert auf. Briefe vom 04.04., 26.08. und 14.09.1922. a.a.O .. lol Gespräch mit Henseler. Note sur Ia conversation confidentielle. a.a.O ..

I. Die I ahre 1920 bis 1923

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des WAZ noch bei der Sprachenfrage von Feindschaft und grundsätzlichem Mißtrauen geprägt war. Die Freien Gewerkschaften dagegen hatten am Ende des Jahres 1922 weder Vertrauen noch Sympathie "with anyone of the Geneva institutions. The argument is always "Upper Silesia", the Saare etc".262 Von der Stimmung in der Christlichen Gewerkschaftsbewegung zeichnete Hcnseler Anfang 1923 ein anderes Bild: "Je peux affirmer de nouveau que nous ne trouverons pas d'hostilite dans le milieu syndicalistes ".263 Die Redakteure der Zeitschrift "Der Deutsche", der kürzlich Albert Thomas angegriffen hatte, versprachen Henseler "une presse plus conciliante a l'avenir". Im BIT herrschte Ende 1922 insgesamt die Ansicht vor, daß die öffentliche Meinung in Deutschland nicht gegen die Genfer Behörde eingestellt war. Man begegne ihr vielmehr mit Gleichgültigkeit.2M Es war daher kein Zufall, daß ab 1923 das Berliner Zweigamt die "Internationale Rundschau der Arbeit" herausgab. Sie enthielt Übersetzungen aus der Monatsschrift des BIT "Revue International du Travail" sowie andere sozialpolitische Informationen und wollte die Politik des BIT einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland zugänglich machen. 265 Auch nach der Besetzung des Ruhrgebiets am 11.01.1923 war der RAMinister von der Bedeutung des BIT überzeugt: ".. bien qu'il ne puisse faire grande chose dans Ia situation economique actuelle, < le BIT> doit rester intact et pn!t a taute eventualite pour pouvoir, Je moment venu, intervenir vigoureusement pour Je developpement de Ia legislation sociale internationale".266 Ausgehend von dieser Grundeinstellung gegenüber dem BIT kündigte der RAMinister jedoch eine gewisse Abkühlung in den beiderseitigen Beziehungen an. Da er einen sehr großen französischen Einfluß im Büro feststellte, und die deutsch-französischen Beziehungen augenblicklich auf dem Nullpunkt angelangt seien, glaubte er, daß Deutschland "une certaine reserve" gegenüber dem BIT einnehmen sollte. Andererseits zwinge nicht nur die katastrophale wirtschaftliche Lage, sondern auch der reparationspo262 Report on three Months' Mission to Berlin of 23.03.1923 erstellt von Baumeister, NL Wissell Nr. 51. 11456 ff. Siehe in diesem Zusammenhang auch das Schreiben Thomas an den Chefredakteur des "Votwärts", Friedrich Stampfer, vom 18.04.1923, CAT 6A-3-5. 263 Rapport deM. Henseler sur son voyage ä Berlin, vom 25.01.1923, CAT 5-2-10-5. lM Aufzeichnung von Palma de Castiglioni über Besprechung mit den deutschsprachigen Mitarbeitern der Division Diplomatique vom 06.09.1922, Henseler Papiere 3. 265 Der Besprechung mit den deutschen Mitarbeitern lag gerade die Idee Thomas einer mon~Wchcn deutschen Publikation zugrunde, a.a.O .. Rapport de M. Henseler. a.a.O .. 7 Grabherr

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

litische Kurs Deutschland dazu, seine Beitragszahlungen für die ILO einzustellen: "D'un autre cöte , ajouta-t-il, que dirait Ia Commission des Reparations si nous dcpensions a Ia legere des sommes aussi importantes lorsque nous sollicitons un moratorium relatif aux paiements prevus au Traite de Paix". 267 Der RAMinister plante also keinen Rückzug aus der ILO, wie von seinem Staatssekretär Geibanscheinend gefordert worden war. 268 Thomas begrüßte die Ruhrbesetzung durch Frankreich zunächst, denn: "... !es Allemands avaient perdu completement Ia notion de Ia justice et de Ia necessite des reparations, et .. si nous n'avions rien fait, c'etait l'echec complet de l'application du Traite de Versailles".2(~ Er hielt es jedoch für einen großen Fehler der Politik Poincares, mit England einen Bruch zu riskieren und nach der Besetzung nicht mit Deutschland zu verhandeln. Vergeblich bemühte sich Thomas zwischen Deutschland und Frankreich zu vermitteln.270 Die ILO bekam die Auswirkungen der harten und aus englischer Sicht völkerrechtswidrigen Ruhrpolitik Frankreichs schon bald zu spüren. Die Engländer forderten in den Haushaltsberatungen für 1924 drastische Sparmaßnahmen. In der Folge mußte Personal entlassen werden und Thomas kürzte seine eigenen Bezüge.271 Als der Direktor nach der Regierungsübernahme durch MacDonald seine guten Dienste anbot, um eine Annäherung zwischen Frankreich und England zu erreichen272, handelte er zum großen Teil auch im Interesse der ILO. Eine Entzweiung der beiden Staaten und außerdem eine Konfrontation zwischen Deutschland und Frankreich mußte eine Organisation. die in ihrem Kern auf Kooperation zwischen Staaten und gesellschaftlichen Gruppen angelegt war, auf Dauer erheblich schwächen. Forderte der reparationspolitische Kurs der Reichsregierung und die Ruhrbesetzung auf der einen, der offiziellen Seite eine gewisse Distanz, so Ebd .. Vgl. Note personelle sur le voyage Berlin et Ruhr (Gespräch mit Kuttig vom RAM), 23.01.1924. CAT 5-2-3. S. 11. Am 03.05.1923 forderte Lambach (DNVP) die Kündigung der deutschen Beteiligung an der ILO. SBR Bd. 359. 10789. lW Brief Thomas an Hubert vom 05.04.1923. 94 AP 381: siehe auch Brief an Suzanne Gebault vom 26.09.(?)1923, 94 AP 380. 270 Brief an Hubert. a.a.O. Siehe insbesondere den Brief an Poincare vom 25.01.1924, CAT 6A-3-5. Im Jahr 1929 wurde Henseler von Georg Kastenbein beschuldigt, während des Ruhrkampfes Deutschland geschädigt zu haben. in dem seine Informationen über Genf direkt nach Paris gegangen seien. Schreiben an Otte vom 24.07.1929. NL Otte. Kl. Erw., 461-464, BI. 217. Otte stellte sich vor Henseler und bescheinigte ihm. er habe in dieser Zeit "verschiedene Dinge ... in unserem Interesse erledigt. .. Einige Sachen waren dabei für Henseler in seiner Stellung nicht ungefährlich". Antwortbrief Ottes vom 08.08.1929. a.a.O., BI. 219. 271 E. Phclan. S. 129 ff: B.W. Schaper. S. 251 : Brief an Hubert. a.a.O. und Schreiben W.S. Sa9dcrs an !\1argaret Bondficld vom 25.03.1924. 94 AP 387. 2 2 Jacques Bariety. S. 292 f. 267 268

I. Die Jahre 1920 bis 1923

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stieg andererseits der Wert der Genfer Behörde seit dem Frühjahr 1923 im interen Kalkül der deutschen Außenpolitiker. Anfang Februar 1923 wurde im Auswärtigen Amt ein Völkerbundsreferat unter der Leitung von Bülows eingerichtet. Nach der französischen Ruhrinvasion schien der Völkerbund als vermittelnde Instanz einen Ausweg aus der Krise zu bieten. Das Auswärtige Amt befaßte sich eingehender mit Völkerbundsproblemen. Man wollte sich auf den Eintritt vorbereiten. 273 Die Außenpolitiker sahen deshalb im Mai 1923 "politische Gefahren" für Deutschland, wenn die Stellung in der ILO nicht verbessert werde.m Denn sollte Deutschland im Rahmen einer Lösung der Ruhr- und Reparationsfrage dem Völkerbund beitreten, so werde man dafür Deutschlands Rang in der ILO als Vorbild nehmen. Daher war eine bessere personelle Vertretung Deutschlands in Genf erstrebenswert. Allerdings sah man nur "geringe Druckmittel" zur Verwirklichung dieses Ziels. Eine Austrittsdrohung Deutschlands war "unglaubwürdig" und zudem kontraproduktiv. Das Argument der Beitragskürzung stach nicht, da Deutschland ohnehin keine regelmäßigen Zahlungen mehr leistete.275 Blieb nur noch die Drohung, den Veranstaltungen der ILO fernzubleiben. Diese Überlegungen zeigen, daß sich Brauns mit seiner versöhnlichen Politik gegenüber den gegenteiligen Stimmen in seiner Umgebung auch deshalb durchzusetzen vermochte, weil er vom Auswärtigen Amt kein grünes Licht für einen völligen Rückzug aus der ILO erhalten bzw. weil dies auch seinem eigenen außenpolitischen Kalkül widersprochen hätte. Am 23.11.1923 gab Dr. Leymann die Vertretung der deutschen Regierungsinteressen bei der ILO an Dr. Feig ab. Diese personelle Umbesetzung war ein Ergebnis von Beratungen im Mai, in denen das Auswärtige Amt nicht die Sachkompetenz Dr. Leymanns, aber das Verhandlungsgeschick im Umgang mit Albert Thomas in Zweifel gezogen hatte. 276 Und als Ende 1923 die Frage einer eigenen Vertretung der Saar in der ILO virulent wurde, war gerade auch aus Gründen der Außenpolitik eine effektive Interessenvertretung vonnöten.

273 P. Krüger. "Struktur. Organisatio n und Wirkungsmöglichkeiten .. .". S. 141. Fußnote 67. 27J G e he1111e Anlage zu einer Aufzeichnung des Referats Völkerbund über eine Besprechung im RAM vom 15.05.1923. PA/ Gesandtschaft ßernf lnternationales Arbeitsamt 490/ 1. 275 F. Syrup. S. 308. 27" So der persönliche Eindruck von ßülows. Aufzeichnung des Referats Völkerbund, a.a .O .. 7•

II. Das Jahr 1924 - Der Dawesplan und die internationale Regelung der Arbeitszeit in Europa 1. Das Bureau International du Travail als Anwalt des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens (bis Juni 1924) a) Deutschland

Am 01.01.1924 war die neue Arbeitszeitverordnung in Kraft getreten. Nach einer Erhebung des ADGB im Mai 1924 hatten von den ca. 2,5 Mio erfaßten Arbeitern in 7 Industriezweigen nur 45,3 % eine bis zu 48-Stunden umfassende Arbeitszeit.' Besonders betroffen von Arbeitszeitverlängerungen war die Schwerindustrie. Während z.B. in der eisen- und stahlerzeugenden Industrie die zwolfstündige Doppelschicht die Regel und damit die Vorkriegsarbeitszeit wiederhergestellt war, behielt man in den kontinuierlich arbeitenden Betrieben der Chemieindustrie im Rheinland das 8-stündige Dreischichtensystem bei. Auf breiter Front jedenfalls war im ersten Halbjahr 1924 trotz der gesetzlichen Möglichkeiten zur Einführung des 10Stundentages eine Rückkehr zu den Arbeitszeiten vor 1914 nicht erfolgt.2 Der 8-Stundentag jedoch, wiewohl ihn die Arbeitszeitverordnung als Grundsatz festgeschrieben hatte, "peut etre consideree comme momentanement perdue en Allemagne".3 Die von deutscher Seite angeführten Gründe einer Arbeitszeitverlängerung, wie die Lasten der MICUM-Verträge und die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Aufschwungs "pour la stabilisation monetaire et la reconstruction", ließ Albert Thomas nicht gelten. "Les vrais motifs" waren für ihn "la volonte des patrons de reprendre taute autorite, leur volonte de revenir aux conditions de travail d'avant guerre" sowie "l'impuissance et la desorganisation des syndicats". "Intimement, peut-etre" verband sich mit der Arbeitszeitverlängerung sogar" l'espoir de refaire une Allemagne forte et capable de reconquerir quelque primaute economique".4 1 Irmgard Steinisch, S. 489. 2 A.a.O., S. 490. 3 Aide-memoire von Thomas, 4 Ebd..

o.D. (wohl Januar 1924), CAT 6C-7-1.

II. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

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Diese Einschätzung der Verhältnisse in Deutschland basierte sowohl auf den Berichten seiner Mitarbeiter als auch auf den Eindrücken und Erfahrungen, die sich Albert Thomas Mitte Januar bei einer mehrtätigen Reise nach Berlin und ins Ruhrgebiet selbst verschafft hatte.6 "11 y a eu Ia psychose de guerre, il y a eu Ia psychose du deespoir quand le mark a degringole ..., il y a Ia psychose de stabilisation ".7 Mit anderen Worten : "Cette pensee de reorganisation par le travail et par Ia discipline", das Anfang 1924 nach Thomas Eindruck in Deutschland vorherrschte, erkläre, warum man so leicht beim 8-Stundentag nachgegeben habe.8 "On sent vibrer chez beaucoup tout le vieil esprit de confiance de I'AIIemagne en elle-meme", so charakterisierte der Direktor des BIT die allgemeine Stimmung im Lande. In Bezug allerdings auf die Bereitschaft der Gewerkschaften, für die Wiedereinführung des 8-Stundentages oder die Ratifikation des WAZ zu kämpfen, konstatierte Thomas Gleichgültigkeit auf breiter Front.9 Die allgemeinen Beziehungen zwischen Deutschland und der ILO Was das allgemeine Verhältnis der Reichsregierung zur ILO anlangte, so führte ein Gespräch, das Albert Thomas am 19. Januar 1924 mit dem RAMinister hatte, eine positive Klärung herbei. Im Vorfeld dieser Zusammenkunft war es zu Belastungen der gegenseitigen Beziehungen gekommen. Das Zustandekommen des Treffens hatte längerer Verhandlungen bedurft. Daran maßgeblich beteiligt war der deutsche Mitarbeiter im BIT, Hermann Henseler. 10 Am 30.11.1923 hatte Ministerialrat Feig den früheren Vertreter der Regierung im Verwaltungsrat Ministerialrat Leymann abgelöst. Dieser Wechsel war nicht zuletzt auch auf den Einfluß des Auswärtigen Amts zurückzuführen. Denn der "persönliche Eindruck", den der Leiter des Anfang Februar 1923 neu gegründeten Referats Völkerbund im Auswärtigen Amt, von Bülow, von Leymann hatte, sprach nicht für dessen Verbleib in der Position eines Regierungsvertreters: Leymann sei zwar ein Fachmann, "aber nicht der Mann, um mit dem gewandten Albert Thomas fertig zu werden" .11 In einem Brief vom 29.11.1923, der mit Wissen des RAM ergangen war, 5 Bericht vom 08.01.1924 von Henseler, "Les huit heures dans Ia Ruhr", CAT 5-2-10-5. Dieser Bericht und seine Schlußfolgerungen wurden von einem anderen Mitarbeiter des BIT, dessen Name nicht zu identifizieren war, bestätigt, Bericht vom 25.01.1924, ebd. Siehe auch "Les huit heures en Allemagne" von Henseler vom 14.01.1924, Henseler Papiere 13 b. ~Siehe dazu 27seitige Note personnelle sur le voyage Berlin et Ruhr, 23.01.1924, CAT 5-2-3. 8 A.a.O .. S. 4. Ebd .. 9 Im einzelnen siehe dazu weiter unten. 10 Note personnelle, a.a.O., S. 11. 11 Aufzeichnung des Referats Völkerbund über eine Besprechung im RAM vom 15.05.1923, PA/Gesandtschaft Bem 490/l.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

hatte der neue deutsche Vertreter im Verwaltungsrat offensichtlich harschem Ton zur Frage der zukünftigen Beitragszahlungen an die ILO Stellung bezogen. 12 Das BIT hatte dadurch den Eindruck gewonnen, daß mit dem personellen Wechsel auch eine Änderung der deutschen Position gegenüber der ILO eingetreten war. Denn im Januar 1923 hatte Brauns noch ausdrücklich erklärt, man müsse zwar die Zahlung aus wirtschaftlichen und reparationspolitischen Gründen einstellen, jedoch bedeutet dies keine grundsätzliche Abkehr von der IL0. 13 Diesen Standpunkt bekräftigte der RAMinister dann sowohl in dem Gespräch mit Albert Thomas am 19.01.1924 als auch in einem persönlichen Brief vom 18.01. an den Direktor des BIT. 1~ Darin betonte er aber auch, daß es wegen der Ruhrbesetzung kein Leichtes sei, diese konziliante Haltung in Deutschland zu vertreten. 15 Die Beratungen, die für das Zustandekommen des Gesprächs mit Albert Thomas am 19.01. erforderlich waren, warfen hier ein Licht auf die Widerstände gegen Brauns Politik. Als er sich jedoch sogar bereit erklärte, mit dem Finanzminister zu sprechen, "pour lui suggerer de payer au moins une fraction du montant du pour temoigner Ia reconaissance de Ia dette et Ia bonne volonte de s'acquitter lorsque les circonstance le permettront"16 , gab er ein tatkräftiges Zeichen seiner politischen Ziele. In dem Gespräch mit Thomas am 19.01 bot sich Brauns außerdem selbst als deutscher Regierungsvertreter im Verwaltungsrat an. Denn einerseits gestand er zu, "que Ia representation de I'Allemagne ... par le Dr. Feig aura des inconvenients". Und zum anderen hatte ihn der Hinweis Thomas auf die Bedeutung einer ranghöheren Vertretung Deutschlands im Verwaltungsrat anscheinend überzeugt." Von der Absicht des RAMinister, in seiner neuen Funktion gleich zur nächsten Verwaltungsratssitzung am 29.01. zu kommen, riet Thomas ab: "... etant donne qu'a l'ordre du jour de Ia prochaine Session se trouve Ia question de Ia Sarre, ce qui pourrait provoquer l'impression que le ministre vient seulement pour defendre dans cette question le point de vue allemand". 18 Der RAMinister stellte daraufhin sein Kommen für die Sitzung des Verwaltungsrats am 08.04. in Aussicht und wollte Feig nur mehr als Vertreter des Ministers eingestuft sehen. 12 Der Brief selbst befand sich nicht in den ausgewerteten Aktenbeständen. Grundlage der Dl!!rstellung ist ein Schreiben des RAMinisters an Thomas vom 18.01.1924, CAT 1-215. 1 Siehe oben Kapitel I. 3. 14 Siehe Fußnote 12; Note personnelle. a.a.O .• S. 12; siehe auch Aufzeichnung von Henseler üb_fr das Gespräch mit Brauns, CAT 5-2-10-5. I CAT 1-215. 16 Aufzeichnung Henseler, a.a.O .. 17 Aufzeichnung Henseler, a.a.O.; Note personnelle, a.a.O., S. 12: "Je dis l'insurrisance de Feig au point de vue d'autorite et notoriete. Je marque comment les autres pays etaient repre-

se~u~s·. 1 Aufzeichnung

Henseler, a.a.O ..

II. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

103

Bei der Soorfrage handelte es sich um zwei miteinander verwobene Probleme: Einerseits um die Berücksichtigung sozialpolitischer Forderungen der dortigen Gewerkschaften unter Mithilfe der ILO, auf der anderen Seite um die Vertretung des für mindestens 10 Jahre vom Deutschen Reich abgetrennten und dem Völkerbund unterstellten Saargebiets bei der ILO. Eine von der Regierungskommission der Saar am 02.05.1923 erlassene Streikpostenverordnung löste bei der Arbeiterschaft "große Erbitterung" aus. 19 Im Oktober 1923 wurde deshalb eine Delegation aus Vertretern der Parteien, die von Gewerkschaftern begleitet wurde, mit dem Ziel zur IAK entsandt, dort um Unterstützung für sozialpolitische Forderungen der Bevölkerung zu werben, zu denen neben der Aufbebung der Streikpostenverordnung u.a. auch die gesetzliche Einführung des 8Stundentags zählte.20 Auf Initiative der Arbeitnehmergruppe beschloß die IAK am 29.10. eine Resolution, die den Verwaltungsrat aufforderte, eine Kontaktaufnahme mit dem Völkerbundsrat zu erwägen, um zu prüfen, "durch welche Maßnahmen den Wünschen der örtlichen Organisationen des Saarbeckens entsprochen werden " und wie sich das BIT bei der Umsetzung der sozialpolitischen Gründsätze des Versailler Friedensvertrags der Regierungskommission zur Verfügung stellen könnte. 21 Für das BIT bahnte sich damit eine Art Mittlerrolle zwischen der Arbeiterschaft und der Regierungskommission im Saargebiet an. Die Regierungskommission blieb angesichts dieser Protestdelegation nicht untätig. Sie griff die sozialpolitischen Forderungen der Arbeiterschaft auf, stellte aber die grundsätzliche Frage einer Vertretung der Saar innerhalb der ILO in den Vordergrund eines Schreibens an den Präsidenten des Verwaltungsrats vom 10.12.1923.22 Damit standen auf der Tagesordnung der nächsten 19 Aufzeichnung "Das Verhältnis des Saargebiets zur internationalen Arbeitsorganisation", eingegangen am 25.01.1924. ohne Autor und Absender, PA/Abt. II, Besetzte Gebiete, Verhältnis Saar-ILO: siehe auch die zusammenfassende Note prcparee par Ia Division Diplomatique pour le Rapport du Directeur a Ia 10ieme session de Ia Conference, Janvier 1927, CAT 6A-3-3-2. Zur Kritik des Vorwärts" an Thomas Politik vgl. den Brief an Stampfer vom 18.04.1923, CAT 6A-3-5. Zum Ganzen siehe Maria Zenner, S. 120- 124. 20 Aufzeichnung. 25.01.1924, a.a.O.; Note prcparee, a.a.O.; siehe auch den vertraulichen Bericht vom 24.10.1923 über die saarländische Delegation bei Henseler Papiere 13 a. Daß die politischen Vertreter Träger der Delegation waren, erklärt sich daraus, daß eine bloße Gewerkschaftsabordnung den Eindruck erweckt hätte, die Arbeitgeber stünden nicht hinter den sozialpolitischen Forderungen. Einer gemischten Delegation wollte der ADGB aber nicht zustimmen. siehe Schreiben von Karius (Sekretär der Christlichen Bergarbeitergewerkschaft) an Vifekonsul Voigt vom 26.10.1923, PA/Abt. II, besetzte Gebiete, a.a.O .. Bericht des Deutschen Konsulats in Genf vom 03.11.1923, PA/Abt. II, besetzte Gebiete, a.tiO.; siehe auch M. Zenner, S. 122. Der Brief ist abgedruckt in den vorbereitenden Unterlagen für die Sitzung des Verwaltungsrats vom Januar 1924, PA/Abt. II. besetzte Gebiete, a.a.O.; siehe auch Aufzeichnung, 25.01.1924. ("Die Regierungskommission hat geschickt erkannt, daß hier eine Frage liege, deren Verfolgung durchaus in der Linie ihrer Entdeutschungspolitik liegen würde"), a.a.O., und

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Verwaltungsratsitzung im Januar 1924 der sozialpolitische Beschluß der

IAK vom Oktober und das außenpolitisch hochbrisante Thema einer

saarländischen Vertretung in der ILO. Zur Vorbereitung erarbeitete ein BIT-Mitarbeiter ein ausführliches Rechtsgutachten, in dem mehrere Modelle einer Vertretung vorgestellt wurden. Die Verleihung eines Mitgliedsstatus wurde im Ergebnis als vorteilhaft und rechtlich möglich dargestellt.23 Wesentlich zurückhaltender waren hingegen die Schlußfolgerungen, die das BIT in seinem Bericht für die Sitzung des Verwaltungsrats aus dem Gutachten zog: "Le choix entre les diverses solutions dependra de taute une serie de considerations juridiques, pour ne pas parler de considerations politiques. Nous ne pensons pas que le Conseil d'administration puisse songer a donner, en pareille matiere, UD avis, meme officieux" .24 Ein Mitgliedsstatus für die Saar war aus rechtlichen und außenpolitischen Gründen für Deutschland nicht akzeptabel.zs Die Trennung der Saar vom Reich hätte eine neue, vielleicht nie wieder rückgängig zu machende Stufe erreicht. Auf der anderen Seite wollte man der Saarbevölkerung nicht jeden Weg zur ILO abschneiden. Denn mithilfe der Genfer Behörde konnte die saarländische Bevölkerung ihre Forderungen gegen die fremde, unter französischer Leitung stehende Regierungskommission wirksamer vortragen, diese unter Druck setzen und durch ein gleiches Niveau der Arbeitsbedingungen die Verbindung zu Deutschland festigen. 26 In einer Besprechung mit Vertretern des RAM am 23.01.1924 stimmte das Auswärtige Amt die weitere Vorgehensweise ab. Alles sollte daran gesetzt werden, den Tagesordnungspunkt "Saargebiet" von der nächsten Verwaltungsratsitzung abzusetzen. Gleichzeitig sollte aber signalisiert werden, "daß die deutsche Regierung bereit ist, mit dem Verwaltungsrat einen modus vivendi über die Beziehungen des Saargebiets zur Internationalen Arbeitsorganisation zu finden". 27 Während dieser Sitzung sprach Feig mit dessen Präsidenten und Albert Thomas.u Fontaine, der von seiner Regierung instruiert war, die AngeleAufzeichnung über ein Gespräch mit Themas im RAM am 25.02.1924, PA/Abt. II, besetzte Gebiete, a.a.O .. 23 Rechtsgutachten von Jose de Villalonga vom 10.01.1924, Henseler Papiere 13 a und PA/Abt. II, besetzte Gebiete. a.a.O .. 24 PA/Abt. Ir, besetzte Gebiete, a.a.O .. 2S Aufzeichnung, 25.01.1924, a.a.O. 26 Siehe Aufzeichnung über die Besprechung zwischen RAM und Auswänigem Amt am 23.01.1924. PA/Abt. II, besetzte Gebiete. a.a.O .. 27 Aufzeichnung ebd .. 2ß Aufzeichnung von Feig vom 04.02.1924. am 08.02. dem Auswänigen Amt übersandt, PA/Abt. II. besetzte Gebiele. a.a.O ..

II. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

105

genheit so schnell wie möglich an den Völkerbund zu verweisen, widersprach der von deutscher Seite gewünschten Vertagung. Da eine Diskussion des Saarproblems "nunmehr unvermeidlich schien", benachrichtigte Feig das Auswärtige Amt und bat um Entsendung und Teilnahme von Vizekonsul Voigt an der Sitzung. Der Vertreter des Amtes reiste sofort ab. Doch noch vor dessen Eintreffen in Genf bat Fontaine um ein weiteres Gespräch mit Feig. Dabei teilte er mit, weder von Frankreich noch von irgendeiner anderen Seite bestünde die Absicht, die Saar als Mitglied in den Völkerbund oder die ILO aufzunehmen. Deshalb stimme er nun einer Vertagung zu und verzichte auf Weiterverweisung an den Völkerbund.29 Insbesondere das Rechtsgutachten des BIT hatte in Kreisen des Völkerbundssekretariats heftige Ablehnung erfahren30, so daß ein Verweisungsbeschluß des Verwaltungsrats die Beziehungen zwischen ILO und Völkerbund erheblich belastet hätte. Mitentscheidend für das Einlenken von Fontaine und Thomas waren aber auch die versöhnlichen Signale, die Feig vom RAM und Voigt vom Auswärtigen Amt in einer weiteren, nun gemeinsamen Besprechung am 31.01. gaben. Bis zur Apriltagung wollte man nach anderen Lösungen für das Verhältnis zwischen Saar und ILO suchen?1 Feig hielt ferner in seiner Gesprächsaufzeichnung die klare Aussage der deutschen Seite fest, es entspreche den Wünschen Deutschlands, wenn die saarländischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer - so ein neuer Vorschlag von Thomas und Fontaine - mit beratender Stimme vertreten seien. Hatten die deutschen Verhandlungspartner mit diesem Vorschlag aus Sorge um eine Vertagung im Januar schon mehr grünes Licht signalisiert, als die deutsche Saarpolitik tatsächlich zugestehen konnte? Voigt jedenfalls notierte später, er habe sich "weniger bestimmt dahin ausgedrückt, daß unsere eigenen Vorschläge vermutlich in ähnlicher Richtung verlaufen würden, im übrigen aber hätten wir genauere Vorschläge noch nicht parat".32 Am selben Tag, dem 31.01.1924, beschloß der Verwaltungsrat dann auf Initiative Thomas die Vertagung. Als der Direktor im Februar den Vorschlag vorbrachte, in Analogie zu Art. 389 Versailler Friedensvertrag solle eine Delegation aus Arbeitnehmer, Arbeitgeber- und Vertretern der Regierungskornmission an der ILO mit beratender Stimme teilnehmen, widersprachen dem Reichsarbeits- und

Aufzeichnung vom 04.02.1924 (Besprechung am 30.01.), a.a.O .. So die Informationen Feigs. cbd.; auch Thomas berichtete am 25.02. bei einer Besprechung in Berlin. daß der Völkerbund wünsche. mit der Angelegenheit verschont zu bleiben und daß bei einer Lösung innerhalb der ILO nicht die grundsätzliche Frage nach dem völkerrechtlichen Charakter der Saar aufgeworfen werde, Gesprächsaufzeichnung von Voigt vom 28.02.1924, PA/Abt. II, besetzte Gebiete, a.a.O .. 31 Aufzeichnung Feigs vom 04.02.1924, a.a.O .. 32 Ebd. und handschriftliche Randbemerkung von Voigt. 29

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Außenministerium.33 Denn durch solch eine gemischte Delegation des Saargebiets war die prinzipielle Frage nach dem völkerrechtlichen Charakter der Saar aufgeworfen. Während die Christliche Gewerkschaft des Saargebietes sich von Anfang an gegen den Vorschlag Thomas ausgesprochen hatte, schwenkten die Freien (saarländischen) Gewerkschaften auf diese Linie erst ein, nachdem Voigt vom Auswärtigen Amt sie nachdrücklich auf die außenpolitischen Konsequenzen aufmerksam gemacht hatte und der ADGB wegen der mit einer eigenen Vertretung in Genf drohenden organisatorischen Loslösung von den Muttergewerkschaften in Deutschland auf seine "Saarfilialen" eingewirkt hatte.34 Dies war der entscheidende Durchbruch. Am 12.03.1924 traf Thomas erneut mit Vertretern der politischen Parteien des Saarlandes zusammen35 : Sie erklärten nun im Unterschied zum Oktober 1923, daß die überwiegende Mehrheit der saarländischen Bevölkerung eine besondere Vertretung in Genf nicht wünsche. Diese Nachricht nahm der Direktor erleichtert auf. Bereits Ende Februar hatte er geäußert, "ihm persönlich .. am liebsten, wenn die Arbeiterschaft des Saargebiets ihren Antrag vom letzten Herbst zurückziehe, damit er mit den leidigen Saarfragen verschont bleibe".36 Am 18.03. unterbreitete Kimmeritz, der Vertreter der Freien Gewerkschaften, dem Direktor dann folgenden Lösungsvorschlag: Im Saargebiet sollte "ein Organ nach Art der deutschen Arbeitskammern oder des französischen Arbeitsrats" errichtet werden. Unter Beteiligung von Vertretern der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der Regierungskommission sollten die Beschlüsse der IAK auf ihre Anwendbarkeit im Saargebiet begutachtet werden. Außerdem sollte die neue Institution prüfen, "inwieweit zur Durchführung seiner Aufgaben in irgendeiner Form eine Verbindung zur Internationalen Arbeitsorganisation gesucht werden muß".37 33 Aufzeichnung von Feig (am 20.02. dem Auswärtigen Amt übersandt) und Aufzeichnung vom 28.02. von Voigt über eine Besprechung mit Thomas am 25.02., an der auch Feig, Kuttig u~ Rhode vom RAM teilnahmen. PA/Abt. II, besetzte Gebiete, a.a.O .. Sitzung des Bundesausschusses vom 18.03.1924, ADGB DOKUMENTE 5; handschriftliche Aufzeichnung Voigts vom 12.03. über Gespräche mit Vertretern der Christlichen (10.03.) und Freien (11.03.) Gewerkschaften des Saarlands in Mannheim, PA/Abt. II, besetzte Gebiete. a.a.O. Bereits bei der Besprechung zwischen RAM und Auswärtigem Amt am 23.01. war man übereingekommen. daß Voigt die Aufgabe übernehmen solle, auf die saarländischen Gewerkschaften einzuwirken. 35 Gesprächsaufzeichnung von Henseler o.D .. dem RAM von Fuhs (BIT-Mitarbeiter) zur vertraulichen Kenntnisnahme übersandt, von dort am 29.03. an das Auswärtige Amt weitergeleitet, PA/Abt. II, besetzte Gebiete, a.a.O.; diese Aufzeichnung befindet sich auch in Henseler Papiere 13 a. 36 Gesprächsaufzeichnung von Voigt vom 28.02.. a.a.O .. 37 Vorschlag vom DGB zusammen mit o.a. Gesprächsaufzeichnung am 29.01. dem Auswärtigen Amt übersandt, PA/Abt. II, besetzte Gebiete. a.a.O.; siehe auch geheimer Bericht des Deutschen Konsulats in Genf vom 07.04.1924, a.a.O. Das Auswärtige Amt hielt den Vorschlag für "diskutabel", hatte aber Zweifel. ob damit eine Lösung gefunden sei, handschriftliches Konzept eines Schreibens an das RAM vom 29.03.1924 (Verfasser Voigt), PA/Abt. II, be-

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Da auch Karius von den Christlichen Gewerkschaften38 und die Regierungskommission39 diesen Vorschlag unterstützte, und MacDonald eine Vertretung des Saargebiets bei der ILO strikt zurückwies.o, stand Thomas mit seinem ursprünglichen Plan, der nur französischen Interessen entsprach, vor der Aprilsitzung des Verwaltungsrat allein auf weiter Flur. Da aus deutscher Sicht der Ausgang der Beratungen gleichwohl unsicher erschien, wurde wiederum Vizekonsul Voigt mit der Regierungsvertretung bei der 22. Tagung des Verwaltungsrats betraut.41 Doch der Verwaltungsrat beschloß ohne größere Debatte42 die Vertagung der Saarfrage. Mit dem Plan der Errichtung von Arbeitskammern war nicht nur eine neue Lage entstanden, sondern auch die zukünftige Lösung des Problems gefunden worden. Durch Verordnung vom 18.09.1925 wurde im Saarland eine Arbeitskammer errichtet, die sowohl die Verbindung mit der ILO institutionalisierte als auch der Regierungkommission bei der Berücksichtigung sozialpolitischer Forderungen der Arbeiterschaft, wozu sie nach § 23 IV des Saarstatuts verpflichtet war, diente.43 Damit hatte sich die deutsche Position, die eine Lösung innerhalb des vom Versailler Friedensvertrages vorgegebenen rechtlichen Rahmens gesucht hatte und jeden Anschein einer völkerrechtlichen Souveränität der Saar venneiden wollte, durchgesetzt. Das Auswärtige Amt und das RAM hatten an einem Strang gezogen. Da dem außenpolitischen Interesse sozialpolitische Erwägungen nicht in die Quere kamen, verwundert dies nicht. Es lag vielmehr im Interesse der bisherigen Soorpolitik des Auswärtigen Amtes den sozialpolitischen Fordenmgen der saarländischen Arbeiterschaft gegenüber der Regiernngskommission eine institutionelle Fonn zu geben und sie dadurch zu stärken. Denn ein gleiches Niveau der Arbeitsbedingungen besetzte Gebiete. a.a.O. Voigt berichtet darin auch, daß Kimmeritz im Amt am 24.03. nochmals vorgesprochen und mirgeteilt habe. der Arbeitskammervorschlag sei eine innergewerkschaftliche Kompromißlösung gewesen. 38 Handschriftlicher Vermerk von Voigt vom 18.03., PA/Abt. II, besetzte Gebiete, a.a.O.. 39 Schreiben an Thomas vom 05.04.1924, Note preparee, a.a.O. Am 04.04. hatte Thomas seinen Mirarbeiter Benhelot gebeten, an die Saar zu fahren und (von der Regierun~kommis­ sion ?) einen Brief zu erbeten, 'dont j'ai besoin pour que l'ajoumement nouveau au Sujet de Ia Sarre n'ait par l'air d'un ajoumemenr et qu'on semble avoir donne quelque chosc aux ouvriers", Note für Benhelot vom 04.04.1924, CAT 5-2-10-4. 40 Mit Brief vom 01.04.1924 bar Thomas MacDonald um Stellungnahme. ln einer handschriftlichen Notiz vom 05.04. teilte dieser mit, die Regierungsvenreterin im Verwaltun~rat sei angewiesen, sich jeder Entscheidung zu widersetzen, die als Schritt zur Anerkennung der Saar als eigenständiges Völkerrechtssubjekt aufgefaßt werden könnte, 94 AP 391. 41 Siehe Vollmachtsurkunde von Brauns vom 03.04. und die Staatssekretärvorlage vom 04.04., PA/Abt. II, besetzte Gebiete, a.a.O.: 42 Bericht des Deutschen Konsulats in Genf vom 16.04., a.a.O. Zu Auseinandersetzungen war es lediglich gekommen, weil der Direktor in seinem Bericht den deutschen Vorschlag zur Regelung des Verhältnisses Saar/ILO als rechtsmißbräuchlich ("abusif') bezeichnet hatte. Auf Vorhaltungen der deutschen Seite schwächte er diese Bcwenung ab. 43 Note preparee a.a.O.

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deutete ein weiteres Band zwischen Deutschland und der Saar. Außerdem wurde die von einem Franzosen geleitete Regierungkommission unter Druck gesetzt und hatte es so an der Saar schwerer, Fuß zu fassen. Hatte die Regierungskommission, die ursprünglichen sozialpolitischen Forderungen der saarländischen Arbeiterdelegation auf der IAK zu einem außenpolitischen Terraingewinn im Sinne Frankreichs nutzen wollen, so gelang es Deutschland den sozialpolitischen Kern der Forderung in den Mittelpunkt zu rücken und sie gleichzeitig für eigene außenpolitische Zwecke nutzbar zu machen. Daß die deutsche Politik Erfolg hatte, lag neben der einheitlichen Linie, die das RAM und das Auswärtige Amt gemeinsam vertraten, an folgenden Umständen: Weder der Völkerbund noch England hatten ein Interesse, die grundsätzliche Frage des völkerrechtlichen Status der Saar grundsätzlich aufzurollen. Die saarländische Arbeiterschaft hatte ebenso wie das BIT die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Auge, wollte aber nicht zum Kompagnion einer französischen Separationspolitik werden, deren Auswirkungen auch das BIT geschwächt hätten. Mit der Errichtung einer Arbeitskammer erreichte das BIT die Anhindung der saarländischen Arbeiterschaft an die ILO, die Arbeiternehmer verschafften sich gegenüber der Regierungskommission mehr Gehör44 und die deutsche Saarpolitik blieb ihren außenpolitischen Grundsätzen treu. Mittelbar bedeuteten der Verlauf der Ereignisse und der letztendliche Ausgang der Verhandlungen eine Stärkung der Bindungen zwischen Deutschland und der ILO. Hierzu trug auch bei, daß Brauns mit seinen Genfer Reiseplänen keine leeren Versprechungen gemacht hatte. Der RAMinister hatte eine offizielle Reise ohne genauen Termin fest ins Auge gefaßt. Seine Teilnahme an der Verwaltungsratssitzung im April 1924 sagte er jedoch ab. Margaret Bondtieid hatte auf der Januarsitzung des Verwaltungsrats in ihrer Funktion als parlamentarische Staatssekretärin teilgenommen und angekündigt, daß der neue englische Arbeitsminister Tom Shaw, "wahrscheinlich" selbst zur Apriltagung kommen werde. In einem persönlichen Brief vom 12.02. hatte Henseler deshalb hervorgehoben, "welche Bedeutung es hätte, wenn in einem Augenblick, wo die Frage des 8-Stundentages mit ihren Rückwirkungen auf die Reparationsfrage sowohl von den Vertretern der Großindustrien als auch von den Regierungsvertretern im Verwaltungsrat aufgeworfen wird, auch Deutschland durch ein Mitglied seiner Regierung, und vor allem durch seinen Arbeitsminister vertreten sein würde".45 Neben 44 Am 15.07.1924 wurde die alte Streikpostenverordnung durch eine neue, liberalere Version ersetzt. Außerdem führte die Regierungkommission nach einer scharfen Kontroverse zwischen dem Stahlindustriellen Röchling und den Gewerkschaften am 08.11.1924 unter Berufu~ auf das WAZ den 8-Stundentag bzw. die 48-Stundenwoche ein, siehe M. Zenner, S. 124. 4 Henseler Papiere 13d.

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Terminschwierigkeiten waren ausschlaggebender Grund für die Absage der Genfer Reise außenpolitische Bedenken. "Übrigens scheint unser Auswärtiges Amt", so formulierte es Brauns am 19.03., "es nicht gern zu sehen, daß ein Minister nach Genf geht, wenigstens nicht als nominiertes Mitglied des Verwaltungsrat".46 Während der Verhandlungen über die Verlängerung der MICUM-Verträge und vor Bekanntgabe des Dawesplanes wollte das Auswärtige Amt- im Unterschied zu Brauns- die Frage der internationalen Regelung der Arbeitszeit nicht auf hoher politischer Ebene mit dem Reparationsproblem verbinden. Der RAMinister betonte jedoch, daß ihn diese Vorgabe nicht hindere, "im Einzelfall" nach Genf zu kommen. Für die Zeit nach den Reichstagswahlen versprach er einen Besuch beim BIT, sei es als Minister oder als freier Mann.47 Die Reichstagswahlen vom 05.05.1924 stärkten die extremen Parteien. Die DNVP wurde stärkste Reichstagsfraktion, während die Parteien der Weimarer Koalition sowie die DVP Verluste erlitten. Das Zentrum, die Partei des RAMinister, hatte seine Wähler verhältnismäßig geschlossen halten können und büßte nur ein Mandat ein.43 Die bisherige Minderheitsregierung von Zentrum, DVP, DDP und BVP wurde auf geschwächter Basis fortgesetzt. Nachdem die DVP ihre Minister zurückgezogen und damit das Kabinett am 26.05.1924 gestürzt hatte, beauftragte Ebert erneut Marx mit der Regierungsbildung, der das bisherige Minderheitskabinett am 03.06.1924 formell neu bildete.49 Trotz der "langwierigen und tief bedauerlichen Krise" sowie trotz eines Mißtrauensantrags der Kommunisten gegen ihn hielt Brauns Anfang Juni sein Verbleiben für "vorläufig wahrscheinlich".50 Sein grundsätzliches Versprechen, nach Genf zu reisen, war er bereit einzulösen. "Freilich wird sich der Besuch dort etwas anders gestalten als ich ursprüng- · lieh vor hatte". Seine Teilnahme an der Eröffnung der IAK sagte Brauns ab, weil ihm "vor wenigen Tagen" ein Aufsatz Albert Thomas vom 15.03.1924 bekannt geworden sei, der einen formellen Besuch unmöglich mache.51 Es sollte nach außen nicht der Anschein entstehen, der deutsche RAMinister habe auf einen provozierenden Zeitungsartikels des Direktors mit einer 46 Persönlicher Brief Brauns an Henseler, Henseler Papiere 1. Siehe dazu auch die beiden Nachrichten Henselers für Thomas vom 21. und 25.03.1924, Henseler Papiere 13b. Siehe auch Adolf Müller, der deutsche Gesandte in Bern. der am 18.02. sogar an die Zentrale gemeldet hatte: "Warne wiederholt dringend vor ihm , der nichts als ein gerissener frapzösischer Agent". PA/Gesandtschaft Bern/490/1 ~ Persönlicher Brief Brauns vom 19.03. an Henseler. Henseler Papiere 1. Vgl auch Note vom Thomas vom 27.03.1924. Henselcr Papiere 13b. ~8 Michael Stürmer. S. 41. 49 A.a.O .. S. 46. 50 Brief an Henseler vom 02.06.1924. Henseler Papiere l. 51 A.a.O.: darin bedauerte es Brauns, daß "unsere deutschen Vertreter in Genf mir von diesem Aufsatz und der Versendung des Separatabzuges nicht früher Kenntnis gegeben haben".

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Fahrt nach Genf reagiert.52 Mit einem halbamtlichen Beitrag im Reichsarbeitsblatt setzte sich das RAM gegen die "grundlegenden Irrtümer und erstaunlichen Einseitigkeiten" der französischen Veröffentlichung zur Wehr.n Es stieß auf Widerspruch, daß Albert Thomas, mit leichter Hand mit dem Axiom einer deutschen Kriegsschuld "gespielt" und daß er "mit dürren Worten .. von deutscher Böswilligkeit in der Reparationsfrage gesprochen ". Seine Kritik an den Gewerkschaften, die das BIT bisweilen als Verteidigungsmittel gegen alliierte Maßnahmen mißbrauchen wollten, wurde vom Reichsarbeitsblatt ebenso zurückgewiesen wie die Aussage, Deutschland habe statt verantwortlicher Politiker nur Sachverständige nach Genf entsandt. Im Zusammenhang mit der neuen Arbeitszeitregelung hatte Thomas die "Notwendigkeit einer große Mehrproduktion zur Leistung der Reparationen nicht bestritten". Da die Nachbarländer aber eine "neue Art des Dumpings" befürchteten, hatte er vorgeschlagen, "mittels internationaler Vereinbarung daß die Mehrproduktion unbedingt nur zur Zahlung der Reparationen bestimmt wird und daß sie nicht länger dauert als eben diese Zahlung" .54 Das Reichsarbeitsblatt erwiderte darauf, "internationale Kontrollen auf sozialpolitischem Gebiet" werde sich Deutschland nicht gefallen lassen.55 Die passive deutsche Handelsbilanz widerlege das "Schlagwort von einer neuen Art Dumping". Schließlich bezeichnete das Reichsarbeitsblatt die Äußerung Albert Thomas, "Deutschland habe sich angemaßt, auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes der ganzen Welt gute Lehren geben zu wollen", als mehr als eine bloße "literarische Entgleisung" .56 Die allgemeinen Beziehungen zwischen Deutschland und dem BIT wurden durch diesen Artikel Albert Thomas, den die "Soziale Praxis" als "überflüssigen und unüberlegten Husarenritt" einstufte57, belastet. Die dem Deutschen Gewerkschaftsbund nahestehende Zeitung "Der Deutsche" erwog, ob die Mitarbeit bei der ILO "nicht künftig an bestimmte Bedingungen geknüpft werden sollte".58 Berücksichtigt man allerdings die Ergebnisse der So Brauns in seinem Brief an Thomas vom 05.06.1924, PA/Gesandtschaft Bem/490/1. Reichsarbeitsblatt (Nichtamtlicher Teil) Nr. 12 vom 16.06.1924, S. 2n ff. Der Artikel von Thomas ist im Reichsarbeitsblatt (Nichtamtlicher Teil) Nr. 16 vom 16.08.1924, S. 387 ff unter d~m Titel "Soziale Gerechtigkeit und Weltfriede" abgedruckt. Reichsarbeitsblatt vom 16.08., a.a.O., S. 391. ss Reichsarbeitsblatt vom 16.08., S. 279. 56 A.a.O, S. 278; Siehe auch den offenen Meinungsaustausch in dem Briefwechsel zwischen Thomas und Paul Bonn (Direktor der Deutschen Bank) von Juni bis Oktober 1924, 94 AP 387. Dabei warf Bonn Thomas, der seine gute Absicht beteuerte, u.a. vor, nicht immer die nöti~ Neutralität zu wahren. Nr. 31 (1924), Spalte 640. 58 Nr. 145 vom 22.06.1924. 52

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Reichstagswahl vom 05.05.1924, die eine Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses nach rechts ergeben hatte, sowie die Tatsache, daß das RAM bereits am 02.05. in einem Schreiben an den ADGB die Beteiligung technischer Ratgeber an der diesjährigen IAK aus fmanziellen Gründen in Frage gestellt hatteS9, dann wird deutlich, daß der fast mehr als zwei Monate zuvor veröffentlichte Artikel Thomas nicht die Ursache eines möglichen Konflikts zwischen ILO und der Regierung sein konnte. Der Umstand, daß der Artikel dem RAMinister "vor wenigen Tagen" bekannt geworden war bzw. erst jetzt Anstoß erregte, weist vielmehr auf die gewachsenen Widerstände deutschnationaler Kreise gegen die auswärtige Sozialpolitik des RAMinister hin.60 Der RAMinister fuhr trotzdem Mitte Juni nach Genfl, wenn auch nicht als offizieller Vertreter des deutschen Reichs für die gleichzeitig stattfindende IAK. Bei zwei streng vertraulichen Zusammentreffen diskutierten Brauns und Albert Thomas in einer freimütigen Atmosphäre über die Punkte unterschiedlicher Meinung, soweit sie die Internationale Sozialpolitik betrafen. Ein Rückzug Deutschlands aus der ILO stand nicht zur Debatte.62 Auf eigenen Wunsch erhielt der Direktor des BIT im August die Gelegenheit, in einem Beitrag für das Reichsarbeitsblatt seinen Artikel vom März 1924 zu erläutern und zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfe Stellung zu beziehen. Indem er ausdrücklich betonte, es sei niemals seine Absicht gewesen, "gegen die Politik und die Haltung Deutschlands eine Art Anklage zu erheben", trug er zur Beruhigung der Wellen bei, die seine französische Veröffentlichung vor 2 Monaten in der deutschen Presse geschlagen hatte. Brauns seinerseits hatte trotz der schwierigen politischen Verhältnisse nach der Reichstagswahl vom Mai 1924 sein Wort gehalten. Der Draht nach Genf riß nicht ab. Die konziliante Linie in der auswärtigen Sozialpolitik, für die Brauns stand, behauptete sich.

S9 Minute Sheet von Fehlinger, 12.05.1924, CAT 5-2-10-3; in einem Brief vom 16.05. bat Henseler Brauns, die technischen Ratgeber von der deutschen Delegation zur IAK nicht auszuschließen. denn gerade dadurch hälten die Christlichen Gewerkschaften auch eine Möglichkeit, vertreten zu sein. Henseler Papiere 13d. 60 Bei den Koalitionsverhandlungen hatte die DNVP zunächst einer Kanzlerkandidatur von Tirpitz propagiert, und wollte später einen Personenwechsel im Auswärtigen Amt durchset• zen, M. Stürmer, S. 46. 61 Dem deutschen Mitarbeiter im BIT Henseler hatte Brauns zudem versprochen, ihn bei seinem Aufenthalt in der Schweiz. zu trauen, Brief von Brauns vom 02.07.1924, Henseler Papiere 1. 62 Im einzelnen siehe dazu Kapitel II. 2.

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Deutschland, das BIT und das Arbeitszeitübereinkommen le but de mon voyage, Ia question des huits heures", schrieb Albert Thomas in seinem Bericht über die Deutschlandreise vom Januar 1924.63 Neben der Information über die augenblicklichen Arbeitsbedingungen in Deutschland hatte Albert Thomas die Absicht, die politischen Voraussetzungen für seinen "Konferenzplan" auszuloten. Nachdem der Verwaltungsrat im Oktober 1921 eine Interpretationskonferenz verneint hatte, die Verhandlungen mit England über eine Ratifikation gescheitert waren und das englische Revisionsbegehren abgelehnt worden war, suchte das BIT nach neuen Möglichkeiten die Schwierigkeiten der Staaten bei der Ratifizierung des WAZ zu beheben. In einem Brief des deutschen Mitarbeiters in Berlin, Baumeister, vom 08.10.1923 tauchte zum ersten Mal die Idee auf, eine Zusammenkunft der Arbeitsminister unter Leitung des BIT zu organisieren. Albert Thomas hatte damals seine Zweifel, ob dies "Ia bonne methode" sei.~ Im Januar 1924 war er davon überzeugt; und im September 1924 sowie im März 1926 trafen die Arbeitsminister der wichtigsten europäischen Industriestaaten zu Beratungen über die Auslegung des WAZ zusammen. Die Konzeption einer Konferenz, die er im Januar mit in der Tasche führte, war die folgende 65 : England als bedeutender Industriestaat sollte das WAZ ratifizieren. Ob bedingt oder definitiv, war nicht von großer Bedeutung. Wichtig hingegen war, daß das WAZ vor der Einberufung einer Konferenz der Arbeitsminister ratifiziert wurde. Denn nur so konnte sichergestellt werden, daß eine Konferenz nicht zur Revision, sondern allenfalls zu einer gemeinsamen Interpretation des WAZ führen würde. Nachdem der Verwaltungsrat das Revisionsverlangen Englands negativ beschieden hatte, konnte das BIT keine Konferenz fördern, die die Gefahr einer substantiellen Änderung des WAZ in sich barg. Zu einer Konferenz einzuladen, waren "uniquement les etats qui ont une grosse importance industrielle, et qui ont besoin de se lier entre eux: Angleterre, France, Belguique, Allemagne". Vielleicht auch noch Italien und die CSR. "Les discussions des autres etats n'apporteront rien". Ebensowenig sollten Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter anwesend sein. Die Konferenz 63

Note personneUe sur Je voyagc ßerlin ct Ruhr. 23.01.1924. CAT 5-2-3, S. 1. ~ Brief Thomas an Baumeister vom 17.10.1923. NL Wissen 69/14694. Der Brief BaumeiSiffS war nicht aufzufinden. Aufzeichnung Thomas vom 27.02.1924, "La conception originale de Ia Conference etait Ia suivante", CAT 6C-7-1. Siehe auch Martin Fine. "Albert Thomas, A Reformer's Vision of Modernisation 1914- 1932". in: Journal of Contemporary History 12 (1927), S. 545 ff, 554 und die undatierte vertrauliche Aufzeichnung (wohl Anfang 1924), Butler Papers XI 1/7/1 Jacke! 1.

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hatte die Grundlage für eine gemeinsame Ratifikation des WAZ durch die beteiligten Staaten zu schaffen. Der Grund, warum Albert Thomas erst im Januar von der "Konferenzidee" überzeugt war, lag auf der Hand: Mit der Regierungsübernahme der Labour Party unter Ramsay MacDonald im Januar entstand eine realistische Möglichkeit, daß ein bedeutender Industriestaat die Ratifikation in Angriff nahm. Und nur auf diese Weise wäre ja einer "Revisionskonferenz", wie sie England 1921 ins Auge gefaßt hatte, ein Riegel vorgeschoben worden. Als Thomas dem deutschen RAMinister am 19.01.1924 seinen Konferenzplan präsentierte und fragte, ob Brauns zu einer solchen Konferenz gehen würde, antwortete dieser66: "Nous irons bien. Mais Ia question des huit heures ne peut pas etre, dans ce cas, separee de Ia question generale. Si les Anglais veulent que nous maintenions une journee courte, il faut qu'on se montre moins exigeant en ce qui concerne les paiments, il faut qu'on nous accorde du temps pour nous relever. C'est cela que les Anglais devront faire d'abord". Natürlich, so notierte Thomas in seinem Bericht, habe er daraufhin geschmunzelt. Brauns entschuldigte sich zunächst, er habe nur einen Scherz gemacht. Darauf Albert Thomas: "Pardon. C'est sans doute une plaisanterie, mais quelques soient vos preoccupations nationales, c'est un problerne dont je ne meconnais pas le serieux". Der RAMinister setzte also mit seiner Bemerkung, vor einer Ratifikation des WAZ durch Deutschland müßten die Engländer Vorleistungen bei der Höhe der Reparationsfordemngen erbringen61, den arbeitszeitpolitischen Hebel an den im bevorstehenden Dawesplan festzulegenden Reparationslasten an. Darüberhinaus erachtete er wegen der laufenden Verhandlungen über die MICUM-Verträge den gegenwärtigen Zeitpunkt als "den rechten Augenblick für die Agitation zugunsten des Washingtoner Abkommens"68• Sein weiterer Vorschlag, Deutschland solle unter seiner Verantwortung die Arbeitszeitkonferenz einberufen,hatte die gleiche Stoßrichtung, wurde aber von Albert Thomas entschieden zurückgewiesen. Nur auf eine englische Initiative hin, könnten bei den gegebenen allgemein politischen Verhältnissen Deutsche und Franzosen an einem Tisch zusammen kommen. Als Brauns im April 1924 als offizieller Vertreter zu einer Verwaltungsratssitzung reisen wollte, um dabei in Genf die arbeitszeitpolitische Karte im Reparationspoker auszuspielen, wurde er vom Auswärtigen Amt daran gehindert (siehe oben). :"oiote personneHe a.a.O. S. 13 f. Henseler zitien in seiner Aufzeichnung, CAT 5-2-10-5. den RAMinister wie folgt: "Si on veut de nous une autre politique sociale. il raut que l'on fasse une autre politique exterieure•. 68 Brief Brauns an Henseler vom 11.07.1924, Henseler Papiere 1. 66

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Keine Zustimmung seitens des Direktors fand schließlich die Begründung, die das RAM für die augenblickliche Einstellung der Beitragszahlungen anführte. Da man vor einiger Zeit "aus zwingenden Gründen" hatte erklären müssen, "Reparationszahlungen nicht ausführen zu können", würde sich Deutschland Beschuldigungen von Seiten der Alliierten ausgesetzt sehen, wenn man gleichwohl Beiträge an die ILO leistete.f9 Dagegen argumentierte das BIT, Teil XIII des Versailler Friedensvertrages sei unter ganz anderen Umständen ausgearbeitet worden. Deutschland habe sich außerdem freiwillig an der ILO beteiligt.70 Während 17zomas eine Verbindung zwischen Reparationslasten und den aus der Mitgliedschaft in der ILO erwachsenen Pflichten strikt ablehnte, floß der Gedanke eines Zusammenhangs zwischen 8Stundentag und Reparationen in die Politik des BIT ein. Bereits in seinem Bericht über die Lage an der Ruhr vom 08.01.1924 hatte Henseler die positive Wirkung hervorgehoben, die eine Studie des BIT über die Frage einer eventuell notwendigen Arbeitszeitverlängerung zur Zahlung von Reparationen in Deutschland haben könnte. Mit einer handschriftlichen Randbemerkung ("experts americains") brachte Thomas zum Ausdruck, daß dies wohl die Aufgabe des seit November tagenden Sachverständigenkommitees sei.71 Trotzdem zeigte sich in den Gesprächen mit den Vertretern der MICUM (Frantzen, Guillaume), daß Albert Thomas gewillt war, das Reparationsproblem als Mittel zur Wiedereinführung des 8-Stundentages in Deutschland zu nutzen. Er erkundigte sich nicht nur, ob beim Abschluß der MICUM-Verträge am 23.11.1923 eine Einbeziehung von Arbeitsbedingungen möglich gewesen wäre, sondern blickte auch in die Zukunft. Bis zum 15.04 mußte über eine Verlängerung der MICUM-Verträge verhandelt und ein Ergebnis erzielt werden: "Si notre problerne des huit heures se trouve intelligemment pose a Ia date du 15 avril, une intervention des autorites francaises qui negocieront dans Je problerne de Ia journee de travail sera acceptee".72 Nicht gedacht hatte Thomas dabei, obwohl er es aufgrund seiner Gespräche im Januar erfahren hatte, daß die französischen Behörden mit ihrer Besatzungspolitik nicht die Grenzen des deutschen Rechts zu sprengen bereit waren. Und die Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923 erlaubte nun einmal die Durchbrechung des 8-Stundentags-Prinzips. Brief Brauns an Themas vom 18.01.1924, CAT 7-215. Note für Henseler von Themas vom 28.01.1924, Henseler Papiere 13b; persönlicher Brief Henseler an Brauns vom 12.02.1924, Henseler Papiere 13 d. Siehe auch Brief Themas an Bwuns vom 19.02.1924, CAT 7-215. Henseler, "Les huit heures dans Ia Ruhr", CAT 5-2-10-5. 72 Note personneHe a.a.O .. S. 7: Prof. Hirsch, mit dem er über diesen Zusammenhang sprach eiWiderte darauf: "Hirsch m'a laisser entendre qu'evidemment cela ne leur deplairait pas". Im Gespräch mit Themas hatten die beiden Vertreter der Sozialistischen Metallarbeitergewerkschaft Krämer und Krenshage erklärt, sie hätten nichts gegen die Einführung von Arbeitszeitbestimmungen in die MICUM-Verträge, a.a.O., S. 25. f9

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Schied damit eine französische ;'Intervention" zugunsten des 8-Stundentags aus, so war es ein realistisches Ziel, bei den MICUM-Verhandlungen wenigstens dem Standpunkt des BIT und den Interessen der betroffenen Arbeitnehmer Gehör zu verschaffen. "Oe tous les cötes on exprime Ia voeu que de nouveaux contrats avec Ia Micum ne soient pas conlus sans les ouvriers soient entendus", berichteten die Mitarbeiter an Albert Thomas.73 Brauns hatte überdies mehrmals auf die sozialpolitischen Lasten der MICUM-Verträge hingewiesen. Der Direktor des BIT blieb nach seiner Reise nicht untätig. Als er im Februar nach Frankreich reiste, hatte er die Absicht, Jacques Seydoux (Leiter der Unterabteilung für Handelsbeziehungen im Quai d'Orsay und Generalsekretär der französischen Delegation bei der Reparationskommission) zu treffen: "Notre attitude, au moment de Ia discussion des contrats de Ia Micum en avril, ne sera pas sans interet".74 Ende März 1924 schrieb Thomas dann an den Präsidenten der MICUM, wohl mit dem vorrangigen Ziel, eine Beteiligung der Gewerkschaften an den Verhandlungen zu erreichen.7s Dies gelang jedoch nur in sehr bedingten Maße. Die Gewerkschaftsvertreter wurden von der MICUM am 31.03. empfangen. Man teilte Ihnen dabei mit, daß ihre direkte Teilnahme an den Gesprächen mit der Industrie nicht möglich sei. Diese Entscheidung bezeichnete der MICUM-Präsident als "absolument necessaire a Ia suite de Ia violante campagne que les chefs des syndicats avaient menee contre le renouvellement des accords et les entrevues qu'ils avaient eu avec le Gouvernement de Berlin". 76 Trotz des Einsatzes des BIT gegenüber den französischen Besatzungsbehörden gelang es also nicht, das Prinzip des 8Stundentags in die Reparationsverträge miteinzubeziehen. Das Forum des Verwaltungsrats stellte eine weitere Möglichkeit für das BIT dar, den Stillstand zu überwinden, der in der Ratifikationsfrage nach der Ablehnung des englischen Revisionsbegehrens eingetreten war. Auf der Sitzung vom 29.01.1924 brachte die Arbeitnehmergruppe eine Resolution ein, die den Direktor aufforderte, sich weiterhin um die Ratifikation durch alle Länder zu bemühen und zu diesem Zweck eine Pressekampagne durchzuführen.77 Nach längerer Diskussion, in der von Arbeitgeberseite immer wieder auf die Souveränität der Staaten hingewiesen worden war, die durch ein derartiges Vorgehens des BIT gefährdert werde, einigte man sich auf 73

Bericht vom 25.01.1924, ohne Autor, CAT 5-2-10-5.

~~ Brief Thomas an Fontaine vom 15.02.1924, CAT 7-328.

Schreiben vom 21.03.1924, 94 AP 389. Er berichtete, daß die Gewerkschaften der Ruhr an ihn herangetreten seien. Auch habe er bereits mit Seydoux gesprochen. Schließlich bot er die H~lfe des BIT an, falls dies nötig sei. 6 Brief von Frantzen an Thomas o.D., CAT 6A-3-4-1. 77 GB (29.01.1924), S. 8.

s•

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einen Kompromiß. Die Arbeitnehmerseite akzeptierte eine abgeschwächte Resolution, die dem Direktor zwar die Möglichkeit einräumte, "by means of suitable publications" den Ratifikationsvorgang zu fördern. Die Auffoderung des Verwaltungsrats bezog sich aber im Gegensatz zur ursprünglichen Formulierung nicht mehr ausschließlich auf das WAZ sondern auf alle bisher von der IAK angenommenen Konventionen. 78 Die Arbeitgeberseite mußte dafür, wenn auch widerwillig, akzeptieren, daß die Wortprotokolle dieser Tagung der Öffentlichkeit zugängig gemacht wurden.79 Damit war ein wichtiges Ziel der Arbeitnehmerresolution erfüllt: Der Arbeiterschaft sollte nämlich öffentlich demonstriert werden, daß die Institutionen der ILO über das WAZ diskutiert und es nicht aus dem Auge verloren hatten.80 Die Januarsitzung des Verwaltungsrats brachte allerdings nicht nur diesen Publicity-Erfolg für die Arbeitnehmervertreter. Sie war vor allem bemerkenswert, weil sich eine Diskussion über den Zusammenhang von Arbeitszeit und Reparationen entspann. Angeschnitten wurde das Problem von dem französischen Arbeitgebervertreter Pinot, der nicht zu Unrecht hinter der Arbeitnehmerresolution eine Einwirkung auf die gegenwärtige Situation in Deutschland zu erkennen glaubte.81 Warum sollte sich die ILO Arbeitszeitverlängerungen in den Weg stellen, wenn Deutschland, "in order to pay a debt of honor"82, sich zu diesem Schritt gezwungen sehe, so das Argument Pinots. Daß er damit möglicherweise auch einer stärkeren wirtschaftlichen Konkurrenz Deutschlands das Wort redete, entsprach durchaus seinen Interessen. Denn bei dem Bemühen, den 8-Stundentag in Frankreich, dessen Berechtigung er auf der Verwaltungsratssitzung grundsätzlich in Frage stellte, wieder abzuschaffen, konnte der Verweis auf eine starke ausländische Konkurrenz in der Tat von Nutzen sein.83 Während der deutsche Arbeitgebervertreter Vogel der Aussage seines französischen Kollegen beipflichtete, wollte Leipart, dieser Sicht der Dinge nicht zu stimmen.84 Obwohl er ebenfalls eine Produktionssteigerung für notwendig erachtete, zog er Arbeitszeitverlängerung als geeignetes Mittel hierfür in Zweifel. Zudem sollten nicht allein die Arbeitnehmer die Last der Reparationen tragen. Zurückhaltend verhielt sich hingegen der französische Gewerkschaftsvertreter Jouhaux.115 Er verschwieg nicht, daß das Reparati78

GB (30.01.1924), S. 41.

:Siehe die Äußerung des englischen Arbeitgebervertreters Forbes-Watson. ebd.. So Oudegeest, a.a.O., S. 39. : A.a.O., S. 27. Ebd .. 83 Siehe zu diesem Argument "V01wärts". Nr. 51 vom 31.01.1924. : GB (30.01.1924), S. 28. A.a.O .. S. 30.

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ansproblern von nationaler Bedeutung für Frankreich war und den Klassengegensatz bzw. die internationale Klassensolidarität der Arbeiterklasse überlagerte: ''To touch upon the reparations question was undoubtedly to tauch on a matter which was of the very deepest concern to every Frenchman, what ever might be the social dass to which he belonged".86 Die Parlamentarische Staatssekretärin im Arbeitsministerium der neuen Labour Regierung, Miss Bondfield, unterstützte den deutschen Gewerkschaftsvertreter. In Bezug auf die Reparationsfrage bezweifelte sie zunächst, daß eine längere Arbeitszeit eine höhere Produktionsleistung zur Folge habe. 87 In offizieller Form wollte sie sich zum direkten Zusammenhang zwischen Reparationen und Arbeitszeitverlängerung nicht äußern. Sie gab jedoch zu verstehen, daß ihr diesbezügliches Schweigen nicht bedeute, "that the British Government viewed the question with unconcern". Sie ließ vielmehr durchblicken, daß die neue Labour Regierung Arbeitszeitverlängerungen in Deutschland nicht als notwendige Voraussetzung einer Begleichung der Reparationsschuld ansehe. 88 Der Direktor des BIT bezeichnete resümierend und unter Hervorhebung der Äußerungen von deutscher Seite die Diskussionen als einen Markstein in den Verhandlungen über die Reparationsfrage. 89 Der vorübergehende Charakter der Arbeitszeitverlängerung in Deutschland und deren begrenzter Zweck, den zu betonen die deutsche Seite nicht müde wurde, besserte das schlechte Image der Arbeitszeitverordnung innerhalb der ILO auf. Das Fehlen einer internationalen Vereinbarung schürte jedoch Thomas Befürchtung, trotz der vielleicht guten Absichten der deutschen Regierung werde die Mehrarbeit der Arbeitnehmer nicht der Ablösung der Reparationsschuld zugute kommen. Das WAZ bot sich als Ausweg an. Hätte Deutschland bereits unmittelbar nach der Washingtoner Konferenz ratifiziert, so Thomas, "Germany could, if it had considered the prolongation of working hours as an effective means of discharging its reparation undertakings, always have invoked Article 14 of the Convention, according to which the Convention may be suspended in the case of war or of events constituting a danger of national security".90 Mit diesem Gedanken, der einerseits dem Deutschen Reich eine Ratifikation schmackhaft machen sollte und der der sozialpolitischen Mission der ILO diente, andererseits aber den französischen Landsleuten die Aussicht auf Reparationszahlungen trotz Ratifikation des WAZ versprach, hatte sich Albert Thomas aufs Glatteis begeben. Er selbst legte damit den Wortlaut des 86 Ebd ..

~ A.a.O., S. 37 und 29.

89 90

A.a.O., S. 37. A.a.O .. S. 37. A.a.O., S. 38.

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Artikels 14 in einem Sinne aus, der es ermöglichte, unter Berufung auf eine wirtschaftliche Krise die Aufhebung des 8-Stundentags zu rechtfertigen. In einer späteren Veröffentlichung bedauerte Thomas diesen, wohl improvisierten Schritt sehr: "Ich gestehe, daß ich schuldig bin".91 Zum Leidwesen des Direktors nahm Deutschland in den weiteren Diskussionen um eme Ratifikation des WAZ seinen Gedanken bereitwillig auf. Die Verwaltungsratssitzung vom Januar hatte also Bewegung in die Arbeitszeitfrage gebracht. Die Verknüpfung mit dem Reparationsproblem war öffentlich angesprochen und die Regierungsübernahme der Labour Party hatte innerhalb der ILO ihre ersten sichtbaren Spuren hinterlassen. Andererseits war der französische Direktor des BIT gezeichnet vom Widerspruch zwischen der nationalen Bedeutung der Reparationseinnahmen in Frankreich und dem sozialreformerischen Interesse an einer möglichst strikten und internationalen Regelung der Arbeitszeit. Daß sich Thomas hier nicht eindeutig zugunsten des WAZ aussprach, lag neben der verständlichen Nähe zu den reparationspolitischen Interessen seiner Landsleute auch an der Haltung der deutschen Gewerkschaften in der Arbeitszeitfrage. Während seiner Deutschlandreise im Januar 1924 hatte Thomas den Eindruck gewonnen, daß die deutschen Gewerkschaften und die sozialdemokratische Partei ein nationales Vorgehen gegen die neue Arbeitszeitverordnung nicht befürworteten. Zu seinem Berliner Mitarbeiter Baumeister sagte er: "Je lui dis d'ailleurs l'impression pessirniste que j'ai eu lorsque, demandant a Hilferding, a Breitscheid ou a Leipart, s'il etait possible de faire une intervention sur le decret n!glementant le travail, intervention au Reichstag, ils m'ont declare que c'etait impossible ... Ils m'ont repondu qu'ils craignaient plutöt un empiremcnt dc Ia loi qu'une amelioration".92 Leipart hob gegenüber Thomas sogar hervor, daß in der Arbeitszeitverordnung eine große Anzahl an Bestimmungen aufgenommen worden sei, die nicht dem Willen der Arbeitgeber entsprächen.93 Und zur Ratifikationsfrage führte Leipart aus, daß diese auf der Grundlage der neuen Arbeitszeitverordnung jedenfalls immer noch berechtigter sei, als die italienische aufgrund der dortigen Arbeitszeitbestimmungen.94 Die deutsche Arbeiterschaft, abgesehen von einzelnen Widerständen bei den Metallarbeitern im Westen Deutschlands95, so die Einschätzung Albert 91 92 93 94

"Die Gesellschaft" 1924, S. 219 ff, 221. Note personneUe a.a.O., S. 5. Aufzeichnung Henseler, "Les huit heures ...", CAT 5-2-10-5. Henselers Briefentwurf an Brauns vom 14.07.1924, Henseler Papiere 13 d. 95 Gespräch mit Kronshage und Krämer, Note personneHe a.a.O., S. 25 und Gespräch mit Vertretern der Christlichen Metallarbeiter. a.a.O., S. 26.

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Thomas, "se laisse ravir Ia journee de huit heures sans soup~oner l'importance civilisatrice de Ia reforme".96 Als der Direktor in einem Gespräch mit Hermann Müller, Wels, Leipart, Hildebrand, Schiff, Stampfer (beide vom "Vorwärts) und Schlicke seinen Konferenzplan vorstellte, stimmten diese zu, "mais n'ont guere confiance". Die allgemeine Stimmung war niedergeschlagen: "Aucun ressort, aucune volonte. Ils flottent au gre des evenements. Ils sentent que leurs troupes leurs echappent".97 Etwas zuversichtlicher waren nur die Vertreter der Metallarbeiter und der katholischen Arbeiterunionen.98 Die allgemeine Macht- und Kraftlosigkeit der deutschen Arbeiterbewegung in dieser Situation sowie die Geringschätzung des WAZ machen verständlich, daß Leipart gegenüber Albert Thomas auf einer Aktion des BIT bestand. Er befürwortete die Durchführung einer internationalen Untersuchung, mit dem Ziel, die Unterschiede zwischen Arbeitszeitverordnung und WAZ zu erhellen.99 Bei Thomas konnte sie den Eindruck verstärken, die Deutschen schöben den Kampf um den 8-Stundentag auf andere ab, ohne selbst daran interessiert zu sein. Welche Maßnahmen das BIT zur Förderung einer Ratifikation des WAZ zu unternehmen hatte, legte der Direktor detailliert in einer Aufzeichung Ende Februar nieder. "II y a peut-etre une sorte d'actioo morale a tenter sur les Allemands", leitete er seine Pläne ein. 100 In den Gesprächen mit Vertretern des RAM, Feig und Sitzler, hatte er desöfteren auf die große sozialpolitische Tradition Deutschlands, die heute auf dem Spiel stand, Bezug genommen. Schlagendes Beispiel waren die Vereinbarungen, die man mit Polen bezüglich Oberschlesien getroffen hatte. Darin waren Vorsichtsmaßnahmen gegen Polen ergriffen worden, weil man befürchtet habe, Polen werde den Arbeitern, die unter der deutschen Gesetzgebung gelebt hatten, nach der teilweisen Abtretung Oberschlesiens schlechtere Arbeitsbedingungen auferlegen. Nun war es aber Deutschland, daß die Arbeitszeit verlängert hatte. Und dagegen boten die Abmachungen keinen Schutz. Diese Argumentation, die auf den sozialpolitischen Stolz Deutschlands anspielte und die Henseler Albert Thomas bereits 1922 geraten hatte101 , "a vivement touche M. Feig et ses collegues".102 Am 08.04.1924 griff Oudegeest, der Gene-

96

A.a.O .. S. I. A.a.O .. S. 11. 98 A.a.O .. S. 25. 99 A.a.O .. S. 2. 100 Note resumee sur Ia journee de huit heures en Allemagne, London 28.02.1924, CAT 6C7-1. 101 Note vom 07.09.1922 sur Ia conversation confidentielle avec Henseler, 04.09.1922: "Henseler a encore insiste sur Ia question sentimentale, sur l'orgeuil allemand". 102 Note resumee a.a.O .. 97

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ralsekretär des 1GB, auf der 22. Verwaltungsratsitzung diesen Aspekt auf. 103 Da in dieser Situation keine rechtlichen Schritte möglich waren, verblieb nur die Möglichkeit "of exercising moral influence". 104 Der deutsche Regierungsvertreter Feig war von diesem Vorstoß überrascht und konnte keine regierungsamtliche Stellungnahme abgeben. 105 In seiner bedrängten Lage kam ihm der ADGB-Vorsitzende Leipart zu Hilfe. Er hob die Bedeutung des 8Stundenprinzips und die gesetzliche Begrenzung der Ausnahmen hervor: "The employers of other countries, as, for example Polish Upper Silesia, would therefore not be justified in making the situation in Germany a reason for requiring their workers to work Ionger hours". 106 Wie sehr der Riß des Reparationsproblems die Arbeitnehmergruppe im Verwaltungsrat durchzog, illustriert die Tatsache, daß Oudegeest im Name der Gruppe eine Erklärung präsentierte, die die Sorgen der Arbeitnehmer in Bezug auf Oberschlesien zum Ausdruck brachte und darauf hinwies, daß die Arbeitszeitverlängerung in Deutschland "under the pretext of reparations" stattgefunden habe. 107 Indem Leipart die Situation der Arbeiter des Ruhrgebiets in Erinnerung rief, die unter der Last der MICUM-Verträge Arbeitszeitverlängerungen hatten akzeptieren müssen 108, vertrat er genau die gegenteilige Meinung. Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, daß es auch dem Einfluß Leiparts zuzuschreiben war, daß die Arbeitnehmergruppe ihre Resolution, die auch eine Handlungsaufforderung an den Direktor enthielt, nicht zur Abstimmung stellte. Ein zweiter Punkt auf den Thomas in der öffentlichen Diskussion großen Wert legen wollte, war die Wirkung, die von der Arbeitszeitverlängerung in Deutschland auf andere Länder ausgehen könnte. Bei seiner im Februar des seihen Jahres nach Polen durchgeführten Reise hatte er feststeilen müssen, daß die Arbeitszeitverlängerung in Deutschland dort wahre Beunruhigung ausgelöst hatte. 109 Bereits vor dieser Reise hatte er notiert, "ce que l'on pourrait dire pour tranquiliser !es autres pays" .110 Gemeint war die Tatsache, daß die Arbeitszeitverordnung den 8-Stundentag aufrechterhielt sowie die Bereitschaft Brauns, zu einer Internationalen Konferenz der Arbeitsminister zu kommen. Trotzdem bestand aufgrund "cette situation particulierement unstable" Handlungsbedarf für das BIT. "Malgre toutes !es dif103 GB (08.04.1924), S. 121; die Arbeitnehmer brachten eine entsprechende Erklärung ein, über die aber nicht abgestimmt wurde, S. 124. Siehe auch Bericht des deutschen Konsulats in Genf vom 16.04.1924, PAfWRep/Friedensvertrag 13. 104 So Albert Thomas GB (08.04.1924), S. 122. 105 Geiban Regierungsvertreter im Verwaltungsrat, ZStA/RAM/3826, BI. 147. 106 GB (08.04.1924), S. 126. 107 A.a.O., S. 124. 108 A.a.O., S. 126. 109 Note resumee sur Ia journee de huit heures en Pologne. 28.08.1924, CAT 6C-7-2. 110 Note vom 13.02.1924. CAT 5-2-10-5.

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ficultes que nous pouvons rencontrer et taute Ia Iimitation de nos pouvoirs" mußten alle Anstrengungen darauf verwandt werden, von den Nachbarstaaten Polens oder den großen Industriestaaten Garantien zu erhalten, "qui permettront de sauver Ia reforme". 111 In diesem Zusammenhang spielte auch die Entwicklung in Öste"eich ein wichtige Rolle. Anfang Februar 1924 hatte Otto Bauer die schriftliche Zusage gegeben, den Parlamentsausschuß noch vor dem 17.02. über die bedingte Ratifikation abstimmen zu lassen.m Am 23.02.1924 berichtete die Deutsche Gesandtschaft in Bern, Österreich habe "in den letzten Tagen auf heftigen Druck aus Genf beschlossen, das Washingtoner Abkommen bedingungsweise zu ratifizieren, d.h. für den Fall, daß auch 11 andere wichtige Produktionsländer ratifizieren". 113 Damit hatte nach der Volksabstimmung in der Schweiz ein weiterer europäischer Staat ein äußeres Zeichen für die Beibehaltung des 8-Stundentags gesetzt. 114 Die deutsche Arbeitszeitverordnung war also nicht allein wegen der durch sie bewirkten Arbeitszeitverlängenmg in Deutschland zu bekämpfen, sondern es bestand die Gefahr, daß damit eine Lawine sozialpolitischer Rückschritte in den angrenzenden Ländem losgetreten worden war. Deutschland, das Land des sozialen Fortschritts, war zum ''bösen Buben" auf dem Feld der Arbeitszeitgesetzgebung geworden. Nicht zuletzt durch den moralischen Appell an den einstigen Musterknaben der Sozialpolitik wollte 17wmas eine europaweite Verlängenmg der Arbeitszeit verhindem. Die Veröffentlichung seines Artikels "Soziale Gerechtigkeit und Weltfriede" in der Revue de Paris vom 15.03.1924, in dem er auf die deutsche sozialpolitische Tradition anspielte, der sich Deutschland heute nicht mehr erinnere, wurde in Deutschland erst im Juni 1924 rezipiert. In dieser Zeit hatte sich die allgemeinpolitische Atmosphäre aufgrund des durch die Reichstagswahl vom Mai bewirkten Rechtsrucks so verändert, daß der moralische Appell zu einer Belastung der gegenseitigen Beziehungen führte.

Als dritten Punkt hatte Thomas in seinen Aktionsplan "Ia propagande positive" notiert. Der zivilisatorische Fortschritt, der mit der Einführung des 8-

lll Note resumee (Pologne) a.a.O. Zur Gefahr, daß in der CSR • < un > mouvement de panique, au meme d'inquietude, en raison des circonstances presentes en Allemagne• ausbreche, siehe die Briefe Thomas an den tschechoslowakischen Außenminister Benes vom 20.02. und 05.03.1924. 94 AP 387. 112 Brief Thomas an Oudegeest vom 13.02.1924, 94 AP 392. 113 PA/Botschaft Paris/815a. 114 Das BIT erhoffte sich von der Österreichischen Entscheidung auch Schützenhilfe gegen die voreiligen Konferenzpläne Englands.

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Stundentags verbunden war, sollte herausgestellt werden.115 Viertens mußte international, durch die Berufsorganisationen der Arbeitnehmer gehandelt werden. Fünftens, wie bereits erwähnt, die gewerkschaftliche Aktion in Deutschland selbst. Obwohl der Direktor noch Gleichgültigkeit unter den sozialdemokratischen Parlamentariern und Parteiangehörigen konstatierte, forderte er, an sechster Stelle die Mitarbeit der "sozialistischen Demokratie". Durch persönliche Kontaktaufnahme und Aufmunterung sollte das BIT den Mut und den Initiativgeist der deutschen Gewerkschaften und Sozialisten auf allen Gebieten, insbesondere aber auf der Bühne des Reichstags anfeuern. Der bei weitem wichtigste - und hier zuerst näher zu beschreibende Punkt seines Aktionsplans gegenüber Deutschland stellte jedoch nach wie vor die "Konferenzidee" dar. Die Ratifikation durch England und die anschließende Einberufung eines Ministertreffens. "L'interet meme de cette Conference reside essentiellement dans l'influence qu'elle peut exercer sur l'Allemagne". 116 Daß Albert Thomas anläßlich einer derartigen Konferenz auch noch über den Zusammenhang zwischen Arbeitszeitverlängerung und Reparationen sowie über die grundsätzliche Frage einer Produktionssteigerung durch Arbeitszeitverlängerung diskutieren wollte, war allerdings ein unrealistisches Unterfangen. Notwendige Voraussetzung für das Gelingen seines Konferenzplans stellte die Mitarbeit Englands dar. Als die englische Arbeiterregierung im Februar erst eine Konferenz einberufen und dann ratifizieren wollte, bedurfte es der ganzen Anstrengung und einer vom Verwaltungsrat nicht sanktionierten Intervention des BIT, um die Gefahr einer "Revisionskonferenz" zu verhindern. 117 Auf der Verwaltungsratssitzung im April 1924 stellte Thomas erneut den Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Reparationen zur Diskussion. Da der Bericht des Sachverständigen-Komitees in Kürze zu erwarten sei- einen Tag später wurde er tatsächlich veröffentlicht - und deshalb Verhandlungen über seinen Inhalt bevorstünden, bestehe die Gefahr, daß man zu einer Regelung der Reparationsfrage komme, ohne das 8-Stundentagsproblem berücksichtigt zu haben. Der Direktor bot sich in dieser Situation als Anwalt des 8-Stundentags an und forderte die moralische Unterstützung des Verwaltungsrats.118 Die Notwendigkeit einer Arbeitszeitverlängerung in Deutschland stellte er nicht grundsätzlich in Frage. Es mußte nur sichergestellt sein, daß Mehrarbeit für das allgemeine Interesse, sprich die Repara115 Note resumee sur Ia joumee de huit 116 Ebd.. 117 Siehe dazu das folgende Kapitel.

118 GB (08.04.1924), S. 125.

heures en Allemagne, a.a.O ..

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tionen, und nicht für die privaten Interessen der Arbeitgeber geleistet würde. Aus einer Äußerung des englischen Premiers Mac Donald im Parlament leitete er gar ab, daß die englische Regierung dem BIT die Befugnis zugestehe, ein Land zur Einhaltung der im Versailler Vertrag festgesetzten sozialpolitischen Grundsätze zu ermahnen, obwohl es das WAZ noch nicht ratifiziert hatte und deshalb der in Art. 409 ff. festgesetzte Kontrollmechanismus noch nicht griff. 119 Albert Thomas hatte mit dieser Interpretation nicht nur politisch und rechtlich den Bogen überspannt. Er hatte den Äußerungen des englischen Premiers auch eine falsche Bedeutung beigemessen. Die Parlamentarische Staatssekretärin im Arbeitsministerium stellte klar, daß MacDonald einmal im Namen des Außenministeriums gesprochen und daß die Äußerung in keiner Beziehung zur Frage der Ratifikation des WAZ gestanden habe120: 'The Prime Minister's reply meant exactly what it said; that if the International Labour Office informed the British Government of facts in relation to the degradation of the standard of life as a consequence of the reparations discussion, those facts would receive his syrnpathetic attention in relation to the reparations discussion". 121 Das BIT sollte nicht in seiner Funktion als Anwalt des WAZ in die Reparationsdiskussion selbständig eingreifen, sondern die englische Regierung war bereit, Informationen des BIT über eine Verschlechterung der Arbeitszeitbedingungen in Deutschland im Rahmen der Reparationsdiskussion zu verwerten. Der Vorstoß Thomas, das BIT offiziell als Anwalt des 8-Stundentags im Rahmen der Reparationsdiskussion mit einem eigenständigen Mitspracherecht zu etablieren, scheiterte an der mangelnden Unterstützung der englischen Regierung. In dieser Verweigerung lag freilich auch ein Stück Revanche gegenüber dem BIT wegen dessen massiver Intervention in Sachen Arbeitszeitkonferenz im Februar 1924 (siehe das folgende Kapitel). Aus deutscher Sicht mußte die Initiative des Direktors den Eindruck erwecken, er wolle sich zum Ankläger Deutschlands aufschwingen. Diese Befürchtung war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Während der Verwaltungsratssitzung schlug Thomas dem deutschen Regierungsvertreter vor, eine internationale Enquete über die gegenwärtig geltenden Arbeitszeitverhältnisse durchzuführen. 122 Damit verfolgte der Direktor eigentlich nur eine Idee weiter, die selbst Leipart im Januar 1924 positiv aufgenommen 123 und von der er geglaubt hatte, daß die "Christlichen" sie auch unterstützen würden.124 Dagegen erklärte der deutsche Regierungsvertreter, ohne eine Untersu119 120 121

122

Ebd.. A.a.O., S. 127. Ebd ..

Bericht des Deutschen Konsulats in Genf vom 16.04.1924. PA/WRep/Friedensvenrag 13. Aufzeichnung Henseler vom 18.01.1924. CAT 5-2-10-5. lU ~ote resumee ... (AIIemagne) a.a.O .. 123

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chung der französischen und englischen Arbeitsbedingungen könnte das Deutsche Reich eine derartigen Untersuchung nicht zustimmen. Daraufhin ließ der Direktor am Ende der Verwaltungsratssitzung seinen Enqueteplan fallen. 125 Erst nach dem Bekanntwerden des Artikels von Thomas in der Revue de Paris Anfang Juni sowie anläßlich der IAK im Juni/Juli 1924 wurde die breite öffentliche Diskussion in Deutschland über Arbeitszeit, WAZ und Reparationen entfacht. Der stenographische Bericht über die Apriltagung des Verwaltungsrats wurde streng geheim gehalten. Als Meldungen darüber in der Presse erschienen, "wurde seitens des Internationalen Arbeitsamtes behauptet, die Äußerungen Miss Bondfields seien unrichtig wiedergegeben".126 Die große Bedeutung, die die arbeitszeitpolitische Dimension der Reparationsfrage innerhalb des BIT in der Folge erlangte, wird an einem Brief des stellvertretenden Direktors, Butler, vom 03.05.1924 deutlich127: "I still think that the Hours question is vital in connection with Reparations". Damit meinte Butler vor allem die ökonomischen Folgewirkungen, die sich für die englische Wirtschaft aus dem Dawesgutachten ergeben könnten: "The experts seem to have ignored the industrial aspect of reparations altogether, but I do not see how the Governments can afford to do so, particularly the British Government, which is now going to repeal the only tariffs which protected home industries against foreign competition" Die Annahme des Dawesgutachtens ohne Absicherung der sozialpolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland bedeutete eine Gefahr für die englische Wirtschaft. Im Jahre 1924 betrug die Ausfuhr Deutschlands nach Großbritannien nur etwas mehr als 40 %derjenigen des letzten Vorkriegsjahres. Zudem hatte die englische Regierung nach dem Krieg ihre "Schlüsselindustrien" durch einen Zoll von 33 1/3 % geschützt und damit der deutschen Industrie wichtige Absatzmöglichkeiten entzogen.128 Der Dawesplan, der eine wirtschaftliche Gesundung des Exportlandes Deutschland durch Kreditzufuhr als Voraussetzung der Reparationszahlungen plante, gefährdete somit die protegierte englische Ökonomie um so stärker, wenn auch noch die Arbeitszeitverlängenmg als "Subvention" zugelassen wurde. Das Eintreten für die Bewahrung des 8-Stundentagsreform verband sich damit bei Butler wie bei Albert Thomas mit der Rücksichtnahme auf nationale wirtschaftliche Erfordernisse des Heimatlandes. Was die französische Angst vor einem Ausbleiben der Reparationen war, war auf der anderen Seite die englische Befürchtung vor einem Wiedererstarken des deutschen Konkurrenten. In einer 125 Bericht des Deutschen Konsulals a.a.O.. 126

127

128

Ebd.; siehe auch DAZ vom 10.04.1924. Brief an Thomas, CAT 4-3-6. W. Weidenfeld, S. 273.

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"Note sur l'execution du plan Dawes" Ende 1927/Anfang 1928 brachte es Thomas auf den Punkt: "Ce sont surtout les Anglais qui ... ont considere l'afflux des credits exterieurs en Allemagne comme une menace par les reparations. Mais le motif qui inspire les Anglais est bien evident: C'est Ia crainte de Ia concurrence allemande sur le marche mondial. Nous n'avons pas les memes raisons d'inquietude, et nous pouvons meme envisager avec faveur le developpement des exportations allemandes". Der Grund: Mehr Export, mehr Reparationsleistungen an Frankreich. 129 Die Ergebnisse und Gespräche der Verwaltungsratsitzung vom April 1924 flossen auch in die Gestaltung der deutschen Außenpolitik ein. In einem Schreiben an das Auswärtige Amt und das Reichswirtschaftsministerium berichtete Staatssekretär Geib von einem Gespräch des deutschen Regierungsvertretersam Rande der Tagung mit dem Direktor. Darin habe Thomas erklärt, "er halte es für außerordentlich wichtig und notwendig, daß bei den Reparationsverhandlungen Deutschland die Frage des Achtstundentages zur Sprache bringe. Seines Wissens hätten die Sachverständigen die Frage ganz vernachlässigt und auch gelegentlich der Anhörung des Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreters ... sei sie kaum berührt worden. Thomas erblickt in einer Festlegung des Achtstundentages für Deutschland eine Sicherung gegen zu hoch gespannte Forderungen an die deutsche Wirtschaft''!30 Staatssekretär Geib stellte dem Auswärtigen Amt "anheim", wie man von dieser Anregung Gebrauch machen wolle. Jedenfalls würde ein diesbezüglicher Vorstoß bei der gegenwärtigen englischen Regierung Eindruck machen. Denn diese lege zur Zeit ein Ratifikationsgesetz vor, "dessen Annahme jedoch sehr unwahrscheinlich ist, da man in England seitens aller Parteien den Befürchtungen ein williges Ohr leiht, die sich bei der Arbeitnehmerschaft, aber auch der Arbeitgeberschaft der europäischen Industrieländer an die Verlängerung der Arbeitszeit in Deutschland knüpfen". 131 Geib hielt deshalb eine "vorsichtige Verwertung" der Anregung Thomas unter Umständen für "nützlich", sofern "überhaupt über die Höhe der deutschen Reparationsleistungen noch verhandelt werden kann". Dagegen warnte er davor, daß "etwa auch hinsichtlich der Arbeitszeit Deutschland Fesseln auf129 Note o.D., CAT 6A-3-1-6. Siehe hierz.u auch Verena Schröter, S. 75. Sie belegt, daß englische Maschinenbauer sich gegenüber dem Foreign Office über unfaire Wettbewerbsvorteile beklagten, die die deutsche Konkurrenz durch die Reparationslieferungen besitze, indem sie z.B. hohe französische Einfuhrz.ölle nicht bezahlen müsse. a.a.O. Fußnote 144. 130 PA/WRep/Friedensvertrag 13. Thomas hatte Chappey um Informationen zu diesem Punkt gebeten, Brief vom 15.02.1924. 94 AP 378: der Anrwortbrief von Chappey war nich aufzufinden, doch schreibt Thomas am 05.04.1924 an Chappey, ebd.: "Je vous suis reconnaissant des quelques indications que vous m'avez donnees sur les declarations de GRASSMANN et de SIMENS (sie!). Vos renseignements ont confirme nos impressions. Ce ne furent evidemment que des declarations de forme". 131 PA/WRep/Friedensvertrag 13.

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erlegt wurden". Dies sei gerade die Absicht Thomas, der Überstunden nur zur Zahlung der Reparationen akzeptiere und dafür Garantien wünsche. Ein Monat nach dem Schreiben Geibs, also am 26.05.1924, ging dann eine Weisung des Auswärtigen Amts an die Deutsche Botschaft in London. 132 Zwar erscheine es, so hieß es darin, "angesichts der schwebenden Reparationsverhandlungen .. an sich nicht zweckmäßig, in diesem Augenblick Bedenken gegen die Aufbringung der Annuitäten von unserer Seiten vorzubringen"; doch wegen des momentanen Interesses der englischen Regierung an einer Ratifikation des WAZ "könnte es vielleicht doch nützlich sein, wenn dort bei den Erörterungen über die Reparationsfrage mit den englischen Vertretern Bemerkungen über ihren Zusammenhang mit der Regelung der Arbeitszeit in Deutschland in vorsichtiger Weise eingeflochten würden". Die Deutsche Botschaft sollte "diesen Gesichtspunkt im Auge behalten" und über Reaktionen auf der englischen Seite berichten. Der deutsche Botschafter meldete daraufhin am 02.06.1924 die Äußerung des englischen Premiers vom 31.03., die bereits in der Verwaltungsratsitzung im April bekannt geworden waren. Und in seinem Anschlußbericht vom 30.07.1924 berichtete er von einer weiteren Aussage MacDonaids im Parlament im Gefolge der IAK. Der englische Premier verneinte darin die Notwendigkeit einer Arbeitszeitverlängerung m Deutschland zur Ausführung des Dawesplanes. Inwieweit die deutsche Seite bei den Reparationsverhandlungen tatsächlich auf die Verknüpfung mit der Ratifikation des WAZ und dem Arbeitszeitproblem im allgemeinen hinwies, konnte im einzelnen nicht weiter belegt werden. Die vorsichtig und zurückhaltend formulierten Weisungen des Auswärtigen Amts bestätigen aber, daß man mit Brauns, der im Gespräch mit Thomas Anfang 1924 und durch die geplante Teilnahme an der Verwaltungsratssitzung im April den arbeitszeitpolitischen Hebel an der Reparationslast angesetzt hatte, nicht einer Meinung war. Die Verhandlungen über die Reparationshöhe sollten von arbeitszeitpolitischen Aspekten freigehalten werden. Der Direktor des BIT hatte in seinem Aktionsplan von Ende Februar auch die Mitwirkung der intemationalen Bemfsorganisationen bei seiner Kampagne für den 8-Stundentag und die Ratifikation des WAZ angesprochen. Daß Oudegeest, der Vertreter des 1GB, auf der Verwaltungsratsitzung im April die Arbeitsbedingungen in Oberschlesien angesprochen hatte, stand deshalb mit den Absichten Thomas in Einklang. Bereits Mitte Februar hatte Oude132 A.a.O ..

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geestvon seinen Sorgen über einen europaweiten Rückschritt in der 8-Stundentagsreform wegen der deutschen Arbeitszeitverordnung und des mangelnden Widerstands der deutschen Gewerkschaften berichtet und ihn gebeten, "de presser les Allemands d'agir". 133 In einem Schreiben vom 27.03. wandte sich Thomas auch direkt an Friedrich Adler, den Generalsekretär der Sozialistischen Arbeiterinternationale. In seinem Antwortschreiben vom 30.04. berichtete Adler von der Tagung eines Viererkomitees, das von der Amsterdamer (1GB) und Londoner Internationale eingesetzt worden war.134 Obwohl der 1GB und die Arbeiterinternationale zum Beispiel in ihren Maiaufrufen und in mehreren anderen Veröffentlichungen 115 für die Ratifikation eintraten, hatte sich bereits bei der Tagung des Viererkomitees gezeigt, daß die ablehnende Haltung der englischen Eisenbahnergewerkschaften gegenüber den WAZ- Adler sprach von einer "heftigen Aversion"eine kraftvolle und einheitliche Propaganda behinderten. Weitere Unterstützung für die Sache des WAZ hatte sich Thomas von der "sozialistischen Demokratie" in Deutschland erhofft. Nach dem er noch im Januar die Kraftlosigkeit der Gewerkschaften beklagt hatte, notierte er in einem Brief an Oudegeest vom 05.03., daß die Situation zwar noch schlecht, jedoch nicht hoffnungslos sei 136: "Deja les syndicats se reconstituent un peu. II est possible que Ia bataille recommence, fragmentairement, il est vrai mais reellement, sous peu". Es dürfte aber weniger auf den Einfluß Albert Thomas zurückzuführen sein, als vielmehr auf den überraschend deutlichen Erfolg der Schweizer Volksabstimmung vom 17.02.1924 137, daß in der Sitzung des Bundesausschusses des ADGB vom 18.03. der Vorstand des Textilarbeiterverbandes die Vorbereitung eines Volkbegehrens über die Ratifizienmg des WAZ beantragte.138 Bei einer mit 76% sehr hohen Wahlbeteiligung hatten sich die Schweizer mit 430.853 gegen 317.201 Stimmen gegen ein Gesetz ausgesprochen, daß die Möglichkeit eröffnet hätte, in Zeiten "schwerer wirtschaftlicher Krisen allgemeinen Charakters" die durch das Fabrikgesetz 133 94 AP 392; "lls < ~ les syndicats allemands > devraient, a mon sense, mcme pardes manifestations platoniques. marquer leur volonte de recommencer Ia Iutte des que le moment favo~ble sera venu". 1 Das Schreiben Thomas war nicht aufzufinden. Die Antwon Adlers befindet sich in CAT 6C-7-6. Zum Ganzen siehe auch van Voss. S. 528; siehe auch Schreiben Oudeegest an Thomas vom 15.03.1924, CAT 6C-7-4. in dem Oudegeest den Direktor bittet, ein Treffen des Kornmitees anzuregen. "pour pouvoir innuencer le gouvernement anglais". 135 Brief Thomas an Adler vom 24.05.1924: "Gewerkschaftszeitung" vom 26.07.1924 und "Metallarbeilerzeitung" Nr. 25 (1924). 136 CAT 5-0-7. 137 "Internationale Rundschau der Arbeit" 1924. S. 280; siehe auch den persönlichen Brief Butlers an Shaw vom 16.02.1924. Butler Papers XR 25/3/6: "The size of the majority has entirelj! confounded most of the prophets". 1 8 Sitzung des Bundesausschusses ADGB DOKUME1'eitnehmervertreter im Verwaltungsrat davon in Kenntnis setzte, daß das Arl>eitszeitproblem auf der IAK "in a very specific form" angesprochen werde, Butler Papers XR 25/3/5. Weniger erfolgreich war Butler bei seinem Besuch Ende Juli 1924 in England. Er fand keine Gelegenheit den Zusammenhang zwischen Reparationen und Arbeitszeit in Regierungskreisen zur Sprache zu bringen.

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Mai 1924 mehr als die bloße Information über den Zusammenhang zwischen Reparationen und Arbeitszeit. Sie kündigte gleichzeitig an, daß das BIT sich mit einer Rolle als Dokumentations- und lnfonnationsste/le nicht bescheiden, sondem im Verein mit der Arbeitnelrmergmppe der IAK die Sache des WAZ aktiv in die reparationspolitischen Verhandlungen einbringen wollte. Auf der anderen Seite bot sich dem BIT nach dem Wahlsieg des "Linkskartells" in Frankreich am 11.05.1924 ein neuer Bündnispartner an, der durch die Entsendung des Arbeitsministers Justin Godard als Regierungsvertreter der IAK die erste Reverenz erwies. Seine Erklärung, Frankreich sei zur Ratifikation des WAZ bereit, beseitigte vorerst die Befürchtung vor einer Arbeitszeitkonferenz, gerichtet auf innenpolitischen PrestigegewinnZ36 und belastet mit dem Anschein revisionistischer Zielsetzung. Nach einem ersten Treffen des französischen und englischen Arbeitsministers in Paris organisierte das BIT Anfang September in Bern eine vertrauliche Zusammenkunft der Arbeitsminister aus Deutschland, Frankreich, England und Belgien. Was das englische Arbeitszeitgesetz anbetraf, so kam es in der mit dem Wahlsieg der Konservativen vom 29.10.1924 ablaufenden Amtszeit der Labour-Regierung im Parlament nie zu einer Abstimmung. Die pessimistische Einschätzung von Miss Bondfield, kurz nachdem der erste Entwurf fertig gestellt worden war, erwies sich demnach als realistisch: "We have done all we could, and we are going to be defeated from inside our own party". 2. Die Internationale Arbeitskonferenz vom Juni/ Juli 1924ein "Scherbengericht über Deutschland"? In der Ministerbesprechung vom 9. Juli 1924 bewertete RAMinister Brauns die vor wenigen Tagen beendete IAK als "eine Art Scherbengericht über Deutschland"237: Obwohl die Frage der Arbeitszeit und die Ratifikation des WAZ nicht auf der Tagesordnung gestanden hatten, gab der Bericht des Direktors des BIT Anlaß, dieses Thema an drei Sitzungstagen (24. bis 26.06.1924) ausführlich zu diskutieren. Im Mittelpunkt der lebhaften Debatten, in deren Verlauf auch der neue französische Arbeitsminister Godart das Wort ergriff, stand die am 01.01.1924 in Kraft getretene neue Arbeitszeitregelung in Deutschland. Im Kern wurde Deutschland vorgeworfen, durch die Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923 ausdrücklich ein Z36 Am 20.06.1924 sprach Shaw vor der Versammlung der "League of Nations Union" noch davon, "to bring about a meeting of all the Chief Powers", um die Details eines Abkommens zu diskutieren, Resumee der Rede Shaws. CAT 5-64-1-2. 237 AdR Nr. 248.

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Überschreiten der 8-Stundengrenze sanktioniert und damit die Gefahr eines europaweiten sozialpolitischen Rückschritts heraufbeschworen zu haben. Durch verbesserte Produktionsbedingungen erhöhe Deutschland obendrein seine Exportmöglichkeiten. Der Vorwurf eines "sozialen Dumpings" machte die Runde. Die IAK von 1924 sollte so einen Damm gegen einen von Deutschland ausgehenden arbeitszeitpolitischen Flächenbrand bilden, der die Reformansätze der unmittelbaren Nachkriegszeit zu zerstören drohte. Die Frage der Ratifikation des WAZ trat angesichts dieses Ziels leicht in den Hintergrund. Heftige Diskussionen in der deutschen Presse waren die Folge der Genfer Konferenz vom Juni 1924. Bereits in einem Brief an Tom Shaw vom Februar 1924 hatte der Direktor seine Absicht kundgetan, daß es notwendig sei, in dem Augenblick, in dem die Tarifverträge in Deutschland neu verhandelt würden, den Deutschen "une impulsion solide" zu geben. 238 In der Metallindustrie, die mit der Wiedereinführung des Zweischichtbetriebs am stärksten von Arbeitzeitverlängerungen betroffen war, begannen nach der Kündigung des Mehrarbeitsabkommens vom 13./14. 12.1923 am 31.05.1924 die Tarifverhandlungen. Sie fanden am 24.06., als Brauns die inzwischen ergangenen Schiedsprüche für verbindlich erklärte139, einen vorläufigen Abschluß. Insgesamt wurde das Jahr 1924 mit über 36 Millionen durch Streik und Aussperrung ausgefallenen Arbeitstagen in Deutschland zu einem Kampfjahr. Mitverantwortlich für Arbeitszeitverlängerungen, die sich insgesamt mit Ausnahme der eisen- und stahlerzeugenden Industrie allerdings in Grenzen gehalten hatten 240, machte Thomas die "deutschen Sozialisten". Ihre halbherzige Verteidigung des 8-Stundenprinzips sei obendrein auch Ursache des enttäuschenden Abschneidens bei der Reichstagswahl im Mai gewesen.241 Die IAK bot deshalb in diesem Zusammenhang ein breites Forum, um einerseites den Widerstand in Deutschland gegen die Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923 zu stimulieren. Andererseits sollte die Ratifikation des WAZ als sich dar an anschliessender Schritt zur Verwirklichung der 8-Stundentagsreform nicht in Vergessenheit geraten. Grundsätzlich scheute das BIT nicht davor zurück, in entscheidenden Momenten (vgl. England im Februar) Druck auf die nationalen Regierungen auszuüben. Im Fall DeutschBriefvom 13.02.1924, CAT 5-64-1-2. Zum Ganzen I. Steinisch, S. 496 ff. Zum 01.05. lief ferner der Lohn- und Arbeitszeitarie für den Ruhrbergbau ab. An den verbindlichen Schiedsspruch schloß sich dann ein 4-wöchiger Streik der Bergarbeiter an, der zum "bisher größten Arbeitskampf in der Geschichte des Ruhrbergbaus" wurde, J. Bähr, S. 109 ff. Am 29.05. erklärte das RAM einen neuerlichen Schjedsspruch für verbindlich, der den Streik dann auch beendete. 24 Nach einer Erhebung des ADGB vom Mai 1924 arbeiteten von den ca. 2,5 Millionen erfaßten Arbeitern in 7 Industriezweigen nur 45,3 %bis zu 48-Wochenstunden. Im November waren es bereits wieder 54,7 %, J. Bähr, S. 116. 241 Note vom 07.06.1924 über ein Gespräch mit (Otto?) Bauer, CAT 6C-7-2. 238 239

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Iands kam neben dem Appell an das sozialpolitische Gewissen eine Einflußnahme über die Reparationskommission in Frage.242 Auch England konnte hier als Bündnispartner des BIT die Hand reichen. Nach der Veröffentlichung des Dawesgutachtens im April 1924 und der Bereitschaft der Reparationskommission sowie der einzelnen Regierungen, Verhandlungen auf der Grundlage des Sachverständigenberichts aufzunehmen, begann Mitte Juli 1924 die Londoncr Konferenz. Vom 16.07. bis 31.07. tagten die Alliierten unter sich; vom 06.08. bis 16.08. wurde eine deutsche Delegation zu den Verhandlungen über eine Lösung des Reparationsproblems hinzugezogen.243 Im Vorfeld dieser Konferenz, die die reparationspolitischen Weichen zu einer wirtschaftlichen Gesundung Deutschlands stellen sollte, indem die Reparationslast an der ökonomischen Leistungsfähigkeit ausgerichtet wurde, fand die IAK in Genf statt. In einer von der Arbeitnehmergruppe eingebrachten Resolution forderte die Versammlung den Verwaltungsrat auf, die Reparationskommission auf die sozialpolitischen Folgen ihres Handels aufmerksam zu machen.2-1-1 Damit bestand aus deutscher Sicht die Gefahr, daß die Londoner Verhandlungen über Reparationen und die Ruhrbesetzung mit sozialpolitischem Ballast überfrachtet und die Verwirklichung des aus wirtschaftlichen Gründen so wichtigen Dawesplans aufs Spiel gesetzt wurde. Neben der Schwierigkeit, nach den Reichstagswahlen vom 04.05. eine parlamentarische Mehrheit zugunsten des Dawesplans zustande zu bringen und der problematischen Verquickung von militärischer Räumung des Ruhrgebiets mit der Annahme des Gutachtens, stand also einer wirtschaftspolitisch vernünftigen Verständigungslösung des Reparationskomplexes möglicherweise die Frage des 8-Stundentages bzw. der Ratifikation des WAZ im Wege. 245 Vom Standpunkt des BIT aus gesehen bedeutete jedoch eine Einbeziehung der Arbeitszeitfrage in die reparationspolitischen Verhandlungen die Chance, dem bedauerlichen Rückschritt Deutschlands vom Dezember 1923, der die sozialpolitische Reform in den anderen Ländern gefährdete, stärker, d.h. nicht nur mit moralischen Appellen, zu begegnen. In seinem Bericht für die IAK ging Thomas sehr ausführlich auf die bisherige Geschichte des WAZ und die neu entstandene Lage in Deutschland ein. Nach einer Darstellung der rechtlichen Situation aufgrund der Arbeitszeitverordnung kam er zu dem Schluß, daß heute eine Ratifikation durch Ebd.: "II est d'accord pour agir avec nous du cöte de Ia Commission des reparations". Vgl. P. Krüger. "Außenpolitik .. .". S. 243 f. 2+1 ILC 1924 (Reports of Selection Committee). S. 540. Ob sich Thomas oder das BIT auf informellem Wege an die Reparationskommission wandte. konnte nicht ermittelt werden. SiLge auch Thomas Bericht. ILC 1924 (Director's Rcport). S. 829 Zum Ganzen U. Oltmann. S. 298. 242 243

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Deutschland weniger leicht sei als noch vor zwei Jahren. 246 "The most serious fact" der Veränderungen war in seinen Augen die Einführung des Zweischichtsystems in einigen Branchen der Metall- und Eisenindustrie. Insgesamt jedoch erschien ihm die Lage in Deutschland nicht so schwerwiegend "as has sometimes been argued"2A7 ; zumal in Frankreich seit 1922 auch kein Fortschritt in Bezug auf eine Ratifikation erzielt worden war248, und in den Niederlanden, wie er ausdrücklich vermerkte2A9 , ebenfalls Rückschritte zu verzeichnen waren. Die größte Gefahr, die von der deutschen Arbeitszeitverordnung ausging, bestand nicht in einem dauerhaften Verlust des 8Stundentags für die deutsche Arbeitnehmerschaft, sondern in den möglichen negativen Folgewirkungen, die die ausdrückliche Erklärung einer Arbeitszeitverlängerung aus wirtschaftlichen Gründen auf die sozialpolitische Situation industriell weniger entwickelter Nachbarländer wie Polen und CSR mit sich brachte.250 So berichtete Thomas auch von seinen entsprechenden Beruhigungsversuchen in diesen Ländern. 251 Darüber hinaus befaßte sich Thomas in seinem Bericht für die JAK ausführlich mit dem Zusammenhang zwischen Reparationen und Arbeitszeitverlängenmg, ein Thema, das seit dem Vorstoß des französichen Arbeitgebervertreters Pinot in der Januarsitzung des Verwaltungsrats im Raum stand. Das BIT befand sich hier in einem argumentativen Dilemma. Einerseits hätte es einen Verrat an den eigenen sozialpolitischen Prämissen und den Idealen seiner Vorkämpfer bedeutet, hätte das BIT in dem wirtschafts-und arbeitswissentschaftlich noch ungeklärten Streit über die Auswirkungen einer Arbeitszeitverkürzung die These vertreten, der 8-Stundentag führe zu einer Verringerung der Produktion. Auf der anderen Seite wäre das BIT bei einem starren Festhalten am 8-Stundentagsprinzip zum Störenfried einer Lösung der Reparationsfrage geworden. "The Organisation would indeed encounter still more serious difficulties if its actions, conceived in the name of the principals for which it stands, should hinder the solutions so eagerly awaited by the world".252 Erst nach einer Beilegung der Reparationsprobleme, so die Überzeugung Thomas, konnten Völkerbund und ILO ihre volle Autorität innerhalb der Staatengemeinschaft entfalten.253 Thomas er~~ ILC 1924 (Director's Report), S. 786 ff, 790.

A.a.O., S. 792. A.a.O., S. 799. Kritisch merkte Themas an: "... if it is true, as the French Government has consistently stated, that the exceptions granted are in complete conformity with ... the Washington Convention. there can be no essential difficulty preventing the ratification ...", a.~p S. 800. A.a.O .. S. 807. 250 Siehe dazu auch die Diskussionen im Verwaltungsrat. GB (12.06.1924), S. 237 ff. 251 ILC 1924 (Director·s Rcport). S. 821. 252 ILC 1924 (Director's Rcport). S. 824. 253 Ebd .. 2AS

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achtete den 8-Stundentag deshalb zwar generell für produktiv, doch : "... it may none the less be true that, at a certain stage in the development of an industry and for limited periods, a prolongation of work may allow urgent requiremets tobe met".254 Angesichts der Reparationslast Deutschlands und den diesbezüglichen französischen Interessen mußte es jedoch an die augenblickliche Ausnahmesituation angepasst werden. Nachdem sich Thomas schon während der Verwaltungsratssitzung im Januar mit seinem Hinweis an Deutschland, zum Wohle der Reparationen könne man sich auf Art. 14 WAZ berufen, aufs Glatteis begeben hatte, zeigte sein Bericht für die IAK erneut, daß das BIT, weil widersprechenden Loyalitäten gehorchend, keine klare Linie verfolgte. Man wollte es allen recht machen: Frankreich und Deutschland, die aus unterschiedlicher Motivation heraus (Reparationen J Erfüllungspolitik), "flexible" Arbeitszeiten wünschten; England bzw. der ILO, die um der Sozialreform willen bzw. aus handfesten Konkurrenzängsten Arbeitszeitverkürzungen propagierten. War Deutschland seinen Reparationsverpflichtungen nachgekommen und hatte sich das Land sowohl mit Hilfe amerikanischer Kapitalanleihen als auch durch vorübergehende Arbeitszeitverlängerung wirtschaftlich erholt, sollte die Ratifikation nach Thomas Meinung garantieren, daß Deutschland nicht durch fortgesetztes arbeitszeitpolitisches Dumping zum übermächtigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt heranwuchs:l..~5 Das WAZ sollte zur arbeitszeitpolitischen Variante des Dawesplanes (ohne unmittelbare externe Überwachung) werden: "If, in a spirit of co-operation, Germany were to accept in the near future supervisory measures or agreements which may tend to ensure her ecconomic future ... , is it not possible that similiar agreements should be arrived at in the Spirit of Part XIII of the Treaty, which would afford the necessary guarantees for the protection of labour in a regular form?''. 256 Obwohl die Sachverständigen in Berlin auch Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter angehört hatten, war der Arbeitszeitaspekt innerhalb des Dawesplans offensichtlich unberücksichtigt geblieben. Die Gespräche mit den Arbeitgebern und Arbeitnehmern waren kurz "and hardly more then formal in character"; die Experten schienen zwar die Bedeutung der Arbeitszeitfrage gespürt, nicht aber genauer untersucht und gewürdigt zu haben.257 Thomas war es daher wichtig, daß die europäischen Staaten in ihren Verhandlungen über das Gutachten der Arbeitszeitproblematik größeren Raum einräumten. Indem er der Reparationskommission dabei eine bedeutende Funktion zuwies, erregte der Direktor den Widerspruch der deut254

A.a.O., S. 828. A.a.O .. S. 827. 256 A.a.O .• S. 828. 257 A.a.O .• S. 829. Siehe auch den ßricfwechsel mit Chappey vom Frühjahr 1924, 94 AP 378.

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sehen Regierung. "Perhaps the Reparations Commission will devote further attention to labour conditions as a factor in the ecconomic state of Germany, the development of which they are following" 258; bei "solchen Gedankengängen", formulierte Brauns später, "wird jeder Deutsche - ganz gleich welche Stellung er zum Achtstundentag einnimmt- verstehen, daß es Pflicht der deutschen Regierung war, ... sofort entgegenzutreten".259 Die Erklärung der deutschen Regierung auf der IAK durch ihren Vertreter, Herrn Leymann, war die offizielle Reaktion. Eine strengvertrauliche Unte"edung des RAMüzister mit Albert 71wmas vor der IAK war zwar noch Ausfluß des Artikels Albert Thomas in der "Revue de Paris" und der Absage eines offlziellen Besuchs Brauns zu Beginn der IAK. Inhaltlich befaßte sich die Besprechung aber mit denselben Problemen. Am 13.06. trafen sich Brauns und Thomas in Gegenwart von Hermann Henseler das erste Mal. Bei ihrem zweiten Treffen am folgenden Tag wurde noch Ministerialrat Dr. Leymann, Oberregierungsrat Kuttig und Dr. Fuhs vom BIT hinzugezogen. 260 Zustandegekommen war das Gespräch zwischen Thomas und Brauns nach den Informationen Ludwig Prellers aufgrund eines "versöhnlichen Schrittes" des Direktors, dessen Artikel in der "Revue de Paris" Brauns veranlaßt hatte, auf die geplante Teilnahme an der IAK zu verzichten.261 Nachdem Brauns zum Auftakt der Unterredung auf den "Widerspruch ..., der zwischen zwei im gleichen Vertrage , enthaltenen Forderungen besteht", hingewiesen hatte, kam er zum Problem, "einer eventuellen internationalen Kontrolle darüber, ob die über das 8-Stundentagsmaß hinaus geleistete Mehrarbeit auch wirklich den Reparationsleistungen diene". Er lehnte dies als "unannehmbar" ab. Zum einen sei eine derartige Kontrolle ein Eingriff in die Souveranität Deutschlands. Obendrein sei sie technisch nicht durchführbar. Und schließlich diene die Mehrarbeit "auch zur Erfüllung einer Reihe von Aufgaben, die einem modernen Staatswesen erwachsen, dessen Volkswirtschaft .. ausgehöhlt und ausgesaugt ist und wieder aufgebaut werden muß". Damit durchbrach der RAMinister den Rechtfertigungzusammenhang zwischen Reparationslast 258 A.a.O., S. 829. Siehe auch die Note von Albert Thomas vom 07.06.1924 über ein GeSP.räch mit (Otto?) Bauer, CAT 6C-7-2. 259 Reichsarbeitsblatt (Nichtamtlicher Teil) 1924, Nr. 17, S. 409. 260 Strengvertrauliches Protokoll (Verfasser: Hermann Henseler) über eine Unterredung des Herrn Reichsarbeitsministers Dr. Brauns mit Direktor Thomas am 13. und 14.06.1924, CAT 7-215 und NL Stresemann, Bd. 10, H 156030-156041. Siehe auch Note personnelle (16.06.1924) sur ma conversation avec Brauns (revue par Brauns), CAT 6C-7-l. Zum Ganzen in Umrissen auch U. Oltmann, S. 304 f. 261 Ludwig Preller, "Sozialpolitik ...". S. 309. Am 20.06.1924 drückte Thomas in einem Brief an Paul Bonn (Direktor der Deutschen Bank) seine Zufriedenheit aus, daß Brauns trotz des von der DNVP befürworteten Austritts Deutschlands aus der ILO zu einer freimütigen Aussprache nach Genf gekommen sei, 94 AP 387.

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und Arbeitszeitverlängerung.262 Thomas, der sich als "Verteidiger des 8Stundentages in der Welt" bezeichnete263, entgegnete natürlich mit dem Hinweis auf die Auswirkungen auf die Nachbarländer. Seiner Forderung nach einer deutschen Regierungserklärung, wonach die Arbeitszeitverlängerung "in ihrem Ausmaß und in ihrer Geltungsdauer" ausschließlich durch die Reparationslast bestimmt sei, wollte der RAMinister nicht Rechnung tragen. Zustimmung signalisierte Brauns hingegen, als Thomas vorschlug, im Wege einer "internationalen Erhebung" festzustellen 264, ob tatsächlich die Nachbarländer Deutschlands aufgrund der Arbeitszeitverordnung zu einer Veränderung ihrer günstigen Arbeitszeitregelungen getrieben werden. Er bestand jedoch darauf, daß hierbei die "deutsche Arbeitszeitverordnung nicht zum Ausgangspunkt der Diskussion gemacht werde" und "Deutschland nicht auf die Anklagebank" gesetzt werden "dürfe".265 Als der Direktor erwähnte, daß die Arbeitnehmergruppe der IAK die Frage der Arbeitszeit auf der Konferenz ansprechen werde, und eine Resolution vorbereite, "in welcher auch auf die Reparationsfrage eingegangen würde"266, erhob Brauns gegen diesen Vorgang schwere Bedenken. Denn "einerseits würde das nunmehr allseitig angenommene Sachverständigengutachten erneut in Frage gestellt ..., was für Deutschland in seiner gegenwärtigen Kreditnot unemäglich wäre". 267 Brauns malte die Gefahr einer neuen Inflation an die Wand und gab eindringlich zu verstehen, daß für Deutschland jetzt "alles von einer möglichst schnellen Regelung " .268 Darüber hinaus verwahrte sich Brauns, wie schon bei der Diskussion über eine "internationale Erhebung", gegen eine Rolle Deutschlands als Angeklagter, sei es im Rahmen der IAK oder aufgrund einer Resolution der Arbeitnehmergruppe. Thomas erklärte sich daraufhin bereit, "durch vorherige Besprechungen mit seinen Freunden aus der Arbeitergruppe zu versuchen, mit diesen zu einer Einigung über die allgemeinen Richtlinien der Diskussion und der ihr zu ziehenden Grenzen zu kommen".2(9

262

Protokoll. a.a.O. (13.06.), S. 1 ff. Siehe dazu auch den Hinweis im Bericht Thomas für die

JAK. ILC 1924 (Director's Repon), S. 791, auf eine Stellungnahme des deutschen Regierungs-

venreters. in der der Zweck der Arbeitszeitverlängerung mit den Reparationszahlungen "and to.urrstore Germany's general economic prosperity" begründet worden war. Protokoll. a.a.O .. S. 4. 26-1 Protokoll. a.a.O. (14.06.). S. 6: "II n·a pas d'objection a l'idee de l'enquete internationale ~ant sur tous les pays ..", formulierte Thomas in seiner :'1/ote personnelle. a.a.O. 266 Protokoll. a.a.O. (14.06.). S. 6. Protokoll. a.a.O. (13.06.). S. 5. 267 Ebd .. 268 le9 Protokoll. a.a.O. (14.06.). S. 3. Protokoll. a.a.O. (13.06.). S. 5.

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Nochamselben Tag sprach Thomas mit Jouhaux, der in seiner Resolution beabsichtigt hatte, die Reparationskommission in die Debatte mit hineinzuziehen. Der Direktor riet Jouhaux "im Hinblick auf die .. Unterredung mit dem Minister" zur Vorsicht. Die Durchführung des Sachverständigengutachtens dürfe nicht erschwert oder gehemmt werden. Ohne ins Detail zu gehen, informierte Thomas Brauns am zweiten Tag der beiderseitigen Unterredungen, daß Jouhaux bereit sei, "seine Resolution abzuschwächen".270 Auch scheine es nach Thomas Ansicht noch möglich zu sein, der bevorstehenden Arbeitszeitdiskussion auf der IAK "gewisse Richtlinien zu geben, innerhalb derer sie sich halten könne". Die Forderungen hatten Thomas arg in Bedrängnis gebracht: "... je suis dans les plus graves difficultes diplomatiques avec I'Allemagne", vertraute er am 16.06.1924 seinem Partei- und persönlichen Freund P. Renaudel an. 271 Zwar entsprach es auch seinen politischen Vorstellungen, die Reparationskommission in die Arbeitszeitproblematik miteinzubeziehen.272 Und für ein entsprechendes Auftreten des BIT gegenüber der Reparationskommission hätte eine Resolution der IAK eine Legitimationsgrundlage geboten. Doch verdeutlicht sein Einwirken auf die Arbeitnehmergruppe gleichzeitig, daß ihm auch daran gelegen war, einen gewissen Ausgleich der Interessen zustande zu bringen. Da Thomas überzeugt war, daß die Genfer Institution ihre volle Autorität im internationalen Geschehen erst erlangen konnte, nachdem die Staatengemeinschaft von der Belastung durch das Reparationsproblem befreit worden waren273, kam er den Forderungen Brauns, der auf dem Weg zu einer raschen Durchführung des Sachverständigengutachtens sozialpolitische Stolpersteine zu beseitigen suchte, in gewissen Maße nach. Die Resolution, die am Ende der IAK Anfang Juli verabschiedet wurde, forderte den Verwaltungsrat auf, "to consider means and methods of drawing the attention to the Reparation Commission to the international social consequences follwing the carrying out of any programme adopted by the Commission".274 Entsprach diese Aufforderung den Interessen der Ar· beitnehmergruppe und Albert Thomas, so verdeutliche der folgende Teil des Vorspanns, daß auch die deutschen Interessen nicht zu kurz gekommen waren: "Considering that it is of primary importance that no social difficulties should disturb or prevent the possibility of attaining these ends ". Als der Text der Resolution feststand, teilte Brauns daher am 23.06.1924 telefonisch dem Auswärtigen 170

Protokoll. a.a.O. (14.06.). S. 2. 94 AP 3&5. Vgl. Note über ein Gespräch mit Bauer a.a.O. 2~ ILC 1924 (Director's Report), S. 824. 2 ~ ILC 1924 (Minutes), S. 639.

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Amt mit, "daß mit diesem Wortlaut der Resolution nunmehr jede für uns unangenehme Spitze abgebogen sei".275 Durch seine Präsenz und seine Gespräche mit 17wmas, die zu einer Abschwäclumg der Resolution der Arbeitnehmergntppe führte, schinnte Brauns insoweit den reibungslosen Fongang der Verhandlungen über das Reparationsgutachten vor Stönmgen aus der Sphäre der Intemationalen Sozialpolitik ab. Hatte die Deutschnationale Volkspartei im Gefolge der Reichstagswahl vom Mai 1924 ihr parlamentarisches Gewicht erhöht und war ihre Mitarbeit auch bezüglich der Umsetzung des Sachverständigengutachtens erforderlich, so hatte Brauns, der Reichsarbeitsminister eines Minderheitskabinetts, durch seinen Verzicht auf eine offizielle Reise nach Genf wegen des Artikels von Albert Thomas in der "Revue de Paris" offensichtlich auf die Interessen der Deutschnationalen Rücksicht genommen. Da für seine Politik jedoch in dieser Phase die Verwirklichung des Dawesplanes oberstes Gebot war276, konnte ein Riß des Drahtes nach Genf nur schädlich sein. Es war taktisch klüger, sowohl im Gespräch mit Thomas als auch in der Regierungserklärung vor der IAK (siehe unten) allgemein nationalwirtschaftliche Gründe zur Rechtfertigung der Arbeitszeitverordnung vorzubringenm und dadurch statt der Verbindung Berlin-Genf den Zusammenhang zwischen Reparationen und Arbeitszeitverlängerungen zu kappen. Denn drängte man die Reparationsforderungen als Ursache der Arbeitszeitverlängerung in den Hintergrund, verlor die Arbeitszeitfrage auch innerhalb der Verhandlungen über den Dawesplan an Bedeutung und Bremswirkung. Zudem konnte die Betonung der deutschen Souveränität auf sozialpolitischem Gebiet vielleicht verhindern, daß die nationalistische Propaganda gegen die wirtschaftliche Versklavung Deutschlands sich noch weiter verstärkte. Der zu zahlende Preis für eine eventuell wirksamere Abschirmung der reibungslosen Durchführung des Dawesplans lag allerdings darin, daß die deutsche Arbeitszeitverordnung ohne reparationspolitische Rechtfertigung als arbeitgeberfreundliches Resultat innenpolitischer Machtkämpfe und als Ausdruck eines 215 Aufzeichnung des Referats WRep. vom 23.06.1924, PAfWRep/Friedensvenrag 13. Auf der Sitzung der Commission de Proposition vom 27.06.1924 erklärte der deutsche Vertreter Kuttig sein Einverständnis mit der Resolution, vorausgesetzt die Verhandlungen über den Dawesplan würden dadurch nicht beeinträchtigt, Proces verbaux de Ia Commission de Proposition (7. Sitzung). Da die Resolution darüber hinaus an den Verwaltungsrat gerichtet war, der jedoch erst wieder in einigen Monaten zusammentreten sollte, war ferner sichergestellt, daß die Reparationsverhandlungen nicht gestört würden, vgl. ILC 1924 (Minutes), S. 486 f. Jouhaux. der heftig gegen eine Verweisung an den Verwaltungsrat protestierte, konnte diesen nu~ noch dazu auffordern, in kürzester Frist zusammenzutreten. 2 6 Vgl. U. Oltmann, S. 299. ln Vgl. dazu auch eine Veröffentlichung des RAM im Reichsarbeitsblatt (Nichtamtlicher Teil). :"r. 17 (01.09.1924). wo Brauns erklärte. die Arbeitszeitverlängerung "erfolgte also nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Rcparationsverpflichtungen".

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nationalen Alleingangs der internationalen Kritik eine offene Flanke darbot. Der in der Öffentlichkeit somit entstehende Eindruck einer starren Haltung Deutschlands auf sozialpolitischem Gebiet trog aber insofern als Brauns sowohl durch sein inoffizielles Gespräch mit Thomas als auch durch folgende als "persönliche Meinung" qualifizierte Äußerung gegenüber dem Direktor Verständigungsbereitschaft signalisierte: "Eine Interpretation dessen, was der 8-Stundentag ist und was davon international eventuell durchgesetzt werden kann", bezeichnete Brauns gegenüber Thomas als "unbedingt notwendig".278 Sein Ansinnen jedoch, mit dem englischen, nicht aber mit dem französischen Arbeitsminister zu Gesprächen über die Arbeitszeit zusammentreffen zu wollen, und dies noch dazu in Köln, das in der französisch besetzten Zone Ia!f79, gab seinem Bekenntnis zum arbeitszeitpolitischen Dialog einen reparationspolitischen Anstrich. Der arbeitszeitpolitische Hebel an der Reparationslast war stets griffbereit. Hier lag das strategische Ziel der Politik Brauns, das allerdings in der gegenwärtigen Phase, wo es primär um die Sicherung des Dawesabkommens ging, durch seine Abschirmungstaktik überlagert wurde. In Anlehnung an eine Festeilung Stürmers280, wonach im Sommer / Herbst 1924 koalitionspolitische Entscheidungen in eine außen- und eine spätere innen- und sozialpolitische Phase aufgelöst waren, kann man deshalb formulieren: Die offizielle auswärtige Sozialpolitik erfüllte im Sommer 1924 eine "dienende Rolle" gegenüber der auf die Annahme des Dawesabkommens konzentrierten Außenpolitik. Inoffiziell jedoch zeigte die strategische Spitze der Abschirmungstaktik Brauns auf eine Herabsetzung der Reparationen wegen zu hoher Arbeitszeitbelastungen. Indem die Arbeitnehmergruppe der IAK diesen Sachverhalt in aller Öffentlichkeit ansprechen wollte, störte sie die Kreise der Regierungs- und der Politik Brauns. Hatteder RAMinister im Fall der JAK-Resolution noch jede für die deutsche Politik unangenehme Spitze abbiegen können, so hatten er und seine Mitarbeiter weniger Erfolg, als es darum ging, die Debatte auf der IAK innerhalb der gewünschten "Richtlinien" zu halten. 281 Am 24.06.1924 eröffnete der Belgier Mertens als Vertreter der Arbeitnehmergruppe die Diskussionen der IAK über die Ratifikationsfrage.282 Im Interesse der Arbeiterschaft verwahrte er sich gegen eine Erklärung des deutschen Regierungsvertreters, die Thomas in seinem Bericht für die IAK 278

279

Protokoll. a.a.O. (14.06.). S. 7. Brief Butler an Shaw vom 17.06.1924. CAT 5-64-1-2; siehe dazu ausführlich im Kapitel

Il.3.a. 280 281 282

Michael Stürmer, S. 41. Protokoll a .a.O. (13.06.), S. 5. ILC 1924 (Minutes). S. 59ff.

158

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

zitiert hatte. Es genüge nicht, sich auf das Prinzip des 8-Stundentags zu berufen. Zwar könnten die augenblicklichen Umstände die deutschen Arbeiter verpflichten, mehr zu arbeiten. Aber eine Begründung dieser Arbeitszeitverlängerung, die sich nicht nur auf die Reparationszahlungen, sondern auch auf die Erholung der deutschen Wirtschaft insgesamt beziehen, sei nicht akzeptabel.283 Im Anschluß an Mertens erläuterte Jouhaux die erwähnte Resolurion der Arbeitnehmergruppe.~ Nach einem Redebeitrag des englischen Arbeitnehmervertreters ergriff der neue französische Arbeitsminister Justin Godart das Wort. 285 Nach allgemein einleitenden Ausführungen zur französischen Rechtslage und den wirtschaftlichen sowie sozialen Vorteilen des 8-Stundentags zitierte er eine kürzlich ergangene Regierungserklärung Herriots, der das Parlament mit Mehrheit zugestimmt hatte: "Nous desirons Ia prompte ratification des conventions adoptees par les Conferences internationales du Travail de Washington et de Geneve", hieß es da. 286 Und in Bezug auf das WAZ fügte Godart auf der IAK ausdrücklich hinzu: ".. le gouvernement fran~ais est pret a ratifier Ia convention de Washington. Ille fera avec d'autant plus de certitude et de serenite que celle-ci n'est, somme toute, que Ia formule internationale de Ia loi fran~aise et que, par avance, Ia France s'y est donc deja conformee".287 Entsprechend dieser Erklärung Godarts auf der IAK konnten die anderen Staaten demnach von der Ratifikationsbereitschaft der französischen Regierung ausgehen, waren sie nur bereit, die These zu akzeptieren, daß sich die gegenwärtige französiche Arbeitszeitregelung bereits mit dem WAZ in Übereinstimmung befand. In polemischer Anspielung auf die deutsche Arbeitszeitverlängerung bemerkte Godart in seiner Rede vor den Delegierten in Genf schließlich, daß Frankreich trotz der Aufbauarbeit nach 1918 nie an eine Aufgabe des 8Stundenprinzips gedacht habe. In einem Brief an Tom Shaw bewertete Butler die Äußerungen des französischen Arbeitsministers gegenüber der Lage in Deutschland als "exceedingly discreet". Enttäuschung lag in Butlers Worten, zumal sich auch die Arbeitergruppe der IAK nach seiner Ansicht bei der Deutschlandfrage Zurückhaltung auferlegt hatte. 288

2.83

A.a.O., S. 60. A.a.O., S. 61 ff. A.a.O., S. 70 f. 286 A.a.O., S. 71. Zum schwierigen Zustandekommen dieser Regierungserklärung und dem Einnuß von Thomas und Jouhaux. Vgl. Brief M. Roques (Leiter des Zweigbüros in Paris) an TYßmas vom 18.06.1924. CAT 5-35-6 (A) ILC 1924(Minutes), S. 71. 288 Brief vom 25.06.1924, Butler Papers XR 25/3/6. In der Ankündigung der französischen Ratifikationsabsicht durch Godart sah Butler eine dankbare Hilfestellung für das Arbeitszeitgesetz Tom Shaws. 284

2&5

II. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

!59

Heftiger angegriffen wurde Deutschland im weiteren Verlauf der Diskussionen von den Vertretern der CSR, Stern, und Sokal aus Polen.289 Letzterer hob nochmals die negative Auswirkung der deutschen Arbeitszeitverlängerung auf den zu Polen gehörenden Teil Oberschlesiens hin. Der deutsche Regierungsvertreter, Leymann290 zählte in einer amtlichen Erklärung zunächst die reparationspolitischen und ökönomischen Gründe auf, die Deutschland im Dezember 1923 dazu bewogen hatten, vorübergehende Ausnahmen vom 8-Stundentag zuzulassen, diese aber prinzipiell nicht in Frage zu stellen.291 Die Arbeitszeitverordnung sei eine Notmaßnahme: "lt will be amended when ecconomic conditions improve and when it becomes easier to foresee Cuture developments". Wann dies der Fall sei, darüber könne die deutsche Regierung allerdings im Augenblick nichts Definitives sagen. Nachdem sich Leymann im Namen der Regierung nochmals gegen jede Art einer internationalen Arbeitszeitkontrolle verwahrt hatte, betonte er zum Abschluß, daß die deutsche Regierung bestrebt sei, "to take account of hours of work in other countries in so far as the vital interests of Germany permit".292 Indem diese Regierungserklärung den Ausnahmecharakter der Arbeitszeitverordnung herausstellte, kam sie den Interessen der Arbeitnehmergruppe und des BIT entgegen. Der Verweis auf eine allgemeine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, deren Zeipunkt nicht vorauszusehen war, mußte allerdings den Widerspruch derjenigen hervorrufen, die Arbeitszeitverlängerungen allenfalls unter dem Druck der Reparationslasten zu tolerieren bereit waren. Der nationale Vorbehalt, den ökonomisch vertretbaren Zeitpunkt einer Rückkehr zum regelmäßigen 8-Stundentag selbst zu bestimmen, zeigte ebenso wie die Ablehnung jedweder internationaler Einflußnahme auf die Arbeitszeitbestimmungen, daß die deutsche Regierung nicht willens war, eine Art sozialpolitischen Dawesplan zu akzeptieren, auf den Thomas in seinem Bericht für die IAK angespielt hatte. Aufgrund der bevorstehenden, empfindlichen Eingriffe in die deutsche Souveränität im Gefolge der Durchführung des Sachverständigengutachtens (Verselbständigung der Reichsbahn, Schaffung der Bank für Industrieobliegationen und Einrichtung eines Reparationsagenten in Berlin, der auf die deutsche Steuer- und Finanzpolitik unmittelbar Einfluß hatte293), rückte die

289 ILC 1924 (Minutes), S. 73 f und 84 ff. 290 Feig war erkrankt und wurde deshalb N~ 143

(1924), Spalte 902.

von Leymann auf der IAK ersetzt, "Soziale Praxis",

A.a.O., S. 74 f. Ebd.; bereits in dem Gespräch vom 14.06.1924 zwischen Thomas und Brauns hatte der Direktor vorgeschlagen, daß der deutsche Venreter die besonderen Bedingungen, die zur AIbeitszeitverordnung gefühn hatten, sowie deren Ausnahmecharakter auf der IAK erläutern soJJf· Protokoll, a.a.O., S. 4. Hans Mommsen. S. 187. 292

160

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

nationale Entscheidungsfreiheit auf sozialpolitischem Gebiet in den Rang einer unantastbaren Grundbedingung nationaler Außenpolitik. Hatte Leymann in der Regierungserklärung noch ausgeführt, daß von einem sozialen Dumping Deutschlands nicht die Rede sein könne, so kam in seinen sich ansebliessenden persönlichen Bemerkungen doch zum Ausdruck, daß eine Steigerung der Exporte jedenfalls mit das Ziel der Arbeitszeitverlängerung gewesen sei. Zwar anerkannte er, daß eine Erhöhung des outputs nicht immer notwendige Folge einer Arbeitszeitverlängerung sei. Da jedoch in Deutschland zur Zeit nicht ausreichend Kapital zur Verfügung stehe, das die Produktivität ansonsten hätte steigern können, sei es unabdingbar, "to have an increased outpul from the individual".294 Im Umkehrschluß bedeutete diese Aussage, daß die Arbeitszeitverlängerung dann zurückgenommen werde, wenn das aufgrund der Durchführung des Dawesplan nach Deutschland fließende (amerikanische) Kapital eine Steigerung der Produktion, die Erhöhung der Exporte und damit die Begleichung der Reparationsschulden ermöglichte. Brauns dagegen schien von anderen Bedingungen auszugehen. Denn gegenüber Thomas hatte er erklärt, die Erfüllung der aus dem Gutachten entspringenden Verpflichtungen sei bei gleichzeitiger Einhaltung des 8-Stundentags von Deutschland nicht zu leisten.295 In der von Leymann vorgetragenen Regierungserklärung war das so formuliert:" ... stillless is it possible to see what conditions will be like when the whole burden of reparations payments comes tobe felt". 296 Es überrascht daher nicht, daß Thomas nach der Unterredung mit Brauns Mitte Juni festgestellt haue: "A noter, Ia curieuse attitude du Docteur Leymann, qui semblait plutöt soutenir mes idees, avec discretion". 297 Und der "Vorwärts" schrieb am 11.07.1924 (Nr. 322): "Zwischen der Erklärung, die Herr Leymann im Auftrage des Reichsarbeitsministers abgab und seinen persönlichen Bemerkungen ... besteht ein fühlbarer Unterschied". Der deutsche Arbeitnehmervertreter, Müller, unterzog in seiner Rede am folgenden Tag die Regierungserklärung keiner allzu scharfen Kritik.298 Er hätte sich nur eine konziliantere Haltung der Regierung gewünscht; im übrigen unterstrich er, daß Arbeitszeitverlängerungen zwar aufgrund der Reparationslast erforderlich aber durchaus im Rahmen der vom WAZ vorgegebenen Ausnahmevorschriften zu realisieren seien. 294 ILC 1924 (Minutes), S. 75. 295 Protokoll, a.a.O. (14.06.), S. 3. Auf einer Ministerbesprechung am 09.07.1924 (AdR Nr. 248) äußerte sich Brauns in die gleiche Richtung: "Wenn man das Washingtoner Übereinkommen annehme, so sei das Gutachten nicht zu erfüllen". 290 ILC 1924 (Minutes). S. 74. 291 Note personnelle, a.a.O .. 298 ILC 1924 (Minutes), S. 81.

II. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

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Daß sich der deutsche Arbeitgebervertreter Vogel bei seinem Auftritt in Genf nicht einer einheitlichen Front der deutschen Arbeitgeber gegen das WAZ sicher sein konnte, hatte eine Sitzung des Tarifausschusses der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände vom 16.06.1924 gezeigt299: Wurde einerseits die Befürchtung geäußert, die Regierung werde sich in Genf "allzu sehr zugunsten des 8-Stundentags" festlegen, so erwiderte die Versammlung, "daß man bei der Regelung der Arbeitszeit auf die Stimmung des Auslandes eine gewisse Rücksicht nehmen müsse: "Mindestens müßte formell auch in Zukunft das Arbeitzeitabkommen von Washington maßgebend bleiben". Wie stark der Riß zwischen der Verarbeitungs- und Schwerindustrie in ihrer Einstellung zur Arbeitszeitverlängerung im Gefolge der Arbeitszeitverordnung war, verdeutlichte eine Mahnung des Vorstandes der Vereinigung an die Verarbeitungsindustrie, doch dem Beispiel der Schwerindustrie zu folgen und die Arbeitszeit zu verlängern.300 Diese Auffederung sprach den Wehklagen der Arbeitgeber über den Schematismus einer jeden gesetzlichen Arbeitsregelung Hohn.301 Von größerer internationalen Bedeutung für den weiteren Verlauf der Diskussionen um die Ratifikation waren die Redebeiträge des englischen Regienmgsvertreters Rhys Davies und des Direktors des BIT. Abgesehen davon, daß Deutschland entgegen dem Willen des RAM zum Ausgangspunkt der JAK-Arbeitszeitdiskussion gemacht worden war, waren es diese beiden Reden, die Brauns Konzept einer dienenden Rolle der auswärtigen Sozialpolitik in Frage stellten. Während Brauns am 23.06.1924 dem Auswärtigen Amt telefonisch noch den deutschen Erfolg bei den Verhandlungen über die Resolution der IAK hatte mitteilen können, zog er am 27.06. im Rahmen eines außerordentlichen Tagesordnungspunkts einer Ministerbesprechung die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf eine Rede des Direktors vom Tag zuvor.302 Thomas habe sich darin "außerordentlich scharf über die Nichteinhaltung des 8-Stundentags geäußert". Brauns Wunsch nach einer amtlichen Erwiderung wurde Rechnung getragen. Dabei floß auch die Meinung Stresemanns ein, "wonach die Darlegungen Thomas von einer ganz verkehrten Auffassung des Sachverständigen-Gutachtens ausgingen".303

299 300

25'

Aufzeichnung des DIHT, R 11/1249. Geschäflsbericht der Vereinigung Deutscher ArbeitgebeiVerbände (VDA) 1923/24, S.

3~i H.·H. Herzog, S. 442. 302 AdR Nr. 236.

303 Ebd. Die halbamtliche Erklärung ist auszugsweise abgedruckt in Fußnote 2 zu AdR Nr 236: siehe auch "Deutsche Allgemeine Zeitung" Nr. 300 vom 28.06.1924, und "Vorwärts" Nr. 300 vom 28.06.1924.

II Gnbh..,.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Was war geschehen? Zunächst hatte der englische Regierungsvertreter, Rhys Davies die These aufgestellt, das Sachverständigengutachten basiere bei der Berechnung der Deutschland ökonomisch zuzumutenden Reparationslasten auf der Annahme, der 8stündige Normalarbeitstag werde weiterhin eingehalten. Zur Begründung berief sich Davies auf den Abschnitt des Dawesplanes, der sich mit der Steuerbelastung Deutschlands befaßte. Diese sollte auch nach Beginn der Reparationszahlungen nicht höher sein als die Steuerbelastung der Alliierten ("commensurate taxation").304 "lt follows, accordingly, that there is nothing in the Experts' Report, or elsewhere, to suggest or even found, any argument for the adoption of conditions of work less favourable to the workers in Germany than those in force in Allied countries"305, so die Interpretation des englischen Regierungsvertreters. Thomas nahm in seiner Rede ebenfalls Bezug auf den Dawesplan. Obwohl dieser keine expliziten Ausführungen zur Arbeitszeit enthielt, konnte nach seiner Ansicht kein Zweifel an der Richtigkeit der von Davies aufgestellten These bestehen.306 In einem späteren Brief an die Redaktion des "Vorwärts", der dort auch publiziert wurde307, gab der Direktor an, er sei "außerordentlich erstaunt gewesen, als die englischen Regierungsvertreter meine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt haben". Daraufhin habe er den Dawesplan noch einmal durchgelesen und habe sich dessen Ergebnissse für seine Argumentation zugunsten des 8-Stundentages zu Nutze gemacht. Da Thomas von den "englischen Regierungsvertretern" spricht, war es wohl nicht erst die Rede von Rhys Davies vom 25.06., die seine Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Dawesgutachtens im Rahmen der Arbeitszeitdiskussion gelenkt hatte. So ist zu verstehen, daß bereits mit Datum vom 20.06.1924 eine "Note" Thomas überliefert ist, in der er seinen Mitarbeiter Berthelot folgende Anweisung gab308: "Je voudrais que vous me relisiez avec attention ... tout le rapport Dawes du point de vue des huit heures. La these que nous soutenons est que le rapport tout entier a ete etabli sur les huit heures ... vous comprenez Je but: C'est dans Ia discussion des huit heures, que je puisse avoir besoin de cette partie d'argumentation". Die Anweisung Thomas an seinen Mitarbeiter vom 20.06., die Rede Davies vor der IAK am 25.06. sowie eine Aussage MacDonaids vor dem englischen :

ILC 1924 (Minutes). S. 82 f. A.a.O .. S. 83. 306 A.a.O .. S. 101 ff. 105. Als weitere Begründung zitierte Thomas Art. VIII b, 1. Teil des Gutachtens. in dem davon die Rede war. daß trotz der Reparationszahlungen die deutschen u~_W ausländischen Produzenten die gleiche Lasten durch Steuern und Löhne zu tragen hätten. ~ Nr. 317 vom 08.07.1924; BriefThomas vom 30.06.1924. CAT 6C-7-l. CAT 5-2-10-4.

II. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

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Parlament Anfang Juni, in der dieser die Notwendigkeit einer Arbeitszeitverlängerung zur Durchführung des Sachverständigengutachtens verneinte309, hatten jedoch noch einen tieferen Hintergrund. Sechs Tage vor seiner Anweisung hatte Thomas das Gespräch mit Brauns geführt. Darin hatte der RAMinister versucht, die Arbeitszeitverlängerung auch mit der folgenden, bisher noch nicht dargestellten Argumentation zu rechtfertigen: "Wenn man, ehe man Deutschland bestimmt umrissene Verpflichtungen auferlegt hätte, genauso wie man die wirtschaftliche Seite der Reparationsleistungen geprüft hat, die soziale Seite und die sozialen Möglichkeiten untersucht hätte, dann stünde die ganze Sache anders. Heute sind die Verpflichtungen bereits festgelegt". Die Einhaltung des 8-Stundentags und die Lasten des Dawesplans seien für Deutschland eine "doppelte Belastung". Zwar könne es Deutschland "nur recht sein", wenn man zur Sicherung des 8Stundentages die Reparationen ermäßige. "Im gegenwärtigen Stadium" hielt dies Brauns allerdings für "undenkbar". Obendrein gefährde eine erneute Grundsatzdiskussion über die Reparationshöhe eine schnelle Lösung des Problems und setze Deutschland angesichts seiner Kreditnot der Gefahr einer neuen Inflation aus. Dem erwiderte der Direktor, daß sich "die ganze Welt .. hinter die Forderung auf Ermäßigung der Verpflichtungen" stellen werde, wenn ansonsten "der Lebenstandard der deutschen Arbeiterschaft gefährdet wird".310 Darauf Brauns im Stil des Erfüllungspolitikers: "Sie werden die Schwäche des Friedensvertrags nicht durch Verhandlungen in Genf verbessern, sondern dadurch, daß die Tatsachen die Unmöglichkeit des Vertrags zeigen".311 Hatte Thomas am Rande einer Verwaltungsratssitzung im April1924 dem deutschen Regierungsvertreter noch erklärt, "seines Wissens hätten die Sachverständigen die Frage ganz vernachlässigt"312, so brachte der RAMinister den Dawesplan jetzt in einer für Thomas, den Verteidiger des 8-Stundentags, unangenehmen Interpretation seiner arbeitszeitpolitischen Konsequenzen in Erinnerung. Die deutsche Regierung war offensichtlich nicht bereit, das Arbeitszeitproblem mit dem Ziel einer Ermäßigung der Verpflichtungen in die Reparationsverhandlungen einzubringen. Bereitwillige Erfüllung der Reparationsforderungen sollte deren öko309 So der Bericht des deutschen Botschafters in London, Sthamer, vom 30.07.1924, PA6WRep/Friedensvenrag 13. 31 Protokoll. a.a.O. (14.06.), S. 3. 311 Ebd .. Vgl. auch Note personnelle sur ma conversation avec Brauns (16.06.1924), CAT

6~-7·1.

12 Siehe oben Kapitel II la. Vgl.auch seinen Bericht, ILC 1924 (Director's Report), S. 829, wo er davon ausgegangen war, daß die Expenen dem Arbeitszeitaspekt nur beiläufige Beachtung geschenkt hatten; Brief an Chappey vom 05.04.1924, 94 AP 378. Vgl auch Brief Butler an Thomas vom 03.05.1924, CAT 4-36.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

nomische Absurdität und den daraus erwachsenden sozialpolitischen Flurschaden in Deutschland erweisen. Mit seinem Rekurs auf Art. 14 des WAZ als Ausnahmebestimmung für reparationsbedingte Mehrarbeit oder mit der Idee einer internationalen Vereinbarung zur Sicherung des Mehrarbeitserlöses für Reparationszwecke - dies mußte Thomas in diesem Zusammenhang langsam klar geworden sein - hatte er zwar französischen Reparationsinteressen nützen wollen, doch nach den Aussagen Brauns fand er sich unversehens in der Rolle eines Handlangers deutscher Erfüllungspolitik wieder, deren Spitze gegen Frankreich gerichtet war.313 Einige Monate später entschuldigte er sich in der Zeitschrift "Die Gesellschaft" für seinen Irrtum.3I4 War Deutschland nicht bereit, die Arbeitszeitkarte auszuspielen und wollte Frankreich nur mit einem Bekenntnis zur Ratifikation, nicht aber mit einer Herabsetzung der Reparationen die Arbeitszeitreform sichern bzw. vorantreiben, so konnte sich das BIT möglicherweise von der englischen Arbeiterregienmg eine wirksamere Unterstützung erhoffen. Denn die englische Labour Regierung fürchtete arbeitszeitpolitisches Dumping aus Deutschland und hatte aus sozialpolitischer Überzeugung ein großes Interesse an der 8Stundentagsreform. Bereits kurz nach Veröffentlichung des Gutachtens hatte die englische Staatssekretärin Bondfield auf einer Verwaltungsratssitzung erklärt, die englische Regierung werde allen Hinweisen aus Genf auf soziale Unzuträglichkeiten im Gefolge der Reparationen ein offenes Ohr leihen. In einem zehnseitigen Memorandum "On the Hours Convention", das vom BIT wohl Mitte Mai 1924 erstellt und an England adressiert worden war, wurde die bisherige Geschichte der Ratifikationsdiskussionen, die Position Englands und auch der Zusammenhang mit der Reparationsfrage ausführlich erörtert.JIS Angesichts der Arbeitszeitverlängerung in Deutschland stand für den Verfasser der 8-Stundentag in Europa auf dem Spiel. Da zudem die Arbeitzeitfrage innerhalb einer zukünftigen Reparationslösung eine herausragende Rolle spiele, sei es nicht übertrieben zu sagen, "that the attitude of the British Government, as expressed by its Delegates at the June Conference, will have very great effect on the position". Vorallern die Arbeiterschaft des Kontinents erwarte auf der IAK ein klares und unzweideutiges Bekenntnis Englands zum 8-Stundentag. Waren diese Informationen aus Genf noch sehr allgemeiner Natur, so änderte sich dies entscheidend, als am 17.06.1924 - über eine Woche vor der 313 Vgl. Thomas Protokoll. a.a.O. (13.06.), S. 3. wo er von "heftigen Auseinandersetzungen mit französischen Staatsmännern" spricht. 314 Die Gesellschaft 1924, S. 219 ff. 315 Butler Archives 49; das Kürzel des Verfassers ist "HAG" und deutet auf Grimshaw hin.

II. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

165

Rede Davies in Genf- der stellvertretende Direktor des BIT, der Engländer (!) Butler, einen persönlichen Brief an den englischen Arbeitsminister Tom Shaw schrieb.316 Darin berichtete er über die strengvertrauliche Besprechung zwischen Thomas und Braunsam 13./14.06.1924. Trotz starken Drucks seitens des BIT sei der deutsche RAMinister ("a very able and astute man, but certainly not progressive in his ideas") in der Arbeitszeitfrage hart geblieben. "His first line of defence was that Germany could not be expected to pay reparations and to adopt the same social Standards as other countries ... ; hence, either the reparations claims must be reduced, or the countries must accept the necessity for Germany to work Ionger hours". Auf den Vorhalt, die Reparationen seien jetzt begrenzt worden, habe Brauns entgegnet, ("his second line"}, der allgemeine Ruin der deutschen Wirtschaft fordere ohnehin längere Arbeitszeiten. Mit dieser Darstellung verkürzte Butler den Inhalt des Gesprächs und die Äußerungen Brauns in einem wichtigen Punkt. Der RAMinister hatte zwar das Beibehalten des 8-Stundentags in Deutschland mit dem Erfordernis niedriger Reparationen in Zusammenhang gebracht. Er hatte dies aber nicht in einem fordernden entweder-odcr-Stil formuliert wie Butlers Brief das zum Ausdruck brachte. Brauns hatte vielmehr hypothetisch gesprochen, und zwei Punkte unterstrichen: Das vitale Interesse Deutschlands an einer raschen Durchführung des Dawesplans und die politische Unmöglichkeit, im Juni 1924 die Höhe der Reparationen noch zu senken. Durch Butlers Schreiben konnte auf englischer Seite einmal der Eindruck entstehen, Brauns erwäge tatsächlich, an der Höhe der im Dawesplan festgelegten Reparationen den arbeitszeitpolitischen Hebel anzusetzen. Ob der stellvertretende Direktor und das BIT eine solche Wirkung in London bewußt erzielen wollten, darüber gibt es keine ausdrücklichen Äußerungen. Jedenfalls legt neben der Formulierung des Butler-Briefes die Sichtweise Thomas, wonach "über diese Dinge .. doch schließlich einmal geredet werden "317 eine solche Interpretation nahe. In einer persönlichen Aufzeichnung über sein Gespräch mit Brauns notierte Thomas auch318:" ••• s'il etait etabli que l'Allemagne ne peut donner les reparations exigees que moyenant de journees de onze ou douze heures pendant cinq, six, ou dix ans, ... il serait impossible pour Ia Commission des Reparations ou !es Allies de maintenir !es exigences et qu'ainsi on est bien amene a envisager l'emsemble du probleme". Doch selbst wenn das BIT nicht bewußt den Eindruck deutscher 316

CAT 5-64-1-2; bereits zuvor war die Staatssekretärin Bondfield von dem Gespräch unterworden. Protokoll. a.a.O. (14.06.). S. 4. Note personnelle, a.a.O ..

ri)~}et 318

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Forderungen nach einer Senkung der Reparationen hervorrufen wollte, mußte der Brief Butlers aus englischer Sicht besorgniserregend wirken. Die von Butler korrekt wiedergegebene Meinung des deutschen RAMinister, Deutschland könne schon aus allgemeinen, nationalökonomischen Gründen nicht anders als seine Arbeitszeit verlängern, berührte englische Konkurrenzängste erheblich.319 Mit dem in Aussicht gestellten Kapitalzufluß nach Annahme des Dawesgutachtens war ein wirtschaftlicher Aufschwung Deutschlands zu erwarten, der natürlich auch der traditionell starken deutschen Exportindustrie zugutekommen würde. Eine dauerhafte Verlängerung der Arbeitszeit im Sinne des Braun'schen Argumentation bewegte folglich nicht nur das soziale Gewissen der englischen Arbeiterregierung, sondern drohte zu einer handfesten sozialpolitischen Subvention an die mit Großbritannien auf dem Weltmarkt konkurrierende deutsche Industrie zu werden. Die von Jouhaux auf der IAK zitierten Äußerungen des englischen AIbeitsministers anläßlich einer Genossenschaftsausstellung in Gent illustrieren diesen Zusammenhang: "Wenn die Deutschen aber 10 Stunden arbeiten würden, würde der Kapitalismus der anderen Länder vorgeben, daß jeder wirtschaftliche Wettbewerb mit Deutschland unmöglich sei ohne eine Verlängerung der Arbeitszeit".320 Auch der deutsche Botschafter in England Sthamer, der den Auftrag hatte das reparationspolitische Feld in seiner Verbindung mit der Arbeitszeit zu sondieren, konnte dort nur eine Front der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und des Staates für den 8-Stundentag feststellen.321 Nachdem Butler in einem Brief an Thomas noch im Mai 1924 sein Erstaunen darüber ausgedrückt hatte, warum es sich die Regierungen "particularly the British Government"322, aus außenwirtschaftliehen Gründen überhaupt leisten könnten, bei den Reparationsverhandlungen den Arbeitszeitaspekt außen vor zulassen, so war der stellvertretende Direktor nun in der Lage aus Anlaß der Unterredung mit Brauns von dem Angebot der englischen Regierung Gebrauch zu machen, alle Informationen aus Genf "in relation to the degradation of the standard of life as a consequence of the

319 Vgl. hierzu Wolfgang Krieger. S. 329 ff, 339; Brief Butler an Thomas vom 03.05.1924, CAT 4-36; P. Krüger "Außenpolitik ... ". S. 257: England erhob nach Annahme des Dawesplanes wieder eine 26 %ige Ausfuhrabgabe auf deutsche Waren (Reparations Recovery Act). 320 Zitiert nach Henseler, "Zcntralblatt der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands" Nr. 14 vom 21.07.1924; ILC 1924 (Minutes), S. 64: siehe auch die Äußerung Brauns auf der Ministerbesprechungvom 11.07.1924. AdR Nr. 15. 321 Bericht vom 02.06.1924, PA/Gesandtschaft ßem/lnternationales Arbeitsamt 490/1; siehe auch den Bericht von der 24. Tagung des VeiWaltungsrats, ZStA/RAM/815, BI. 24 f, darin au~ ein VeiWeis auf ein Schreiben vom 13.06.1924. 3 Brief vom 03.05.1924, CAT 4-36.

II. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

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reparations discussion"323 mit wohlwollender Aufmerksamkeit ("sympathetic attention") zu bedenken. Die Resolution der IA.K und die Meldung nach London stellten somit zwei Komponenten einer Politik des BIT dar, dessen Ziel die Einbeziehung der Arbeitszeitproblematik in die Reparationsverhandlungen war. Mit der von Jouhaux und mit Billigung Thomas im Namen der Arbeitnehmergruppe eingebrachten Resolution sollte die französisch dominierte Reparationskommission auf die sozialpolitischen Folgen ihrer Entscheidungen aufmerksam gemacht werden. Das Schreiben Butlers vom 17.06.1924 an die englische AIbeiterregierung war ihr (englisches) Gegenstück. Während der IAK-Resolution aus deutscher Sicht mit dem Zusatz, sozialpolitische Probleme sollten die Umsetzung des Dawesplanes nicht gefährden, die reparationspolitische Brisanz genommen wurde, erhöhte die auf den Vorstoß des BIT erfolgte Reaktion der englischen Regierung, sprich die Rede von Davies am 25.06. in Genf, die deutsche Angst vor einer Überfrachtung der Reparationsverhandlungen mit arbeitszeitpolitischen Vorbedingungen. Da England im Wege der Interpretation die arbeitszeitpolitische Lücke des Dawesplans ausfüllte und sich Thomas dem bereitwillig anschloß, drohte aus deutscher Sicht der Fall einzutreten, den Brauns mit seiner Abschirmungstaktik ständig zu verhindern gesucht hatte: Die verzögerte Annahme des Dawesplanes entweder aufgrund (internationaler) arbeitszeitpolitischer Diskussionen oder aufgrund eines nationalen Aufschreis in Deutschland, neben der wirtschaftlichen nicht auch noch die sozialpolitische Versklavung akzeptieren zu wollen. Spekulativ, aber wegen der bekannten Äußerungen Bondfields im Verwaltungsrat und wegen der gegen die Reparationshöhe gerichteten strategischen Spitze Brauns'scher Arbeitszeitpolitik nicht fernliegend ist, daß der RAMinister bei seinem Gespräch mit Thomas eine entsprechende Meldung des BIT nach London bewußt in Kauf nahm, ja sie sogar herbeizuführen suchte. Das BIT also in der Rolle eines Erfüllungsgehilfen deutscher Reparationspolitik? Das Ergebnis einer solchen Politik Brauns war jedoch mehr als negativ und drohte den Abschluß des Dawesabkommens aus deutscher Sicht zu belasten. Die Schärfe der gegen Deutschland gerichtetenAngriffe von 17wmas, die Brauns im Verein mit Stresemann denAnlaß boten, das Kabinett am 27.06.1924 zu einer offiziellen, abwehrenden Stellungnahme zu bewegen, hatte in dieser reparationspolitischen Dimension der Reden des englischen Regierungsvertreters und des Direktors ihre Ursache.

323 So die Staatssekretärin Bondfield auf der Verwaltungsratssitzung vom April 1924, siehe oben.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Gutgemeinte Beschwichtigungsversuche Thomas, wonach der deutsche Widerstand "contre la multiplicite des contröles" sein vollstes Verständnis genieße und er niemals an eine internationale Kontrolle der deutschen Arbeitszeit gedacht habe32\ verblaBten vor diesem Hintergrund und angesichts folgender Äußerungen Thomas: "Donc, pas de contröle, pas d'inspecton du travail de caractere international en Allemagne, mais la garantie donnee par entente internationale que les conclusions des experts seront respectees dans leur integrite"325 . Im Vordergrund der halbamtlichen Regierungserldäruni26 stand daher die von Stresemann eingebrachte Passage, daß Thomas Rede "eine durchaus falsche Auslegung des Sachverständigengutachtens" enthalte. Zur Begründung verwies die Regierung zu Recht auf den Umstand, daß der Dawesplan mehr als drei Monate nach lokrafttreten der deutschen Arbeitszeitverordnung vorgelegt worden sei und die Experten trotz Kenntnis der Arbeitszeitverlängerung mit keinem kritischen Wort darauf Bezug genommen hätten. Schließlich sei die Regelung der Arbeitszeit eine "Angelegenheit der deutschen Souveräntität". Daß man den englischen Regierungsvertreter, der auf der IAK immerhin als erster die für Deutschland bedrohliche Interpretation des Gutachtens öffentlich propagiert hatte, von jeder Kritik ausnahm, entsprang wohl dem taktischen Kalkül, Großbritannien als unmittelbaren Verhandlungspartner in Sachen Reparationen nicht in eine Arbeitszeitpolemik oder -diskussion weiter hineinzuziehen. Die Rede Thomas auf der IAK war im übrigen durchaus von Verständigungbereitschaft gegenüber Deutschland und Ausgewogenheit im Urteil gekennzeichnet. Einerseits charakterisierte er zwar die von Leymann verlesene Regierungserklärung als "un peu rude"327 und obendrein brandmarkte er die Wiedereinführung des Zweischichtensystems mit 12stündiger Arbeitszeit als "barbarisch".328 Dabei erwähnte er jedoch "diskreterweise" nicht, daß der Deutsche Christliche Metallarbeiterverband ihm dessen Eingabe an die Reichsregierung zwecks Wiedereinführung der dreigeteilten Arbeitsschicht für Schwerarbeiter in Betrieben der Großeisenindustrie übersandt und mit der Bitte um Unterstützung versehen hatte.329 Daß zwi32-l 325

ILC 1924 (Minutes), S. 105. 107. A.a.O., S. 106; im Anschluß daran verschärfte Thomas seine Aussage noch, in dem er meinte, diese Garantie könne in Zusammenarbeit mit der Reparationskommission gefunden wi~en, "qui aura pour mandat de veiller a l'execution des conclusions des experts", S. 107. Abgedruckt im "Vorwärts" Nr. 300 vom 28.06.1924. 327 ILC 1924 (Minutes), S. 107. 328 A.a.O., S. 102. 329 Brief Henseler an Otte vom 10.07.1924, Henseler Papiere 13d. Absender des Schreibens an Thomas war der Verbandsvorsitzende und Zentrumsabgeordnete, Franz Wieber.

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sehen der Kritik Thomas am Zweischichtsystem und der Meinung des RAM keine Welten lagen, zeigt auch die Begründung für einen Schiedspruch des RAM vom 24.06. Die bestehende Arbeitszeitregelung in der Eisen- und Metallindustrie, die nur aufgrund der fortdauernden wirtschaftlichen Notlage zu rechtfertigen sei, bedeute "eine schwere Belastung für die Arbeiterschaft'' und könne "aus gesundheitlichen, sozialpolitischen und ethischen Gründen auf die Dauer nicht aufrechterhalten ".330 Auf der anderen Seite hob Thomas hervor, daß gerade die Erklärungen Leymanns die Vermutung bestärkten, wonach die Lage unter der neuen Arbeitszeitverordnung gar nicht so schlimm sei wie man immer gedacht habe.331 Zudem erkenne Deutschland das Prinzip des 8-Stundentags weiter an und habe versucht, Licht auf die außergewöhnlichen Hintergründe seiner Arbeitszeitverlängerung zu werfen.332 Der Direktor war überzeugt, eine ganz und gar objektive Rede gehalten zu haben333 • Daß sich an ihr und an den Vorgängen auf der IAK im allgemeinen eine scharfe Polemik in der deutschen Öffentlichkeit entzündete334, beobachtete er aber auch mit großem Gefallen335: "Notre Conference internationale du Travail a determine un mouvement de renaissance en Allemagne ... C'est Ia premiere fois que nous exer~ons une influence aussi directe et aussi efficace".336 Der "Vorwärts" bezeichnete die offizielle Stellungnahme der deutschen Regierung auf der IAK als eine "Kriegserklärung an die Arbeitnehmer Deutschlands".337 In einem Gespräch mit der Reichsregierung zeigten sich die Gewerkschaften verstimmt über die deutsche Haltung in Genf33, die als eine ausdrückliche Ablehnung der Ratifikation interpretiert wurde.339 Wie geteilt die Meinungen über die IAK innerhalb der christlichen Arbeitnehmerschaft war, zeigen folgende Sachverhalte: Ein Artikel des BIT-Mit330 Zitiert nach I. Steinisch. S. 500; Michael Schneider, "Die Christlichen Gewerkschaften ...•, S. ~28. :3~ ILC 1924 (Minutes), S. 102. A.a.O., S. 103 f. 333 Auch Oberregierungsrat Kuttig (RAM) bescheinigte dem BIT, "daß ehrliches Streben und viel Sachkunde ... darauf verwandt wurde, etwas Nützliches zustande zu bringen", "Soziale Praxis" 1924 Nr. 38, Spalte 786. 33-1 Ein kurzer Überblick über einige Pressestimmen in: "Gewerkschaftszeitung" Nr. 29 vom 19.07.1924: siehe auch Brief Butler an Shaw vom 14.071924, Butler Papers XR 25/3/6. 335 Brief an den "Vorwärts" vom 30.06.1924. CAT 6C-7-J. 336 Brief an Dr. Royal Meeker (USA) vom 21.08.1924, 94 AP 386. 337 Nr. 322 vom 11.07.1924: siehe auch 10.07.1924 (Nr. 320): 09.07. (Nr. 318); 06.07. (Nr. 314); 0~3~7. (Nr. 313); 17.10. (Nr. 332); ArA-Bundeszeitung Nr. 8 (August 1924). Besprechung vom 11.07.1924, ADGB DOKUMENTE 15. 339 So Leipart auf der Sitzung des Bundesausschusses vom 21.07.1924 ADGB DOKUMENTE 16; siehe auch "Gewerkschaftszeitung" Nr. 28 vom 12.07.1924.

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arbeiters Henseler wurde im "Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften" nur mit einer Vielzahl von Anmerkungen der Redaktion veröffentlicht, in denen gravierende Meinungsunterschiede zum Ausdruck kamen.340 Auf einen weiteren Beitrag des BIT-Mitarbeiters vom 03.07 in der "Kölnischen Volkszeitung" reagierte Brauns gar mit einer persönlichen Ermahnung. Im Kern hatte Hermann Henseler mit diesem Artikel die zu große Ehrlichkeit der deutschen Regierung während der IAK kritisiert. In einer Zeit, in der in den Ländern die Aussichten für die Ratifizierung günstig geworden seien, erkläre man in Deutschland mit "brutaler Offenheit: Wir wollen vom Achtstundentag nichts wissen ... aber diese Ehrlichkeit ist umso unpsychologischer als sie erstens übertrieben ist, indem sie über den in dem durchaus elastischen und nichts weniger als schematischen Washingtoner Übereinkommen umschriebenen Begriff des Achtstundentages ... weit hinaus geht und zweitens angesichts der nun einmal nicht wegzudisputierenden Einstellung der Arbeiterschaft aller Länder, auch der deutschen und nicht radikalen, für diese einen Schlag ins Gesicht bedeutete". Nachdem Brauns von dem ansonsten moderatenl4 1 Artikel nicht nur zufällig Notiz genommen hatte, sondern nachdem ihm der Artikel auch im Amt vorgelegt worden war, wies er Henseler in einem privaten Brief vom 11.07.1924 zurecht: "Ich glaube, daß für Sie doch eine gewisse Zurückhaltung bei öffentlicher Kritik der Reichsregierung und des Verhaltens des Reichsarbeitsministeriums am Platze wäre".342 Zur Begründung erinnerte Brauns Henseler daran, daß dieser nicht nur Angestellter sondern Vertreter der deutschen Christlichen Gewerkschaften sei, "die den letzten Ereignissen in Genf mindestens ebenso kritisch gegenüber getreten sind, wie ich". Außerdem handele "es sich nicht bloß um sozialpolitische Dinge, sondern um hochpolitische Angelegenheiten in entscheidenden Stunden".l43 Brauns war immer noch froh, nicht in offizieller Mission nach Genf zur IAK gekommen zu sein, denn das hätte ihn in eine "sehr unangenehme Lage" gebracht. Darüber "was hier läuft und wie man hier in der Reichsregierung die Dinge sieht", mochte der RAMinister allerdings keine näheren Auskünfte geben. Wenige Tage später erwiderte Henseler das Schreiben Brauns und brachte folgendes zu seiner VerteidiNr. 14 vom 21.07.1924: siehe dazu auch "Gewerkschaftszeitung• Nr. 32 vom 09.08.1924. Zum Beispiel betont Henseler ausdrücklich, daß die Frage der Arbeitszeit eine "innerdeutsche Angelegenheit , in der niemand Deutschland Vorschriften zu machen hat". Die Gefahr eines sozialen Dumpings bestehe nicht, denn Deutschland sei durch die MICU~-Lasten sehr stark belastet. 34 Briefvom 11.07.1924, Henseler Papiere 1. 343 Der folgende Satz lautet: "Die Stimmungen in Genf sind, wie Ihnen die letzten Ereignisse in Paris bewiesen haben werden. durchaus nicht entscheidend für den Gang der Politik". Die Verneinung widerspricht nicht nur dem vorherigen Satz. sondern auch den äußeren Umständen, und stellt daher wohl ein Verschreiben dar. 3-W 341

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gung vor344 : Obwohl er von der "Dezemberverordnung" gesprochen habe, sei sein Artikel in erster Linie auf das Mehrarbeitsabkommen vom 30.12. bezogen gewesen. Er habe sich auch an die den Katholischen Vereinen nahestehenden industriellen Kreise gerichtet. Außerdem gab Dr. Tänzler von der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, der den Artikel gelesen hatte, Henseler "durchaus Recht" und sagte, "daß seine Zentrale durchaus damit einverstanden, daß jedoch gewisse Herren von Nordwest nichts davon wissen wollen"?~5 Daß die Arbeitgeberschaft in der Frage des 8-Stundentages nicht wie ein Mann hinter ihren Delegierten auf der IAK, Herr Vogel aus Chemnitz stand, wurde so auch mit dieser Äußerung Tänzler deutlich. Henseler wollte gegenüber Brauns jedoch auch klarstellen, daß er nicht auf der Seite der deutschen Sozialdemokratie "mit ihrer Starrheit in der schematischen Auffassung des 8-Stundentags" stand: "Und wenn ich von unpsychologischen, bürokratischen Interpretationen spreche, dann richtet sich das natürlich an die Adresse derer die es angeht". Genauso wage wie dieser Satz, der durch die Erwähnung "bürokratische Interpretationen" auch auf die Regierungspolitik hinwies, war der gesamte Rechtfertigungsversuch Henselers. Mit dem Wort "Dezemberverordnung" konnte nur die Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923 gemeint sein, zumal Henseler einige Abschnitte zuvor in seinem Beitrag für die "Kölnische Volkszeitung" von "Verordnung" gesprochen hatte. Henseler bezweckte mit seinem Artikel eine Kritik der deutschen Arbeitszeitpolitik Und er wiederholte sie sogar am Ende seines Briefs an Brauns:"... eher bin ich der Meinung, daß das Reichsarbeitsministerium bereits so gefestigt ist, als daß es eine solche 'Kritik', die kaum als solche bezeichnet werden kann, nicht vertragen könnte".346 Mit seinem Schreiben an Brauns bemühte sich Henseler, den Schaden zu begrenzen und Verstimmungen in entscheidenden politischen Stunden, die unerwartete Empfindlichkeiten des RAM offengelegt hatten, zu vermeiden. Durch sein Angebot, in Zukunft auch öffentlich gegen die sozialdemokratische, starre Interpretation des 8-Stundentags aufzutreten, bot sich Henseler dem RAMinister als wertvoller Partner in der innenpolitischen Arbeitszeitdebatte an. In einem weiteren Artikel, der am 14.07.1924 (Nr. 535) in der "Kölnischen Volkszeitung" erschien, nahm Henseler auf diese Kontroverse keinen Bezug mehr. Er hob statt dessen die für Deutschland positiven Veränderungen während der vergangeneo IAK hervor: Erstmals waren deutsche Redner von amtlichen Dolmetscher übersetzt worden und Geheimrat Dr. Leymann z.B. war zum Vorsitzenden einer der Hauptkommissionen gewählt worden. Rücken auch diese Vorgänge das Bild Brauns von der IAK als einem "Scherbengericht über Deutschland" in einen anderen Zusam:Handschriftlicher Briefentwurf, datiert auf 14.07.1924, Henseler Papiere 13d. 346 A.a.O., S. 3. A.a.O., S. 7.

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menhang, so bleibt schließlich zu erwähnen, daß nicht nur Henseler die Regierung kritisierte, sondern auch der Zentrumsabgeordnete und Vorsitzende der Westdeutschen Katholischen Arbeitervereine, Joseph Joos. Dieser wurde "die Empfindung nicht los", als hätten der deutsche Regierungs- und Arbeitgebervertreter auf der IAK "mitunter stark daneben geredet".347 "Der Deutsche" dagegen, das Blatt Stegerwalds (Zentrum), glaubte eine "Hetze gegen Deutschland" zu erkennen348 und verurteilte die "erschreckende Unsachlichkeit" und die "demagogischen Tendenzen" auf der IAK - "trotz aller gelegentlichen Beschwichtigungsversuche des Herrn Thomas".349 Eine andere Stimme gab in derselben Ausgabe des "Deutschen" jedoch zu bedenken, daß "die für die deutsche Politik verantwortlichen Instanzen" nach einer Ratifikation des WAZ durch andere Industriestaaten "nochmals recht ernsthaft Stellung nehmen und untersuchen müssen, ob seine Elastizität nicht doch ausreichend ist, den Notwendigkeiten der deutschen Wirtschaft gerecht zu werden".JSO Daß die deutsche Regierungserklärung nicht voll überzeugen konnte, führte Heinz Krell in einem späteren Beitrag für den "Deutschen" auch auf folgenden Umstand zurück: "... dem Ausland nicht verborgen geblieben sein .. , daß bei einem nicht unerheblichen Teil der deutschen Unternehmer die getroffenen Maßnahmen nicht in Notwendigkeiten begründet waren, sondern in einer grundsätzlichen Gegnerschaft zum Achtstundentag fußten". 351 Die Befürchtungen der deutschen Wirtschaft faßte "Der Arbeitgeber" wie folgt zusammen: "Die Gefahr einer internationalen Kontrolle unserer Sozialpolitik ist deshalb umso größer, als hier internationale Gewerkschaftsziele und selbstsüchtige Konkurrenzerwägungen des Auslands in dem Streben nach Kontraliierung Deutschlands zusammengehen".352 Eine Ratifikation des WAZ lehnte Herman Meißinger, (bis 1926 Geschäftsführer der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände) sogar bei einem Vorangehen Eng-

347 "Westdeutsche Arbeiterzeitung" vom 19.07.1924, S. 112. 348 Nr. 160 vom 10.07.1924.

:

Nr. 152 vom 01.07.1924. Ebd .. 351 Nr. 208 vom 04.09.1924. 352 Beilage zu Nr. 14 vom 15.07.1924. Darin sind die auf der IAK gehaltenen Reden auch auszugsweise wiedergegeben. Siehe auch Tänzler, "Reparationen und Sozialpolitik" Nr. 12 vom 15.06.1924, der auf den Widerspruch aufmerksam macht zwischen der Behauptung, längere Arbeitszeiten brächten keine Produktionsvermehrung, und dem Gespenst eines sozialen Dumpings Deutschlands. Zur angeblichen Sorge des Auslands vor der deutschen Exponkonkurrenz siehe "Die Arbeitszeitfrage in Deutschland" ( = Schriften der VDA, Heft 8), August 1924, S. 10 ff. Diese Denkschrift wurde am 16.08.1924 dem Reichskanzler übersandt, R 43 1/2058, BI. 156.

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Iands und Frankreichs ab, weil damit die ausländische Konkurrenz nur einen Sieg über Deutschland davon tragen würde.m Thomas griff in einem offenen Brief an den "Vorwärts" noch einmal in die Debatte ein, die ganz nach seinem Geschmack verlief.3S4 Denn seit Anfang 1924 beabsichtigte er, öffentlichen Druck mit dem Ziel der Wiedereinführung des 8-Stundentags, den sich die Arbeiterbewegung in Deutschland allzu leichtfertig hatte rauben lassen, herzustellen. Im Einklang mit dem Präsidenten der IAK 1924, Hjalmar Brantin~, strich der Direktor nochmals heraus, daß er sein Ziel nicht in einer Arbeitszeitkontrolle Deutschlands sehe. "Für den europäischen Frieden unerläßlich .. , daß es über diesen Punkt zu einer internationalen Verständigung kommt, zugenauenÜbereinkommen zwischen den in Frage stehenden Nationen".356 Trotz der heftigen Wellenschläge, die die IAK in der deutschen Öffentlichkeit ausgelöst hatte, war sie auch Ausgangspunkt konkreter Verhandlungen über die Ratifikation des WAZ: Das Berner Ministertreffen vom September 1924. Nach der, wenn auch vagen Bereitschaft Englands und Frankreichs, das WAZ in naher Zukunft zu ratifizieren, sah Thomas die Gefahr einer Revisionskonferenz, wie noch vor einigen Monaten, als gebannt an.m Vorgeschichte und Verlauf der ersten Ministerkonferenz zum WAZ sind Gegenstand des folgenden Kapitels.

3. Das Berner Treffen der Arbeitsminister vom September 1924 a) Die Vorgeschichte- ein verhindertes Junktim zwischen Arbeitszeit und Reparationen

Am 09.07.1924 sprach der RAMinister die Arbeitszeit- und Ratifikationsproblematik in einer Ministerbesprechung nochmals358 an. "In der jetzigen "Der Arbeitgeber", Nr. 14 vom 15.07.1924. "VoiWärts", Nr. 317 vom 08.07.1924; siehe auch den BriefThomas an die Redaktion vom 30.06.1924. CAT6C-7-l. 355 "VoiWärts", Nr. 318 vom 09.07.1924. 356 Selbst die VDA erkannte an. daß es Thomas nicht unbedingt um eine sozialpolitische Kontrolle Deutschlands ging. "Die Arbeitszeitfrage in Deutschland", S. 10. 357 "VoiWärts", Nr. 317 vom 08.07.1924. 358 Bereits am 27.06. war die Rede Thomas auf der IAK Gegenstand der Ministerberatungen gewesen (siehe Kapitel 11.2.). 353

J5.l

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Situation die Frage des Achtstundentages von größter Bedeutung", denn der Reichtstagsausschuß werde die Angelegenheit am folgenden Tage behandeln, und sie werde "möglicherweise .. auch in London eine Rolle spielen".359 Nachdem Brauns die IAK als eine Art Scherbengericht über Deutschland bezeichnet hatte, nannte er die Gründe, warum alle Teilnehmer von der Annahme ausgegangen seien, die deutsche Zustimmung zum Dawesplan schließe die Ratifizierung des WAZ mit ein: "Es sei klar, daß nicht nur Frankreich, sondern auch England aus Konkurrenzgründen ein großes Interesse daran haben, daß der Achtstundentag in Deutschland streng eingehalten ".JeO Eine baldige Rückkehr zum regelmäßigen 8-Stundentag schloß Brauns jedoch aus: In "absehbarer Zeit" werde das Sachverständigengutachten an der wirtschaftlichen Not Deutschlands, der Ursache der Arbeitszeitverordnung, nichts ändern. Bei einer Ratifikation des WAZ sei das Gutachten folglich nicht zu erfüllen. Der von Frankreich beschrittene Weg, sich nämlich auf ein sehr weitgefaßtes Arbeitzeitsgesetz zu stützen und dessen Konformität mit dem WAZ einfach zu erklären, sei für Deutschland wegen des zu erwartenden "heftigen Widerstands" der Sozialdemokratie, deren Unterstützung für die Annahme der Dawesgesetze unverzichtbar war, kaum gangbar. Brauns Bitte um Rückendeckung für die deutsche Regierungserklärung in Genf, wonach "zur Zeit in Deutschland ein schematischer Achtstundentag nicht möglich sei", kamen seine Ministerkollegen bereitwillig nach. Das Kabinett nahm ferner als "feststehend an, daß das Gutachten die Regierung in der Frage des Achtstundentags in keiner Weise binde". Damit hatte das bürgerliche Minderheitskabinett, die von Brauns betriebene Abschirmtaktik in Bezug auf den Dawesplan nach der Ministerbesprechung vom 27.06.1924 nochmals bestätigt. Neben der innenpolitischen war es auch die reparationspolitische Relevanz der Arbeitszeitfrage, die sie erneut zum Gegenstand einer Kabinettssitzung werden ließ. Daß der 8-Stundentag bei den am 16.07. in London beginnenden Verhandlungen der Allierten um den Dawesplan "möglicherweise ... eine Rolle spielen" würde, diese Befürchtung des RAMinister hatte sich seit den beiden Reden Ryhs Davies und Thomas während der IAK noch verdichtet. Am 29.06.1924 hatten sich der englische und französische Arbeitsminister zusammen mit dem Direkorengespann aus Genf in Paris getroffen und ausdrücklich bekräftigt, "that the conclusions arrived at by the Experts were based on the main-

359

AdR Nr. 248. Ebd.; zu Frankreichs Konkurrenzangst siehe Deilage zu den Mitteilungen der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverhände (VDA) vom 17.09.1924. R 131/368. (übersetzte Artikel aus "L"usine" vom 12. und 19.07.). 360

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tenance of the eight-hour day".361 Auf Wunsch von Godarf62 erklärten die alliierten Minister außerdem: "That in no way was the question of reparations bound up with the increase of hours of work". Die auf der IAK erstmals aufgetauchte und für die deutschen Interessen so bedrohliche Interpretation des Dawesgutachtens war also keine Episode geblieben. Bereits drei Tage nachdem 17wmas mit seiner Rede die Arbeitszeitdiskussion auf der IAK beende! hatte, bestätigte der Schulterschluß des englischen und französischen Arbeitsminister in Paris auf hoher politischer Ebene, daß man die Einhaltung des 8-Stwzdelllages als eine der Säulen des Sachverständigengutachtens ansah. Beunruhigte das Zusammengehen Herriots und Mac Donaids am 21./22.06.1924 in Chequers die deutschen Außenpolitiker, so bedeutete das Pariser Treffen der Arbeitsminister vom 29.06.1924, daß die neuen sozialistischen Regierungen Englands und Frankreichs auch auf dem Gebiet der Internationalen Sozialpolitik aneinander rückten. Der erneuerten Entwaffnungsfordenmg der Regienmgschefs aus Clzequers363 folgte nun auch noch der arbeitszeitpolitische Anspntch der Arbeitsminster im Vorfeld der Verhandlungen über den Dawesplan.364 Dieser Vorstoß traf auf eine Reichsregierung, die im Gefolge der Diskussionen auf der IAK in der sozialpolitischen Öffentlichkeit isoliert schien und obendrein verstärktem innenpolitischen Druck (vgl. Vorbereitung eines Volksentscheids, sozialdemokratische Interpellation im Reichstag; s. dazu unten) in der Frage der Arbeitszeit zu erwarten hatte. Indem Brauns die Rückendeckung seiner Ministerkollegen einholte, suchte er die Position des RAM, für dessen Politik die Durchführung des Gutachtens prioritär war, sowohl im Innern als auch auf der internationalen Ebene zu befestigen. Im Auge hatte er dabei allerdings nicht nur die Abschirmung der Reparationsverhandlungen vor sozialpolitischen Störungen. Ihm war gleichfalls daran gelegen, bei möglicherweise bevorstehenden multilateralen Ministergesprächen über das WAZ nicht durch die Pariser Interpretation des Sachverständigengutachtens und eine deutsche Zustimmung in seinem Verhandlungspielraum gebunden zu sein.

361 Offizielles Kommunique. zitiert in: "The Eight Hour Day and Reparations", Memorandum für Tom Shaw, Butler Papers XR 25/3/6. Siehe dazu auch "Deutsche Allgemeine Zeitung" Nr. 302 vom 29.06.1924 und "Deutsche Arbeitgeber Zeitung" Nr. 27 vom 06.07.1924 (":~ifr neueste Trick"). So die Mitteilung Thomas an den Generalkonsul Aschmann in Genf, Bericht des deutscßJn Kon~~lats ~om 07.07.~924, ~A/G~sandlschafl_ Be~/490/1. . • P. Kruger, AußenpolUlk ... , S. -41; J. Banety, Les Relations franeo-aiJemandes ... ,

KfJJ·;~rüber hinaus bekräftigten der IGB und die Sozialistische Internationale am 14.07.1924

die Notwendigkeit der unverzüglichen Ratifikation und betonten, daß das Sachverständigengutachten jeden Angriff auf den 8-Stundentag in Deutschland ausschließe, "Vorwärts" Nr. 334 vom 18.07. und "Gewerkschaftszeitung" Nr. 30 vom 26.07.1924.

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Die Sondienmgen für eine Arbeitszeitkonferenz waren seit Ende Juni 1924 bereits im Gange. Nachdem die Einberufung einer Konferenz auf Ministerebene durch die englische Regierung im Februar noch am energischen Eingreifen des BIT gescheitert war, lag spätestens seit der Amtsübernahme der französischen sozialistischen Regierung, ein neues Treffen in der Luft.365 Der Direktor hatte augenscheinlich seine Bedenken gegen eine Arbeitszeitkonferenz zurückgestellt, von der er noch im Februar 1924 die Revision des WAZ befürchtet hatte. Die in Aussicht gestellte Bereitschaft der neuen französischen Regierung, auf der IAK ihre Ratifikationsabsicht öffentlich zu bekunden, schien als Sicherung ausreichend zu sein, bestand doch in Frankreich im Unterschied zu England bereits eine gesetzliche Arbeitszeitregelung. Brauns seinerseits erklärte sich gegenüber Thomas dazu aufgeschlossen, in Gespräche über die Interpretation des 8- Stundentags und die Möglichkeiten einer internationalen Regelung einzutreten.366 Damit ergänzte er seine äußerlich stan-e Abschinntaktik in Bezug auf den Dawesplan um seine gnmdsätzliche Bereitschaft zu zwischenstaatlichen Verhandlungen über das WAZ. Daß Brauns dabei ein größeres Interesse hatte, mit dem englischen Arbeitsminister alleine zusammenzutreffen, daraus machte er keinen Hehl.367 So schlug er für ein Gespräch den 05.07.1924 und als Ort Köln vor; gleichzeitig wollte Brauns mit Shaw noch ein oder zwei Bergwerke besuchen. Weniger gern hingegen sah er, "that the French Minister of Labour should attend the meeting". 368 Seine Taktik bezweckte also offensichtlich eine Trennung der Entente auf dem Gebiet der internationalen Arbeitszeitpolitik und nahm mittelbar die Reparationslast ins Visier. Wie das Treffen von Shaw und Godart in Paris demonstrierte, blieb sie jedoch erfolglos, begünstigte möglicherweise sogar das Zusammenrücken der alliierten Arbeitsminister und setzte die Reichsregierung dadurch erneut unter Druck. Am Scheitern seiner Trennungstaktik hatte auch das BIT einen nicht unwesentlichen Anteil. Vermutlich plante das BIT schon vor dem Treffen mit Brauns eine Zusammenkunft der alliierten Arbeitsminister. Konkreter jedenfalls wurde diese Absicht nach dem Gespräch mit Brauns. Butler, der die politische Brisanz eines separaten Treffens des englischen und deutschen Arbeitsministers innerhalb der von Frankreich besetzten Zonen natürlich erkannt hatte, riet Shaw von einer Zusage ab, "as it might provoke apprehension in France"3(9 und riet, entsprechend den Reparationsverhandlungen zu einem vorherigen Treffen der alliierten Arbeitsminister. Vgl. Brief an Shawvom 17.06.1924, CAT 5-64-1-2. Protokoll a.a.O. (14.06.); Brauns deklarierte seine Aussage als persönliche Meinung. 367 Brief Butler an Shaw vom 17.06.1924 a.a.O .. 368 Siehe Telegramm an Shaw vom 10.06.1924, Butler Papers XR 25/3/6. 3(9 Brief Butler an Shaw vom 17.06.1924 a.a.O.. 365

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In dieser Aussage Butlers spiegelte sich die Befürchtung Frankreichs wieder, Deutschland könne entgegen dem französischen Reparationsinteresse, mit England zu Sondervereinbarungen kommen. Eine Woche später hatte das BIT bereits die Zusage Shaws erhalten, nach Paris zu kommen, "and have a talk with Justin Godart about the German situation".370 Das Ergebnis der Pariser Zusammenkunft war aus der Sicht des BIT zufriedenstellend.371 Das Treffen der alliierten Arbeitsminister, bei dem auch über eine möglicherweise paralell laufende Ratifikation des WAZ gesprochen worden war, bedeutete für Thomas einen ersten Schritt: "Je crois que rien que par ce premier acte, nous avons aide deja a un reveil et a un redressement de l'opinion democratique en Allemagne".372 Darüber hinaus erschien dem Direktor aufgrund dieser gemeinsamen Anstrengung die Gefahr eines europaweiten arbeitszeitpolitischen Flächenbrandes gebannt zu sein. Das Pariser Treffen stellt somit auch den Schlußstein einer vor allem auf der IAK geführten Kampagne gegen Deutschlands arbeitszeitpolitischen Rückschritt dar. Gleichzeitig war die Zusammenkunft der Einstieg in konkrete Verhandlungen über die Ratifikation des WAZ. Denn in einem zweiten Schritt mußte nun, so Albert Thomas, das Gespräch mit dem deutschen RAMinister gesucht werden.373 Der Direktor hatte deshalb schon am Ende der IAK Anfang Juli gegenüber der deutschen Delegation eine Zusammenkunft der Arbeitminister angeregt.374 Brauns solle, so der Vorschlag, die alliierten Minister zu einer Arbeitszeitkonferenz einladen375, deren Grundlage die französische, elastische Auslegung des WAZ sein würde. Mit einer Einigung auf der Konferenz sei zu rechnen, "zumal die tatsächlichen Verhältnisse in Frankreich und Deutschland sich im wesentlichen annäherten" und in England der 8-Stundentag ohnehin am weitesten beachtet werde.376 Brauns reagierte auf diesen Vorschlag des BIT nicht. Ihm mißfiel vorallem Albert Thomas großes Interesse, die Arbeitszeit- noch vor der Londoner Reparationskonferenz (ab 16.07.) stattfinden zu lassen.m Doch Thomas ließ nicht locker und entsandte Brief Butler an Shaw vom 25.06.1924, Butler Papers XR 25/ 3/6. Brief Thomas an Shaw vom 10.07.1924, CAT 5-64-1-2. Eine Aufzeichnung hierüber war nic.JJt aufzufinden. 3 2 Ebd. Thomas verwies auf eine halbamtliche Meldung des Wotfrschen Telegraphenbüros (siehe "Vorwärts" Nr. 306 vom 02.07.1924) und auf die Artikel des "Vorwärts" in der Zeit seit B~;inn der IAK. Ebd .. J7.l Bericht des Deutschen Konsulats in Genfvom 07.07.1924. PA/Gesantschaft Bem/490/1. 375 Aufzeichnung vom 11.07.1924. PA/WRep/Friedensvertrag 13. 376 Brief des Deutschen Konsulats a.a.O .. 377 Ebd., Aufzeichnung ebd. 370 371

12 Grabherr

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"extra zu diesem Zweck"378 seinen Mitarbeiter Beethelot nach Berlin, jedoch ohne Erfolg.379 Insbesondere widersprach Brauns dem Gedanken, daß "zwischen der Frage des Achtstundentags und der bevorstehenden Londoner Konferenz irgendein Zusammenhang bestehe. Eine Verbindung zwischen der Arbeitszeit und dem Dawesplan wollte er nur dann anerkennen, "wenn die Gegenseite die Konsequenz zöge, daß die in dem Sachverständigengutachten Deutschland auferlegten Verpflichtungen entsprechend herabgesetzt werden, wenn sich ergebe, daß mit dem Achtstundentag die Verpflichtungen nicht abgetragen werden können".31Wl Mit diesem ablehnenden Verhalten gegenüber dem Vertreter des BIT stellte Brauns Anfang Juli erneut seine Abschirmtaktik unter Beweis, ohne das strategische Ziel einer Ermäßigung der Reparationen preiszugeben. Erst sollten in London die Reparationsverpflichtungen festgelegt werden; dann, bei der Durchführung des Dawesplanes konnte auch über dessen sozialpolitische Folgen und deren Rückwirkungen auf die Reparationshöhe diskutiert werden. Der Kabinettsbeschluß vom 09.07., der eine Bindung der Regierung in der Frage des 8-Stundentags durch das Sachverständigengutachten verneinte, gewährte hier politische Rückendeckung. Doch begann nach erfolgreichen Verhandlungen über den Dawesplan in naher Zukunft die Phase seiner Durchführung, so kehrte sich das Argument, Arbeitszeit und Reparationen hätten nichts miteinander zu tun, gegen Deutschland. Denn nur mit einem arbeitszeitpolitischen Schlupfloch im Rücken konnten im Ernstfall einerseits Reparationsforderungen erfüllt und dadurch Sanktionsmaßnahmen verhindert werden. Andererseits konnte damit - vermittelt über soziales Dumping und appellierend an das sozialpolitische Gewissen anderer Staaten und der ILO - ein arbeitszeitpolitischer Hebel an der Reparationslast angesetzt werden. Klassische Erfüllungspolitik eben. Der Grad, auf dem sich die deutsche Reierung im Sommer 1924 bewegte, war schmal: Indem man den Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Reparationen bestritt, verhinderte man zwar, daß sich Deutschland mit der Annahme des Dawesplanes auch noch zum (schematischen) 8-Stundentag verpflichtete. Doch legte man damit gleichzeitig einer arbeitszeitpolitisch motivierten Revisionspolitik ab Herbst 1924 engere Fesseln an. Denn dafür mußte man wieder auf den Zusammenhang Arbeitszeit/Reparationen rekurrieren.

Aufzeichnung ebd. Ebd.; siehe auch Note Thomas für Fuhs vom 09.07.1924, CAT 4-48. Thomas rechnete damit, daß ein Treffen in Köln (!) stattfinden werde. Deshalb wollte er das Geschehen auch wäjbrcnd seines bevorstehenden Urlaubs genau verfolgen. 3 Aufzeichnung ebd. 378

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Als sich die außenpolitische Lage in den folgenden Tagen verschlechterte, befaßte sich das Kabinett erneut mit der Arbeitszeitfrage. Am 15.07. referierte Stresemann auf einer Ministerbespreclzung, an der Brauns nicht teilnahm, den Stand der Gespräche auf diplomatischer Ebene im Hinblick auf die Teilnahme Deutschlands an der Londoner Konferenz und bezüglich der Verabschiedung der Dawesgesetze.381 Eine Einladung an Deutschland schien zweifelhaft zu sein. Ferner wurde gefordert, Deutschland solle zuerst die Dawesgesetze im Parlament verabschieden, danach werde über politische Fragen, wie die Räumung des Ruhrgebiets verhandelt. Der Meinung des Reichskanzlers, die Dawesgesetze dem Reichstag trotzdem nicht vor dem 29.07. vorzulegen, schloß sich Finanzminister Luther an. Er hielt darüber hinaus "jede Verhandlung des Reichstags, die vor der Verhandlung über die Gesetze stattfinde, so z.B. eine Verhandlung über sozialpolitische Anträge, .. für untragbar". Wegen der sich beängstigend zuspitzenden Wirtschaftslage könnte "eine Erörterung dieser Dinge im Plenum des Reichstags zu den erwünschtesten Folgen führen". Gleichzeitig erklärte sich Luther jedoch dazu bereit, "von der Regierung aus gewisse Erleichterungen auf sozialpolitischem Gebiet eintreten zu lassen". An dieser Stelle wird deutlich, daß die Regierung unter allen Umständen eine Parlamentsdebatte vermeiden wollte, in deren Verlauf sich eine Polarisierung innenpolitischer Fronten nachteilig auf die Annahme der Dawesgesetze auszuwirken drohte. Es war deshalb nur konsequent, daß das Kabinett den von ihm am 02.07. eingebrachten Zollgesetzentwurf, der auf den Widerstand der Gewerkschaften stieß382, ebenfalls nicht vor einer Verabschiedung der Dawesgesetze im Reichstag verhandeln wollte. Außenpolitische und außenwirtschaftliche Prioriäten sollten die sich gegenüberstehenden sozial- und innenpolitischen Interessen der Parteien zügeln und ihr Ausbrechen in die parlamentarische Arena verhindern. Als der Reichskanzler am 16.07. die Führer der sozialdemokratischen Fraktion zu einem Gespräch empfing, legten diese jedoch "auf die Frage des Achtstundentags besonderen Wert" und gaben zu verstehen, "daß die ablehnende Haltung Deutschlands gegenüber dem Washingtoner Abkommen eine ernstliche außenpolitische Belastung für die Reichsregierung bedeute".3SJ Auf der Ministerbesprechung einen Tag später berichtete nicht nur der Reichskanzler von dieser Unterredung mit den Sozialdemokraten. Der RAMinister teilte seinerseits mit, daß die Gewerkschaften im Augenblick kurz vor einer Beschlußfassung über den Volksentscheid zur RatiflzieAdR !'Ir. 252. Ebd.: Bericht des Reichsernährungsministers über Verhandlungen mit den Gewerkschaften vom selben Tag; siehe dazu auch M. Stürmer. S. 52 ff. JSJ So Reichskanzler Marx auf einer Ministerbesprechung vom 17.07.1924, AdR Nr. 253. 381

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rung stünden. Eine für die parlamentarische Verabschiedung der Dawesgesetze so schädliche Polarisierung der Interessen stand deshalb auf außerparlamentarischem Gebiet unmittelbar bevor. Es war schon unangenehm genug, daß der 8-Stundentag und die Regierungserklärung in Genf zum "Gegenstand einer lebhaften Erörterung in der Presse" geworden war.3114 Die "sofortige Einwirkung auf die Gewerkschaften durch die Reichsregierung" schlug Brauns daher als Gegenmaßnahme vor. Dem lag die Überlegung zugrunde, wonach "Schuld" an dem Unterbleiben der Ratifikation lediglich die strenge Interpretation habe, welche die sozialdemokratische Partei dem Washingtoner Abkommen beigebe.J&S Brauns berief sich wie bereits am 09.07. wieder auf die liberale, elastischere Interpretation der französischen Regierung. Im Unterschied zu damals betonte er aber, daß "vom Standpunkt seines Ressorts aus die Ratifikation .. im Einklang mit der bestehenden deutschen Arbeitszeitverordnung ohne weiteres erfolgen könne". Er erkannte somit, daß die französische Auslegung die Reichsregierung aus ihrer Bedrängnis, in die sie nach der IAK und durch sozialdemokratische Forderungen geraten war, befreien konnte. Neben dieser taktischen Überlegung war man im RAM zudem überzeugt, daß die Arbeitszeitverordnung vom 1923 kein Optimum darstellte und nicht auf Dauer aufrechterhalten werden sollte. Der ursprüngliche Plan vom April 1924, eine einheitliche, zusammenfassende Arbeitszeitregelung zu schaffen, wurde aufgegeben, weil dadurch der Eindruck entstanden wäre, "der Arbeitszeitverordnung doch nicht der vorläufige Charakter zu, wie er auch vom Herrn Reichsarbeitsminister .. neuerdings wiederholt betont worden sei".386 Wollte das RAM im Sommer 1924 somit jeden Anschein einer Endgültigkeit der Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923 vermeiden, so konnte Brauns möglicherweise mit seiner Erklärung am 17.07. im Kabinett, das RAM sei zur Ratifikation bereit, der Bewegung der Gewerkschaften für einen Volksentscheid den Wind aus dem Segel nehmen und damit durch Verhinderung einer Polarisierung der die Dawesgesetze tragenden Kräfte mittelbar der Ratifikation des Reparationsabkommens einen Dienst erweisen. Brauns griff mit dieser Idee nicht nur den Ball auf, den Luther bereits ~ So Brauns in seinem Bericht über die Behandlung der Arbeitszeitfrage auf der lAK im Juni 1924, vorgelegt mit einem Schreiben an die Reichskanzlei vom 18.07.1924, R 431/2073, S. 2~f.

AdR Nr. 253. Entwurf für eine Arbeitszeitverordnung nebst Anschreiben Klehmets an die Abteilung 111 des RAM vom 16.04.1924, ZStA/RAM/1845, BI. 25 ff; S. Bischoff, S. 103. Siehe auch Aufzeichnung Neitzels über die Besprechung beim Staatssekretär des RAM vom 17.04.1924, ZStA/RAM/1845, BI. 24. Aufzeichnung über die Besprechung über eine Zusammenfassung der Arbeitszeitbestimmungen gern. § 15 111 Arbeitszeitverordnung vom 30.07.1924, ZStA/RAM/1845, BI. 103 ff und Aufzeichnung über Vortrag beim Minister vom 20.08.1924, ZStA/RAM/1845 BI. 106. 386

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auf der Ministerbesprechung vom 15.07. angespielt hatte: Sozialpolitische Zugeständnisse der Regierung, um parlamentarische oder volksdemokratische Konfrontationen zum Nachteil der Dawesgesetze zu vermeiden. Daß Brauns Ende Juli von seinem Recht Gebrauch machte, gemäߧ 7 Arbeitszeitverordnung die Schwerarbeitergruppen zu benennen, für die eine Überschreitung des 8-Stundentags nur aus dringenden Gründen des Gemeinwohls zulässig war, weist genau in diesseihe Richtung.387 Mit einer Verordnung nach § 7 Arbeitszeitverordnung wollte der RAMinister der "wachsenden Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem in den durchlaufenden Betrieben der Großeisenindustrie bestehenden Zweischichtensystems", begegnen. Darüber hinaus hatte er "im Hinblick auf die vom Ausland besonders auf der letzten Jahrestagung des internationalen Arbeitsamtes in Genf, gegen die Verlängerung der Arbeitszeit in Deutschland gerichteten Angriffe den beschleunigten Erlaß einer Ausführungsverordnung zum § 7 ... in Erwägung ziehen müssen".388 Brauns profitierte aber auch von der IAK, die er als Scherbengericht über Deutschland bezeichnet hatte. Indem er sich auf die damalige Erklärung des französischen Arbeitsministers bezog und mit der Kenntnis, daß diese elastische Interpretation Grundlage kommender internationaler Arbeitszeitverhandlungen sein sollte, rechtfertigte Brauns gegenüber den Kabinettskollegen und gegenüber seiner eigenen wirtschaftspolitischen Überzeugung eine positive Einstellung der Regierung zur Ratifikation. Zudem leistete Hermann Henseler, der deutsche Angestellte des BIT, der aus der Christlichen Arbeitnehmerschaft gekommen war, den Zielen Brauns Schützenhilfe. Der RAMinister hatte seinen Mönchengladbacher Schüler mit Schreiben vom 11.07. zur Mäßigung bei der Kritik an der Reichsregierung und des Ministers gemahnt und die Arbeitszeitproblematik als "hochpolitische Angelegenheit in entscheideneo Stunden" bezeichnet.389 Henseler, der sich daraufhin zu rechtfertigen suchte, erwähnte in seinem Antwortschreiben, daß seine Kritik zuvörderst auf das Mehrarbeitsabkommen vom 13.12.1923 für die Metallindustrie, nicht aber auf die Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923 bezogen war.390 Sollte die deutsche Sozialdemokratie tatsächlich "mit 387 I. Steinisch, S. 501; bereits in seinem Gespräch mit Thomas Mitte Juni hatte Brauns dies angedeutet, Note personneUe vom 16.06.1924, CAT 6C-7-1. Am 23.07. legte Brauns dann dem V:fa:WR ein entsprechendes Verzeichnis zur Begutachtung vor, S. Bisehoff S. 117. 88 Schreiben des RAMinisters an den Zechenverband vom 14.11.1924, R 43 1/2127; teilweise a~~druckt bei AdR Nr. 358, Fußnote 4. Brief des RAMinisters an Henseler vom 11.07.1924 , Henseler Papiere 1. 390 Handschriftlicher Briefentwurf Henselers an Brauns vom 14.07.1924, Henseler Papiere 13d. Der Brief dürfte Brauns aber noch vor der Ministerbesprechung am 17.07.1924 erreicht haben, denn auch Henseler hatte Brauns Brief nach Genf vom 11.07. bereits nach 3 Tagen erhalten.

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ihrer Starrheit in der schematischen Auffassung des 8-Stundentages" ein Hindernis für die Ratifikation darstellen, so erklärte sich Henseler, "gerne bereit, dies gelegentlich deutlich und unzweideutig hervorzuheben".391 Zur Bekräftigung seines Angebots und als Beweis für seine Loyalität gegenüber Brauns, dem er durch Kritik an der Arbeitszeitverordnung nicht in den Rücken hatte fallen wollen, erwähnte Henseler folgendes: "Wie sehr dies der Fall ist, geht doch auch daraus hervor, daß ich Ihnen gegenüber schon der Ansicht Ausdruck gegeben habe (und Leipart hatte als ich vorher mit ihm in Gegenwart von Thomas darüber sprach, ungefähr die gleiche Meinung vertreten) daß es sogar möglich wäre, das Washingtoner Abkommen auf Grund dieser Verordnung (hier einige und ) zu ratifizieren und ich habe Ihnen damals - es war im Januar d.Jhr. - auch mitgeteilt, daß Leipart sich Thomas gegenüber in meiner Gegenwart geäußert hatte, daß diese Ratifizierung auch gerechtfertigter sein würde als die italienische auf Grund des italienischen "Achtstunden"tagsdekrets".392 Damit lieferte Henseler dem RAMinister ein 'internationales' Argument, das für diesen bei der arbeitszeitpolitischen Debatte in Deutschland von großem Wert war. Ab Mitte Juli, mit dem Beginn der Londoner Reparationskonferenz zeichnete also sich in der nationalen und internationalen Arbeitszeitpolitik eine Akzentverschiebung ab. Zum einen hatten die öffentliche Diskussion auf der JAK, das Pariser Treffen der alliierten Arbeitsminister und die Vorstöße des BIT zur Einberufung einer Arbeitszeitkonferenz vor Beginn der Reparationskonferenz das RAM bei "hochpolitischen Angelegenheiten in entscheidenden Stunden" auch deshalb in Bedrängnis gebracht, weil sie die sozialdemokratische Agitation für die Ratifikation bestärkt und eine nationale Pressediskussion über den 8-Stundentag entfacht hatten. Sein Ziel, die öffentliche Meinung und die deutsche Arbeitnehmerschaft zum erneuten Kampf für die 8-Stundentagsreform zu bewegen, hatte Thomas erreicht.393 Der Funke aus Genf war also übergesprungen. Doch die Politik des BIT hatte eine Kehrseite. Die französische, elastische Interpretation des WAZ, die auf der IAK von Godart propagiert worden war und zu deren Durchsetzung gegenüber der allzu schematischen Auslegung seitens der Sozialdemokratie Henseler seine tatkräftige Unterstützung angeboten hatte, lieferte dem deutschen RAMinister gleichzeitig die Mittel an die Hand, um eine arbeitszeitpolitische Konfrontation zum Nachteil der Dawesgesetze einzudämmen. Bei seinem Bekenntnis zum WAZ am 17.07 konnte sich Brauns sogar auf die Auffassung der ADGB-Spitze berufen, die schon im Januar 391 392 393

Briefentwurf Henselers S. 7. A.a.O., S. 2. Brief an Shawvom 10.07.1924, CAT 5-64-1-2.

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1924 die Arbeitszeitverordnung für eine Ratifikation als ausreichend angesehen hatte. Henseler hatte dem RAMinister mit seinem Schreiben vom 14.07. diesen Umstand nochmals ausdrücklich in Erinnerung gerufen. Mit der Aussicht, daß auf internationaler Ebene nur eine elastische Arbeitszeitregelung zur Verhandlung anstand, wurde dem RAMinister auch der Rücken für eine nationale Arbeitszeitpolitik gestärkt, deren Möglichkeiten und Grenzen durch wirtschafts- und reparationspolitische Erfordernisse festgelegt waren. Mit anderen, etwas überspitzten Worten: Der dienenden Rolle der Sozialpolitik im Sinne Brauns diente ab Mitte Juli die internationale Arbeitszeitpolitik der ILO. Was Brauns zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht wußte, war die Tatsache, daß das BIT die Einberufung einer Arbeitszeitkonferenz nicht mehr mit der Intensität und Dringlichkeit verfolgte wie noch vor einigen Tagen, als Berthelot nach Berlin gereist war. Auch auf den Zusammenhang zwischen Dawesgutachten und 8-Stundentag wollte man nicht erneut hinweisen. Die Lage in Deutschland angesichts der begonnenen Reparationskonferenz schien zu verworren.394 Außerdem hatten deutsche Sozialdemokraten Thomas ausdrücklich mitgeteilt, daß aus ihrer Sicht "jeder etwaige Versuch, die Reparationskommission in diese Angelegenheit hineinzuziehen, das Gegenteil der gewünschten Wirkung hat" .395 Der Direktor pflichtete dieser Einschätzung grundsätzlich bei, "mais ne tirons pas l'arme qui nous resterait en cas d'echec".396 Die Intervention bei der Reparationskommission bzw. eine Verknüpfung mit den Reparationsverhandlungen in London war so Mitte Juli nur ultima ratio der Politik Thomas. Werfen wir einen kurzen Blick zurück, um zu verstehen wie es dazu kam. Nach dem Pariser Treffen Anfang Juli 1924 baten der englische und der französische Arbeitsminister das BIT, ein kurzes Memorandum zur Geschichte der Arbeitszeitfrage in Bezug auf Deutschland zusammenzustellen.397 Von Bedeutung ist an dieser Stelle allein 398 , welche Vorgehensweise das BIT den alliierten Regierungen in der Frage des 8-Stundentags nun-

394 Als Thomas in einem Brief vom 01.08.1924. den 18. bis 23.08. als Tennin einer Konfernz vorschlug, hießt der RAMinister diese Verlegung willkommen, Brief Brauns an Thomas vom 05.08.1924, PA/Gesandtschaft Bem/490/1. 395 Brief von Friedrich Stampfer (Chefredakteur des "Vorwärts" und Mitglied des ParteivorstWlds) an Thomas vom 16.07.1924, 94 AP 393. Handschriftliche Anmerkung zu dem Brief Stampfers. ebd.. 397 Vertraulicher Brief Butler an Shaw vom 14.07.1924, Butler Papers XR 25/3/6. 398 Die restlichen mit der deutschen Arbeitszeitverordnung verbundenen internationalen Aspekte wurden bereits ausführlich erörtert.

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mehr anriet. Einerseits hoben die Memoranden399 hervor, daß die Reparationszahlungen nicht zu einer Verschlechterung der deutschen Arbeitsbedingungen führen dürften. Deutschland müsse deshalb von der Aufgabe seiner bisherigen Haltung überzeugt werden. "En exer~ant sur eHe une pression morale", hieß es zusätzlich in der französischen Ausfertigung. Doch es gab noch ein direkteres Mittel der Einflußnahme: Indem die allüerten Regierungen nämlich ihre Vertreter bei der Reparationskommission anwiesen, "to act in a way such as will result in the maintenance of the eight-hour day and the execution of the plan laid down without prejudice to normal hours of work".400 Inhaltlich beinhaltete dieser Rat nichts anderes als die Resolution der IAK, die die Aufmerksamkeit der Reparationskommission auf soziale Probleme und Konsequenzen ihrer Tätigkeit lenken wollte. Doch die JAK-Resolution war zunächst an den Verwaltungsrat überwiesen worden. Außerdem beugte ein von Brauns durchgesetzter Zusatz in der Präambel der Gefahr vor, daß die Arbeitszeitproblematik die Verhandlungen über den Dawesplan störte. Die Memoranden des BIT hingegen erreichten die Regierungen Englands und Frankreich noch rechtzeitig zu den Repararationsverhandlungen in London. Am 14.07. sandte Butler das Memorandum an den englischen Arbeitsminister. Dessen Sekretär bestätigte den Erhalt am 21.07.401 Die andere Ausfertigung wurde dem französichen Premierminister Herriot am 14.07.1924 sogar unmittelbar nach London geschickt.402 Die Memoranden enthielten aber auch einen Appe11 an die a11iierten Regierungen, das WAZ zu ratifizieren: "... the Reparations Commission can only act with full certainty if the Convention has been ratified by the great countries concerned". Die alliierten Regierungen hätten es daher in ihren Händen, die Gefahr, die von Deutschlands arbeitszeitpolitischem Rückschritt ausging, einzudämmen, "and to take the necessary measures for the consolidation of an internationallabour legislation".403 Die Memoranden endeten mit einem Aufruf an die Regierung Frankreichs und Englands, die durch die IAK in Deutschland bewirkte Bewegung der öffentlichen Meinung und der Arbeitnehmerschaft für den 8-Stundentag wirkungsvoll zu unterstützen. 399 Die englische (Butler Paper.; XR 25/3/6) und die französische Ver.oion (CAT 5-2-2-1) weichen in ihrem Inhalt nur in Einzelheiten voneinander ab, auf die, sofern wesentlich, im T~ eingegangen wird. Englische Ver.oion des Memorandums a.a.O .. 401 Beide Briefe Butler Paper.; XR 25/3/6. 402 So die handschriftliche Bemerkung auf dem französischen Memorandum a.a.O.; ob das Memorandum auch an den Arbeitsminister geschickt wurde, darüber gibt es in den Akten des BIT keinen Nachweis. 403 A.a.O ..

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Das BIT beließ es nicht beim Übersenden von Memoranden zur Arbeitszeitproblematik an die alliierten Regierungen. Der stellvertrende Direktor Butler reiste Mitte Juli persönlich nach London. Sein offizielles Ziel war die Teilnahme an einer Konferenz in Wembley mit dem Thema "The British Empire and International Labour Legislation".404 Er dachte jedoch gleichzeitig daran, das in Aussicht genommene Treffen der Arbeitsminister weiter vorzubereiten und möglicherweise die Arbeitszeitfrage mit der Londoner Reparationskonferenz in Verbindung zu bringen. In einem Brief vom 16.07.1924 bat er Thomas um Rat für sein Vorgehen. Thomas und Butler waren sich jedoch einig, daß äußerste Vorsicht geboten war.40S Butler beruhigte den Direktor mit der Versicherung: "I quite agree that extreme prudence is necessary in London and do not intend to try to force my way into Conference circles ... and shall not raise the question of the eight-hours unless I find that there is a real desire to discuss it".406 Dieses Bedürfnis der Konferenzteilnehmer bestand offensichtlich nicht. Denn Butler berichtet am Ende seiner Englandreise, daß er keinen Anlaß gefunden habe, "to raise this question in connection with the ·London Conference, which already has sufficient difficulties to resolve".407 Tom Shaw stimmte mit dem BIT überein, daß die Arbeitszeitfrage erst wieder auf der Tagesordnung stehe, wenn die Durchführung des Dawesplanes diskutiert werde. Für den Moment schlug Butler dem englischen Arbeitsminister vor, die weitere Entwicklung der Volksentscheidkampagne in Deutschland abzuwarten "and not to make any new statement linking up the Washington Convention with Reparations, as this might furnish a tool to the Nationalists". Ebensowenig bestehe Eile für ein Treffen mit Brauns. Shaw und seine Staatssekretärin, Miss Bondfield, waren mit Butler darin einer Meinung. "The initiative rests with us, when the right moment comes".408 Wann der richtige Zeitpunkt für eine Arbeitszeitkonferenz gekommen war, dafür hatte Butler die wirtschaftlichen Bedenken der Arbeitgeber als augenfälliges Zeichen ausgemacht: "The agitation in England and America against raising the loan 'to help our rivals and put them on their feet' is a straw which shows which way the wind is likely to blow".409

404 Vertraulicher Brief Butler an Shaw vom 14.07.1924, a.a.O.; "Deputy Director's Report on recent visit to England", 25.07.1924. CAT 4-36. 405 Briefe von Butler an Thomas vom 16.07. und 19.07.1924, CAT 4-36. 406 Ebd .. 407 "Deputy Director's Report" a.a.O .. 408 Ebd .. 409 Ebd ..

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Hatte das BIT noch bis kurz vor Beginn der Londoner Reparationskonferenz arn 16.07. intensiv versucht, das Bewußtsein der alliierten Verhandlungspartner für die Verbindung von 8-Stundentag und Reparationen zu schärfen und gleichzeitig die deutsche Seite zu einer sofortigen Arbeitszeitkonferenz zu bewegen, so änderte sich diese Politik mit dem Zusammentreten der Reparationskonferenz. Das Direktorengespann vermied es jetzt, die Londoner Verhandlungen mit arbeitszeitpolitischen Problemen noch zusätzlich zu bedrängen und damit möglicherweise eine auch vom BIT gewünschte Lösung der Reparationsfrage zu gefährden. Mit den öffentlichkeitswirksamen Hinweisen in Genf und Paris auf eine Arbeitszeitkomponente des Dawesplanes sowie durch die beiden Memoranden an die Alliierten hatte das BIT sein sozialpolitisches Anliegen vorgetragen. Eine direkte Einmischung in die Londoner Verhandlungen hätte dem Ziel einer internationalen Sicherung des 8-Stundentags mittels Ratifikation des WAZ mehr geschadet als genutzt. Gegenüber Deutschland war der Trumpf einer Verbindung von Arbeitszeit und Reparationen ausgereizt. Ein weiteres Beharren darauf, so erkannte Butler richtig, mußte nur die Nationalisten verstärkt auf den Plan rufen und dadurch die innenpolitische Akzeptanz des Dawesplan aufs Spiel setzen. Mit Beginn der Londoner Reparationsverhandlungen beendete das BIT so eine Politik, deren Ziel die Einhaltung des 8-Stundentags als Voraussetzung einer Reparationslösung war. Die Frage der internationalen Regelung der Arbeitszeit wurde nun zu einem sozialpolitischen Problem der Durchführung des Dawesplanes. Ob die Arbeitszeitfrage auf der Londoner Reparationskonferenz eine Rolle gespielt hat, konnte aufgrund der ausgewerteten Aktenbestände und Publikationen nicht belegt werden.410 Daß die Vorstöße des BIT zumindest ins Bewußtsein der Verhandlungspartner gedrungen waren, zeigt jedoch folgender Umstand. Als der englische Premierminister am 21.07. gefragt wurde, ob er der Auffassung sei, daß die Ausführung des Sachverständigenberichts eine Verlängerung der Arbeitszeit in Deutschland erforderlich mache, antwortete er: "Quite the contrary. I believe that it is purely fictious that would be the result of putting the Report into Operation. I have gone very carefully into the matter personally".~ 11 Schließlich brachte die englische

~ 10 Siehe dazu z.B. ausführlich J. Bariety. Teil IV, S. SOS ff und neuerdings M. Berg, S. 205 ff; vgl. auch das vom Ministerialdirektor Kiep gefühne Tagebuch der Reichskanzlei nebst Anlagen, gedruckt in: AdR (Marx I) Anhang Nr. 1 - 11. Ebenfalls umfassend dargestellt ist der Konferenzverlauf bei Stephen A. Schuker, '7he End ... •, S. 295 - 382 und Werner Link, "Die amerikanische Stabilisierungspolitik .. .", S. 296- 306. 411 Bericht Sthamers vom 30.07.1924. PA/WRep/Friedensvenrag 13.

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Arbeiterregierung am 30.07., also noch während der Reparationskonferenz den Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes im Unterhaus ein.412 Zurück nach Deutschland. Nach Beginn der Londoner Reparationskonferenz verschärften sich die parlamentarischen Auseinandersetzungen um das WAZ und den 8-Stundentag im Parlament. Nachdem die Sozialdemokratie schon mit einer Interpellation vom 04.06.1924413 die Ratifikation angemahnt hatte, wiederholte sie ihre Aufforderung zur Ratifikation mit einer erneuten Interpellation vom 21.07.1924! 14 Zwei Tage später konterte die Deutschnationale Volkspartei. Sie ersuchte den Reichstag, zu beschließen, die Reichsregierung solle die Ratifikation unterlassen und angesicht der im Internationalen Arbeitsamt "dauernden geübten Brüskierung der deutschen Sache" die deutsche Mitgliedschaft zum nächstmöglichen Zeitpunkt kündigen!15 Mit den beiden Anträge der Sozialdemokratie und der DNVP lagen gegensätzliche sozialpolitische Konzepte im Parlament offen auf dem Tisch. Die befürchtete parlamentarische Debatte schien sich abzuzeichnen. Suchten die Sozialdemokraten im Bewußtsein ihrer parlamentarischen Trägerrolle für die Annahme der Dawesgesetze und mittels der in Genf und Paris entwickelten Argumente für eine arbeitszeitpolitische Komponente des Gutachtens eine Ratifizierung des WAZ zu erreichen, so waren diesem Bestreben durch den Kabinettsbeschluß vom 09.07. Grenzen gesetzt. Eine Bindung der Reichsregierung an den 8-Stundentag aufgrund des Sachverständigengutachtens erkannte die Regierung insofern nicht an, als damit die Einführung einer schematischen Arbeitszeitverkürzung im sozialdemokratischen Sinne gemeint war. Über ein elastisches WAZ ließ die Regierung allerdings sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene mit sich reden.416 Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion trug zwar mit ihrer Interpellation den Wünschen des Bundesausschusses der Gewerkschaften nicht in vollem Umfang Rechnung. Denn am 22.07. forderte der Bundesauschuß, ''die dem deutschen Reichstag angehörenden Gewerkschaftsvertreter auf, einen Beschluß des Reichstags herbeizuführen, der die Regierung veranlaßt, ~ 12 Ebd.: "Vorwärts" Nr. 358 vom 01.08.1924; nach "Deputy Director's Report" a.a.O. wurde der Entwurf schon vor dem 25.07. eingebracht. Dort auch zu den Chancen des Arbeitszeitgesetzes Shaws im englischen Unterhaus. ~ 13 SDR Dd. 382. Drucksache Nr. 124; vgl. dazu auch die Debatte im Reichstag am 2~.g muß die RReg. als selbstverständlich voraussetzen, daß zur Verhütung außerordentlicher Gefährdung deutscher Lebensnotwendigkeiten der Artikel XIV des Washingtoner Abkommens Anwendung findet". Der Reichsarbeitsminister griff damit eine Idee Thomas auf, die dieser auf einer früheren Verwaltungsratssitzung und auch in seinem Bericht für die IAK 1924 in die Welt gesetzt hatte: Die Suspendierung der Bestimmungen des WAZ im Falle eines Krieges oder anderer Ereignisse, welche die Landessicherheit gefährden, sollte in Deutschland auch bei einer übermäßigen wirtschaftliclzen Belastung (z.B. als Folge der Reparationsverpflichtungen) möglich sein. Da Brauns überzeugt war, daß die Durchführung der Dawesgesetze Ausnahmen vom 8-Stundentag erfordern würden, erklärte er in der Kabinettsitzung ferner, er werde sich nicht scheuen, Albert Thomas gegenüber die Meinung zu vertreten, eine Ratifikation durch Deutschland komme nicht in Frage, "falls diese unsere Auslegung des Artikels 14 nicht angenommen werden sollte".431 Erst nachdem der RAMinister die deutsche Sicht des Art. 14 in den Rang einer unverzichtbaren Voraussetzung der Bereitschaft zur Ratifikation gehoben hatte, stimmte das Kabinett der Regierungserklärung zu. Die Bedenken des Reichsverkehrsministers (DDP), ob Frankreich diese Interpretation anerkennen würde, waren damit zwar nicht aus der Welt. Doch für ein Nachgeben in dieser Sache bei der bevorstehenden Arbeitszeitkonferenz hatte der RAMinister nun kein politisches Mandat. Während die Reichsregierung am 02.08. den Entwurf einer Regierungserklärung von ausdrücklichen Hinweisen auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Arbeitszeit- und Reparationsfrage befreit hatte, um bei einer aus innenpolitischen Gründen notwendig werdenden Ratifikationsdebatte im Reichstag die laufenden Reparationsverhandlungen in London vor arbeitszeitpolitischen Störungen abzusichern, hatte man Ende August schon die bevorstehenden internationalen Verhandlungen über das WAZ im Auge. Mit M. Stürmer. ebd. Die Zollvorlage erreichte den Reichstagam 30.08., also einen Tag nach der Dawesgesetze. 4 AdR Nr. 288. 430 Statt einer "Klärung" wollte die Regierung nun eine "Verständigung" mit den anderen Industriestaaten über offene Fragen bezüglich des Inhalts der Konvention, des Maßes der Bindun;: ctc. herbeiführen. Sitzung des Kabinetts vom 02.08.1924. AdR Nr. 270, Fußnote 2. 43 Sitzung des Kabinetts vom 27.08 .. AdR Nr. 288. 428

de~Annahme

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dem Verweis auf Art. 14 und deutschen Lebensnotwendigkeiten war die Verbindung von Arbeitszeitregelung und loyaler Durchführung des Dawesplanes wiederhergestellt. Im Reichstag kam die Regierungserklärung auch nach Verabschiedung der Dawesgesetzes am 29.08. nicht zur Verlesung. Sie wurde veröffentlicht im Rahmen eines Artikels von RAMinister Brauns ("Achtstundentag") im Reichsarbeitsblatt vom 01.09.1924 (Nr. 17 NAT, S. 420).432 Über seine Pläne im Anschluß an die "beabsichtigte Erklärung" hatte sich der RAMinister bereits 11 Tage zuvor gegenüber seinem Staatssekretär geäußert.433 Da sich "die Ratifikationsfrage in der nächsten Zeit .. klären und damit die Arbeitsgesetzgebung in ein neues Stadium treten werde", sollte nach Bekanntgabe der Regierungserklärung versucht werden, "für den internen Gebrauch des Ministeriums auf der Grundlage des Washingtoner Übereinkommens, jedoch in weiter Auslegung des selben und unter Berücksichtigung sowohl der tarifvertragliehen Regelung als auch der besonderen Lage Deutschlands (Art. 14 des Übereinkommens) einen neuen Gesetzentwurf aufzustellen ...; dabei soll möglichst das französische System (Rahmengesetz, Durchführung durch Verwaltungsanordnung, die sich auf den vorhandenen Tarifverträgen aufbauen) übernommen werden".434 Indem Brauns auf die Erklärung des französischen Arbeitsministers während der IAK und auf einen Vorschlag Thomas zu Art. 14 zurückgriff, hatte er die Verbesserung seiner Verhandlungsposition während der bevorstehenden Arbeitszeitkonferenz im Auge. Denn die Bereitschaft der anderen Arbeitsminister und des BIT, den deutschen Interessen an einer flexiblen und die Reparationsbelastung berücksichtigenden nationalen Arbeitszeitregelung als Basis der Ratifikation Rechnung zu tragen, erhöhte sich, wenn die Position Deutschlands auf Vorschlägen und Erklärungen der Verhandlungsgegner beruhte. Auf der anderen Seite belegt dieser Vorgang, in welch breitem Umfang Mitte August die Vorgabe der internationalen Arbeitszeitpolitik bei der Gestaltung nationaler Arbeitszeitvorschriften Berücksichtigung fand.

Der Zeitpunkt einer erstell Ko11Jere11z der Arbeitsmillister über das WAZ zeich11ete sich A11Ja11g August näher ab. Nachdem sich Brauns Mitte Juli gegenüber dem BIT Mitarbeiter Berthelot zu diesem Thema noch sehr reserviert verhalten hatte, lenkte er im August allmählich ein. Mit einem Schreiben vom 01.08. schlug Thomas in Absprache mit den alliierten Arbeitsmini432 U. Oltmann, S. 306 spricht von einer Veröffentlichung der Regierungserklärung zwei Tajf vor der Abstimmung über die Dawesgesetze, gibt jedoch dafür keinen Beleg. 4 Aufzeichnung über Vortrag beim Ministervom 20.08.1924, ZStA/RAM/1845, BI. 106. 434

Ebd.

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sterden 18. bis 23.08. als Konferenztermin vor, ein Datum also, zu dem die Londoner Reparationskonferenz aller Voraussicht nach beendet sein mußte.435 Brauns stimmte dieser Verlegung der ursprünglich für Juli geplanten Konferenz grundsätzlich zu. "Eine kurze Verschiebung des Besprechungstermins - schlimmstenfalls für einige Tage -" behielt er sich dennoch für den Fall vor, daß die Reichstagsverhandlungen über die Dawesgesetze und die Ratifikations-Interpellationen "noch nicht beendet sein sollten".436 Ende August vereinbarte Thomas mit Brauns dann endgültig den 08.09.1924 für eine Arbeitszeitkonferenz in Bern.437 Obwohl Brauns seit Juni 1924 die Reparationsverhandlungen und schließlich auch die Verabschiedung der Dawesgesetze vor Störungen aus der arbeitzeitspolitischen Sphäre geschickt abschirmte, ist gleichzeitig nicht zu übersehen, daß er vor allem in der entscheidenden Phase einer Reparationslösung im Juli und August 1924 erheblich in Bedrängnis geraten war. Parallel zur größeren Zurückhaltung des BIT, die etwa mit Beginn der Reparationskonferenz in London am 16.07. einsetzte, baute sich in Form der Reichstagsinterpellationen und der vorbereitenden Maßnahmen für einen Volksentscheid über das WAZ innenpolitischer Druck auf. Wegen der diffizilen Gleichgewichtslage der außenpolitischen Mehrheitsbasis der Reichsregierung, mochte die Regierung auf die Ratifikationsforderungen der sozialdemokratischen Fraktion, deren Zustimmung zu den Dawesgesetzen unverzichtbar war und anderer christlicher Teile der Arbeiterbewegung nicht mit einer offiziellen Stellungnahme zum WAZ eingehen. Den Entwurf einer Regierungserklärung hatte das RAM zwar vorbereitet, und er wurde am 02.08. im Kabinett mit einigen Kürzungen auch genehmigt. Vor einer Verhandlung im Reichstag jedoch sollte der RAMinister noch einmal mit der sozialdemokratischen Partei verhandeln.438 Während über diese Verhandlungen keine Nachweise vorliegen, finden sich über eine Besprechung der Spitzengewerkschaften aller Richtungen, mit dem Reichsarbeitsminister am 04.08. Hinweise in der Presse.439 Nach Aussage der gewerkschaftlichen Sprecher habe man bei diesem Treffen betont, daß der 8-Stundentag als sozialpolitisches Folgeproblem einer Annahme des Dawesplan "gesetzgeberisch klargestellt werden müßte". Deshalb sei "die beschleunigte parlamentarische Verabschiedung des Washingtoner Abkommens" erforderlich, andernfalls 435

PA/Gesandtschaft Bern/490/1.

~36 Schreiben Drauns an Thomas vom 05.08.1924, ebd .. ~37 Adolf Müller (Gesandter in Bem) an RAMinister vom 28.08.1924 und Telgramm des

RAM an Gesandtschaft Bern vom 27.08.1924, ebd.; Note von Thomas für M. Gallois vom 27.08.1924. CAT 4-87. 438 AdR Nr. 270; vgl. die Ausführungen weiter oben. 439 "Gewerkschaftszeitung" Nr. 32 vom 09.08.1924; "Vorwärts" Nr. 364 vom 05.08.1924; "Metallarbeiter Zeitung• Nr. 34 (1924), S. 112. t3 Grabh=

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die Gewerkschaften sich gezwungen sähen, "aufgrund der bereits eingeleiteten Vorarbeiten den Volksentscheid ".440 Der Drohung mit volksdemokratischen Maßnahmen in der Arbeitszeitfrage begegnete Brauns mit dem Versprechen, die Regierung sei bereit, "schon beim nächsten Zusammentritt des Reichstages (also noch in diesem Monat) die zur Ratifizierung gestellten Interpellationen zu beantworten". Ob der Reichsarbeitsminister die Gewerkschaftsvertreter darüber hinaus zumindest in Ansätzen über die zu erwartende Regierungserklärung, deren wesentlicher Inhalt seit der Kabinettsitzung vor zwei Tagen feststand441 , in Kenntnis setzte, ist den Pressemeldungen nicht zu entnehmen. Offensichtlich hatte der RAMinister aber eine positive Tendenz der Regierung in der Ratifikationsfrage durchblicken lassen. Denn der von den Freien Gewerkschaften (ADGB, Deutscher Gewerkschaftsring, AfA-Bund, Deutscher Beamtembund) gebildete Arbeitsausschuß zur Vorbereitung eines Volksentscheid wollte nun vor weiteren Beschlüssen die Erklärung des RAMinister im Reichstag abwarten.442 Die Vertreter der Christlichen Gewerkschaften erklärten, daß vor einem Ende der Londoner Reparationskonferenz und der Regierungserklärung zunächst nichts unternommen werden solle. Der Eindruck einer positiven Stellung der Regierung in der Ratifikationsfrage mußte sich schließlich noch verdichten, als der RAMinister zwischen dem 27. und 30.08. Ratifikationsgesetze verschiedener Übereinkommen, die von der IAK in Washington und in Genua (1920) beschlossen worden waren (z.B. betreffend Arbeitslosigkeit, Stellenvermittlung der Seeleute), dem Reichstag zuleitete:'·H Da der RAMinister bereits am 18.07. einen entsprechenden Beschluß des Kabinetts herbeigeführt hatte-~+~, spielte dieser Vorgang wahrscheinlich bei den Gesprächen zwischen dem RAMinister und den Gewerkschaften am 04.08. eine Rolle. Der Aufschub weiterer Maßnahmen in Sachen WAZ wurde in Kreisen der Freien Gewerkschaften durch zwei Umstände begünstigt, die mit der in Aussicht gestellten Regierungserklärung nichts zu tun hatten: Zum einen bedeutete ein Volksentscheid, ein bis dahin noch nicht benutztes Mittel demokratischer Entscheidungsfindung, ein enormes finanzielles und politi440 ·vmwärts" ebd..

Der Reichskanzler hatte am 02.08. ausdrücklich festgestellt, daß die Regierung der besprochenen Regierungserklärung "für den Fall von Verhandlungen" mit den Sozialdemokraten zustimme, AdR Nr. 270. 44 "Metallarbeiterzeitung" a.a.O.: in der "Gewerkschaftszeitung" a.a.O. hieß es: "Von dem Ausfall dieser Antwort dürfte es abhängen, was von unserer Seite weiter zu geschehen hat•. Siehe auch "Vorwärts" Nr. 380 vom 14.08.1924. der sich auf einen Bericht des "Berliner Tageblatts" berief: "In gewerkschaftlichen Kreisen scheint man aber zu erwarten, daß die Regierun~erklärung befriedigend ausfallen wird .. .". 44 SBR Bd. 383, Drucksachen Nr. 529, 545, 550. 444 AdR Nr. 263. 441

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sches Risiko. Andererseits bremste die Abneigung der ADGB-Spitze gegen eine Internationale Regelung der Arbeitszeit in Form des WAZ die Vorbereitung eines Volksentscheids.445 In einer Generalversammlung der Berliner Ortsverwaltung des deutschen Eisenbahnerbundes Mitte August erklärte Müller vom ADGB nochmals, "daß das Abkommen absolut nicht das Ideal ist, dem wir nacheilen könnten".446 Der Wert des WAZ sank offenbar in den Augen des ADGB noch, als im August 1924 bekannt geworden war, daß das BIT das französische Arbeitszeitgesetz und damit eine elastische Interpretation des WAZ als Grundlage einer Ratifikation gelten lassen wollte. Da "in dem Kampf um den Achtstundentag in Deutschland neuerdings damit operiert ", wandte sich Aufhäuser vom Allgemeinen Freien Angestelltenbund mit der Bitte um genauere Informationen an Thomas.447 Obwohl der Direktor hervorhob, daß das französische Arbeitszeitgesetz nicht wesentlich schlechter als das WAZ sei, mußte er gleichwohl eingestehen, daß beide Arbeitszeitregelungen "den schematischen Achtstundentag nicht feststellen" .448 Die Regierungserklärung, die am 01.09.1924 im Reichsarbeitsblatt veröffentlicht wurde, bewertete der "Vorwärts" unter der Überschrift "Brauns will ratifizieren" als "unverkennbaren Fortschritt" gegenüber der Haltung der deutschen Delegation auf der IAK im Juni desselben Jahres.449 "Bedenklich" hingegen stimmte, daß Brauns die Bereitschaft zur Ratifikation mit Art. 14 verknüpfte, d.h. eine Durchbrechung des 8-Stundentags zwecks Erfüllung der Leistungen aus dem Dawesplan anstrebte. Um die Schwierigkeiten, die für den RAMinister wegen der Frage der Ratifikation im Juli/August 1924 bestanden (siehe Kabinettsitzung vom 21.07.), in vollem Umfang zu begreifen, muß die Position der Christlichen Gewerkscltaften zur Ratifikation und ihr Verhältnis zum RAM während dieser Monate genauer beleuchtet werden. Als Brauns am 27.08. vor seinen Ministerkollegen erklärte, er habe die Regierungserklärung "auf Wunsch der

445 Von Unstimmigkeiten bei einer Ausschußsitzung berichtete die "Metallarbeiterzeitung" Nr. 37 (1924), S. 123. Insbesondere der Deutsche Metallarbeiterverband verfocht in viel stärkerem Maße als der ADGB die Idee eines Volksentscheids. 446 "Vorwärts" Nr. 398 vom 24.08.1924. Gleichwohl wurde auf der Versammlung die Erhebung eines finanziellen Beitrags für die Vorbereitung des Volksentscheids beschlossen. Vgl. auch "Vorwärts" Nr. 426 vom 10.09.1924: "Wir kennen die Mängel des Washingtoner Abkommeqs und werden nicht versäumnen. auf ihre Abstellung hinzuwirken" . .... Persönlicher Brief vom 21.08.1924, CAT 5-2-I(C); N01e von Thomas für Berthelot vom 27.08.1924. ebd .. ....8 Brief an Au01äuser vom 30.08.1924. CAT 5-2- l(C). +l9 :'1/r. 415 vom 03.09.1924. Gegenüber den Bestrebungen der "sozialen Reaktion in Deutschland" sah man in der Regierungserklärung sogar einen "erheblichen Fortschritt".

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nichtsozialdemokratischen Gewerkschaftskreise abgeändert'"'50, wurde deutlich, daß auch die Christlichen Gewerkschaften zunehmendes Interesse an der Ratifikation des WAZ und an der Internationalen Sozialpolitik im allgemeinen zeigten. Wie bereits dargestellt, führten die Vorgängen auf der IAK innerhalb der Christlichen Arbeiterbewegung zu Meinungsverschiedenheiten, die sich z.B. an den redaktionellen Anmerkungen zum Artikel Henselers im Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften oder an einzelnen Beiträgen des "Deutschen" ablesen ließ.451 Aber auch im Schriftverkehr zwischen Henseler und dem Generalsekretär der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands, Otte, finden sich deutliche Spuren einer Distanzierung der Christlichen gegenüber der IL0.452 Daß sich Otte am 04.07. offensichtlich über das JAKScherbengericht heftig beschwerte und die Einstellung jeder Zusammenarbeit mit der ILO androhte, beunruhigte Henseler sehr.453 Um die Wogen zu glätten, informierte er am 10.07. Otte vertraulich über den Besuch des RAMinisters im Vorfeld der IAK. Dieser habe den Eindruck gehabt, daß in Genf "in großem Maßstabe und auf internationalem Gebiet dasselbe gemacht wird, was vor dem Kriege in M.Giadbach getan wurde". Zwar gestand Henseler "ein gelegentliches Danebengreifen" des Direktors ein. Er verteidigte aber die Rede Thomas vor der IAK als objektiv und diskret; zumal er die Eingabe der Christlichen Metallarbeiter an ihn nicht erwähnt hatte. Ferner kritisierte Henseler die Pressearbeit der den Christen nahestehenden Publikationsorgane, wie dem"Deutschen." Auch scheute er sich nicht, seinen persönlichen Eindruck mitzuteilen, wonach "Ihr in Berlin etwas zu sehr Staatspolitiker und etwas zu wenig Sozialpolitiker und Arbeiterinteressenvertreter seid".~~ Damit sprach Henseler einen schwelenden Konflikt zwischen dem Gesamtverband, der mit der Führung des DGB eng zusammenarbeitete, und den einzelnen Mitgliedsverbänden an. Der Kongreß des Gewerkverein Christlicher Bergarbeiter Anfang September 1924 wurde zum Startpunkt einer öffentlichen Kontroverse innerhalb der Christlichen Gewerkschaften, mit dem Bergarbeiterführer Imbusch und Stegerwald aus der Zentrale in Berlin als deren Protagonisten.455 Anfang Juli 1924 ~so AdR Nr. 288.

Siehe oben Kapitel 11.2. Diese Schriftverkehr ist leider nur bruchstückhaft in den Papieren Henselers und den Akten des BIT dokumentiert. Zwei Antwortsschreiben Henselers geben indes ausreichende Hinweise nicht nur auf den Kernpunkt der Meinungsverschiedenheit sondern auch auf den Umfang des Briefwechsels; Schreiben Ottes vom 04.07., Henselers vom 10.07.(Henseler Papiese 13d), Ortes vom 26.07., Henselers vom 01.08. (ebd.). 45 Brief vom 10.07. ebd.; Note Henseler für Thomas vom 04.09.1924, CAT 5-2-10. 454 Briefvom 10.07.1924 a.a.O. 455 Im einzelnen dazu M. Schneider, "Die Christlichen Gewerkschaften ...•, S. 475 ff; siehe auch Henselers Note vom 04.09.1924, a.a.O .. 451

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schlug Henseler Otte angesichts dieser noch internen Querelen vor, daß der Gesamtverband vor irgendeiner offiziellen Stellungnahme zum BIT eine Führerkonferenz mit ihm, Henseler, als Referent, einberufen solle. Die von Henseler gewünschte engere Koordination zwischen ihm und dem Zentralverband erhielt mit der Motion Lambachs (Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband) vom 24.07.1924, die auf eine Kündigung der deutschen ILO-Mitgliedschaft hinauslief, tagespolitische Aktualität. Zwar hatte Otte in einem Schreiben vom 26.07.1924 versöhnlichere Töne eingeschlagen, die Henseler gar zu dem Urteil veranlaßten, "daß grundsätzlich keine Meinungsverschiedenheit zwischen uns besteht".456 Doch vor der Motion Lambachs war nach der Meinung Henselers nicht gefragt worden. Als ein "Gebot der Logik" erschien es indes Henseler, daß die Kollegen, die als Abgeordnete zur sozialdemokratischen Interpellation bzw. zum DNVP-Antrag im Reichstag Position beziehen werden, "sich an mich wenden, um das notwendige Material für ihre Reden zu erhalten" .457 Otte bat er deshalb herauszufinden, wer für eine Rede im Reichstag vorgesehen sei, und diesem danach von seinem Wunsch nach engerer Kooperation in Kenntnis zu setzen. Noch bevor Otte den Brief Henselers erhalten hatte, absolvierte der Sekretär der deutschnationalen Reichstagsfraktion, Walter Lambach, einen überraschenden Kurzbesuch in Genf.458 "L'origine de cette visite", so Henseler, "est le fait que mes amis a Berlin lui ont reproche d'avoir depose une motion pareille sans s'etre mis en rapports avec moi".439 Um die Gemüter seiner Kollegen aus den Christlichen Gewerkschaften zu beruhigen, habe Lambach diesen nachträglichen Informationsbesuch in Genf versprochen. Henseler, der von Lambachs Eintreffen überrascht war, tat seinerseits alles, um die ILO in einem positiven Licht erscheinen zu lassen: Von allgemeinen Informationen über die Arbeit des BIT und der Suche nach kompetenten, deutschsprachigen Gesprächspartner bis hin zu einer Beherbergung in seiner Privatwohnung -"pour eviter qu'il tombe entre les mains d'une certaine equipe ici a Geneve" - bemühte sich Henseler in diesen zwei Tagen mit allen Kräften um den außergewöhnlichen Gast.~60 Zur Rücknahme des deutschnationalen Antrags im Reichstags konnte Henseler ihn allerdings nicht bewegen. Denn Lambach fürchtete dadurch Nachteile für den Ruf seiner Fraktion. "Mais il m'a promis tout de meme de donner a sa motion au Reichstag une modification que sera plutöt une critique loyale de Ia Partie Brief Henselers vom 01.08.1924. a.a.O .. Ebd. Die Idee einer Führerkonferenz mit Henseler als Referenten erwähnte dieser auch hier wieder und schlug dafür die Jubiläumstagung im Oktober in Köln vor. 458 Auf dem (handschriftlichen) Brief (-Entwurf) Henselers ist der 01.08.1924 als Datum vermerkt. Lambach kam jedoch am 02.08. nach Genf, Note pour Monsieur Je Directeur, 0~~8.1924, CAT 5-2-10-5. 460 Note ebd .. Ebd .. 456

457

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XIII ... et une critique du gouvernement allemand qui ne collabore pas aussi efficacement qu'il le faudrait a l'oeuvre de Geneve".461 Ferner versprach Lambach den Text seiner geplanten Reichstagsrede an Henseler zu schicken und für sachkundige Ratschläge ein offenes Ohr zu haben.462 Den Besuch Lambachs vom 02./03.08 bewertete Henseler insgesamt als "beaucoup plus utile que Ia visite de n'importe quel ami que nous avons labas". Zu einer Debatte im Reichstag über das WAZ und zu einer Abstimmung der Rede Lambachs mit Genf kam es jedoch nicht. An Publikationen Lambachs in der Folgezeit, die Henseler als "assez objectifs'1463 bezeichnete, zeigte sich indes, daß Lambach neben polemischen Bemerkungen nun auch der sachlichen Information über die ILO und konstruktiver Kritik an ihrer Arbeit Platz einräumte.464 Die Tatsache, daß Henseler am 09.09.1924 sogar die Möglichkeit bekam im "Deutschen", dem Sprachrohr Stegerwalds und des DGB, mit einem längeren Artikel auf einen Beitrag Lambachs zu antworten, verdient in diesem Zusammenhang besondere Beachtung.465 Zumal Henseler darin auf das Gcnfcr Treffer Bezug nahm und "aufgrund genauester Kenntnis der Absichten Lambachs" dessen grundsätzliche Gegnerschaft gegenüber dem WAZ und der ILO bezweifelte. So sehr die persönlichen Bemühungen Henselers zu einer Verbesserung des nach der IAK beschädigten Image der ILO bei den Christlichen beigetragen haben, so darf nicht außer Acht gelassen werden, daß auch wegen Maclztversclziebzmgen imzerlzalb der Clzristliclzen Arbeiterbewegung die Einflußnahme aus Genf auf fruchtbaren Boden fiel. Nachdem am 11.07. Friedrich Baltrusch vom DGB und DNVP-Mitglied bei einer Besprechung mit dem Reichskanzler die Forderung, die auf der IAK erhoben worden waren,

Ebd .. Lambach lud Henseler auch zu einem Referat über die ILO vor einem Teil der DNVPReichstagsfraktion ein und beteuerte, "que ce sera Ia derniere motion de ce genre qu'il deposera", ebd .. 463 Bericht vom 14.05.1925 über eine Reise nach Deutschland und Utrecht, CAT 5-2-10-5. 4~ Siehe insbesondere Waller Lambachs Artikel "Folgen der Ratifikation eines Washingtoner Abkommens" im "Deutschen" vom 21.08.1924. Der Vorspann der Schriftleitung lautete: "Der Verfasser hebt nachdrücklich eine von den Schattenseiten etwaiger Ratifizierung des Washingtoner Abkommens hervor. Damit steht nicht in Widerspruch, daß unter Umständen und in Verbindung mit bestimmten Voraussetzungen ... die Ratifikation für die ~eutsche Wirtschaft und die deutsche Arbeitnehmerschaft unter den in Kauf zu nehmenden Ubel das kleinere ist". Siehe auch Lambachs Artikel in Heft Nr. 9 (September 1924) "Der Kaufmann in Wirtschaft und Recht". Dort stellte sich Lambach zwar vor den deutschnationalen Antrag, info&ierte aber gleichzeitig detailliert über Struktur und Aufgaben der ILO. "Der Deutsche" Nr. 212 (Deilage) vom 09.09.1924. 461

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noch als "ekeleregende Heuchelei" bezeichnet hatte466, und Lambach am 24.07. im Reichstag den deutschnationalenAntragauf Austritt und Nichtratifizierung gestellt hatte, wurde bereits wenige Tage später deutlich, daß die Spitzen der Christlichen Gewerkschaften in der Arbeitszeitfrage dem Druck der Basis nachgeben mußten. Auf einer Vorstandssitzung des DGB und des Gesamtverband der Christlichen Gewerkschaften am 28./29.07 wurde die grundsätzliche Bereitschaft erklärt, die Ratifikation des WAZ notfalls auch über einen Volksentscheid herbeizuführen, sofern die Parlamente der übrigen Hauptindustrieländer ebenfalls die Ratifikation anstrebten.467 Zunächst wollten die Christlichen Gewerkschaften allerdings "nach Erledigung des Dawesgutachtens und nach der Überwindung der gegenwärtigen Kreditund Wirtschaftskrisis ... sowie nach erfolgter Stellungnahme der Reichsregierung zur Frage der Ratifizierung" die Vorlage eines Arbeitszeitgesetzentwurfes bewirken, "der die Mängel der gegenwärtigen Arbeitszeitverordnung beseitigt". Mit diesem Beschluß der einer nationalen Arbeitszeitregelung Priorität einräumte und vor weiteren Vorbereitungen eines Volksentscheids über das WAZ zu einem Abwarten der Regierungserklärung anriet, wichen die Christlichen Gewerkschaften nicht wesentlich von der Linie des ADGB ab.468 Die Vorstände des DGB und des Gesamtverbandes trugen damit den Forderungen der Berufsverbände Rechnung. Insbesondere der Christliche Metallarbeiterverband hatte sich wiederholt für eine Abschaffung des Dreischichtsystem eingesetzt. Und der Christliche Bergarbeiterverband verabschiedete auf seinem Kongreß Anfang September 1924 eine Resolution für die Ratifikation des WAZ.~ was not being taken in the United States and Germany".m Für England waren Deutschland und die USA gleichermaßen starke Konkurrenten auf wirtschaftlichem Gebiet. Da den Deutschen mit den amerikanischen Dawesanleihen wieder Kapital zur wirtschaftlichen Erholung zur Verfügung stand, und gleichzeitig ein Zwang zu vermehrten Exporten bestand, um die Reparationslasten durch Überschüsse in der Leistungsbilanz abzutragen, waren Forderungen der englischen Wirtschaft nach staatlicher Unterstützung nicht von der Hand zu weisen. Die Reparation Recovery Act, die am 29.08.1924 eine Erhöhung der Reparationsabgabe von 5 % auf 26 % brachte, belastete nicht nur die Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und England516, sondern zielte auch in die gleiche Richtung wie die englischen Bemühungen um eine deutsche Ratifizierung des WAZ: Versuchte England durch hohe Zölle den Import deutscher Waren zu beschränken, so sollte mit der Ratifikation des WAZ "soziales Dumping" aus Deutschland verhindert werden. Was die Konkurrenz aus den USA anlangte, so gestand Shaw allerdings ein, "that the most formidable American competition came from firms which worked short hours, paid high wages, and used scientific methods of production" .517 Insbesondere der Automobilhersteller Ford, bei dem eine Arbeitszeit von nur 7 Stunden die Regel war518, sowie die Tatsache, daß die amerikanische Eisen- und Stahlindustrie 1923 das Dreischichtsystem eingeführt hatte, während in Deutschland zu diesem Zeitpunkt die zwölfstündige Doppelschicht wieder gefahren wurde519, zeigten, daß die Unruhe wegen der fehlenden Einbindung der H. Mommsen, "Verspielte Freiheit .. .", S. 198. Zitiert nach K.-H. Pohl, S. 48, siehe auch S. 127 ff, 130; die Forderung der deutschen Autofi~obilindustrie wurde bei einer Besprechung im RDI am 03.09.1924 aufgestellt. BIT-Protokoll, S. 70. 516 W. Weidenfeld, S. 276 f; am Ende der Handelsvertragsverhandlungen im November gelang es Deutschland schließlich, das Erhebungsverfahren so zu ändern, daß das Einzelexportgesshäft nicht mehr von der Abgabe betroffen war, S. 282. 51 BIT-Protokoll ebd.; siehe auch Somerveii-Protokoll, S. 95. 518 So Thomas in einer Note für Fuhs vom 22.11.1924, CAT 4-48. 519 I. Steinisch, S. 562. 513 514

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USA in ein Arbeitszeitübereinkommen kein zwingendes Argument war. Brauns machte deshalb eine Beteiligung der USA auch nicht zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für weitere Arbeitszeitgespräche. Man einigte sich auf den Vorschlag Shaws, die USA eventuell später zum Beitritt zum WAZ einzuladen.520 Nachdem schließlich noch geklärt worden war, daß Belgien seine Ratifikation nicht unter die Bedingung einer Ratifikation "by all important countries"521 , sondern nur unter die Bedingung einer Ratifikation der vier in Bern vertretenen Staaten stellen wollte522, konnten die Teilnehmer nach einer Mittagspause zur artikelweisen Erörterung des WAZ übergehen. Zu Art. 1 WAZ, der den Anwendungsbereich festlegte, wurde volle Einigkeit erzielt. Das WAZ sollte entsprechend seinem Wortlaut ebenfalls kleine Unternehmen mit weniger als 5 Arbeitnehmer umfassen.523 Daß Frankreich in diesem Bereich eine Nachbesserungspflicht anerkannte, wurde bereits erwähnt. Übereinstimmung erzielten die Minister auch in der Frage der Grenzziehung zwischen "Gewerbe", das dem WAZ unterstellt war, und "Handel und Landwirtschaft", die außerhalb des Geltungsbereichs lagen (Art. lletzter Absatz WAZ). Danach sollte diese Vorschrift der zuständigen Behörde zudem gestatten, die Handelsabteilungen von Industrieunternehmen den Bestimmungen des WAZ zu entziehen.524 Bei der Diskussion der Kernbestimmung des WAZ, des Art. 2, der die Arbeitszeit auf 8 Stunden täglich und 48 Stunden wöchentlich festschrieb, sprach der RAMinister zunächst die Frage an, ob "Woche" im Sinne der Bestimmung auch den Sonntag umfasse oder ob es sich bloß um eine Abfolge von 6 Tagen handele. Mit anderen Worten: Durfte in der Zeit von Montag bis Sonntag grundsätzlich nur 48 Stunden gearbeitet werden? Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Sonntagsruhe weitgehend beachtet wurde, plädierten Frankreich und Belgien dafür, die Arbeitszeitbeschränkung des Art. 2 nicht auf eine 7-Tage Woche auszudehnen. "Sunday rest bad nothing to do with the convention", verteidigte Picquenard energisch die französische Position. Der belgisehe Arbeitsminister hingegen suchte eine vermittelnde Lösung: Zwar treffe das WAZ keine Aussage über die Sonntagsruhe, doch sei diese wie z.B. in Belgien ohnehin allgemein durchgeführt. Der englische Arbeitsminister dagegen schloß sich aus einem bekannten Grund der Position Brauns an: "Otherwise, it would involve regular recurring overtime which ~: Somerveii-Protokoll. S. 95. 522 523 5 2-1

So Tschoffen, ebd.. Ebd .. So Thomas, Somerveii-Protokoll, S. 97. Somerveii-Protokoll, S. 98.

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was not in accord with the Convention". Nachdem Brauns mehrmals betont hatte, "that if Sunday work were left out, it might be difficult for Germany to ratify", es sei denn alle Staaten ratifizierten die Sunday Rest Convention der ILO von 1921 gleichzeitig mit dem WAZ, schwenkten die anderen Teilnehmer ein.51S So konnte Thomas, der nochmals das Argument Brauns hervorhob, wonach ein Ausschluß des Sonntags von Art. 2 den Absichten der Konvention grundsätzlich zuwiderlaufe, schließlich feststellen: "Everyone was agreed, therefore, in principle that the word 'weck' must include Sunday".526 Damit hatte Brauns mit Unterstützung des englischen Arbeitsministers, der vorallem die Abschaffung regelmäßiger sonntäglicher Überstunden bei den Eisenbahnern im Auge hatte, und mit Hilfe Thomas, der auf einer möglichst umfassenden Verwirklichung der 8-Stundentagsreform bedacht war, seinen Standpunkt, für den neben den realen arbeitszeitpolitischen Verhältnissen in Deutschland sicherlich auch seine christliche Überzeugung maßgebend war, entschlossen durchgesetzt. Da Frankreich und Belgien die Ratifikationschancen in Deutschland nicht um jeden Preis verschlechtern wollten, gaben sie an diesem Punkt nach. Eine schnelle Einigung erzielten die Arbeitsminister zu zwei weiteren Punkten des Art. 2. Man stimmte erstens darin überein, daß Art. 2 Abs. b, der eine andere Verteilung der Arbeitszeit mit einem Maximalarbeitstag von 9 Stunden zuließ, wenn an den anderen Tagen weniger gearbeitet wurde, keine Überschreitung der 48 Stundengrenze sanktionierte.527 Und zweitens einigte man sich, daß Art. 2 Abs. c, der für Schichtarbeiter einen Arbeitsplan mit mehr als 9 Stunden täglich gestattete, jedoch den Durchschnitt der Arbeitszeit berechnet auf 3 Wochen wieder an die 8 bzw. 48 Stundengrenze band, ausnahmsweise aufgrund Art. 5 durchbrachen werden dürfe528, ergo die 3-Wochenfrist verlängert werden dürfe. Von größerer Bedeutung war die Frage, was als "kontinuierlicher Betrieb" im Sinne des Art. 4 zu gelten hatte. In Washington hatte man den ursprünglichen Versuch, die "Arbeiten, die ihrer Natur nach einen ununterbrochenen Fortgang mit Schichtenwechsel erfordern", in Listen zu erfassen, wegen der zu großen Komplexität der Aufgabe und fehlender Zeit nicht weiter verfolgt. Bedeutend war das Problem der kontinuierlichen Betriebe insofern, als Art. 4 für die dort beschäftigten Arbeiter eine maximale Arbeitszeit von durchschnittlich 56 Stunden wöchentlich, also eine 7 Tagewoche erlaubte ,

~~ ~;-~:~:0~~~~~: s. 98f.

BIT-Protokoll, S. n. Art. 5 setzte eine von den Tarifvertragsparteien erarbeiteten Arbeitsplan voraus, der von staatlicher Seite genehmigt werden mußte, BIT-Protokoll ebd.. 528

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ohne daß die 8 Stunden mehr mit einem 25%igen Zuschlag vergütet wurden.529 Wie bereits während der Washingtoner Konferenz 1919 mußte auch 1924 in Bern eine genaue Begriffsbestimmung offenbleiben. Zunächst brachte Brauns die Frage ins Spiel, "whether a continuous process necessarily involved Sunday work or included industries which carried on work day and night during the week but stopped on Sunday".SJO Es lag im Interesse der deutschen Delegation die Zustimmung zu einem relativen Begriff der "kontinuierlichen Betriebe" zu erreichen. Denn würden die Industrieunternehmen (z.B. die Walzwerke der Eisengroßindustrie)531, die nicht am Sonntag aber die ganze restliche Woche über in Betrieb waren, nicht unter Art. 4 fallen, "it might result in the increase or at any rate the maintenance of Sunday work, which should be avoided".532 Dieser Sicht der Dinge widersprachen jedoch die Vertreter Frankreichs, Belgiens und Englands.533 In einer späteren Zusammenfassung (05.05.1925) der Streitpunkte in Bern für den neuen englischen Arbeitsminister führte Somervell aus, worin seines Erachtens der Grund für das deutsche Interesse an einem relativen Begriff der kontinuierlichen Betriebe lag: In den Industriezweigen, in denen außer sonntags durchgehend gearbeitet werde, wünsche Deutschland eine internationale Sanktionierung der 56-Stundenwoche, " to maintain their practice of two twelve hour shifts, e.g. in rolling mills".534 Die Vermutung Somervells entsprach jedoch insofern nicht den tatsächlichen Absichten des RAMinisters, als dieser bereits Ende Juli angekündigt hatte von seinem Recht nach § 7 der Arbeitszeitverordnung Gebrauch zu machen und für bestimmte Schwerarbeitergruppen, zu denen vorallem Teile der Eisen- und Stahlindustrie zählten, eine strengere Regelung der Arbeitszeit durchsetzen wollte. Das große Interesse Deutschlands an einer detaillierten Umschreibung und Begrenzung der Pflichten des WAZ mochte das Risiko erneuter internationaler Kontrolle minimieren, belastete aber an dieser Stelle den Prozeß gegenseitiger Verständigung. Als dann Shaw, den für ihn und die englische Ratifikationsdebatte so wichtigen Punkt ansprach, nämlich ob die Eisenbohnen als kontinuierliche Betriebe anzusehen seien oder nicht, blockierte Brauns seinerseits jede weitere Diskussion: "Dr. Brauns said he was not prepared to give a final answer as 529 Art. 4 Satz 2 garantierte allerdings ausdrücklich den Anspruch auf die Ruhezeit, die dem Arbeitnehmer "etwa nach der einheimischen Gesetzgebung als Ersatz für den wöchentlichen R~~etag zugesichert ist". Somerveii-Protokoll, S. 99.

~!~ ~::~:t~~~~~~~~ ~;;~Ischen Gesandtschaft Bem a.a.O ..

533 • ... erhebliche Meinungsverschiedenheiten ...•, Sitzler-Niederschrift, S. 4. 534 Aufzeichnung Somervells vom 05.05.1925. PRO/Lab 2/994/IL 125/29, S.

9.

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to what would be regarded as continuous processes".535 Außerdem sei er nicht einmal in der Lage, Informationen über die Arbeitszeitregelungen der Eisenbahner zu geben, "as the railways were under the Ministry of Transport and not within bis jurisdiction".536 Gegen den Vorschlag Frankreichs und Belgiens, eine Liste der kontinuierlichen Betriebe solle erst nach erfolgter Ratifikation aufgestellt, dann dem BIT gemäß Art. 7 a mitgeteilt und notfalls eine Lösung über Art. 409 Versailler Friedensvertrag oder mit Hilfe der IAK (vgl. Art. 7 letzter Satz) gesucht werden, erhob Brauns selbstverständlich Einspruch. Denn sein primäres Ziel lag darin, vor einer deutschen Ratifikation den genauen Inhalt des WAZ festzuschreiben, um später gegen ein internationales Überprüfungsverfahren deutscher Arbeitszeitnormen gewappnet zu sein.537 "He suggested domestic discussion and another conference later".538 Doch auch für Shaw war eine Klärung dieses Punktes essentiel: "He could not impose a 48-hour week on the railways in England if there were tobe 56 hours worked on railways elsewhere".539 Die Eisenbahnen durften also nach Ansicht Shaws nicht als kontinuierliche Betriebe angesehen werden, in denen wöchentliche Arbeitszeiten bis zu 56 Stunden erlaubt waren. Obwohl Shaw zur Begründung seiner Position auf die Entstehungsgeschichte des WAZ verweisen konnte540 und einige interpretatorische Argumente auf seiner Seite hatte541 , gelang es ihm nicht, einen gemeinsamen Nenner herzustellen. Lediglich Thomas schloß sich ausdrücklich seiner Meinung an, wonach nur Art. 5 auf die Eisenbahnen Anwendung finden sollte: Danach konnten die Tarifvertragsparteien zwar eine selbständige Verteilung der Arbeit ohne tägliche Arbeitszeitbegrenzung vornehmen, waren aber unter allen Umständen an die 48-Stundenwoche gebunden. Schließlich fand sich auch der französische Vertreter Picquenard zu einem vagen Ja bereit, das er aber mit der Einschränkung versah, die zur Zeit geltenden Arbeitszeitregelungen für die französischen Eisenbahnen müßten erst überprüft werden.542 So blieb Thomas letztendlich nichts übrig, außer den englischen Arbeitsminister mit dem Versprechen zu vertrösten, Informationsmaterial über die deutsche, französische und belgisehe Arbeitszeit bei den Eisenbahnen nachzureichen.543 "Daß jeder Staat den Begriff des kontinuierlichen Betriebs

: :g~~::~~~::: ~: ~: S3S

538

539

540

Somerveii-Protokoll. S. 100. So Brauns ebd..

~~!~~~ak~~· :~!r ebenfalls Bezug, BIT-Protokoll, S. 79.

"Railways were not a process and did not work by a succession of shifts", argumentierte Shaw, BIT-Protokoll, S. 78. "542 Somerveii-Protokoll. S. 101. 541

543

Ebd..

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selbständig und auf eigene Verantwortung interpretieren soll"S44, war der kleinste gemeinsame Nenner auf den man sich einigen konnte, aber kein nennenswerter Fortschritt gegenüber der IAK 1919. Am zweiten Besprechungstag stand neben mehreren Einzelfragen auch die Interpretation des Art. 14 WAZ auf der Tagesordnung. Zunächst sprach Brauns das Problem an, ob Art. 5 - wie im französischen Arbeitszeitgesetz vorgesehen - im Wege tarifvertraglicher Vereinbarung die Möglichkeit eröffne, entweder durch widrige Wetterbedingungen oder z.B. durch regional festgelegte Feiertage verlorene Arbeitszeit nachzuholen.545 Während der belgisehe Vertreter Julin und Shaw im ersten Fall, der vor allem Saison- und Baubetriebe betraf, zustimmten546, beriefen sie sich bei ihrem Widerspruch im zweiten Fall zu Recht auf den Text des WAZ: Art. 5 gestattete nur in Ausnalzmeföllen eine Nachholung ausgefallener Arbeitszeit im Wege einer den Tarifvertragsparteien überlassenen Verteilung der Arbeitszeit auf das ganze Jahr. Regional- oder lokal festgelegte Feier- und Urlaubstage hingegen waren regelmäßig arbeitsfrei. Dennoch beharrte Brauns zusammen mit Godart auf dem gegenteiligen Standpunkt. Der RAMinister gab zu bedenken, "< that > the German Government might find it difficult to ratify if too narrow an interpretation were put on the article".547 Im Unterschied zur Frage der Einbeziehung des Sonntags in die 48-Stundenwoche bewirkte diese Drohung diesmal kein Nachgeben der Verhandlungspartner. Thomas schloß sich zwar der englischen und belgiseben Auslegung an, konnte jedoch weder mit dem Hinweis auf ein mögliches Kontrollverfahren nach Art. 409 noch durch Herunterspielen der Bedeutung des Streitpunktes eine Einigung der Teilnehmer erreichen.S48 Ihm blieb nur die Feststellung, daß die Aufklärung über abweichende Standpunkte ebenfalls zum Ziel des Treffens gehöre. Keinen Konsens erzielten die Minister auch in der Frage, ob die tarifvertraglich anderweitig geregelte Verteilung der Arbeitszeit gemäß Art. 5 erst nach deren Zustandekommen einer staatlichen Genehmigung bedurfte, oder ob die Regierung diesen Tarifverträgen bereits zuvor einen bindenen Rahmen geben mußte. Besonders dem englischen Arbeitsminister lag an eiSitzler-Niederschrift. S. 5. Somervell-Protokoll. S. 101. Somervell-Protokoll, S. 102; siehe auch Note vom Somervell vom 30.09.1924, PRO/Lab 2 a.a.O .. S. 6. Später bestritt Shaw, er habe auch die Bauindustrie als Saisiongewerbe bezeichnet, bei der durch Schiechwetter verlorene Arbeitszeit wieder nachgeholt werden könne, Note von Somervell ebd.; vgl. Shaws handschriftliche Randbemerkungen zu "Summary of the ~qclusions of the Meeting at Beme". PRO/Lab 2 a.a.O., S. 50. 5+l S4S S46

548

~~-::e~~~~~~k~~: s. 102.

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

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ner klaren Antwort von seiten Godarts und Brauns.549 Da in England traditionellerweise eine Abneigung gegen eine staatliche Reglementierung der Tarifvertragshoheit bestand, plädierte Shaw für eine nachträgliche Zustimmung der Regierung. Brauns hingegen, und im Anschluß daran auch Picquenard, vertraten den umgekehrten Weg. Als dies Shaws Widerspruchs hervorrief, versuchten Brauns und Thomas die Meinungsverschiedenheit als Detailproblem herunterzuspielen. Letztlich blieb die Frage, die für England durchaus grundsätzliche Bedeutung hatte, weil das Verhältnis zwischen staatlicher und tarifvertraglicher Regelungskompetenz berührt war, offen. "If they could not settle this point definitely, they must leave it over as they had done with continuous processes", faßte Thomas zusammen.sso Einig waren sich die Teilnehmer wiederum darin, daß das WAZ wegen der Unklarheit des Begriffs nicht von der "effektiven Arbeitszeit" ausgehe.ss1 Mit anderen Worten: Grundsätzlich bedeuteten die Arbeitszeitgrenzen des WAZ eine Limitierung der Zeiten, in denen die Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung standen. Davon gab es jedoch zwei wichtige Ausnahmen: einerseits blieb es der nationalen Gesetzgebung überlassen, "für gewisse Gruppen von Personen, deren Arbeit in besonderem Maße Unterbrechungen mit sich bringt" (Art. 6 a), Sonderregelung zu treffen. Und auf der anderen Seite wurden die vom Arbeitgeber durch Anschlag bekannt gegebenen Arbeitspausen nicht zum achtstündigen Arbeitstag gerechnet (Art. 8 b).552 Die Teilnehmer bestätigten Grundsatz und Ausnahme des WAZ. Mit diesem Ergebnis hatte Brauns den Interessen der deutschen Arbeitnehmer einen Dienst erwiesen. Denn sie hatten befürchtet, daß der Begriff "travail effectif' im französischen Arbeitszeitgesetz Anlaß zu tatsächlichen Arbeitszeitverlängerungen durch die Arbeitgeber in Deutschland bieten könnte.m Ob sich die Arbeitsminister allerdings ausdrücklich darüber verständigten, daß der Begriff Arbeitsbereitschaft "selbständig und ohne Bindung an das Abkommen geregelt werden könne", dafür gibt es nur in der Niederschrift Sitzlers einen Hinweis. Frankreichs erklärte Bereitschaft zur Ratifikation stieß erneut auf Zweifel, als Art. 6 b zur Sprache kam. Danach konnten die Behörden "vorübergehende Ausnahmen bei außergewöhnlicher Häufung der Arbeit" zulassen; jedoch mußten diese Überstunden mindestens um 25 % höher 549

Ebd..

551

So Thomas, BIT-Protokoll. S. 85; Somerveii-Protokoll, S. 103; mißverständlich Sitzler-

sso Ebd..

N!~derschrift, S. 6. 2 Im letzteren Fall d~~f

konnte man unter Umständen von effektiver Arbeitszeit sprechen; siehe die Darstellung Picquenards, DIT-Protokoll, S. 84. So ßrauns in seinem einführenden Statement. BIT-Protokoll, S. 67.

li. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

217

entlohnt werden. Das französische Arbeitszeitgesetz sah indes keinen Überstundenzuschlag vor, "but all decrees and orders issued under it required that the customary rat es for overtime should be paid" .554 Da den Arbeitnehmern offensichtlich in der Regel ein 25 %iger Zuschlag tarifvertraglich zugesichert war, stand die tatsächliche Situation in Frankreich mit dem WAZ nicht in Widerspruch. Einer gesetzlichen Festlegung hatten sich die Gewerkschaften 1919 sogar widersetzt. Sie fürchteten, "that if a minimum rate were laid down it might, in practice, become a maximum".s.ss Obwohl der Wortlaut des WAZ keine eindeutige Pflicht zur gesetzliche~~ Festschreibung des Überstundenzuschlags aufstellte, pochte Belgien doch vehement darauf, daß Frankreich sein Arbeitszeitgesetz in Übereinstimmung mit dem WAZ bringen solle: "Mr. Tschoffen feared that if the French law were not completed on this point the Opposition of ratification would have a strong argument in Belgium".556 Dem belgiseben Arbeitsminister zur Seite stand lediglich Shaw, der resigniert fragte, "how ratification could be admitted if the conditions of the convention were not respected".m Thomas und Brauns hingegen bestärkten Godart in seiner Auffassung. Während der Direktor auf die mit Frankreich vergleichbare Lage in Italien verwies und die tatsächliche Bezahlung eines 25 %igen Zuschlags als entscheidend hervorhob, gab Brauns, der die Einwände in Deutschland gegen eine Regelung der Lohnhöhe innerhalb eines künftigen Arbeitszeitgesetzes kannte, zu bedenken, "that even if 25 % wcre laid down, it was the kind of condition that could always be evaded".558 Picquenard schloß schließlich die Möglichkeit nicht kategorisch aus, daß Frankreich den 25 %igen Zuschlag in die Ausführungsbestimmungen des Arbeitszeitgesetzes noch mit einbeziehen werde. Belgien verzichtete an dieser Stelle auf weiteren Protest. Eine befriedigende Einigung bedeutete dieses "agree to disagree" jedoch nicht.559 Zum Abschluß der zweitägigen Besprechungen stand Art. 14 auf der Tagesordnung. Brauns hatte bereits in seinem einleitenden Statement am ersten Tag auf die Möglichkeit hingewiesen, "that circumstances would arise which would make the eight hour regime no Ionger feasible and they must maintain a loophole for such an eventuality in order to fulfill their interna554

:

So Picquenard, BIT-Protokoll, S. 85.

i;>rJ_i~~t~nk~l~.' ~~~JVeii-Protokoll, S. 104.

SomeJVeii-Protokoll, S. 104. Ebd .. Vgl. Thomas Zusammenfassung ebd. und auch die vorsichtige Formulierung in "Analyse des Resultats" a.a.O.; Zusammenfassung SomeJVells in seiner Aufzeichnung vom 05.05.1925 a.a.O. Sitzler hingegen (Niederschrift S. 6) notierte, man sei "übereinstimmend" der Ansicht gewesen, es genüge die tatsächliche Durchführung des 25 %igen Zuschlags. Eine entsprechende gesetzliche Bestimmung werde "nicht für notwendig erachtet". Damit hatte er den Widerspruch Belgiens und Englands ausgeklammert. 558 559

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

tional obligations in other directions".560 Damit war die deutsche Position klar umschrieben, so wie sie in der Kabinettsitzung vom 27. August und in der Regierungserklärung begründet worden war: Ohne ein reparationspolitisches Schlupfloch keine Ratifikation in Deutschland.561 Doch Brauns war gleichzeitig um Verständigung und Beruhigung etwaiger Befürchtungen seiner Verhandlungspartner bemüht. Er versicherte seineo Ministerkollegen, "that the Government had no immediate intention after the ratification of claiming to work a Ionger day on account of their Reparations obligations". Nur für den Fall, daß Sanktionen wegen Nichterfüllung drohten, "it might be necessary to increase the hours of work temporarily in order to avert what would be a national danger".562 Der belgisehe Arbeitsminister entgegnete Brauns trotzdem "in scharfer Form"563: "There was no connection between reparations and the Washington Convention".564 Als Brauns am zweiten Tage des Ministertreffens seinen Standpunkt wiederholte, legte er nochmals Wert auf die Feststellung, daß Deutschland nicht mit der Notwendigkeit einer Arbeitszeitverlängerung aufgrund der Reparationslasten rechne: "lt was quite possible that no need would ever arise to apply Article 14. lt would perhaps be sufficient to note his declaration" .565 Hatte der RAMinister also in Bern ausdrücklich erklärt, der Vorbehalt einer Arbeitszeitverlängerung aufgrund Art. 14 diene lediglich in Notfällen dazu, Reparationsverpflichtungen zu erfüllen und Sanktionen abzuwehren566, so ergänzte er diese im BITProtokoll festgehaltene Aussage später schriftlich mit den Worten: "or in cases where the vital needs of a country were gravely imperilled in other ways".567 Damit brachte Brauns den Vorbehalt in fast wörtliche Übereinstimmung mit der Regierungserklärung und seinen Äußerungen gegenüber Thomas Mitte Juni 1924. Offensichtlich hatte sich Brauns in Bern mit der strengen Anhindung einer eventuellen Arbeitszeitverlängerung an drohende Sanktionsmaßnahmen zu weit vorgewagt. Um der möglichen Kritik, er habe sich nicht in vollem Umfang an die Regierungserklärung vom August gehalten, berichtigte das RAM nachträglich das BIT- Protokoll. In den Aufzeichnungen Somervells hingegen, die dem RAMinister nicht zur Verfügung standen, verblieb die ursprüngliche Äußerung.568 Brauns tatsächliche Aussage vom 09.09. wurde zunächst von Thomas begrüßt, der sich selbst zu Recht als verantwortlich für den Rückgriff Deutschlands auf Art. 560 561 562

Somervell-Protokoll. S. 94. Vgl. auch "Deutsche Allgemeine Zeitung" Nr. 418 vom 05.09.1924. BIT-Protokoll. S. 68. : So Bericht der Deutschen Gesandtschaft a.a.O .. 565 Somerveii-Protokoll. S. 95. BIT-Protokoll. S. 86. 566 So das ursrprüngliche DIT-Protokoll. S. 86 und Somerveii-Protokoll. S. 102. 567 Corrections by Dr. Brauns. PRO/Lab 2 a.a.O .. S. 54. 568 Somerveii-Protokoll. S. 102: siehe auch Bericht der Deutschen Gesandtschaft Bern a.a.O.: "... bei Bedrohung durch Sanktionen ...".

li. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

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14 bezichtigte. Ferner wies er darauf hin, daß das belgisehe Arbeitszeitgesetz Art. 14 noch viel weiter auslege, indem es Überstunden zulasse, "with a view to increasing exportations".SfR Brauns zeigte jedoch scheinbar noch größeres Entgegenkommen: 'The question of its being applied might only arise in quite exceptional cases where sanctions were directly threatened I< the vital needs of Gemany were directly imperelled >I and in regard to particular industries".570 Mit dieser Erklärung wollte Brauns wohl der Befürchtung begegnen, Deutschland werde die Reparationslasten zur Rechtfertigung einer generellen Arbeitszeitverlängerung in Anspruch nehmen. Lediglich in einzelnen Industriezweigen sollte unter Umständen vorübergehend eine Durchbrechung des 8-Stundentages stattfmden. Doch führte dies insofern zu Irritationen bei seinen Verhandlungspartnern, als Brauns damit auch den engen Zusammenhang zwischen Reparationen und Arbeitszeit bekräftigt hatte: Es mußte nicht erst, wie im Wortlaut des WAZ vorgesehen, die Schwelle einer nationalen Krise überschritten sein, sondern es sollte z.B. das Darniederliegen des Kohlenbergbaus wegen überhöhter Reparationsforderungen Frankreichs genügen. Tschoffen, Shaw und Godart begrüßten zwar grundsätzlich, daß Brauns dem reparationspolitischenpolitischen Schlupfloch engere Grenzen zu ziehen bemüht war. Gleichwohl hielten die drei Arbeitsminister an ihrer rechtlichen Auffassung fest, wonach Art. 14 nur im Falle eines Krieges oder der Gefährdung nationaler Sicherheit rechtmäßig zur Anwendung kommen könne.571 Mit einem Kompromißvorschlag versuchte Godart deshalb eine weitergehende Einigung herbeizuführen: "Artide 6 b allowed all the latitude necessary in order to meet the exceptional cases which Dr. Brauns bad contemplated. If, for instance, dcliveries in kind were necessary by a certain date, extra work would be permissible under Article 6 bin order to overtake arrears". 572 Doch Brauns wollte sich auf diesen Kompromiß nicht einlassen: "lt only contemplated 'exceptional cases of pressure of work', i.e. a rush of orders etc. Owing to the collapse of the exchange in 1923 it became necessary to work Ionger hours in the Ruhr in order to obtain foreign capital, although at that time there was very little pressure of work in the ordinary sense". Was Brauns nicht erwähnte, daß Arbeitszeitverlängerungen nach BIT-Protokoll, S. 87. Ebd., wobei die zweite. in Klammem gesetzte Aussage die korrigierte Version darstellt. Im Somerveii-Protokoll, S. 103 heißt es: "Dr. Brauns explains that the most he had in mind was a temporary and partial suspension to meet a particular case". Die Tatsache, daß sich Tschoffen bei seiner Antwort auf die Aussage Brauns bezog, "that Article 14 would only be invoked in panicular industries in order to avoid the menace of immediate sanctions" (BITProtokoll, S. 88), belegt zudem den Inhalt der ursprünglichen Äußerungs Brauns. Vgl. auch SiHJer-Niederschrift, S. 6. 572 Somerveii-Protokoll, S. 103. BIT-Protokoll, S. 89. S6J

570

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Art. 6 b mit einem 25 %igen Lohnzuschlag belastet waren, spielte an dieser Stelle für sein Festhalten an Artikel 14 sicherlich auch eine maßgebende Rolle. "Damit war die von der Gegenseite erhoffte deutsche Bindung und Zusicherung, das Arbeitszeitproblem von der Reparationsfrage zu trennen, nicht erreicht worden", formulierte der deutsche Gesandte in Bern später in seinem Bericht an das Auswärtige Amt.573 Im Vergleich zur politischen Situation vor der Londoner Reparationskonferenz und vor der Annahme der Dawesgesetze im Reichstag hatten sich die Vorzeichen geändert: Jetzt, im September 1924, schinHte Bra11ns nicht mehr die Reparationn•erhandlungen vor arbeitszeitpolitischen Störfeilem ab, so11dem 11ahm selbst durch Offenhalteil ei11er arbeitszeitpolitischen Optio11 (Art. 14) und die Betonu11g des Zusamme11ha11gs zwische11 Arbeitszeit und Reparationen die Reparationsregelung 1111ter Beschuß. Damit setzte er seine schon vor 1924 und zu Beginn des Jahres geführte Politik fort. Darüber hinaus beinhaltete die deutsche Argumentation eine Komponente, die das WAZ und jede Ratifikation ad absurdum führen konnte. "If one country claimed that economic circumstances might create a danger to national safety, others could do the same", so die fatale Schlußfolgerung des englischen Arbeitsministers.574 Ein internationales Arbeitszeitübereinkommen aber, dessen Gültigkeit von der jeweiligen wirtschaftlichen Verfassung eines Landes abhing, war nicht nur der einzelstaatlichen Beliebigkeil ausgesetzt, sondern verfehlte zudem seinen eigentlichen Zweck. Die Förderung des sozialpolitischen Fortschritts und die Verringerung ökonomischer Konkurrenzängste ("soziales Dumping") mit Hilfe einer Standardisierung der regelmäßigen Arbeitszeit in den europäischen Hauptindustrieländern konnte das WAZ mit dieser Interpretation nicht garantieren. Kurz zusammengefaßt ergibt sich folgendes Bild: Zwar hatten sich die Arbeitsminister in vielen Punkten geeinigt, die Anlaß zu unterschiedlicher Auslegung des WAZ gaben. So sollten Betriebe mit weniger als 5 Arbeitnehmer dem Geltungsbereich des Übereinkommens unterfallen, im Zeitpunkt der Ratifikation durften nationale Arbeitszeitbestimmungen nicht mehr gegen das WAZ verstoßen, die Festlegung der Grenze zwischen Handel und Gewerbe blieb der nationalen Gesetzgebung vorbehalten, die 48-Stundenwoche schloß den Sonntag mit ein, das WAZ ging nicht vom Begriff der effektiven Arbeitszeit aus, Einzelfragen zu Art. 2 b und c wurden gelöst, in Saisonbetrieben konnte ausgefallene Arbeitszeit zu einem späteren Termin nachgeholt werden und schließlich war man sich einig, daß die USA zu einem Beitritt zum WAZ eingeladen werde, ihre Ab573 574

Bericht der Deutschen Gesandtschaft Bem a.a.O .. BIT-Protokoll. S. 88.

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wesenheit aber kein Ratifikationshindernis darstellen sollte. Die Vielzahl der gelösten Detailprobleme konnte indes dan'iber hinweg täuschen, daß bei Kemfragell ein Konsens nicht e"eicht worden war: Offen blieb weiter die Frage, was als "kontinuierlicher Betrieb" im Sinne des WAZ zu gelten hatte; ebenso ungelöst war, ob eine anderweitige tarifvertragliche Verteilung der Arbeitszeit gemäß Art. 5 einer vorherigen - so Frankreich und Deutschland - oder einer nachträglichen - so England - staatlichen Rahmenregelung bedurfte. Gar nicht erst angesprochen hatte man in Bern das Problem der Grenzen von Art. 6 b, der vom 8-Stundentag vorübergehende Ausnahmen bei außergewöhnlicher Häufung der Arbeit zuließ.m Lediglich die Frage, ob der letzte Satz dieser Bestimmung einen ratifizierenden Staat zur gesetzlichen Einführung eines 25 %igen Lohnzuschlages bei Mehrarbeit verpflichtete, war Gegenstand der Diskussionen gewesen. Dabei blieben die Meinungen, ob eine tatsächliche Durchführung des Überstundenzuschlags den Normen des WAZ genüge oder nicht, bis zuletzt geteilt. Bei Art. 14 schließlich, der an den Nerv des WAZ rührenden Ausnahmebestimmung, beharrte Deutschland auf einer weiten Interpretation, die von den Verhandlungspartnern nicht geteilt wurde und die zudem im Wortlaut der Bestimmung keine Grundlage hatte. Wenn auch der fortbestehende Dissens in fundamentalen Fragen die Verhandlungserfolge en detail schmälerte, so war in Bern doch vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung im ersten Halbjahr 1924 auf dem Weg zur Ratifikation des WAZ ein Fortschritt erzielt worden. Der arbeitszeitpolitische Rückschritt eines in der Sozialpolitik traditionell progressiven Landes im Dezember 1923 hatte in der Öffentlichkeit für große Unruhe gesorgt und auf der IAK im Juni zu einer Frontstellung gegenüber Deutschland geführt. Die sachlichen und kompromißorientierten Verhandlungen auf höchster politischer Ebene vom September 1924 standen in auffälligem Kontrast zu dem polemischen Schlagabtausch der letzten Wochen und Monate. Die sich in Genf "drohend zeigende Isolierung Deutschlands in sozialpolitischer Hinsicht"576 beschränkte sich in Bern auf die Auslegung von Art. 14 WAZ. Doch auch in diesem Punkt bemühte sich der RAMinister, die anderen Staaten von der Absicht Deutschlands zu überzeugen, trotz der Dawesverpflichtungen am 8-Stundentag festhalten zu wollen. Die Tatsache, daß sich der englische Arbeitsminister "wiederholt" der deutschen Sprache bediente577, sowie die grundsätzlich positive Aufnahme, die die deutsche Er515 Siehe dazu auch die Aufzeichnung von Somervell für den neuen Arbeitsminister vom 05.05.1925, PRO/Lab 2 a.a.O., S. 9 f: "From the practical point of view this seems the crux of th~ whole matter, namely how much ovenime is to be allowed and in what circumstances". Bericht der Deutschen Gesandtschaft Bern vom 12.09.1924 a.a.O .. Ebd ..

S:,

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klärung zu Art. 14 fand, zeigen die Gesprächs- und Verständigungsbereitschaft der teilnehmenden Staaten. Hinzukam, daß sachliche Differenzen wie z.B. beim Begriff des kontinuierlichen Betriebs oder bei Art. 14 mit der Formel eines "agree-to-disagree", die eine Interpretation der nationalen Entscheidungsgewalt vorbehielt, zumindest ansatzweise überbrückt wurden.578 Wenngleich nicht zu übersehen ist, daß Deutschland durch Betonung des Zusammenhangs Reparationen/Arbeitszeit hier begann, Revisionspolitik.

Aus deutscher Sicht bedeutete der Umstand, daß man in Bem zum ersten Mal von Anfang an wieder als gleichberechtigter und in der Sache mitentscheidender Verhandlungspartner an einer Konferenz mit Vertretern der allierten Siegennächte teilnahm, einen iiber die bloßen Beziehungen zur ILO hinausreichenden Markstein in der gesamten deutschen Außenpolitik dieser Jahre. Zur Verbesserung des Verhältnisses Berlin-Genf trug ferner bei, daß Thomas auf der abschliessenden Pressekonferenz erklärte, in Deutschland sei jedenfalls bis 1923 der 8-Stundentag strikt eingehalten und damit ein Zustand verwirklicht worden, der selbst 1924 in den anderen Ländern noch nicht bestanden habe.579 Nach dem Abschluß der Londoner Verhandlungen Mitte August 1924, die zu einem Durchbruch in der Reparationsfrage geführt hatten, gab das Berner Arbeitszeittreffen den (sozialpolitischen) Auftakt für die Verständigungspolitik in Europa, dessen Höhepunkt der Locarno-Pakt und der deutsche Beitritt zum Völkerbund waren. Obwohl man "unter dem allgemeinen Eindruck , daß es möglich sein werde, innerhalb Jahresfrist zu einer gemeinsamen Ratifikation des Washingtoner Abkommens durch die vier in Bern vertretenen Hauptindustrieländer zu gelangen"580, führte der Prozeß der allgemeinen Verständigung nicht zur Ratifizierung des WAZ. Bereits in Bern zeigte sich, daß eine Vielzahl von Einzelproblemen, die sowohl in rechtstechnischen als auch in handfesten sozialpolitischen und ökonomischen Differenzen angesiedelt waren, den Weg dorthin erheblich erschwerten. Zwar war mit der Annahme des Dawesplanes die insbesondere aus deutscher Sicht so bedeutende Priorität der Lösung der Reparations- vor der Ratifizierungsfrage entfallen. Doch spiegelte sich in der Diskussion um die Grenzen von Art. 14 578 Vor diesem Hintergrund ist auch die Bewertung des deutschen Gesandten in Bem zu verstehen: "Wenn im ganzen die deutsche Auffassung sich auch nicht überall durchsetzte konnte, wurde doch in den wesentlichen Punkten entweder ein Übereinkommen erzielt oder de~deutsche Standpunkt ausdrücklich aufrechterhalten•. 5 Beilage zu den Mitteilungen der Vereinigung deutscher Arbeitgeberverbände vom 17.09.1924. R 13 1/368. S. 13. Thomas sprach dabei auch von einer "Reihe von ZMsicherungen", die Deutschland erhalten werde. 80 Bericht der Deutschen Gesandtschaft Bern a.a.O ..

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die Tragweite wieder, die dem Reparationsproblem im Zusammenhang mit der Ratifizierung des WAZ nach wie vor zukam. Die Annahme des Dawesplans hatte den Weg zu internationalen Verhandlungen über das WAZ geöffnet, nicht aber die internationale Arbeitszeitpolitik von der Last der - in ihrem Kern immer noch offenen - Reparationsfrage befreit. Darüber hinaus erschwerte das Fehlen eines allgemein akzeptierten Streitschlichtungsmechanismus für den Fall von Verstößen gegen ein ratifiziertes WAZ weitere Fortschritte. Vorallem Deutschland hatte starke Bedenken, gegen das in den Art. 409 ff Versailler Friedensvertrag vorgesehene Verfahren der Kontrolle und Überwachung, denn die Gefahr, einem internationalen Untersuchungsausschuß ausgesetzt zu sein und möglicherweise sogar Wirtschaftssanktionen hinnehmen zu müssen, überstieg das Maß der Bereitschaft eines durch Reparationsforderungen und vielfältige Kontrollen auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet "gebrannten" Landes, nun auch in der Sozialpolitik Einschränkungen nationaler Souveränität hinzunehmen. Das Drängen Brauns auf eine artikelweise Erörterung des WAZ hatte letztlich seine Ursache in der Absicht, die Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland im Keim zu ersticken. Da das im Versailler Vertrag geregelte Kontrollverfahren den Arbeitsministern und Thomas weder zur Disposition noch zur Interpretation offenstand, ließ sich nur auf dem Wege einer genauen Umschreibung der einzelnen Pflichten des WAZ das Risiko vermindern, daß ein internationales Kontrollverfahren mit der Begründung eingeleitet würde, nationale Arbeitszeitbestimmungen gingen nicht mit dem WAZ konform. Obwohl die Arbeitsminister der wichtigsten Industriestaaten Europas andere Regierungen nicht auf die "Berner" Interpretation verpflichten konnten, bot eine Einigung der "Vier Großen" jedenfalls aus deutscher Sicht und im Hinblick auf andere, staatliche Vertreter im Verwaltungsrat - "genügend Sicherheit"581 vor unliebsamen Überraschungen. Frankreich hingegen störte ein mögliches Verletzungsverfahren wenig. Godart bekannte sich trotz schwerwiegender Abweichungen des französischen Arbeitszeitrechts vom WAZ zur sofortigen Ratift.kation und akzeptierte Nachbesserungspflichten. Indem Brauns ebenfalls immer wieder auf diesen wunden Punkt der französischen Politik hinwies, beherzigte er auch die Kritik Henselers am "unpsychologischen" Verhalten der deutschen Delegation während der IAK 1924. Da Frankreich Farbe bekennen mußte, und Deutschland gleichzeitig eine Ratifikation nicht mit der Eindeutigkeit ablehnte wie noch vor wenigen Wochen, verblassten die Unstimmigkeiten zwischen dem deutschen Arbeitszeitrecht und dem WAZ zusehends. An den 581 Sitzler-Niederschrift, S. 7. Sitzler stellte dies als allgemeine Ansicht hin. In den beiden anderen Protokollen finden sich jedoch keine entsprechend klaren Aussagen der Arbeitsminister.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

unterschiedlichen Einstellungen gegenüber dem Kontrollverfahren nach Art. 409 ff wird ferner deutlich, wie prägend die Erfahrungen mit dem Versailler Friedensvertrag und der Reparationsprobleme auch für die Internationale Sozialpolitik waren. Der deutschen Angst vor einer externen Kontrolle seiner Sozialpolitik entsprach auf Seiten Frankreichs und insbesondere Englands die Befürchtung, "soziales Dumping" werde die wirtschaftliche Hegemonie Deutschlands befördern. Vom Standpunkt der ILO aus gesehen, hatte die Problematik der Art. 409 ff eine weitere Dimension. Thomas wiederholte Verweise auf das Untersuchungsverfahren während des Berner Treffens waren ein Pendant zu den Versuchen des Völkerbunds mit dem aus dem Cecil- Requin- Projekt entwickelten Genfer Protokoll über die friedliche Regelung internationaler Streitigkeiten vom 02.10.1924 eine internationale Ordnung mit entsprechenden Sanktionsmechanismen aufzubauen.582 Obwohl Thomas in Kenntnis der deutschen Empfindlichkeiten die Schärfe des Untersuchungsverfahren nach Art. 409 herunterzuspielen suchte, war ihm doch bewußt, welche Bedeutung dieses Verfahren und seine Akzeptanz durch die Nationalstaaten für die Stellung der neugeschaffenen JLO hatte. Denn das Untersuchungsverfahren stellte das einzige wirkungsvolle Instrumentarium dar, mit dem die ILO die Durchführung der von der IAK beschlossenen und danach ratifizierten sozialpolitischen Übereinkommen in gewisser Weise kontrollieren konnte. In den Art. 409 ff. lag die Wurzel einer supranationalen Arbeitsorganisation.583 Indem Brauns danach trachtete, die einzelnen Pflichten des WAZ durch intemationa/e Verhandlungen festzuschreiben, zog er gleichzeitig die supranatiOiwle Dimension der ILO in Zweifel. Je genauer die Pflichten des WAZ inter nationes festgelegt waren, umso geringer waren natürlich die Möglichkeiten der ILO von den supranationalen Kompetenzen tatsächlich Gebrauch zu machen, die ihr ein von den Staaten bereits ratifizierter (Versailler Friedens-) Vertrag einräumte. So lange dieser Zusammenhang die Ratifikation der Übereinkommen nicht erschwerte, konnte die ILO dagegen nichts einwenden, lag ihr doch in erster Linie an einem Fortschritt der Sozialreform über nationale Grenzen hinweg. Führte die Abneigung gegen eine mit supranationalen Zuständigkeiten ausgestatteten Arbeitsorganisation wie im Fall des WAZ zu an Einzelproblemen orientierten Verhandlungen, so stan-

582 Vgl. P. Krüger. "Außenpolitik .. .". S. 263. 583 Note sur Ia portce des articlcs 409 ct suivants du Traire de Versailles (J. Morellet), o.D., D 600/2009/l. Siehe auch handschriftliche Randbemerkung Thomas zu einem Bericht Henselers vom 14.05.1925 über eine Reise nach Deutschland und Utrecht, CAT 5-2-10-5. Siehe dazu mehr im Kapitel Ill.

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den sowohl der sozialpolitische Fortschritt als auch die Ambitionen der ILO in eigener Sache auf dem Spiel. Im übrigen trat Thomas in Bern hauptsächlich als Vermittler zwischen den verschiedenen Positionen und als Walter des arbeitszeitpolitischen Sachverstandes auf. Bei der Diskussion um Art. 14 wurde ihm allerdings zunehmend bewußt, daß er im Frühjahr 1924 aus Rücksicht auf französische Reparationsinteressen Geister gemfen hatte, die er jetzt, da sie die Gefahr einer allgemeinen Suspendienmg des WAZ bei ökonomischen Schwierigkeiten eines Landes an die Wand malten, geme wieder losgeworden wäre. Den Höhepunkt seines Einflusses auf die Internationale Arbeitszeitpolitik hatte das BIT mit dem Abschluß der Konferenzvorbereitungen überschritten. Zu seinen Erfolgen zählt, daß keine Revisionskonferenz sondern ein Treffen der Arbeitsminister zum Zwecke des Meinungsaustauschs und zur Interpretation des WAZ zustandekam und daß die Ratifikationsfrage im unmittelbaren Anschluß an die Annahme des Dawesplans zur internationalen Verhandlung anstand.

4. Die Auswirkungen auf die Arbeitszeitpolitik bis Anfang 1925 a) Die Ratifikation als Ziel deutscher Arbeitszeitpolitik

Brauns, dessen "Herz und Nerven sehr herunter waren" nach den vergangenen, schwierigen Monaten, suchte erst einmal ein wenig Erholung.584 Auch in der Arbeitszeitfrage erhoffte er sich eine Verschnaufpause: "In der Frage des Achtstundentages dürfte man doch nunmehr solange Ruhe halten, bis das einschlägige Gesetz vorbereitet ist. ... Fortgesetzte Pressepolemik über diese Sache schädigt das deutsche Interesse aufs empfmdlichste, zumal die Franzosen voraussichtlich auf Grund ihres heutigen Gesetzes ratifizieren werden, trotz BERN! Undtrotz englischem Gesetz!"585 Am 15.09.1924 berichtete Ministerialdirektor Sitzler in einer Ressortbesprechung über die Ergebnisse des Berner Ministertreffens und die

531 Abschrift seines Briefes aus lngenbohl an StS Geib vom 13.09.1924, weitergeleitet an Stresemann am 15.09.. PA/Nachlaß Stresemann Bd.l6, H 157264. 585 Ebd .. 15 GrabhOT

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"Wünsche des Herrn Ministers".586 Brauns ließ seine Mitarbeiter wissen, daß er an der schon im August geäußerten Absicht festhalte, "in Anlehnung an das französische Vorbild ein möglichst allgemein gehaltenes Rahmengesetz , das die Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen für die einzelnen Gewerbe enthält". Die einzelnen Verordnungsentwürfe sollten jedoch gleichzeitig mit dem Rahmengesetz vorbereitet werden. Danach sollte "endgültig geprüft werden, ob die aufgrund des Washingtoner Übereinkommens und der ihm in Bern gegebenen Auslegung auszuarbeitenden Vorschriften mit den deutschen Wirtschaftsnotwendigkeiten verträglich sind und gemeinsam mit England, Frankreich und Belgien die Ratifikation erfolgen kann" .SET Das Rahmengesetz und die dazu gehörenden Verordnungen sollten nach den Vorstellungen des RAMinisters aber über den Geltungsbereichs des WAZ hinaus reichen: In die Arbeitszeitregelung einzubeziehen waren auch Handel und Verkehr (mit Ausnahme der Schiffahrt und Landwirtschaft). Damit wich Brauns von seiner Aussage auf dem Berner Treffen ab, als er mangels Zuständigkeit zur Frage der Arbeitszeit in den Verkehrsbetrieben, insbesondere bei den Eisenbahnen, keine genauen Informationen hatte geben wollen. Um eine möglichst rasche Umsetzung seiner Pläne zu erreichen, beauftragte der RAMinister eine Kommission aus 11 Mitgliedern der Reichsarbeitsverwaltung und des Ministeriums mit der gleichzeitigen Ausarbeitung des Mantelgesetzes, der Verordnungsentwürfe, und eines Ratifikationsgesetzes.588 In einem Schreiben an den preußischen Minister für Handel und Gewerbe 19.09.1924 gab der Vorsitzende der Kommission, der Präsident der Reichsarbeitsverwaltung, Friedeich Syrup zu erkennen, daß der Minister eine Ratifikation ernsthaft ins Auge gefaßt hatte. Denn Syrup schrieb, er sei beauftragt, "jetzt mit besonderer Beschleunigung die Frage zu prüfen, ob und inwieweit eine Ratifikation ".589 Außerdem bemühte sich das RAM um Informationen über das französische Ratifikationsgesetz.590 Ferner leitete das Auswärtige Amt am 09.10. ein Schreiben Geibs an die Vertretungen in Europa weiter, in dem vorallem den Presseattaches nahe gelegt wurde, stärker als bisher auf die sozialen Ver586

Aufzeichnung über eine Besprechung betr. Arbeitszeitgesetzgebung vom 15.09.1924 im :Z.StA/RAM/1863, BI. 3 f.

~f1·

Ebd ..

588 Aufzeichnung über eine Besprechung vom 15.09.1924, a.a.O.; S. Bischoff, S. 128. 589 Korrigierter Briefentwurf vom 19.09.1924. abgesandt am 20.09., RAM/:Z.StA/1863 BI. 6; zusätzlich befindet sich auf dem Entwurf der handschriftliche Vermerk "eilt sehr". 590 Erlaß des Auswärtigen Amt an die Botschaft Paris vom 23.09.1924, PA/Botschaft Paris/815a. Siehe bereits den Drahterlaß vom 18.08.1924, auf den die Botschaft mit Bericht vom 29.08. mitteilte, es gebe zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine näheren Informationen über den Gesetzentwurf.

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hältnisse im Ausland zu achten:591 Hinzukam, daß Anfang 1925 die Ratifikation der ersten ILO-Konventionen bevorstand.592 Schließlich spielte eine nicht unwesentliche Rolle, daß Frankreich bei den mit Deutschland aufgenommenen Verhandlungen über einen Handelsvertrag seine angebliche Bindung an den internationalen Achtstundentag als wirtschaftlichen Nachteil gegenüber der deutschen Industrie in die Waagschale warf.393 Das RAM übersandte daraufhin u.a. die Sitzler-Niederschrift über das Berner Treffen und eine Pressenotiz mit dem Titel "Handelsvertragsverhandlungen und Arbeitszeit".S94 Darin machte das RAM unmißverständlich deutlich, daß Frankreich bislang keinen internationalen Arbeitszeitverpflichtungen unterliege und "von einem uneingeschränkten Achtstundentag in Frankreich nicht die Rede sein ". Bei den weiteren Handelsvertragsverhandlungen ging die deutsche Seite dann nicht mehr auf den französischen Vorstoß ein.595 Am 26.09. informierte der RAMinister die Spitzenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer über das Berner Treffen.596 Dabei betonte Brauns, daß man sich wegen der Reparationslasten grundsätzlich nicht auf die Ausnahmebestimmung des Art. 14 WAZ berufen oder deshalb gar die Ratifikation hinaus schieben wolle. Eine Anwendung dieses Artikels komme "nur für Notlagen außerordentlicher Art in Frage .. , die Deutschlands Lebensnotwendigkeiten gefährden, beispielsweise für den Fall drohender Sanktionen".597 Brauns hielt damit an der in der Regierungserklärung vom August gefundenen Formulierung fest. Entscheidend war, daß er wie auch bei der Korrektur des BIT-Protokolls über die Berner Zusammenkunft den allgemeinen Begriff "Gefährdung deutscher Lebensnotwendigkeiten" benutzte und die Drohung von Sanktionen lediglich als Beispielsfall erwähnte. So 591 A.a.O. Geib beklagte sich ferner, daß das RAM bislang über die Berichte der Deutschen Botschaften über die sozialen Verhältnissen im Ausland nicht ausreichend infonnien worden seJ. 92 Vgl. den Erlaß vom 27.11.1924, a.a.O .. 593 Drahtbericht der Deutschen Botschaft Paris vom 03.10.1924, PA/Besetzte Gebiete/Akten der deutschen Delegation für die deutsch-französischen Winschaftsverhandlun-

g1~

Schreiben vom 07.10.1924. a.a.O. Die Aufzeichnung befindet sich in: PA/Besetzte Gebiete/Arbeitszeit. 595 Sollte die Arbeitszeitfrage bei den Verhandlungen von Frankreich weiterverfolgt werden, so beabsichtigte man Vertreter des RAM heranzuziehen; vgl. Telegramm der Botschaft Paris vom 03.10.1924. PA/Büro Staatssekretär/Akten betr. deutsch-französischer Handelsvertrag,

B!J87.

Am 09.10. informierte Brauns seine Kabinettskollegen "eingehend" über die Be~er Verhandlungen: "Nach diesen Verhandlungen sei er der Ansicht, daß Deutschland das Ubereinkommen ratifizieren könne", AdR Nr. 321. Vgl. auch "Der Deutsche", Nr. 229 vom 28.09.1924 u~d "Gewerkschaftszeitung", Nr. 40 vom 04.10.1924. 97 "Gewerkschaftszeitung", a.a.O.; siehe auch Note von Berthelot vom 06.10.1924, CAT 5-211.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

wich er auch gegenüber den Spitzenverbänden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer von seiner ursprünglich engeren Formulierung in Bern (Drohung von Sanktionen und dann Arbeitszeitverlängerung nur in bestimmten Industriezweigen) ab. Während man in Kreisen der Arbeitnehmerorganisationen wegen der nicht hinreichend klaren Äußerungen des RAMinisters Zweifel an der Ratifikationsabsicht der Regierung hatte598, wiederholte Brauns in der Öffentlichkeit mehrmals seine diesbezügliche Bereitschaft.m Von besonderer Bedeutung waren die Rede des RAMinisters auf dem Kongreß der Christlichen Gewerkschaften am 12.10. und auf dem Zentrumsparteitag am 25.10.600 In ihnen bekannte sich Brauns ausdrücklich zur Ratifikation. Der Kongreß der Christlichen Gewerkschaften verabschiedete darüber hinaus, eine Resolution, in der die Vorlage eines Arbeitszeitgesetzes verlangt und erklärt wurde, daß der Weg zur Ratifikation nunmehr frei sei.601 Damit bezog der Kongreß der Christlichen Gewerkschaften im Herbst 1924 in entschiedenerer Weise zugunsten des WAZ Stellung als dies das Zentralkomitee von DGB und Gesamtverband noch Ende Juli 1924 getan hatten.602 Sowohl der Gewerkschaftsverein Christlicher Bergarbeiter unter der Führung Imbusch als auch der Christliche Metallarbeiterverband und die katholischen Arbeitervereine hatten zu dieser klareren und eindeutig positiven Haltung wesentlich beigetragen.603 Aus der Sicht der Freien Gewerkschaften bedeutete die Haltung der Regierung nach dem Berner Treffen nicht, daß man der Ratifikation einen Schritt näher gekommen war. In einem Aufruf des ADGB, des AfA-Bundes und des Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes vom 04.10. wurde deshalb auf den geplanten Volksentscheid verwiesen~: "Da der Volksentscheid sofort durchzuführen ist, wenn der Reichstag bei der Schaffung der Gesetze versagt, müssen die bereits eingeleiteten Geldsammlungen zur Gelddeckung der erheblichen Kosten des Volksentscheids mit der größten Beschleunigung fortgesetzt .. werden"". Zudem richtete der ADGB-Bundesvorstand im September 1924 eine Denkschrift zur Arbeitszeitfrage an das Reichswirt-

Note von Berthelot, a.a.O.; siehe auch Sitzung des Bundesausschusses vom 28.01.1925, DOKUMENTE 29. .. Siehe die im BIT en;tellte Ubersicht "Declarations fait par le Dr. Brauns, depuis le mois de septerobre 1924", CAT 7-215. 600 Ebd.; siehe auch die Erklärung Brauns auf dem Kongreß der Christlichen Metallarbeiter vom 29.10.1924, "Der Deutsche Metallarbeiler", Nr. 43 (1924); Note von Henseler für die "Informations Sociales". CAT 5-0-4-2. 601 Note von Henseler für Thomas vom 03.11.1924. CAT 5-2-10-5. 602 Ebd .. 603 Vgl. Note von Berthelot für Thomas vom 23.12.1924, CAT 5-2-11. 604 ADGB DOKUMENTE 19 = "Gewerkschaftszeitung", Nr. 40 vom 04.10.1924. 598

A~GB

li. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

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schaftsministerium, da Widerstände gegen die Ratifikation mehr dort als im Reichsarbeitsministerium vermutet wurden.605 Parallel zu den vom RAM eingeleiteten Schritten zur Vorlage eines Arbeitszeit- und Ratifikationsgesetzes liefen die bereits im Juli 1924 begonnenen Arbeiten an der auf § 7 Abs. 2 Arbeitszeitverordnung basierenden Verordnungen für die Hochofenwerke und Kokereien. Beide Vorhaben gerieten jedoch in Gefahr, als sich nach der Verabschiedung der Dawesgesetze Ende August 1924 eine Koalitionskrise abzeichnete. DieSPD-Fraktion verhinderte am Tag nach der Abstimmung über den Dawesplan, am 30.08., durch ihren Auszug aus dem Reichstag die Behandlung der Zollvorlage, deren Verwiklichung im Interesse agrarische Kreise stand. Die durch diese "Kriegserklärung" an die parlamentarische Rechte ausgelöste Krise suchte Reichskanzler Marx zwar durch eine Verbreiterung der Regierungsbasis nach rechts und/oder links zu überwinden. Doch wochenlange Verhandlungen schlugen fehl. Im Entwurf der Richtlinien für eine Regierungsumbildung Anfang Oktober wurde das Berner Ergebnis zwar ausdrücklich begrüßt und die Hoffnung ausgedrückt, "daß auf der Grundlage einer wirklich gleichmäßigen Anwendung seitens der anderen Mächte die Durchführung des Washingtoner Abkommens auch für Deutschland möglich wird". In der endgültigen Fassung strich man diese Passage606, obwohl die SPD darauf großen Wert gelegt hatte.607 Der Reichstag wurde am 20.10.1924 aufgelöst und vorgezogene Neuwahlen für den 07.12.1924 angesetzt. 608 Während die Parteien der extremen Rechten und Linken bei diesen Wahlen Verluste erlitten, die DNVP ledigliehe einige Mandate hinzugewann, ging die SPD als der große Gewinner aus dem Urnengang im Dezember hervor. Ihre Mandatszahl von 100 im Mai hatte sie auf 131 erhöht. Trotzdem war sie an der neuen Regierung, die von dem parteilosen, bisherigen Finanzminister Luther geführt wurde, nicht beteiligt. Nach schwierigen Verhandlungen kam eine Regierungskoalition zustande, die neben Zentrum, BVP, DVP erstmals in der Geschichte der Weimarer Republik die DNVP in der politischen Verantwortung sah.609 An der im Sommer 1924 ausgearbeiteten Regierungserklärung zum WAZ änderte sich jedoch dadurch nichts Wesentliches. Das neue Kabinett billigte am 26.01.

605

ADGB DOKUMENTE 18. Siehe AdR Nr. 318, Fußnote 6. 607 Schreiben des Vorstands der SPD-Reichstagsfraktion an den Reichskanzler vom 08.10.1924, AdR Nr. 319. : ~:~~z~~~~·s~~n;er, S. 56 f und P. Krüger, "Außenpolitik ...•, S. 254. 606

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

diese Erklärung als Grundlage seiner Politik.610 Brauns stellte deshalb die beschleunigte Ausarbeitung eines nationalen Arbeitszeitgesetzes in Aussicht. Was die Verordnung für Kokereien und Hochofenwerke anlangte, so erzielte der RAMinister hier trotz der Einbeziehung der DNVP in die Regierungskoalition einen Erfolg. Indem das Zentrum die Zustimmung der neuen Regierung zur Bedingung für seinen Eintritt in die Koalition hochspielte, trug es dem starken Druck seines Gewerkschaftsflügels Rechnung.611 Brauns hatte außerdem am 01.01.1925 im Stegerwaldschen Presseorgan, "Der Deutsche" öffentlich die verbindliche Zusage gegeben, daß die Verordnung spätestens bis zum 15.01. erlassen werde. In einer Besprechung mit führenden Herren der Großeisenindustrie am 07.01. schließlich kündigte er an, seinen Rücktritt zu erklären, "wenn das Kabinett sich gegen ihn entscheide".612 Umbreit lag deshalb mit seiner Einschätzung, das neue Kabinett - "en somme Je prisonnier du centre "- werde sich dem sozialpolitischen Fortschritt nicht unbedingt verschließen, gar nicht falsch. 613 Und selbst Thomas schrieb im Februar 1925: "La verite est que si l'on sait manoeuvrer, on obtiendra peut-etre du Cabinet Luther plus que des Cabinets precedents".614 Die Bedenken der deutschen Wirtschaft, daß mit der neuen Verordnung eine arbeitszeitpolitische Bresche auch für andere Zweige der Industrie geschlagen werde, begegnete Brauns mit dem Hinweis, er habe wegen der begonnenen Ausarbeitung eines neuen Arbeitszeitgesetzes keine diesbezüglichen Ambitionen.615 Während der der DNVP angehörende Reichswirtschaftsminister die Verordnung zwar als "schweres Opfer", aber "mit Rücksicht auf die bereits gemachten Zusagen und aus Gründen der inneren Politik" als unvermeidbar bezeichnete, begrüßte sie Stresemann "vom außenpolitischen Standpunkt" aus.616 Die Verordnung, die am 20.01.1925 erlassen wurde, führte für die Schwerstarbeiter der Eisenindustrie wieder das Dreischichtsystem ein. Damit entfiel ein Hauptkritikpunkt der öffentlichen Meinung und der ILO an der durch die Arbeitszeitverordnung von 1923 verlängerten Arbeitszeit in Deutschland: "... c'etait Je plus gros obstacle ä. Ia 610 AdR Nr. 8. Vgl. auch die Erklärung Braunsam 04.02.1925 im Reichstag, SBR Bd. 384, S.

327.

611 Ausführlich dazu S. Bischoff. S. 122 ff (auch zu den vom Brauns gemachten Zugeständnissen bezüglich des Zeitpunkts des endgültigen lnkrafttretens etc.); I. Steinisch. S. 503 ff, 516; E. Pies. S. 265 f. 612 Rundschreiben Nr. 16 des VdESI vom 15.01.1925. R 13 1/205. 613 Comptc-rendu de J'entrcvu ä Ja maison des syndicats Je 21 janvier 1925. 29.01.1925. CAT

5-2-3.

614 Brief Thomas an Hagucnin vom 17.02.1925. CAT 7-433. 615 Kabinettsitzung vom 17.01.1925 AdR Nr. 2. 616 Ebd ..

II. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

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ratification ...", erklärte Thomas am 20.01.1925 in Berlin gegenüber Vertretern der Arbeitgeber.617 Nach dieser ersten Niederlage der Industrie in der Arbeitszeitfrage war jedoch ein noch größerer Widerstand von dieser Seite gegen ein endgültiges Arbeitszeitgesetz und die darauf aufbauende Ratifikation des WAZ zu erwarten. Nach den Plänen des RAMinisters sollten die aufgrund des Rahmengesetzes zu erlassenden Ausführungsverordnungen im Einvernehmen mit den Arbeitgebern und Arbeitnehmern innerhalb eines paritätisch besetzten Ausschusses vorberaten werden.618 Nach mehreren Anläufen trat dieser Ausschuß am 17.04. zum ersten Mal zusammen, um anband eines Fragenkatalogs die arbeitszeitrechtlichen Bedürfnisse der Großeisenindustrie zu erörtern.619 Die Arbeitgeber verweigerten aber jede Mitarbeit mit dem Hinweis, für eine endgültige Arbeitszeitregelung müßten erst "die vollen Auswirkungen des Dawesplans auf die deutsche Wirtschaft" abgewartet werden.620 Gemeint war damit offensichtlich der Beginn der Zahlung "normaler" Annuitäten in Höhe von rund 2,5 Milliarden Mark, die nach dem Dawesplan erstmals für das Reparationsjahr 1928/29 vorgesehen war. Ähnlich lauteten die Argumente der Arbeitgeberseite gegen eine Ratifikation des WAZ. Auf der gemeinsamen Sitzung des Hauptausschusses des Rdl und des großen Ausschusses der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände am 12.11.1924 erklärte das Präsidialmitglied der Vereinigung, Herr Eichberg, daß eine Ratifikation "völlig unmöglich" sei: "Nachdem wir das Dawesgutachten angenommen hätten, müßten wir auch die Voraussetzungen zu seiner Erfüllung schaffen".621 Mit dem Ausbleiben 617 Voyage Berlin. Note vom 28.0t.l925. CAT 5-2-3; siehe auch Thomas in einem Brief an Morize (Generalsekretär der Regierungskommission für das Saarland) vom 09.02.1925, CAT 6A-3-2-2: "C'est neanmoins un progres tres important". Im November 1924 hatte Thomas noch weniger positiv reagiert: "Je suis extremement frappe pour ma part ... de Ia resistance des patrons allemands a Ia timide tentative de Brauns pour abolir les deux equipes de douze heures", Note für Berthelot vom 21.11.1924, CAT 5-2-104. 618 Vgl. Schreiben Sitzlers an die Reichsarbeitsverwaltung vom 18.03.1925, ZStA/RAM/1863. BI. 26: vgl. S. Bischoff, S. 128. 619 Fragen zur gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit in der Großeisenindustrie, ZStf:/RAM/1863, BI. 27- 29. 62 Die Erklärung der Arbeitgeber befindet sich in: Mitgliederversammlung der NorddeutscJlen Gruppe des VdESI vom 11.05.1925, R 131/166, BI. 76. 1 Geschäftliche Mitteilung Nr. 25 für die Mitglieder des Rdl vom 20.11.1924, S. 196; siehe auch Schreiben der August Thyssen-Hütte an den Reichskanzler vom 20.11.1924, AdR Nr. 358; Schreiben des Deutschen Industrieschutzverbandes an die Reichsregierung vom November 1924, "Soziale Praxis", Heft 1 (1925), Spalte 20. Der Verband erwartete den Verlust weiterer Auslandsmärkte. Völckers hingegen ("Deutsche Wirtschaftszeitung• - Organ des Deutschen Industrie- und Handelstages Nr. 41 vom 14.10.1924) hielt das WAZ bei einer "liberalen Auslegung der Bestimmungen ... vielleicht auch für die schwerbelastete deutsche Wirtschaft erträglich". Gemäßigt auch Tänzler, "Der Internationale Achtstundentag", in: VdA, "Arbeitszeit und Lohn", Augschrift vom Oktober 1924, S. 3 ff; siehe auch Sitzung des Hauptvorstands und des Auschusses der Fachgruppe der eisenschaffenden Industrie beim Rdl vom

232

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

einer Ratifikation war aber nicht nur im Inland arbeitszeitpolitischer Spielraum gewonnen, sondern längere Arbeitszeiten konnten aus der Sicht der Arbeitgeber über "soziales Dumping" auch zu einer Revision des Dawesverpflichtungen führen. Hugo Otto, der Syndikus der Industrie- und Handelskammer zu Bochum, schrieb in der "Börsenzeitung"622: "In der Tatsache, daß Deutschland den internationalen Achtstundentag solange nicht annehmen kann, als ihm die Londoner Last auferlegt ist, liegt das stärkste politische Argument von der internationalen Seite her zur Beseitigung der London Fronlasten". Gerade die Tatsache des Fortwirkens der Arbeitslosigkeit in den Ententestaaten sei "das stärkste Mittel zur Beseitigung der Londoner Lasten".623 Die deutsche Regierung war jedoch im Herbst 1924 / Anfang 1925 wie bereits vor der Verabschiedung des Dawesplans nicht bereit, dem Wunsch der Arbeitgeber entsprechend diesen arbeitszeitpolitischen Hebel agressiv und publikumswirksam an der Reparationslast anzusetzen.624 Einer internationalen Vereinbarung der Arbeitszeit nicht gänzlich abgeneigt waren auch Meißinger und Tänzler von der Vereinigung deutscher Arbeitgeberverbände.625 Sie störten sich jedoch vorallem an der Überwachung eines ratifizierten WAZ durch die ILO. Forderungen nach Rückkehr zu den Arbeitszeitverhältnissen vor dem Krieg sollten nicht als "starres Dogma" verstanden werden. Die deutsche Arbeitgeberschaft "wird zu dem Zeitpunkt, in dem die wirtschaftlichen Verhältnisse eine Verkürzung der Arbeitszeit ermöglichen, ihre Mitarbeit nicht versagen".626 Am 17.04. 1925, als die paritätische Kommission zur Diskussion der vom RAM ins Auge gefaßten Ausführungsverordnungen zum ersten und letzten Mal zusammentrat, war dieser Zeitpunkt allerdings noch nicht gekommen. Die Vehe20.10.1924, R 13 1/166; Mitgliederversammlung der Norddeutschen Gruppe vom 20.10.1924, ebd.; Sitzung des Sozialpolitischenausschusses des DIHT vom 22.10.1924, Verhandlungen des DIHT, Heft 31 (1924), S. 6 ff: Sitzung des Hauptausschusses des DIHT vom 10.12.1924, a.a.O., Heft 34, S. 8 f. 622 Nr. 471 vom 08.10.1924; Hugo Otto hatte im Sommer versucht, die DNVP-Fraktion zu einer positiven Abstimmung über die Dawesgesetze zu bewegen, weil man sich wegen der Stabilisierung der allgemeinen politischen Lage und wegen der zu erwanenden amerikanischen Anleihen winschaftliche (Expon-) Voneile versprach, vgl. Bernd Weisbrod, S. 281. 623 Otto Hugo in: "Winschaftlichen Nachrichten aus den Ruhrbezirk", Nr. 36 vom 22.10.1924. Vgl. auch den Zentrumsabgeordneten und Vorsitzenden des DGB Siegerwald im Reichstag am 03.02.1925, SBR Bd. 384, S. 288. Aufgrund innerverbandliehen Drucks befürwmete er allerdings im Unterschied zu den Arbeitgebern eine Ratifikation. Bericht von Ministerialrat Berger (RAM) von der Oktobersitzung des Verwaltungsrats, ZStA/RAM/815, BI. 24. Darin befindet sich ein Verweis auf ein Schreiben vom 13.06.1924, wonach wegen schwebender Reparationsverhandlungen bei Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitfrageitszeit

"'MsTagesordnungspunkt Nr. 1.

A.a.O., S. 151; siehe auch Drentano in: "Berliner Tagblatt• vom 23.10.1924; I. Steinisch, S. 43J6 Fußnote 201. 657 Verhandlungen a.a.O., S. 114. A.a.O .. S. 115.

240

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

für den Fall Deutschland an deren wirtschaftlicher Grundlage zweifelten. Nachdem die Ausführungen von Brentanos, dem vorgeworfen wurde, einen Keil zwischen die Arbeiterklasse der Länder treiben zu wollen, starken Widerspruch hervorgerufen hatten6S8, unterstrich dieser zwar seine Position in Bezug auf eine Produktionssteigerung und die Unmöglichkeit einer strikten Durchführung des WAZ in Deutschland, stellte jedoch auch klar, daß dies lediglich seine persönliche Meinung sei.659 Thomas, der zum Abschluß dieses Tagesordnungspunktes das Wort ergriff, beschrieb das WAZ als "eine Art wechselseitiger Bürgschaft", die Vertrauen zwischen den Nationen schaffen und ihnen die Angst vor sozialem Dumping nehmen sollte.660 Damit versuchte der BIT-Direktor, der die Bemühungen Brentanos um die 8-Stundentagsreform nochmals ausdrücklich lobte661 , die Wogen zu glätten. Er hatte erkannt, daß die Gefahr der Rede Brentanos nicht so sehr darin bestand, daß sie möglicherweise als Plädoyer für eine generelle Verlängerung der Arbeitszeit verstanden werden könnte. Denn explizit hatte Brentano nur von der Unmöglichkeit der strikten Durchführung des WAZ in Deutschland gesprochen, nicht aber von einer generellen Preisgabe des 8Stundentagsprinzips. Beunruhigend wirkte Brentanos Rede vorallem deshalb, weil sie die Arbeitszeit in Verbindung mit einer höheren Produktions- und Exportquote brachte und dadurch die Gefahr des sozialen Dumpings wieder neue Nahrung erhielt. Aus dem Redebeitrag Thomas klingt zudem heraus, daß ihm der von Brentano angesprochene Argumentationswiderspruch in der internationalen Diskussion um das WAZ natürlich nicht verborgen geblieben war. Doch Politik und wissenschaftlicher Diskurs folgten manchmal anderen Gesetzen. Während Akademiker sich auf feststehende wissenschaftliche Wahrheit berufen könnten, so Thomas, müßten Politiker "den Vorurteilen und den Irrtümmern der Menge Rechnung tragen" .662 Die Forderungen Frankreichs nach möglichst hohen Reparationsleistungen, die Thomas im Frühjahr 1924 auf der Sitzung des Verwaltungsrat zu dem Vorschlag verleitet hatten, Deutschland könne sich bei Arbeitszeitverlängerung wegen seiner Reparationsverpflichtungen auf Art. 14 berufen, sind hier ebenso zu erwähnen wie das gestiegene englische Interesse an einer Ratifikation durch Deutschland, nachdem eine Steigerung deutscher Exporte als Folge des Dawesplanes zu erwarten stand.

658 Siehe Mertens (Belgien). a.a.O .. S. 122 ff: Jouhaux a.a.O., S. 124 ff; Wauters a.a.O., S. 134 ffj,jnders dagegen Umbreit, der Brentano verteidigte, a.a.O .. S. 134. 660 A.a.O., S. 151. A.a.O., S. 155. 661 In einem Brief an den Präsidenten der CSR. Masaryk. vom 14.10.1924 sprach er allerdings von deutschen Intrigen und einer 'allaque perfide de Brentano cherchant a poser le p~leme politique des reparations devant le Congres', 94 AP 391. Verhandlungen a.a.O .. S. 155.

Il. Dawesplan und Arbeitszeit 1924

241

Das BIT versuchte im Spagat zwischen diesen politischen und wirtschaftlichen Interessen sowie unter Berücksichtigung der besonderen Lage Deutschlands eine Ratifikation des WAZ zu e"eichen. Zudem blieb dem BIT Kritik aus den eigenen Reihen nicht erspart. Auf der Herbstsitzung des Verwaltungsrats wurde zwar eine positive Abschlußresolution über die Berner Ergebnisse verabschiedet. Doch der italienische Arbeitgebervertreter Olivetti verstand das Berner Resultat als eine Interpretation des WAZ, dem das BIT zugestimmt habe: "This situation appeared to him to be not without danger for the Office, for it seemed to detract its authority".663 Thomas suchte den Vorwurf eines Kompetenzverlustes der ILO zu entkräften. Es habe sichlediglich um einen Austausch von Erfahrungen und Interpretationsmöglichkeiten gehandelt, so sein Argument. Das BIT habe dabei alle verfügbaren Informationen bereit gestellt und betont, jedes Land sei für seine Interpretation des WAZ verantwortlich, sollte es nach erfolgter Ratifikation zu einem Vertragsverletzungsverfahren kommen. Dies war jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn insbesondere Deutschland hatte ein großes Interesse an einer genauen Festlegung der aus dem WAZ fließenden Rechte und Pflichten gezeigt, um gerade dieses Vertragsverletzungsverfahren unter allen Umständen zu vermeiden.

Diesem Ziel diente auch der Vorschlag Brauns, die Ergebnisse des Bemer Treffens in einem offiziellen Protokoll zusammenzufassen. Im November 1924 legte der RAMinister dem BIT einen Entwurf eines Ergebnisprotokolls vor, das nach seiner Ansicht in 11 Punkten die wesentlichen Resultate aus Bern wiedergab.664 Das BIT sollte diesen Entwurf an die anderen Koferenzteilnehmer weiterleiten, deren Stellungnahme hierzu einholen und ein abschliessendes Protokoll erstellen.665

663

GB 09.10.1924 (Minutes), S. 308. Dieses "Bemer Protokoll", Henseler Papiere 7, übersandte Henseler an Ministerialdirektor Sitzler am 26.11.1924, Henseler Papiere 13d. Ausgearbeitet worden war es kurz zuvor in Berlin, doch stand für die Reinschrift eine Schreibkraft nicht zur Verfügung. Siehe den urSP.rünglichen Entwurf mit handschriftlichen Einfügungen. Henseler Papiere 8. 665 Am 01.12.1924 übersandte Butler das Protokoll an Tom Shaw Abschrift des Briefes in: PRO/LAß 2/994/11 125/29, S. 49. Obwohl das ßiT die Stellungnahme der einzelnen Regierungen sammeln und im Einvernehmen mit dem deutschen RAMinister ein endgültiges Ergebnisprotokoll erstellen sollte. fanden sich in den Akten des BIT und im Nachlaß Thomas keine diesbezüglichen Dokumente. Lediglich die Stellungnahme von Shaw konnte aus den Akten des englischen Arbeitsministeriums ermittelt werden, siehe unten. In einer Note vom 03.05.1925. CAT 5-2-10-4, gibt Thomas zu erkennen, daß zu diesem Zeitpunkt alle beteiligten Minister zum Protokoll des RAMinisters Stellung bezogen hatten. Mit einem Brief Butlers vom 14.05.1925 übersandte dieser einen Fragenkatalog, der auf Brauns ursprünglichem Entwurf basiert, an H.J. Wilson zur Kenntnis und eventuellen Berücksichtigung bei der Vorbereitung einerneuen Arbeitszeitkonferenz, PRO /LAB 2/994/11 125/29, S. 27. 664

16 Gnbherr

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Im November 1924 reiste Henseler nach Berlin, um mit Brauns und seinen Mitarbeitern Sitzler, Feig und Neitzel über die vom BIT erarbeiteten Änderungsvorschläge zu diskutieren.666 Die Punkte Nr. 6 (ununterbrochene Betriebe), Nr. 10 (Überstundenzuschlag) und Nr. 11 (Art. 14) verdienen dabei eine besondere Beachtung. Die Formulierung des BIT zur Frage der ununterbroclzenen Betriebe akzeptierte Brauns in seinem ersten Teil, wo es hieß, daß jedes Land "unter eigener Verantwortung" entscheide, welche Arbeiten einen ununterbrochenen Fortgang mit Schichtwechsel und Ausnahmen vom 8-Stundentag erfordern.667 Der folgende Satz des BIT, wonach "jede Regierung über ihre Entscheidung gemäß Art. 7 an das Internationale Arbeitsamt Mitteilung zu machen ", schwächte er durch folgende Formulierung ab: "Ein Verzeichnis dieser Arbeiten hat jede Regierung gemäß Art. 7 dem Internationalen Arbeitsamt zu übersenden". Obwohl das BIT dagegen im Grunde nichts einzuwenden hatte, lag darin eine Ursache für weitere Meinungsverschiedenheiten. Denn das BIT leitete aus der Mitteilungspflicht ein gewisses Kontroll- und Harmonisierungsrecht der ILO ab: Zwar stünde es den Regierungen frei, eine Abgrenzung der ununterbrochen arbeitenden Betriebe vorzunehmen, "... mais cette latitude Iaissee aux Gouvernements trouve sa contrepartie dans l'article 7 qui institue un contröle de Ia Conference internationale du Travail, laquelle pourra comparer des systemes divers adoptes et aboutir a une certaine uniformite generale".668 Und auch Shaw verwies in einer handschriftlichen Randbemerkung zu Punkt Nr. 10 des Protokollentwurfs darauf, daß das Vertragsverletzungsverfahren durch die Formulierung des RAM nicht berührt sei und zur Anwendung kommen könne.6tl.l Brauns dagegen hob wie bei Art. 14 die nationale Entscheidungsgewalt hervor. Punkt Nr. 11 des BIT Entwurfs, der sich mit der Ausnahmeregelung Art.

14 befaßte, brachte die Differenzen zwischen dem BIT und dem RAM

deutlich zum Ausdruck. Zwar kam Brauns dem BIT und seinen Ministerkollegen insofern entgegen, als er bereit war, im Protokoll als allgemeine Ansicht festzuschreiben, daß es "wünschenswert sei, im öffentlichen Interesse notwendige Mehrarbeit soweit als möglich mit Art. 6 b zu begründen".670 In Bern hatte er noch vehement darauf bestanden, daß 666 Handschriftliche Aufzeichnung Henselers über ein Treffen mit Sitzler, Brauns, Neitzel und Feig (November 1924), Henseler Papiere 8; siehe auch Brief Thomas an Julin vom 15. ~2. 1924, 94 AP 381. 66 "Protokoll der Berner Ministerzusammenkunft" (Reinschrift), Henseler Papiere 7; BIT Vorschlag mit handschriftlichen Zusätzen und Ausstreichungen. o.D. und o.O., Henseler Papiere 8. 668 Analyse des Resultats obtenus ä Ia Conference de Berne. Aufzeichnung o.D. und mit dem Kürzel JD ( =J.Dey Ländern eine Unterstützung der deutschen Wünsche nicht zu erwarten sei". 115 Darüberhinaus ließ sich die Forderung nach Einführung der deutschen Amtssprache in den Verhandlungen über den Eintritt in den Völkerbund nicht verwirklichen. 116 Da Deutschland die amtliche Anerkennung der deutschen Sprache nicht zur Bedingung für den Beitritt zum Völkerbund machen wollte, fehlte nach Ansicht von Bülows auch jedes Druckmittel, um dieses Ziel ggf. lediglich in der ILO durchzusetzen. Im Auswärtigen Amt fühlte man sich nun gar vom RAM in die Rolle des ungewollten Schrittmachers für fremde Angelegenheiten gedrängt. 117 Ministerialdirektor Sitzler kam deshalb im Juli 1926 zu der Erkenntnis, "daß das RA.Min. bei seinen Bemühungen auf Einführung der deutschen Verhandlungssprache in der internationalen Arbeitsorganisation keine Unterstützung mehr vom AA. zu erwarten habe und daß es selbständig handeln müsse".ns Damit war der Kompetenzkonflikt zwischen Auswärtigem Amt 112 Schreiben Henseler an RA Dr. Stocky (Direktor der "Kölnischen Zeitung") o.D., Henselef1fapiere 13d. Note von Benhelot vom 23.04.9125, CAT 5-2-11. 114 Vgl. geheimen Bericht des deutschen Konsulats a.a.O .. 115 Aufzeichnung über eine Besprechung im RAM vom 28.07.1926, PA/Referat Völkerbufld/Sprachenfrage. 1 6 Aufzeichnung von Bülows über Verhandlungen mit dem Generalsekretär des Völkerbunds Drummond vom 24.02.1926, PA/Referat Völkerbund/Sprachenfrage, siehe auch Gesp,~chsaufzeichnungvom 28.07.1926 ebd .. 11 Aufzeichnung über eine Besprechung am 03.11.1925, PA/Referat Völkerbund/Sprachenfrage; nochmals in einem Schreiben vom 16.02.1926 ebd.. 118 Aufzeichnung über Besprechung im RAM vom 28.07.1926 a.a.O ..

III. Die allgemeinen Beziehungen ab 1925

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und RAM zugunsten des Ministeriums von Brauns entschieden. Es bestand nach dem Mißerfolg der Außenpolitiker von nun an die Gefahr, daß sich der Völkerbundsbeitritt Deutschlands, an den ursprünglich die Hoffnung auf Fortschritte in der Sprachenfrage geknüpft worden waren, als Bumerang für die Sprachenfrage innerhalb der ILO erweisen würde. 119 Denn in den Verhandlungen mit Thomas seit Anfang 1925 hatte das RAM auf informeller Ebene ein respektables Ergebnis erzielt: Der Direktor hatte sich verpflichtet, die politischen und persönlichen Schreiben an das RAM (also ausgenommen die allgemeinen Rundschreiben), die aus seinem Kabinett hervorgingen, in deutscher Sprache abzufassen120 • Zu einem Eklat, der weitere Verbesserungen nach sich zog, war es im Herbst 1925 gekommen, nachdem Leipart wegen eines versehentlich in französischer Sprache gehaltenen Briefes an den ADGB-Vorstand, die Sprachenfrage auf dem Gewerkschaftskongreß angesprochen hatte. Staatssekretär Geib griff die Beschwerde Leiparts auf und behielt sich vor, im Falle einer Überlastung der einzelnen Referenten im RAM das BIT aufzufordern allen Schreiben aus Genf eine Übersetzung beizufügen. 121 Über dieses Ansinnen empört, zeigte sich Thomas entschlossen, ggf. die ganze Frage der Amts- und Korrespondenzsprache vom Verwaltungsrat entscheiden zu lassen. Dabei konnte er einer negativen Entscheidung und einer Annullierung seiner an die deutsche Seite gemachten Zugeständnisse sicher sein. 122 Nachdem die erste Verärgerung gewichen war, griff er einen Vorschlag Donau auf, um insbesondere das folgenschwere Versehen wie im Falle des ADGB-Briefes in Zukunft zu vermeiden: Von nun an sollten alle Schreiben aus Genf über das Berliner Zweigbüro laufen und dort im Einzelfall übersetzt werden.123 Der Direktor zeigte damit einmal mehr, daß ihm an einer Wiederherstellung guter Beziehungen zum ADGB und der Bewahrung des guten Drahtes zum RAM gelegen war. Sein Entgegenkommen entsprang aber ebenso der Überzeugung, "que dans un avenir tres proehe l'Allemand devra etre reconnu comme Iangue officielle". 124 Grundlage dieser Überzeugung war in erster Linie seine Einschätzung der politischen Lage: Bei einem 119 Besprechung vom 03.11.1925 mit Gesandtschaftsrat von Baligand, Siedler und Feig, PA/Referat Völkerbund/Sprachenfrage; siehe auch Schreiben von Sitzler an das Auswärtige Arnf vom 03.11.1927 ebd.. Persönlicher und vertraulicher Brief Donau an Thomas vom 21.!!9.1925, CAT 5-2-5 und BriefThomas an Donau vom 30.09.1925 ebd.; Note Thomas für Berthelot vom 07.05.1925 mit Aßweisung, einen Brief an Feig (RAM) ins Deutsche zu übersetzen, CAT 5-2-10-4. 1 Brief Donau an Thomas vom 21.09.1925 ebd .. 122 Brief Thomas an Donau vom 29.09. und 30.09.1925, CAT 5-2-5. 123 Brief Thomas an Donau vom 01.10.1925 ebd. Den weitergehenden Vorschlag Donaus, er könne die gesamte Korrespondenz mit Deutschland übersetzen, wies Thomas hingegen energisch zurück, Brief vom 30.09.1925 ebd .. 124 Brief Thomas an Donau vom 30.09.1925 ebd ..

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Eintritt Deutschlands in den Völkerbund würde die deutsche Sprache ohnehin amtlich anerkannt werden.125 Doch bereits in den Vorverhandlungen des Auswärtigen Amts mit Drummond erwies sich diese Anerkennung als aussichtslos, und im März 1926 scheiterte der geplante Völkerbundsbeitritt obendrein an der Forderung Polens nach einem ständigen Ratsitz. Wenige Monate später erfuhr Thomas außerdem von Donau, daß das Auswärtige Amt die deutsche Forderung nicht unterstützte und daß das RAM deshalb beabsichtigte, das in den Verhandlungen mit ihm erreichte Ergebnis auch durch die anderen Organe der ILO bestätigen zu lassen.126 Dabei war dem RAM insbesondere an einer offiziellen Regelung gelegen, wonach auf der IAK den deutschsprechenden Vertretern ein amtlicher Dolmetscher "in Zukunft unbeanstandet gestellt wird".127 Um das Ziel einer Sicherung des informellen status quo in der Sprachenfrage zu erreichen, wollte das RAM nicht nur einen förmlichen Antrag im Verwaltungsrat stellen, sondern auch auf Thomas einen "starken Druck" ausüben. Denn dieser habe stets erklärt, "nach einem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund werde sich die Einführung der deutschen Verhandlungssprache in der Arbeitsorganisation von selbst ergeben". 128 Doch diese Argument hatte wenig Schlagkraft. Thomas wußte nicht nur um die fehlende Unterstützung durch das Auswärtige Amt, sondern auch, daß die deutsche Außenpolitik bei den Verhandlungen um den Völkerbundsbeitritt bei der Sprachenfrage ein schlechteres Ergebnis als das RAM im Rahmen der ILO erzielt hatte.129 Auf der IAK 1926 kam es dann zu einem Zwischenfall: Unter Führung Spaniens protestierten die südamerikanischen Länder dagegen, daß abweichend von § 11 Abs. 3 der Geschäftsordnung in der Praxis Amtsdolmetscher auf Deutsch gehaltene Reden übersetzten. 130 Nach längeren Verhandlungen wich die deutsche Seite vor dem Protest aus taktischen Gründen zurück. Man befürchtete, die IAK werde einen gnmdsätzlichen Beschluß in der Sprachenfrage fassen, der die bisher auf informellen Wegen erreichten 125 Geheimer Bericht des Deutschen Konsulats in Genf vom 30.01.1926, PA/Referat Völ-

ke~und/Sprachenfrage; siehe auch BriefThomas an Donau vom 17.02.1926, CAT 5-2-5. 1 Brief Donau an Thomas vom 13.07.1926, CAT 5-2-5. 127 So Sitzler auf einer Besprechung im RAM vom 28.07.1926, Aufzeichnung a.a.O .. 128 Aufzeichnung über Besprechung im RAM vom 28.07.1926 a.a.O .. Sitzler erwähnte n~

auch die Reichstagsresolution, die die Regierung zu solchen Vorstößen auffordere. Geheimer Bericht des Deutschen Konsulats in Genf vom 12.10.1926, PA/Gesandtschaft

BfJJ'~~~;ben

von StS Geib an das Auswänige Amt vom 14.07.1926, PA/Referat Völkerbund/Sprachenfrage. § 11 Abs. 3 sah vor, daß lediglich die Reden deutschssprachiger Mitglieder zunächst von einem der Delegation angehörenden Dolmetscher in einer der zwei Amtssprachen übersetzt wurde und dann ein Amtsdolmetscher eine Zusammenfassung in die jeweils andere Sprache übenrug.

III. Die allgemeinen Beziehungen ab 1925

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Vorteile, z.B. bei der Korrespondenz, gefährden könnte. Im RAM bestand daraufbin die Absicht, einen Antrag im Verwaltungsrat auf Einführung der deutschen Amtssprache zu stellen. Doch nachdem man sich mit dem Auswärtigen Amt besprochen hatte131 , und Thomas über den Leiter des Zweigbüros auf die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens - "casse-cou" ohne vorherige diplomatische Vorbereitung hingewiesen hatte132, ließ das RAM seinen Plan fallen. 133 Stattdessen stellte der deutsche Regierungsvertreter im Januar 1927 im Verwaltungsrat zwei Anträge zur Geschäftsordnung: Betraf der erste die Übersetzung der in anderen als den beiden Amtssprachen gehaltenen Reden auf der IAK in die Amtssprache durch Amtsdolmetscher, so forderte Deutschland in dem zweiten Antrag, daß von den Beschlüssen der Konferenz durch deren Redaktionsausschuß authentische deutsche Texte bergestellt werden sollten. 134 Der Verwaltungsrat sowie die IAK 1927 entsprachen dem ersten Antrag. 135 Damit war zwar weder Deutsch als Amtssprache anerkannt worden noch wurden fremdsprachige Rede ins Deutsche übersetzt; dieses Ergebnis bedeutete jedoch angesichts der Interessenlage der spanisch- und portugiesischsprechenden Länder und der begrenzten finanziellen Mittel des BIT das aus deutscher Sicht maximal Erreichbare. Und eine formale Absicherung der bisherigen Praxis. Der zweite Antrag wurde vom Verwaltungsrat und der IAK erst nach längeren Verhandlungen und mit folgender Maßgabe akzeptiert: Es blieb den einzelnen Staaten vorbehalten, ob sie die vom BIT zu erstellenden Übersetzungen der IAK-Beschlüsse als authentische Texte anerkannten oder nicht. Völkerrechtlich jedenfalls blieben der französischen und englische Text der JAK-Beschlüsse verbindlich. Das BIT seinerseits kam Deutschland 1927 noch weiter entgegen, indem der Jahresbericht des Direktors über die Tätigkeit der ILO erstmals in deutscher Sprache erschien. Insgesamt dürfte auf diesen Fortschritt in der Sprachenfrage nicht ohne Einfluß gewesen sein, daß die IAK 1927 einen Konventionsentwurf über die Krankenversicherungen der gewerblichen und 131 Mit Schreiben vom 14.07.1926, ebd., lud Geib zu einer Besprechung ein, über die allerdings ein Protokoll nicht auffindbar war. Vgl. auch Brief Donau an Thomas vom 13.07.1926, 5-2-5. Brief Thomas an Donau vom 17.07.1926, CAT 5-2-5 und Donau an Thomas vom 17.09.1926 ebd.. 133 Thomas erfuhr davon bei Gesprächen mit Feig, Strescmann und der deutschen Völkerbuf.dsdelegation im Herbst 1926, Brief an Donau vom 28.09.1926, CAT S-2-S. 1 F. Syrup, a.a.O., S. 311; Abschrift des Antrags von Feig vom 12.01.1927, PA/Referat Völke§Yund/Sprachenfrage. 1 Bedingung war allerdings, daß dem BIT geeignete Dolmetscher zur Verfügung standen und entsprechende finanzielle Mittel vorhanden waren. Vgl. auch Antwort der Regierung vom 07.12.1927, SBR Bd. 420, Drucksache Nr. 3847, S. 44 und Berichte des Deutschen Konsulats in Genf vom 05.02. und 12.04.1927, PA/Referat Völkerbund/Sprachenfrage.

Cftl

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

landwirtschaftlichen Arbeitnehmer nach dem Vorbild der deutschen Gesetzgebung beschloß. 136 Zudem tagte der Verwaltungsrat im Oktober 1927 erstmals in Berlin. Als das Auswärtige Amt mit dem Völkerbund Ende 1927 über die Abwicklung des Geschäftsverkehrs verhandelte und das RAM die bei der ILO erzielten Ergebnisse mitteilte, bat Sitzler auch, "stets im Auge behalten zu wollen, daß der zur Zeit günstigere Stand der Angelegenheit bei der Internationalen Arbeitsorganisation keinesfalls verschlechtert wird". 137 Nach einem Beschluß des 1GB-Ausschusses im Januar 1928 stellte der Österreichische Arbeitnehmervertreter im Verwaltungsrat Hueber den Antrag auf Einführung der deutschen Amtssprache. 138 Die IAK des Jahres 1928 beschloß daraufhin den Verwaltungsrat zu beauftragen, einen Sonderausschuß einzusetzen, der eine erneute Prüfung der Sprachenfrage, insbesondere vom finanziellen und technischen Standpunkt aus durchführen sollte. 139 Dabei hatte der Ausschuß auch zu berücksichtigen, daß mit der auf der IAK erstmals praktizierten telefonischen Übertragung eine simultane Übersetzung möglich und damit ein technisches Mittel gefunden worden war, das eine formelle Anerkennung innerhalb des BIT weniger dringend erscheinen ließ. Nachdem der Präsident der IAK, Heinrich Brauns, seine Eröffnungsrede auf Deutsch gehalten hatte 140 und die simultane Übersetzung wesentliche Erleichterungen gebracht hatte, konnte das deutsche Konsulat in Genf Ende 1929 zufrieden nach Berlin berichten, die deutsche Sprache habe sich als dritte Verhandlungssprache gewohnheitsrechtlich durchge-

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F. Syrup, a.a.O .. S. 313. Ministerialdirektor Grieser war außerdem wie 1925 wieder Vorder Sozialversicherungskommission. Schreiben vom 08.11.1927. PA/Referat Völkerbund/Sprachenfrage. 138 Bericht des Deutschen Konsulats in Genf vom 06.02.1928, PA/Referat Völkerbund/Sprachenfrage. Der deutsche Regierungsvertreter war hiervon überrascht. Die Gefahr, bisher Erreichtes aufs Spiel zu setzen, sah er ebenso wie die Leitung des BIT. Siehe dazu auch den Brief Thomas (damals in Osaka) an Butler vom 25.12.1928, 94 AP 377. Butler hatte den Deutschen die Gefahr signalisiert, "qu'ils courent de perdre meme les avantages que nous leur avons donnes, en somme sous Ia condition qu'ils ne souleveraient pas de nouveau Ia question < Ia troisieme Iangue > ". 1 Antrag von Jouhaux und Mertens auf der IAK, F. Syrup, a.a.O., S. 312. Ziel war allerdi~ das Deutsche, Spanische und Italienische als Amtssprache zu etablieren. 1 Der italienische Regierungsvertreter hatte zuvor, auf einer geheimen Verwaltungsratssitzung Brauns die Kompetenz für dieses Amt bestritten, weil er die Amtssprachen nicht beherrsche, Telegramm des Deutschen Konsulats vom 27.05.1929, PA/Referat Völkerbund/Sprachenfrage. Er entschuldigte sich kurze Zeit später aber für seinen Vorwurf, Telegramm vom 31.05.1929 ebd. Ferner kam es auf der IAK zu einem Zwischenfall als ein Mitglied der deutschen Delegation, Herr Furtwängler, eine polemische Rede gegen das BIT hielt, siehe Thomas 11-seitigen Brief an Donau vom 07.06.1929, 94 AP 379 und den kurzen Antwortbrief Donaus vom 16.07.1929 ebd. Der Vorfall wurde aber weder von den Delegierten noch von der Presse besonders beachtet. si\~~nder

1S

lli. Die allgemeinen Beziehungen ab 1925

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setzt. 141 Vor dem Austritt Deutschland'> aus der ILO im Jahre 1933 wurde dieser Zustand allerdings nicht formal-rechtlich anerkannt. 142 Die besondere Bedeutung, die die Beziehungen Deutschlands zur ILO im Unterschied zu denen zum Völkerbund hatten, ließ sich jedoch an dem Umfang erkennen, in dem das RAM der deutschen Sprache praktisch in Genf zum Durchbruch verholfen hatte bzw. inwieweit Thomas den Deutschen entgegengekommen war. Der Höhepunkt in den allgemeinen Beziehungen zwischen der ILO und der Weimarer Republik war sicherlich 1929 mit der IAK-Präsidentschaft Brauns errreicht. Ausgangspunkt dieser Entwicklung, die von einer stetigen Klimaverbesserung in den gegenseitigen Beziehungen gekennzeichnet war, war das Jahr 1925. Damals wurden die ausstehenden Beiträge nachgezahlt, und der Reichstag richtete sein besonderes Augenmerk auf eine gleichbereichtigte Stellung Deutschlands in der ILO. Durch die Ratifikation der ersten Konventionsentwürfe im Mai 1925 sowie durch die Verstärkung der personellen Repräsentanz im BIT würdigte die Weimarer Republik von nun an die sozialpolitische Arbeit der Genfer Institution. Bis zum Januar 1933 war die Zahl der Ratifikationen auf 16 angestiegen. In 13 Fällen bewirkte die Annahme der Konventionsentwürfe allerdings keine Änderung deutscher Gesetze. Insbesondere auf dem Gebiet der Sozialversicherung war die Wirkung, die von Deutschland auf internationale Sozialnormen ausging größer als umgekehrt. Zeichen des Einflusses der ILO-Konvention auf die deutsche Gesetzgebung waren nur die in Washington gefaßten Beschlüsse zur Arbeitslosigkeit und zum Mutterschutz. Mit dem Gesetz vom 16.07.1927 wurde z.B. der Wochengeldbezug für werdende Mütter von bisher 4 auf 6 Woche vor der Entbindung ausgedehnt und damit die Ratifikation der ILOKonvention ermöglicht. Den Beziehungen zu den Christlichen und Freien Gewerkschaften schrieb das BIT große Bedeutung zu. Einerseits anerkannte Thomas die bei Parteien und im RAM politisch einflußreiche Stellung der Christlichen Gewerkschaften und kam ihnen mit personellen Zugeständnisse entgegen. Andererseits war er bei seinem Kampf um die Ratifikation des WAZ auf die in Deutschland zahlenmäßig weitaus größte Gewerkschaftsrichtung, die Freien, als Bündnispartner angewiesen. Obwohl der ADGB der ILO aufgrundseiner politischen Ausrichtung näher stand als die Christlichen Gewerkschaften verbesserte sich das Klima zwischen 141 Bericht vom 05.11.1929. PA/Referat Völkerbund/Sprachenfrage. Siehe auch die Regelung bei der technischen Vorkonferenz über die Arbeitsbedingungen im Kohlebergbau, Bericht vom 07.01.1930 ebd .. 1 ~ 2 Bei einem eventuellen Wiedereintritt 1936 sollte dies allerdings zur Bedingung gemacht werden: vgl. auch Aufzeichnung über eine Ressortbesprechung im Auswärtigen Amt vom 22.07.1931 ebd ..

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

beiden nur allmählich. Der Topalowicz-Streit und das Sprachenproblem führten die gegenseitigen Beziehungen Mitte des Jahres 1925 und 1926 auf einen Tiefpunkt. Mit der zunehmenden Verbreitung der deutschen Sprache sowohl auf der IAK in Form der Anerkennung amtlicher Übersetzungen als auch bei der Korrespondenz mit dem BIT und bei den von dort herausgegebenen Veröffentlichungen gewann die Genfer Institution in den Augen des ADGB wieder an Kredit.

IV. Die Londoner Konferenz der Arbeitsminister vom März 1926-

Ein ,,soziales Locarno"? 1. Die Vorgeschichte

a) Deutsche Arbeitszeitpolitik im internationalen Kontext

Am 14.05.1925 beschloß der Reichstag mit den Stimmen der DNVP die Ratifikation von 5 ILO-Konventionen 1: Das Washingtoner Übereinkommen über die Arbeitslosigkeit, das Genueser Übereinkommen über die Stellenvermittlung für Seeleute, die beiden Genfer Übereinkommen über das Vereins- und Koalitionsrecht der landwirtschaftlichen Arbeiter sowie die Entschädigung der Landarbeiter bei Arbeitsunfällen. Obwohl im Januar 1925 die Sozialdemokratie (10.01) 2, das Zentrum (14.01.)3 und die DDP (09.01/ Resolutionsentwürfe vor den Reichstag brachten, die die Ratifikation des WAZ zum Gegenstand hatten, legte die Regierung einen entsprechenden Gesetzentwurf nicht vor. Lediglich der RAMinister erklärte auf der Sitzung vom 04.02., daß die neue Rechtskoalition an der im Sommer 1924 ausgearbeiteten Regierungserklärung festhalte. Darin hatte man sich zwar grundsätzlich positiv zur Ratifikation gestellt, eine mögliche Berufung auf Art. 14 jedoch ausdrücklich vorbehalten.5 Mit dem Beginn der Arbeiten an einem neuen Arbeitszeitgesetz auf der Grundlage des WAZ nach dem Bemer Treffen vom September 1924 und dem Protokollprojekt des RAMinister hatte ebenso wie durch die Ratifikationen vom Mai 1925 die Ratifikation des WAZ eine konkretere Gestalt angenommen. Das Problem der internationalen Kontrolle einer Durchführung von ILO-Übereinkommen gemäß Art. 409 ff, das Brauns in Bern und Lambach in einem Zeitungsartikel des "Deutschen" im August 1924 angesprochen hatten, wurde so zum Gegenstand parlamentarischer Debatte und direkter Verhandlungen mit dem BIT. 1 2 SBR

Bd. 385, S. 1765; Bd. 400. Drucksache Nr. 856. SBR Bd. 397, Drucksache Nr. 245. SBR Bd. 398. Drucksache Nr. 302. 4 SBR Bd. 397, Drucksache Nr. 190. 5 SBR Bd. 384. S. 326: siehe auch Brauns im Haushaltsausschuß, "Soziale Praxis" 1925, Spalte 148. 3

18 Grabherr

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Am 06.02.1925 wiederholte Lambach seine Bedenken gegen das im Versailler Friedensvertrag vorgesehene Untersuchungsverfahren. Da in der amtlichen deutschen Übersetzung der Art. 409 und 411 die mangelnde Ausführung eines ratifizierten ILO-Übereinkommens als Voraussetzung für die Einleitung eines Untersuchungsverfahren genannt wurde, befürchtete er, daß auch Verstöße einzelner Betriebe gegen Arbeitsbestimmungen der internationalen Kontrolle unterlägen und die "Durchschnüffelung der deutschen Wirtschaft" die Folge wäre.6 Hermann Henseler hatte bereits im September 1924 in einem Beitrag für den "Deutschen" (Nr. 212 vom 09.09.1924) dieser Auslegung widersprochen. Richtig übersetzt sei die Voraussetzung zur Einleitung eines Untersuchungsverfahrens die fehlende Sicherstellung der Durchführung eines Übereinkommens durch den ratiflzierenden Staat. Danach sei entscheidend, "ob die in Durchführung des Übereinkommens getroffenen gesetzgeberischen und verwaltungsrechtlichen Maßnahmen genügend sind, nicht aber .., ob die an sich genügenden Maßnahmen an Ort und Stelle, also in den Betrieben, genügend beobachtet werden". Die Regierung schloß sich nach der Reichstagsdebatte im Januar 1925 dieser Auslegung an.7 Damit war nach Aussage des DNVP-Parlamentariers Lambach "dieser Grund unserer Reserve gegenüber den Ratifizierungen beseitigt". Da für Henseler das Ziel, Ratifikationen in Deutschland zu erreichen Priorität hatte, bedeutet die Verabschiedung der ersten ILO-Konventionen mit den Stimmen der DNVP einen großen Erfolg. Albert Thomas stimmte dem nur bedingt zu: "Oui, mais sans compromettre nos pouvoirs".8 Henseler war schon bei der Abfassung seines Artikels im September 1924 klar gewesen, daß seine restriktive These bezüglich des Untersuchungsverfahrens nicht den uneingeschränkten Zuspruch im BIT erhalten würde. Deshalb hatte er ihn nur mit seinem Namen unterzeichnet und den Inhalt nicht als offizielle Meinung des BIT hingestellt. In seinem Bericht für den Direktor vom 14.05.1925 bekräftigte er, daß das BIT weiterhin frei sei, eine andere Ansicht zu vertreten. Ein am 19.06.1925 erstelltes internes Gutachten des BI~ kam dann zu dem Ergebnis, daß die Art. 409 ff ein sehr wichtiger Bestandteil des Versailler Friedensvertrag seien, "que le Bureau international du SBR Bd. 384. S. 398; siehe auch W. Lambachs Artikel im "Deutschen• vom 21.08., zitiert Henseler, "Der Deutsche" Nr. 212 vom 09.09.1924. Erklärung Brauns im Sozialausschuß des Reichstags. erwähnt von W. Lambach in der Sitzung des Reichstags vom 14.05.1925, SDR ßd. 385, S. 1754; Rapport de M. Henseler vom 14.05.1925. CAT 5-2-10-5. 8 Handschriftliche Randbemerkung zu Rapport deM. Henseler vom 14.05.1925 a.a.O., S. 13. 9 Note sur Ia portee des articles 409 et suivants du Traite de Versailles de J. Morelle!, D fUJ/2009/1. 6

v~n

IV. Die Londoner Konferenz

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Travail devra defendre avec vigilance". Grund dafür war, daß in diesen Bestimmungen die Wurzel einer supranationalen Arbeitsorganisation lag. Mit ihrer Unterschrift unter der Versailler Friedensvertrag, so das Gutachten, hätten die Nationalstaaten einem Verfahren zugestimmt, "qui constituent Veritablemente une renonciation partielle a leur souverainete". Da diese Neuerungen in den internationalen Beziehungen aber aller Voraussicht nach heftige Widerstände hervorrufen werde, müsse das BIT hier eine vorsichtige, aber entschiedene Politik treiben. Thomas folgte diesem Rat. Am 30.06.1925 setzte er das RAM davon in Kenntnis, daß es aus der Sicht des BIT nicht genüge, in Ausführung einer Ratifikation lediglich ein Gesetz zu beschließen, aber für die effektive Umsetzung der internationalen Normen nicht zu sorgen: "En effet, l'object essentiel de cette Partie du Traite est d'exclure effectivement du champ de Ia concurrence internationale certaines conditions du travail". 10 Das RAM erwiderte, auch aus seiner Sicht sei es selbstverständlich mit bloßen gesetzgeberischen Maßnahmen nicht getan. Die "Sicherstellung der Ausführung durch Erlaß entsprechender Ausführungsverordnungen oder Verwaltungsanordnungen" gehöre auch dazu. 11 Eine Untersuchung von Verstößen einzelner Betriebe lehnte das RAM jedoch ab. Mit dieser Eklärung gab sich das BIT zufrieden. 12 Die weitergehende Frage, ob eine Untersuchungskommission nur mit der Zustimmung des betroffenen Staates ihre Arbeit aufnehmen durfte oder ob diese Zustimmung bereits mit Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrag konkludent abgegeben worden war, blieb unbeantwortet. 13 Insgesamt zeigt dieser Vorgang, daß Thomas wie bereits in Bern großen Wert auf die in den Art. 409 ff verankerte Zuweisung von Autorität an das BIT legte. Er sah es nicht als alleiniges Ziel seiner Politik an, die Ratifikationen von ILO-Konventionen in den Nationalstaaten beständig zu erhöhen. Die Entfaltung der im Versailler Friedensvertrag enthaltenen supranationalen Bestandteilen der ILO hatte er ebenfalls im Auge. Im Verhältnis zu Deutschland erforderte eine solche Politik angesichts der Ablehnung des Diktatfriedens in weiten Kreisen besonderes Fingerspitzengefühl. Ohne bezüglich des Untersuchungsverfahren zu sehr ins Detail zu gehen, tat Thomas 10 Brief an Feig vom 30.06.1925. D 600/2009/1. Da Brauns ein Arbeitszeitgesetz mit Einzelverordnungen nach französischem Vorbild in Angriff genommen hatte, hatte Thomas bei seiner Kritik an der Umsetzung einer Konvention durch bloßes Gesetz wohl die Verhältnisse in Frankreich im Auge. Dort gab es ein Arbeitszeitgesetz. doch waren die entsprechenden Verordnungen noch nicht für alle Industriezweige erlassen worden. 11 Neitzel an Thomas vom 25.07.1925 ebd .. 12 Schreiben Butler an Feig vom 26.08.1925 ebd. Siehe auch Note sur I'AIIemagne von Berthelot. 08.09.1925. CAT 5-2-10-4. 13 Butler war in seinem Briefentwurf noch ausdrücklich von dem Erfordernis einer weiteren Zustimmung ausgegangen. Auf Hinweis von Morelle! vom 24.08.1925 strich er diese Passage, ebd..

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

deshalb dem RAM seine Absicht kund, auch ein Auge auf die tatsächliche Durchführung der Konventionen werfen zu wollen. Damit rief er die supranationalen Ambitionen des BIT in vorsichtiger Weise in Erinnerung. Doch gleichzeitig begünstigte er Überlegungen des RAM, vor einer Ratifikation des WAZ erst die tatsächliche Anwendung seiner Bestimmungen in Absprache mit den anderen Staaten zu garantieren. Bereits im Januar 1925 hatte Brauns gegenüber Thomas hervorgehoben, daß für Deutschland die tatsächliche Anwendung des WAZ in den anderen Ländern entscheidend sei und daß man dies bei einer neuen Arbeitszeitkonferenz besprechen müsse. In dem Maße, in dem das BIT aus Gründen seiner politischen Stellung den Anwendungsbereich eines Untersuchungsverfahrens und konkurrenzwirtschaftlichen Vorteil einer internationalen Arbeitszeitregelung betonte, in dem gleichen Maße erhöhte sich die Gefahr, daß das RAM, um einem eventuellen Untersuchungsverfahren vorzubeugen und um die Wirtschaft tatsächlich vor arbeitszeitpolitischen Vorteilen der ausländischen Konkurrenz zu schützen, den Gegenstand der internationalen Verhandlungen über die Ratifikation des WAZ hinaus ausdehnte und Arbeitszeitfakten miteinbezog. Bei der Vorbereitung eines Mantelgesetzes zur Arbeitszeit, die auf Weisung Brauns im Anschluß an das Berner Treffen begonnen worden war, stieß man im RAM auf erhebliche Schwierigkeiten. Im April 1925 verweigerten die Arbeitgeber ihre Mitarbeit in einem paritätischen Ausschuß, der die Ausführungsverordnungen vorbereiten sollte. Mitte des Jahres beschloß das RAM von seinem ursprünglichen Plan Abstand zu nehmen und statt eines Rahmengesetzes ein umfassendes Arbeitsschutzgesetz vorzubereiten. Als Grund dafür gab der RAMinister im Oktober 1925 an, ein lokrafttreten des Mantelgesetzes und die Ratifizierung des WAZ sei nur bei gleichzeitigem lokrafttreten der Verordnungen für sämtliche Gewerbezweige möglich. Er verwies dabei auf das Beispiel Frankreich, wo trotz des Gesetzes von 1919 immer noch nicht alle Verordnungen ergangen seien. 14 Dieser Erklärung, die den Eindruck erweckte, im RAM seien alle Weichen auf eine möglichst baldige Ratifikation gestellt und es komme nur noch auf die Modalitäten an, muß vor dem Hintergrund der sogenannten Aktennotiz-Affaire im Sommer 1925 gesehen werden. Nach einem vertraulichen Gespräch mit Ministerialdirektor Sitzler berichtete der Leiter der Tarifabteilung und Syndikus der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, Hermann Meissinger, in einer an die Mitglie14 Schreiben des RAM an die "Gewerkschaftszeitung" vom 06.10.1925, "Gewerkschaftszeitung" Nr. 41, vom 10.10.1925. Brief Donau an Thomas vom 20.05.1925, CAT 5-2-5; Berthelot an Thomas vom 13.10.1925, CAT 5-2-10-4. Siehe auch S. Bischof(, S. 128 f.

IV. Die Londoner Konferenz

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derverbände gerichteten Aktennotiz von umfangreichen wirtschafts- und sozialpolitischen Zusagen des RAM. In Sachen Arbeitszeit soll demnach Sitzler versichert haben, daß das RAM die bestehenden Arbeitszeiten für langfristig angemessen halte, keine weiteren Verordnungen nach § 7 Arbeitszeitverordnung plane und die Verabschiedung des neuen Arbeitszeitgesetzes "mit allen Mittel in die Länge ziehen" werde.15 In einem Gespräch mit den drei Spitzengewerkschaften am 01.10.1925 suchte Brauns verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen und beschrieb in einer schriftlichen Gegendarstellung die vom RAM bisher unternommenen Anstregungen zur Vorbereitung eines Arbeitszeitgesetzes bzw. der Ratifikation. Thomas war über die Haltung Brauns in der letzten Zeit ebenfals wenig erbaut und wollte ihm gar bei der kommenden Arbeitszeitkonferenz auf irgendeine Weise einen Denkzettel verpassen: "II est constamment flottant. II sera interessant de lui assener quelque chose par le coin de Ia figure dans Ia conference de Londres. II y a interet egalement a bien relever les appreciations tendancieuses qu'il donne, soit de l'attitude du gouvernement anglais, soit de celle du gouvernement Franc;ais ou Beige. Sa tentative perseverante pour expliquer ses mauvais coups par l'attitude des autres doit etre dejouee".16 Auf der Londoner Konferenz trat dann aber genau das Gegenteil ein; die Beziehungen zwischen Brauns und Thomas erreichten einen harmonischen Höhepunkt. Das BIT hatte indes nicht zu Unrecht den Eindruck, daß das RAM die Vorlage eines Arbeitszeitgesetzes bzw. die Ratifikation nicht mit der erforderlichen Eile vorantrieb. Die für Mai angekündigte11, dann auf spätestens Herbst 1925 18 verschobene Präsentation eines Arbeitszeitgesetzentwurfes wurde erst am 16.04.1926 in Form des vorläufigen Referentenentwurfs eines Arbeitsschutzgesetzes Wirklichkeit. Einfluß auf diese Verspätung hatten neben der notwendigen Bewältigung neuer Sachbereiche aufgrund der Einbeziehung weiterer Arbeiterschutzregelungen und der koalitionspolitischen Rücksichtnahme auf die DNVP, mit der nach dem Opfer der§ ?-Verordnung ein endgültiges Arbeitszeitgesetz nur schwer durchzusetzen gewesen wäre, die internationale Arbeitszeitpolitik. Nachdem sich der neue englische Arbeitsminister zunächst reserviert gegenüber der Ratifikation durch England gezeigt hatte, erklärte er zwar Anfang Mai 1925, daß er für eine internationale Regelung der Arbeitszeit eintrete. Doch müsse gesichert sein, so seine Prämisse, daß in allen Ländern 15 Aktennotiz Meißingers vom 10.08.1925, abgedruckt in: "Gewerkschaftszeitung" Nr. 39 vom 26.09.1925. S. Bisehoff ebd.. 16 Note für Berthelot vom 16.11.1925, CAT 7-215. 17 Note von Berthelot für Thomas vom 23.06.1925, CAT 5-2-10-4. 18 So Sitzler gegenüber Donau, Brief Donau an Thomas vom 20.05.1925, CAT 5-2-5.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

zuvor eine überstimmende Interpretation des Übereinkommens und eine gleichartige Durchführung erreicht werde. 19 Das RAM sah also insofern "neue Schwierigkeiten" auf sich zukommen, als "insbesondere von Arbeitgeberseite auf die Zurückhaltung Englands hingewiesen werden wird".2D In der Absicht Deutschlands, erst weitere Schritte der englischen Regierung im Hinblick auf eine neue Arbeitszeitkonferenz abwarten zu wollen, sah Marcel Berthelot, ein enger Mitarbeiter Thomas, "une tactique commode": "L'Allemage se retranche derriere l'Angleterre, et ne fera un pas que si le Gouvernement anglais lui en donne l'example".21 In der Tat wurde der Referentenentwurf eines Arbeitsschutzgesetzes ja erst am 16.04.1926 den Verbänden und Ministerien zugeleitet. Zuvor war der Entwurf an die Ergebnisse der Londoner Arbeitszeitkonferenz vom März angepaßt worden.22 Der Weg für eine nationale Regelung der Arbeitszeit, die sich "im Rahmen des Washingtoner Abkommens hält" (Brauns) 23 wurde also erst frei, nachdem die internationale Arbeitszeitpolitik zu einem, wenn auch vorläufigen Ergebnis geführt hatte. Die Vorbereitungen für die Londoner Arbeitszeitkonferenz hielten so die nationale Arbeitszeitpolitik in Deutseilland in der Schwebe. Zudem eröffnete die geplante Londoner Arbeitszeitkonferenz die Möglichkeit, den Rahmen einer nationalen Arbeitszeitregelung zu erweitern und dadurch mehr innenpolitischen Spielraum bei diesem heiklen Thema zu gewinnen. Dies galt umsomehr als Brauns in den Erklärungen Steel-Maitlands im Mai 1925 "des allusions a Ia possibilite d'une revision de certaines dispositions de Ia Convention" zu erkennen glaubte. 24 Am 10.06.1925 traf Brauns mit dem englischen Arbeitsminister in Frankfurt zusammen. Brauns überreichte Steel-Maitland seinen Protokollentwurf und man besprach eingehend einzelne Auslegungsprobleme, insbesondere Art. 14.2S Auch führte der Parlamentarische Staatssekretär im englischen 19 "Der Arbeitgeber" Nr. 10 vom 15.05.1925. Außerdem hatte Thomas von Brauns bereits bei seinem Besuch im Januar von dessen Bereitschaft zu einer neuen Arbeitszeitkonferenz erfah-

re:ß. So Sitzler gegenüber Donau, Brief Donau a.a.O .. 21 Note von Benhelot für Thomas vom 23.06.1925 ebd. Bereits im Mai 1925 habe Thomas der Einschätzung Henselers zugestimmt, daß Brauns die Wiederaufnahme der Berner Gespräche zu dilatorischem Verhalten in der Ratifikations- und Arbeitszeitfrage bewegen werde, Ry>pon deM. Henselervom 14.05.1925 a.a.O .. Brief Donau an Thomas vom 26.03.1926, CAT 5-2-5; "50. Sonderheft ...", S. 90. 23 Tagebuchaufzeichnung des Abgeordneten der DDP, Koch-Weser, über seine Bemühungen zur Bildung eines Kabinetts der großen Koalition, 18.12.1925, AdR Nr. 256. 24 So Henseler nach einem Gespräch mit Brauns, Rappon vom 14.05.1925 a.a.O .. 25 "Frankfurter Zeitung" Nr. 427 vom 11.06.1925. Eine Aufzeichnung über den genauen Inhalt der Gespräche war nicht zu ermitteln. Siehe die englische Version des Protokollentwurfs Brauns mit einigen handschriftlichen Randbemerkungen, PRO/Lab 2/ 994/IL 125/29, S. 13 f. Vgl. auch Schreiben Brauns an Steel-Maitland vom 22.08.1925 (Abschrift), D 601/2010/25/1/4. s. 40 f.

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Arbeitsministerium, Betterton, ein Gespräch mit dem französischen Arbeitsminister, Durafour. Thomas hatte gegen diese Vorgänge scharf, aber ohne Erfolg beim französischen Arbeitsminister protestiert: "Je me permets .. de trouver incorrecte une attitude de cette nature. Il se peut que M. Betterton soit venu a Paris. Mais en generale, il est de regle dans toutes les affaires, soit sociales, soit purement politiques, que le Ministre Anglais se consulte avec son collegue Fran~ais avant de faire une demarche direct du cöte de l'Allemagne".26 Im Gegensatz zum Juli 1924 als sich vor Bern zunächst die Arbeitsminister Frankreichs und Englands zusammen mit dem Direktor des BIT in Paris getroffen hatten, führte England jetzt alleine mit Frankreich und Deutschland Vorverhandlungen über eine künftige Arbeitszeitkonferenz. Das Fehlen einer Vorabstimmung zwischen Frankreich und England bedeutete für das BIT so eine erhebliche Einbuße an Einflußmöglichkeiten.v Am 17.06. übersandte Steel-Maitland ein Memorandum an die Teilnehmerstaaten des Berner Treffens, Italien und das BIT.28 Ziel dieses Vorstoßes war, vor der Einberufung einer Arbeitszeitkonferenz die verschiedenen Standpunkte zum WAZ zu ermitteln und die Erfolgsaussichten für eine Einigung über die Auslegung des WAZ auszuloten. Der RAMinister, der in seiner Antwort vom 22.08.1925 die Initiative des englischen Arbeitsministers begrüßte, hielt "die Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des Übereinkommens nicht für so erheblich, daß nicht ein erneuter Versuch gemacht werden sollte, zu einer völligen Einigung zu gelangen". 29 Allerdings wies er sogleich auf die besondere Lage der deutschen Wirtschaft hin, der "durch internationale Bindungen bekanntlich für die nächsten Jahrzehnte gewaltige Leistungen auferlegt , die eine besondere Vorsicht bei dem Eingehen weiterer internationaler Verpflichtungen gebieten". Aus diesem Grund hielt der RAMinister dem britischen Vorschlag, die in einem Jahr zulässigen Überstunden auf eine Höchstzahl zu begrenzen, den Wortlaut des WAZ entgegen, der eine derartige Beschränkung nicht vorsah. Ferner betonte Brauns, daß Fragen, wie die Eisenbahnbetriebe nach dem WAZ zu behandeln seien, und welche Tragweite Art. 14 in Deutschland angesichts der Dawesverpflichtungen zukomme.30 Nach dem Gespräch in Frankfurt mit sehr eingehenden Erläuterungen Brauns zu Art. 1431 - und aufgrunddes Memorandums von Steel-Maitland wußte Brauns aber, daß die deutsche 26

Brief vom 07.06.1925 an Dr. Mabille, Chef-Adjoint du Cabinet de M. Durafour, 94 AP

3~~·s· h . . I ' Igende Ka pne . I. 1e e 1m emze nen h.1erzu das .o

28 Schreiben Thomas vom 17.06.1925, D 601/2010/25/1/4, S. 10; Memorandum a.a.O ., S. 271

-~3.

Abschrift des Schreibens a.a.O., S. 40 f. Abschrift des Schreibens a.a.O., S. 42 f und 44. 31 Ebd.. 30

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Auslegung von Art. 14 nicht die Zustimmung Englands fand. Uneins waren sich Steel-Maitland und Brauns auch bezüglich des 25 %igen Zuschlags für geleistete Überstunden. Wie in seinem Protokollprojekt wollte Brauns die Pflicht zu einer gesetzlichen Festschreibung des Überstundenzuschlags vermeiden.32 Den Vorschlag Steel-Maitlands, daß auf einer Arbeitszeitkonferenz neben einer Einigung über die Interpretation des WAZ, sondern auch über eine gleichmäßige Durchführung des Übereinkommens erzielt werden müsse, stimmte Brauns grundsätzlich zu. Er gab allerdings zu bedenken, daß eine flächendeckende, statistische Erfassung aller Arten und des Umfangs von Arbeitszeitverlängerungen wegen der zu großen Belastung für "Unternehmer, Behörden und Staatsfinanzen" nicht durchführbar sei.33 Schließlich standen im Schriftwechsel der beiden Arbeitsminister wiederum Fragen zur Debatte, die bereits in Bern erörtert worden waren: die Arbeitsbereitschaft, die Definition der 48-Stundenwoche und der kontinuierlichen Betriebe, die Nachholung der durch Feiertage und Unglücksfälle ausgefallenen Arbeitstage. Brauns und Steel-Maitland waren sich dort einig, wo es um die effektive Umsetzung arbeitszeitpolitischer Normen ging, seien sie nationaler oder internationaler Art. Beide waren der Auffassung, daß in Frankreich noch keine Gewähr für die flächendeckende Durchführung des 8-Stundentags bestand. "D'apres M. Sitzler, le Gouvernement anglais se preocupperait serieusement de l'application insuffisante des huit heures en France", berichtete Berthelot am 23.06.1925 nach Genf:l·' Es entstand der Eindruck, nach dem Treffen in Frankfurt habe sich eine "Union" zwischen Deutschland und England gebildet.35 Gegen einen deutsch-englischen Schulterschluß, der Fortschritte bei der Ratifikation in Frankreich (am 08.07. stimmte die Abgeordnetenkammer für eine bedingte Ratifikation) und Belgien (der neue Arbeitsminister Wauters kündigte im Juni 1925 die unbedingte Ratifikation an) torpedierte, sprach jedoch, daß sich Brauns schon in seinem Schreiben an Steel-Maitland vom August 1925 gegen belastende Überwachungsmaßnahmen ausgesprochen hatte. Außerdem standen der grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen London und Berlin in der Frage der strengen Umsetzung von Arbeitszeitnormen Meinungsverschiedenheiten in anderen 32 33 A.a.O.,

34

S. 43.

~~;~~; ~~.06.1925, CAT 5-2-1D-4.

Im Herbst 1925 befürchtete das BIT sogar, daß Brauns unter dem Deckmantel einer Untersuchung der Arbeitslosenversicherung in geheimer Mission nach England fahren wollte, um die Beziehung zu Steei-Maitland weiter zu vertiefen, Brief Thomas an Donau vom 05.10.1925, CAT 5-2-5. In einem Brief vom 13.11.1925, ebd., zerstreute Donau diese Befürchtungen. Thomas zeigte sich befriedigt, Brief an Donau vom 18.11.1925, ebd.: "Je suis content que Je voyage n'ait pas pris l'allure d'une sorte de voyage diplomatique". 35

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wesentlichen Bereichen gegenüber. Diese hatten ihre Ursachen in unterschiedlichen Interessenlagen. Während England aus wirtschaftlichen Erwägungen (siehe unten Kapitel IV lb)) eine möglichst rigide Einhaltung des 8-Stundentags anstrebte (Höchstzahl der jährlichen Überstunden, 25 %iger Überstundenzuschlag, enge Auslegung des Art. 14), war Deutschland aus reparations- und innenpolitischen Gründen an einer flexiblen Interpretation des WAZ interessiert. Offenbar wurde die deutsche Interessenlage sowohl nach der durch den Austritt der DNVP im Spätherbst notwendig gewordenden Regierungsneubildung als auch bei der unmittelbaren Vorbereitung auf die Londoner Arbeitszeitkonferenz im März 1926. Eine Ratifikation, die zwar durch die Ratifikation Englands, Frankreichs und Belgiens bedingt gewesen wäre, jedoch möglicherweise vor einem nationalen Arbeitszeitgesetz Wirklichkeit geworden wäre, hielt Brauns Ende 1925 "aus außenpolitischen Gründen unmöglich".36 Mit dieser Meinung setzte sich der RAMinister in dem im Januar 1926 neugebildten Minderheitskabinett durch. Obwohl Reichskanzler Luther am 26.01.1926 etwas mißverständlich formulierte, als er das lokrafttreten einer internationalen Arbeitszeitregelung in Deutschland "von dem gleichzeitigen Inkrafttreten in England, Frankreich und Belgien "37, war doch innerhalb des Kabinetts unbestritten, daß die Ratifikation "nur im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Arbeiterschutzgesetzes vorgenommen " .38 Nur dadurch war sichergestellt, daß die Entscheidung über den Zeitpunkt der Ratifikation in der Hand der Regierung verblieb und damit kein Druck auf der Ausarbeitung und Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes lastete. Denn bei einer bedingten Ratifikation hätte die Ratifikation durch andere Staaten das WAZ in Deutschland automatisch in Kraft gesetzt. Wegen der noch nicht harmonisierten Arbeitszeitregelung wäre ein Untersuchungsverfahren, von dessen möglichem Charakter das "Scherbengericht" aus dem Jahre 1924 einen ersten Eindruck verliehen hatte, wie ein Damoklesschwert über dem Gesetzgebungsprozeß gehangen. 36 Während der Koalitionsverhandlungen plädierte die DDP nach Verabschiedung des AIbeitsschutzgesetzes für eine Ratifikation unter der Bedingung, daß Frankreich und Belgien gleichfalls ratifizierten. Die DVP und die BVP wollte auch noch England als Bedingung einbeziehen. Für die DDP war dagegen die Ratifikation durch England, das den 8-Stundentag bereits durchführte, wirtschaftlich gesehen nicht ausschlaggebend, so Tagebuchaufzeichnung von Koch-Weser, 18.12.1925, AdR Nr. 256; vgl. Aufzeichnung vom 14.12.1925, R 43 If2073, S. 234, worin der Verfasser für eine bedingte Ratifikation mit dem Auftrag zur internationalen Verständigung in der Arbeitszeitfrage plädiert; siehe auch Bericht von Berthelot (wohl Anfapp1926), CAT 5-2-11. 3 So Luther am 26.01.1926 im Reichstag, SBR Bd. 388. S. 5148. 38 Ministerbesprechung vom 05.02.1926 zur Ausführung der Regierungserklärung, AdR Nr. 279.

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Daß die neue Regierung darüber hinaus ihre seit Herbst 1924 im Grundsatz positive Haltung zur Ratifikation im Januar 1926 nochmals bekräftigte, war nicht zuletzt auf Thomas zurückzuführen. In Gesprächen mit Luther und Stresemann hatte er auf eine solche Passage gedrängt.39 In gleicher Weise hatte das BIT bereits im November/Dezember 1925 versucht, das Zentrum und die Sozialdemokratie zu einem öffentlichkeitswirksamen Ratifikationsbekenntnis zu bewegen. Zum einen war Renseier auf den Parteitag des Zentrums in Kassel gereist und hatte auf die Verabschiedung einer Resolution Einfluß genommen, die die Fraktionsmitglieder aufforderte, ILO-Konventionen zu ratifizieren.40 Auch der Ausschuß des DGB hatte bereits Mitte Oktober die Regierung an die Ratifikation erinnert.41 Auf der anderen Seite hatte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion am 20.11.1925 eine Interpellation eingebracht, in der die alsbaldige Vorlage eines Ratifikationsgesetzes verlangt wurde.42 Dieser parlamentarische Vorstoß war mitveranlaßt durch einen Beschluß des 1GB und der Sozialistischen Internationale im Oktober 192543, der zu einer intensiven Propaganda zugunsten des 8-Stundentags und der Ratifikation aufforderte. Die für das BIT überraschend'" frühe Einbringung der Interpellation hatte aus der Sicht der Sozialdemokraten den Zweck, "Druck auf die Regierungsneubildung auszuüben" .45 Dem Direktor kam sehr entgegen, daß die Frage der Ratifizierung für die Sozialdemokraten bei den Koalitionsverhandlungen "in erster Reihe',..6 stehen sollte. Denn zu dieser Note vom 22.01.1926 über Gespräche mit Luther und Stresemann, CAT 5-2-3. Rapport de M. Henseler vom 23.11.1925. CAT 5-2-10-5; Note von Thomas für Butler vom 27.11.1925. CAT 4-36. 41 "Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands" Nr. 22 vom 26.101.1925. 42 SBR Bd. 405, Drucksache Nr. 1503. ~3 L. H. van Voss. S. 528: "Gewerkschaftszeitung" Nr. 49 vom 05.12.1925; Pressebericht Nr. 39 vom 13.10.1925. HiKo/NB 74, BI. 21. Der Vorschlag, einen Boykott gegen alle Waren zu organisieren, die nicht unter 8-stündigen Arbeitsbedingungen hergestellt worden waren, wurde wegen der Gefahr von Schutzzöllen nicht angenommen. Ob und inwieweit das Zustandekommen des positiven Beschlusses auf den Einnuß Thomas zurückzuführen ist, konnte nicht genau festgestellt werden. Jedenfalls gab Benhelot nach dem Breslauer Gewerkschaftskongreß vom September 1925 den Rat: "II est cenain que le zele des Allemands, aussi bien des ouvriers que du gouvernement, a besoin d'etre stimule si nous voulons obtenir un resultat", Note vom 08.09.1925, CAT 5-2-10-4. Siehe auch die Schrift des ADGB "Für den Internationalen Achstundentag", 1925 ohne On; Rundschreiben des Paneivorstands der SPD über die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften in der Frage des 8-Stundentags vom 19.11.1925, ADGB DOKUMENTE 80. 44 Telex BIT an Zweigbüro Berlin vom 21.11.1925. CAT 5-2-5. 45 Brief Donau an Thomas vom 25.11.1925 ebd .. 46 So Breitscheid an Thomas vom 30.11.1925, CAT 5-2-1(C). In einem dem Reichspräsidenten vorgelegten Forderungskatalog war dies tatsächlich der Fall, M. Stürmer, S. 138; H. A. Winkler, S. 260. 39

40

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Zeit hatte er größere Schwierigkeiten47, die englische Seite wie geplant zur Durchführung einer Arbeitszeitkonferenz zu veranlassen. Diese internationale Dimension des koalitionspolitischen Pokers Ende 1925 in Deutschland ließ Thomas GraBmann - "tout a fait confidentielle" - mitteilen und versorgte diesen außerdem mit den in Genf verfügbaren Informationen über das WAZ und den Stand der Ratifikationsdiskussion.48 Der SPD-Parteivorstand legte seinerseits Thomas nahe, "daß es vielleicht sehr zweckmäßig sei, ... mit Streseman über die Angelegenheit .. sprechen und ihn aus außenpolitischen Gesichtspunkten heraus für die Wichtigkeit der Ratifikation zu gewinnen " .49 Brauns würde seine Bedenken gegen ein Ratifikationsgesetz dann leichter zurückstellen. Bei der kurzen Zusammenkunft in London anläßlich der Unterzeichnung des Locarno-Paktes jedoch fand Thomas keine rechte Gelegenheit, Luther und Stresemann auf dieses Thema anzusprechen: "Je n'etais pas taut a fait sur mon terrain".so Bei seinem Besuch in Berlin im Januar 1926 holte er dies nach. Neben der parlamentarischen Initiative der Sozialdemokraten und der direkten Einflußnahme Thomas entfaltete auch der ADGB eine intensive Propaganda für den 8-Stundentag und die Ratifikation.51 Das Mittel des Volksentscheids stand allerdings nach dem Breslauer Gewerkschaftskongreß vom September 1925 nicht mehr wie im Sommer 1924 geschliffen und jederzeit einsatzbereit zur Verfügung.52 Nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten im April1925, die für Leipart auch ein "Gradmesser für den voraussichtlichen Erfolg" eines Volksentscheids gewesen war, bestanden aus der Sicht des ADGB keine günstigen Aussichten für eine positive Entscheidung der breiten Bevölkerung in der Arbeitszeitfrage. Der DMV hingegen ließ dieses Argument nicht gelten und schlug auf der ADGB-Sitzung am 19.05.1925 vor, der Regierung ein Ultimatum zur Ratifikation zu stellen, nach dessen Verstreichen der Volksentscheid durchzuführen sei.53 Der DMV setzte sich mit dieser Forderung nicht durch, und Leipart konnte am 29.08.1025 47

Schreiben Thomas an Donau vom 01.12.1925, CAT 5-2-5. Brief von Donau an Thomas vom 01.12.1925 ebd.; siehe auch GraBmann an Thomas vom 28.11.1925, CAT 5-2-2-1. ; Brief Donau an Thomas vom 04.12.1925, CAT 5-2-5. Ebd .. 51 So Donau an Thomas vom 11.12.1925 ebd. In einer Auflage von 2.500 Exemplaren veröffentlichte der ADGB Ende November 1925 zur Förderung der Agitation eine Rednerdisposition mit dem Titel "Für den Internationalen Achtstundentag• ohne Ort; "Gewerkschaftszeitung" Nr. 49 vom 05.12.1925. Der ADGB rief die Ortsausschüsse außerdem dazu auf, in der ersten Dezemberwoche entsprechende Resolutionen zu beschließen, die an die jeweiligen Reichsinstanzen weitergeleitet werden sollten. Günther Scharf, S. 487 beurteilt die Kampagne des ADGB als halbhenig. 52 Siehe hienu die ausführliche Darstellung bei G. Scharf, S. 481 ff. 53 Ebd.; ADGD DOKUMENTE 50. 48

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feststellen, daß "im Bundesausschuß .. alle außer den Metallarbeitern vom Volksentscheid abgerückt " .54 Um eine Auseinandersetzung zwischen dem DMV und den anderen Gewerkschaften auf dem Breslauer Kongreß zu vermeiden, beschloß der Bundesausschuß, die Abschlußresolution des Kongresses um einen Zusatz über den Volksentscheid zu erweitern..ss Die Kontroverse zwischen DMV und ADGB blieb den Delegierten des Breslauer Kongresses indes nicht erspart. Leipart hob auf der einen Seite die Erfolge der Tarifpolitik bei der Verkürzung der Arbeitszeit hervor. Er verwarf den Volksentscheid als politisches Mittel der Massenmobilisierung. Dies habe der Arbeiterbewegung schon viel Schaden zugefügt. Den Volksentscheid über die Fürstenentschädigung unterstütze der ADGB trotzdem. Er plante dafür sogar im Februar 1926 100.000,- DM aus dem Fonds für den Volksentscheid über das WAZ zu entnehmen. Dies scheiterteamWiderstand des DMV.56 Auf dem Breslauer Kongreß betonte Leipart außerdem, aber diesmal mit ungewöhnlich deutlichen Worten, daß der ADGB "sehr starke Einwendungen gegen die Durchführung des Washingtoner Abkommens in Deutschland" erheben müsse, da man hier "bereits etwas viel besseres gewöhnt ".57 Robert Dißmann vom DMV hingegen verteidigte in einer leidenschaftlichen Rede den Volksentscheid. Obwohl die abschliessende Resolution des Gewerkschaftskongresses den Volksentscheid noch erwähnte - das WAZ fand dort keine Berücksichtigung -, hatte dieser wegen der Halbherzigkeit, mit der man sich zu seiner Durchführung bekannte, die Funktion als Dntckmittel auf Regienmg und Parlament ~·erloren. Thomas zeigte sich angesichts dieser Entwicklung enttäuscht: "Certes, Ia Convention de Washington n'est pas le dernier mot de Ia reforme et, d'autre part, je con~ois tous les dangers de la methode du plebiscite, mais l'idee du plebiscite avait tout de meme manifeste une ardeur un peu plus vive en faveur de Ia reforme".ss Erst als Ende November 1925 die sozialdemokratische Reichstagsfraktion ihre Forderung nach Ratifikation in die Koalitionsverhandlungen einbrachte und der ADGB aufgrund des Beschlusses des 1GB und der Sozialistischen Internationale propagandistische Aktivitäten entwickelte, konstatierte der BIT Direktor "quelque reveil de ce cöte".39 Für den ADGB-Vorsitzenden war dies die Möglichkeit, unter Beweis zu stellen, daß die Gewerkschaften den "parlamentarischen Kampf um ein brauchbares Arbeitszeitgesetz" nicht nur fortsetzten, sondern nach der Ablehnung des Volksentscheids in Breslau 54

.5S

ADGB DOKUMENTE 63. Ebd ..

~ ~~~:r~cC::a~~;:t~:::(1~~~~~;r:)~~-1~~: ADGB DOKUMENTE 88.

Brief Thomas an Donau vom 01.10.1925, CAT 5-2-.5; siehe auch Note von Benhelot vom 08.09.1925, CAT 5-2-104. 59 Note für Butler vom 27.11.1925, CAT 4-36. S8

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"mit der größten Anstrengung" führten. 60 In der Denkschrift "Gewerkschaftsaufgaben deutscher Wirtschaftspolitik" plädierten die Freigewerkschaftlichen Spitzenverbände schließlich im Februar 1926 für die Ratifikation. 61 Sie reagierten damit auf die entgegengesetze Forderung des Rdi in seiner im Dezember veröffentlichten Denkschrift "Deutsche Wirtschaft- und Finanzpolitik".62 Sehr am Herzen lag ihnen aber die internationale Arbeitszeitreform in Gestalt des WAZ nicht. Am 27.02. 1926 unterbreitete Brauns dem Kabinett "Richtlinien für die Stellungnahme der deutschen Vertretung bei der Arbeitszeitkonferenz in London". 63 In einigen Punkten stellten diese Richtlinien, die der RAMinister wegen der "großen Bedeutung", die die Sache für Deutschland besitzt, erarbeitet hatte, eine Bekräftigung der bisher vom RAM und in den Regierungserklärungen vertretenen Position dar: Gleichzeitiges Inkrafttreten der Ratifikation in England, Frankreich und Belgien und keine über das WAZ hinausgehenden Verpflichtungen, die Deutschlands "wirtschaftliche Bewegungsfreiheit beeinträchtigen" würden. In anderen Bereichen konnte man Abweichungen von früheren Erklärungen bzw. deren Präzisierung feststellen. Der Begriff der Arbeitsbereitschaft im WAZ sollte nicht streng, sondern so interpretiert werden, "daß auch solche Arbeitnehmer darunter fallen, denen während der Arbeitsunterbrechung eine gewisse Beobachtungspflicht obliegt (z.B. Wächter, Pförtner)". Dagegen wurde das Interesse Deutschland an einer "strengen Durchführung" der Arbeitszeitgesetzgebung in den anderen Ländern bekundet. Man erklärte sich sogar bereit, die im Friedensvertrag von Versailles festgesetzten Kontrollmaßnahmen zu akzeptieren, sobald sie nicht die "Gefahr einer Belästigung der deutschen Wirtschaft oder eine finanzielle Belastung bedingen" (Nr. 6 der Richtlinien). Dies bedeutete ein Einschwenken auf die Position des BIT. So Leipan in Breslau, Gewerkschaftsprotokolle (12. Kongreß), S. 123. ADGB DOKUMENTE 89. Siehe auch Tony Sender, "Brauchen wir eine internationale Regelung der Arbeitszeit?" in: "Betriebsrätezeitung• 1926, S. 417 ff. Auch der 11. Kongreß der Christlichen Gewerkschaften im April 1926 in Donmund fordene die Ratifikation, Niederschrift der Verhandlungen des 11. Kongresses ...., Berlin 1926, S. 529. Vgl. bereits den Beschluß des 3. Kongresses des Internationalen Bundes der Christlichen Gewerkschaften vom 17. - 19.09.1925, "Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands" Nr. 20 vom 28.09.1925. In den Erörterungen kam auch hier zum Ausdruck, daß die Ratifikation allein der Arbeiterschaft den 8-Stundentag noch nicht garantiere. 62 Siehe auch die Untemehmenagung vom 15.03.1926 in Essen mit dem Titel "Kundgebung der gesamten Wirtschaft des rheinisch-westfälischen Industriegebiets"; dagegen: "Gegenwärtige Aufgaben deutsche Winschaftspolitik. Referat des Verbandsvorsitzenden Fritz Tarnow vor dem Funktionären des ADGB, des AfA-Bundes und des Gewerschaftsrings für das rheinisch-westfälische Industriegebiet am 29.03.1926 in Essen", Berlin 1926. Zum Ganzen ADGB DOKUMENTE 93, Fußnote 5. 63 Die Richtlinien, Anlage I zu einem Schreiben Brauns vom 27.02.1926 an die Reichskanzlei, waren streng venraulich. R 43 1/2074, BI. 4; teilweise abgedruckt AdR Nr. 311 (06.03.1926), Fußnote 4. 60 61

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Nach der im gegenseitigen Einvernehmen in der ersten Hälfte des Jahres 1925 gefundenen Auslegung der Art. 409 ff. und der festen Absicht der Regierung, die Ratifikation erst nach Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes durchzuführen, barg dieser Schritt keine innenpolitischen Gefahren in sich. Die englischen Vorstellungen über eine Kontrolle der Durchführung von Arbeitszeitbestimmungen gingen der deutschen Regierung jedoch aus finanziellen und praktischen Gründen zu weit. Von größerer Bedeutung für die Reparationspolitik waren Art. 14 und die Frage der Arbeitszeit bei der deutschen Reiclzsbalzn. Im Unterschied zu den Erklärungen Brauns in Bern und seinem Zugeständnis an Albert Thomas und Frankreich im Rahmen seines Protokollentwurfs (Verweis auf Art. 6) sollte Deutschland in London "darauf bestehen, daß Artikel 14 .. über die zeitweilige Außerkraftsetzung nicht nur im Kriegsfalle, sondern auch dann Anwendung findet, wenn eine außerordentliche Notlage der gesamten deutschen Wirtschaft dies unabweisbar erfordert". Die Regierunserklärung vom Sommer 1924 hatte von einer "außerordentlichen Gefährdung deutscher Lebensnotwendigkeiten" gesprochen, Brauns in Bern von der Außerkraftsetzung des WAZ in bestimmen Industriezweigen, sollten Sanktionen wegen Reparationsversäumnissen drohen. Die Richtlinien lehnten sich demnach an die Regierungserklärung vom Sommer 1924 an und ließen Brauns inoffizielle Ergänzungen unberücksichtigt. Darüber hinaus hatte der RAMinister klare Vorstellungen über die Behandlungen der Eisenbahnen. Zunächst sollte Deutschland als Maximalposition "verlangen, daß die in den Anlagen des Schlußprotokolls der Londoner Konferenz vom 16.08.1924 enthaltenen Vereinbarungen und die zu ihrer Durchführung erlassenen Gesetze über die deutsche Reichsbahn und ihre Personalverhältnisse durch die Ratiftzierung unberührt bleiben". Als Rückfallposition sollte "zum mindesten" darauf bestanden werden, "daß der Eisenbahnbetrieb als ununterbrochener Betrieb im Sinne des Washingtoner Abkommens anerkannt und die Übertragung der Beamten-Arbeitszeit auf die Angestellten und Arbeiter der Reichsbahn für zulässig erklärt wird". Die Maximalfordenmg bei der Frage der Eisenbahn hatte keinen Anhalt im WAZ. Sie war ebenso wie die Auslegung des Art. 14 ein Kind der revisionistischen Politik Deutschlands. Revision bedeutete dabei sowohl Abänderung des WAZ als auch Erleichterung der Reparationslasten. Brauns rechnete auf der Londoner Konferenz einerseits durchaus mit der Revision des WAZ. "Sollte ... der Gedanke eines neuen Übereinkommens oder Zusatzübereinkommens auftauchen, so wird Deutschland dem nur zustimmen, wenn das neue Abkommen die notwendige Rücksichtnahme auf seine Verhältnisse gewährleistet", formulierte er unter Nummer 2 der Richtlinien.

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Das Problem, ob durch eine Interpretation des WAZ oder auf dem Wege eines neuen Abkommens eine internationale Regelung der Arbeitszeit erreicht würde, war für Deutschland also keine Frage des Prinzips, sondern hing davon ab, wie am besten "eine, seinen Bedürfnissen entsprechende Bewegungsfreiheit" durchgesetzt werden konnte. Die Bedürfnisse so wie sie in den Richtlinien niedergelegt waren, entsprangen aber mehr reparationsdenn sozialpolitischen Zielen. Ein Ziel der auswärtigen Arbeitszeitpolitik war deshalb die Durchsetzung einer für die Erfüllungspolitik passenden, internationalen Arbeitszeitregelung. Dieser Zusammenhang wird auch in einem Schreiben des Reichswirtschaftsministers deutlich. Darin warnte Curtius vor einem Verzicht auf die Art. 14 in den Richtlinien beigegebene Auslegung. Die Erfüllung der Reparationsverpflichtungen könne nur durch Exportüberschüsse erfolgen, die bei der gegenwärtigen Situation in Deutschland allein durch niedrige Löhne und flexible Arbeitszeit garantiert seien, so Curtius in Anlehnung an einen Artikel John Meynard Keynes' im "Berliner Lokalanzeiger" vom 05.03.1926.M Erfüllungspolitik hatte natürlich gleichzeitig eine revisionistische Komponente, die die auswärtige Arbeitszeitpolitik ergriff. Auf der Ministerbesprechung vom 06.03.1926 fanden die Richtlinien des RAM "nach längerer Debatte" Zustimmung. Zwar geht aus dem Protokoll der Inhalt dieser Debatte nicht hervor65, doch aus einem anderen Vorgang läßt sich unschwer erkennen, daß die Regierung bei der Formulierung arbeitszeitpolitischer Ziele auch eine Re~·ision des Dawesplanes vor Augen hatte. Am 09.03.1926 hatte der Reichskanzler ein Gespräch mit dem Direktor des BIT in Genf.66 Die Initiative hierzu hatte der Direktor ergriffen. Luther vertrat dabei den Standpunkt, daß Deutschland "innerhalb seiner Kräfte alles tun , um das Dawesabkommen auszuführen". So sehr ihm der durch die Ratifikation des WAZ zu erzielende Fortschritt am Herzen liege, könne er angesichtsdieser Umstände "keinesfalls" dazu beitragen, daß dadurch die Grenzen der deutschen Leistungsfähigkeit "verengert würden". Thomas hielt dieser Ansicht, nach der die deutsche Arbeitszeitpolitik im Schlepptau der Erfüllungspolitik lag, wie bereits im Gespräch mit Brauns im Juni 1924 entgegen, "daß er ... in den Londoner Verhandlungen den Ausgangspunkt dafür sehe, daß die Leistungen Deutschlands aus dem Dawesplan herabgesetzt Schreiben an den RAMinistervom 06.03.1926, R431/2074, 81.13 ff. AdR Nr. 31 I. Der Postminister forderte zudem, daß die Reichspost ebenso wie Eisenbahnen vom Geltungsbereich des WAZ ausgeklammert würden, Schreiben an den RAMinister vom 05.03.1926, R 43 1/2074, BI. 11 f. Er setzte sich jedoch damit nicht durch. Ferner fanden vor der Londoner Konferenz auch inoffizielle Gespräche mit Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer im RAM statt; über sie liegen Aufzeichnungen allerdings nicht vor. Hinweis hierzu im Geschäftsbericht der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände 1925/26, S. 176. 66 Schreiben des Reichskanzlers an den RAMinistcr vom 09.03.1926, AdR Nr. 313. 64

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würden". 67 Der Reichskanzler hatte dabei den Eindruck, "daß auf jeden Einspruch meinerseits < d.h. ein Hinweis auf die Erfüllungspolitik > sich die Energie, mit der Thomas gegen den Dawesplan focht, nur immer stärker entflammte". Der Direktor des BIT, der in London einen Auftakt zur Revision des WAZ grundsätzlich vermeiden wollte, aber seit November 1925 auch anderen 'Lösungsmöglichkeiten' gegenüber aufgeschlossen war, plädierte gegenüber dem deutschen Reichskanzler für eine Revision der im Dawesplan festgesetzten Reparationslasten. Damit brachte Thomas keinen neuen Aspekt in die auswärtige Arbeitszeitpolitik der Luther-Regierung ein. Er bekräftigte vielmehr die bereits auf der Kabinettssitzung vom 06.03.1926 abgeklärten Verhandlungsziele bezüglich einer möglichen Revision des Dawesplans. Dies wird aus folgendem Satz Luthers deutlich: "Die ganze Unterhaltung bewegte sich also völlig in der Linie, in der wir kürzlich im Kabinett uns über die Taktik für London verständigt haben". Der Reichskanzler teilte den Inhalt des Gespräches mit Thomas dem RAMinister umgehend mit. Zusammen mit Stresemann hielt er dieses Treffen in Genf für "recht wichtig": Denn die Londoner Verhandlungen könnten vor diesem Hintergrund "vielleicht für das Gesamtschicksal Deutschlands noch weit bedeutungsvoller als es das an sich ja schon hinreichend wichtige Programm aufweist".68 Der Reichskanzler unterstrich somit mit seinem Brief an Brauns vom März 1926 die reparationspolitische Dimension der Londoner Verhandlungen und die Unterstützung des BIT für eine Re~·ision des Dawesplans zum Wohle der intemationalen Arbeitszeitrefomz. Bekannt war diese Konstellation im RAM und im Auswärtigen Amt schon seit dem Sommer 1924. Auch hatte Thomas im Januar 1926 bei seinem Besuch in Berlin sowohl gegenüber BraunstfJ als auch BrockdorffRantzau und anderen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes hierauf nochmals hingewiesen.70 Die vom Kabinett beschlossenen Richtlinien, die in der Frage der Eisenbahnen und der Auslegung von Art. 14 die reparationspolitische Komponente einer internationalen Arbeitszeitregelung ausdrücklich einbezogen hatten, beauftragten die deutsche Delegation in London, den sozialpolitischen Preis einer Erfüllung der Reparationsverpflichtungen zu verdeutlichen. Mehr noch: Die Ausklammerung der Reichsbahn von einer internationalen Arbeitszeitregelung und die Ausdehnung von Art. 14 zu einem ar67 68

Ebd .. Ebd .. t9 BriefThomas an Gaillet-Billoteau vom 30.03.1926, CAT 6A-3-5. 70 Note (vom 25.01.1926), sur le voyage Berlin, Joumee du mercredi 20, Diner Schlesinger, CAT 5-2-3: "Brockdorf-Rantzau prend peu de part a Ia conversation, evidemment, il est tres interesse ...".

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beitszeitpolitischen Schlupfloch in Sachen Reparationen boten möglicherweise den Anlaß, daß ein Staat wie England, der aus wirtschaftlichen Gründen an der Ratifikation des WAZ interessiert war, über die Revision des Dawesplans nachdachte, der sich wegen seiner exportfördernden Wirkung auf die deutsche Wirtschaft in London ohnehin keiner großen Beliebtheit erfreute. Auf der Londoner Konferenz ergab sich für Deutschland somit die Gelegenheit, die arbeitszeitpolitischen Rückwirkungen der Erfüllungspolitik aufzuzeigen und mit Unterstützung des BIT die Revision einzuleiten. Hatte Deutseilland im Sommer 1924 die Wirksamkeit eines arbeitszeitpolitischen Hebels in den Verhandlungen um den Dawesplan nur sehr zurückhaltend ausgelotet, um das Zustandekommen einer Reparationsregelung nicht zu gefährden, so war man Anfang 1926, andertllalb Jahre nach Annahme des Sachverständigengutaclztens, bereit, den Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Reparationspolitik offen anzusprechen wzd für eigene Zwecke nutzbar zu machen. b) Internationale Vorverhandlungen- zwischen .,kalter Revision" und Interpretation des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens Die englische Labour Regierung unter Ramsay MacDonald hatte im Herbst 1924 eine Wahlniederlage erlitten. Ein konservatives Kabinett unter der Führung von Stanley Baldwin und mit Arthur Steel-Maitlarid als Arbeitsminister trat an ihre Stelle. Wegen der durch neuen Wahlen bedingten Auflösung des Parlaments waren die von Tom Shaw, dem früheren Arbeitsminister, eingebrachten Entwürfe einer Factory Bill (22.05.1924) und eines Gesetzes zur Ratifikation des WAZ (14.07.1924) hinfällig geworden. Der Protokollentwurf von Brauns wurde dem ausgeschiedenen Arbeitsminister im Dezember 1924 zwar noch zur Kenntnisnahme und Kommentierung übersandt, doch bindende Verpflichtungen konnte Shaw natürlich nicht mehr eingehen.71 Sein Nachfolger Steel-Maitland72 hatte zu Anfang noch kein eindeutiges Konzept für das weitere Vorgehen in der Ratifikationsfrage. Einerseits wollte er offensichtlich vermeiden, daß England nach einer bedingten Ratifikation durch die anderen Hauptindustriestaaten allein verantwortlich für die Nichtannahme des WAZ sei. Auf der anderen Seite sah Steei-Maitland ein grundsätzliches Hindernis für eine englische Ratifikation darin, "que !es Anglais n'etaient pas disposes a accepter l'intervention de Ia loi en toutes choses, ni surtout, l'intervention des autorites publiques pour Ia Brief Butler an Shaw vom 01.12.1924, PRO/Lab 2/994/IL 125/29, S. 49 f; siehe auch den zwischen Shaw und Somervell im Dezember 1924, a.a.O., S. 44 ff. 2 Zu seiner Person siehe R. Lowe, •Adjusting to Democracy ...", S. 33 f.

71

~hriftwechsel

19 GrabhOT

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permission d'heures supplementaires".73 Es sei unmöglich die englische Art des Denkens mit der des Kontinents in Einklang zu bringen. Während man z.B. in Frankreich von einem theoretischen Grundsatz ausginge und diesen versuche in die Wirklichkeit zu übertragen, "en Angleterre, au contraire, on part de Ia practique, de l'examen des faits, et on en tire Ia loi qu'on applique strictement" .74 Bei seinem Besuch in London Anfang Februar 1925 gab Steei-Maitland Thomas deshalb zu verstehen, daß er in Zukunft auf die aus englischer Sicht noch ungelösten Probleme der Ratiftkation hlnweisen werde, gleichzeitig aber bereit sei, " en accord avec le B.I.T." nach Wegen und Möglichkeiten für eine Ratifikation in England zu suchen?5 Thomas versprach dem englischen Arbeitsminister als Gegenleistung, daß er auf Tom Shaw einwirken werde, damit dieser das Ratifikationsgesetz aus seiner Amtszeit nicht noch einmal dem Parlament zur Abstimmung vorlege. Shaw hatte Thomas zwar darüber informiert, daß ihm der neue Premierminister die Gelegenheit eingeräumt habe, ein paar Worte mit ihm über das WAZ und dessen Zukunft zu wechseln.76 In einem Gespräch mit Thomas in Grenoble bekräftigte Shaw jedoch, daß er vor einer möglichen parlamentarischen Initiative erst das Treffen mit Baldwin abwarten wolle. Obendrein war sich Shaw der angesichts der Mehrheitsverhältnisse geringen Chance für eine erfolgreiche Abstimmung über seinen Gesetzentwurf ebenso im Klaren wie über die negativen internationalen Folgen eines parlamentarischen Mißerfolg.n Da man im BIT den Eindruck hatte, daß die neue englische Regierung durchaus an der Ratifikation interessiert war, und man nach dem Treffen von Thomas und Shaw eine unbedachte Initiative der englischen Labour Party nicht erwartete, gab Thomas die Anweisung das Protokollprojekt von Brauns weiter voranzutreiben: "II nous faut agir avec Ia deroiere energie en ce moment". 78 Um den englischen Besonderheiten Rechnung zu tragen, suchte Thomas sogar nach Mitteln, in England eine Ratiftkation ohne Arbeitszeitgesetz zu ermöglichen.79 Diese Idee stieß indes auf die Ablehnung der Labour Partfl und hatte auch in der Verfassung der ILO keine Grundlage. 73 Voyage Londres. Note du 4 fevrier 1925. Journee du 3 fevrier 1925, CAT 5-64-2-1, S. 11. Außerdem erwähnte Steei-Maitland alle bisher bekannten Einwände Englands gegen eine Ratifikation. von der Eisenbahnerfrage bis zur Überstundenarbeit. Thomas notierte (S. 10), • < il > a une fois de plus parcouru tous les ehernins battus". 74 Ebd .. 75 Voyage Londres. Note du 16 fevrier 1925, Jounee du 6 fevrier 1925, CAT 5-64-2-1, S. 9. Zu den Argumenten, die er für die Ratifikation vorbringen wollte, so unter anderem die Ratifikati9J~sbereitschaft der deutschen Regierung, siehe Note personneile vom 03.02.1925, 94 AP 390. Voyage Londres, Note du 14 fevrier, Joumee du 5 fevrier 1925, a.a.O., S. 7. n BriefThomas an Wilson vom 16.02.1925, CAT 5-64-1-2. 78 Note vom 12.02.1925, CAT 4-182. Siehe auch Brief an Wilson ebd.. 79 Brief an Wilson ebd.; Voyage Londres, Note du 4 fevrier, a.a.O.; siehe auch Note du 7 deces~rbre 1925, ä Londrcs, Joumee du 4 decembrc, CAT 5-64-2-1. Note du 3 decembre, ä Londrcs, Joumee du 2 decembrc, a.a.O ..

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Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf deshalb die Nachricht in Genf ein, der Labour Abgeordnete Buchanan habe am 13.02.1925 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht. Im BIT spekulierte man darüber, ob dies auf ein möglicherweise negatives Ergebnis des Treffens Shaw mit Baldwin oder, was wahrscheinlicher war, auf den Einfluß der Sozialistischen Internationale und des 1GB innerhalb der Labour Fraktion zurückzuführen war.81 Thomas, der Angst hatte, "que tout l'echafaudage que nous avions laborieusement prepare ne s'ecroule'.82, reiste mit Butler nach London; sie wollten sowohl auf die Gefahren, die das Vorgehen der Labour Party für das WAZ in sich barg, mit Nachdruck hinweisen, als auch die Haltung des BIT in der Ratifikationsfrage, insbesondere beim Problem der Vereinbarkeil der Eisenbahnertarife mit dem WAZ, deutlich machen.83 Im Unterschied zum Jahr zuvor, als Thomas den englischen Arbeitsminister von der Einberufung einer Arbeitszeitkonferenz hatte abhalten können, gelang es 1925 nicht, die Labour Fraktion zu einer Umkehr zu bewegen. Am 02.05.1925 wurde der Gesetzentwurf der Labour Party mit 223 gegen 128 Stimmen vom Parlament abgelehnt. 84 Die vom BIT befürchteten nachteiligen Folgen für die Ratifikationsdiskussion hielten sich jedoch in Grenzen. Denn die englische Regierung erklärte sowohl vor dem Hause of Commons am 02.05. als auch auf der IAK am 25.05., daß sie an einer Ratifikation bzw. Lösung des Arbeitszeitproblems interessiert sei und Gespräche zu diesem Thema mit den anderen Staaten befürworte.85 Das Ziel der Wiederaufnahme von Verband81

BriefThemas an Butler vom 20.03.1925, CAT 5-64-2-1. Ebd.. 83 Ebd. Siehe auch die Aufzeichnung 'The Political Position", o.D., Butler Archives 50: Darin wurde der Labour Pany bzw. Tom Shaw persönlich von einem Gesetzentwurf abgeraten: "1 ask you therefore to consider carefully the international situation before taking action. On your own national situation you are the best judges; I have nothing to say. But intemationaly the effect of failure at this moment would be disastrous". Siehe auch 'The Railway Agreements and the Hours Convention", Made for the Director 20/3/25 on the occasion of his journey to London to meet Labour Pany (on 25/3/25) to discuss difficulties of 8-hourConvention, Butler Archives 50. Darin venrat das BIT wie bereits im Frühsommer 1924 (siehe Grimshaw-Memorandum) die Ansicht, "that the Railway Agreement da not violate the Convention". Damit befand sich Genf im direkten Widerspruch zu Shaw, der bereits über das Grimshaw-Memorandum zu seiner Zeit als Arbeitsminister verärgen gewesen war. Im Dezember stellte er verbitten fest: "... an the question of the Washington Convention I consider that Geneva has torpedoed me entirely". Report an an visit to London, 15. bis 24.12.1925, erstellt am 04.01.1926 von Sydney Parlett. CAT 5-64-4-2. Trotzdem spricht einiges dafür, daß nicht Shaw. sondern andere Mitglieder der Labour-Fraktion Anfang 1925 die Einbringung des Gesetzentwurfs von Buchanan vorantrieben, vgl. auch Brief von Thomas und Jouhaux an Painleve vom 19.05.1925, CAT 6C-7-5. 84 "Internationale Rundschau der Arbeit" 1926, S. 856; "Der Arbeitgeber" Nr. 10 vom 19.05.1925, S. 249. Vgl. auch die Briefe Thomas vom 25.04.1925, Butler Papers XR 25/1/25 und Butlers vom 29.04.1925, ebd. an Steei-Maitland. 85 Von seiner am 09.04. im Parlament venretenen Ansicht, wonach eine Fonsetzung der Berner Gespräche zur Zeit nicht dem Willen der englischen Regierung entspreche, war Steel82

!9•

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Iungen über das WAZ sollte nach den öffentlichen Erklärungen der englischen Regierung darin bestehen, zu einer gemeinsamen Interpretation, Ratifikation und tatsächlichen Durchführung des Übereinkommens in den Hauptindustrieländern zu gelangen.86 Damit zeigte sich, daß England nicht nur an einer erneuten Interpretationskonferenz nach Berner Muster sondern vorallem an der praktischen Umsetzung internationaler Arbeitszeitnormen interessiert war. Das BIT stimmte dem englischen Plan, eine Arbeitszeitkonferenz einzuberufen, im Gnmdsatz zu87, wenngleich mit einem ungute11 Gefiilz/.88 Auch signalisierte Genf, daß Brauns eine Einladung willkommen hieße.89 Butler befürwortete London als Ort der Konferenz ausdrücklich, "as pressure of political character can, if necessary, be brought to bear on the German Gouvernment more easily than if the meeting were at Geneva" .90 Uneins waren sich das BIT und London allerdings über Ziel und Charakter der Konferenz. Butler übersandte am 14.05.1925 einen sechsseitigen Fragebogen an das englische Arbeitsministerium. Dieser auf dem Braunsehen Protokollprojekt beruhende Entwurf sollte als Ausgangspunkt für die Arbeitszeitkonferenz dienen. Nach der Vorstellung des BIT bestand das Ziel der Konferenz darin, "to find a form of words on each point which will command general assent".91 In den Kreisen des englischen Arbeitsministeriums fand der Vorschlag Butlers, die Berner Interpretationskonferenz einfach fortzuführen, keinen Gefallen: "Mr. Butler's suggestions seem to me simply to provide the basis of another academic discussion on the meaning of words ... It would be better, I think, to have no conference then to have Maitland also wieder abgerückt. Vgl. "Der Arbeitgeber" Nr. 10 ebd. Siehe auch den parlamentarischen Staatssekretär Bettenon am 25.05. vor der IAK. ILC (1925) S. 40 f. Mit der Rede Steei-Maitlands im House of Commons war Thomas zufrieden, weil sich dieser damit an die Vereinbarung mit ihm gehalten hatte. trotz des Labour Vorstoßes in der Ratifikationsfrage auf internationaler Ebene die Tür nicht zuzuschlagen. Brief Thomas an Steel-Maitland vom 05.05.1925. CAT 5-64-1-2. 86 So die Rede Steei-Maitlands vor dem englischen Parlament; analysiert von dem BIT-Mitarbeiter Milhaud in einem Entw\Jrf eines später nicht veröffentlichten Artikels Thomas vom 19.05.1925, CAT6C-7-1. 87 BriefThomas an Steel-Maitland vom 05.05.1925, CAT 5-64-1-2. 88 Brief Thomas an Wauters vom 27.06.1925, 94 AP 386: "... je t'avoue que je n'aime pas beaucoup des Conferences de cette nature instituees en dehors de notre initiative et dont j'ai, e~quelque maniere, du forcer Ia porte'. Nachdem Thomas die Bereitschaft Brauns hierzu bereits bei seiner Januarreise nach Berlin erfahren hatte, versicherte sich Butler Anfang Mai nochmals bei Henseler, Brief Butler an Wilson vom 13.05.1925, PRO/Lab 2 a.a.O., S. 43. 90 Brief an Wilson vom 14.05.1925, PRO/Lab 2 a.a.O., S. 27 f. 91 Brief Butler an Wilson vom 14.05.1925, ebd.; Entwurf des Fragebogens, der zur Vorbereitung der Konferenz an die jeweiligen Arbeitsminister gehen sollte, PRO/Lab 2 a.a.O., S. 29 ff.

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one on the basis proposed", schrieb Sir Frederick W. Leggett92 am 22.05. in einer Ministervorlage.93 England wollte statt dessen eine Konferenz, die die tatsächliche Arbeitszeiten in den anderen Ländern zum Gegenstand hatte.94 Aus diesem Grund legte man auch großen Wert auf die Diskussion des im WAZ vorgesehenen Überstundenzuschlags und der Lohnproblematik im allgemeinen: "Wages and hours can not properly be treated and it is not in accordance with the facts ... to expect any practical step to be taken without both considerations being taken into account".95 Obwohl England also eine Konferenz a Ia Butler ablehnte, weil dies nur einem weiteren Versuch gleich gekommen wäre, "to prove that the convention is capable of so many interpretations that nothing is impossible under its provisions", wollte man auf das WAZ als Grundlage der Diskussion nicht völlig verzichten: "Otherwise this country would at once appear to be openly and from the commencement desirous of destroying the Convention ... While it is expedient to refer to the Convention the reference should probably be such as to make it possible at an early stage to get down to the conditions actually in operation in the various countries, the extent to which regulation exists and the methods by which such regulation is carried out".96 Das WAZ verkam demnach fast zum Lockvoget1 für die Einbemftmg ei1ter Arbeitszeitkonferenz. Nicht die internationale Normierung der Arbeitszeit sollte ihr Hauptthema sein. Eine "kalte" Revision des WAZ war beabsichtigt: Man wollte in London über die Kluft zwischen den arbeitszeitpolitischen Realitäten und den Bestimmungen des WAZ sprechen und ausgehend von den Tatsachen 1925/U eine Basis für neue Arbeitszeitnormen schaffen. Diese Politik hatte folgenden ökonomischen Hintergrund: Im Jahre 1925 befand sich die englische Wirtschaft in einer schweren Krise, die im Mai 1926 mit dem Generalstreik der Bergarbeiter zur sozialpolitischen Explosion führte.98 Bereits die Arbeiterregierung hatte im Juli 1924 einen Ausschuß, das Balfour-Kommitee, eingesetzt, um die Lage und Aussichten von Industrie und Handel Englands mit besonderer BerücksichZu seiner Person siehe R. Lowe, a.a.O., S. 69 f. PRO/Lab 2 a.a.O., S. 20 ff. Siehe hierzu auch den handschriftlichen Brief von Somervell aus Genf an Leggen vom 19.05.1925, a.a.O., S. 25: "My view ... isthat it is 4 Thomas befand sich in einer Zwickmühle: Einerseits durchbrach dieser Vorschlag die Regelung des WAZ und nahm dem BIT Kompetenzen. Andererseits war ihm die Bedeutung einer Einigung in diesem Bereich für weitere Fortschritte bei der Ratifikation des WAZ bewußt. Aus diesem Grund fragte er die Teilnehmer, ob sie nach einem Austausch von Listen deren möglicherweise zu umfangreichen Inhalt als Hindernis für die Ratifikation betrachten würden oder ob der informelle Austausch untereinander als vertrauensbildende Maßnahme gedacht sei, die eine Ratifikation nur fördern werde.;w Brauns ging auf die Frage nicht genau ein. Bevor der von ihm erarbeitete Arbeitsschutzgesetzentwurf, der den RAMinister zur Erstellung einer derartigen Liste ermächtige, nicht im Parlament verabschiedet sei, könne er den anderen Partner keine offizielle Liste liefern. Im Vorstadium des Gesetzgebungsprozesses wollte er " Diskussion dieser Dinge heraufbeschwören".286 Durafour hingegen erklärte, daß das Ergebnis einer Prüfung der ausgetauschten Listen in Frankreich kein Hindernis für eine Ratifikation darstellen werde. Nichtdestotrotz drängte er darauf, "that lists should not be communicated until after ratification bad taken place and then only unofficially''.287 Auch Steei-Maitland sah hier kein Ratifikationshindernis, "but he was an282 283

Record of Proceeding:s, S. 167. Record of Proceeding:s, S. 168 ff. : Record of Proceeding:s, S. 193. Ebd .. 286 Brauns-Protokoll, S. 59; gegen eine mündliche Erörterung hatte er keine Bedenken. 287 Record of Proceeding:s, S. 194.

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xious to see the lists proposed before ratification took place in order that they might be assured of at least a comparative degree of uniformity and so secure equality of obligation".288 In den Gesprächen während der Mittagspause erreichte man dann eine Einigung. Steel-Maitland anerkannte die innenpolitischen Gründe für Brauns Haltung und zeigte sich mit dem vertraulichen Austausch vorläufiger Listen einverstanden.28!l Durafour stimmte ebenfalls zu. Nur Thomas hatte noch Einwände. Er befürchtete, daß damit keine komplette Einigung der Arbeitsminister in allen während der Konferenz diskutierten Punkten erzielt worden sei und ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor auf dem Weg zur Ratifikation bestehen bleibe. Auf seinen Vorschlag hin wurde deshalb die Vereinbarung, vertraulich und informell vorläufige Listen auszutauschen, wie folgt ergänzt: "If on examination of these lists it appears that there is a divergence so considerable as to constitute an obstacle to acceptance of the Convention, a committee of experts will meet with a view of devising a more uniform lists which can be accepted". 290 Mit ihrer Vereinbanmg des Austausches VOll Listen etablierten die 5 Staaten ein eigenes Verfahren der Vertrauensbildung und, in gewissem Maße, der gegenseitigen Kontrolle. Die Verpflichtung des Art 7, entsprechende Liste an

das BIT zu senden, war damit nicht völlig hinfällig geworden. Zumal der in Londen vereinbarte Austausch informell und vertraulich durchzuführen war und sich außerdem auf vorläufiges Material bezog. Trotzdem mußte das BIT darin nicht nur eine Gefahr für das WAZ sondern auch für seine Kompetenzen sehen. Diese Bedenken war Thomas nur bereit zurückzustellen, wenn er dafür den Konsens der Arbeitsminister in einem wesentlichen Punkt erreichte und so den Weg zur Ratifikation voraussichtlich erleichterte. Indem er darauf bestand, daß Streitigkeiten über den Umfang der ausgetauschten Listen nicht mehr auf politischer, sondern auf Expertenebene behandelt würden, verpflichtete er implizit die Arbeitsminister, den Austausch der Listen nur als Maßnahme der politischen Vertrauensbildung anzusehen. Im Gegensatz zu Washington 1919 und Bern 1924 als die Frage wegen ihrer technischen Problematik offen geblieben war, hatte die Londoner Konferenz 1926 also einen wesentlichen Fortschritt erzielt. Am letzten Tag der Konferenz wurde dann nochmals deutlich, daß Thomas und das BIT mit der Vereinbarung des Listenaustausches auch Kompetenzen aus der Hand gegeben hatte. Denn Ebd .. Record of Proceedings. S. 195. Vorläufige Listen konnte Brauns unter Umständen vor Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes erstellen und austauschen. Trotzdem sei "diese V~flichtung nicht leicht" für ihn. Brauns-Protokoll, S. 61. Record of Proceedings. S. 196. 288 28!l

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die Frage von Thomas, "whether he was at liberty, in replying to enquires from other Governments, to communicate to them the conclusion with regard to continous processes", verneinten die Arbeitsminister. 291 Ihre Vereinbarung sollte streng vertraulich bleiben. Für den Austausch der Listen setzten sie eine zweimonatige Frist fest. Durafour wurde nur das Recht zugestanden, in der Öffentlichkeit zu berichten, daß er mit den anderen Regierungen über diesen Punkt in Verhandlungen stehe.292 Auf der IAK 1927 erwähnte der Belgier Mertens die geheime Klausel erstmals in der Öffentlichkeit. Thomas dementierte jedoch zu Recht, daß mit dieser Vereinbarung die Ratifikation in den verschiedenen Ländern an die politische Bedingung einer vollständigen Einigung über einheitliche Listen der ununterbrochen tätigen Betriebe gekoppelt worden seLZ93 Mit der Frage, ob und wie die Arbeitszeitverhältnisse der Eisenbahner durch das WAZ geregelt war, hielt das Problem der Reparationen Einzug in die Londoner Arbeitszeitkonferenz. Hatten Steel-Maitland und Durafour29o4 zu Beginn der Verhandlungen in Nebensätzen festgestellt, daß die Eisenbahnbetriebe selbstverständlich dem Geltungsbereich des WAZ unterfielen, so hatte dem Brauns zunächst eindeutig zugestimmt und war damit schon vom Maximalziel seiner Richtlinien abgerückt. Um die Konferenz nicht mit einem Paukenschlag zu beginnen und jede Aussicht auf einen Gesamterfolg gleich im Keim zu ersticken, hatte er aber aus taktischen Gründen am 15.03. eine Verschiebung weiterer Diskussion hierzu durchgesetzt.29S Als im Rahmen von Art. 4 die Frage geklärt werden sollte, ob Eisenbahnen als "kontinuierliche Betriebe" gewisse Erleichterungen vom Prinzip des 8Stundentags zustünden, ließ der RAMinister die Katze aus dem Sack: "He felt bound, also with great regret, to refer to the special position of Germany. There was no doubt that railways were covered by the Convention, but the German railways were also covered by other international agreements to meet which a new Railway Act had been passed".296 Insbesondere bei der Bestimmung, die eine Übertragung der Arbeitszeitregelung der Beamten auf die Angestellten und Arbeiter erlaubte, sah er einen klaren Konflikt mit dem WAZ. In aller Offenheit sprach so Brauns die arbeitszeitpolitischen Auswirkungen des Dawesplans im Bereich der Eisenbahnen an, der eine Ratifikation des WAZ in Deutschland ohne Vorbehalte unmöglich mache. Da die Arbeitszeitregelung der Eisenbahner Ergebnis des in Ausführung des Dawesplans verabschiedeten Eisenbahngesetzes sei, habe 291

Record of Proceedings. S. 212. Record of Proceedings, S. 202. 293 ILC 1927 (Minutes), S. 172. 236. 294 29S Record of Proceedings, S. 149 und 151. Brauns-Protokoll, S. 8. 296 Record of Proceedings. S. 160; Brauns-Protokoll, S. 22 f. 292

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Deutschland nicht die Möglichkeit in eigener Kompetenz diese Regelung zu ersetzen, um sie in Einklang mit dem WAZ zu bringen: "Dr. Brauns said that the German Government would wish to apply the Convention to their railway work, but that the conditions in Operation on the railways were not altogether under their control ".297 Entsprechend den vom Kabinett gebilligten Richtlinien und in Kenntnis der Bereitwilligkeit Thomas, eventuell deutsche Forderungen nach Ermäßigungen der Reparationen wegen zu hoher sozialpolitischer Folgelasten zu unterstützen298, beschrieb Brauns das Dilemma deutscher Erfiil/ungspolitik: Der von Deutschland gewünschten Ratifikation des WAZ stand die fehlende Verfiigwzgsgewa/t über die Arbeitszeitverhältnisse bei den Eisenbaiuzen im Wege. Die Erfüllung der Reparationsverpflichtungen führte demzufolge zwangsläufig dazu, daß Deutschland nur unter dem Vorbehalt einer Ausklammerung der Eisenbahnen ratifiZieren konnte. Den im Dawesplan und im WAZ niedergelegten Pflichten konnte Deutschland nicht gleichzeitig nachkommen. Diese rechtliche Pflichtenkollision stärkte die Überzeugungskraft des Brauns'schen Arguments. Denn im Rahmen von Art. 14 konnte Brauns nur wirtschaftliche Notwendigkeiten ins Feld führen, die eine Verlängerung der Arbeitszeit im Falle erdrückender Reparationslasten verursachten: "Ich kann mir nicht helfen, so peinlich das für mich ist. Diese Tatsache ist einmal da und wir können sie nicht hinwegbehaupten. Die Kollision, Herr Durafour, ist rechtlich gegeben".299 Die anderen Arbeitsminister waren von der Argumentation Brauns überrascht. Eine vom RAM anvisierte Ratifikation mit Vorbehalt lehnten sie und Thomas kategorisch ab. 300 Bis auf Steel-Maitland. Er hatte "Sympathien für den Standpunkt des deutschen Arbeitsministers".301 Der von Brauns wegen des Dawesabkommens gemachte Vorbehalt sei kein gewöhnlicher. Außerdem habe auch England im Hinblick auf die Arbeitszeitregelung bei den Eisenbahnen "gewisse Schwierigkeiten". Thomas wollte zwar von einer Ratifikation mit Vorbehalt nichts wissen, doch er schlug folgende Lösungswege vor: Einerseits hätten die deutschen Eisenbahnarbeiter nach einer vorbehaltlosen Ratifikation die Möglichkeit, ein Untersuchungsverfahren nach Art. 409

Record of Proceedings, S. 161; Brauns-Protokoll, S. 24. Siehe den Brief Luthers an Brauns vom 09.03.1926, AdR Nr. 313. 299 Brauns-Protokoll, S. 24. Ausdrücklich auf die Reparationen bezogen, S. 28: "Ich möchte bitten zu unterscheiden zwischen Verpflichtungen allgemeiner geldlicher Art und einer Kollision in der Gesetzgebung". Und auf die deutschen Exporte bezogen, S. 27: "Es handelt sich hier doch nicht um irgendetwas, mit dessen Hilfe wir einem anderen Lande Schmutzkonkurrenz machen wollen, das ist hier doch vollständig ausgeschlossen, nicht wahr?". Daß Brauns bei dem Eisenbahnproblem unbedingt zu einer Einigung kommen wollte und dieses Ziel in seiner Bedeutung noch vor eine Einigung zu Art. 14 stellte, Brauns-Protokoll, S. 54, gehört a~ in diesen Zusammenhang. 301 Record of Proceedings, S. 161. Brauns-Protokoll, S. 26. 297 298

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ff einzuleiten.302 Andererseits, und dies stieß natürlich bei Brauns auf größeren Gefallen, wies Thomas darauf hin, "that it would be morally impossible for the other Powers concerned who were signatories fo the Treaty of Versailles to impose on the German railwaymen conditions inferior to those evisaged by the Convention, andin his view Dr. Brauns had here what almost amounted to a guarantee".303 Mit einer solchen sozialpolitischen Vorabgarantie wollte der Direktor verhindern, daß Deutschland bei einer Ratifikation des WAZ in den Verdacht der bewußt herbeigeführten Nichterfüllung von Reparationspflichten gerate. Brauns versicherte, er sei kein Verfechter der Ratifikation unter Vorbehalten und hoffe, "that some way out might be found on the lines suggested by M. Thomas".304 In den sich anschliessenden Beratungen der Kommission konnte indes eine Einigung in der Eisenbahnfrage nicht erzielt werden. Die Rückfallposition, die Brauns in den Richtlinien durch das Kabinett hatte absegnen lassen, stieß nicht auf die Zustimmung seiner englischen und französischen Kollegen: "The French and British Delegations ... feit strongly that the provisions of Article 4 were not applicable to railways and they found support for this view in what had taken place at Washington". 305 Italien schloß sich dem306 an, während Belgien zugestand, daß zumindest für einen Teil der in Eisenbahnbetrieben beschäftigten Arbeitnehmern unbezahlte Arbeitszeitverlängerungen aufgrund Art. 4 möglich seien.307 Zwei Kompromißvorschläge Deutschlands, die eine Anwendbarkeit von Art. 4 bei Eisenbahnbetrieben nur neben bzw. subsidiär zu den Art. 5 und 6 vorsahen, wollten Frankreich und England ebenfalls nicht annehmen. Brauns hingegen akzeptierte die französische Lösung über Art. 5 nicht, weil dies nur eine andere Verteilung der Arbeitszeit bedeutete, aber keine Überstunden einschloß. Art. 6 b half seiner Auffassung nach hier auch nicht weiter, weil diese Vorschrift keine regelmäßigen Überstunden gestattete.308 Der RAMinister beharrte auf Art. 4: "Es ist für mich unmöglich, ohne einen Herrn von der Reichsbahn neben mir sitzen zu haben, jetzt zu überschauen, was es für eine Wirkung für uns hat, wenn ich nun hier zustimme, daß der Art. 4 für uns gänzlich außer Betracht kommt. Meine Herren, ich kann das nicht machen, ich kann die Verantwortung dafür nicht übernehmen, ich kann die Wirkungen nicht 302 Art. 409 Versailler Friedensvertrag räumte den Berufsverbänden ein derartiges Recht ei.!fuRecord of Proceedings. S. 163. Ebd.; Brauns-Protokoll. S. 25. 304 Record of Proceedings, S. 164; er dachte dabei an eine Art "Protokollnotiz" am Ende der K~ferenz, Brauns-Protokoll. S. 27. Record of Proceedings, S. 185. 306 Siehe insbesondere Record of Proceedings, S. 192. 307 Brauns sah in der Äußerung Wauters "eine Brücke, auf der wir eine Formulierung finden können, die auch uns befriedigen könnte", Brauns-Protokoll, S. 56. 308 Brauns-Protokoll, S. 56 f.

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überschauen. Sie verlangen in diesem Augenblick zu viel von mir".309 Was Brauns natürlich übersehen konnte und was sein unnachgiebiges Verhalten bestimmte, waren die politischen Auswirkungen, würde er von den insofern eindeutigen Richtlinien noch weiter abweichen und auch seine Rückfallposition preisgeben. Selbst ein Vorschlag von Thomas haH nicht weiter. Da der hauptsächliche Grund für die Ablehnung von Art. 4 die Befürchtung sei, der Arbeiter hätte dann wie beim Zweischichtsystem keine wöchentlichen Ruhetage mehr, fragte er Brauns, ob er garantieren könne, daß dem Arbeiter bei Anwendung von Art. 4 "52 Tage Ferien im Jahr gewährt werden?" Doch Brauns wollte dafür " unterschriftliche Garantie" übernehmen, wenn gleich er die Frage "im wesentlichen" bejahte.310 Die Situation schien verfahren. Brauns und Sitzler überlegten "hin und her, wie wir zurecht kommen". In letzter Minute konnte ein Kompromiß doch noch gefunden werden, der der französischen und englischen Abneigung gegen Art. 4 in vollem Umfang entsprach311 • Dies beruhte darauf, daß Brauns von den vom Kabinett gebilligten Richtlinien abwich und folgender Formulierung sein Plazet erteilte: "Es besteht Einverständnis darüber, daß die Eisenbahnen unter das Übereinkommen fallen. Soweit Art. 5 und Art. 6 a für die Bedüfnisse der Eisenbahnen nicht genügen, können die notwendigen Überstunden nach Artikel 6 b zugelassen werden".312 Dies bedeutete im Ergebnis, daß die Eisenbahnen nicht als kontinuierliche Betriebe nach Art. 4 zu qualifizieren waren und Mehrarbeit durch einen 25 %igen Lohnzuschlag verteuert wurde. Die Gründe für die Kurskorrektur des RAMinisters lagen in Folgendem: Zum einen war er nicht bereit an diesem Punkt die Verantwortung für ein Scheitern der bislang positiv verlaufeneo Konferenz zu übernehmen: "... being most anxious that the Conference should reach agreement on all the points at issue, he would be prepared to abandon Artide 4".313 Zweitens verknüpfte er seinen Verzicht auf Art. 4 und seine Zustimmung zu einer möglichen Verteuerung der Mehrarbeit bei den Eisenbahnen mit dem Einverständnis seiner Kollegen, "that overtime would have to be worked on a regular system and not merely ocassionally".314 Dieser Zusatz erschien auf Wunsch Brauns315 nicht in den veröffentlichten Konferenzergebnissen. Die Arbeitsminister hatten damit um den Preis einer Einigung 309 Brauns-Pr01okoll. S. 56: auf diese fachliche lnkompelenz halle sich Brauns schon in Bem b~f~fen.

Brauns-Pro10koll, S. 58. 311 Record of Proceedings, S. 185. "50. Sonderhefl .. .", S. 88: Brauns-Protokoll, S. 58. 313 Record of Proceedings, S. 193; Brauns-PrO!okoll, S. 58. 314 Ebd .. 315 Brauns-Prolokoll, S. 58. 312

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

in der Eisenbahnfrage eine Durchbrechung des insofern eindeutigen Wortlauts von Art. 6 b WAZ in Kauf genommen. Ferner hatte die Überzeugung Brauns, daß "die Reichsbahn schon durch die Bestimmungen über den wöchentlichen Ruhetag etc. einen genügend freien Spielraum bezüglich der Arbeitszeit haben, um allen an sie heran tretenden Forderungen gerecht zu werden"316, Einfluß auf seine Kehrtwendung. Vor diesem Hintergrund wird auch die Bedeutung klarer, die die Londoner Vereinbarung bezüglich des wöchentlichen Ruhetags für Deutschland hatte. Sonntagsarbeit konnte danach ohne Überstundenzuschlag verrichtet werden, wenn sie notwendig und mit den landesgesetzlichen Regelungen des wöchentlichen Ruhetags konform ging. Einer intemationalen Beschränkung der sonntäglichen Arbeitszeit waren die Eisenbahner damit nicht ausgesetzt. Schließlich bedeutete die ausdrückliche Bestätigung der Selbstverständlichkeit, daß die Eisenbahnen dem Regelungsbereich des WAZ unterlägen, eine Rückenstärkung für Deutschland. Unter Berufung auf diese Erklärung der Londoner Arbeitszeitkonferenz konnte die deutsche Regierung im Falle einer Ratifikation des WAZ den Verdacht entkräften, man betreibe in Bezug auf die Reparationen offene Revisionspolitik. Indem Brauns mit dem deutschen Sonderproblem "Eisenbahnen" die Londoner Arbeitszeitkonferenz an den Rand eines Scheitern brachte317, schärfte er andererseits das Bewußtsein seiner Verhandlungspartner für die sozialpolitischen Folgen der Deutschland mit dem Dawesplanes auferlegten Reparations/asten. Daß Deutschland in dieser Beziehung auf die Unterstützung des BIT zählen konnte, hatte sich schon im Sommer 1924 abgezeichnet, war Anfang März 1926 beim Zusammentreffen Albert Thomas mit Luther bestätigt worden und verwirklichte sich während der Diskussionen in London. Bevor Thomas in Plenum der Konferenz für Deutschland Partei ergriff, hatte er nämlich Brauns in einem vertraulichen Gespräch versichert, "qu'en tout cas, !'Organisation, comme eile l'a fait dans d'autres cas (en particulier pour l'Autriche) interviendrait aupres des Puissances signataires du plan Dawes pour signaler Ia difficult~".318 Darüber hinaus hatte Ministerialdirektor Sitzler nach den privaten Gesprächen zwischen den Arbeitsministern den Eindruck, daß auch diese der Beachtung des WAZ "zu einem gegebenen Zeitpunkt" mehr Bedeutung beimessen würden 316 Aufzeichnung für Ministerialdirektor Ritter über eine Sitzung im RAM vom 23.03.1926, bei der Ministerialdirektor Sitzler über das Ergebnis der Arbeitszeitkonferenz berichtete, P1\4WRep/Friedensvenrag 13. 3 So ausdrücklich Durafour. Record of Proceedings. S. 191. 318 Brief an Gaillet-Billoteau vom 30.03.1926. CAT 6A-3-5. Vgl. auch Brief Thomas an Donau vom 29.03.1926, CAT 5-2-5: "Jamais nous ne nous sommes sentis les uns et les autres autant en confiance". Auf einer Pressekonferenz erklärte Thomas auch öffentlich, daß nach seiner Meinung das (ratifizierte) WAZ anderen internationalen Vereinbarungen vorgehe, "Frankfurter Zeitung" Nr. 238 vom 30.03.1926.

IV. Die Londoner Konferenz

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als der Erfüllung des Dawesplanes.319 Brauns wich in London zwar vom Wortlaut der Richtlinien ab, nicht aber von der in ihnen enthaltenen politischen Richtung, der er, im Gegenteil, voll zum Durchbruch verhalf. Nachdem die Londoner Arbeitszeitkonferenz bei allen bislang erörteten Fragen, einschließlich des Eisenbahnproblems, trotz zum Teil erheblicher Meinungsverschiedenheiten durch gegenseitiges Nachgeben eine Einigung hatte erzielen können, wagten sich die Arbeitsminister an die ''Achillesferse" des WAZ: Art. 14. Zunächst suchte Brauns Mißverständnisse zu zerstreuen. die nach seinen Erläuterungen in Bem aufgetaucht waren: "Ich habe vor allem in Bem schon gesagt, es liegt uns absolut fern, hier irgendein soziales Dumping einzuführen. Ich füge heute hinzu: Wir denken auch gar nicht daran, daß wir unter der Notlage, die die deutsche Regierung in ihrem Gesetzentwurf ins Auge faßt, etwa irgendeine einzelne Industrie im Auge haben oder auch nur denken an eine der gewöhnlichen wirtschaftlichen Krisen, ... wie sie zur Zeit auch in Deutschland besteht. ... Bei uns handelt es sich im Art. 14 um eine außergewöhnliche, ich möchte fast sagen katastrophale Notlage der gesamten Wirtschaft, also um eine nationale Sache".320 Der RAMinister verwies erneut auf die Besetzung des Ruhrgebiets 1923 und deren ökonomische Folge für Deutschland. Indem Brauns die Tatsache einer nationalen Krise in den Vordergrund rückte, wollte er Irritationen zerstreuen, die nach seiner Erklärung in Bern, Deutschland wolle sich auf Art. 14 nur bei drohenden Sanktionen und auch nur in bezugauf bestimmte (für die Reparationen entscheidende) Industriezweige berufen, entstanden waren. Er lockerte so in London äußerlich den Zusammenhang zwischen Reparationen und Arbeitszeit, indem er diesen nur für den Fall einer nationalen Krise als Ausnahmetatbestand in das WAZ einführen wollte. Dennoch, Durafour321 und de Michelis widersprachen der Auffassung Brauns heftig. Der Vertreter Belgiens jedoch sah "an und für sich keinen Grund, daß ich Herrn Dr. Brauns nicht zustimmen könnte, wenn Deutschland sich festlegt, nur in ganz ausnahmsweisen Fällen von diesen Bestimmungen Gebrauch zu machen". Hintergrund für diese Aussage von Wauters war, daß Belgien in seinem Arbeitszeitgesetz eine Bestimmung hatte, die u.a. eine Suspendie319 Aufzeichnung für Ministerialdirektor Ritter a.a.O .. 320 Brauns-Protokoll, S. 62; Record of Proceedings, S.

196: "1bey did not wish for power to suspend the Convention temporarily in one or more industries. Suspension would not be applied partially, nor in the case of an ordinary industrial crisis such as Germany was now faced with. The emergency must be national in character, and seriously affect the whole economic life of the country" 321 Der französische Arbeitsminister zitiene aus dem Berner Protokoll und hielt Brauns seine damalige Äußerung vor. Brauns-Protokoll. S. 63; Record of Proceedings, S. 198: "M. Durafour said they had here a serious divergence of opinion. He could not agree anything beyond the strictest intcrpretation should be allowed ... The point was one of vital importance".

22 Grabherr

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rung der Vorschriften für den Fall vorsah, daß das Landesinteresse gebieten würde, "daß durch Vermehrung der Ausfuhr die Einfuhr von Gegenständen des Lebensbedarfs ermöglicht wird".322 "Ja, meine Herren," hakte Brauns hier ein, "das ist viel mehr als ich gewünscht habe". Obwohl Durafour sofort erwiderte, er sei sicher, bei einer Ratifikation werde Belgien diese Bestimmung ändern und, obwohl Wauters seine ursprüngliche Aussage dahingehend einschränkte, daß er Brauns nur zustimme, "wenn insbesondere die Ausführung des Dawesplanes hier keinen Einfluß haben kann"323, war doch offenkunding geworden, daß Deutschland mit seinem Argument nicht alleine dastand.324 Das Interesse "an einer Sozialpolitik, die wirtschaftlich fundiert ist ... in der Luft hängt und in den Wolken sich bewegt"325, war opinio communis. Die zmterschiedlichen reparationspolitischen Interessen iiberlagenen jedoch diesen gemeinsamen Nenner der Sozialpolitiker in London. Thomas suchte zu vermitteln. Er hob hervor, daß mit dem ausdrücklichen Verzicht Brauns auf ein teilweises Außerkraftsetzen der Konvention in bestimmten notleidenden Industriezweigen "ein schwieriger Punkt aus der Welt geschafft ". Steei-Maitlands Vorschlag, vom StiGH ein Rechtsgutachten in dieser Frage anzufordern, wiesen sowohl Brauns als auch Durafour mit dem Argument einer weiteren Verzögerung der Ratifikation zurück.326 Nach einer kurzen Unterbrechung akzeptierte Brauns die Idee Durafours, den Wortlaut von Art. 14 in die nationale Arbeitszeitgesetzgebung zu übernehmen.327 Außerdem war er bereit, einer von Thomas entworfenen Erklärung zuzustimmen, in der darauf verwiesen wurde, "that it is for the Government of each country to decide on its own responsibility and in accordance with the terms of Part XIII of the Peace Treaty, whether the conditions of Article 14 are fulfilled". Bedeutete der erste Teil der Erklärung eine Wiedergabe der Formulierung, die Brauns in seinem Protokollprojekt vorgeschlagen hatte, so fügte der Verweis auf Teil XIII des Versailler Friedensvertrags eine wichtige Nuance hinzu: Ein Staat konnte demzufolge 322 Brauns-Protokoll, S. 64: Record of Proceedings, S. 197: "He < Wauters > thought that the Bjifian clause on this point went further than anything for which Dr. Brauns was asking". Brauns-Protokoll, S. 65 f. JU Außerdem verwies Thomas auf eine Aussage Durafours. eine der belgischen ähnlichen Bestimmung sei auch im französischen Gesetz über den Bergbau vorhanden, Brauns-Protokoll. S. 65. Brauns erwähnte schließlich noch die italienische Antwort auf das englische Memorandum. wo nach italienischer Sicht Art. 14 eine Suspendierung erlaube, wenn Teile der In3'll'strie gefährdet seien. Brauns-Protokoll. S. 64. So Brauns, Brauns-Protokoll, S. 48. 326 Record of Proceedings. S. 199: Brauns-Protokoll. S. 66. Der RAMinister dachte hier auch an die Forderungen der deutschen Gewerkschaften nach beschleunigter Vorlage eines Arb~!Jfzeitgesetzes.

Record of Proceedings, S. 200; Brauns-Protokoll, S. 67.

IV. Die Londoner Konferenz

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zwar die Grenze von Art. 14 in Ausübung seiner vollen Souveränität bestimmen, er erkannte jedoch gleichzeitig ausdrücklich an, ggf. im Rahmen eines Untersuchungsverfahrens nach Art. 409 ff die Verantwortung für einen Verstoß gegen das WAZ übernehmen zu wollen. War dies von Brauns als Betonung nationaler Souveranität auf dem Gebiet des Arbeitszeitrechts gedacht und Bedingung für die Übernahme des Art. 14 in die nationale Gesetzgebun!f28, so lag darin auch eine ausdrückliche Anerkennung des im Versailler Friedensvertrag niedergelegten Kontrollmechanismus. Der RAMinister bewegte sich dabei innerhalb der Richtlinien. Denn sie untersagten ihm lediglich, die Zustimmung zu "Kontrollmaßnahmen, die über den Friedensvertrag und das Washingtoner Abkommen hinaus gehen", zu erteilen. Darüberhinaus hatten sich die allgemeinpolitischen Rahmenbedingungen verändert: Nach dem Abschluß des Locarno Paktes stand der deutsche Völkerbundsbeitritt bevor (wenn er auch im März 1926 vorläufig scheiterte), mit dem BIT haue der RAMinister 1925 eine Klärung über Umfang und Grenzen eines Untersuchungsverfahrens herbeigeführt und selbst von den Parlamentarier der DNVP wurde eine verstärkte Mitarbeit innerhalb der ILO begrüßt. Dem englischen Arbeitsminister ging die Erklärung indes nicht weit genug. Er befragte Thomas ausführlich über die Dauer und Effektivität eines Kontrollverfahrens nach Art. 409 fr_l 29 Trotz der Versicherung Durafours, "that they could be assured of a rapid procedure"330, wollte Steel-Maitland nicht einlenken. Nach einer kurzen Konferenzunterbrechung kehrte Steel-Maitland in den Konferenzsaal zurück. Dabei war ihm "eine gewisse Verlegenheit anzusehen".331 Kurz darauf verkündete er, daß England auf der Einholung eines Vorabgutachtens des StiGH zu Art. 14 bestehen müsse. Diese Erklärung hatte Steel-Maitland offensichtlich während der Konferenzpause mit dem englischen Premierminister abgesprochen. Die anderen Konferenzteilnehmer waren überrascht "und niemand konnte sich des Eindrucks erwehren, daß die englische Regierung von vorneherein die Absicht gehabt hatte, die Konferenz zum Scheitern zu bringen, und lediglich nach einer Gelegenheit dazu gesucht hatte, die die Möglichkeit bot, die Verantwortung für das Scheitern auf eme andere Macht, etwa Deutschland 328

Brauns-Protokoll, S. 67. Deutschland klagte zu dieser Zeit vor dem StiGH, weil England mit seinem Industrieschutzgesetz angeblich gegen den Handelsvenrag zwischen den beiden Ländern verstieß, ·~!Ynische Zeitung• Nr. 222 vom 24.03.1926. Record of Proceedings, S. 203. 331 Yenrauliehe Aufzeichnung über die Sonderverhandlungen zwischen Deutschland und England über den Anikel 14 des Washingtoner Übereinkommens auf der Arbeitszeitkonferenz in L.ondon im März 1926. Verfasser Kuttig (RAM), am 26.06. an den Staatssekretär der Reichskanzlei übersandt. R 43 1/2074. BI. 124 ff: siehe auch AdR Nr. 326, Fußnote 17. 329

22•

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abzuschieben".332 Dieser Eindruck der deutschen Delegation von der englischen Intransigenz mag übertrieben sein. Doch wie beharrlich England an seinem Standpunkt festhielt, sollte sich noch erweisen. Die anderen Konferenzteilnehmer, insbesondere Durafour reagierten mit teilweise "sehr temperamentvollen Reden" auf die britische Erklärung. Wegen der Gefahr einer Verzögerung der Ratifikation und der nachteiligen Wirkungen auf ein positives Konferenzergebnis lehnten sie ein Vorabgutachten des StiGH ab. Man beschwor den englischen Arbeitsminister, sich der Mehrheitsmeinung, die sich in Thomas Entwurf ausdrückte, anzuschließen.333 "Dr. Brauns said that he was quite ready to continue all night if agreement could be reached" .334 Die Konferenz stand auf des Messers Schneide. Um 20.30 Uhr wurden die Beratungen unterbrochen. Die deutsche und englische Delegation traten in Verhandlungen, die jedoch zunächst ergebnislos verliefen. Von 21.45 Uhr bis 22.00 Uhr tagte die Konferenz erneut, ohne allerdings auf das Problem des Art. 14 einzugehen.315 Die Verhandlungen zwischen dem englischen und deutschen Arbeitsminister setzten sich fort. Steel-Maitland, der bedauerte, daß der Eindruck englischer Intransigenz entstanden war, bat um eine zusätzliche Erklärung, die Art. 14 enger umschreiben und jeglichem Mißbrauch vorbeuge.336 Ministerialdirektor Sitzler und Staatssekretär Wilson wurden nach anfänglichem Zögern von Brauns beauftragt, eine entsprechende Formulierung auszuarbeiten. Sie kamen zu folgenden Ergebnis: "1. Es besteht Einverständnis darüber, daß jede Regierung den Art. 14 in seinem Wortlaut in die Landesgesetzgebung aufnimmt. 2. Ferner ist man darüber einig ..., daß von Artikel14 nur im Falle einer Krise Gebrauch gemacht werden darf, die die nationale Wirtschaft so stark trifft, daß die Lebensmöglichkeiten der Bevölkerung bedroht sind. Dagegen kann eine Wirtschaftsoder Handelskrise, die nur einzelne Wirtschaftszweige betrifft, nicht als eine Gefährdung der Staatssicherheit angesehen werden und daher die Außerkraftsetzung des ratifizierten Abkommens nicht rechtfertigen". Im Unterschied zum Vorschlag Thomas präzisierte diese Formulierung die Tatbestandsmerkmale, die allein einen Rückgriff auf Art. 14 erlauben sollten. Damit wurde der Wortlaut des WAZ zwar ausgedehnt, doch der englischen Unsicherheit bezüglich Dauer und Effektivität eines Untersuchungsverfahrens nach erfolgter Ratifikation war stärker Rechnung getragen. Dem englischen Arbeitsminister genügte aber auch dies nicht. Unter mehrmaliger Ebd.. Record of Proceedings, S. 204 ff. Record of Proceedings, S. 206; Brauns-Protokoll, S. 72. 3lS Record of Proceedings, S. 207 f. 336 Vertrauliche Aufzeichnung a.a.O., S. 125. 332 333 334

IV. Die Londoner Konferenz

341

Betonung seiner Verständigungsbereitschaft gab er gegenüber Brauns zu erkennen, daß er "auf Stimmungen in seinem Kabinett Rücksicht zu nehmen < habe > , die nicht alle einer Ratifikation des Washingtoner Übereinkammens günstig seien".337 Er bat deshalb Brauns um eine Erklärung mit dem Inhalt, "daß Deutschland im Falle des Versagens der Reparationsleistungen nicht von Artikel14 Gebrauch machen werde". Brauns wies diese Bitte zurück. Zum einen hätten Belgien und Frankreich bestätigt, daß die Übernahme des Wortlauts von Art. 14 in die heimische Gesetzgebung ein sehr großes Entgegenkommen der deutschen Seite bedeutet habe, mithin also die englische Forderung nach weiteren Erklärungen von den anderen Konferenzteilnehmern nicht unterstützt werde. Andererseits sei es unmöglich vorherzusehen, "welche Wirkungen in einigen Jahren die Erfüllung des Dawesplans haben werde und welche Maßnahmen durch die dann geschaffene Lage etwa notwendig würden".338 Um einen offenen Dissens doch noch zu verhindern, bat Steel-Maitland den RAMinister wenigstens um eine "persönliche Note" obigen Inhalts, "die nur für seinen vertraulichen Gebrauch gegenüber der englischen Regierung dienen solle". Brauns wollte auch diesen Wunsch nicht erfüllen. Der Punkt eines endgültigen Scheiteros der Verhandlungen schien erreicht zu sein. Nach einer kurzen Besprechung erklärte Staatssekretär Wilson, daß man die bereits erarbeitete Formulierung vorbehaltlich der Befragung der englischen Regierung vorläufig annehmen wolle?39 Nach Wiederaufnahme der allgemeinen Verhandlungen stimmten die anderen Konferenzteilnehmer diesem Ergebnis zu. Der Vorbehalt Stee/-Maitlands wurde in das veröffentlichte Dokument der Londoner Arbeitszeitkonferenz aufgenommen. Am 19.03., gegen 2.00 Uhr morgens setzten die 5 Arbeitsminister die Presse von den Ergebnissen in Kenntnis, die sie während der letzten 4 Tage erzielt hatten. "Die Schlußszenen boten ein eindrucksvolles Bild. In dem von Tabaksqualm erfüllten Konferenzsaal saßen die Delegierten, einige 20 Mann stark, um den großen runden Tisch herum, auf dem sich Papier, Tabakspfeifen, Zigarettendosen und Kaffeetassen in malerischer Unordnung befanden. In der Ecke standen zwei große Kaffeetöpfe".340

Brauns hatte also mit seiner Ankündigung notfalls die ganze Nacht hindurch zu verhandeln, um in der Frage der Auslegung von Art. 14 einen Kamprarniß zu erreichen, keine leeren Versprechungen gemacht. "Delegation allemande s'est montree tres conciliante a puissament aide suc337 A.a.O., 338 A.a.O., 339 Ebd ..

340

S. 125. S. 126.

Mantier Depeche vom 19.03.1926, PA/WRep/Friedensvenrag 13.

342

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

ces", hieß es in einem Telegramm an das BIT am Tag nach der Beendigung der Konferenz.341 Obwohl auch der englische Arbeitsminister Verständigungsbereitschaft gezeigt hatte, war es in London jedoch nicht gelungen, eine endgültige Interpretation des Art. 14 zu erarbeiten. Zu sehr unterschieden sich die Ausgangspositionen der Vertreter Deutschlands und Englands. Die Marschroute von Brauns bestimmten die im Kabinett Anfang März genehmigten Richtlinien. Als der RAMinister den Vorschlag Durafours akzeptierte, Art. 14 in die heimische Gesetzgebung aufzunehmen, hatte er schon mehr zugestanden als bei einer strengen Beachtung seiner Richtlinien vertretbar gewesen wäre. Denn diese beauftragten Brauns, eine um die nationale Wirtschaftskrise erweiterte Interpretation des Art. 14 auf internationaler Ebene durchzusetzen. Nach einer Übernahme von Art. 14 in das nationale Arbeitschutzgesetz konnten aber Zweifel an der Richtigkeit einer derart weiten Interpretation wegen des eindeutig anderen Wortlauts der Bestimmung nun auch im nationalen Rahmen laut werden. Dem Kernpunkt der deutschen Interessen, die internationale Anerkennung einer nationalen Wirtschaftskrise als Voraussetzung für die zeitweise Außerkraftsetzung des WAZ, hatte Brauns hingegen in den Gesprächen zum Durchbruch verholfen. Ähnliches galt für den zur Frage der Eisenbahnen erzielten Kompromiß, obgleich er hier nicht unerheblich von den Richtlinien abwich. Auf der (öffentlichen) Abschlußsitzung versäumte Brauns nicht, seine "Freude" auszudrücken, "daß durch das Ergebnis dieser Beratungen die Fertigstellung dieses Gesetzes, seine Beratung im Parlament und die endgültige Beschlußfassung darüber im deutschen Reichstag wesentlich erleichtert ist" .342 In einer Besprechung mit Vertretern des Reichsfinanz-, Reichswirtschaftsministeriums und Auswärtigen Amt wurde das Ergebnis der Londoner Arbeitszeitkonferenz insgesamt begn·ißt: "Es sei gelungen, dem deutschen Standpunkt zum Siege zu verhelfen". 343 Für die positive Aufnahme des Kompromisses in der Eisenbahnfrage war entscheidend, "daß .. Sonntag beliebig lang ohne Gewährung eines Lohnzuschlags gearbeitet werden kann, daß ferner die Arbeitsbereitschaft nicht als Arbeitszeit angesehen wird und daß äußerstenfalls eine Mehrarbeit allerdings unter Gewährung des 25 %igen Lohnzuschlags erfolgen kann".344 Der RAMinister hatte somit "in Bezug auf die Daweslasten keinerlei Bindungen übernommen". Ministerial-

:!

Telegramm vom 20.03.1926 (Absender Zweigbüro in Bcrlin), D 601/2010/25/1/4, S. 56. Brauns-Protokoll, S. 82. 343 Vorlage für den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 23.03.1926, R 43 l/2074, BI. 26; AJ2.zeichnung für Ministerialdirektor Rittervom 23.03.1926, PAfWRep/Friedensvcrtrag 13. Vorlage für den Staatssekretär a.a.O ..

343

IV. Die Londoner Konferenz

direktor Sitzlee versicherte obendrein, daß trotz des Fehlens ausdrücklicher Abmachungen, sich die anderen Staaten darüber bewußt seien, "daß Deutschland sich für den Fall eventueller Sanktionen aus dem Dawesabkommen freie Hand bewahrt hat".345 Auf Nachfrage des Auswärtigen Amts teilte Sitzler weiter mit, aus den privaten Gesprächen zwischen den Ministern habe sich ergeben, daß nach deren Meinung "zu einem gegebenen Zeitpunkt größerer Wert auf die Aufrechterhaltung des Washingtoner Abkommens als auf die restlose Durchführung des Sachverständigenplans zu legen sein werde".:wt~ In einer Kabinettsitzung vom 03.04. wurde der RAMinister dann beauftragt, eine Denkschrift über die Ereignisse von London vorzulegen, "anband deren zu prüfen sei, ob nicht weitere politische Schritte, insbesondere bezüglich der Frage der Auswirkungen der Londoner Beschlüsse auf die Dawesverpflichtungen, zu ergreifen seien".347 Der RAMinister legte das angeforderte Informationsmaterial am 26.06. der Reichskanzlei vor. Anhaltspunkte für politische Vorstöße der deutschen Regierung in der Reparationsfrage aufgrund der Londoner Beschlüsse fehlen jedoch. Die Eisenbahnergewerkschaft hingegen griff nach einer Resolution der Internationalen Transportföderation die Problematik Ende 1926 auf. Die Bedeutung, die die deutsche Regierung Ende 1925/Anfang 1926 der internationalen Arbeitszeitpolitik im Rahmen der Reparationsfrage beimaß, wird vor dem Hintergrund der Diskussion um eine Generalbereinigung zwischen Deutschland und Frankreich verständlich. Vorallem die großen wirtschaftlichen Probleme Frankreichs, der Francverfall und die Forderungen der USA nach Begleichung der französischen Schulden ließen die Idee einer Mobilisierung der von Deutschland aufgrund des Dawesplans ausgegebenen Eisenbahn- und Industrieobligationen aufkommen. Philippe Berthelot, Generalsekretär des französischen Außenministeriums, vertrat seit November 1925 diese Überlegungen am auffälligsten.348 Das Treffen von Stresemann und Briand in Thoiry im Herbst 1926 bedeutete in diesem Zusammenhang Höhepunkt und Scheitern zugleich. Obwohl das Auswärtige Amt 1925 die Richtlinie ausgegeben hatte, Deutschland solle zunächst einmal seine Zuverlässigkeit in der Begleichung seiner Reparationsverpflichtungen vor den Augen der Öffentlichkeit beweisen349, wurde die Auswärtige Arbeitszeitpolitik Anfang 1926 und im März in London bewußt in den Dienst einer mögAufzeichnung für Ministerialdirektor Ritter vom 23.03.1926 a.a.O .. Yenrauliehe Aufzeichnung für Ministerialdirektor Ritter P~WRep/Friedensvertrag 13. AdR Nr. 326. J.l8 P. Krüger, "Außenpolitik ...", S. 340 f. 9 3,.1 A.a.O., S. 343, zu den entsprechenden Nachweisen. 345

.w;

vom

25.03.1926,

344

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

liehen Revision des Dawesplanes bzw. einer endgültigen, günstigeren Reparationsregelung gestellt. Auf der anderen Seite hatte das britische Kabinett Steel-Maitland enge Grenzen gezogen. In prinzipiellen Fragen, und dazu gehörte natürlich die Auslegung des Art. 14, mußte er die Zustimmung des Kabinetts einholen.350 Obwohl er am 29.03.1926 ein Memorandum vorlegte351, indem er sich für die Genehmigung seiner bislang vorläufigen Annahme der zu Art. 14 erzielten Interpretation aussprach, entschied das Kabinett nicht in seinem Sinne. Das Abschlußdokument der Londoner Arbeitszeitkonferenz blieb so mit dem Makel einer nur vorläufigen Einigung zu Art. 14 behaftet. Die Haltung des englischen Arbeitsministers, dertrotzseiner Isolierung und trotz der weitgehenden Zugeständnisse Brauns das Abschlußdokument bezüglich Art. 14 nicht in endgültig verbindlicher Form unterschreiben konnte, muß in folgende Rahmenbedingungen eingeordnet werden352: Während der Londoner Arbeitszeitkonferenz stand England gleichzeitig mit Frankreich in Verhandlungen über Höhe und Modalitäten der Bezahlung französischer Kriegsschulden. Wegen der schlechten Finanzsituation, die zum drastischen Kursverfall des französischen Franc geführt hatten, war Frankreich an zwei Dingen interessiert: Einerseits an niedrigen Zahlungen, andererseits an einer Bindung dieser Zahlungen an die aus Deutschland eingehenden Reparationen.353 England hingegen hatte zwar auch ein starkes wirtschaftliches Interesse an einer Stabilisierung des Franc: Billige Inflationsimporte aus Frankreich sollten vermieden, die europäische Währung auf Goldbasis stabilisiert werden.354 Überhöhte Zahlungsforderungen an Frankreich waren deshalb kontraproduktiv. Der Wunsch nach einer regelmäßigen, von den deutschen Reparationszahlungen unabhängigen Schul-

350

So der Beschluß vom 29.01.1926. PRO/CAB 23/52.

351 PRO/CAB 24/179, S. 411 ff. 352 Eine endgültige Klärung der Gründe, die für die Politik des englischen Arbeitsministen;

und des Kabinetts maßgebend war. kann nur eine umfassende Auswertung der Aktenbestände englischen Arbeitsministeriums und der Kabinettsprotokolle bringen. 3 Siehe dazu C. Wurm, "Interalliierte Schulden ...", S. 89 ff, 99; D. Artaud, "La Question des Dettes lnterallic!s ...", S. 788 ff, insbesondere 791. Frankreich führte auch Verandlungen mit den USA, die am 29.04. zum Abschluß des Mellon-Bc!ranger-Abkommens führten und die englische-französische Gespräche beeinflußten; siehe auch Mantier Depeche vom 25.02.1926, P~Rep/lnteralliierte Schulden, Bd. 10. C. Wurm ebd. Churchill als Finanzminister der Regierung Baldwin verkündete nach seinem Amtsamtritt 1925 als en;te Maßnahme die Rückkehr des Pfundes zum Goldstandard, G. Ziebura, S. 114; Bericht der Deutschen Botschaft in London vom 02.07.1925, PA/Gesandtschaft Bem/490/2. d~

IV. Die Londoner Konferenz

345

dentilgung war jedoch um so dringender.m Auf dieser Linie lag das englisch-italienische Schuldenabkommen vom 27.01.1926. Die Vereinbarung einer niedrigen Zahlungssumme Italiens stieß in der Öffentlichkeit auf Unverständnis356, hatte ihren Grund aber in der Loslösung dieser Zahlungen von den Reparationseinahmen Italiens. Die Chancen Englands, auch gegenüber Frankreich eine Entkoppelung der Zahlungen zu erreichen, hingen mit davon ab, ob Frankreich mit dem größten Gläubiger der interalliierten Kriegschulden, den USA, eine solche Vereinbarung einging bzw. eingehen mußte. Denn eine sog. Paritätsklausel bestimmte, daß England Frankreich die seihen Vergünstigungen gewähren mußte, die die USA seinerseits Frankreich einräumte. So war auch das englisch-italienische Schuldenabkommen (Januar 1926) erst nach dem amerikanisch-italienischen vom 14.11.1925 zustandegekommen. Beide Vereinbarungen enthielten keine Sicherungsklausel für Italien.157 Die französisch-amerikanischen Schuldenverhandlungen begannen am 24.01.1926. Erst am 29.04. führten sie zum Abschluß des sog. Mellon-Berenger-Abkommens.358 Dies enthielt keine Sicherungsklausel, die Frankreich bei einem Ausfall der deutschen Reparationen von den Zahlungen seiner Schulden an die USA befreit hätte. Die Verhandlungen zwischen Frankreich und England zogen sich bis Sommer 1926 hin. Insbesondere Churchill beharrte auf dem Wegfall einer Sicherungsklausel.359 Eine volle Einigung kam nicht zustande. Während Churchill in einem Brief betonte, die Schuldenzahlungen erfolgten unter alleiniger Verantwortung Frankreichs, antwortete Caillaux in einem Schreiben mit dem Hinweis auf das Recht Frankreichs, bei Ausfall der deutschen Reparationen über die Höhe der vereinbarten Zahlungen erneute Verhandlungen fordern zu dürfen.360 Eine ausdrücklich festgelegte Sicherungsklausel setzte Frankreich also nicht durch. Während des Londoner Treffens der Arbeitsminister vom März 1926 war der Ausgang jedoch noch ungewiß. Sogar die französisch-amerikanischen Verhandlungen waren noch in der Schwebe.

3S.5 Vorallem das Schatzamt, die Bank von England und die Industrie drängten u.a. auch aus Rivalitätsgründen auf hohe französische Schuldenzahlungen, C. Wurm, "Frankreich, die Repara&nen ... .", S. 323. Bericht der Deutschen Botschaft in London vom 11.02.1926, PA/WRep/Interalliierte S)~_ylden, Bd. 9. Bericht der Deutschen Botschaft in Washington vom 19.11.1925, PA/WRep/Interalliierte Schulden, Bd. 8; Telegramm der deutschen Botschaft in London vom 18.05.1926, P~WRep/Interalliierte Schulden, Bd. 10. D. Artaud, S. 788, 794. 359 Vgl. Churchills Äußerung im Unterhausam 24.03.1926, "Kölnische Zeitung" Nr. 225 vom 25J?·1926. D. Artaud, S. 800.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Buropa

Es konnte deshalb nicht im englischen Interesse liegen eine Auslegung des Art. 14 zu akzeptieren, die Deutschland die Möglickeit einräumte, im Falle allzu belastender Reparationsverpflichtungen oder gar angesichts drohender Sanktionen die internationale Arbeitszeitregelung außer Kraft zu setzen. Denn erreichte England gegenüber Frankreich einen Wegfall der bislang bestehenden Sicherungsklausel, so durfte die englische Regierung zwar auf regelmäßige Zahlungen aus Frankreich vertrauen, mußte aber befürchten, daß Frankreich seinen Druck auf Deutschland wegen möglicherweise ausbleibender Reparationen erhöhte, Deutschland in der Folge unter Berufung auf Art. 14 die Arbeitszeit wie bei der Ruhrbesetzung 1923 verlängerte und damit gleichzeitig sein arbeitszeitpolitisches Dumping nach England verstärkte, um den französischen Reparationsforderungen nachzukommen. Sollte Frankreich hingegen in Zukunft weiter im Genuß einer Sicherungsklausel bleiben, so bestand für Frankreich zumindest wegen seiner Schuldenverpflichtungen gegenüber England kein unmittelbarer Anreiz, höhere deutsche Reparationen einzuklagen. Ein Wegfall der Sicherungsklausel sollte umgekehrt aus englischer Sicht nicht zu einem weiteren Druck auf Frankreich führen, der neben dessen schlechter wirtschaftlicher Lage und politischer Gründe wegen die Reparationsforderungen an Deutschland in die Höhe trieb und eine Arbeitszeitverlängerung zur Folge haben konnte. Frankreich konnte der Auslegung von Art. 14 ohne größere Bedenken zustimmen: Denn selbst Arbeitszeitverlängerungen in Deutschland waren nicht von vorneherein und aus der Sicht der Arbeitgeber unerwünscht, sie mußten sich nur zugunsten der Summe deutscher Reparationen auswirken und damit in die Hände Frankreichs fallen. 361 Und sei es auf dem Umweg höherer deutscher Exporte. Der Hintergrund, vor dem die vorläufige Zustimmung des englischen Arbeitsminister zur Interpretation von Art. 14 zu sehen ist, wird neben den Verbindungen zwischen Reparationen und interalliierter Schuldenregelung noch durch eine innenpolitischen Komponente ergänzt. Deren Bedeutung ist um so größer, als Steel-Maitland in seiner Kabinettsvorlagen vom 29.03.1926 mitteilte, daß nach Rücksprache mit dem Foreign Office und dem Treasury (Churchill) Einigkeit darüber erzielt worden sei, nicht auf eine weiteren Präzisierung der erarbeiteten Formel zu bestehen. Aus diesem Grund bat er das Kabinett, dem Londoner Abschlußdokument die endgültige und vollständige Genehmigung seitens der englischen Regierung zu

361 Vgl. in diesem Zusammenhang die Diskussionen im Verwaltungsrat Anfang 1924, als der französische Arbeitgebervertreter für Arbeitszeitverlängerungen in Deutschland zugunsren der Reparationen plädierte: siehe auch Note von Thomas sur l'execution du plan Dawes, o.D., CAT 6A-3-l-6, S. 8.

IV. Die Londoner Konferenz

347

erteilen362: "Failure to agree on this point would nullify the rest of the agreement". Außerdem drängte er auf eine schnelle Entscheidung: "This is very desirable from the point of view of its effect on foreign countries, if we wish then to adopt the further course of action which is most conducive to our interests. Moreover any favourable effect upon labour opinion generally at home (which is of importance in connection with the coal crisis) will be seriously prejudiced by delay".363 Ob die dämpfende Wirkung, die sich SteelMaitland von einer endgültigen Annahme der Londoner Beschlüsse auf die Forderungen der englischen Arbeiterbewegung nach Beibehaltung des 8Stundentags erwartete, die dann zu erwartende Verärgerung der Arbeitgeber aufwog, bezweifelte er selbst. Denn ein Teil der englischen Arbeitgeber36a hatte sich zwar für eine internationale Arbeitszeitregelung stark gemacht. Mit ihrer Ablehnung gegenüber dem WAZ und eines nationalen Arbeitszeitgesetzes hatte das Gros der Arbeitgeber jedoch nie hinterm Berg gehalten: "Up to the present their expressions of disapproval have not been very strong but they will no doubt be disappointed that an Agreement was reached, and very likely will now give expression to their views". Vor der öffentlichen Bekanntgabe einer eventuellen Genehmigung der Londoner Beschlüsse durch das englische Kabinett riet deshalb Steel-Maitland, sich vertraulich mit den Unternehmervertreter in Verbindung zu setzen. Eine 40 Personen starke Delegation, die von Lord Weir als Vertreter der Schiffbauindustrie und Sprecher angeführt wurde, ließ Baldwin gegenüber im April 1926 ihrer Empörung über die Beschlüsse der Londoner Arbeitszeitkonferenz freien Lauf.36S "On the Eve of the Conference the Minister of Labour assured Employers that bis only aim was to help British Industry. The Confederation are deliberately of opinion that the London Agreement would further hinder Britsh industry, while it would not alter foreign Standards". Von Baldwin, der sich über die Haltung der Arbeitgeber sehr erstaunt zeigte, forderten sie, keine weiteren Maßnahmen aufgrund der Londoner Beschlüsse zu ergreifen. Thomas freute sich über den heftigen Widerspruch der englischen Arbeitgeber, weil er zeige, wie sehr sich der englische Arbeitsminister während der Konferenz von Abmachungen mit ihnen frei gemacht und welch großes Opfer er zugunsten einer allgemeinen Verständigung erbracht habe. 366 Von einem Opfer des englischen Arbeitsministers 362

Memorandum by the Minister of Labour. International Regulation of Hours of Work, 24/179, S. 411. A.a.O., S. 412. 364 In den Worten Steei-Maitlands: "... there is a considerably body of opinion amongst employers that they stand to gain by the establishment of more uniform hours of labour amongst th~jf foreign competitors", a.a.O., S. 414. Note von Thomas vom 03.05.1926. CAT 5-64-2-1; beigefügt ist eine Zusammenfassung der Stellungnahme der Abordnung der National Confederation of Employers' Organisation, di~utler verfaßt hatte; siehe auch den Bericht von ParJett vom 08.04.1926, CAT 5-64-4-5. P~/CAB

Ebd ..

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

348

zum Wohle der internationalen Arbeitszeitpolitik konnte aber nur dann die Rede sein, wenn er und seine Politik nicht selbst Opfer des Drucks der Arbeitgeberverbände sein würde. Steel-Maitland versuchte mehrmals das Kabinett zu einer positiven Entscheidung über die Londoner Beschlüsse zu bewegen, "but on each occasion coal has come in and really stopped any serious consideration being given to any thing eise at all".367 Mit "coal" meinte der englische Arbeitsminister die englische Krise im Kohlenbergbau, die mit dem Generalstreik der englischen Gewerkschaften im Mai 1926 einen dramatischen Höhepunkt erreichte. Diese Krise hatte sich schon seit längerem angebahnt. Die von der Regierung 1925 eingesetzte Kohlenkommission legte am 11.03.1926 ihren Bericht vor. Darin lehnte sie Arbeitszeitverlängerungen und Lohnsenkungen als alleiniges Mittel zur Bekämpfung der Krise ab.368 Ebensowenig helfe eine Verstaatlichung der Bergwerke oder die Fortzahlungen der seit 1925 von der Regierung gewährten Subventionen. Notwendig seien vielmehr Strukturverbesserungen und eine wirksamere Absatzstrategie durch Bildung von Verkaufssyndikaten. Während die englische Regierung die Vorschläge der Kommission umsetzen wollte, falls Arbeitgeber und Arbeitnehmer damit einverstanden waren, bestanden die "coal owners" auf Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen.Jf9 Die brisanten Verhandlungen zwischen Regierung, Minenbesitzern und Gewerkschaften, die nach der Vorlage des Berichts der Kohlenkommission vom 11.03. begannen, liefen parallel zur Londoner Arbeitszeitkonferenz (15.03. bis 19.03). Die Grubenbesitzer mußten dabei den Eindruck haben, die konservative Regierung mißachte ihre Interessen in krasser Weise: Denn die Regierungskommission hatte ihre Forderungen nach Arbeitszeitverlängerungen zurückgewiesen und es tagte eine Konferenz der Arbeitsminister in London, die den Weg zu einer Ratifikation des unbeliebten WAZ möglicherweise bereitete. Auf der anderen Seite war der englischen Regierung klar, daß nach dem Bericht der Kohlenkommission eine Lösung der seit 1925 schwelenden Krise des Kohlenbergbaus gefunden werden mußte, obwohl sich Gewerkschaften und Arbeitgeber mit jedem Tag unversöhnlicher gegenüber standen. Daß sich die Londoner Arbeitszeitkonferenz wegen der Verständigungsbereitschaft ihrer Teilnehmer immer mehr zu einem Erfolg und einer Einigung über die Auslegung des WAZ entwickeln würde, hatte Steel-Maitland aufgrundder Vorverhandlungen nicht erwartet. Weitere Fortschritte auf dem Weg zu einer Ratifikation mußten indes den verstärkten Widerspruch der Arbeitgeber ge367 Brief an Butler vom 04.05.1926, Butler Papers XR 25/1/25. 368

Report of the Royal Commission on the Coallndustry vom 06.03.1926, abgedruckt in: J. (Ed.), "English Historical Documents ... ·, S. 797 ff. C. Wurm, "Internationale Kartelle ...", S. 113.

H~ttey

IV. Die Londoner Konferenz

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gen die Politik der Regierung provozieren - diese artikulierten sich ja dann auch - und einer Beilegung der so brisanten Kohlenkrise Steine in den Weg legen. Um den Vorwurf der Intransigenz zu entgehen und um ein Scheitern der Arbeitszeitkonferenz nicht allein verantworten zu müssen, war SteelMaitland gezwungen, in einzelnen Punkten teils weitgehende Zugeständnisse zu machen. Bei Art. 14 hingegen wollte er nur unter Vorbehalt zustimmen: Die endgültige Einwilligung in die erarbeitete Interpretation hätte nicht nur den Kabinettsbeschluß vom 29.01. mißachtet und den noch heftigeren Widerspruch der Arbeitgeber gegen eine internationale, in vollem Umfang abgesicherte Interpretation des WAZ hervorgerufen, sondern England gleichzeitig der Möglichkeit beraubt, "im Falle einer Krise, die nicht die Existenz des ganzen Volkes bedroht, den Achtstungentag ganz oder teilweise außer Kraft zu setzen".370 Die Krise im Kohlenbergbau war ein solcher Fall.371 Mit anderen Worten: Es ist nicht auszuschliessen, daß die englische Regierung aus innenpolitischen Gründen an sich einer weiteren Interpretation von Art. 14 zugeneigt war, dieser jedoch nicht offen das Wort redete, weil der Preis, dafür im Gegenzug wegen Reparationslasten arbeitszeitpolitisches Dumping aus Deutschland gutheißen zu müssen, zu hoch war. Nachdem der Generalstreik der Gewerkschaften am 12.05.1926 beendet worden war, legte die englische Regierung am 22.06. dem Unterhaus einen Gesetzentwurf vor, der den 7-Stundentag in den Kohlengruben für 5 Jahre aufhob und eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnzuschlag um 1 Stunde gestattete. Trotz des Widerspruchs der Labour Party wurde der Entwurf am 29.06.1926 mit Stimmenmehrheit verabschiedet und trat im Juli in Kraft.m Obwohl sich die Arbeitszeit in den Bergwerken damit noch im Rahmen der 8-Stundengrenze des WAZ bewegte, bedeutete die Entscheidung der englischen Regierung, den außergewöhnlichen Krisenverhältnissen in einem Teil ihrer Industrie durch Arbeitszeitverlängerungen Rechnung zu tragen, einen sozialpolitischen Schritt zurück. Steel-Maitland versicherte in der Sitzung des Unterhauses vom 28.06., daß dies kein erster Schritt in Richtung eines allgemeinen Angriffs der Regierung auf Arbeitszeit und Löhne, sondern lediglich eine außerordentliche Maßnahme sei, um der Not des Bergbaus zu begegnen.313 Es handelte sich also wohl nicht um eine nationale Wirtschaft370 371

Vorlage für den Staatssekretär der Reichskanzlei. vom 20.03.1926, R 43 l/2074, BI. 23. "Schon während der Konferenz selbst war sie von den drohenden Kannikten im Bergbau völlig in Anspruch genommen worden", schrieb Thomas in einem Beitrag ("A proposdes huit heures. Pour faire le point") für die "Revue Internationale du Travail". August 1926, (Vol. 14), Nr. 2 = "Internationale Rundschau der Arbeit" Oktober 19~6. s. 904. 3 2 "Internationale Rundschau der Arbeit" 1926, S. 1069. 373 Anikel Thomas in: "Internationale Rundschau der Arbeit" a.a.O.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

krise, durch die die Lebensnotwendigkeiten der Bevölkerung insgesamt betroffen waren. Die zu Art. 14 erarbeitete Interpretation hätte für diesen Fall nicht gepaßt. Aus der Sicht des BIT stellte die Londoner Arbeitszeitkonferenz insgesamt einen großen Erfolg dar.374 Der Verständigungsbereitschaft der Arbeitsminister war es zu verdanken, daß trotz tiefgreifender Meinungsunterschiede außer bei Art. 14 eine vollständige und endgültige Einigung zustandegekommen war. Für die von Thomas als ultima ratio erwogene Revisionsdiskussion bestand kein Raum. Der Geist von Locarno beherrschte die Konferenz. Zu einem "sozialen Locarno", so die ursprüngliche Befürchtung Thomas375, wurde das Treffen der Arbeitsminister jedoch nicht. In der Präambel zu den getroffenen Vereinbarungen wurde die Absicht der Arbeitsminister hervorgehoben, keine selbständigen, endgültigen Auslegungen des WAZ geben zu wollen. Letztlich blieb es dem StiGH überlassen, die Konvention zu interpretieren. Schiedsverträge wie in Locarno wurden nicht abgeschlossen. Mit der Bezeichnung als Auszug aus dem Protokoll wurde ferner klar gestellt, daß es sich nicht um eine förmliches, eigenständiges Protokoll handelte, dem andere Staaten beitreten konnten. Man war sich einig, daß die Auslegung nur die beteiligten Staaten binden würde.376 Die Idee Steei-Maitlands nach Abschluß der Konferenz, die Vereinbarungen der IAK im Sommer 1926 zu unterbreiten, " to link the agreement reached at the London conference with the Washington Convention (in such form as maybe found Iegally practicable) and to endeavour to secure the adhesion of to both documents of as many as possible of the Continental States", verwirklichte sich nicht.377 Die IAK 1926 nahm in einer Resolution die Londoner Ergebnisse318 nur zur Kenntnis, äußerte sich aber nicht explizit über deren Inhalt, gab jedoch zu verstehen, daß man jeden Fortschritt in der Ratifikationsfrage begrüße. Außerdem wurde der Direktor des BIT beauftragt, seine Anstrengungen um eine baldige umfassende Ratifikation fortzusetzen. Die Londoner Arbeitszeitkonferenz hatte also 37~ So Thomas auf einer Pressekonferenz vom 29.03.1926. "Frankfurter Zeitung" Nr. 238 vom 30.03.1926; vgl. auch L. Heyde. "Soziale Praxis" Nr. 14 vom 08.04.1926. 375 Vgl. nochmals ausdrücklich ILC 1926(Director's Report), S. 221; vgl. auch Thomas auf d~j; Pressekonferenz vom 29.03.1926. 6 Record of Proceedings, S. 211. 371 Memorandum vom 29.03.1926 a.a.O., S. 413; Brief Butler an Steei-Maitland vom 30.03.1926, Butler Papers XR 25/1/25, und vom 27.04. ebd., sowie Steei-Maitland an Butler v~rn 04.05.1926 ebd.. Vgl. ILC 1926 (Minutes), S. 49 ff, 154 ff; speziell zur Resolution (fext S. 354), S. '}137 ff: Während die Arbeitgebergruppe gegen die Resolution stimmte, weil ihrer Ansicht nach das Londoner Treffen außerhalb der ILO stattgefunden hatte, rangen sich die Arbeitnehmer zu einem positiven Votum durch. Siehe auch das Gespräch Themas mit Brauns vom 17.05.1926, Note vom 22.05.1926, CAT 5-2-3.

IV. Die Londoner Konferenz

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kein eigenständiges Vertragswerk neben den Teil XIII des Versailler Friedensvertrags, der Basis von ILO und BIT, gesetzt. Darüber hinaus wichen die Arbeitsminister nicht so wesentlich vom Text des WAZ ab, als daß man in den Ergebnissen der Konferenz ein neues internationales Abkommen über die Arbeitszeit hätte vermuten können. Die Auslegung des WAZ stand im Vordergrund der Beratungen, nicht die tatsächlichen Arbeitszeitverhältnisse in den einzelnen Ländern. Mit der Formulierung der Präambel brachten die Minister allerdings nicht positiv zum Ausdruck, daß ihre Interpretation immer streng am Wortlaut der Konvention orientiert war.319 Die Arbeitsminister durchbrachen dort in gewißem Maß den Wortlaut des WAZ, wo es um die formelle Begrenzung der Arbeitszeit ging: Sonntagsarbeit, Regelung der Eisenbahnerarbeit, Nachholung ausgefallener Arbeitsstunden, keine Festlegung der Form, in der Überstunden von den staatlichen Organen festgelegt wurden, und Art. 14. Nimmt man hinzu, daß England nicht mehr auf einer international vereinbarten Höchstgrenze für Überstunden bestand und über die Definition des "ungewöhnlichen Arbeitsanfalls" bei Art. 6 nicht erschöpfend diskutiert wurde, sondern Deutschland im Fall der Eisenbahnbetriebe gar regelmäßige Überstunden zugestanden wurde, so zeigt sich, daß Gnmdlinie der Londoner Konferenz die Flexibilisienmg und Erweitenmg der im WAZ festgelegten Möglichkeiten zur Arbeitszeitver/ängenmg war. Der 25 %ige Lohnzuschlag als international konsensfälliges Mittel der Arbeitszeitbegrenzung rückte in den Vordergrund. Im Fall von Mehrarbeit, so die Arbeitsminister, mußte er zwingend vorgeschrieben sein. Nicht die wegen der unterschiedlichen Arbeits- und Produktionsverhältnisse schier unmögliche Definition materieller Schranken, sondern die Verteuerung von Mehrarbeit sollte den Achtstundentag international sichern. Dies entsprach den englischen Vorstellungen, wonach die Arbeitszeit bei praktischer Betrachtung nicht von der Lohnfrage losgelöst behandelt werden sollte und gesetzliche Arbeitszeitbeschränkungen unerwünscht waren. Die nationale Sozial- und Schlichtungspolitik Brauns, die Mehrarbeit durch höhere Löhne kompensierte, hatte durch die Aufwertung des 25%igen Lohnzuschlags als arbeitszeitpolitisches Korrektiv auf der Londoner Konferenz ihr internationales Pendant gefunden. Die Tarifautonomie hatte der RAMinister, dem an gesetzlich fixierten und international vereinbarten Lohnzuschlägen nicht gelegen war, in London gestärkt. Das im WAZ vorgesehene behördliche Festsetzungsverfahren für Überstunden war trotz der Interventionen de Michelis politisch nicht konsensfähig.

379 Die ursprünglich anderslautende Fom1ulierung wurde nach einem Hinweis von Wilson wieder abgeändert. Record of Proceedings, S. 209 f.

V. Von der Londoner Konferenz bis zum englischen Revisionsbegehren im Jahre 1928 1. Deutsche Arbeitszeitpolitik nach London In einer Pressenachricht vom 23. März 1926 berichtete der 1GB über die Arbeitszeitkonferenz, daß "nach zahlreichen Zwischenfällen in der Frage der allgemeinen Interpretation Einigkeit erzielt wurde, wobei die Rechte der Arbeiter, wie sie sie bis jetzt auffaßten, vollständig gewahrt blieben".' Auch die "Deutsche Allgemeine Zeitung" vom 23.03.1926 sprach davon, daß "der deutsche Standpunkt eine gute Wahrung in London gefunden hat". Die deutschen Gewerkschaften teilten diese positive Beurteilung indes nicht. Die Londoner Beschlüsse bedeuteten aus ihrer Sicht eine Abschwächung des WAZ. 2 Zum "Glück" hätten sie "keinerlei bindende Wirkung .., weder als Auslegungen des Washingtoner Übereinkommens, die vielmehr Sache des Internationalen Gerichtshofs sind, noch als Rahmen der gesetzgeberischen Durchführung, bei der andere Kräfte in den Organisationen und Parlamenten der einzelnen Länder mitzureden haben".3 Daß die Zahlung des 25 %igen Überstundenzuschlags auf die vorübergehende außergewöhnliche Mehrarbeit nach Art. 6 b beschränkt wurde, widersprach in den Augen der Gewerkschaften dem eindeutigen Wortlaut des Abkommens. Völliges Versagen warf man der Konferenz bei der Begrenzung der Überstunden vor4 , für die eine Höchstzahl im WAZ zwar nicht enthalten, jedoch von der englischen Regierung gefordert worden war. In der Vereinbarung zu Art. 14 sah man eine "bewußte Durchlöcherung der Washingtoner Konvention ..., gegen die die Arbeiterschaft entschieden Protest erheben muß".5 Der Zusammenhang zwischen Reparationslast und Arbeitszeit, der während der Londoner 1 Zitiert nach "Gewerkschaftsarchiv" 1926, S. 222, Fußnote 1. 2 "Gewerkschaftszeitung" Nr. 14 vom 03.04.1926. 3 "Gewerkschaftszeitung" Nr. 16 vom 17.04.1926. 4 Einzelkritik in: "Gewerkschaftszeitung" Nr. 15 vom 10.04.1926;

u.a. lehnte man "eine so wytkürliche und mit dem Sinne des Abkommens unvereinbare Auslegung des Artikels S ab". "Gewerkschaftsarchiv" 1926, S. 221 f; die "Gewerkschaftszeitung" Nr. 16 vom 17.04.1926 bewertete den ersten Satz der Vereinbarung zu Art. 14 als "offenbares Verlegenheitsprodukt". Und weiter: "Jedes Wort an dieser Erläuterung ist Kautschuk und steht mit dem klaren Wortlaut des Artikels 14 im Widerspruch".

V. Bis zum englischen Revisionsbegehren 1928

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Konferenz bei Art. 14 und der Eisenbahnfrage seinen Höhepunkt gefunden hatte, war auch der Ausgangspunkt einer Initiative des Einheitsverbands der Eisenbahner Deutschlands zur Änderung des Dawesplanes. In einer Rede auf dem Pariser Kongreß der Internationalen Transportföderation im September 1926 bat der Vorsitzende des Einheitsverbandes, Franz Scheffel, die anderen Mitgliedsverbände darum, ihre deutschen Kollegen bei dem Bestreben einer Revision des Dawesplanes zu unterstützen, weil die nachteiligen Auswirkungen der Dawesgesetze auf die Arbeitsbedingungen sich besonders bei den Eisenbahnarbeitern bemerkbar machten.6 In einer "Resolution betr. die aufgrunddes Dawesplanes geschaffenen deutschen Reichsbahngesetze" brachte die ITF das Anliegen im 1GB vor.7 Dieser bat seinerseits den ADGB um Stellungnahme.8 Der ADGB stellte "im Interesse der deutschen Gesamtpolitik"9 die sozialpolitisch motivierte Kritik aus den Reihen der Eisenbahner am Dawesplan zurück. Das "mühselig ausbalanzierte Problem" 10 sollte trotz der Anerkennung der außergewöhnlichen Lasten für eine Arbeitnehmergruppe nicht wieder aufgerollt werden. Außerdem komme ein Aufgreifen der Frage angesichts der eingeleiteten Verständigungspolitik zwischen Deutschland und Frankreich einer "Katastrophe" gleich. Die SPD-Fraktionsmitglieder vertraten in einer Besprechung vom 03.12.1924 den gleichen Standpunkt.u Der ADGB schrieb daher am 09.12. an den 1GB, es sei trotzder schwierigen Lage der Eisenbahner "unmöglich", "das große und umfassende Problem des Dawesplanes lediglich vom Gesichtspunkt der Eisenbahn aufzurollen ".12 Im Januar 1927 lehnte der Vorstand des 1GB den Antrag der ITF dann formell ab.13 Der Erwartung Thomas, daß sich die ganze Welt für die Ermäßigung der Reparationen einsetzen würde, wenn Deutschland zu hohe sozialpolitische Opfer abverlangt würden, erfüllte sich nicht. Nicht einmal der 1GB und der ADGB fanden sich dazu bereit, entsprechende Forderungen aus ihren Reihen zu unterstützen. Auch Brauns hatte während der Londoner Konferenz erfahren müssen, daß sein primäres Ziel, die völlige Ausklammerung der Eisenbah6 Die Rede ist im Wortlaut abgedruckt in: Mitteilungsblatt der ITF Nr. 10/11 vom OktoperfNovcmber 1926, Auschnitt in: HiKofNB 196/030. Ebd.. 8 Besprechung zwischend Vertretern des ADGB Bundesvorstandes und des Einheitsverbandes über eine mögliche Abänderung des Dawesplanes vom 22.11.1926, ADGB DOKUMENTE 128. Siehe auch die Aufzeichnung Arons für Leipart vom 18.11.1926, HiKo/NB 196/034. Darin sprach Arons von der "ablehnenden Haltung des 1GB", die "durchaus gerechtfertig für Deutschland nützlich ·. 9 So Arons in seiner Aufzeichnung für Leipart vom 18.11.1926, HiKofNB 196/034. 10 So Spliedt in der Besprechung vom 22.11.1926, ADGB DOKUMENTE 128. 11 Aktennotiz von Arons vom 06.12.1926, HiKo/NB 196/038. 12 13 A.a.O., 039. A.a.O., 040.

23 GrabhtrT

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

neo vom WAZ bzw. eine Unterstellung unter Art. 4, nicht durchzusetzen war. Allerdings hatte der RAMinister in London die Zusage des BIT und auch seiner Ministerkollegen erreicht, im Falle einer künftig auftauchenden Pflichtenkollision zwischen einem (ratifizierten) WAZ und dem Dawesplan der Erfüllung des ersteren den Vorzug einräumen zu wollen. Nachdem Brauns und mit ihm die wechselnden Kabinette seit September 1924 die Ratifikationsbereitschaft Deutschlands beständig betont hatten, und auch die Vorlage eines Arbeitsschutzgesetzes nur wegen der Londoner Konferenz verschoben worden war 14, durfte man gespannt sein, ob der am 16.04.1926 den Verbänden und Ministerien unterbreitete Referentenentwurf15 dem WAZ und seiner in London gefundenen Auslegung entsprach. Die Begründung des Entwurfs, die Brauns erst im November 1926 nachreichte, sprach ein deutliches Wort: "Der Entwurf des Arbeitsschutzgesetzes ist .. den Bestimmungen des Übereinkommens, wie sie nach den Londoner Abmachungen auszulegen sind, derart angepaßt, daß nach Ansicht der Reichsregierung bei seiner Annahme der Ratifizierung Schwierigkeiten nicht entgegenstehen". 16 Und in der Tat, der Arbeitsschutzgesetzentwurf hielt sich auf weiten Strecken an den durch das W AZ gesteckten Rahmen: Der Wortlaut von Artikel 14 wurde übernommen ( = §57), ein 25 %iger Lohnzuschlag bei Mehrarbeit, für die Höchstgrenzen vorgesehen waren, wurde zwingend vorgeschrieben (§ 14 Abs. 5), er war auch bei Nachholung von an Feiertagen ausgefallener Arbeitszeit zu zahlen (§ 10 Abs. 1 Nr. 4). Der Geltungsbereich des Gesetzes umfaßte grundsätzlich auch die Eisenbahnen, die Regelung der Arbeitsbereitschaft sowie die Ausnahme für die Sonntagsarbeit respektierten das Londoner Ergebnis und die anderweitige Verteilung der Arbeitszeit, die auch Saisongewerbe wie die Bauindustrie miteinbezog, orientierte sich an den Londoner Beschlüssen. An anderen Stellen zeigte sich aber, daß der Gesetzentwurf entweder vom WAZ abwich, jedenfalls aber seine Verabschiedung allein eine Ratifikation des Übereinkommens noch nicht garantierte: Im Unterschied zum WAZ klammerte der Entwurf den Bergbau unter Tage aus (§ 16 Abs. 1 Nr. 1), so daß vor einer Ratifikation noch ein Bergarbeitsgesetz den Reichstag passie-

14 Donau berichtete am 26.03.1926 an Thomas, daß der Arbeitsschutzgesetzentwurf gemäß dey Londoner Vereinbarungen umgearbeitet werde, CAT 5-2-5. 1 Abgedruckt bei: S. Bischoff, Anlage 11. R 43 1/2019, BI. 106 - 129, 243- 272. 16 Anlage zu einem Schreiben Brauns an die Reichskanzlei vom 13.11.1926, R 43 1/2019, BI. 243 ff; S. 20 der Begründung. Siehe auch die 17seitige "Übersicht über die Regelung der Arbeitszeit im Ausland", BI. 264 ff, die ebenso wie die deutsche Übersetzung des WAZ der Begründung beigefügt war.

V. Bis zum englischen Revisionsbegehren 1928

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ren mußte. 17 Allerdings befand sich das RAM damit auf der Linie der Entwicklung im internationalen Bereich. Denn Anfang 1926 hatte der Verwaltungsrat das BIT beauftragt, die Arbeitsbedingungen im Bergbau zu untersuchen und somit eine gewisse Sonderstellung dieses Industriezweig, der formal ohne Zweifel vom WAZ abgedeckt war, anerkannt. Die Eisenbahnen unterfielen zwar grundsätzlich dem Arbeitsschutzgesetz, doch ermächtigte § 16 Abs. 3 die deutsche Reichsbahngesellschaft, "die für Beamte gültigen Dienstvorschriften über die Arbeitszeit .. auch auf die Arbeiter und Angestellten " .18 Brauns, der noch in London die Reichsbahn vom Geltungsbereich des WAZ hatte ausklammern wollen, unterstellte diese nunmehr dem allgemeinen Arbeitsschutzrecht. Zur Begründung berief er sich auf § 16 Nr. 5 des Reichsbahngesetzes vom 30.08.1926: Danach war zwar vorgesehen, daß "die Vorschriften der Gewerbeordnung auf den Betrieb der deutschen Reichsbahn nicht anzuwenden sind". Doch "dürfte" der Zweck dieser Regelung "in erster Linie in der Freistellung der Reichsbahn von der Gewerbegesetzgebung im engeren Sinn zu suchen sein", nicht aber in einem pauschalen Freibrief gegenüber jeder Fortentwicklung des Arbeitsrechts.19 Die Tatsache, daß Brauns auf der Londoner Konferenz die Konfliktlage zwischen Dawesgesetz und Arbeitsrecht abgeklärt hatte, trug sicherlich mit dazu bei, daß er trotz der nicht ganz eindeutigen nationalen Rechtslage, die Reichsbahn in den Geltungsgbereich des Arbeitschutzgesetzes mit einbezog. Damit wollte er der Entstehung arbeitszeitrechtlicher Freizonen auch im Sinne des Zuständigkeitsbereichs seines Ressorts vorbeugen. In die gleiche Richtung zielte die Einbeziehung der Reichspost. Nach den Londoner Vereinbarungen unterfiel der Dienst der Post "im eigentlichen Sinn" nicht dem WAZ. Das RAM wollte aber aus dem Arbeitsschutzgesetz, daß sich "nicht nur auf Gewerbebetriebe, sondern auch auf das Handwerk und auf sämtliche Reichs- und Länderbehörden einschl. der deutschen Reichsbahn erstreckt, aus innerpolitischen Gründen und taktischen Erwägungen unter keinen Umständen" allein die Reichspost herausnehmen.20 17 So ausdrücklich auch die Begründung des Gesetzentwurfs, a.a.O., BI. 255. Siehe auch Sitzler auf der 142. Sitzung des Sozialpolitischen Ausschusses des VRWR vom 14.12.1926, ZStA/VRWR/529, BI. 101. Brief Donau an Butler vom 16.03.1924, Butler Papers XC 24/1/1, in ~em der Leiter des Zweigbüros auf die Ratifikationsabsicht hinweist. 1 Vgl. dazu Schreiben des Reichsverkehrsministers vom 19.04.1926, R 43 1/2074, BI. 40 und vom 02.11.1926 R 43 1/2019, BI. 210 f, sowie das Schreiben von Ritter (RAM) an den Reichsverkehrsminister vom 26.04.1926, R 43 1/2019, BI. 131. 19 Siehe die Begründung des Gesetzentwurfes vom 13.11.1926, R 43 1/2019, BI. 247 ff, hier Seite 12 der Begründung. 20 Schreiben des Reichspostministers vom 08.11.1926. R 43 1/2019, BI. 231. Dieser erklärte sich mit der Regelung nur unter der Bedingung einverstanden. daß er auch nach dem vom Reichstag verabschiedeten Entwurf die Befugnis erhalte. die Sonderbestimmung über die Arbeitszeit der Beamten auf die Arbeiter zu übertragen.

23°

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Gestattete das WAZ nur "vorübergehende Ausnahmen" vom 8-Stundentag bei außergewöhnlicher Häufung der Arbeit, so erlaubte der Entwurf eine Durchbrechung des 8-Stundentages schon bei "dringendem Bedarf nach Mehrarbeit". Festgesetzt werden konnte Mehrarbeit entweder in Tarifverträgen oder, wo keine tarifvertragliehen Regelungen bestanden. durch Regelung seitens der Arbeitsaufsichtsämter nach Anhörung der Tarifvertragsparteien (§ 14 Abs. 3). War diese Bestimmung aus der Sicht des Art. 6 b WAZ noch vertretbar, so bedeutete die Möglichkeit durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder sogar in manchen Fällen durch (Individual-) Arbeitsvertrag eine andere als 8 bzw. 48 stündige Verteilung der Arbeitszeit vorzunehmen (§ 10 Abs. 3), ein Abweichen vom Buchstaben der Konvention, nicht aber von den Ergebnissen der Londoner Konferenz (vgl. die Absage der Arbeitsminister an das behördliche Genehmigungsverfahren von Mehrarbeit im WAZ). Brauns setzte damit seine auf intemationaler Ebene erfolgreiche Politik einer Stärkung der Tarifautonomie im nationalen Rahmen konsequent fort. Trotz der aufgezeigten Defizite, die der Entwurf gemessen am WAZ noch hatte, brachte er wegen der Respektierung wesentlicher Inhalte des WAZ und der Londoner Ergebnisse den Willen zum Ausdruck, es mit der Ratifikation ernst zu meinen und die provisorische Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923 aufzuheben. Der Weg zu einer Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes im Reichstag war allerdings noch sehr weit. Zunächst mußte der Referentenentwurf noch innerhalb des Kabinetts abgestimmt werden. Widerstand war vorallem von seiten des Reichswirtschaftsministers zu erwarten. Am 17.08.1926 übersandte Brauns der Reichskanzlei einen Referentenentwurf in abgeänderter Form.21 Neben der Ausdehnung der Höchstzahlen für Überstunden wurde der Überstundenzuschlag von 25% nunmehr nur für gewerbliche Arbeit verbindlich vorgeschrieben. Diese Veränderungen beinhalteten keine weiteren Abweichungen vom WAZ, zeigten aber daß das RAM Forderungen der Arbeitgeber nachgeben mußte.22 Aus der Sicht des Reichswirtschaftsministeriums war die Ratifikationsfrage nach wie vor akut. In einem Schreiben an den RAMinister vom 25.08.1926 bat der Reichswirtschaftsminister um eine Denkschrift zu den Arbeitszeitverhältnissen im Ausland, die sich seit der Londoner Konferenz im März "nicht unwesentlich verschoben" hätten. Er legte "großen Wert darauf .., daß diese neue Situation im Reichskabinett erörtert wird", bevor man zur Ratifikation schreite.23 Unmittelbar- wie der Reichswirtschaftsminister wohl irri21

R 43 1/2019, BI. 148 ff.

22 Siehe dazu S. Bischof(, S. 133 ff; Staatsekretär Pünder in einem Vermerk vom 31.08.1926,

R431/2019, BI. 178. 23 R 43 1/2074, BI. 129.

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gerweise vermutete - stand die Ratifikation allerdings ohnehin nicht bevor. Zwar hatte das WAZ und "London" bei der Ausarbeitung eines Arbeitsschutzgesetzes Pate gestanden. Doch für das RAM war die vorherige Anpassung nationaler Arbeitszeitvorschriften an das WAZ und die Annahme des Übereinkommens in anderen wichtigen Industriestaaten wie Frankreich und England wie bisher Voraussetzung einer deutschen Ratifikation. Neu hingegen kam hinzu, daß dem Reichswirtschaftsminister in Besprechungen über den Referentenentwurf ausdrücklich zugesagt wurde, daß das Arbeitsschutzgesetz nicht verabschiedet werde, "so lange nicht die Gesetzgebungslage der Nachbarländer sich ebenfalls dem Londoner Abkommen angepaßt habe". 24 Die Verwirklichung des materiellen Inhalts der Konvention in Frankreich und England wurde so im Sommer 1926 vom RAM zur Vorbedingung eines nationalen Arbeitsschutzgesetzes hochstilisiert, wohl um konkurrenzwirtschaftlichen Bedenken aus dem Reichswirtschaftsministerium von vorneherein zu begegnen. Der RAMinister versuchte durch eine Internationalisierung der Arbeitszeitfrage ähnlich wie Tom Shaw Anfang 1924 die innenpolitischen Chancen für seinen Arbeitszeitschutzgesetzentwurf zu erhöhen. Ein Monat später rückte das RAM indes von dieser Zusage wieder ab. Feig bestritt sogar, jemals den Arbeitschutzgesetzentwurf mit der Durchführung dem WAZ entsprechender Gesetze in anderen Ländern verknüpft zu haben: "Dies sei lediglich bezüglich der Ratifikation des Londoner Abkommens, nicht aber bezüglich des Arbeitsschutzgesetzes zugesagt worden ... der Gesetzentwurf soll also ohne Rücksicht auf das Londoner Abkommen eingebracht werden, obwohl man damit materiell auf dessen Boden tritt" (Kursiv = handschriftlich im Original).25 Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen und wegen des schädlichen Überstundenwesens forderten die Gewerkschaften und die SPD die "sofortige Abänderung der geltenden Arbeitszeitbestimmung im Wege eines Notgesetzes zur Wiederherstellung des 8-Stundentages".26 Sie veranlaßten damit das Minderheitskabinett unter Marx zu einer sofortigen Reaktion. Um die Unterstützung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion nicht zu verlieren und um einen Notgesetzentwurf zuvor zu kommen, mußte das RAM die Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzentwurfs beschleunigen. Die Lösung der Bindung an arbeitszeitpolitische Maßnahmen im Ausland 24 Staatssekretär Pünder in einem Vermerk vom 30.08.1926 über Ressortbesprechung vom 27.08.1926, R 43 1/2074, BI. 177; ebenso vgl. Vermerk vom 31.08.1926, R 431/2019, BI. 178. 25 Aufzeichnung von Stockhausen ("Gegenwärtiger Stand der Arbeitszeitfrage") vom 19.10.1926, R 431/2019, BI. 179 f. Diese übersieht S. Bischoff, S. 137. 26 So die Entschließung des ADGB, des AfA-Bundes, des DGB und des H.-D. Gewerksvereins vom 28.10.1926, abgedruckt in "Gewerkschaftszeitung" Nr. 45 vom 06.11.1926 = ADGB DOKUMENTE 124 a.

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diente neben Besprechungen mit Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer diesem Ziel.27 Das Reichswirtschaftsministerium, das Curtius (DVP) seit dem 20.01.1926 leitete, setzte sich dafür ein, "eine überstürtzte Beratung und Beschlußfassung unter allen Umständen zu vermeiden". 28 Curtius, dem es offensichtlich nur um Verzögerung des Gesetzentwurfes gin~, empfahl, erst das Ergebnis der Wirtschaftsenquete abzuwarten, die am 15.04.1926 auf Anregung von Lujo Brentano durch die Regierung eingesetzt worden war und deren IV. Unterausschuß dem Verhältnis von Arbeitszeit und Arbeitsleistung nachspüren sollte.30 Unter Hinweis auf die 2-jährige Vorbereitungszeit im RAM seit 1924 sprach sich Brauns entschieden gegen eine Verquickung des Arbeitschutzgesetzentwurfs mit dem Ausgang des Enquetesverfahrens aus.31 Die Verschleppungstaktik des Reichswirtschaftsministers entsprach den Interessen der Arbeitgeber, die einen "systematischen Kampf gegen die Ratifizierung des Washingtoner Abkommens" führten32 und den Zeitpunkt eines nationalen Arbeitszeitgesetzes angesichts der Wirtschaftslage in Deutschland zumindest für verfrüht hielten.33 Auch Donau prophezeite im September 1926 "sehr heftigen Widerstand" von seiten der Arbeitgeber.34 Aufgrund seiner persönlichen Unterredung mit Brauweiler, dem neuen Geschäftsführer der VDA, wußte er zudem, daß die Arbeitgeber mit einem lnkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes nicht vor 1929/30 rechneten. Im Jahr 27

Im einzelnen dazu S. Bischoff, S. 135 ff. Schreiben an die Reichskanzlei vom 02.11.1926, AdR Nr. 105. 29 S. Bischoff, S. 136. 30 RGBI. 1926 I, S. 195 f; L. Preller, S. 349. Ministerialrat Feßler (Reichskanzlei) schwankte zwischen "Abwarten der Ergebnisse des Enqueteausschusses", Aufzeichnung vom 08.11.1926, R 43 1/2019, BI. 228 ff, und dem Urteil, daß "die Arbeiten für die aktuelle Frage der Arbeitszeitregelung nur eine verhältnismäßig geringe Bedeutung haben", Aufzeichnung vom 16.11.1926, R 43 1/2019, BI. 285 f. 31 So Brauns ausdrücklich in einer Besprechung mit Vertretern der Gewerkschaften vom 13.11.1926, AdR Nr. 117. 32 So Donau in einem Brief an Thomas vom 16.06.1926. CAT 5-2-5. 33 Eingabe der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände an Brauns vom 30.07.1926, R 43 1/101. BI. 171 f; Rundschreiben Nr. 99 der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände "Betr. Referentenentwurf eines Arbeitsschutzgesetzes" vom 02.08.1926, in: NL Silverberg 455, BI. 32; K.-H. Pohl, "Weimars Wirtschaft ...", S. 258 f, 278 f, der auf eine Zusage der Reichsregierung vetweist, so eine Aufzeichnung von Direktor Krull (GHH) vom 25.10.1926, "der Entwurf werde nicht vor dem I. Januar 1929 Gesetz und eine einjährige Schonfrist ". Näher erläutert wurden die Zusammenhänge auch durch Direktor Poensgen bei einem Treffen der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände mit der Reichsregierung am 09.11.1926, AdR Nr. 110: "Wenn der Achtstundentag eingeführt würde, müßten entweder die Preise erhöht oder die Produktion gesteigert werden. Eine Preiserhöhung im Inlande oder auch im Auslande sei nicht mehr möglich; eine Steigerung der Erzeugung würde mit der Abgabe an den Internationalen Trust belastet sein und daher so teuer kommen, daß die Kündigung der Vereinbarung in Betracht gezogen werden müßte. Djfse Kündigung wäre aber auch im allgemeinen Interesse unerwünscht". Persönlicher Brief an Thomas vom 23.09.1926. CAT 5-2-2-1. 28

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1930 stand aber auch die Revision des WAZ zur Diskussion (Art. 21), so daß eine deutsche Ratifikation sehr unwahrscheinlich wurde. Um dieses Ziel zu erreichen, beabsichtigten die Arbeitgeber vor allem die arbeitszeitpolitischen Entwicklungen im Ausland in ihren Propagandafeldzug gegen den Arbeitsschutzgesetzentwurf und das WAZ einzubeziehen: "Alle Nachrichten aus dem Auslande, die eine Verzögerung der RatifiZierung des Washingtoner Übereinkommens in anderen Ländern wahrscheinlich erscheinen lasse, werden sorgfältig registiert und der deutschen Öffentlichkeit zugänglich gemacht".3S Eine achtteilige Artikelserie "Zur Internationalen Regelung der Arbeitszeit", die von Juni 1926 bis Februar 1927 im "Arbeitgeber" veröffentlicht wurde, zeigt wie sehr die Arbeitgeber die internationale Dimension der Arbeitszeitfrage berücksichtigten.36 Ferner wurde ein Artikel Thomas ("A propos des huit heures .., pour faire le point"), der im August 1926 in der "Revue International du Travail" (Volume 14, Nr. 2) erschienen war, und der die arbeitszeitpolitischen Rückschritte in Italien und England kritisierte37, von der VDA als Argument für die aufgrund der ausländischen Entwicklung gebotene Zurückhaltung bei der Verabschiedung eines Arbeitsschutzgesetzes in Deutschland gewertet.38 In England hatte die Coal Mines Bill vom 06.07.1926 die Arbeitszeit der Bergleute von 7 auf 8 Stunden verlängert. Obwohl sich diese Regelung noch im Rahmen des WAZ hielt, war der nachteilige psychologische Effekt auf die Arbeitsbedingungen anderer Industriezweige und die Ratifikation in anderen Länder nicht zu verkennen. Zumal dem englischen Parlament der Entwurf eines Fabrikgesetzes vorlag (sog. Factory Bill), das nur die Arbeitszeit der Frauen und Kinder, nicht aber der männlichen Arbeiter begrenzen sollte. Außerdem mußte der englische Vertreter auf der IAK im Frühsommer 1926 bekennen, daß sich die englische Regierung wegen des Bergarbeiterstreiks noch nicht mit der Ratifikation hatte beschäftigen können. In Frankreich hatte die Ratifizierung, der die Chambre des Deputes am 08.07.1925 zugestimmt hatte, ebenfalls keine weiteren Fortschritte gemacht. Und in Italien schließlich war am 30.06.1926 eine Verordnung betreffend die Einführung des 9-Stundentages erlassen worden. Nur Belgien ratifizierte am 06.09.1926 ohne Bedingungen. 3S Ebd..

Nr. 9, 12, 14, 18, 19, 21 und 23 von 1926 sowie Nr. 3 von 1927. Die deutsche Fassung des Artikels befindet sich in: "Internationale Rundschau der AJi>eit" Oktober 1926, S. 901 ff. "Der Arbeitgeber" Nr. 18 von 1926; Donau sandte, Brief vom 23.09.1926 a.a.O., den Artikel an Thomas, der sich über die Propaganda und das Verzögerungskalkül der Arbeitgeber verärgert zeigte: "Mon intention est de denoncer un peu brutalement Ia manoeuvre des patrons pour retarder les ratifications jusqu'a 1930 et obtenir alors une revision•, Note für Benhelot vom 02.10.1926, CAT 5-2-2-1; vgl. auch den Brief Thomas an Donau vom 05.10.1926, ebd. 36 37

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Die deutschen Arbeitgeber standen mit diesen Argumenten und ihrem Kalkül einer Verzögerung des Arbeitsschutzgesetzes bis zum Revisionsdatum 1930 nicht allein. " Je crois meme qu'internationalement, l'idee de ehereher a attendre coute que coute Ia date de 1930 sans avoir ratifie est deja assez repandue dans le milieu patronaux", ließ Thomas Donau Anfang Oktober wissen.39 Der Verlauf der vom Verwaltungsrat im Herbst 1926 eingesetzten zweiten Arbeitszeitkommission, in der die auf der Londoner Konferenz nicht anwesenden Arbeitgeber ihre Argumente gegen das WAZ ansatzweise formulierten, war handfester Beleg für die Lagebeurteilung des Direktors. Die deutschen Arbeitgeber verfolgten sowohl die Beratungen der Arbeitszeitkommission als auch die Ratifizierungsdebatte in Frankreich mit großer Aufmerksamkeit.40 "Ils sont tres au courant des debats du Senat fran~ais et attendent maliciesement qu'on nous inscrive Ia Suisse et l'Italie dans un amendementau Senat".41 Bei einem Treffen im Juni 1927 in Leverkusen waren sich deutsche und englische Vertreter der Arbeitgeber einig in ihrer Ablehnung der Ratifikation.42 Dieser Schulterschluß stärkte das Selbstvertrauen, verhinderte jedoch nicht, daß Brauns wenige Wochen später am 17.07.1927 eine Verordnung nach § 7 ArbZVo über die Arbeitszeit in den Stahl-, Walz- und Hammerwerken erließ, die ab 01.01.1928 für die Produktionsarbeiter die 8-Stundenschicht einführte.43 Berthelot berichtete Thomas im Sommer 1927 erfreut über dieses Vorhaben des RAMinisters: "... c'est un succes dont vous devez vous rejouir et etre fier ... Le Ministere du Travail fuit pencher en ce moment Ia balance a gauche, sage tactique pendant que les nationalistes sont en gouvernement. D'ou cette verite? paradoxale, mais logique en Allemagne, qu'un gouvernement de droite realise plus de reformes sociales qu'un gouvernement de gauche" .44 Im Unterschied zum Jahr 1924, als den deutschen Arbeitgebern und der Regienmg wegen der Arbeitszeitverordnung der Wind aus dem Ausland ins GeBriefvom 05.10.1926 ebd.. Vgl. Geschäftsbericht der VDA 1925/26, S. 174 f. 41 Note (Thomas) pour Ia Diplomatique sur Ia question des huit heures en Allemagne, vom 22.12.1926, Butler Papers XI 1/7/1 lacket 1. Grundlage hierfür waren Gespräche von Berthelot in Berlin. Anfang Dezember 1926 bewertete Thomas die französische Ratifikation, sofern sie denn komme. als ein "argument presque decisif pour Ia ratification allemande"; Remarques fragmentaires et improvisees sur Je discurs de M. Lemery vom 03.12.1926, CAT 6C-7-2. ~2 Brief Donau an Butler vom 19.07.1927, Butler Papers XC 24/1/1; siehe auch Sitzung des Haupt- und Fachgruppenausschusses des VdESI vom 15.06.1927, Bericht des Geschäftsführers, R 13 1/166. 43 I. Steinisch, S. 521; B. Weisbrod. S. 334 ff. 44 Briefvom 02.08.1927, CAT 7-89. 39

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sieht blies, bekamen ab Fn"ilrsommer 1926 und im Voife/d der parlamentarischen Diskussionen um den Arbeitsschutzgesetzentwuif die Arbeitgeber vor allem wegen der arbeitszeitpolitischen Entwicklung in einigen Nachbarländer Rückenwind für ihre ablehnende Haltung. Die Londoner Konferenz hatte zwar der nationalen Arbeitszeitdiskussion einen Impuls gegeben und die Bedeutung einer internationalen Regelung der Arbeitszeit stärker ins Bewußtsein der gesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Instanzen gebracht. Doch schlug diese Sensibilisierung für die grenzübergreifende Dimension der Arbeitszeitfrage zum Nachteil einer nationalen Regelung um, als in Italien und England arbeitszeitpolitische Rückschritte eintraten, die die Gegner der 8-Stundentagsreform mit willkommenem Argumentationsmaterial versorgten.

Konsequenterweise legte der Reichswirtschaftsminister Anfang November 1926 den Schwerpunkt seiner grundsätzlichen Einwände gegen den Arbeitsschutzgesetzentwurf auf die internationalen Aspekte des Vorhabens. Dabei nutzte Curtius auch aus, daß der Arbeitssclrutzgesetzentwuif sowohl Wegbereiter für die Ratifikation als auch Wegscheide für unterschiedliche Konzepte einer auf die Revision des Dawesabkommens gerichteten Politik sein konnte. Der Reichswirtschaftsminister wies in diesem Zusammenhang auf zwei Dinge hin: Mit der Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzentwurfes werde sowohl "die Ratifizierung des Washingtoner Abkommens de facto vollzogen" als auch "die Lösung der Reparationsfrage entscheidend beeinflußt".45 Denn belaste der Gesetzgeber die deutsche Industrie mit einer neuen, strengeren Arbeitszeitregelung, die zwangsläufig zur Steigerung der Produktionskosten führe, so bremse er damit gleichfalls die zunehmende Exporttätigkeit Deutschlands, die in der Form des sozialen Dumpings einen wichtigen Hebel an der bestehenden Reparationsregelung darstelle. adopt a no less energetic attitude" .93 Er drohte an, "that the workers might be driven to reconsider their position in regard to the International Labour Organisation in face of the failure to secure progress in regard to the ratifications of the Hours Convention".94 Ein "Scherbengericht" über Italien und England war das jedoch nicht. Die Arbeitnehmergruppe protestierte zwar, doch eine Resolution stellte sie nicht zur Abstimmung. Außerdem beschwichtigte Thomas, indem er darauf hinwies, daß sich das englische Bergarbeitsgesetz noch innerhalb der vom WAZ erlaubten Arbeitszeitgrenze halte, und daß sich in Italien, das bereits bedingt ratifiZiert hatte, die tatsächlichen Arbeitszeitverhältnisse seit Erlaß der Verordnung noch nicht geändert hätten.95 Ferner habe England ausdrücklich erklärt, "that the Mines Act ... did not prevent the ratification of the Washington 91 Steei-Maitland an ButJ.:er vom 04.05.1926 und Butler an Steei-Maitland vom 27.04. und 12.05.1926, Butler Papers XR 25/1/25: siehe auch die Erklärungen von Wolfe, ILC 1926 (Minutes), S. 104. 92 GB (14.10.1926), S: 327 ff. l'oulton sprach angesichts der wiederholten Verzögerungen von Betrug. 93 A.a.O., S. 328. 94 So die Paraphrasierung der Aussage Jouhaux durch Poulton, a.a.O., S. 329. 95 GB (16.10.1926), s. 372 rr.

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Convention".96 Anders als im Jahr 1924, als Deutschland die Arbeztszeit wegen einer wirtschaftlichen Ausnahmesituation verlängert und keinen Hehl aus seiner fehlenden Ratifikationsabsicht gemacht hatte, hielten sich England und Italien im Jahr 1926 noch im Rahmen der vom WAZ gesteckten Vorgabe und beteuerten ihren Ratifikationswillen. Das englische Bergarbeitsgesetz füllte die im WAZ geregelten Arbeitszeiten "nur" vollständig aus. Die italienische Verordnung hatte die Grenze des nach der Konvention zulässigen zwar überschritten, doch kompensierte die Tatsache der bedingten Ratiftkation sowie die sozial- und wirtschaftspolitisch geringere Bedeutung Italiens im Vergleich zu Deutschland diesen Makel. Obendrein legte ein Dekret vom 11.01.1927 fest, daß eine Arbeitszeitverlängerung nur nach Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden und nach Begutachtung durch die staatlichen Stellen eintreten durfte, sowie mit einem 10%igen Lohnzuschlag zu vergüten war.97 Während die deutsche Arbeitszeitverordnung von 1923 und die nochfolgenden regienmgsomtliclzen Erklärungen als bewußter Verstoß gegen die Achtstwrdentogsrefonn insgesamt gewertet worden waren, en-egten die englischen und italienischen Maßnahmen 1926 nur Anstoß, weil sie die nach der Londoner Konferenz aufgekeimten Hoffnungen auf eine baldige und allseitige Ratifikation des WAZ dämpften. Ein zusätzlicher Grund für den im Ergebnis verhaltenen Protest des Verwaltungsrat lag darin, daß die ILO außer durch öffentlichkeitswirksame Maßnahmen über keine Möglichkeit verfügte, sich wirksam Gehör zu verschaffen. Im Gegensatz zur Konstellation von 1924 war die Reparationskommission kein möglicher Ansprechpartner und Mittler sozialpolitischer Forderungen. Um den eingetretenen Stillstand im Ratifikationsprozeß zu beheben und um weitere ergebnislose Diskussionen im Verwaltungsrat zu vermeiden, schlug der polnische Regierungsvertreter Sokal vor, "to appoint a committee to investigate the actual situation in regard to the Hours Convention~.98 Damit entstand die Gefahr weiterer Verzögerungen."... j'ai personellement mis en garde le Conseil contre ce que l'on peut appeler le 'coup de l'enquete'", erinnerte sich Thomas später.99 Da aber auch die Arbeitnehmer und Arbeitgeber den Vorschlag befürworteten, war die Entscheidung über die Einsetzung einer Kommission schnell getroffen. 100 Einig war man sich auch, daß Thomas bezog sich auf die Korrespondenz zwischen dem Labour Advisory Comittee der League of Nations Union und dem Arbeitministerium, GB (16.10.1926), S. 372. Vgl. de Michelis, GB (14.10.1926), S. 330. Selbst die Autoren des "50. Sonderhefts ...•, die alle drei Bedienstete des RAM waren, kamen 1929 zu dem Ergebnis, daß die italienische Verordnung "praktische Auswirkungen größeren Umfangs im Sinne einer Verlängerung der taJFchlichen Arbeitszeit ... in derTat kaum ", S. 93. GB (14.10.1926), S. 332. 99 Questions principales soulevees par Je patrons fran~aises, Aufzeichnung von Thomas o.D. (w8Jll Ende 1926), CAT 6C-7-1. 1 Zum Zögern des englischen Regierungsvenreter, GB (16.10.1926), S. 374. 96

B~~tish

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die Kommission mit ihren 12 Mitgliedern auf der Grundlage des vom BIT ermittelten Informationsmaterials "the actual position in the various States with regard to legislation on hours of work and its application" feststellen sollte. 101 Im Unterschied zu London wurden so die tatsächlichen Arbeitszeitverhältnisse Gegenstand der Beratungen. Umstritten waren im Verwaltungsrat aber die weiteren Aufgaben der Kommission. Während Sokal vorgeschlagen hatte, die konkreten Schritte der Regierungen Richtung Ratifikation zu untersuchen, wurde die Kommission auf Antrag des englischen Arbeitgebervertreters schließlich beauftragt, "< to > fmd out what steps have been taken to ratify the Washington Convention and what difficulties stand in the way of ratification by States Members". Damit hatte die Kommission jeden Anschein einer Kontrollinstanz gegenüber den nationalen Regierungen und deren Maßnahmen in Verfolgung der Londoner Beschlüsse verloren. Die Kommission sollte sich stattdessen mit aller Art von Ratifikationshindernissen beschäftigen. Es war klar, daß dadurch in erster Linie die Einwände der Arbeitgeber gegen das WAZ gemeint waren.102 Die Kommission des Verwaltungsrat wurde zum Forum, auf dem sich die Meinung der Arbeitgeber (und der Arbeitnehmer, die jedoch keine Einwände gegen das WAZ vorbringen wollten) innerhalb des Konsultationsund Entscheidungsmechanismus der ILO artikulieren sollte. Dadurch wurde in gewisser Weise ein Ausgleich für die Abwesenheit der gesellschaftlichen Gruppen bei der Londoner Konferenz erreicht.1()3 "On an voulu obtenir une adhesion morale des patrons a Ia convention, savoir a quelles conditions une adhesion de cette nature pourrait etre obtenue". 104 Außerdem lag in der Tatsache, daß Sokal, der Vertreter einer in London nicht beteiligten Regierung, die Initiative zur Einsetzung einer Kommission ergriffen hatte und auch zu deren Vorsitzenden gewählt wurde, ein weiteres integratives Momentum des Vorhabens. Der Verwaltungsrat gab mit der Einsetzung der Kommission erstmals seit der IAK von 1924 der arbeitszeitpolitischen Diskussion wieder einen institutionellen Rahmen, der sich im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Prinzipen der ILO befand und in dem das Schicksal des W AZ beraten wurde. 105 Die Phase der Regieru11gsko11ferenzen

zum WAZ falld ihreil Abschluß.

101 GB (16.10.1926), S. 381 (fext der Resolution). 102 Thomas hatte auch an die Arbeitgeber appelliert, "to collaborate with the office in see-

king means of promoting the ratification of the Convention. Mr. Sokal had propose the apFC?intment of a committee for this purpose", a.a.O., S. 374. 3 So ausdrücklich auch Lambert-Ribot, a.a.O., S. 380. 104 Thomas in: Questions principales soulevees a.a.O .. 105 Natürlich hatten die IAK und der Verwaltungsrat in den vergangeneo Jahren immer über das WAZ diskutiert, doch hatte sich der institutionelle Mittelpunkt der Debatte aus der ILO herausentwickelt.

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Hatten die beiden ersten Aufträge an die Kommission eine Bestandsaufnahme auf dem Gebiet der Arbeitszeit und der Ratifikation zum Inhalt, so befaßte sich Punkt 3 mit den Empfehlungen, die die Kommission dem Verwaltungsrat nach getaner Arbeit unterbreiten sollte. Auf Vorschlag des englischen Regierungsvertreters wurde die Kommission beauftragt, "to report to the next session of the Governing Body if any action reinforcing the efforts of the Director is possible which would expedite the progress of ratification". Dieser Auftrag bedeutete eine erhebliche Abschwächung gegenüber der ursprünglichen Idee Sokals. Denn dieser wollte die Kommission beauftragen, bereits konkrete Maßnahmen für eine Förderung der Ratifikation auszuarbeiten. Nun mußte die Kommission erst über die Notwendigkeit und Nützlichkeit irgendwelcher Aktivitäten beraten. Auf Intervention Thomas hin wurde allerdings eine zeitliche Frist für die Vorlage des Kommissionsberichts aufgenommen, um nach Möglichkeit Verzögerungen, einen "coup d'enquete", zu vermeiden.

Am 24. und 25.11.1926 kamen die 12 Mitglieder der sogenannten Sokalkommission zum ersten Mal in Paris zusammen. 106 Zunächst debattierte man u.a. über die Möglichkeit einer Einsichtnahme in die Londoner Protokolle107, erörtete die Frage, ob das vom BIT bereitgestellte Informationsmaterial ausreichend sei108 und verständigte sich darauf, daß eine Diskussion der einer allseitigen Ratifikation entgegenstehenden Schwierigkeiten als Erstes stattfinden müsse. 109 Zu Wort kamen dabei nicht die Regierungs-, sondern die Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer.uo Der französische Arbeitgebervertreter Lambert-Ribot, der allgemein zwischen rechtlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten unterschied, die aus Sicht der Arbeitgeber einer Ratifikation entgegenstündenlll, liebäugelte mit einer Revision des WAZ. 112 Der Arbeitnehmervertreter Oudegeest konterte scharf. Er warf den Arbeitgebern vor, ihre alten Argumente andauernd zu wiederholen und es offensichtlich auf einen "Krieg" in der Arbeitszeitfrage abgesehen zu ha106 Committee on Hours Convention (Paris), Stenographie Reeord, D 601/911/32, S. 2- 208 (e2flische Version). 1 Vor allem der englische Regierungsvertreter Wolfe wollte den Arbeitgebern die Einsie&tnahme in die Londoner Protokolle verweigern. Stenographie Reeord, a.a.O., S. 6. :09 A.a.O., S. 12 ff, 34 ff. A.a.O., S. 39 ff, 46. uo Siehe die Aussage Wolfe, a.a.O., S. 95. 111 Mit einer internationalen Regelung der Arbeitszeit war dieses Thema dem Einfluß der Affieitgeber entzogen, so Lambert-Ribot, a.a.O., S. 56. 12 "The eonlusion to be drawn from this < i.e., daß die Washingtoner Konferenz 1919 ohne Erfahrung und voreilig gehandelt habe> isthat the whole question should be reeonsidered", a.a.O., S. 61.

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ben. 113 Vogel, der deutsche Arbeitgebervertreter, bestätigte die Abneigung der Arbeitgeber gegen eine Ratifikation und Forbes-Watson hatte den Eindruck, "as if it were a case of four unfortunate employers' representatives being tried on some crime in connection with the Washington Convention".114 Schließlich bot Lambert-Ribot an, "to consider the Convention article by article, and to give my observation on each article". 115 Thomas erkannte natürlich die damit verbundenen Gefahren. Die erneute artikelweise Beratung des WAZ mußte den Wert der Londoner Konferenzergebnisse schwächen. "... at a time when public mention is already being made of the possibility of revision in 1930-31" konnte dies gravierende Folgen haben.u 6 Trotzdem war Thomas bereit, "to consider any proposal which may be made". Getreu seiner jahrelangen Politik, die eine Revision des WAZ nie kategorisch ausschloß, sie nur immer auf bestimmte Teile der Konvention beschränkt sehen wollte, begrüßte er den Vorschlag Lambert-Ribots, "if you had come to an agreement on one or two specific points ...". Lambert-Ribot unterbrach ihn jedoch sogleich mit den Worten: "That is not possible". Damit meinte der französische Arbeitgebervertreter zweierlei: Die Schwierigkeiten der Arbeitgeber mit der Ratifikation ließen sich nicht auf ein oder zwei Punkte reduzieren.117 Zum anderen vermochten sich die Arbeitgeber nicht auf eine einheitliche Linie verständigen. Wenig später bekannte Lambert-Ribot sogar ganz offen, " the workers' group has perhaps greater cohesion than the employers' group. I am compelled to say that there is no employers' group here". 118 Hatten die Einsetzung der Kommission und ihre Beratungen das Ziel, die Arbeitnehmer- und Arbeitgebergruppe in den Prozeß der internationalen Arbeitszeitverhandlungen zu integrieren, um damit den verfassungsrechtlichen Prinzipien der ILO wieder mehr Leben zu geben und dem Londoner Ergebnis jeden Makel zu nehmen, so zeigte sich an dieser Stelle, daß die Unterschiedlichkeil der Meinungen in Arbeitgeberkreisen einer Diskussion über begrenzte Sachprobleme im Wege stand. Es fehlte in der Arbeitgebergntppe aber auch die Bereitschaft, notfalls das Risiko einzugehen, in der Öffentlichkeit als Verantwortlicher für weitere Venögerungen 114 A.a.O., S. 75, n . ll3

115 A.a.O., 116 A.a.O.,

S. 85.

S. 94.

A.a.O., S. 106. 117 Siehe Lamben-Ribot, a.a.O., S. 108. 118 A.a.O., S. 114. Jouhaux hatte zuvor vorgeschlagen. den Arbeitgebern einen Tag Zeit zu geben, damit sie ihre Probleme mit dem WAZ einheitlich zusammenfassen könnten. Daß zwischen den Arbeitgebern Zwistigkeiten herrschten, ging auch aus Bemerkungen Vogels hervor. Er hatte z.B. die wegen des Franc-Verfalls günstige Exporte Frankreichs als Grund für die ablehnende Haltung der deutschen Arbeitgeber gegenüber der Ratifikation genannt, a.a.O., S.

64.

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bei der Ratifikation und als Initiator einer ungezügelten Revision dazustehen.

Die Regierungen der wichtigsten Industriestaaten hatten sich im März über eine Interpretation verständigt, die Arbeitnehmer riefen ohnehin dauernd nach Ratifikation und die arbeitszeitpolitischen Rückschritte Englands und Italiens hatten die Hoffnungen auf baldige Ratifikation zwar gedämpft, aber nicht völlig zerstört. Sollten die Arbeitgeber in dieser Situation die Verantwortung für das Ende der Konvention von 1919 übernehmen? Nur LambertRibot erklärte sich am Ende des ersten Sitzungstages bereit, "to give you al1 the objections of the French employers"; mit der Einschränkung allerdings, "< that > they cannot of course be valid for other countries".119 Er wollte also nicht mehr primär über die Auslegung einzelner Artikel des WAZ diskutieren, sondern die Schwierigkeiten der französischen Arbeitgeber mit dem WAZ auf den Tisch legen. Dies war durchaus im Sinne Thomas. Denn damit wollte die ILO-Kommission nicht wie die Londoner Regierungskonferenz über Auslegungsfragen des WAZ an sich beraten, sondern Verhandlungsgegenstand waren ausschließlich die Einwände der Arbeitgeber gegen das WAZ und eine mögliche Ratifikation. 120 Gleichwohl ließ sich natürlich nicht vermeiden, daß das WAZ und dessen fllterpretation wenn nicht zum Ausgangspunkt, so doch zum Gegenstand der Ausführungen Lambert-Ribots wurde. Mehrmals brachte der französische Arbeitgebervertreter in der Darlegung seiner Schwierigkeiten mit der Konvention von 1919 zum Ausdruck, daß er sowohl den vorliegenden Text als auch die in London erzielten Ergebnisse nicht als befriedigend empfand. Im Einzelnen führte er 7 Punkte auf, die aus seiner Sicht gegen das WAZ sprachen: Die Einbeziehung der Eisenbahnen, die nicht praktikable Regelung einer anderen Verteilung der Arbeitszeit, das Problem der effektiven Arbeitszeit, das Nachholen ausgefallener Arbeitszeit, die Regelung der Überstunden samt Überstundenzuschlag sowie Art. 14. 121 Sein Fazit: "If ... you consider that actual experience has its value, and that all the experience which we have had for the last seven years shows that from the point of view of actual practice, the Convention is not perfectly drafted, then you will - while recognising the great efforts which the Convention represents - admit that amendements are necessary on certain points. I think that the wisest thing would be to realise this and to try to make the necessary modifications".122 119 A.a.O., s. 114; • ... il avait ete dans une Situation delicate lors des reunions de Paris", gestand Lamben-Ribot Thomas im Dezember 1926, Note personneHe pour le dossier des huit h~W"es, CAT 6C-7-1. A.a.O., S. 109. 121 Lamben-Ribot, a.a.O., S. 121 - 133. 122 A.a.O., S. 132.

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Der Vorsitzende der Kommission hob die Bedeutung der Ausführungen Lambert-Ribots hervor und forderte die anderen Arbeitgeber auf, nun ihrerseits spezifizierte Einwände vorzubringen. Doch der deutsche Arbeitgebervertreter, erklärte lediglich pauschal: "... for the time being until the present situation has improved, we cannot advise our Governments to ratify".123 Der englische Arbeitgebervertreter, Forbes-Watson, sah sich nicht in der Lage, "to give a final Iist of all the difficulties which I think this meeting should discuss". Es gebe weit mehr Schwierigkeiten und außerdem glichen sie sich in England und Frankreich nicht. 124 Die Arbeitnehmergruppe protestierte laut, warf den Arbeitgebern vor, das Londoner Ergebnis zu torpedieren und damit den Regierungen zu ermöglichen, sich aus ihrer Verantwortung zu stehlen, die sie mit ihren Erklärungen am Ende der Londoner Konferenz übernommen hätten.12S Thomas dagegen regte an, Lambert-Ribot sollte die stenographische Aufzeichnung seiner Rede noch einmal durchsehen, sie notfalls ergänzen und schließlich eine abschließende Aufstellung seiner Kritikpunkte geben. 126 Nach einem längeren Zwiegespräch zwischen Lambert-Ribot und Jouhaux fand sich der Arbeitnehmervertreter schließlich bereit, bei der nächsten Kommissionsitzung die Ausführungen Lambert-Ribots zu diskutieren und eine Stellungnahme der Arbeitnehmergruppe hierzu abzugeben. 127 Seine Bedingung war allerdings, "that in no case can the position which we are now taking up be taken as implying that we acquiesce in new requests for special conferences to reconsider the Convention".128 Thomas respektierte die Befürchtung der Arbeitnehmergruppe, der Beginn eines Revisionsverfahrens bringe das Ende des strengen 8-Stundentagsprinzips und werfe möglicherweise arbeitszeitpolitische Reformbemühungen hinter den Stand von 1919 zurück. Gleichwohl wich er von seiner pragmatischen Zielsetzung nicht ab: "I should like to discuss the Observations which you < i.e. the employers > have made today, and to arrive at something more definite than I was able to obtain from the British Government in 1923, namely, definite suggestions for the amendement of various points which the International Labour Organisation would be asked to undertake".129 Die mögliche Einleitung eines auf bestimmte Punkte begrenzten

Revisionsverfahrens sah der Direktor also durchaus als Fortseitritt der Internationalen Arbeitszeitpolitik. Von den Arbeitgebern forderte er deshalb wie der 123 A.a.O., S. 138. 124 A.a.O., S. 143 ff, 177. Am Rande deutete er an, wie wichtig ihm die Regelung der Über-

stunden war. 1 So insbesondere Oudegeest, a.a.O., S. 134 und Jouhaux, S. 151: "Whether you wish it or not, it destroys the responsability of the Govemmf22ts". 127 A.a.O., S. 135. 128 A.a.O., S. 156. 129 A.a.O., S. 154. A.a.O., S. 171.

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Kommissionsvorsitzende nochmals, Farbe zu bekennen. Forbes-Watson, der zunehmend unter Druck geriet, reagierte weiter ausweichend: "I say that once I get the facts, he < i.e. the Director > will have a statement from me the same as from Mr. Lambert-Ribot". 130 Es war aber nicht der englische Arbeitgeber- sondern der Regierungsvertreter Wolfe, der auf der abschließenden Sitzung der ersten Kommissionstagung am späten Nachmittag des 25.11.1926 eine Liste von Fragen unterbreitete, die auf Informationen zu arbeitszeitpolitischen Tatsachen in den jeweiligen europäischen Ländern und deren nationale Arbeitszeitregelung abzielten; so z.B. die Zahl der vom WAZ voraussichtlich erfaßten Arbeitnehmer, die Definition des Arbeitstages in nationalen Gesetzen etc. 131 Der Direktor fand sich unter zwei Bedingungen bereit, bis zum nächsten Zusammentreffen der Kommission einen umfassenden Bericht zu den aufgeworfenen Fragen vorzulegen: Erstens wollte Thomas durch diese Aufgabe nicht zum Handlanger derjenigen Arbeitgeber werden, die vor einem klaren Bekenntnis ihrer Kritik am WAZ noch zurückscheuten. Der von ihm erbetene Bericht sollte deshalb nicht auf die möglichen Hindernisse eingehen, die von seiten der Arbeitgeber einer Ratifikation entgegenstanden. Denn damit wäre das BIT zum Sprachrohr der bisher sprachlosen Arbeitgeber aus England, Deutschland und Italien geworden und hätte sich in der Öffentlichkeit als Protagonist einer schrankenlosen Revision wiedergefunden.132 Seine zweite Bedingung war von praktischen Erwägungen diktiert. Da die Zeit bis zur nächsten Sitzung der Kommission gerade 6 Wochen betrug, wollte der Direktor als Grundlage für seinen Bericht in erster Linie Material verwenden, das ihm bereits zur Verfügung stand. Eine aufwendige Befragung der Regierungen hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen und einen willkommenen Vorwand für weitere Zurückhaltung bei der Ratiflkation geboten. 133 Obwohl dieses Ergebnis den Beifall Jouhauxs fand 134 und sich an den Auftrag des Verwaltungsrats vom Oktober 1926 hielt, bedeutete dies gleichzeitig eine Fortsetzung der englischen Regienmgspolitik, die bereits vor London auf eine Debatte arbeitszeitpolitischer Fakten gerichtet war und im Unterschied zu Thomas eine auf mehr als 1 bis 2 Punkte bezogene Revision des WAZ nie ausgeschlossen hatte. Bezeichnend hierfür war, daß eben zunächst nicht der englische Arbeitgebervertreter sondern Wolfe aus dem 130 131 A.a.O ..

S. 177. A.a.O., S. 179- 185. 132 A.a.O., S. 201, 202 f: "You can not expect me to use the information al my disposal in ord~S3to indicate difficulties". A.a.O., S. 194 r. 134 A.a.O .. S. 204.

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englischen Arbeitsministerium "Fragen" stellte, die Thomas zum Gegenstand seines Berichts machen sollte. 135 Die Aufgabe der Kommission, Mittel zur Integration der Arbeitgeber- und Arbeitnehmergruppe in den Prozeß der internationalen, arbeitszeitpolitischen Diskussion nach London zu sein, trat damit mehr und mehr in den Hintergrund. Dominierend wurde die - im Auftrag des Verwaltungsrat so auch vorgesehene, in London im März noch vermiedene - allgemeine Bestandsaufnahme arbeitszeitpolitischer Fakten, an der alle drei Gruppen der ILO mitwirkten. In ihr lag das Potential für eine Revision des WAZ. Denn sollte sich 7 Jahre nach der Verabschiedung des WAZ durch die Washingtoner Konferenz erweisen, daß der normative Kodex der Konvention erheblich von den tatsächlichen Arbeitszeitverhältnissen in den europäischen Ländern abwich, so mußten sich die Chancen einer allseitigen Ratifikation des Textes von 1919 immer mehr verschlechtern. Die nationalen, arbeitszeitpolitischen Tatsachen forderten dann eine Anpassung der illlemationalen Arbeitszeitnonn. Die zweite Arbeitszeitkommission der ILO, mit der die internationale Arbeitszeitpolitik wieder in den 1919 geschaffenen institutionellen Rahmen zurückkehrte, wurde dadurch zum Ausgangspunkt für den von England auf der Verwaltungsratsitzung im Frühjahr 1928 gestellten Revisionsantrag. Am 30.12.1926 suchte Lambert-Ribot Albert Thomas auf. "'Faites un projet de revision de Ia convention, et nous verrons alors si on peut discuter. Cherchons ensemble les possibilites d'aboutir'", hatte ihn der Direktor zuvor aufgefordert. Der brandaktuelle Text, den ihm Lambert-Ribot daraufhin überbrachte, stieß bei Thomas auf Interesse 136: " Il portait, a Ia verite sur un grand nombre de points. Mais Ja plupart de ces points sont des precisions de texte, des interpretations qui, dans l'ensemble, d'aillerus, sont taut a fait conformes aux conclusions de Ia Conference de Landres ... Ces precisions de texte n'ajoutent rien, ne detruisent rien, et tous comptes faits, sont plus moderees que certaines des conclusions de Londres".137 In zwei Punkten allerdings sah Thomas Widersprüche zum WAZ. Zum einen forderte Lambert-Ribot die umfassende Nachholung von z.B. an Feiertagen ausgefallener Arbeitszeit. Andererseits wollte er streng am 25 %igen Lohnzuschlag festhalten. Ideen wie die durchschnittliche Bezahlung eines 25 %igen Zuschlags in einem Industriezweig, die in Frankreich zur Diskussion stand, lehnte er IJS Poulton warf Forbes-Watson vor, "to put Mr. Wolfe in the position of asking his question,, a.a.O., S. 185. 1 Note personneUe pour Je dossier huil heures (strictement privee!), 31.12.1926, CAT 6C-7l ; mit Brief vom 14.01.1927 reichte Lambert-Ribot eine 26seitige Denkschrift der Confederation General de Ia Production Pram;aise ein. die die französische Arbeitszeitgesetzgebung mit de~ WAZverglich, CAT 5-35-3(0). 1 Note personneHe a.a.O.: das BIT bewertete die Denkschrift nicht anders, "Quelques remarques sur Ia note deM. Lambert-Ribot" von "J.D." vom 21.01.1927, CAT 5-35-3(8).

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ab.138 Obwohl auch Thomas in der Zuschlagsregelung einen Grundpfeiler des WAZ sah, verteidigte er sie aus taktischen Gründen gegenüber Poincare nicht mit der gleichen Rigorosität wie der französische Arbeitgeber, dem eine Begrenzung der Überstunden äußerst wichtig war.139 Die von Lambert-Ribot anvisierte Revision war für Thomas keine Frage des Prinzips sondern des mit Blick auf den Ratifikationserfolg taktisch richtigen Vorgehens: "Sur le fond, et si l'on pouvait ainsi obtenir l'adhesion de tous les Etats, je ne verrais pas, quant a moi, de tres grosses difficultes. J'ai ete, depuis 1923, partisan de Ia revision. Et si l'on m'avait ecoute a l'epoque, peut-etre aurait-on fait, depuis lors, des progres plus considerables, Mais le gros problerne est un problerne de tactique" .140 Gegen die Einbringung eines Revisionsprojekts zum jetzigen Zeitpunkt sprach nach Thomas erstens, < que > nous interromprions fatalement le lent travail qui s'accomplit a l'heure actuelle en Allemagne". Außerdem hätten die Staaten, die bislang schon ratifiziert hatten, wenigstens die im Revisionsverfahren beschlossenen Modifikationen des WAZ ratifizieren müssen, wenn nicht gar die ganze, neue Konvention. Dies bedeutete "tout un effort nouveau de ratification". Drittens war mit dem Widerstand der Arbeitnehmergruppe zu rechnen, die das Prinzip des 8-Stundentags bedroht sah. Mit einer vom BIT befürworteten Revision war viertens zwangsläufig das Eingeständnis eines zumindest teilweisen Scheiteros der Politik der ILO verbunden, die sich seit langem um Ratifikationen bemüht und jeden Erfolg hierbei als Rückenstärkung für die eigene Organisation reklamiert hatte. Fünftens übersah Albert Thomas nicht, daß Lambert-Ribot in Arbeitgeberkreisen allein auf weiter Flur stand. Eine an konkreten und auf wenige Punkte begrenzte Revision war somit mehr als ungewiß. Und schließlich hätte der Beginn eines Revisionsverfahrens Ende 1926 die in Frankreich bevorstehende Ratifikation, "qui peut-etre .. un utile moyen de pression sur les autres pays", wieder in weitere Ferne gerückt. So kam der Direktor zu folgendem Schluß: "Lorsque Ia France aurait ratifie, au fond, le problerne de Ia revision deviendrait beaucoup plus facile".141 00

138 Siehe

auch Lambert-Ribot auf der Kommissionssitzung, a.a.O., S. 131. Note pour le memorandum ä faire pour M. Poincare, o.D., CAT 6C-7-1. In dieser Aufzeichnung stellte Thomas mehrere Argumente zusammen, die zeigen sollten, daß der Lohnzuschlag sich für die französische Wirtschaft nicht belastend auswirken werde. Thomas wollte die Ratifikation des WAZ durch Frankreich nicht an der von Lambert-Ribot geforderten strengen Zuschlagsregelung scheitern lassen. Siehe dazu auch die vorsichtige Fonnulierung für Poincare: "Si on supprime le 25 %, ou si on les reduit trop, tout le systeme de Washington est detruit". 140 Note personnelle pour le dossier huit heures, 31.12.1926, CAT 6C-7-1. 141 Ebd.. 139

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Nachdem die französische Deputiertenkammer am 08.07.1925 einer bedingten Ratifikation zugestimmt hatte, mußte der Senat noch darüber beschließen. Zwar bestätigte am 18.06.1926 der Handelsausschuß des Senats die Entscheidung der Deputiertenkammer. Doch schon zwei Wochen später erklärte ein Sachverständigenausschuß, der im Mai 1926 angesichts der tiefgreifenden Finanzkrisen und der Inflation in Frankreich eingesetzt worden war, daß die nationalen Produktionsmöglichkeiten durch eine "liberale Durchführung" des 8-Stundentagsgesetzes verbessert werden sollten. 142 Die Regierung stellte aber zwei Tage darauf unter anderem klar, daß das 8Stundentagsgesetz innerhalb der von Frankreich unterzeichneten Arbeitszeitkonvention durchgeführt werde. Der französische Senat befaßte sich erst wieder Anfang Dezember 1926 mit der Frage der Ratifikation, also kurz nach dem Ende des ersten Treffens der ILO-Kommission in Paris. Aus diesem zeitlichen Zusammenhang wird nachvollziehbar, warum gerade der französische Arbeitgebervertreter Lambert-Ribot seine Einwände gegen eine Ratifikation des WAZ der ILO-Kommission so eindrucksvoll und öffentlichkeitswirksam unterbreitete. Die Kommission stellte für ihn auch ein Forum dar, auf dem sich der Widerstand der französischen Arbeitgeber gegen die bevorstehende Ratifikation in Frankreich Gehör verschaffte. 143 Verhindern konnten die französischen Arbeitgeber die Ratifikation in ihrem Land indes nicht. Auf der Dezembersitzung bezeichnete der Senat die Vorlage als dringend und stimmte der Ratifikation im Grundsatz zu. Umstritten war jedoch, ob die Ratifikation nur unter die Bedingung einer Ratifikation Deutschlands - so der Kammerbeschluß - oder auch der Englands oder gar der Staaten gestellt werden sollte, die an der Londoner Konferenz teilgenommen hatten. 144 Da im Januar in Frankreich Neuwahlen zum Senat anstanden und man auch die Ergebnisse der ILO-Kommission abwarten wollte 145, vertagte sich der Senat, ohne eine Entscheidung über die Bedingungen der Ratifikation. Thomas setzte daraufhin alles in seiner Macht stehende in Bewegung, um eine Verknüpfung der französischen Ratifikation mit der Ratifikation durch 142 Zitiert nach Thomas, "Um den Achtstundentag", in: "Internationale Rundschau der Arbeit", Oktober 1926, S. 905. Siehe auch Note personneUe vom 25.10.1926, CAT 6C-7-5. Darin spricht Thomas die Bewegung der Arbeitgeber gegen eine strikte Durchführung des 8-Stundentags an, die seit dem Expertenbericht Anfang 1926 an Gewicht gewonnen habe. 143 Vgl. Lambert-Ribot, Stenographie Record. a.a.O., S. 117 f. 144 Zusammenfassend: Memorandum sur Ia discussion des 8 heures au SC:nat fran~ais, 10.12.1926, CAT 5-35-3(8); siehe auch Remarques fragmentaires et improvisees sur le discurs deM. Lc:mery vom 03.12.1926. CAT 6C-7-2; Quelques arguments ä faire valoir devant lesenat, o.D., CAT 6C-7-l; Lc: SC:nat et Ia Convention des huit heures (maschinenschriftliche AufzeicJmung vom 03. und 04.12.1926), CAT 6C-7-5; "Der Arbeitgeber" Nr. 1 vom Januar 1927. 14 Memorandum a.a.O. Siehe auch Brief Thomas an DuraCour vom 13.12.1926, 94 AP 379. Darin kritisiert Thomas die Verzögerungstaktik von Lambert-Ribot und Lc:mery scharf.

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alle in London vertretenen Staaten zu verhindern. 146 Denn neben Deutschland und England, die er bereit war zu akzeptieren, hätte dies die Einbeziehung Italiens bedeutet. Da Italien seine Ratifikation unter anderem an die der Schweiz, die einer Ratifikation sehr ablehnend gegenüber stand, gebunden hatte, und in Italien kürzlich eine Verordnung über die ausnahmsweise Einführung des 9-Stundentags erlassen worden war, durfte ein lokrafttreten der französischen Ratifikation unter solchen Bedingungen in naher Zukunft als sehr unwahrscheinlich gelten. Thomas war in diesem Zusammenhang außerdem bewußt, daß die deutschen Arbeitgeber den Verlauf der Debatten im französischen Senat aufmerksam verfolgten. Die Einbeziehung Italiens als Ratifikationsbedingung hätte deren Widerstand gegen das WAZ weiter bestärkt. Den Widerstand der sozialistischen Fraktion im Senat gegen die zusätzliche Einbeziehung Englands konnte der Direktor unter Hinweis auf die politischen Mehrheitsverhältnisse, das sonst drohende Scheitern der französischen Ratifikation insgesamt und den Vorteil für die Bemühungen des BIT um eine Ratifikation in Deutschland und England überwinden! 47 Auf dem Kompromißwege wurde so erreicht, daß der Senat am 10.02.1927 mit 279 zu 1 Stimme der Ratifikation unter der deutschen und englischen Bedingung zustimmte. Bemerkenswert war dabei, daß der neue französische Arbeitsminister, Andre Fallieres, im Unterschied zu früheren Erklärungen seiner Vorgänger die Verpflichtung Frankreichs bestritt, aufgrund des WAZ zu Änderungen in der nationalen Arbeitszeitgesetzgebung gezwungen zu sein. "Auch habe die Regierung nicht die Absicht zu irgendwelcher Änderung der zur Zeit bestehenden Vorschriften", fügte er hinzu. Damit kam er den französischen Arbeitgeber entgegen, die im Gegenzug die Einbeziehung Italiens als Ratifikationsbedingung fallen ließen. 148 Die deutschen Arbeitgeber werteten die eingetretenen Stockungen des Ratifikationsverfahrens in Frankreich seit 1925 wie auch das Ergebnis der Senatsberatungen als "Vorgang, der deutlich zeigt, daß Frankreich von der Ratifikation des Abkommens, ganz zu schweigen von der tatsächlichen Übernahme seiner Bestimmungen in die heimischen Gesetzgebung weit entfernt ist"! 49 Da der Beschluß des Senats von der Entscheidung der Deputiertenkammer im Jahr 1925 abwich, mußte letztere nochmals über die Ratifikation beraten. Erst am 20.05.1927 hatten 146 Siehe die Briefe an mehrere Senatoren von Mitte Januar bis Anfang Februar, CAT 5-353(B) und an Leon Blum vom 13.01.1927, 94 AP 377. Vgl. auch Note vom 18.11.1926, CAT 8-4-

6.

147 Jouhaux hatte gar eine Ratifikation ohne Bedingungen gefordert, doch sich den Argumenten Thomas gebeugt. Memorandum a.a.O. siehe auch Briefe Thomas an Roques vom 24.12.1926. CAT 5-35-6(8). und an Leon Dlum vom 23. und 31.12.1926, CAT 6C-7-5. 148 Vgl. die Darstellung in: "Internationale Rundschau der Arbeit" 1927, S. 370 ff. 149 "Der Arbeitgeber" Nr. 4 vom 15.02.1927: siehe auch Brief Thomas an Blum vom 23.12.1926 a.a.O .: "En Allemagne les unions patronales font rage et invoquent le retard du SCnat pour nous barrer Ia route".

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alle parlamentarischen Instanzen zugestimmt, so daß am 02.06.1927 die französische Regierung die bedingte, französische Ratifikation des WAZ erklären konnte. Damit hatten sich aus Sicht Thomas (siehe oben) die Bedenken gegen ein begrenztes Revisionsverfahren deutlich verringert. Vor der entscheiden9en Sitzung des französischen Senats im Februar 1927 tagte die ILO-Kommission ein zweites Mal. 150 Man traf sich am 26. und 27.01. in Genf, also einen Tag vor Beginn der 34. Sitzung des Verwaltungsrats, auf der ein Abschlußbericht vorzulegen war. Auftragsgemäß hatte das BITaufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen einen voluminösen Bericht erstellt, der auf die arbeitszeitpolitischen Fakten in Europa statt auf Interpretationen des WAZ einging. Er trug damit einem Fragebogen der englischen Regierung Rechnung, den diese im November in Paris überreicht hatte.ISI Ausgeklammert blieb der Bergbau, weil hier das BIT seit Anfang 1926 eine Sonderuntersuchung durchführte. Diese ging auf eine Initiative des Vorstands des Internationalen Bergarbeiterverbandes vom 28.04.1925 zurück. Der Verband hatte mit Blick auf die sich verschärfende Konkurrenz zwischen den wichtigsten kohleproduzierenden Ländern eine Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen als dämpfendes Mittel gefordert. Obwohl das WAZ den Bergbau ausdrücklich in seinen Geltungsbereich einbezog, beauftragte der Verwaltungsrat das BIT Anfang 1926 mit dieser Aufgabe. Zwei Jahre später veröffentlichte die Genfer Behörde ihren ersten, im Jahr 1929 fortgeschriebenen Bericht. Es wurde offenbar, "daß sich hinter einer scheinbaren Einheitlichkeit in den einzelnen Ländern ganz verschiedene Regelungen verbargen, die sich hauptsächlich auf die Art der Berechnung der Schichtdauer erstreckten".m Im September 1929 bat die 10. Völkerbundstagung auf Antrag der englischen und französischen Delegation den Verwaltungsrat, entprechende Schritte für eine vorbereitende Technische Konferenz von Vertretern der Regierungen, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer der wichtigsten kohleproduzierenden Ländern Europas zur Frage der Arbeitsbedingungen im Kohlebergbau einzuleiten. Für den 06. bis 08.01.1930 wurde diese Konferenz einberufen, an der aber nur Regierungsvertreter aus Deutschland, Österreich, Belgien, Spanien, Frankreich, England, Niederlande, Polen und der CSR teilnahmen. Die IAK im Juni 1930 erarbeitete aufbauend auf den Ergebnissen der Konferenz und wegen der Dringlichkeit des Problems einen 150 Thomas

hatte damit nicht sein Ziel einer vorherigen Sitzung des französischen Senats er-

rei~ht, Brief an Blum vom 13.01.1927, 94 AP 377. 1 1 "La reglementation de Ia duree du travail dans

l'industrie en Europe", D 601/912/1, S. 3112. Auszüge daraus in "Internationale Rundschau der Arbeit", 1927, S. 359 - 365, 454 - 476, 75~ -762. 1 2 "Zehn Jahre ....•, S. 127 ff.

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Übereinkommenstext, der allerdings nur für den Steinkohlebergbau gedacht war. Danach sollte die Anwesenheitsdauer im Bergwerk 7 3/4 Stunden betragen, keine Überstunden zu wirtschaftlichen Zwecken zulässig sein und eine erneute Verkürzung der Arbeitszeit binnen 3 Jahren, vom Tage des Inkrafttreten des Übereinkommens an gerechnet, ins Auge gefaßt werden. Die für eine Annahme erforderliche 2/3 Mehrheit kam indes nicht zustande. Insbesondere Deutschland, dessen Antrag auf Zulassung einer gewissen Anzahl von Überstunden aus wirtschaftlichen Gründen abgelehnt worden war, verhinderte mit seiner Enthaltung einen positiven Beschluß. Die 15. IAK verabschiedete dann jedoch mit der erforderlichen Mehrheit am 18.06.1931 ein Übereinkommen, demzufolge die Arbeitszeit im Steinkohletiefbau auf höchstens 7 Stunden und 45 Minuten täglich zu begrenzen war. Außerdem schloß dieses den Braunkohlebergbau mit ein.IS3 Die Frage der Arbeitszeit in Transportunternehmungen, insbesondere also auch bei den Eisenbahnen, ließ der vom BIT der ILO-Kommission Anfang 1927 vorgelegte Bericht ebenfalls unbeantwortet. Obwohl die Leistung des BIT von allen Teilnehmern positiv gewürdigt wurde 154, stellte der englische Regierungsvertreter neben den bereits erwähnten Beschränkungen des Untersuchungsgegenstandes noch andere Lücken, z.B. bei der Regelung der Überstundenarbeit, fest, zu deren Ausfüllung er das BIT um weitere Informationen bat. 155 Außerdem zog Wolfe aus der Untersuchung des BIT den Schluß, "< that > there is a difference between the acceptance of the principle and its application in detail". 156 Auch Jouhaux bestritt nicht, daß im einzelnen die nationalen Arbeitszeitregelungen vom WAZ abwichen, nur: "The exceptions arenot such as to interfere with ratification".157 Nachdem der englische Regierungs- und Arbeitgebervertreter sowie die Gruppe der Arbeitgeber eine weitere Liste mit zahlreichen Zusatzfragen eingereicht hatten, erarbeitete das BIT einen 52-seitigen Zusatzbericht, der allerdings erst nach der 34. Verwaltungsratsitzung im Januar 1927 und nach Ende der ILO-Kommission fertiggestellt wurde.158 Damit erreichte der Direktor, daß die Tagungen der ILO-Kommission nicht weiter als Vorwand für eine Verzögerung der Ratifikationsdebatte im französischen Senat 153 154

Zum weiteren Verlauf siehe Kapitel VII. Committee on the Hours Convention. The Chairrnan's Report, in: GB (34. Sitzung vom Januar 1927), Appendix VIII, S. 144 ff. Siehe auch Committee on the Hours Convention (2nd Session), Geneva, 26- 27 January 1927, Verbatim Record, D 912/3/1, S. 101 • 194, hier: 104, lO~_lf·

Verbatim Record, a.a.O .. S. 146 ff. Verbatim Record, a.a.O .. S. II! ff. Verbatim Record, a.a.O., S. 106. Supplement au rapport documentaire sur Ia reglementation de Ia duree du travail dans l'industrie en Europe, D 601/912/2. S. I ·52. 1

156

157 158

25 Grabhm'

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herhalten konnten. Zum anderen brachte er die Arbeitgeber dazu, ihre Einwände gegen das WAZ zumindest in fragender Form zu artikulieren. 139 In langer Diskusssion wurde zwischen den Kommissionsmitgliedern um Form und Inhalt des abschließenden Berichts gerungen. Die Bewertungen der Ergebnisse der BIT-Untersuchung unterschieden sich erheblich. Während die Arbeitnehmer Ratifikationshindernisse nur auf Seiten der Arbeitgeber sahen 161\ kritisierten diese, daß die Kommission die vorgebrachten Einwände gegen das WAZ und die sich aufgrund des BIT-Berichts ergebenden Abweichungen der nationalen Gesetzgebung von der internationalen Norm nicht ausreichend gewürdigt habe. Da der Auftrag des Verwaltungsrat damit nicht erfüllt sei, wünschten die Arbeitgeber, sich von jeder weiteren Verantwortung freizuzeichnen. 161 Die Vorbereitung des Abschlußberichts war somit auf weite Strecke von gegenseitigen Schuldzuweisungen162 und polemischen Wortwechseln geprägt. Im Ergebnis führten diese Meinungsverschiedenheiten zu getrennten Voten, die man dem Abschlußbericht als Anhang beigfügte. Einig wurde man sich nur in zwei Dingen: Um den Verwaltungsrat einen möglichst authentischen Einblick in die vor allem von Arbeitgeberseite vorgetragene Kritik am WAZ zu geben, ergänzte die Kommission ihren Abschlußbericht mit den stenographischen Protokollen ihrer beiden Sitzungen. Gegen die Stimmen der Arbeitgeber erklärte die Mehrheit der Kommission ferner, "that the information collected .. is of a nature to reinforce the efforts of the Director to obtain the ratification of the Washington Convention". 163 Ein insgesamt also enttäuschendes Ergebnis, das keinen Durchbruch in der Ratifikationsfrage brachte. Die Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer setzten sich auf der 34. Verwaltungsratssitzung am 29.01.1927 fort. Lambert-Ribot faßte nochmals den Standpunkt insbesondere der französischen Arbeitgeber gegenüber dem WAZ zusammen. Anders als Thomas hielt er es für erforderlich, "that it was before and not after ratification that questions of application should be settled". 164 Dieser Aufgabe habe sich aber die ILO-Kommission verschlossen. J ouhaux entgegnete, "< that > it was the employers who had persistently adopted an uncompromising attitude". 16S Die vagen Andeutungen der Arbeitgeber bezüglich einer möglichen Inter139 160 161 162 163

Verbatim Record. a.a.O .. S. 166. So z.B. Jouhaux. Verbatim Record. a.a.O .. S. 161. 166. Siehe den Resolutionsentwurf von Lamben-Ribot, Verbatim Record, a.a.O., S. 174. Verbatim Record. a.a.O .. S. 157 ff. Verbatim Record. a.a.O ., S. 192: The Chairman's Repon. a.a.O., S. 144 f. :: GB (Januar 1927), S. 42 - 44. A.a.O., S. 46.

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pretationskompentenz des Verwaltungsrats oder der IAK bezeichnete er als bloßes Störmanöver im Hinblick auf die parallel laufende Ratifikationsdiskussion im französischen Senat.166 Der Verwaltungsrat vertagte sich schließlich, ohne zu den vorgelegten Ergebnissen der zweiten Arbeitszeitkommission Stellung zu nehmen. Mit der Sokal-Kommission von 1926/27 hatte die ILO der arbeitszeitpolitischen Diskussion wieder den ihrer Verfassung gemäßen tripartiären Rahmen gegeben. Gleichzeitig jedoch wurde mit dem Argument einer Integration der Arbeitgeber und deren Kritik am WAZ die Debatte über arbeitszeitpolitische Fakten eröffnet. Für den Bereich des Bergbaus hatte sie bereits einige Monate zuvor eingesetzt, und von der englischen Regierung war sie für den gesamten Geltungsbereich des WAZ schon im Vorfeld der Londoner Regierungskonferenz nachdrücklich gefordert worden. Nachdem die neuen Arbeitszeitregelungen im englischen Bergbau und in Italien mit nationalökonomischen Erfordernissen begründet worden waren und den von London ausgehenden Impuls für eine Ratifikation des WAZ gedämpft hatten, schwenkte die ILO auf eine Untersuchung arbeitszeitpolitischer Tatsachen ein, an dessen Ende eine Revision des Textes 1919 immer wahrscheinlicher wurde. Nicht nur der französische Arbeitgebervertreter Lambert-Ribot, sondern auch der Direktor des BIT, für den die Frage der Revision vom taktisch richtigen Vorgehen und den Modalitäten abhing, hatte dieses Ziel im Visier. Obwohl Thomas wie die Arbeitnehmergruppe den reformerischen Wert des WAZ im Hinblick auf noch rückständige nationale Arbeitszeitregelungen z.B. in Frankreich zu schätzen wußte, zog er doch aus der vom BIT durchgeführten Bestandsaufnahme und aus der Kritik der Arbeitgeber am WAZ eine andere politische Schlußfolgerung: Die Arbeitnehmer stellten die Abweichungen des arbeitszeitpolitischen status qua von der internationalen Norm eher als unbedeutend dar. Mit diesem Argument suchten sie Widerstände gegen das WAZ zu verringern und damit den reformerischen Gehalt der Konvention auf dem Wege der Ratifikation in die nationalen Arbeitszeitgesetze zu übertragen. Die Abweichung des WAZ von der tatsächlichen, jeweiligen nationalen Arbeitszeitregelung, die sie nicht verkannten, bedeutete dabei einen Maßstab für den reformerischen Gehalt, der noch in dem Übereinkommen steckte. Die Arbeit Thomas und seiner Organisation hingegen bemaß sich nicht zuletzt an der Zahl der erreichten Ratifikationen. Deshalb konnte er auch einen Erfolg verbuchen, wenn eine Konvention ratifiziert wurde, die als Spiegelbild der tatsächlichen Arbeitszeitbedingungen in Europa diesen Zustand "nur" international sanktionierte und damit wenigstens der Dispositionsbefugnis des nationalen Ge166 Vgl. Lambert-Ribot. Verbatim Record. a.a.O .. S. 119 und 128; sowie während der Verwaltungsratssitzung im Januar. GB (Januar 1927). S. 44. 25*

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setzgebers entzog. Hieraus erklärt sich seine Aussage vor der IAK 1926, " will be the culminating act", und die Bewertung einer Entscheidung über die Revision als vorallem taktischem Problem. Die allgemeine Ratifikation einer revidierten Konvelltion hätte also nicht nur den durch die Version von 1919 mitbeeinflußten status quo in den europäischen Industriestaaten sondem auch die Arbeit der ILO gekrönt. Da die zweite ILO-Kommission zu keinen konkreten, operativen Ergebnissen führte und der Verwaltungsrat keine weiteren Maßnahmen ergriff, standen die vom BIT durchgeführte Bestandsaufnahme und die Kritik LambertRibots als Revisionspotential im Raum. Wurde so die zweite ILO-Kommission letztendlich zum Ausgangspunkt für die von England im Frühjahr 1928 beantragte Revision des WAZ, so war der Abschluß der Kommissionsberatungen doch zunächst auch Beginn mehrmonatiger Bemühungen der englischen Regierung um eine Ratifikation. Kurzum: Die englische Regierung beantragte die Revision in Genf erst, nachdem nationale Ratifikationsverhandlungen in eine Sackgasse geführt hatten. Der im März 1926 begonnene Bergarbeiterstreik, der eine Beschäftigung der Regierung mit der Frage der Ratifikation nach der Londoner Konferenz wiederholt verhindert hatte, endete Ende 1926. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Initiativen von Seiten des BIT nicht ratsam gewesen.167 Nachdem die nationale Krise jedoch überwunden worden war, der französische Senat der bedingten Ratifikation zugestimmt hatte, in Deutschland die Debatte um ein Arbeitszeitnotgesetz in vollem Gange war, das BIT eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Arbeitszeitregelungen in Europa vorgelegt hatte "... a Ia suite aussi de certaines insistances de notre part"168, befaßte sich das englische Kabinett wieder intensiver mit der Ratifikationsfrage. Am 28.02.1927 fand auf Initiative der Labour Party eine längere Aussprache im Unterhaus zum WAZ statt. 1(9 Thomas hatte auch zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel, ob ein derartiger Vorstoß der Labour Party in aller Öffentlichkeit 167 Vgl. Note von Thomas vom 04.11.1926 über eine Englandreise, CAT 5-64-2-1; siehe auch Note vom 02.11.1926 über ein Gespräch mit Robert Williams, CAT 6C-7-1 sowie den Brief von Burge vom 18.09.1926, CAT 5-64-3. Darin kommt zum Ausdruck, daß man im englischen Arbeitsministerium unterschiedlicher Meinung über das weitere Vorgehen und die Beurteilu')i des arbeitszeitpolitischen Rückschritts in Italien war. 1 BriefThomas an MacDonald vom 21.02.1927, CAT 5-64-1-2. ll9 "Internationale Rundschau der Arbeit" 1927. S. 366 ff. Siehe dazu vorallem die streng geheime Aufzeichnung von Butler vom 07.03.1927. Butler Papers XI 1/7/1 Jacket 1. Vgl. auch Sydney Parlett, Report on Mission to Ramsgate, 21 - 26 May 1927, CAT 5-64-4-5, der folgenden Grund für die nun beginnenden Aktivitäten der englischen Regierung vermutete: "In casual conversation Henderson mcntioned that he thought that the Govemment would endeavour to wash out the sins it was committing in the matter of the Trade Union Bill by proceeding with ratification of the Hours Convention". Zur gleichen Einschätzung kam Butler in oben genannter Aufzeichnung.

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der Sache des WAZ nützlich sein würde. Denn die konservative Regierung würde sicherlich die ILO als Drahtzieher vermuten und jede externe, offizielle Einflußnahme harsch von sich weisen. Der Direktor versuchte deshalb, mäßigend auf Poulton, Miss Bondfield und MacDonald einzuwirken: "Je leur ai dit qu'a mon sens, il faudrait peut-etre ne pas bousculer en ce moment Je Gouvernement sur ce sujet, et garder notre poudre s~che, jusqu'au jour ou il y aurait opportunite d'agir en un sens ou en l'autre". 170 Während der Diskussion im Unterhausam 28.02. ergriffen dann 15 Redner aus allen Parteien das Wort und stellten sich hinter das WAZ. "The Government was very badly shaken by the debate", berichtete Butler am 07.03.1927. 171 Steel-Maitland, der auf die Einwände der französischen Arbeitgeber und auf gewisse Unzulänglichkeiten des deutschen Arbeitsschutzgesetzentwurfs (z.B. bezüglich der Überstundenbezahlung) hinwies, wollte jedoch etwas Endgültiges zum Thema Ratifikation noch nicht sagen. Tatsache war indes, daß die Regierung einen interministeriellen Ausschuß unter Leitung von Lord Cecil mit der Prüfung der ganzen Angelegenheit beauftragt hatte. Gleichzeitig trat man mit dem TUC und der National Confederation of Employers' Organisation in Gespräche ein. Auch wurde ein Arbeitszeitgesetz vorbereitet. 172 Bei der Erstellung des Entwurfs wirkte Butler mit. "The Bill, though not entirely following the lines of my draft, has taken a certain amount of inspiration from it andin some respects goes further in the matter of elasticity ". 173 Trotz dieses Erfolgs erntete der Stellvertretende Direktor Kritik von Albert Thomas, weil er seinem Entwurf den 1925 vom Unterhaus abgelehnten Vorschlag Tom Shaws zugrunde gelegt hatte und dies dem englischen Arbeitsministerium natürlich nicht verborgen geblieben war. 17~ Damit bestand die Gefahr, die altbekannten Einwände gegen eine zu schematische Übertragung des WAZ wieder heraufzubeschwören und weitere Einflußmöglichkeiten des BIT von vorneherein zu verspielen. Thomas formulierte bei dieser Gelegenheit nochmals die Grundpfeiler der BIT-Politik: Ohne sich allzusehr auf eine Diskussion einzelner, nationaler Ratifikationsschwierigkeiten einzulassen, sollte das BIT bloße Hilfestellung bei der Erarbeitung eines Gesetzentwurfs geben und in erster Linie darauf hin wirken, daß eine Regierung durch Ratifikation die Verantwortung für ihr Gesetz vor der ILO und dessen Kontrollsystem übernehme; "... ou bien d'apporter leurs difficultes devant Ia Conference prochaine". Lieber als eine 170

Brief an MacDonald a.a.O ..

171 Butler Papers XI 1/7/1 Jacket 1. 172 Vgl. R. Lowe, "Hours of Labour ...", S. 257. 173 Aufzeichnung Butlers vom 07.03.1927 a.a.O .. 174 Note für Butler vom 20.02.1927, Butler Papers

XI 1/7/1 lacket 1.

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Verstrickung des BIT in den nationalen Gesetzgebungsprozeß war dem Direktor allemal die Einleitung eines Revisionsverfahrens auf internationaler Ebene. Ähnlich wie bereits beim Entwurf eines detaillierten Fragebogens nach der Berner Konferenz hatte Butler auch diesmal akribisch an dem Gesetzentwurf gearbeitet: "Vous avez fait un projet qui, du point de vue juridique paraitrait irn!prochable, mais il faut rappeler sans cesse a nos amis britanniques ... que ce que nous leur demandons, c'est de prendre en conscience Ia responsabilite de defendre leur ratifcation" .175 Oberste Priorität hatte für Thomas jedoch die internationale Bindung und gegenseitige Kontrolle in der Arbeitszeitfrage. Entgegen den Bedenken von Butler und Phelan propagierte er im Fall Englands erneut eine Art "diplomatischer Garantie" für die Durchführung des WAZ, um mögliche englische Bedenken gegen einen gesetzlichen Eingriff auf dem Gebiet der Arbeitszeit abzuhelfen und damit die internationale Reform endlich zu einem greifbaren Ergebnis zu führen. 176 Die Idee einer diplomatischen Garantie, die im Statut der ILO keinen Anhalt hatte, setzte sich nicht durch. Dies lag nicht zuletzt auch daran, daß die englische Aversion gegen einen gesetzlichen Eingriff in die Autonomie der Tarifpartner nach dem Bergarbeiterkonflikt von 1926, der die Notwendigkeit staatlicher Interventionen eindringlich vor Augen geführt hatte, geringer geworden war.m In erster Linie hatten das Treffen in Bem und die Londoner Konferenz bereits die Grenzen einer diplomatischen Verständigung der Regierungen über die internationale Regelung der Arbeitszeit aufgezeigt. Teil der Strategie des BIT, die Ratifikationsaussichten in England zu verbessern, war neben Gesprächen mit den Gewerkschaften und der Regierung auch die verstärkte Kontaktaufnahme mit gemäßigten englischen Arbeitgebem. Thomas hatte die Idee "of 'getting at' Employers through Trade Unions".178 Die Schwierigkeit bestand nur darin, "to 'group' the good employers". Obendrein hatten diese innerhalb ihrer Organisationen kaum einen spürbaren Einfluß. r79 Anfang 1928 berichtete der Leiter des Zweigbüros in London, er tue sein Bestes, um mit der Bewegung um den Industriellen Mond, der Gespräche mit den Gewerkschaften, insbesondere mit Ben Turner vom General Council des TUC, über eine allgemeine industrielle Verständigung führteu0 , in Verbindung zu bleiben; "but I do not 176

Ebd.. Ebd ..

178

Vgl. HA. Clegg, S. 423. Brief Burge an Themas vom 14.09.1926 und Thomas an Burge vom 28.09.1926, CAT 5-

11S

m

64~

1 . Brief

Burge an Thomas vom 14. und 30.09.1926, a.a.O .. Im einzelnen zu den sog. Mond-Turner-Talks G .W. MacDonald /H.F. Gospel, "The Mond-Turner-Talks", in: "Historical Journal", 16 (1973), S. 807- 829 180

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think we could hope for a recommendation to ratify''. 181 Es blieb so bei vagen Annäherungen, die zu keinem positiven Impuls in der Ratifikationsfrage von dieser Seite aus führten. Im Juni 1927 brachte stattdessen die National Confederation of Employers' Organisation eine Denkschrift heraus ("The Washington Hours Convention. A Statement of the Facts"), die die nachteiligen Folgen einer Ratifikation für die englische Industrie aufzeigen wollte. Man beklagte die Starrheit der Ausnahmemöglichkeiten nach dem WAZ, deren Inanspruchnahme zudem der vorherigen gewerkschaftlichen oder staatlichen Zustimmung bedürfe. Dies sei das Ende flexibler tarifvertraglieber Regelungen, die industriellen Ansprüchen Rechnung trügen. Staatliche Kontrolle auf dem Gebiet der Arbeitszeit lehnte man kategorisch ab, da sie nur zu einer Politisierung der Tarifauseiandersetzungen führe: "... the whole question of working conditions - for questions of hours and wages are inseperable - would be removed from the industrial to the political sphere, and become a question of party politics". 182 Auch ihre deutschen Kollegen unterrichteten die englischen Arbeitgeber darüber, "daß sie alles tun würden, um die Ratifikation des Washingtoner Übereinkommens zu verhindern".11B Diese intransigente Haltung der Arbeitgeber veranlaßte im November 1927 Steel-Maitland zu der Bemerkung, " it is the opposition of the Employers that is responsible in the main for the failure to ratify the existing Convention or to take any active step to secure a revised Convention". 184 Steel-Maitlands Aufgabe wurde zusätzlich durch Meinungsunterschiede im Kabinett in der Ratifikationsfrage erschwert: "A !'heure actuelle, il est pris entre Baldwin et Churchill d'une part, Cunliffe Lister d'autre part, les uns voulant ratifier !es huit heures, l'autre resistant". 185 An dieser Verteilung der Positionen ließ sich wie 1925 erkennen, daß Differenzen in der Arbeitszeitfrage auch ihren Grund in unterschiedlichen handelspolitischen Konzepten hatten. Mitbestimmend für das Scheitern des Versuchs Steei-Maitlands, die Grundlagen für eine Ratifikation des WAZ im Jahr 1927 zu schaffen, waren aber auch noch andere, teils bekannte Gründe: Die englischen Kronjuristen bezweifelten unter an181 Strengvertraulicher Brief vom 05.01.1928. a.a.O., und Brief Thomas an Burge vom 14.01.1928 ebd.. 182 Eine auszugsweise Übersetzung der Denkschrift befindet sich in: "50. Sonderheft ...", S. 140 ff. Die League of Nations Union verfaßte im selben Jahr eine Gegendenkschrift mit dem Titel: "The Washington Hours Convcntion. A Restatement of the Facts", London 1927. Auszu§F.eise Übersetzung a.a.O., S. 157. 1 Brief Donau an Butler vom 19.07.1927 über ein Treffen in Levcrkusen im Juni 1927, BHtler Papers XC 24/1/1. 84 Zitiert nach R. Lowe, "Hours of Labour ...", S. 269. 185 Brief Thomas an Eric Haguenin vom 16.05.1927, 94 AP 381, und an Alexis Leger vom 10.05.1927, 94 AP 390.

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derem die rechtliche Verbindlichkeit der Londoner Beschlüsse für die damals nicht anwesenden Staaten; die mangelnde effektive Durchführung des 8-Stundentags selbst in Länder wie Belgien, das ratifiziert hatte, wurde beklagt - von Italien ganz zu schweigen. Außerdem sei das im WAZ vorgeschriebene System der Überstundenregelung in England weder rechtlich noch praktisch durchführbar. 186 Die englische Regierung untersuchte vor einer Ratifikation bis in alle Einzelheiten Möglichkeiten und Grenzen, die dann entstehenden Verpflichtungen auch national erfüllen und umsetzen zu können. Deutschland und England wichen beide von Albert Thomas Credo ab, wonach erst die Ratifikation zu erfolgen habe und danach Interpretationsprobleme und mögliche Diskrepanzen mit dem WAZ im Rahmen des Kontroll- und Schlichtungssystems des Versailler Friedensvertrags zu klären seien. Sein Appell, mit der Ratifikation dem System der ILO einen Vertrauensvorschuß zu geben 187, verhallte, weil Deutschland und England im Unterschied zu Frankreich der ILO nur "vertrauen" wollten, wenn sie die Sicherheit ausbleibender Beanstandungen an ihrer nationalen Arbeitszeitregelung hatten. Der reformerische Gehalt des WAZ schlug sich deshalb nur im Prozeß der Voranpassung nationaler Arbeitsschutzgesetze (Deutschland) bzw. der Vorprüfung des arbeitszeitpolitischen status quo auf seine Vereinbarkeil mit der Konvention (England) nieder. Stand die englische Regierung Ende 1927 angesichts des massiven Widerstands der Arbeitgeber, wegen der unterschiedlichen Meinungen im Kabinett und aufgrund der sich aus nationalen Gegebenheiten speisenden rechtlichen wie praktischen Einwände gegen die Übernahme des WAZ schier unüberwindlichen Hindernissen gegenüber, so bot der Vorschlag LambertRibots auf der 37. Sitzung des Verwaltungsratsam 13.10.1927, "that the ordinary session of the Conference in 1929 should set up a special Committee, which would be in an way a supplementary Committee to that an Article 408, to study the question of the Hours Convention" 188, einen willkommenen Anlaß, die Revision des WAZ einzuleiten und der Sackgasse auf nationaler Ebene zu entrinnen. 189 Obwohl der Verwaltungsrat die weitere Erörterung 186 R. Lowe, a.a.O., S. 257, bezeichnet die rechtlichen Einwände insgesamt als "legal pcdantrr;, Vgl. ILC 1928 (Director's Report), S. 126 ff. Vgl. Themas Rede, ILC 1927 (Minutes), S. 236; Note vom 20.02.1926, Butler Papers XI 1/.1J1. Jacket 1. 1 GB (11.10.1927), S. 401. 189 Brief Thomas an Donau vom 21.02.1928. CAT 5-2-6(B). Bereits im Mai 1927 hatte der englische Arbeitsminister ein Treffen mit seinen deutschen, französischen und belgiseben Kollegen gesucht und Themas dabei um Vermittlung gebeten, Briefe Themas an Haguenin und Leger a.a.O.

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dieses Punktes vertagte, war nach den Ausführungen Lambert-Ribots klar, daß eine Entscheidung über die Revision unmittelbar bevorstand. Thomas gab zudem bekannt, daß die Rechtsabteilung des BIT bereits die rechtlichen Voraussetzungen und Modalitäten eines entsprechenden, in der Geschichte der ILO bisher beispiellosen Verfahrens prüfte. Nicht auszuschließen ist, daß der Direktor Lambert-Ribot, mit dem er bereits Ende 1926 offen über seine Einstellung zur Revision gesprochen hatte, zu seinen Äußerungen im Verwaltungsrat mit veranlaßt hat. Steei-Maitland ergriff daraufbin die Initiative und suchte im Zusammenwirken mit den englischen Arbeitgebern und Gewerkschaften eine Liste praktischer Probleme zu erarbeiten, auf die eine künftige Arbeitszeitkonvention eine Antwort finden mußte. 190 Während sich die Arbeitgeber widerwillig zur Mitarbeit stellten, verweigerte sich der TUC gänzlich. An Gesprächen, die von der U nvermeidlichkeit einer formellen Revision ausgingen, wollten die Gewerkschaften nicht teilnehmen. 191 Thomas dagegen erklärte sich "taut ä fait desireux d'ouvrir une procedure en ce sens < =revision> afin de sortir de Ia situation oil nous nous trouvons depuis des annees".192 Denn in dieser Frage wurden nach seiner Ansicht Weichen für die Zukunft des BIT gestellt: "II ne faut pas nous dissimuler qu'autour de cette question juridique se joue, pour une part, l'avenir du Bureau".193 Und bereits in einem Schreiben an Nolens vom 20.06.1927 hatte er für den Fall, daß England in diesem Jahr keinen entscheidenden Schritt zur Ratifikation unternähme, angekündigt, "force nous sera d'envisager cette solution chirugicale < = revision > ". 194 Teil XIII des Versailler Friedensvertrages sagte nichts über Verfahren, Inhalt und Folgen einer Revision aus. Artikel 21 WAZ verpflichtete den Verwaltungsrat nur, "mindestens alle zehn Jahre einmal der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und darüber zu entscheiden, ob seine Durchsicht oder Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll". In seinem Bericht für die 38.Verwaltungsratsitzung im Februar 1928 kam der Direktor zu dem Schluß, daß trotz Revision die bisherige Konvention fortbestehe. Außerdem R. Lowe. a.a.O., S. 258 und 269: ßriefThomas an Donau vom 30.12.1927, CAT S-2-6(A). R. Lowe, ebd.; Drief W. Citrine an Sanders vom 27.02.1928 und Note von Thomas für Sanders vom 02.03.1928, Dutlcr Papers XI1/7/1 Jacket 2. 192 Brief an Donau ebd .. 193 Note pour le Cabinet vom 05.12.1927, CAT 6C-7-1; beigefügt war ein 2seitiger "Plan d'une note sur Ia revision des conventions adoptees par Ia Conference Internationale du Tra~il" (Autor Morellet). 94 94 AP 384. Auf der darauffolgenden IAK sprach Nolens die Möglichkeit einer Revision an, ILC 1928 (Director's Report), S. 117. 190 191

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

solle sich die Revision nicht auf die Grundsätze des WAZ, sondern nur auf einzelne bestimmt umschriebene Punkte beziehen. Ferner wollte er auf eine Anhörung aller Mitgliedstaaten der ILO vor einer Grundsatzentscheidung des Verwaltungsrats verzichten.195 Denn nur auf diese Weise ließ sich der Gegenstand des Revisionsverfahrens auf wenige Punkte beschränken und möglicherweise die Zustimmung der Arbeitnehmergruppe gewinnen, deren größte Befürchtung ein genereller Rückschritt hinter das im Jahr 1919 Erreichte war.196 Die auf dem Berner Ministertreffen und der Londoner Arbeitszeitkonferenz angesprochenen Schwierigkeiten bei einer Ratiflkation197 sollten nach Thomas Vorstellung ebenso wie die Beschränkung auf die Mitglieder des Verwaltungsrats im Anfangstadium der Revision, von denen die staatlichen an den bisherigen Regierungskonferenzen teilgenommen hatten, Eckpfeiler in einem künftigen Revisionsverfahren für Konventionen der ILO sein. Die Ereignisse der Jahre 1924 bis 1926, die außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung der ILO stattgefunden hatten, prägten so den Entwurf eines neuen Instrumentariums der Internationalen Sozialpolitik. Am 02.02.1928 gab der Staatssekretär im englischen Arbeitsministerium, Betterton, eine offizielle Erklärung im Verwaltungsrat ab, die in den beiden Sätzen gipfelte: "The question as I see it is simply whether the time has come to put into force the procedure of Article 21 of the Hours Convention, and the considered view of the British Government is that that moment has now arrived . The British Government hopes, therefore, that the Governing Body ... will decide here an now to place the question of the revision on the angenda of the 1929 Conference". 198 Konkrete Punkte einer Revision gab Betterton - trotz Nachfrage des deutschen Regierungsvertreters - nicht an. Im Unterschied zur Ansicht Thomas sollten alle Mitgliedstaaten der ILO Vorschläge für die Revision unterbreiten können. Ein vom BIT für die nächste Verwaltungsratssitzung zu erstellender Bericht über die Durchführung der Konvention sollte dafür die Grundlage bieten. J ouhaux lehnte im Namen der Arbeitnehmergruppe die Vorschläge Settertons rundweg ab. Eine Verbindung zwischen der Frage nach den allgemeinen Regeln einer Revision und dem WAZ bestritt er. Art. 21 habe man in das Übereinkommen eingefügt, "not with a view to the possible restriction of the scope of the Convention, but with a view to its possible extension". 199 Die Arbeitgeber 195 "50. Sonderheft ... ", S. 100. Thomas. GB (02.02.1928), S. 30: "To beginn by inviting Governments to demand revision would open the door to every kind of opposition and obstructi?A"· So Jouhaux, a.a.O .. S. 25. 197 Vgl. Picquenard, a.a.O., S. 39, der darauf hinweist, daß im französischen Arbeitszeitrecht ei~e Revision auf bestimmte Punkte beschränkt ist. 8 GB, a.a.O, S. 22. 199 A.a.O .. S. 28.

V. Bis zum englischen Revisionsbegehren 1928

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unterstützen dagegen den englischen Vorschlag, während sich die Regierungsvertreter überrascht zeigten und unter Hinweis auf fehlende Weisungen ihrer Staaten eine sofortige Entscheidung über die Tagesordnung der IAK 1929 ablehnten. England akzeptierte daraufbin eine Vertagung bis zur Aprilsitzung des Verwaltungsrats. Man war aber nicht bereit, dem Antrag Thomas zuzustimmen, wonach im April nur die Revisionsregeln beschlossen und eine Entscheidung über die Einleitung eines konkreten Verfahrens getroffen werden sollte, der Bericht des BIT über die Durchführung des WAZ aber erst im Oktober vorzulegen sei. 200 Mit Mehrheit beauftragte der Verwaltungsrat schließlich den Geschäftsordnungsausschuß, bis April 1928 allgemeine Regeln für zukünftige Revisionsverfahren zu erarbeiten. "After the consideration of the general procedure for revision" sollte der Verwaltungsrat dann entscheiden, ob die IAK 1929 mit der Revision des WAZ befaßt werden sollte.201 Damit hatte sich Thomas durchgesetzt, der vor einem erneuten Bericht über die Durchführung des WAZ warnte, bevor nicht die Regeln des Revisionsverfahrens feststünden. Während die Arbeitnehmerorganisationen den englischen Schritt als "Dolchstoß"202 gegen den internationalen 8-Stundentag einhellig verurteilten, bedeutete er für Albert Thomas den Auftakt zu einer "solution chirugicale", an deren genereller Zweckmäßigkeit er seit 1922 nicht mehr gezweifelt hatte. Ihr Erfolg hing jedoch entscheidend von der gesamtpolitischen Konstellation und den verfahrensmäßigen Bedingungen ab, unter denen sie stattfinden würde. Obendrein wollte sich das BIT nicht in die Rolle des Lieferanten der revisionsbedürftigen Punkte drängen lassen, sondern als Informations- und Dokumentationsstelle nur sachlich über die arbeitszeitpolitischen Verhältnisse und die Durchführung des WAZ berichten. England, so die Politik Thomas in der Folge, sollte die Verantwortung für seine Kritik selbst übernehmen. Wenn auch mit einem gut Teil Zweckoptimismus, 200 201

Gß (02.02.1928). S. 36 und (03.02.1928), S. 40. In seinem Memorandum für den Ve!Wahung.Hal halle er noch die Vorlage eines Berichts vorgeschlagen. Er wich davon jedoch ab. nachdem die Revision des WAZ wegen des englischen Antrags unmiuelbar bcvon:ustehen schien. Thomas auf eine Frage von Oudegeest, GB (03.02.1928). S. 43 f. 202 "Gewerkschaftszeitung" Nr. 9 vom 03.03.1928; vgl. auch die Zusammenstellung von Protestschreiben gegen das englische Vorgehen, u.a. Schreiben des IGB vom 16.04.1928, im Bericht des Direktors für die 39. Sitzung des Ve!Waltungsrats im April 1928, Annex C. Der 1GB beschloß die "diesjährige Maifeier zu einer besonders wirksamen Demonstration für das Washingtoner Abkommen zu gestalten", Rundschreiben des ADGB Vorstands Nr. 27 vom 18.02.1928, HiKo /NB/80. BI. 36. Außerdem e!Wog man zur Eröffnung der IAK 1928 einen internationalen Streik von 3 bis 5 Minuten durchzuführen, van Voss, "The International Federation .. .", S. 529. Der ADGB stellte die Forderung nach dem 8-Stundentag, nicht aber ausdrücklich nach der Ratifikation des WAZ an die Spitze seines Maiaufrufs vom 21.04.1928, ADGB DOKUMEI'ITE 190. Siehe auch "Gewerkschaftszeitung" Nr. 7 vom 18.02.1928 ("Nun erst recht Achtstundentag!") und Nr. 8 vom 25.02.1928.

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

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so doch auch aus politischer Überz'!ugu!!g schrieb er deshalb am 21.02.1928 an Donau: "11 faut bien nous dire que si l'Angleterre a pris Ia position actu· elle, c'est que nous avions au fond reussi notre jeu politique depuis quelque deux ans. Nous l'avions completement isolee par Ia condition fran~se et Ia condition allemande. 11 lui etait impossible de se maintenir dans Ia situation d'expectative, et l'intention initiale du gouvernement anglais etait de se ehereher une issue".203 Als sich Thomas im März 1928 in London aufhielt, erfuhr er Näheres über die weiteren Absichten der englischen Regierung.

203

CAT 5-2-6(8).

VI. Die Ablehnung der Revision des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens im März 1929/ Juni 1930

Im März 1928 ließ die englische Regierung den BIT-Direktor in London wissen, "qu'il ne fera pas seulement des propositions sauvegardant les principes, mais que ce seront vraiment des propositions substantielles, c'est-adire susceptibles de devenir, en quelque matieres, articles de convention". 1 Thomas schloß daraus, "que Ia pensee profonde de Steel-Maitland et de Wilson est, sur Ia base de ces propositions britanniques, de refaire taute convention".2 Eine solche Revision ins Blaue widersprach nicht nur den Vorstellungen des Bir, sondern stand in diametralem Gegensatz zur Haltung der Arbeitnehmergruppe, die sich sogar der begrenzten Revision im Sinne von Thomas bislang verschlossen hatte. Wollte der Direktor den kategorischen Widerstand der Arbeitnehmer überwinden4 und diese für sein Konzept gewinnen, mußte er den englischen Arbeitsminister davon überzeugen, daß eine Revision mit den Stimmen der Arbeitnehmer nur gelingen konnte, "si !es propositions apparaissent comme des modifications de detail a Ia convention". Darüber hinaus drängte er die Vertreter des englischen Arbeitsministeriums, endlich dem Parlament ein Arbeitszeitgesetz vorzulegen. Denn damit hätte England einerseits seinen Revisionswünschen eine verbindlichere und konkretere Gestalt gegeben. Andererseits wäre die Gefahr gemindert worden, daß selbst nach einer totalen Revision des arbeitszeitpolitischen Inhalts der Konvention deren Ratifikation in England wiederum an traditionellen Vorbehalten gegenüber einer gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit scheitern würde. Zudem hätte ein englischer Gesetzentwurf geholfen, das Mißtrauen der Arbeitnehmergruppe gegen die Revision abzubauen.5 Und schließlich hatte ja auch Steel-Maitland vor der Londoner 1 Note

personneUe vom 21.03.1928, CAT 6C-7-1. Ebd.; Wilson bestritt dies jedoch. In der Note "La position exacte est Ia suivante", vom 07.03.1928, CAT 6C-7-1, wiederholte Thomas die Vorbedingungen einer Revision des WAZ aus seiner Sicht. 4 Seine Kritik am bisherigen Verhalten der Arbeitnehmergruppe in der Revisionsfrage wird in folgendem Satz deutlich: • va ä l'encontre de toute Ia foi quasi-mystique que Ia classe ouvriere continentale a mise dans Ia convention de Washington", ebd. Daß einzelne Gewerkschaften, wie z.B. der ADGB das WAZ nicht derart verklärten, blieb hierbei al!erdings unberücksichtigt. Ebd .. 2

3

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

Konferenz Thomas ein Arbeitszeitgesetz in Aussicht gestellt. Der Direktor appellierte deshalb an Butler: "Le Bill! le bill! le Bill, le plut töt possible!".6 Wie ein roter Faden durchzog so die Ratifikations- (1922 - 1926) und Revisionspolitik (1921; 1927 - 1930) des BIT der Grundgedanke, ein Staat wie England müsse dazu gebracht werden, vor der ILO die politische Verantwortung für seine Entscheidungen, wie immer sie ausfallen mögen, zu übernehmen. Mahnte der Direktor bei der Vorlage eines Arbeitszeitgesetzes zur Eile, so wollte er die Diskussionen im Verwaltungsrat eher verzögern, um seine Idee einer begrenzten und an zuvor beschlossene Verfahrensregeln gebundenen Revision unter allen Umständen zu verwirklichen.' Entsprechend einem Auftrag des Verwaltungsrats vom Februar 1928 legte der Geschäftsordnungsausschuß auf der nächsten Tagung, die im April stattfand, einen Bericht vor, der Vorschläge für das Verfahren bei der Revision früherer Übereinkommen enthielt.8 Nach Auffassung der Arbeitnehmer grenzte dieser Verfahrensvorschlag den Revisionsinhalt nicht mit genügender Präzision ein.9 Nach kontroverser Debatte, in der die Vorschläge des Ausschusses so manche Abänderung im Sinne der Arbeitnehmer erfuhren, billigte der Verwaltungsrat folgende allgemeine Revisionsregebz 10: Als ersten Schritt mußte der Verwaltungsrat, wenn nach einer Bestimmung einer Konvention eine Entscheidung über deren Revision bevorstand, das BIT um Vorlage "aller verfügbaren Unterlagen" über die rechtlichen und tatsächlichen Wirkungen der Konvention in allen Ländern, gleichgültig, ob sie das Abkommen ratifiziert hatten oder nicht, angehen. Nach Feststellung des Wortlauts und einer positiven Entscheidung über die Notwendigkeit der Revisionu übermittelte das BIT "den Bericht den Regierungen der Mitgliedstaaten und bat sie um Stellungnahme, indem es gleichzeitig die Punkte bezeichnete, die der Verwaltungsrat als besonders beachtenswert angesehen hat" (Art. 7a Abs. 5). Vier Monate später "beschließt der Verwaltungsrat unter Berücksichtigung der Antworten der Regierungen einen endgültigen Bericht und bezeichnet dabei genau die Fragen, die er auf die Tagesordnung der Konferenz setzt" (Abs. 6). Mit diesem Verfahren war vorerst ein Kompromiß gefunden zwischen den Interessen vorallem des BIT und der Arbeitnehmergruppe, eine Revision möglichst auf bestimmte Punkte zu beschränken, ~Brief an Butler vom 04.03.1928, Butler Papers XI 1/7/1 Jacket 2. Ebd ..

8 GB (April 1928), S. 351 • 357; "50. Sonderheft ...", S. 103. 9 So Poulton, GB (27.04.1928), S. 239. 10 GB (28.04.1928), S. 265: der neue § 7 a der Geschäftsordnung

ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: "50. Sonderheft .. .". ebd .. u Falls sich der Verwaltungsrat hier schon gegen die Revision entscheiden sollte, so legte das BIT seinen Bericht der IAK nur zur Kenntnis vor.

VI. Die Ablehnung der Revision 1929/30

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und den berechtigten Belangen der im Verwaltungsrat nichtvertretenen Mitglieder der ILO an einer frühzeitigen Mitwirkung. Ferner forderte Art. 7 a einen gestuften und zeitlich aufwendigen Entscheidungsprozeß, der vorschnelle Revisionsbeschlüsse verhindern sollte. Der englische Regierungsvertreter stimmte diesem Ergebnis nur schweren Herzens zu. Im Hinblick auf die möglicherweise bevorstehende Revision des WAZ hoffte er, "that the Governing Body would bear in mind the effort which he had made to promote agreement". 12 Die neue Regelung in der Geschäftsordnung des Verwaltungsrats war aber nur ein erster Schritt. Denn Revisionsvorschriften in der Geschäftsordnung der IAK fehlten ebenso wie das rechtliche Schicksal eines revidierten Übereinkommens unklar war. Erst ein Jahr später beschloß die IAK, daß "die Konferenz ein schon vorher angenommenes Übereinkommen nur hinsichtlich der Frage, oder der Fragen abändern , die der Verwaltungsrat auf die Tagesordnung der Tagung gesetzt hat" (Art. 6 a der neuen Geschäftsordnung). Freilich blieb der IAK das Recht nach Art. 402 Abs. 3 Versailler Friedensvertrag unbenommen, mit 2/3 Mehrheit über die Beschlüsse des Verwaltungsrats hinauszugehen und bei seiner nächsten Tagung eine umfassende Revision durchzuführen. 13 Eine allgemeine Stellungnahme zur Rechtsnatur der ILO-Konventionen vermied die Konferenz wegen der Komplexität und Schwierigkeit der damit verbundenen Fragen.14 Einig war man sich jedoch, daß ein Staat, der ein revidiertes Übereinkommen bereits ratifiziert hatte, an die alte Fassung bis zu seiner Kündigung gebunden blieb. 15 Die neuen Verfahrensregeln erlaubten eine enge Begrenzung des Revisionsgegenstandes und erschwerten somit eine Rückwärts-Revision erheblich. Nachdem England auf der Aprilsitzung des Verwaltungsrat selbst für eine Vertagung der Entscheidung über die Revision des WAZ plädiert hatte16, forderte Wolfe im Mai, das vom Verwaltungsrat beschlossene Revisions12

GB (28.04.1928), S. 260.

Zum Ganzen siehe die ausführliche Darstellung in: "50. Sonderheft ...", S. 115, Fußnote 2 sowie Thilo Morhard, S. n ff. 14 Siehe T. Morhard, ebd. Problematisch ist auch heute noch, ob man den ILO-Konventionen 'Gesetzes-' oder (völkerrechtlichen) Vertragscharakter zuschreibt. Für das Revisionsverfahren haben diese unterschiedlichen Sichtweisen zur Folge, daß die IAK zwar ein 'Gesetz', nicht aber einen völkerrechtlichen Vertrag aufheben kann. Morhard ordnet die Beschlüsse der IAK als "eigenständige Normen des 'soft law'" ein (S. 194). Gemeint sind damit u.a. Beschlüsse internationaler Organisationen, bei denen erwartet wird, daß die beteiligten Staaten obwohl keine völkerrechtliche Pflicht dazu besteht -sie "ernst nehmen und ihnen einen gewissen Respekt entgegenbringen. Diese Erwartung muß allen beteiligten Staaten gemeinsam seif. S. 187. Die KSZE-Schlußakte ist ein Musterbeispiel hierfür. 1 "50. Sonderheft .. .", S. 117: T. Morhard, S. 79 auch zur weiteren Entwicklung und mit weiteren Nachweisen. 13

16

GB (28.04.1928), S. 265.

400

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

verfahren nunmehr auf das WAZ anzuwenden. 17 Während die Arbeitnehmergruppe, Italien und Belgien ausdrücklich gegen den englischen Vorstoß Partei ergriffen, suchte der deutsche Regierungsvertreter und der französische Arbeitgeber Lambert-Ribot eine vermittelnde Lösung, wonach das BIT zwar einen Bericht zum WAZ vorlegen, dies aber nicht bereits als bindende Entscheidung über den Beginn einer Revision angesehen werden sollte.18 Gemessen an dem neueingefügten Art. 7 war diese Position formal-rechtlich korrekt. Doch Fontaine und ihm folgend Thomas rückten einen psychologischen Aspekt in den Vordergrund, den der Verwaltungsrat bei seiner Entscheidung nicht außer Acht lassen dürfe: "In requesting the Director to submit a report on the working of a particular Convention before the period provided for by the Convention had elapsed < i.e. 1931 > the Governing Body was, perhaps without wishing to do so, taking up an attitude with regard to the revision of that Convention". 19 Der englische Antrag wurde schließlich knapp mit 12 zu 11 Stimmen abgelehnt.2ll Für diese Entscheidung von Bedeutung war sicherlich auch, daß der englische Regierungsvertreter trotzmehrfacher Nachfragen keine konkreten Punkte zu benennen wußte, die er für revisionsbedürftig hielt.21 Angenommen wurde danach ein Vorschlag Fontaines, in dem der Verwaltungsrat den Direktor aufforderte, "to prepare the reports on the Conventions adopted at Washington .. which, according to the terms of the Convention, must be submitted within ten years at tatest, and to lay each report before the Governing Body as soon as it is completed".22 Damit hatte der Verwaltungsrat jeden Anschein einer positiven Entscheidung über die Einleitung einer Revision des WAZ umgangen. Denn die 8-Stundentagskonvention wurde weder namentlich genannt, noch hatte man einen genauen Termin für die Fertigstellung des Berichts bestimmt.23 Das BIT trug so die politische Verantwortung, den geeigneten Zeitpunkt für den nächsten, vielleicht entscheidenden Schritt, nämlich die Vorlage eines Berichts über das WAZ zu wählen. "Täche delicate, certes!"24 Da das Problem der Revision nach den englischen Anträgen vom Februar und Mai GB (28.05.1928), S. 392. GB (28.05.1928), S. 391 - 407. 19 So Fontaine a.a.O., S. 397. 20 A.a.O., S. 407. Fontaine hatte zwar auch gegen den Vorschlag gestimmt, doch wurde dies als Enthaltung gewertet, um keinen Zweifel an seiner Neutralität als Vorsitzender des Verwaltungsrat a~fkommen zu lassen, Thomas an Loucheur vom 05.03.1929,94 AP 379. Vgl. d1e Fragen von Sokal, a.a.O., S. 393 und Maha1m, S. 396. 22 A.a.O., S. 407. Stimmenverhältnis 9 zu 0. 23 Thomas und der deutsche Regierungsvertreter hatten sich für einen festen Termin ausgesprochen, doch war der Antrag des Deutschen mit 11 zu 7 Stimmen abgelehnt worden, ebd. Weigert stimmte danach für den Vorschlag Fontaines, "50. Sonderheft .. .", S. 105. 24 So Thomas, ILC 1928 (Minutes). S. 268. 17

18

VI. Die Ablehnung der Revision 1929/30

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1928 in aller Munde war und der Verwaltungsrat darüber noch nicht endgültig entschieden hatte, bestand die Gefahr eines Schwebezustandes, der weitere Ratifikationen behindern konnte. Trotz der Ratifikation durch Luxemburg bzw. Portugal am 16.04. bzw. 03.07.1928 und der Ankündigung Spaniens, bedingt ratifizieren zu wollen25, war dem BIT an einer zügigen Vorlage des gefordeten Berichts gelegen. Die Verwaltungsratssitzung im Oktober kam dafür jedoch nicht in Frage, weil dies den Eindruck hervorgerufen hätte, man verfahre in praxi nun doch nach dem ursprünglichen, aber abgelehnten Revisionsantrag Englands. 26 Im Dezember 1928 überwies das BIT dann einen Bericht über das WAZ und einen über die Konvention zur Festsetzung der Altersgrenze für die Zulassung von Kindern zu gewerblicher Arbeit an die Mitglieder des Verwaltungsrats.27 Diese sollten im März 1929 darüber beraten. Mittlerweile hatten sich die Anzeichen verstärkt, daß England seine Kritik am WAZ konkretisieren würde. Das BIT hatte nach dem Beschluß des Verwaltungsrats vom Mai sein ganzes Augenmerk auf dieses Ziel gerichtet: "II faut, coute que coute, amener le Gouvernement a parler, a dire ce qu'il veut, en depit des tiraillements interieurs qu'il peut connaitre. Je m'y emploierai de man mieux".28 Auch Butler rief bei einem Besuch in London im Juni 1928 dies nochmals eindringlich in Erinnerung. Dabei wurde ihm von SteelMaitland versprochen, "that by then < i.e. Vorlage des BIT Berichts Ende 1928 > the Government would be in a position to make a pretty defmite statement". Der Inhalt der englischen Vorschläge zeichnete sich in Umrissen ab: "What he really wants is to incorporate tbe London Agreement in the Convention and, in addition, to deal with one or two other points, notably the case of road transport".29 Der englische Regierungsvertreter hatte diese Linie bereits zuvor auf der IAK 1928 offiziell angedeutet.30 Thomas begrüßte dies zwar als Fortschritfl, doch reichten die Kritikpunkte Englands in ihrer Präzision noch bei weitem nicht an die Verbesserungsvorschläge Lambert-Ribots heran, die dieser bei den Verhandlungen der Sokal-Kommission im Alleingang formuliert hatte und 25 Spanien ratifizierte am 22.02.1929 bedingt. Allgemein zum Verhältnis Spanien-ILO, T. Buff, "Sozialpolitik im Kontext nationaler und internationaler Poltik: Spanien 1919 - 1939", (Diss.) Bern 1987. 26 Notes personnelies vom 18.06. und 28.06.1928, CAT 6C-7-1; Note for the Director vom Butler vom 27.06.1928, CAT 5-64-2-3. Daraus geht hervor, daß auch England keine Vorlage d~ Berichts vor Ende des Jahres wünschte. ILC 1929 (Director's Repon), S. 137. 28 Brief Thomas an Nolens vom 26.06.1928. 94 AP 384. 29 Note for the Director von Butler a.a.O .. 30 ILC 1928 (Minutes), S. 198. 31 A.a.O., S. 269. 26 Grabh=

402

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

nun auf der IAK 1928 nochmals in aller Deutlichkeit wiederholte.32 Nachdem Vertreter der League of Nations Union im Juli beim englischen Arbeitsminister persönlich konkrete Revisionsvorschläge angemahnt hatten, das englische Parlament mehrmals dieses Thema angeschnitten33 und das BIT den geforderten Bericht vorgelegt hatte, erfuhr Butler Anfang Februar 1929 wiederum nur, " the British Government has decided to make a detailed statement as to the points with which they think revision should deal at the next meeting of the Governing Body".34 Über den genauen Inhalt wurde aber nicht mehr bekannt als Butler bereits im Juni vergangeneo Jahres erfahren hatte: Londoner Vereinbarungen plus 1 bis 2 weitere Punkte.35 Die Bitte Steel-Maitlands, auf die englischen Gewerkschaften und die Arbeitnehmergruppe im Verwaltungsrat einzuwirken, um deren Zustimmung zur Eröffnung eines Revisionsverfahrens zu erhalten, lehnte Butler ab. Das BIT wollte die Revision erst bei Vorliegen konkreter Vorschläge unterstützen und außerdem die Gefahr vermeiden, wegen der im Frühsommer anstehenden Wahlen als Wahlkampfhelfer der Regierung zu erscheinen.36 Anfang März wurde dann bekanne7, daß Steel-Maitland persönlich zur Verwaltungsratssitzung nach Genf kommen wolle, um dort den britischen Standpunkt näher zu erläutern. Er hatte sich hierzu entgegen dem Rat seines Permanent Secretary, H.J. Wilson, entschlossen.38 Außerdem legte England gleichzeitig ein 2-seitiges Memorandum vor, in dem die 15 Punkte aufgeführt waren, anband derer der Text von 1919 überprüft und überarbeitet werden sollte (siehe dazu unten). Nachdem in Genf die Nachricht vom Kommen Steel-Maitlands erngetroffen war, bemühte sich Thomas sofort um die Teilnahme des französischen und deutschen Arbeitsministers an dieser Verwaltungsratssitzung, "de 32 A.a.O. S. 210. 33 Vgl. ILC 1929

(Director's Report), S. 130; Butler und Thomas waren vor dem Hintergrund der parlamentarischen Initiativen Ende 1928 und der bevorstehenden Wahlen im Frühsommer 1929 unterschiedlicher Meinung, ob die englische Regierung noch zu großen Taten in der Lage sei, vgl. Brief Butler an Thomas vom 17.11.1928, Butler Archives 65 sowie Brief Thomas an Butler vom 25.12.1928. 94 AP 377. Siehe in diesem Zusammenhang auch den Schlußbericht des britischen Enquete-Ausschusses für Industrie und Handel (sog. BalfourKomitee), der am 29.01.1929 vorgelegt wurde; deutsche Version davon in: Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Arbeitsleistung, Bd. 2, Berlin 1929. Das Balfour· Komitee sprach sich für eine Revision des WAZ aus. Butler kritisierte vorallem, daß die Sachverständigen die Ergebnisse der Londoner Konferenz anscheinend gänzlich unberücksichtigt gelassen hatten, Aufzeichnung, o.D., Butler Papers XI 1/7/1 Jacket 1. 34 Note for the Directorvom 11.02.1929, Butler Archives 65. 35 Ebd.; vgl. auch den Briefwechsel zwischen Butler und Donau Ende Januar/Anfang Feb~ar, Butler Papers XC 25/1/1. Note for the Director ebd .. 37 Brief Butler an Donau vom 02.03.1929. Butler Papers XC 24/1/1. 38 R. Lowe, "Hours of Labour .. .". S. 266.

VI. Die Ablehnung der Revision 1929/30

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caractere un peu exceptionnel".39 Da Steel-Maitland die Präsenz seines französischen Kollegen ausdrücklich begrüßte, einigte man sich schnell darüber, daß Fontaine zwar wie üblich den Vorsitz im Verwaltungsrat übernehme, jedoch nicht selbst abstimmen werde. Damit waren die von England in früheren Fällen erhobenen Bedenken gegen eine neutrale Leitung der Sitzungen durch einen Delegierten der französischen Regierung beseitigt.40 Auch der RAMinister nahm an der Märztagung teil; Thomas hatte ihn nachdrücklich darum gebeten.41 Ebenso das Reichskabinett Die Reichstagswahlen vom Mai 1928 hatten zu Stimmengewinnen für die Linksparteien geführt, so daß Hermann Müller (SPD) am 28.06.1928 eine große Koalition bildete. Der bisherige RAMinister Brauns schied aus dem Kabinett aus und wurde durch Rudolf Wissell ersetzt.42 Obwohl das WAZ für den ADGB weiterhin nur "ein Mindestprogramm auf dem Gebiet der Arbeitszeit" war43, forderte man von einer SPDgefiihrten Regienmg dessen Ratifizierung an erster Stelle."" Im Unterschied zu früher verknüpfte die neue Regierung in ihrer Erklärung vom 03.07.1928 ihre Ratifikationsabsicht nicht mehr mit der Ratifikation in anderen Ländern. Zweideutig hingegen blieb, was mit der Passage gemeint war, die Regierung werde "in den internationalen Verhandlungen an der Beseitigung der hinsichtlich der Revision dieses Abkommens zur Zeit bestehenden Ungewißheit und der seiner allgemeinen Ratifizierung entgegenstehenden Hindernisse mit allen Kräften mitarbeiten".45 "Veut-on dire, que l'on cherchera a ecarter les Obstades que cree UD projet de revision, OU qu'on ecartera !es obstacles par Ia revision meme ...", schrieb deshalb Thomas zweifelnd an Donau und bat ihn, bei Wissell vorsichtig zu gegebener Zeit präzisere Auskünfte einzuholen.~6

BriefThemas an Fontaine vom 05.03.1929, 94 AP 379. Ebd.; Brief Themas an Loucheur vom 05.03.1929, CAT 6C-7·5 = 94 AP 379. Brief an Wissell vom 06.03.1929, CAT 7-729. 42 Zur Person Wissels vgl. David E. Barclay, "Rudolf Wissel als Sozialpolitiker 1819- 1933", Berlin 1984. 43 Protokoll der Verhandlung des 13. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, 03.09.07.09.1928, Berlin 1928; Entschließung Nr. 1 zum Tagesordnungspunkt Nr.2. Leipart sprach der Ratifikation gar eine "praktische Bedeutung" ab, "wenn nicht vorher oder doch gleichzeitig ein entsprechendes deutsches Arbeitszeitgesetz erlassen wird ... •, S. 88. 44 Schreiben Müller-Lichtenberg an Leipart zu den Forderungen für ein sozialdemokratiscßes Regierungsprogramm, ADGB DOKUMENTE 191. 4 Die Regierungserklärung ist abgedruckt in: "50. Sonderheft ...", S. 106. Bei der Vorbereitung hatte Reichswirtschaftsminister Curtius darauf bestanden, "den Ausdruck der 'vorbehaltlosen' Ratifizierung zu vermeiden", Ministerbesprechung vom 29.06.1928, AdR Nr. 2. 46 Schreiben vom 07.07.1928, CAT 5-2-6(B). 39

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Am 20.11.1928 billigte das Kabinett einen umgearbeiteten Arbeitsschutzgesetzentwurf, den Wissell zwei Monate später dem Reichstag zuleitete.47 Kurz darauf, am 22.02.1929 legte er sein Ratifikationsgesetz vor. In der Begründung plädierte er für die bedingungslose Ratifikation des WAZ. Die Annahme des Übereinkommens in Deutschland sollte weder von der Revision noch von der Ratifikation in anderen Ländern abhängig gemacht werden.48 Seine vom früheren RAMinister abweichende Vorgehensweise49, die bei Reichswirtschaftsminister Curtius (DVP) natürlich Widerspruch hervorrie~, begründete Wissell mit dem Argument, es entstünden bei einer Ratifikation keinerlei Nachteile für Deutschland. Zum einen könne Deutschland nach erfolgter Revision einem 'neuen', revidierten Übereinkommen ebenfalls beitreten. Andererseits seien zwar gewisse Unstimmigkeiten zwischen dem WAZ und dem im Entwurf vom Kabinett verabschiedeten Arbeitsschutzgesetz nicht zu leugnen. Doch halte er eine Beanstandung durch die ILO für "sehr unwahrscheinlich".51 Außerdem könnten die übernommenen Verpflichtungen ab 1931 durch Kündigung ohne weiteres wieder rückgängig gemacht werden. Diese Umstände trugen entscheidend dazu be~ daß der neue RAMinister im Unterschied zu seinem Vorgänger auf die Wünsche Thomas einging, ein Staat möge die Verantwortung für seine Interpretation des WAZ vor den internationalen Gremien übernehmen.52 Am 07.03.1929 beriet das Kabinett aus Anlaß des englischen Memorandums, in dem 15 revisionsbedürftige Punkte aufgeführt worden waren, über die Frage einer Ratifikation und die Stellung Deutschlands bei der kommenden Verwaltungsratssitzung.53 Wegen der "reparations-politischen Bedeutung der Fragen"- am 11.02. hatten in Paris die Beratungen der Sachverständigen unter Leitung Owen Youngs begonnen54 - regte Reichsfmanz47

S. Bischoff, S. 152.

48 22.02.1929, R 43 1/2060, BI. 228 ff; Brief Donau an Butler vom 28.02.1929, Butler Papers

X~ 24/1/1.

4 Vgl. BriefThemas an Butler vom 07.11.1928, 94 AP 377. In diesen Zusammenhang gehört auch, daß das RAM 1929 eine umfassende Darstellung der bisherigen Geschichte des WAZ u~ der Bemühungen um dessen Ratifikation herausgab, das "50. Sonderheft ...". Schreiben vom 04.03.1929. R 43 1/2060. BI. 253. Curtius hielt es für "dringend notwendig", bi!: zur Erklärung des englischen Arbeitsministers im Verwaltungsrat abzuwarten. 1 Schreiben des RAMinisters an die Reichskanzlei vom 05.03.1929, R 43 1/2074, BI. 276 ff. 52 Diese Bereitschaft verkündete Wissen auch im Verwaltungsrat, GB (11.03.1929), S. 20. Als der englische Arbeitgebervertreter konkrete Widersprüche zwischen WAZ und Arbeitsschutzgesetz (z.B. der Ausschluß kleiner Unternehmen) nannte, S. 24, entgegnete Weigert, Deutschland sei bereit, jeden Zweifel über die korrekte Anwendung des Übereinkommens im Rahmen des vorgesehenen Kontrollverfahrens zu lösen, mithin auch ei.ße Entscheidung des StiGH zu akzeptieren, S. 30. R 43 1/2074, BI. 283 f. 54 Zum Zusammenhang zwischen Reparationsverhandlungen und Arbeitszeit vgl. die Aktennotiz über eine Unterredung zwischen Reichsbankpräsident Dr. Schacht, der als Delegierter

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minister Hilferding (SPD) eine persönliche Teilnahme des RAMinisters an, der sich zuvor noch mit Stresemann verständigen sollte. Wissen erklärte sich hierzu bereit. In der Sache erzielte das Kabinett "auf Grund der eingehenden Aussprache" folgendes Ergebnis: Anknüpfend an die Regierungserklärung und einem Votum des RAMinisters entsprechend hielt man an der Ratifikation des WAZ fest, "sobald die innerdeutsche Gesetzgebung dem internationalen Übereinkommen angepaßt sei". Die Verabschiedung des Arbeitsschutz- und des Bergarbeitsgesetzes durch das Kabinett sei Beweis für die "materielle Einstellung der Reichsregierung zum Washingtoner Übereinkommen".55 Aus taktischen Gründen jedoch sollte der RAMinister in Genf erklären, "daß die Reichsregierung sich an der Verhandlung über die Revisionswünsche beteiligen werde". Denn es sei "nicht angängig", den Vorschlägen "eines so großen Landes wie Groß-Britanniens sich von vorne herein zu widersetzen". Neben Respekt vor dem politischen Gewicht Englands entsprach diese Marschroute natürlich auch der koalitionspolitischen Rücksichtsnahme auf die DVP, die den Reichswirtschafts- und Reichsaußenminister stellte.56 Aber im Kern erreichte Wissell Rückendeckung für die von ihm gewünschte grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem englischen Revisionsbegehren, das wegen seines großen Umfangs und des Fehlens konkreter Alternativvorschläge nach seiner Ansicht "keine befriedigende Lösung im Wege einer Änderung des Übereinkommens erhoffen "!7, sondern vielmehr seinen nationalen Arbeitsschutzgesetzentwurf wieder in Frage stellte.58 Es bestand so die Gefahr, daß das WAZ bei einer Revision nach Englands Wünschen auch noch seinen Einfluß als "Mindestprogramm" (ADGB) auf die deutsche Arbeitszeitpolitik verlieren würde. Der arbeitszeitpolitische Grundkonsens, zu dem sich bislang alle Regierungen der Weimarer Republik, jedenfalls seit September 1924 offen bekannt hatten und dem in einer sozialdemokratischen geführten Regierung, die noch unter dem frischen Eindruck des Ruhreisenstreits stand, besondere Bedeutung zukam, sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden. Schließlich knüpfte Wissell mit der Vorlage eines Ratifikationsgesetzes an die traditionelle Haltung des ADGB an, der sich von der Ratifizierung von ILO-Konventio-

an den Pariser Verhandlungen teilnahm, und GraBmann und Tamow (ADGB), vom 23.03.1929, HiKo/NB 1n, BI. 37 f. ss Die Frage einer bedingten oder unbedingten Ratifikation blieb, wie Wissen in einer Korre~turanmerkung zum Sitzungsprotokoll ausführte. "vorbehalten", a.a.O., BI. 268. Stresemann selbst war bei der Kabinettsitzung nicht anwesend. Seine Vertreter hatten erfolglos für eine Vertagung plädiert. damit der Reichsaußenminister selbst seinen Standpunkt vo;rragen könne. 5 So Wissell in seinem Schreiben an die Reichskanzlei vom 05.03.1929 a.a.O .. 58 Ebd.; so auch Wissell auf der Sitzung des Verwaltungsrats, GB (11.03.1929), S. 19.

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neo in Deutschland vorallem eine positive Wirkung auf sozialpolitische Fortschritte in anderen Ländern versprach..YJ Kritik mußte sich der RAMinister vom deutschen Arbeitnehmervertreter im Verwaltungsrat und Mitglied des ADGB-Bundesvorstands, Hermann Müller-Lichtenberg, freilich gefallen lassen, als er die Position der deutschen Regierung in Genf erläuterte. Müller begrüßte zwar das offiZielle Bekenntnis zum WAZ, kritisierte jedoch den Vorschlag, "to embody the London agreement in a supplementary Convention or in the Washington Convention itself".60 Entsprach Wissell damit der vom Kabinett beschlossenen taktischen Marschroute, so machte dies auf Müller den Eindruck, die Regierung begnüge sich mit Lippenbekenntnissen zum WAZ und stehe nicht voll hinter dem von ihr eingebrachten Arbeitsschutzgesetz. Doch die Haltung der Regierung war nicht nur Ergebnis eines koalitionspolitischen Kompromisses, sondern bot auf internationaler Ebene vielleicht die Chance einer Zwischenlösung in der Revisionsfrage, mit der das BIT und eventuell auch die Arbeitnehmergruppe einverstanden sein konnten. Denn einer engbegrenzten, an den Londoner Beschlüssen ausgerichteten Revision, die die Akzeptanz der Konvention erhöht hätte, wollte sich nun selbst Jouhaux nicht völlig verschließen.61 Doch würde England Verantwortung für konkrete Revisionsinhalte übernehmen? Nach den vagen Andeutungen 1928, wonach Leitlinie einer Revision die Einbeziehung der Londoner Beschlüsse plus 1 bis 2 weiterer Punkte sein könnte, hatte England Anfang März ein Memorandum vorgelegt, in dem 15 revisiollsbediirftige Punkte angesprochen waren.62 Unter ihnen befanden sich fast sämtliche Probleme, mit denen sich bereits die Londoner Arbeitszeitkonferenz beschäftigt hatte. Die damals erzielten Ergebnisse wurden wieder in Frage gestellt, alternative Lösungen aber nicht aufgezeigt. Einerseits verlangte England eine Präzisierung einzelner Begriffe wie Arbeitszeit, Arbeitswoche, Arbeitsbereitschaft Auf der anderen Seite zweifelte man daran, ob Art. 5, der eine andere Verteilung der Arbeitszeit zuließ, dem englischen Bedürfnis nach Durchführung der 5-Tagewoche gerecht würde, ob die Eisenbahnen vom WAZ um faßt seien und ob Art. 6 durch eine enge Umschreibung der Voraussetzungen oder nur durch den 25 %igen Lohnzuschlag Überstunden begrenzen wolle. Hinzu kamen Detailprobleme, z.B. S9 Vgl. den Bericht Donaus an Butler vom 28.02.1929, Butler Papers XC 24/1/1, über die Außerungen Wissells im Reichstag und dessen Begründung zum Ratifikationsgesetz. 60 So Wissen. GB (11.03.1929). S. 20; der deutsche Wonlaut seiner Erklärung ist abgedruckt in: "50. Sonderheft .. .", S. 109. Müller. GB (12.03.1929), S. 32. 61 GB (12.03.1929), S. 17. 62 Der deutsche Wortlaut ist abgedruckt in: "50. Sonderheft ...", S. 197. Vgl. auch SteelMaitlands mündliche Erläuterungen. GB (11.03.1929). S: 9 ff.

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bezüglich der Bekanntgabe der täglichen Arbeitszeit im Betrieb, die angeblich von der Konvention nicht befriedigend gelöst worden waren. Im Grunde war so das englische Memorandum ein Pläyoder für eine inhaltliche Totalrevision des WAZ. Schon im Rahmen der Diskussionen über die rechtlichen Folgewirkungen einer Revision auf bestehende Übereinkommen hatten die englischen Vertreter gegenüber dem BIT unmißverständlich klar gemacht, daß jede Revision zu einer neuen, eigenständigen Konvention führen müsse.63 Sowohl in formal-rechtlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht sollte an die Stelle des WAZ eine Konvention treten, die mit der von 1919 nur noch den Grundsatz des 8-Stundentages gemein hatte. Gegen den englischen Wunsch, einem revidierten WAZ die rechtliche Form eines neuen, selbständigen Übereinkommens zu geben, hatten der deutsche und französische Arbeitsminister keine Einwände. Doch über den inhaltlichen Umfang einer Revision, dies wurde schon bei einer vertraulichen Vorbesprechung am Abend vor der Verwaltungsratssitzung deutlich, gingen die Meinungen weit auseinander.64 Mit der bloßen Einbeziehung der Londoner Beschlüsse wollte sich Steel-Maitland nicht zufrieden geben. Auch ließ er seine Ministerkollegen weiter im Unklaren darüber, welche von den übrigen Punkten des Memorandums für England wesentlich seien, wie man sich die Lösung dieser anderen Punkte denke und ob eine Ratifikation nach der Revision in England zu erwarten sei. Steel-Maitland erklärte nur lapidar, "daß er seinerseits der englischen Regierung die Ratifikation empfehlen werde, wenn die 15 Fragen des englischen Memorandums befriedigend gelöst seien" .65 Als Gründe für die Ablehung des deutschen Vorschlags nannte er dann auf der Sitzung des Verwaltungsrats die Bedenken der englischen Kronjuristen gegen die rechtliche Vereinbarkeil der Londoner Beschlüsse mit dem WAZ, so wie es von England interpretiert werde. Insbesondere das englische System der 5-Tagewoche widerspreche Art. 5 der Konvention.66 Außerdem sei die Regelung der Arbeitszeit bei den Eisenbahnen mit dem Übereinkommen unvereinbar.67 Die im englischen Memorandum aufgeführten Wünsche nach präziseren Begriffen im WAZ kamen ergänzend hinzu. Dabei hatte die 63 Brief Butler an Thomas vom 14.01.1929. Butler Archives 65. Zu den Diskussionen im Verwaltungsrat und auf der lAK. "50. Sonderheft ...", S. 115, Fußnote 2, und T. Morhard a.a.O .. 64 "Aufzeichnung über die Behandlung des Washingtoner Übereink~mens im Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes", R 431/2074, BI. 299 ff. Ebd .. 66 GB (11.03.1929), S. 8. 67 So Steei-Maitland ausdrücklich während einer Debatte im Unterhaus, die sich an die Genfer Tagung anschloß, "50. Sonderheft ...", S. I 13.

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in London nicht ausdrücklich geklärte Frage, ob Art. 6 regelmäßige Überstunden zuließ, natürlich einen besonderen Stellenwert. Summa swnmarum: "If we embodied in a British Act of Parlament the points contained in the London Agreement, we should not be entitled then to ratify the Convention. On the contrary, we should under British canons of interpretations be debarred from doing so".68 Diese von Steei-Maitland vorgebrachten rechtlichen Hindernisse basierten jedoch auf einer politischen Prämisse: England war nicht bereit, seinen nationalen status quo auf dem Gebiet der Arbeitszeitpolitik an das Reglement der mit seiner Zustimmung im Jahre 1919 verabschiedeten Konvention anzupassen. Zu groß war die Kluft zwischen der arbeitszeitpolitischen Realität und den Normen eines Übereinkommens, deren Verwirklichung sogar der Rechtsberater der Labour Regierung im Jahre 1930 als "fatal to British industry" bezeichnen sollte.cJJ Das WAZ widersprach also nicht nur den Interessen der Arbeitgeber an einer möglichst großzügigen Arbeitszeitregelung, sondern es tangierte nach britischer Sichtweise auch Besitzstände der Arbeitnehmer, z.B. bei den Eisenbahnen und bei der 5-Tagewoche. Daß die Londoner Konferenz durch sehr weitgehende Interpretationen hier eine Brücke zu schlagen versucht hatte, anerkannte Steel-Maitland. Auch sträubte er sich nicht mehr gegen eine gesetzliche Regelung der Arbeitszeit in England. Doch, bestimmend für seine Unnachgiebigkeit im März 1929 war die abweichende Auslegung der Konvention durch seine Rechtsberater sowie der verständlicherweise fehlende politische Wille, tiefgreifende Veränderungen arbeitszeitpolitischer Strukturen vorzunehmen, nur um eine ILO-Konvention ratifiZieren zu können, deren wesentlicher Reforminhalt von der Realität in England teilweise schon überholt worden war. Die Labour Party, die wenige Monate später die Regierungsgewalt übernahm, sollte vor den gleichen Schwierigkeiten stehen. Nachdem im Verwaltungsrat schnell klar geworden war, daß das von England eingebrachte Memorandum keinen Stimmungsumschwung zugunsten einer Revision bewirkt hatte 70, wäre es Steel-Maitland "zweifellos das Liebste gewesen, wenn ein solcher Antrag auch von anderer Seite nicht gestellt und die Entscheidung somit auf eine So Steel-Maitland, GB (11.03.1929), S. 8. Repon of Mission to London in Connection with the Ratification of the Washington E~t Hour.; Convention, von Phelan vom 08.02.1930, CAT 5-64-2-3. Während sich Frankreich, Belgien und Spanien für den deutschen Vorschlag aussprachen, lehnten die Arbeitnehmergruppe und Italien eine Revision ab. Polen, Schweden, Kanada, Indien, und Japan wollten eine Revision nicht grundsätzlich ausschließen, unter.;tützten aber auch nicht ausdrücklich den englischen Vor.;chlag, der lediglich bei den Arbeitgeber volle Zustimmung fand, "Aufzeichnung .. ." a.a.O.; GB (11.03.1929), S. 11 ff. 68

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spätere Sitzung vertagt worden wäre".71 Doch die Arbeitgeber ebenso wie die Arbeitnehmer drängten auf eine Entscheidung. Wie erwartet, wurde eine entsprechende Resolution des indischen Arbeitgebervertreters Khaitan mit 12 zu 9 Stimmen abgelehnt.72 Für Überraschung sorgte dann, daß ein Vertagungsantrag Englands, der zuvor in der Beratung der Regierungsgruppe angekündigt worden war73 und der auch die Zustimmung Thomas gefunden hatte74, nicht die erforderliche Mehrheit erhielt. Während England, Deutschland, Spanien, Schweden, Polen, Kanada, Indien und Japan für den Antrag stimmten (8), lehnten ihn die Arbeitnehmergruppe, Belgien und Italien ab (8). Neben der Arbeitgebergruppe enthielt sich auch der französische Regierungsvertreter der Stimme und gab damit den entscheidenden Ausschlag. Wissell berichtete später, der französische Regierungsvertreter habe entsprechend einer Weisung seines Ministers gehandelt, "keinesfalls gegen die Arbeiter und gegen Belgien und Italien zu stimmen".75 Ein ähnlicher Vertagungsantrag Polens fiel ebenfalls durch (10 zu 7). So ging der Verwaltungsrat im März 1929 auseinander, ohne eine Entscheidung in der Sache getroffen und einen neuen Termin hierfür bestimmt zu haben. Der Bericht des BIT über die Durchführung des WAZ blieb einstweilen unerledigt liegen. Denn die Geschäftsordnung und Art. 21 WAZ forderten eine abschließende Stellungnahme des Verwaltungsrats über die Revision erst im Jahre 1931, also 10 Jahre nach lokrafttreten des Übereinkommens. Doch Thomas kündigte in seinem Schlußwort an, das BIT werde schon vor Ablauf dieser Frist neue Lösungsvorschläge unterbreiten. Der neue Text, den man schon nach kurzer Zeit und durch Aufnahme der Londoner Beschlüsse in das WAZ erstellt hatte76, wurde jedoch nicht mehr Gegenstand der Verhandlungen. Nach dem Wahlsieg der Labour Party erklärte der englische Regierungsvertreter nämlich auf der IAK am 10.06.1929, "that His Majesty's Government in Great Britain propose to take the necessary steps to ensure at the earliest possible moment the ratification of the Washington Hours Convention".n Das damit in Aussicht gestellte Arbeitszeitgesetz sollte sowohl dem WAZ als auch den Londoner Beschlüssen Rechnung tragen. Butler erkannte deshalb ganz recht, daß nun weniger die Ausarbeitung einer "Aufzeichnung ..." a.a.O .. GB (12.03.1929), S. 42. Nur die Arbeitgeber, England, Kanada und Indien stimmten dafür, dagegen waren die Arbeitnehmergruppe und 6 Regierungen, unter ihnen Deutschland, Frankreich, Italien und Belgien, "Der Arbeitgeber" Nr. 7 vom 01.04.1929. Ein ähnlicher Ant~ Lamben-Ribots erhielt gar nur 7 Ja-Stimmen. "Aufzeichnung ..." a.a.O .. 74 GB (12.03.1929), S. 45. 15 "Aufzeichnung ...", a.a.O. Da Argenlinien an der Verwaltungsratssitzung nicht teilnahm, addierten sich alle Stimmen zusammen nur auf 23 statt der 24 sonst best~Jiten Ve!Waltungsratsmitglieder. Vgl. Note für Phelan, vom 22.05.1929, D 601/2010/01/0, S. 105. n ILC 1929 (Minutes), S. 205. 71 72

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

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revidierten Konvention Ziel der Bemühungen des BIT sein müsse, als vielmehr die Frage, " to secure the drafting of a satisfactory bill for presentation to the British Parliament".78 Mehrmals reisten Thomas, Butler und Phelan nach Londen, um bei der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes behilflich zu sein, der endlich England einer Ratifikation näher bringen sollte. Obwohl Miss Bondfield, die neue Arbeitsministerin, immer wieder versicherte, spätestens Ende des Jahres liege der Entwurf vor, war offensichtlich, "qu'elle a rencontre de nombreuses difficultes".79 Thomas seinerseits war ab Herbst 1929 entschlossen, "< qu' > il faudra evidemment presser pourque, COUte que COUte, SOUS n'importe quelle forme, on aboutisse au depöt du Bill et a son vote. Apres cela, l'affaire ne depend plus, pour ainsi dire, que de nous, et nous Ia trancherons·.~ In ihrem Zögern und in den auftauchenden inhaltlichen Problemen - "le scroupule juridique ou politique" - unterschied sich die neue Labour Regierung kaum von ihren konservativen Vorgängern im Amt: Die Abneigung der Ministerialbeamten und der Widerstand der Arbeitgeber gegen das WAZ, die auch von den neuen Rechtsberatern vorgetragenen rechtlichen Einwände und die von Teilen der Gewerkschaften befürchtete Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen durch eine Ratiftkation. 81 Ein vom Kabinett eingesetzes Komitee formulierte dies in seinem Bericht Mitte Oktober mit folgenden Worten: "lt is not practical to propose a Bill which would give full effect to the Washington Convention without arousing very serious opposition not only from employers' Organisations, but also from trade unions. This opposition, moreover, would be on points were it would not be in the interests of the workers themselves or industry generally to alter the existing practice ... Therefore the right line to follow is to prepare a Bill which will be based on British conditions and ... will contain the substance of the Convention. A Bill on these lines can we think be so framed as to give - what adherence to the Iitera! terms of the Convention will not give the prospect of leading the way to international agreement in the future". 82 Daß ein nationales Gesetz nicht die volle, buchstäbliche Anpassung an das WAZ bringen würde, war für Thomas kein großer Schaden. Im Gegenteil, die Erfahrung der gescheiterten, strengen Gesetzentwürfe Tom Shaws 78 79

Note für Thomas vom 05.06.1929, D 601/2010/01/0. S. 107. Note personneile von Thomas (Renexions sur Je voyage Londres, 29. sept. - 2. oct.), CAT

5~-2-1.

Ebd .. Ebd.; Brief Phelan an Thomas vom 05.07.1929 und handschriftlicher Brief o.D., 94 AP 384; Brief Thomas an Butler vom 23. und 26.07.1929, 94 AP 377; "Hours Convention", Note von Butler für Thomas vom 19.11.1929. CAT 5-64-2-3; Note personneHe von Thomas vom 20.01.1929 ebd.; Note (von Thomas) sur mon voyage ä l..ondres, 24.01.1930, CAT 5-64-2-1. 82 Zitiert nach R Lowe, "Hours of Labour .. .", S. 258. 81

VI. Die Ablehnung der Revision 1929/30

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lehrte flexiberes Vorgehen. Zumal aus internationaler Warte gesehen, in erster Linie die Vorlage eines Arbeitszeitgesetzes entscheidend war; bei sich anschließenden Ratifikationsdebatten, nun, "s'il faut leur accorder quelque chose, on Je fera". 83 Miss Bondfield, die sehr empfindlich vorallem auf Interventionen Thomas reagierte84, versprach dennoch Butler auf sein Drängen hin, ihren Gesetzentwurf noch vor Weihnachten 1929 einbringen zu wollen.85 Obwohl das BIT beständig an diese Zusage erinnerte86, kam es laufend zu Verzögerungen87, bis endlich Mitte April 1930 der Gesetzentwurf fertig gestellt war.81 Zuvor hatte Edward Phelan in langen Besprechungen mit Vertretern des Arbeitsministeriums, den Rechtsberatern, dem TUC und den Gewerkschaften der Eisenbahner und Straßentransportarbeiter erfolgreich auf einen Grundkonsens hingearbeitet, der ein Arbeitszeitgesetz, das die wesentlichen Inhalte des WAZ übernahm und als Schritt zur Ratifikation gelten konnte, tragen sollte.89 Dabei hatte sich als besonders problematisch erwiesen, den Wünschen der Eisenbahner nach einer Garantie für die in den Tarifverträgen von 1919 zugestandenen günstigen Arbeitsbedingungen Rechnung zu tragen. Zwar hatte man zusammen mit dem BIT bereits im Vorfeld der Londoner Konferenz 1926 eine Klausel erarbeitet, die Bestandteil eines Gesetzentwurfs einer zukünftigen Labour Regierung sein sollte und die die Eisenbahner damals als Bestandsgarantie zufrieden gestellt hatte. Doch zusammen mit Vertretern der Eisenbahngesellschaften wurden die Eisenbahner erneut bei Miss Bondfield vorstellig und rollten das bereinigt geglaubte Thema wieder auf.90 Phelan, der von Walter Citrine (Generalsekretär des TUC) stark unterstützt wurde, gelang es indessen, Reflexions sur Je voyage Londres a.a.O .. Vgl. Brief Thomas an Jouhaux vom 09.12.1929, CAT 7-453. Thomas bat deshalb Jouhaux mit seinen Freunden oder über den IGB in London Einfluß auszuüben. Vgl. auch Brief Thomas an Bondfield vom 09.12.1929, CAT 5-64-1-1. 85 Note von Butler für Thomas vom 19.11.1929, a.a.O .. 86 Brief Thomas an Bondfield ebd.; Brief Thomas an Sanders vom 06.12.1929 und o.D., 94 Af, 323: Brief an Tom Shaw (Kriegsminister) vom 09.12.1929, CAT 6C-7-4. 7 "Je comprends que l'assurance-chömage ait presente un caractcre d'urgance paniculier. Je comprends que Ia Joi des mines. elle aussi, etait urgente. Je comprends, je comprends tout!", beklagte sich Thomas, der an den rechtlichen und politischen Problemen der Arl>eiterregierußg mit der Arbeitszeitfrage schier verzweifelte, Tomas an Sanders o.D., a.a.O .. "Rapport moral. La duree du travail dans l'industrie", von Milhaud, Februar 1931, CAT 6 Ia question a ete traite a fond a Paris ... < et que > les delegues alJemands .. ont tenus beaucoup a ce systeme ... < et > qu'il lui est impossible d'aller plus loin que ce qu'il suggere, c'est-a-dire une phrase sur Ia convention de Washington dans l'exposee des motifs".u19 Auch der Direktor sah darin eine ausreichende Garantie für die Forderungen der Eisenbahner. Zumal er deren Befürchtungen für übetrieben hielt110 und vermutete, das RAM nutze die Gunst der Stunde ohnehin nur "pour des objectifs un peu autres que Ia journee de huit heures". 111 Was er damit im einzelnen meinte, ob möglicherweise die Verhandlungen über die Annahme des Youngplanes und die Herabsetzung der Reparationslast, blieb unklar. 112 Jedoch dürften die langwierigen Verhandlungen in London 1926, in denen Brauns eine Sonderregelung wegen der Daweslasten für die Eisenbahnen erzielen wollte, dem Direktor noch lebhaft in Erinnerung gewesen sein. In seinem Abschlußbericht fügte das Komitee dann einen kurzen Vorspann ein, "exprimant l'avis que Ia reglementation prevue du temps du travail ne fait pas obstacle a Ia ratification de Ia convention de Washington". 113 Damit war im Unterschied zum Dawesplan 1924 in der neuen Reparationsregelung von 1929 ausdrücklich eine gewisse Verbindung zum Problem der Arbeitszeit hergestellt.

107 BriefThemas an Benhelot vom 25.10.1929, CAT 7-89. 108 Persönlicher und vertraulicher Briefvom 17.10.1929, CAT 5-2-2-11 = 94 AP 390. 109 Note vom 23.10.1929, CAT 5-2-2-11. 110 Brief an Donau vom 15.11.1929, CAT 5-2-7. 111 Brief an Donau vom 07.11.1929 ebd. Vgl. auch Brief Thomas an Benhelot vom 25.10.1929 a.a.O .. 112 Donau schrieb am 11.11.1929. CAT 5-2-7, an Thomas. man bedecke in Berlin 'die Sache mit einem geheimnisvollen Schleier". Siehe in diesem Zusammenhang auch den Aktenvermerk Donaus vom 31.10.. ebd., über eine Unterredung des Belgisehen Senators Franc;ois mit Sitzler, der dabei auf die Schwierigkeiten hinwies, "die für die Ratifikation des Achtstundenübereinkommens in Deutschland in Folge der Pariser Verhandlungen über das Reichsbahngesetz entstehen können'. Franc;ois hatte auch mit Reichsfinanzminister Hilferding konferiert und angekündigt, Belgien werde das WAZ kündigen, wenn Deutschland nicht ratifziere. Hilferding habe daraufhin das Kabinett zum Handeln veranlaßt, vgl. Note von Thomas vom 15.10.1929 a.a.O. Gallois schrieb an Donau und bat um weitere Informationen, vgl. den Brief vom selben Tag. CAT 5-2-3. Doch Donau wußte auch nichts Genaueres zu berichten, Brief vom 22.10.1929. CAT 5-2-7. Außerdem wurde ein Beamter des RAM, ein Herr Steinmann, in dieser Angelegenheit nach Genf geschickt. Donau war hierüber nur sehr allr.fmein unterrichtet, vgl. Brief an Thomas vom 11.11.1929 a.a.O.. 1 Auschnitt eines Briefes von Benhelot an Thomas vom 15.11.1929, CAT 5-2-7.

D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

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Doch die Ratifikation durch Deutschland blieb unter der sozialdemokratisch geführten Regierung ebenso aus wie die Verabschiedung des Arbeitschutzgesetzes. Nach einer Erhebung des ADGB arbeiteten Anfang 1930 nur mehr 17,2 % dererfaßten Gewerkschaftsmitglieder länger als 48 Stunden. 114 Gleichzeitig stieg die Zahl der Arbeitslosen bis September 1930 sprunghaft auf 3 Millionen an. Die Forderung nach drastischer Arbeitszeitverkürzung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurde immer lauter. 115 Die nationale wie internationale Einführung der 40-Stzmdenwoche rückte in den Mittelpunkt des Geschehens. Die von der englischen Regierung 1928 beantragte Revision des WAZ fand nicht statt. Hatte der Verwaltungsrat im März 1929 durch die unterbliebene Beschlußfassung bereits eine Vorentscheidung getroffen, so lehnte er im Juni 1930 formell eine Revision ab. 116 Neben der Arbeitnehmergruppe plädierten der deutsche und französische Regierungsvertreter sowie der Direktor für diese Entscheidung. In ihr sah man eine Stärkung des in Deutschland und England eingeschlagenen Ratifikationskurses.117 Der englische Regierungsvertreter enthielt sich bezeichnenderweise sowohl eines Redebeitrags als auch der Stimmabgabe. Im November 1930 trafen, sehr zum Mißfallen des Direktors, der neue RAMinister Stegerwald (Zentrum) und Miss Bondfield zu einem privaten Gespräch zusammen, um angeblich nur über verwaltungstechnische, nicht aber Interpretationsprobleme im Hinblick auf die in beiden Ländern vorgesehene Ratifikation zu diskutieren. "Is there then at this time some new idea of private bargaining, or some unexpected proposal put forward? ... Are we now threatened with negotiations which will once again introduce an element of uncertainty into efforts already underway towards ratification and legislation?", schrieb Thomas besorgt an Bondfield.118 Die Arbeitsministerin suchte ihn zu beruhigen und riet Thomas dringend von einer sofortigen Reise nach London ab, weil diese privaten Gespräche dadurch nur eine unangemessene Bedeutung bekämen oder gar mit einer Neuauflage der Londoner Konferenz verwechselt würden. 119 Thomas, dem die Empfindlichkeilen gegenüber Interventionen aus Genf wohl bekannt waren, hielt sich dar-

T. I..eipan, "Die 40-Stundenwoche ..:. S. 200. Ebd.; Note sur mon (Thomas) voyage ä Dresde et a Berlin du 20 au 22 octobre 1930 (yespräch mit Leipan und Müller), 28.10.1930, CAT 5-2-3. 16 GB (14.06.1930), S. 538 ff. Die schwedische Regierung hatte einen detaillierten RevisiO~ftntrag gestellt. Vgl. Thomas, a.a.O .• S. 538. 118 Briefvom 08.11.1930, CAT 5-64-1-1: vgl. auch Brief Donau an Thomas vom 06.11.1930, D 114 115

~~2000/19. 1

Brief Bondfield an Thomas vom 17.11.1930, CAT 5-64-1-1.

VI. Die Ablehnung der Revision 1929/30

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aufbin zurück.120 Entscheidende Impulse für die Ratifikation gingen von diesem Londoner Treffen nicht aus. Im Mittelpunkt der Reise des RAMinisters stand auch ein anderes Thema: Die Frage einer internationalen Regelung der Arbeitszeit im Bergbau. 121 Damit wurde deutlich, daß sich in den internationalen Verhandlungen nicht nur die Einführung der 40-Stundenwoche als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern auch ein "industryby-industry approach" in der Arbeitszeitfrage Bahn gebrochen hatte.

120 Brief an Bondfield vom 27.11.1930, ebd .. der aber wohl nicht abgeschickt wurde. In einem weiteren Brief vom 07.03.1931 finden sich neben vorsichtigen Anregungen und Argumentation~hilfen auch Versatzstücke des Briefes aus dem vergangeneo Jahr. 1 1 Vgl. insbesondere Entrevue du Directeur avec M. Shinwell, SCcretaire d'Etat pour les mines, au Departement des Mines, a Londres, le 5 septembre 1930, CAT 5-64-2-1; vertrauliche Aufzeichnung vom 29.11.1930 über die Besprechung des RAMinisters mit der englischen Regierung über die Kohlen frage, R 43 1/2075, BI. 21 ff. 27 GrabhcrT

VII. Bis zum Austritt Deutschlands aus der International Labour Organisation im Jahre 1933 Nachdem die ILO bereits seit 1926 spezielle Untersuchungen zu den Arbeitsbedingungen im Kohlenbergbau eingeleitet hatte und im Juni 1930 die Verabschiedung eines Übereinkommens über die Arbeitszeit im Steinkohlebergbau gescheitert war, weil man sich über eine Höchstgrenze für Überstunden nicht hatten einigen können1, kam endlich 1931 eine Konvention für diesen Industriezweit zustande. Obwohl das Übereinkommen auf Regierungsebene zwischen Deutschland, England, Polen und anderen europäischen Industriestaaten eingehend vorberaten worden war, trat die Konvention dennoch nicht in Kraft. Hierzu hätten wenigstens 2 der in § 18 aufgeführten Staaten, nämlich entweder Deutschland, Belgien, Frankreich, England, die Niederlande, Polen oder die CSR, ratifizieren müssen. Wie schon beim WAZ, wollte jedoch niemand mit einer unbedingten Ratifikation vorangehen. Nicht nur Deutschland war der Ansicht, aus Konkurrenzgründen käme allenfalls eine gemeinsame Ratifikation durch die genannten Länder in Frage.3 Zwar stand man auf deutscher Seite zunächst dem Grundgedanken des Übereinkommens, wonach eine arbeitszeitpolitische Vereinbarung im Kohlenbergbau "eine wirtschaftliche Verständigung der Kohleproduzenten Europas vorbereiten und erleichtern sollte", grundsätzlich sympathisch gegenüber.4 Doch die Realität sah anders aus. Zwei Monate vor Beginn der Lausanner Konferenz, bei der die Reparationsfrage erneut zur Verhandlung stand, wollte der RAMinister einer Ratifikation nur unter dem Vorbehalt zustimmen, "daß eine Nachprüfung des deutschen Standpunkts bei ungünstigem Ausfall der Reparationsverhandlungen möglich 1 Vgl. oben Kapitel V. 2. Während England maximal 60 Überstunden pro Jahr zugestehen wollte, hatte Deutschland auf einer höheren Zahl bestanden und, als dies nicht durchzusetzen war, gegen den Entwutf gestimmt: vgl. vertrauliche Aufzeichnung über eine Besprechung des RA.Ministers mit der englischen Regierung über die Kohlenfrage vom 29.11.1930, R 43 1/2075, ~n~ Miteingeschlossen war mittlerweile der Braunkohlebergbau, vgl. den Uberblick in dem Schreiben des RA.Ministers und Außenministers vom 25.11.1932 an den Reichstag. R 43 1/}075, BI. 14 ff. Schreiben des RAMinisters und Außenministers ebd.. 4 Schreiben des RAMinisters an die Reichskanzlei vom 09.10.1931, R 43 1/2075, BI. 68 ff unter Berufung auf eine Besprechung mit Vertretern des Reichswirtschaftsministeriums, des Auswärtigen Amts und des Preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe.

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VII. Bis zum Austritt Deutschlands 1933

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bleibt" .5 Das Kabinett billigte diese Erklärung6 und der RAMinister reiste damit nach Genf. Der Reichswirtschaftsminister hatte seine zuvor ablebenende Haltung gegen diese bedingte Zustimmung aufgegeben, nachdem ihn Sitzler an die bislang positive Einstellung Deutschlands während der Vorverhandlungen erinnert hatte, und die Entscheidung, ob die tatsächlichen Voraussetzungen des Vorbehalts später als erfüllt angesehen werden könnten, ausdrücklich dem Kabinett vorbehalten worden war. Auf der IAK im April1932 zeigte sich dann, daß die auswärtige Arbeitszeitpolitik offen in den Dienst d~r Revisionspolitik gestellt worden war. Die deutsche Regierung unterstützte eine von der Arbeitnehmergruppe eingebrachte Resolution, die den Direktor des BIT aufforderte, "sich dafür einzusetzen, daß zu der bevorstehenden Konferenz in Lausanne der Völkerbund und die Internationale Arbeitsorganisation eingeladen werden, um ihrerseits zu einer endgültigen Regelung der Reparations- und der politischen Schuldenfrage beizutragen".' Im Unterschied zum Sommer 1924, als die offizielle Politik der deutschen Regierung bestrebt war, die Verhandlungen über den Dawesplan vor jeder verzögernden Einflußnahme aus dem Bereich der Internationalen Sozialpolitik abzuschirmen, und im Unterschied auch zum März 1926, als Brauns vorallem unter Berufung auf eine rechtliche Pflichtenkollision zwischen dem WAZ und dem Dawesabkommen bei den Eisenbahnen das Dilemma deutscher Erfüllungspolitik aufzeigte, machte sich die Brüning-Regierung 1932 den Wunsch der ILO nutzbar, auch bei allgemein politischen und wirtschaftlichen Fragen ein sozialpolitisches Wort mitzureden. Man mag die Außenpolitik der Präsidialkabinette (1930 - 1932) als "Großangriff auf Versailles" titulieren.8 Doch soweit der Überschneidungsbereich Reparations- und Internationale Arbeitszeitpolitik betroffen ist, knüpfte die deutsche Revisionspolitik lediglich eine engere Bande mit dem von Tlzomas seit jeher vertretenen Ziel einer möglichst umfassenden Rolle des BIT und der ILO innerhalb des intemationalen Staatensystems. "Je crois qu'il sera de politique avisee", schrieb er z.B. im Juli 1928 an Donau, "de meler plus que jamais, comme nous l'avons fait toujours, nos affaires du Bureau aux grandes affai-

5 Erwähnt in einem Schreiben des Reichswirtschaftsministers an die Reichskanzlei vom 04.04.1932, R 43 1/2075, BI. 125. Der Reichswirtschaftsminister betrachtete den Vorbehalt als "praktisch wertlos" und hatte gegen eine positive deutsche Erklärung auf der kommenden Regierungskonferenz über die Frage der Ratifikation des Übereinkommens in Genf aus wirtschaftlichen und reparationspolitischen Gründen "schwerste Bedenken". 6 Ministerbesprechung vom 14.04.1932, R 43 1/2075, BI. 137. 7 Bericht des Wolffschen Telegraphenbüros Nr. 920 vom 30.04.1932, R 43 1/2075, BI. 140. 8 So der Titel des entsprechenden Kapitels bei Peter Krüger, "Außenpolitik ...".

27•

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

res de politique internationale: c'est le meilleur moyen de leur donner vie et autorite".9 Während auf der Konferenz von Lausanne im Frühsommer 1932 das Ende der Reparationszahlungen Deutschlands eingeleitet wurde, führten selbst weitere Verhandlungen auf Regierungsebene nicht zu einer Ratifikation der Konvention über die Begrenzung der Arbeitszeit im Koblenbergbau. Deutschland erklärte auf einer Tagung in Genf im Februar 1933, daß man "sich bei aller Bereitwilligkeit zur Mitarbeit an einer gemeinsamen Ratifikation durch die wichtigsten Kohlenländer solange nichts versprechen könne, als das Ergebnis durch Störungen auf den Gebieten der Währung, des Kapitals- und des Warenverkehrs jederzeit wieder in Frage gestellt werden könne; .. glaube daher, daß man über die Ratifizierung mit Erfolg erst nach Behebung dieser Störungen verhandeln könne" .10 Damit war die Wirtschaftspolitik zum allein dominierenden Faktor geworden. Als sich die ökonomischen Verhältnisse allmählich stabilisierten, verhinderten tiefgreifende Störungen in den politischen Beziehungen zur ILO eine weitere Mitarbeit Deutschlands (siehe unten). 1935 wurde die Konvention überarbeitet, doch erhielt auch das neue Übereinkommen nicht die für ein lokrafttreten notwendige Zahl an Ratifikationen. Das gleiche Schicksal ereilte die Übereinkommen über die Verkürzung der Arbeitszeit bei öffentlichen Arbeiten von 1936 und in der Textilindustrie von 1937. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verabschiedete die IAK ferner Übereinkommen über die Begrenzung der Arbeitszeit für Angestellte (1930), für Arbeiter bei den Tafelglashütten (1934), bei den Flaschenglashütten (1935) und im Straßentransport (1939; revidiert im Jahre 1979).11 Diese Liste verdeutlicht, daß die Arbeitszeitfrage ab 1930 immer mehr einem "industry-by-industry approach" unterlag. Diese Entwicklung entsprach sowohl den Interessen der englischen 12 als auch der deutschen Regierung.13 Ihren Ausgangspunkt hatte sie schon 1926, mit dem Beginn der BIT-Spezialuntersuchung in Sachen Bergbau, einem Industriezweig, der eigentlich zum Geltungsbereich des WAZ gehörte. Die Washingtoner Konvention von 9 CAT 5-2-6(8). Auf der IAK 1932 sprach der deutsche Regierungsvenreter Grieser 111omas ausdrücklich den Dank für seine Unterstützung der Resolution aus. 0 Bericht Neitzels, "Die Vorbereitende Genfer Arbeitszeitkonferenz", in: Reichsarbeitsblatt II, Nr. 7 (05.03.1933), S. 100 ff. 103. Vgl. auch die Ministerbesprechung vom 16.02.1933, AdR 22. 1 Vgl. Internationales Arbeitsamt. "Zusammenfassungen Internationaler Arbeitsnormen•, Genf 1990, S. 113 ff. 12 Vgl. R Lowe, "Hours of L.abour ...", S. 259. 13 Gespräch Thomas mit Sitzler vom 12.03.1932, Note personneHe vom 14.03.1932, CAT 5-23. Gespräch Henseler mit Staatssekretär Grieser, Note von Henseler vom 19.08.1932, Henseler Papiere 13c.

Nr

Vll. Bis zum Austritt Deutschlands 1933

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1919, deren Revision der Verwaltungsrat 1930 abgelehnt hatte, wurde auch durch die fortschreitende wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung überholt. Am 05.06.1931 wurde die Reichsregierung durch Notverordnung ermächtigt, mit Zustimmung des Reichsrats die regelmäßige Arbeitszeit auf wöchentlich 40 Stu11de11 herabzusetzen und die tarifvertragliche Mehrarbeit von einer behördlichen Genehmigung abhängig zu machen.14 Die wirtschaftliche Notlage hatte demnach nicht nur drastische Arbeitszeitverkürzungen sondern auch einen stärkeren staatlichen Eingriff in die Tarifautonomie, die Brauns während der Londoner Konferenz auf internationaler Ebene und gerade an diesem Punkt noch erfolgreich gestärkt hatte, notwendig gemacht. 1932 beantragte der italienische Regierungsvertreter im Verwaltungsrat eine Sondertagung der ILO, um der im Dezember stattfmdenden Weltwirtschaftskonferenz Vorschläge für eine internationale Arbeitszeitverkürzung unterbreiten zu können.1s Das BIT hatte hiergegen Bedenken zeitlicher und finanzieller Art. Im September/Oktober 1932 beschloß deshalb der Verwaltungsrat für den 10.01.1933 eine "Vorbereitende Probleme der Konferenz zum Studium der technischen Bei einer Arbeitszeitverkürzung" nach Genf einzuberufen. 16 Vorbesprechung des RAM mit anderen Reichsressorts und den Landesregierungen am 23.12.1932 zeigte sich schon, daß man auf deutscher Seite die Aussichten für ein Zustandekommen eines Obereinkommens über die Einfiil!nmg der 40-Stundenwoche "nicht sehr hoch" einschätzteP Trotzdem wollte Deutschland aktiv an der Ausarbeitung einer neuen Konvention mitwirken. Auf der "Vorbereitenden Konferenz" im Januar 1933 bekundete daraufhin Sitzler diesen Willen und deutete die Bereitschaft an, "falls notwendig, soweit als möglich auch Konzessionen zu machen".18 Wie vorhergesehen faßte die Vorkonferenz aber lediglich eine Resolution, in der die Arbeitszeitverkürzung als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gewürdigt und weitere Vorberatungen für eine entsprechende Konvention S. Bischoff, S. 156 ff. Schreiben des RAMinisters an die Reichskanzlei und sämtliche Reichsministerien vom 08.09.1932, R 43 1/2075, BI. 142. Siehe auch Ministerbesprechung vom 17.09.1932, AdR Nr. 146, Fußnote 2. Note von Henselervom 19.08.1932 a.a.O .. 16 Schreiben des BIT an das RAM vom 17.11.1932, R 431/2075, BI. 149. 17 So Sitzlees Aufzeichnung über diese Besprechung, R 43 1/2075, BI. 153 ff. Vgl. auch Sitzler, "lbe International Reduction of Hours of Work", in: "International Labour Review", Vol. XXVI, Nr. 6 (Dezember 1932), S. 765 ff. International Labour Office, "Hours of Work and unemployment. Repon to the Preparatory Conference, January", Geneva 1933. Die Rede Sitzlers wurde von der VDA am 16.01.1933 an den RAMinister zusammen mit scharfer Kritik an den Ausführungen des Ministerialdirektors übersandt, AdR Nr. 58. Siehe auch Schreiben der VDA an den Staatssekretär der Reichskanzlei vom 25.01.1933, R 43 1/2073, BI. 159. 14

IS

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

angekündigt wurden.19 Als sich die IAK im Juni 1933 erneut mit diesem Thema befaßte, blockierte die Mehrzahl der Regierungsvertreter und der deutsche "Arbeitnehmervertreter", der diese Bezeichnung nach der Zerschlagung der Gewerkschaften durch die NSDAP nicht mehr verdiente, ein konkretes Ergebnis. Erst im Jahre 1935 verabschiedete die IAK eine Konvention zur Einführung der 40-Stundenwoche. Zu diesem Zeitpunkt war Deutschland schon nicht mehr Mitglied der ILO. Wenige Tage nach Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes befaßte sich das "Neue Reichskabinett" erstmals mit den Beziehungen zu der Genfer Organisation. Auf der Tagesordnung stand die Frage eines fmanziellen Beitrags zu einem Denkmal für den am 07.05.1932 verstorbenen ersten Direktor des BIT, Albert Thomas. RAMinister Seldte (parteilos) schloß sichtrotz einiger Bedenken in seiner Kabinettsvorlage einem positiven Votum des Reichsaußen- und Reichsfinanzministers in dieser Sache an. Diese hatten die Auffassung vertreten, es sei "nach Lage der Dinge für die Reichsregierung schwerlich möglich .., eine finanzielle Beteiligung an den Kosten des Denkmals schlechtweg abzulehnen, zumal Thomas während seiner Tätigkeit als Direktor des Internationalen Arbeitsamtes, für die ja die Ehrung gedacht ist, doch im ganzen für die deutschen Interessen ein gewisses Verständnis gezeigt habe".20 Das Kabinett lehnte jedoch den vorgesehenen Kostenanteil in Höhe von 1.000 Reichsmark ohne weitere Debatte ab. Auch ein knappes Monat später konnte sich der RAMinister mit einer weiteren Vorlage im Kabinett nicht durchsetzen. "Nach kurzer Aussprache" wurde beschlossen, daß eine Vertretung Deutschlands durch den 1931 zum Arbeitnehmervertreter gewählten Freien Gewerkschafter, Wilhelm Leuschner, im Verwaltungsrat "nicht stattfinden solle".21 Suspendieren konnte das Hitler-Regime Leuschner von seinem Amt nicht. Denn dieser war von der Arbeitnehmergruppe der IAK, nicht aber von der Regierung zum Verwaltungsratsmitglied bestellt worden. Leuschner legte erst im Frühjahr 1934, nachdem er in Schutzhaft genommen worden war, sein Mandat nieder. 22 Hatten sich damit schon im März/April 1933 die Beziehungen zur ILO erheblich verschlechtert, so kam es bei der JAK im Juni 1933 zum Eklat. Da als stimmführender Vertreter der deutschen Arbeitnehmer der DAF-Führer Robert Ley vorgesehen war, dem als Technischen Berater u.a. Otte (Gesamtverband der Christlichen Gewerkschaften) und Leuschner, wohl19

Vgl. Neitzel, "Die Vorbereitende Genfer Arbeitszeitkonferenz" a.a.O ..

20 Kabinettssitzung vom 29.03.1933, AdR Nr. 77. Die Kabinettsvorlage des RAMinisters ist

in der Fußnote 28 hierzu auszugsweise wiedergegeben. 21 Kabinettssitzung vom 22.04.1933, AdR Nr. 103. 22 Vgl. zu seiner Person und weiteren Lebensgeschichte Joachim Leithäuser, "Wilhelm Leuschner. Ein Leben für die Republik", Köln 1962

VII. Bis zum Austritt Deutschlands 1933

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gemerkt in seiner Funktion als Verwaltungsratsmitglied, beigeordnet waren, war vorauszusehen, daß die Arbeitnehmergruppe der IAK wie bislang jedesmal im Fall des italienischen Arbeitnehmerdelegierten die Gültigkeit des deutschen Arbeitnehmermandats bestreiten würde.23 Anlaß für einen Ab· bruch der Beziehungen zur ILO sollte dies jedoch nicht sein. Das Reichskabinett stimmte einem Vorschlag des RAMinisters zu, die gesamte deutsche Delegation nur dann zurückzuziehen, wenn sich auch die Mehrheit der IAK hinter die Forderungen der Arbeitnehmergruppe stellen würde.1A Zwar trat dieser Fall nicht ein, doch führten das derbe Auftreten und Provokationen von Ley, der auf einer Pressekonferenz erklärt hatte, die Vertreter der südamerikanischen Staaten sähen aus, "als 'habe man sie mit einer Banane aus dem Urwald gelockt'"25, zum Ausschluß der deutschen Arbeitnehmervertreter von den Sitzungen der Arbeitnehmergruppe. Das RAM und das Auswärtige Amt internvenierten daraufhin bei der Reichskanzlei und forderten die Abberufung von Ley. 26 Wenige Tage später, noch vor Ende der IAK kehrte Ley nach Berlin zurück; mit ihm allerdings die gesamte Deutsche Delegation. In einer Erklärung vom 19.06. hatte man zwar den großen Wert betont, den Deutschland "auf freundschaftliche Beziehungen zur Bevölkerung aller Länder, insbesondere auch zu den südamerikanischen Staaten ", und damit den außenpolitischen Schaden zu begrenzen versucht. Doch "überaus schwere Beleidigungen gegen Deutschland und seine Delegierten" wurden als Begründung vorgeschoben, um die weitere Mitarbeit auf der IAK einzustellen.27 Bei der Rückreise der deutschen Delegation wurde der Arbeitnehmervertreter Leuschner in Freiburg verhaftet. 211 Am 19.10.1933 trat Deutschland aus dem Völkerbund aus. Kurz darauf wurde dem Direktor des BIT mitgeteilt, daß dies auch das Ende der Mitgliedschaft in der ILO bedeutete.29 23 Vgl. Schreiben des RAMinisters an den Staatssekretär der Reichskanzlei und an sämtliche Reichsminister vom 02.06.1933, auszugsweise wiedergegeben in: AdR Nr. 156 ( Kabinettsitzung vom 08.06.1933), Fußnote 27. 1A Kabinettssitzung ebd .. 25 Zitiert nach Leithäuser, S. 122. Vgl. auch Niederschrift des RAM über die 17. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf, 12.08.1933, AdR Nr. 203, insbesondere Fußnoten 9 und 10. Leys Dementi verhinderte nicht, daß die Arbeitnehmergruppe "in Zukunft jede Berührung mit ihrem Beleidiger vermeiden ", Presseerklärung der ArbeitnehmergQ!ppe ebd.. 26 Siehe die Stellungnahme von Staatssekretär von Bülow, am 17.06. dem Staatssekretär der Reichskanzlei übermittelt, AdR Nr. 203, Fußnote 11. Von Bülow beklagte sich über die durch das Verhalten von Ley eingetretene "vollständige Isolierung• Deutschlands und die Kränkung der südamerikanischen Vertreter. Als Wiedergutmachung erschien dem Auswärtigen Amt dahe~ "einer dieser Stimmung Rechnung tragende sichtbare Maßnahme ... dringend geboten". 2 Erklärung der deutschen Delegation. zitiert nach AdR Nr. 203, Fußnote 12. Zu der Beanstandung des Mandats des Österreichischen Arbeitnehmervertreters 1935 siehe A.-K Tikriti, S.J31 f. Letztendlich bestätigte die JAK mit 75 zu 28 Stimmen dessen Mandat. 29 Vgl. zum weiteren Fortgang die Ministerbesprechung vom 12.09.1933, AdR Nr. 209. A.a.O., Fußnote 13.

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D. Internationale Arbeitszeitregelung in Europa

18 Jahre später nahm die Bundesrepublik Deutschland die Beziehungen zur ILO, nunmehr einer UN-Sonderorganisation, wieder aufO, obwohl sie erst 1973 zusammen mit der ehemaligen DDR Mitglied der Vereinten Nationen wurde. Wie schon nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, so schlug nun im Jahre 1951 die auswärtige Sozialpolitik Deutschlands die erste politische Brücke zwischen Bonn und Genf bzw. New York.

30 Vgl. Johannes Schregle, "Die Bundesrepublik Deutschland und die Internationale Arbeitsorganisation. Rechtsfragen eines deutschen Wiedereintritts", (Diss.) Bonn 1950.

E. Ein kurzes Resümee Im Jahr 1925 beschrieb Albert Thomas seine Aufgabe als Direktor des 1919 neugegründeten Bureau International du Travail mit den Worten: "Like a Wandering J ew of social progress, I go all over the world ... only too happy ... if I can carry back in my big despatch-case the ratification of some international Convention or the draft of some national bill which means a small step forward towards the just and peaceful organization of the world".1 Zwar konnte Thomas die Ratifikation des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens, der ersten, 1919 von der Internationalen Arbeitskonferenz verabschiedeten Konvention, von England und Deutschland nicht bzw. von Frankreich nur bedingt erreichen. Der Direktor aus Genf mit seinem Koffer, in dem sich immer eine "Note personnelle" zum 8-Stundentag befand, wurde jedoch bei seinen Reisen nach London, Berlin und Paris zum Schrittmacher der arbeitszeitpolitischen Reform. Gleichzeitig entwickelte sich das Bureau International du Travail unter seiner Regie zu einem politisch aktiven und einflußreichen Faktor der Internationalen Sozialpolitik und beanspruchte bei allen internationalen Fragen ein sozialpolitisches Mitspracherecht. In den Anfangsjahren suchte vor allem Frankreich den sozialpolitischen Zuständigkeitsbereich der International Labour Organisation zu begrenzen und z.B. durch Abschluß eines separaten Arbeitszeitabkommens mit Belgien das neuartige, tripartiäre Beschlußverfahren zu unterlaufen. Gegen diese Anfechtungen setzte sich die ILO erfolgreich zur Wehr. Nicht zu verhindern war jedoch, daß die englische Regierung schon knapp zwei Jahre nach Verabschiedung der Arbeitszeitkonvention einen Antrag auf Revision stellte. Ihre Kritik am Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen beruhte auf traditionellen Vorbehalten gegenüber einer gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit und den besonderen Interessen der Eisenbahnarbeiter, die nach einer Ratifikation nur eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen befürchteten. Obwohl in England der 8-Stundentag durch Tarifverträge weitgehend eingeführt war, zeigte sich, daß die tatsächliche Durchführung der arbeitszeitpolitischen Reform aus Sicht der Internationalen Sozialpolitik 1

Albert TI10mas. "International Social Policy", Geneva 1948, S. 14.

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noch nicht genügte. Denn formelle Einflußrechte konnte die International Labour Organisation nur gewinnen, wenn Staaten ihre Konventionen ratifizierten und damit die völkerrechtliche Verantwortung vor dem im Statut der ILO vorgesehenen Untersuchungs- und Kontrollmechanismus übernahmen. Es hatte Rückwirkungen (vgl. die Arbeitsministerkonferenzen der Jahre 1924 I 1926) auf die tripartiäre Struktur der ILO, daß die Hälfte der Schöpfer sozialpolitischer Normen nicht gleichfalls für deren Ratifizierung und Implementation verantwortlich waren. Thomas, der vom Verwaltungsrat zu politischen Verhandlungen mit England beauftragt wurde, versteifte sich 1921 I 1922 nicht auf den Text von 1919. Er lotete neben den Vor- und Nachteilen auch die praktischen Möglichkeiten einer Revision aus. Dabei gehörte es von nun an zum Leitmotiv seiner Politik, eine Revision "ins Blaue hinein" zu vermeiden. Diese hätte auch nur heftigen Widerspruch bei der Arbeitnehmergruppe provoziert und damit das Verhältnis der ILO zu einem ihrer wichtigsten Bundesgenossen erschüttert. Der Direktor forderte deshalb konkrete Veränderungswünsche, die nach Möglichkeit in nationalen Arbeitszeitgesetzentwürfen ihre Grundlage haben sollten. Da dies 192211923 ebensowenig durchzusetzen war wie eine Kompetenz des Verwaltungsrates zur Interpretation des WAZ, sicherte die ILO durch die Ablehnung der Revision in sozial- und wirtschaftspolitisch schwierigen Zeiten mit der Arbeitszeitkonvention einen Wegweiser für die 8-Stundentagsreform. Der empfehlende und für nationale Arbeitszeitregelungen richtungsgebende Charakter des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens, den die ILO, Thomas und seine Mitarbeiter beständig in Erinnerung riefen, prägte die Jahre zwischen 1920 und 1930. In einer Note ohne Datum formulierte Thomas dies mit den Worten: "Ne pas oublier de marquer l'effet indirect de l'existence de Ia convention des 8 heures; bien qu'elle ne soit pas toujours indiquee, elle est toujours presente dans l'esprit de ceux qui font revision ou recul, etc..."2 1924 wurde das Jahr, in dem die ILO sowohl gegenüber der englischen als auch der deutschen Arbeitszeitpolitik entschlossen und in erheblichem Maße Einfluß ausübte. Im Dezember 1923 hatte die deutsche Regierung eine Arbeitszeitverordnung erlassen, die weitgehende Durchbrechungen des ·8-Stundentags erlaubte. Dies war die innenpolitische Kompensation der Reichsregierung für ihre außen- und finanzpolitisch motivierte Weigerung, das Eintreten der Schwerindustrie in staatliche Reparationsverpflichtungen (vgl. MICUM-Verträge) durch Barzahlungen zu entschädigen. Daneben hatte das englische Revisionsbegehren vom Juli 1921, mit dem der Zeit2 Cat 6C-7-1.

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punkt einer allgemeinen Ratifikation des WAZ auf unbestimmte Zeit verschoben worden war, neben der katastrophalen wirtschaftlichen Lage den legitimatorischen Begfeitschutz für die Forderungen der deutschen Arbeitgeber nach einer nationalen Verlängerung der Arbeitszeit geliefert und deren Durchsetzungskraft gestärkt. Auf internationaler Ebene und insbesondere aus Genfer Sicht wurde Deutschland, der einstige "Musterknabe" der Sozialpolitik, zum "bösen Buben" auf dem Gebiet der Arbeitszeit. Man befürchtete einen arbeitszeitpolitischen Flächenbrand in ganz Europa. Hinzukam, daß die neue, von der Labour Party geführte Regierung in England aus innenpolitischen Gründen im Februar 1924 eine Arbeitszeitkonferenz plante, von der statt einer Interpretation mehr der Beginn einer schrankenlosen Revision des WAZ zu erwarten war. Thomas und Butler setzten deshalb alle Hebel in Bewegung und brachten im Verein mit der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale England dazu, das Vorhaben zu diesem Zeitpunkt aufzugeben. Als England wenig später dem BIT ein eigenständiges, sozialpolitisches Mitspracherecht im Rahmen der Reparationsverhandlungen verweigerte, war dies Revanche, aber auch Demonstration nationaler Staatsräson gegenüber dem Neuling aus Genf, der sich in klassische Bereiche der Außenpolitik einzumischen drohte. Die Idee einer Minister- und Interpretationskonferenz über das WAZ, die ursprünglich von Thomas im Anschluß an die Revisionsdiskussionen entwickelt worden war, bestimmte indes die kommende Phase der internationalen Arbeitszeitverhandlungen. Zu einer Rücknahme der Arbeitszeitverordnung von 1923 konnte die ILO Deutschland nicht bewegen. Indem von Genf der Funke ausging, der die öffentliche Debatte in Deutschland über die Arbeitszeitfrage erneut entfachte, und indem eine Verbindung mit dem Problem der Reparationen hergestellt wurde, geriet aber 1924 die deutsche Regierungspolitik erheblich unter Druck. Höhepunkt war die Internationale Arbeitskonferenz vom Juni 1924. Mit einer Resolution sollte die Reparationskommission auf die sozialpolitischen Folgen ihrer Entscheidungen aufmerksam gemacht werden. Brauns, der trotz der Ruhrbesetzung von 1923 und mit Rückendeckung des Auswärtigen Amts den Draht nach Genf nicht hatte abreißen lassen, suchte die Verhandlungen über die Annahme des Dawesplanes vor zusätzlichen Bedingungen und Verzögerungen aus der sozialpolitischen Sphäre abzuschirmen. Damit gab er sein strategisches Ziel, den grundsätzlichen Anspruch Deutschlands auf eine Herabsetzung der Reparationsforderungen wegen zu hoher sozial- und arbeitszeitpolitischer Folgelasten nicht preis.

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Auf ein Schreiben des RAM hin wies das Auswärtige Amt die Deutsche Botschaft in London im Mai 1924 sogar an, den Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Reparationen bei den Gesprächen über den Dawesplan "in vorsichtiger Weise" einzuflechten, nachdem die englische Labour Regierung deutlich signalisiert hatte, sie würde entsprechenden Informationen aufgeschlossen gegenüberstehen. Und in inoffiziellen Gesprächen so z. B. mit Thomas im Juni 1924 sprach Brauns das Reparationsthema immer wieder an. Doch mit der Rede des englischen Regierungsvertreters auf der IAK erhielt der Zusammenhang zwischen Reparationen und Arbeitszeit eine für die deutsche Politik unangenehme Wendung. Denn Rhys Davies vertrat die These, daß der im April 1924 vorgelegte Dawesplan von der Einhaltung des 8-Stundentages in Deutschland ausgehe und die Höhe der Reparationsforderung auf dieser Grundlage berechnet worden sei. Um zu vermeiden, daß man mit der Annahme des Dawesplanes auf Umwegen auch eine internationale Verpflichtung zur Übernahme des 8-Stundentages einging, mußte die deutsche Regierung den Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Reparationen in der Öffentlichkeit herunterspielen. Dadurch bestand aber zugleich die Gefahr, Spielraum für eine arbeitszeitpolitisch motivierte Revisionspolitik ab Herbst 1924, die eine solche "linkage" gerade voraussetzte, zu verlieren. Obendrein erschien die deutsche Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923 dadurch als arbeitgeberfreundliches Ergebnis innenpolitischer Machtkämpfe und bot so der internationalen Kritik eine offene Flanke. Den Verlauf der IAK 1924 bezeichnete Brauns daher als "Scherbengericht über Deutschland". Auf der anderen Seite kamen gerade die vom französischen Arbeitsminister auf der IAK in Genf propagierte weitherzige Interpretation des WAZ und eine vom BIT geplante Arbeitszeitkonferenz der deutschen Minderheitsregierung in ihrer bedrängten Lage sehr zu paß. Der für die Annahme des Dawesplanes notwendige außenpolitische Konsens der Parteien beruhte auf einem Stillstand innenpolitischer Konfrontation. Den immer lauter werdenden Forderungen der SPD und der (Freien und Christlichen) Gewerkschaften nach Arbeitszeitverkürzung (vgl. Plan eines Volksentscheids und Interpellationen im Reichstag zum WAZ), die damit der DNVP-Zollvorlage ihr sozialpolitisches Alternativprogramm gegenüberstellten, konnte die Regierung mit der Ankündigung entgegenkommen, man wolle an den bevorstehenden internationalen Arbeitszeitverhandlungen konstruktiv mitwirken, plane danach Veränderungen an der Arbeitszeitverordnung von 1923 und arbeite auf eine Ratifikation hin. Dies beruhigte die Gemüter, brachte Zeitgewinn und verhinderte eine für die Annahme der Dawesgesetze gefährliche innenpolitische Polarisierung. Obendrein entsprach eine flexible Arbeitszeitregelung a Ia fran~aise den sozialpolitischen Überzeugungen des RAMini-

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sters und der Christlichen Gewerkschaften. Die ersten Vorbereitungsarbeiten für ein neues Arbeitszeitgesetz im Spätsommer 1924 orientierten sich folgerichtig an der französischen Regelung und arn WAZ. Das BIT unterstützte nicht nur die Resolution der IAK, sondern trug sein wegen der Reparationsverhandlungen brisantes - arbeitszeitpolitisches Anliegen der englischen und französischen Regierung auch unmittelbar vor. Ein entsprechendes Memorandum wurde dem französischen Ministerpräsidenten Herriot sogar nach London nachgesandt. Außerdem drängte Thomas bis Mitte Juli 1924 auf die umgehende Einberufung einer Konferenz zur Interpretation des WAZ. Um eine Lösung der Reparationsprobleme nicht unnötig zu gefährden, ließ der Druck des BIT mit Beginn der Londoner Reparationskonferenz spürbar nach. Im Zusammenhang mit der Reparationsproblematik traten aber auch Widersprüche in der Politik des BIT zutage. Der französische Direktor geriet unter den Einfluß der Reparationsforderungen Frankreichs. Er brachte den, für die weitere Diskussion bedeutenden Gedanken ins Spiel, Deutschland könne selbst nach erfolgter Ratifikation vorübergehende Arbeitszeitverlängerungen zur Ablösung der Reparationsschuld unter Berufung auf Art. 14 WAZ rechtfertigen. Thomas versuchte dadurch das sozialpolitische Interesse des BIT und der Arbeitnehmergruppe an einer Ratifikation mit den reparationspolitischen Forderungen seiner Landsleute in Einklang zu bringen und Deutschland die Ratifikation trotz Reparationslasten zu ermöglichen. Mit dieser Politik der Diagonale, die unterschiedliche sozialpolitische und wirtschaftliche Interessen auszutarieren suchte und auf die besondere Lage Deutschlands als Reparationsschuldner Rücksicht nehmen wollte, arbeitete Thomas auf ein harmonisches Gleichgewicht zwischen den tragenden Kräften der ILO hin. Konfrontationen und offene Machtkämpfe zwischen Staaten und gesellschaftlichen Gruppen, wie dies im Gefolge der Ruhrbesetzung der Fall war, erschütterten das Fundament, auf dem der Direktor eine souveräne und durchsetzungsfähige Organisation der Arbeit gründen wollte. Doch setzte die Politik der Diagonale gleichzeitig die Konvention der Gefahr aus, bei allen ökonomischen Schlechtwetterlagen in Zukunft wirkungslos zu sein. Darüberhinaus wurden Zweifel an der von Arbeitnehmerseite immer vertretenen These laut, Arbeitszeitverkürzungen führten nicht zu einer Verminderung der Produktion und seien deshalb ökonomisch gesehen vertretbar. Schließlich sah England in solch (Reparations-) zweckgebundenen Arbeitszeitverlängerungen zu allererst eine Bedrohung seiner Wirtschaft durch "soziales Dumping" aus Deutschland. Im September 1924 trafen sich die Arbeitsminister aus Deutschland, England, Frankreich und Belgien in Bern, um über die Auslegung des WAZ zu

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diskutieren und eine eiuheitliche Linie zu erarbeiten. Deutschland nahm nach Kriegsende zum ersten Mal wieder ~·o11 Anfang an als gleichberechtigter und in der Sache mitentscheidender Verhandlungspartner an einer Regierungskonferenz mit Vertretern der allüerten Siegermächte teil. Die sozialpolitische Isolierung Deutschlands, die in Genf zwei Monate zuvor vor aller Augen in Erscheinung getreten war, blieb ein einmaliges Ereignis. Bern 1924 gab so den sozialpolitschen Auftakt für das Konzert der europäischen Mächte, das mit Locarno 1925 seinen außenpolitischen Schlußakkord fand. Obwohl sich die Arbeitsminister in Bern bei vielen Detailproblemen einig wurden und alle Seiten einer Verständigung aufgeschlossen waren, kam ein endgültiger Konsens in Kernfragen, wie z.B. bei Art. 14 nicht zustande. Da Deutschland eine Kontrolle seiner nationalen Arbeitszeitbestimmungen durch die ILO vermeiden wollte, bestand Brauns während des Treffens auf einer genauen Festlegung der im WAZ statuierten Pflichten. Eine Verständigung der "Großen Vier" bot Deutschland Sicherheit vor Überraschungen bei einem, nach der Ratifikation möglichen Untersuchungs- und Sanktionsverfahren gemäß Art. 409 ff Versailler Friedensvertrag. Präventive Verhandlungen auf internationaler Ebene schützten nach einer Ratifikation vor repressiven Eingriffen der ILO in Kernbereiche der nationalen Gesetzgebung. Intemationale Verhandlungen berührten gleichzeitig die tripartiäre Struktur der International Labour Organisation. Hatte das BIT das Berner Treffen noch in eigener Regie organisiert, so wurde die Arbeitszeitkonferenz vom März 1926 von der englischen Regierung einberufen und durchgeführt. In separaten Vorverhandlungen mit Deutschland und Frankreich bereitete der englische Arbeitsminister im Sommer 1925 die Konferenz vor. Zeitweise verlor das BIT jeden Einfluß auf den Gang des Geschehens. Erst massive Interventionen gegenüber dem französischen Arbeitsminister stellten sicher, daß sich dieser für eine Rolle Genfs als "partie agissante" einsetzen wollte. Außerdem bedeutete die Zustimmung der französischen Abgeordnetenkammer zu einer bedingten Ratifikation des WAZ Mitte 1925 einen sozialpolitischen Fortschritt und eine Sicherung für den Bestand des WAZ.

Die englische Regierung - gedrängt durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber hatte bei ihrer Konferenzinitiative 1925 vor allem eine Angleichung der Arbeitszeitbedingungen in Deutschland und Frankreich an den hohen englischen Standard im Auge. Zwar wollte die ILO mit der Ratiftkation ihrer Konventionen auch ein einheitliches Niveau der Arbeitsbedingungen erreichen und so einen unfairen, auf dem Rücken der Arbeitnehmer ausgetragenen Konkurrenzkampf der Wirtschaft sowie eine protektionistische Ab-

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schottung der Märkte vermeiden. Doch gefährlich wurde die englische Initiative für Genf insofern, als man über die tatsächlichen Arbeitszeitverhältnisse in den verschiedenen Ländern sprechen wollte, das WAZ immer mehr in den Hintergrund drängte und ein neues, zwischen den Regierungen vereinbartes Arbeitszeitabkommen als Zielvorstellung auftauchte. Um diese "kalte Revision" und eine Unterminierung seiner tripartiären Struktur zu verhindern, suchte das BIT Unterstützung bei Frankreich, Belgien und Italien. Gleichzeitig signalisierte Thomas gegenüber dem englischen Arbeitsminister, daß das BIT einer Revision des WAZ nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehe. Die Revision der Arbeitszeitkonvention innerhalb der ILO oder zumindest die Sanktionierung eines in London erarbeiteten Interpretationsprotokolls durch die JAK brachte Genf bei den Arbeitszeitverhandlungen wieder mehr ins Spiel. Sie beugte einer faktischen Revision der verfassungsrechtlichen Struktur der ILO durch ständige Regierungskonferenzen und einer Entwertung des WAZ durch Gespräche über arbeitszeitpolitische Tatsachen vor. Mit dieser Politik schwächte das BIT aber das von ihm immer wieder vorgetragene Argument, einheitliche Arbeitszeiten in Europa würden zum Abbau von Handelsschranken führen. Denn vom außenwirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen war es sinnvoller, sich über arbeitszeitpolitische Fakten zu verständigen, als einen akademischen Streit über einzelne Artikel einer Konvention zu führen, deren Ratifikation noch erhebliche Zeit in Anspruch nehmen würde. Die Bedeutung der ILO hingegen wuchs mit jeder zusätzliche Ratifikation eines von ihr verabschiedeten Textes- sei es in der Version von 1919 oder in einer revidierten Fassung. In Deutschland hielten die Vorbereitungen auf die Londoner Konferenz die Arbeitszeitpolitik für mehrere Monate in der Schwebe. Erst im April 1926 legte die Regierung ihren lange angekündigten Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes vor. Für die im März beginnende Londoner Arbeitszeitkonferenz hatte man sich gut gewappnet. Die Richtlinien für die Verhandlungsführung, die das Kabinett ausdrücklich genehmigt hatte, ließen eine deutliche, reparationspolitische Handschrift erkennen. Der RAMinister sollte nicht nur eine weite Interpretation von Art. 14 erreichen, sondern seinen Ministerkollegen auch klar machen, daß Deutschland an der eigentlich gewünschten Ratifikation nach Annahme des Dawesplans durch die fehlende Verfügungsgewalt über die Arbeitszeitverhältnisse bei den Eisenbahnbetrieben gehindert sein könnte. Während der Konferenz sprach Brauns, der dabei auf die Unterstützung von Thomas rechnen konnte, beide Probleme vorsichtig im Ton, aber unmißverständlich in der Sache an. Er schärfte so das Bewußtsein seiner Ministerkollegen für die sozialpolitischen Folgelasten der bestehenden Reparationsregelung, ohne jedoch durch intransigentes Verhalten Empörung und Ablehnung hervorzurufen. Für die

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deutschen Inter~~c;en von w~sentlichem Gewinn war ferner, daß die anderen Arbeitsminister und Thomas bekundeten, man "wolle zu einem gegebenen Zeitpunkt größeren Wert auf die Aufrechterhaltung des Washingtoner Abkommens als auf die restlose Durchführung des Sachverständigenplans ". Trotz großer Zugeständnisse, die Brauns um eines allgemeinen Konferenzerfolges willen machte, gelang es aber selbst nach mehrstündigen Sonderverhandlungen zwischen Deutschland und England nicht, eine endgültige Einigung zu Art. 14 zu erreichen. Der Zusammenhang des noch ungelösten Problems der interalliierten Schulden mit dem Komplex Reparationen und Arbeitszeit sowie die schwebende Krise im Kohlenbergbau hielten England von einer Zustimmung zu der von den übrigen Teilnehmern gefundenen Kompromißlösung ab. In dem zum Abschluß der Konferenz veröffentlichten Interpretationsprotokoll wurde erkennbar, daß sich die Arbeitsminister ansonsten auf eine Flexibilisierung und Erweiterung der im WAZ festgelegten Möglichkeiten zur Arbeitszeitverlängerung geeinigt hatten. Das in Artikel 6 Abs. 1 vorgesehene aufwendige staatliche Genehmigungsverfahren für Überstunden, das der Arbeitsminister des faschistischen Italiens energisch verteidigt hatte, fand keine Anerkennung. Stattdessen gewann der 25 %ige Lohnzuschlag für Überstunden als international konsensfähiges Mittel der Arbeitszeitbegrenzung an Bedeutung. Brauns hatte dem gesetzlich verbindlichen Überstundenzuschlag sein Plazet erteilt, weil die Konferenz im Gegenzug die Möglichkeiten der tarifvertragliehen Vereinbarung von Überstunden größeren Raum gab, als es eine wörtliche Auslegung des WAZ erlaubt hätte. Somit war das Londoner Resultat nicht nur das internationale Pendant zur kompensatorischen Arbeitszeitpolitik des RAM, die Arbeitszeitverlängerungen durch Lohnzugeständnisse ausglich. Sie bedeutete gleichzeitig eine Rückenstärkung für die Tarifautonomie in Deutschland. Der RAMinister paßte seinen Arbeitsschutzgesetzentwurf an die Londoner Beschlüsse an. Das 1927 vom Reichstag verabschiedete Arbeitszeitnotgesetz gestaltete dann an einem wesentlichen Punkt die Arbeitszeitbedingungen in Deutschland nach dem Vorbild des WAZ und den Ergebnissen der Londoner Arbeitszeitkonferenz: Mehrarbeit wurde mit einem 25 %igen Lohnzuschlag belegt. Da das Gesetz jedoch die Freiheit einer tarifvertraglich anderweitigen Regelung ausdrücklich anerkannte, knüpfte es insofem nicht an den 1926 auf internationaler Ebene erzielten Kompromiß an, sondern bestätigte den an der Tarifautonomie ausgerichteten arbeitszeitpolitischen Kurs des RAMinisters. Für die ILO war London aus 2 Gründen ein Erfolg: Einerseits war die Konferenz nicht zu einem "sozialen Locarno" geworden, das der ILO wie dem Völkerbund in der Sicherheitsfrage de facto die Zuständigkeit im

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Kernbereich ihrer Tätigkeit geraubt hätte. Auf der anderen Seite konnte der "Geist von Locarno", der die Konferenz prägte und zu einer Einigung der Arbeitsminister in vielen strittigen Punkten beitrug, dem Ratiflkationsprozeß in Europa neuen Schwung geben. Diese Hoffnung wurde jedoch schon bald enttäuscht. England und Italien verlängerten die Arbeitszeit und trugen somit maßgeblich dazu bei, daß der Londoner Impuls im Sande verlief. Durch die Einberufung einer Arbeitszeitkommission Ende 1926 setzte die ILO der Phase der Ministerkonferenzen ein Ende. War dies auch als Integration der Arbeitnehmer- und Arbeitgebergruppe in den Prozeß internationaler Arbeitszeitverhandlungen gedacht, so entwickelte sich die Kommission schließlich zum Ausgangspunkt einer erneuten Diskussion über die Revision des WAZ. Als 1928 die Sozialdemokratie die Regierungsgeschäfte in Deutschland übernahm, war die Ratifikation ein Ziel ihrer Sozialpolitik. Wie im Jahre 1924 spielten auch diesmal die Reparationsverhandlungen im Rahmen der Arbeitszeitfrage eine Rolle. Die Ratifikation scheiterte letztendlich, weil das Arbeitsschutzgesetz über das Stadium der parlamentarischen Diskussion nicht hinaus kam, und die Wirtschaftskrise ab 1929 das Problem der Arbeitslosigkeit in den Vordergrund rückte. Das Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen hatte aber rückblickend betrachtet ab 1924 jeder Regierung als Maßstab für eine nationale Arbeitszeitregelung gegolten. Vor einer bedingten Ratifikation nach dem Beispiel Frankreichs schreckte Deutschland indes immer zurück. Ein solcher Schritt hätte zwar den innenpolitisch sensiblen Entscheidungsprozeß über die Weimarer Arbeitszeitordnung an die Entwicklung in anderen Staaten, insbesondere Frankreichs und Englands, gekoppelt und den Klagen über eine (sozialpolitische) "Versklavung" Deutschlands durch den Versailler Diktatfrieden möglicherweise Vorschub geleistet. Doch da die Annahme des WAZ -jedenfalls ab 1925- die arbeitszeitpolitische Landschaft in Deutschland nicht radikal umgestaltet und sogar an die Internationalisierungsklausei des Stinnes-Legien-Paktes angeknüpft hätte, wäre eine bedingte Ratifikation nicht nur von Gewinn für die Internationale Sozialpolitik gewesen. Sie hätte auch arbeitszeitpolitischen Roll-backVersuchen der Arbeitgeber Schranken gesetzt und somit stabilisierend auf die junge Demokratie gewirkt. Und dies ohne den Makel staatskorporatistischer Bevormundung wie im Falle der Schlichtungsverordnung von 1923.3 Denn ins Leben gerufen hatten Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Regierungen das WAZ 1919 gemeinsam. 4 3 Zur Schlichtungsverordnung vgl. J. Bähr. S. 8ff, 345ff. Deutsche waren auf der Washingtoner Arbeitskonferenz zwar nicht vertreten, doch Bedingung des Stinnes - Legien- Paktes war die internationale Vereinbanmg des 8- Slundentags. 4

28 Grabhcn

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Die Freien Gewerkschaften sahen in der Konvention ein arbeitszeitpoliti sches Mindestprogramm. Zwar verliehen sie mit dem Plan eines Volksentscheids 1924/1925 entsprechenden Forderungen Nachdruck. Doch zeigte sich auch, daß eine vorläufige, nationale Arbeitszeitordnung - wie die seit 1923 -, wenn sie denn Spielraum für tarifvertragliche Arbeitszeitverkürzungen ließ, bei den Gewerkschaften mehr Gefallen fand als eine internationale Arbeitszeitregelung, die einen, verglichen mit 1923/24 zwar günstigeren, aber dafür auf Jahre hinaus unangreifbaren status quo festgeschrieben hätte. Die Gewerkschaften, die - vertrauend auf ihre Kampfkraft - noch weiterreichende Arbeitszeitverkürzungen durchzusetzen hofften, sahen deshalb keine unmittelbare Notwendigkeit, auf die Erfüllung der Internationalisierungsklausel des Stinnes-Legien-Paktes zu pochen. Damit hatten auch sie - freilich in geringerem Maße als die Arbeitgeber oder die Regierungspolitiker mitzuverantworten, daß wegen der ausgebliebenen Internationalisierung eines Mindeststandards die Arbeitszeitfrage nach allen Richtungen hin offen blieb und so zur Instabilität der Weimarer Republik beitrug. Darüber hinaus war das Verhältnis zwischen ADGB und ILO nicht frei von Belastungen. Als z.B. im Jahre 1925 ein vom BIT versehentlich auf französisch abgefaßter Brief den Bundesvorstand erreichte, kam es zu einem hellen Aufschrei, der schlaglichtartig den Zustand der gegenseitigen Beziehungen beleuchtete. Die Christlichen Gewerkschaften und der RAMinister konnten dagegen auf Hermann Henseler zählen, der aus ihren Reihen kam und im BIT als Bediensteter ein gewichtiges Wort mitzureden hatte. Zusätzlich vertiefte Willy Donau, der ab 1925 neue Leiter des ILO-Zweigbüros, die Kontakte zwischen Berlin und Genf. Thomas honorierte die (seit 1925) aktive Unterstützung der Christlichen Gewerkschaften für die ILO und deren Konventionen mit personalpolitischen Zugeständnissen. In England ratifizierte weder die konservative noch die von der Labour Party ab 1929 geführte Regierung die Arbeitszeitkonvention. Neben rechtlichen Gründen lag dies vorallem daran, daß die Überstundenregelung des WAZ nicht als flexibel genug angesehen wurde, daß bei den Eisenbahnern bereits fortschrittlichere Tarifverträge existierten und daß in manchen Industriezweigen die 5-Tagewoche schon gang und gäbe war. Nachdem nationale Verhandlungen über das WAZ in eine Sackgasse geführt hatten, stellte England im Jahre 1928 einen zweiten Revisionsantrag. Thomas manövrierte wie schon Anfang der Zwanziger Jahre wieder zwischen einer Revision unter Wahrung der arbeitszeitpolitischen essentialsdes WAZ ("solution cbirugicale") und dem Bemühen um eine Ratifikation des Textes von 1919. Die ILO legte zunächst ein Verfahren fest, das einer Revison ad malum Schranken setzen sollte. Danach forderte man von England außer pauschaler Kri-

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tik am WAZ künkrete Verbesserungsvorschläge. Das BIT zog sich, was uic: inhaltliche Komponente einer Revision anlangte, auf seine Funktion als Dokumentations- und Informationsstelle zurück. Zum alleinigen Protagonisten einer Revision eigener Konventionen wollte man nicht werden. Ein Staat wie England sollte endlich die Verantwortung für seine auswärtige Arbeitszeitpolitik gegenüber der ILO übernehmen, sei es im Wege der Ratifikation oder durch konkrete Revisionsvorschläge. Doch England wollte nicht einmal der von Deutschland und Frankreich favorisierten Übernahme der Londoner Beschlüsse in eine neue Konvention zustimmen. Der Verwaltungsrat lehnte 1929/1930 daher die Revision ab. Die wirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklung verlangte nach drastischeren Arbeitszeitverkürzungen: die 40-Stunden-Woche wurde zum vorrangigen Reformziel und wurde 1935 in einer neuen Konvention festgeschrieben. Im Jahr 1962 verabschiedete die IAK die Empfehlung Nr. 116. In ihr steht der Gnmdsatz der schrittweisen Arbeitszeitverkürzung sowie die 4()..Scundenwoche im Mittelpunkt. Den Mitgliedstaaten bleibt es überlassen, die Methoden selbst zu bestimmen, die der Erreichung dieses Ziels am besten dienen und "die den innerstaatlichen Verhältnissen und Gepflogenheiten sowie deri Verhältnissen in jedem Wirtschaftszweig entsprechen". Gerade die Erfahrungen mit den jahrelangen Verhandlungen um eine Ratifikation des WAZ hatten gezeigt, daß wegen der sehr unterschiedlichen Arbeits- und Produktionsverhältnisse, wegen der verschiedenartigen Formen nationaler Arbeitszeitregelung und wegen des hohen innenpolitischen Stellenwerts der Arbeitszeitfrage eine völkerrechtlich verbindliche Konvention kaum Aussicht auf Annahme in den europäischen Industriestaaten (und in den vielen neu hinzugekommenen Staaten der "Dritten Welt") haben würde. Deutschland, Frankreich und England haben bis zum heutigen Tage weder das WAZ noch das Übereinkommen von 1935 ratifiziert. Die 40-Stundenwoche hingegen hat sich in Westeuropa etabliert. Mit der fortschreitenden europäischen Integration, die sich nach den Beschlüssen von Maastricht im Herbst 1991 in Richtung einer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Union entwickelt, bekommen auch die Bemühungen um eine internationale Arbeitszeitregelung in Europa einen neuen Impuls. An die Stelle der ILO ist die EG-Kommission getreten, England spielt weiterhin eine Sonderrolle und unterschiedliche wirtschaftliche Interessen (mit Ausnahme des Reparationsproblems) charakterisieren wie schon in der Zwischenkriegszeit die arbeitszeitpolitischen Verhandlungen. Mit der Durchsetzung des Mehrheitsprinzips im Rat der europäischen Arbeits- und Sozialminister werden schon bald Institutionen entstehen, die anders als die Gespräche der Arbeitsminister 1924 / 1926 verbindliche Beschlüsse fassen 28•

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können und einer europäischen Arbeitszeitregelung die Tür öffnen. Es wird jedoch noch länger dauern bis arbeitszeitpolitische Normen in Europa nicht mehr auf Sitzungen der Arbeitsminister hinter verschlossenen Türen, sondern von einem unabhängigen, öffentlich tagenden Parlament beschlossen werden. Das Maß demokratischer Legitimation, das Internationale Arbeitskonferenzen seit Washington 1919 kennzeichnet, hat die Europäische Gemeinschaft bislang nicht erreicht. Europäische Arbeitszeitverhandlungen stehen zur Zeit in der Tradition des Berner Ministertreffens von 1924 und der Londoner Arbeitszeitkonferenz von 1926. An die innerhalb der ILO übliche gleichberechtigte Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei Fragen der Internationalen Sozialpolitik wird die Gemeinschaft wohl nie anknüpfen.

F. Anhang I. Biographien Albert 17wmas

Albert Aristide Thomas wurde am 16.06.1878 in Champigny-sur-Marne als Sohn eines Bäckers geboren. Er besuchte ·das staatliche Gymnasium Michelot in Vanves, welches seine Erfolge in den Fächer Geschichte und Geographie 1901 und 1902 mit zwei Preisen auszeichnete: Eine Reise nach Rußland sowie eine Reise zum östlichen Mittelmeer und nach Deutschland. Die Erfahrungen während dieser Reisen lieferten ihm Material für seine ersten Bücher: "La Russie race colonisatrice, impressions de voyage de Moscou a Tomsk" und "Le Syndicalisme Allemand". Der Parti socialiste fran~aise gehörte er seit deren Gründung 1902 an. Auch engagierte er sich intensiv in der Genossenschaftsbewegung. In den Jahren vor dem Krieg verteidigte er energisch die gewerkschaftliche Freiheit der Arbeiter und tat sich nicht zuletzt durch seine Beiträge in der "Humanite" und der von ihm 1905 gegründeten "Revue Syndicaliste" in der Arbeiterbewegung hervor. Die politische Laufbahn Thomas begann in seinem Geburtsort. 1905 wurde er in den Stadrat und 5 Jahre später - mit erst 32 Jahren- als Depute de la Seine in die Abgeordnetenkammer gewählt. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges organisierte er die Herstellung von KriegsmateriaL 1915 wurde er zum Unterstaatssekretär im Rüstungsministerium ernannt und übernahm 1916 das Amt des Rüstungsministers. Darüberhinaus fungierte Thomas als Vermittler zwischen Frankreich und den ersten revolutionären Regierungen Rußlands. Als Minister verlor er nicht den Kontakt mit der Arbeiterklasse. So gründete er beispielsweise im April 1916 ein Frauenarbeitskomitee, das sich u.a. das Verbot der Nachtarbeit von Frauen zum Ziel gesetzt hatte. Er wirkte außerdem an der Gründung eines Lebensmittelkooperativen-Fonds sowie an der Gründung eines Schiedskomitees bei Lohnstreitigkeiten in den Rüstungsfabriken mit.

438

F. Anhang

Albert Thomas (Quelle: International Labour Office)

Ab 1919 bis zu seinem Tod leitete Thomas das Bureau International du Travail. "II en fut, a vrai dire, le veritable createur et pendaot douze ans, l'ardent animateur 'Si vis pacem, cole justitiam', telle fut la devise que guida son action ..." ( zitiert nach: Jean Maitron/C. Pennetier, "Dictionnaire Biographique du Mouvement Ouvrier Fran~ais", 3. Teil , B. 15, S. 223 - 227). Albert Thomas starb am 07.05.1932 in Paris. Zu seiner Person siehe: B.W. Schaper, "Albert Thomas. Trente ans de reformisme social", Paris, P.U.F., 1960, traduit du neerlandais; E. J. Phelao, " Yes and Albert Thomas", New York, 1949; Fernand Maurette, Association Le Souvenir d'Albert Thomas (Hrsg.), "Albert Thomas, 1878-1932, Paris 1955; Martin Fine, "Albert Thomas, A Reform's Vision of Modernization", in: Journal of Contemporary History 3, S. 545-564; M. Reberioux, "Albert Thomas, pivot du reformisme", in : Mouvement Social87 (April-June 1974), S. 85-98; Societe des Amis d'Aibert Thomas (Hrsg.), "Un graod citoyen du monde: Albert Thomas vivant. Etudes, temoignages, souvenirs", Geneve/Atar 1957.

I. Biographien

439

Thomas redigierte in vielen Zeitschriften u.a. "La Petite Republique", "L'Humanite", "La Revue Syndicaliste", "La Revue Socialiste", "Les Documents du Sodalisme" (1910-1920), "Informations Ouvrieres et Sociales" (1918-1919), ""Les Cahiers du Sodaliste - Pages Libres", "La Revue Internationale du Travail", "Sozialistische Monatshefte". Harold B. Butler

Harold Beresford Butler, am 06.10.1883 in England geboren, besuchte das Eton und Balliol College. Sein Studium der literae humaniores schloß er 1905 erfolgreich in Oxford ab. 1907 trat Harold B. Butler C.B., der dem Order of Bath" angehörte, in die englische Verwaltung ein und wurde 1908 in das Innenministerium berufen. Dort blieb er bis 1915. 1910 übernahm er seine erste Aufgabe im internationalen Bereich innerhalb der britischen Delegation auf der Internationalen Luftfahrtkonferenz in Paris. Später arbeitete er in der Außenhandelsabteilung des englischen Innenministeriums. 1917 war Butler mit der Organisation des neugegründeten Arbeitsministeriums beauftragt, dessen Stellvertretender Staatssekretär er 1919 wurde. Sozial- und Außenpolitik verband Butler 1919 als er bei den Friedensvertragsverhandlungen maßgeblich zum Entstehen der ILO und der Labour Charter im Versailler Friedensvertrag beitrug."If in the history of international organisation an example were sought of a somewbat nebulous hope being seized and launched and guided into reality, it might weil be that of the personal contribution of Harold Butler to the creation of the International Labor Organisation (ILO)" (Ramond Manning, Butler, Harold Beresford, in:Warren/F. Kuehl (Hrsg.), Biographkai Dictionary of Intemationlists, London 1983, S. 128-130). Bei der ersten Internationalen Arbeitskonferenz in Washington fungierte Butler als deren Generalsekretär. Die lLO begleitete er während dreier Phasen: In der Gründungsphase, bereits zusammen mit Albert Thomas und E.J. Phelan. 1920 bis 1932, also bis zum plötzlichen Tod Albert Thomas war er Stellvertretender Direktor des BIT. Danach übernahm Butler selbst die Leitung des BIT bis 1938. Anschließend akzeptierte er das Angebot des Nuffield College in Oxford, dessen Leiter zu werden. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verließ er das College und wurde zum Southern Regional Commissioner für Zivile Verteidigung berufen. 1942 übernahm Butler die mit dem diplomatischen Rang eines Gesandten verbundene leitende Funktion beim British Information Service in Washington.

440

F. Anhang

Harold B. Butler (Quelle: International Labour Office)

Auch nach seinem dortigen Ausscheiden 1946 blieb er der internationalen Politik verbunden. Harold B. Butler starb in Reading, England am 26.03.1951. Zu seiner Biographie vgl. E.J. Phelan, Yes and Albert Thomas, New York 1949; Rodney Lowe, Adjusting to Democracy: the Role of the Ministry of Labour in British politics, 1919-1939, London 1986, S. 66-68; G.N. Barnes, History of the International Labour Office, London 26, S. 58 f; International Labour Review 63 (April 1951), S. 354-363; Margaret Stewart, Britain and the ILO, London 1969, S. 31; E.T. Williams, H. M. Palmer (ed.), "Dictionary of National Biographie 1951-60", Oxford 1971, S. 167 f.

I. Biographien

441

Le Cabinet 1926 (Dritter von rechts: E. J. Phelan) (Quelle: International Labour Office)

Edward Josepll Plielan

Edward Joseph Phelan wurde am 25.07.1888 in Tramore- Irland- geboren. Er begann 1911 seinen politischen Werdegang in der britischen Verwaltung als Mitglied einer Untersuchungskommission über die Lebenshaltungskosten sowie später in einer Kommission über die öffentliche Hygiene. Er wechselte dann zuerst in die Informationsabteilung des Arbeitsministeriums, danach zum Außenministerium, wo er an einer Regierungsdelegation nach Rußland im Jahre 1918 teilnahm.\Vähr~nd der Friedenskonferenz arbeitete Edward J. Phelan an der Gründung des BIT mit und gehörte zu den Mitgliedern der Kommission, die die erste Internationale Arbeitskonferenz organisierte. Die diplomatische Abteilung des BIT stand von Anfang an unter seiner Leitung. Über das Amt des Assistant Director (1933 - 1938) und des

442

F. Anhang

Stellvertretenden Direktors (bis 1941) stieg er schließlich zum Direktor des BIT (bis 1948) auf. Zu seiner Biographie vgl. auch Michael O'Callaghan, "Edward Joseph Phelan" in: Warren/F. Kuehl (Hrsg.), "Biographical Dictionary of Internationalists", London 1983, S. 575 f.

Leon Joulzau.:r:

Der französische Gewerkschaftsführer Leon Jouhaux wurde am 01.07.1879 in Paris geboren. Beginnend als Fabrikarbeiter trat er 1905 in die Confederation General du Travail (CGT) ein, deren Generalsekretär er von 1909 bis 1940 war. Zudem bekleidete Jouhaux ab 1919 bis 1945 das Amt des Vizepräsidenten der International Federation of Trade Unions (1GB). Als Vertreter der Arbeitnehmergruppe war er von Anfang an im Verwaltungsrat tätig und leitete außerdem die Arbeitergruppe innerhalb der ILO. Während den Friedensvertragsverhandlungen 1919 wirkte er als technischer Berater an der Ausarbeitung des Teil XIII des Versailler Friedensvertrags mit. Jouhaux äußerte sich entschieden gegen eine kommunistische Führung in der CGT in den Jahren 1920 und 1921. Danach konzentrierte er sich auf die "Wiederherstellung" der CGT, die in den verschiedenen Branchen nicht vertreten bzw. untereinander gespalten war. So plädierte er z.B. 1938 für die Wiedervereinigung von CGT und dem 1921 abgespaltenen kommunistischen Flügel CGTU. "He led the powerful CGT to support collective security efforts and international economic cooperation, and, until deterred by the rise of Fascism, he continued to advocate disarmament" (Fredrick Aandahl, in: Warren/F. Kuehl (Hrsg.), Biographical Dictionary of Internationalists, London 1923, S. 388 f). 1941 bis 1943 wurde Jouhaux unter Hausarrest gestellt und danach bis 1945 in Buchenwald interniert. Nach dem zweiten Weltkrieg kehrte Jouhaux zum Verwaltungsrat der ILO zurück. Im Dezember 1947 verließ er, nach 52 .Jahren Mitarbeit, die CGT und gründete, gegen die kommunistische Mehrheit in der CGT die CGT-Force Ouvriere, deren Präsident er ein Jahr später wurde. Im seihen Jahr wurde er zum Präsidenten des französischen Wirtschaftsrates ernannt, der aufgrund der Verfassung von 1946 gegründet worden war. Jouhaux setzte seine Arbeit in der ILO und in der UNO fort. Sie fand mit der Verleihung des Friedensnobelpreises 1951 ihre Krönung. "He still defended the two basic and inseparable principles of general disarmament and collective security, called on the free trade union

I. Biographien

443

movement to play an essential part in working for them, and reiterated the idea that economic disorder and misery were among the determinative causes of war" (Fredrick Aandahl,in: Warren/F. Kuehl (Hrsg.), Bibliographical Dictionary a.a.O., S. 388). Leon Jouhaux starb in Paris am 28.04.1954. Ferner zu seiner Biographie vgl. Bernard Georges u. Denies Tintant, Uon Jouhaux: Cinquante ans de syndicalisme, Paris 1962; B. Georges, "Uon Jouhaux", in: J. Maitron/C. Pennetier, "Dictionaire Biographique du Mouvement Ouvrier Fran~ais, 3. Teil, 1871-1914, Paris 1975, S. 122- 130; Lewes L. Lorwin, The International Labor Movement: History, Politics, Outlook, New York 1953; EJ. Phelan, Yes and Albert Thomas, New York 1949; Arno J. Mayer, Politics and Diplomacy of Peacemaking: Containment and Counterrevolution at Versailles, 1918-1919, New York 1967.

A11hur Fontaine

Arthur Fontaine wurde in Parisam 03.11.1860 geboren. Er trat in das Office du Travail mit 31 Jahren ein und leitete dort die Statistikabteilung von 1899 bis 1920. Zugleich (1894) gründete er das "Bulletin de l'Oftice du Travail". Im Jahr 1900 wirkte er bei der Gründung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz mit und war 1906 maßgeblich an der Ausarbeitung einer Konvention zum Verbot der Nachtarbeit der Frauen, einem der Grundsteine der Internationalen Arbeitsgesetzgebung beteiligt. Während der Friedensvertragsverhandlungen stand Fonraine an der Spitze der Delegation des französischen Arbeitsministeriums, wurde Generalsekretär des Ausschusses für Internationale Arbeitergesetzgebung und bereitete als Präsident des Organisationskomitees die erste Internationale AIbeitskonferenz vor. "He had been the outstanding figure in the pre-war negotiations on the international labour legislation ... he had occasion to display his grasp of the technical questions under discussion, his unrivalled knwoledge of labour problems (E. J. Phelan, Yes and Albert Thomas, New York 1949, S. 13). Dem Verwaltungsrat der ILO saß er bis zu seinem Tod am 03.09.1931 vor. Da er an den Verwaltungsratssitzungen auch in seiner Eigenschaft als französischer Regierungsvertreter teilnahm, mußte er sich desöfteren, um Zweifel an seiner Neutralität zu zerstreuen, bei bedeutenden Abstimmungen der Stimme enthalten. Siehe weiter zu seiner Biographie: Jean Maitron/ C. Penntier, "Dictionnaire Biographique du Mouvement Ouvrier Fran~ais", 4. Teil, 19141939, Bd. 38, Paris 1986, S. 101 f.

444

F. Anhang Heinrich Brauns

Der Kölner Schneidersohn Heinrich Brauns war schon vor seinem Studium der Volkswirtschaft ein Förderer der Christlichen Gewerkschaftsbewegung. "Klassenkonflikt und soziale Not un nahegelegenen Ruhrgebiet prägten den Werdegang ... Brauns" (Johannes Bähr, Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik, Berlin 1989, S. 5262, S. 55) Als "roter Kaplan" bekannt, wurde der geweihte Priester 1894 in den Ehrenrat des Gewerkvereins Christlicher Bergarbeiter und 1900 in die Zentralstelle des Volksvereins für das katholische Deutschland in Mönchengladbach berufen. Daneben begann er ein Zweitstudium im Staatsrecht in Bann, welches er 1906 mit der Dissertation "Der Übergang von der Handweberei zum Fabrikbetrieb in der niederrheinischen Samtund Seidenindustrie und die Lage der Arbeiter in dieser Periode" (Leipzig 1906} abschloß. 1918/19 setzte er sich für eine Zusammenfassung aller christlich orientierten politischen Kräften in einer Partei, der Zentrumspartei, ein. Von Januar 1919 bis März 1933 war Brauns als Vertreter des Zentrums (für den Wahlkreis Köln-Aachen) Mitglied der Nationalversammlung bzw. des Reichtags. 1920 wurde er von Reichskanzler Fehrenbach in das Amt des Reichsarbeitsminister berufen. "Heinrich der Ewige" - er gehörte 12 Kabinetten an -schied aus diesem Amt im Juni 1928 aus. "Je n'ai pas vu sans quelque melancolie Ia disparition de Brauns. On savait a qui on avait affaire. On connaissait ses reserves et ses apprehensions mais l'on savait aussi par quels moyens, finalement, on pouvait Je decider ct l'entrainer" (Brief Thomas an Donau ohne Datum, CAT 5-2-6(B)). 1931 übernahm er den Vorsitz der Kommission zur Untersuchung der Weltwirtschaftskrise und ihrer Folgen (sog. Brauns-Kommission) und fungierte als Mitarbeiter im Sozialpolitischen Ausschuß des Reichtags. 1928 wurde Brauns als erster Deutscher zum Präsidenten der lAK gewählt und leitete zudem die deutschen Delegationen bei der IAK in Genf während der Jahre 1929 bis 1931. Heinrich Brauns starb in Lindenberg/Allgäu am 19.10.1939. Desweiteren zu seiner Person und seiner Politik: Hubert Mockenhaupt, Heinrich Brauns - Ein Lebensbild, in : Katholische Sozialpolitik im 20. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze und Reden von Heinrich Brauns, bearb. von Hubert Mockenhaupt, Mainz 1976; Hubert Mockenhaupt, Heinrich Brauns (1868-1939), in: Rheinische Lebensbilder, Bd. 6, Köln 1975; Ernst Deuerlein, Heinrich Brauns, Schattenriß eines Politikers, in: Ferdinand A. Her-

I. Biographien

445

mens/Theodor Schieder (Hrsg.), Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, Berlin 1967 S. 41-96; Uwe Oltmann, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns in der Staats- und Währungskrise von 1923/1924. Die Bedeutung der Sozialpolitik für die Inflation, den Ruhrkampf und die Stabilisierung, Phil. Diss., Kiel1968; Georg Schoelen, Bibliographisch-historische Handbuch des Volksvereins für das katholische Deutschland, Mainz 1982, S: 152-166; R. Morsey (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 20. Jahrhundert, Mainz 1973; Heinrich Brauns, Wirtschaftskrisis und Sozialpolitik, Mönchengladbach 1924.

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens Übereinkommen über die Begrenzung der Arbeitszeit in gewerblichen Betrieben auf acht Stunden täglich und achtundvierzig Stunden wöchentlich Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation, die von der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika auf den 29. Oktober 1919 nach Washington einberufen wurde, ... nimmt das folgende Übereinkommen an, das als Übereinkommen über die Arbeitszeit (Gewerbe), 1919, bezeichnet wird, zwecks Ratifikation durch die Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation nach den Bestimmungen der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation. Artikel! 1.

Als "gewerbliche Betriebe" im Sinne dieses Übereinkommens gelten insbesondere a)

Bergwerke, Steinbrüche und andere Anlagen zur Gewinnung von Bodenschätzen,

b)

Gewerbe, in denen Gegenstände hergestellt, umgeändert, gereinigt, ausgebessert, verziert, fertiggestellt oder verkaufsbereit gemacht oder in denen Stoffe umgearbeitet werden, einschließlich des Schriffsbaues, der Abbruchuntemehmungen, der Erzeugnung, Umformung und Übertragung von Elektrizität und sonstiger motorischer Kraft irgendwelcher Art,

c)

der Bau, der Weideraufbau, die Instandhaltung, die Ausbesserung, der Umbau oder der Abbruch von Bauwerken, Eisenbahnen, Straßenbahnen, Häfen, Docks, Hafendämmen, Kanälen, Anlagen für die Binnenschiffahrt, Straßen, Tunneln, Brücken, Straßenüberführungen, Abwasserkanälen, Brunnenschächten, Telegraphen- und Telephonanlagen, elektrischen Anlagen, Gas-

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens

d)

447

und Wasserwerken und anderen Bauarbeiten sowie die dazu nötigen Vor- und Fundierungsarbeiten, die Beförderung von Personen oder Gütern auf Straßen, Eisenbahnen, Binnengewässern oder zur See, einschließlich des Verkehrs mit Gütern in Docks, auf Ausladeplätzen, Werften und in Lagerhäusern, jedoch mit Ausnahme der Handbeförderung.

2.

Die Bestimmungen über die Beförderung zur See und auf BinDengwässern werden durch eine besondere Konferenz zur Regelung der Arbeitsverhältnisse der Schiffsleute und der Binnenschiffer getroffen werden.

3.

In jedem Lande bestimmt die zuständige Stelle die Grenze zwischen Gewerbe einerseits, Handel und Landwirschaft andererseits.

Artikel2 Die Arbeitszeit der in allen öffentlichen oder privaten gewerblichen Betrieben oder ihren Nebenbetrieben beschäftigten Personen darf acht Stunden täglich und achtundvierzig Stunden wöchentlich nicht überschreiten. Dies gilt nicht für Betriebe, in denen lediglich Mitglieder derselben Familie beschäftigt sind. Ferner gelten folgende Ausnahmen: a)

Die Bestimmungen dieses Übereinkommens fmden keine Anwendung auf Personen, die mit der Aufsicht oder Leitung beauftragt sind oder eine Vertrauensstellung bekleiden.

b)

Beträgt nach Gesetz, Gewohnheit oder Vereinbarung zwischen Berufsverbänden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (oder, in Ermangelung solcher Verbände, zwischen Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer) die Arbeitszeit an einem oder mehreren Tagen der Woche weniger als acht Stunden, so kann durch Verfügung der zuständigen Stelle oder durch Vereinbarung zwischen den genannten Verbänden oder Vertretern der Beteiligten eine Überschreitung der achtstündigen Arbeitszeit an den übrigen Tagen der Woche zugelassen werden. Diese Überschreitung darf indessen nicht mehr als eine Stunde täglich betragen.

c)

Bei der Schichtarbeit kann die Arbeitszeit an einzelnen Tagen über acht Stunden täglich und in einzelnen Wochen über achtundvierzig Stunden wöchhntlich verlängert werden; in diesem Falle daraf jedoch der Durchschnitt der Arbeitszeit, berechnet auf einen Zeitraum von

448

F. Anhang

drei Wochen oder weniger, acht Stunden täglich ünd achtundvierzig Stunden wöchentlich nicht überschreiten. Artikel3 Die nach Artikel 2 begrenzte Arbeitszeit kann überschritten werden, wenn eine Betriebsstörung eingetreten ist oder droht, wenn dringliche Arbeiten an den Maschinen oder den Betirebseinrichtungen vorzunehmen sind oder wenn höhere Gewalt vorliegt, jedoch nur, soweit es erforderlich ist, um eine ernstliche Störung des regelmäßigen Beitriebes zu verhüten. Artikel4 Die nach Artikel 2 begrenzte Arbeitszeit kann bei Arbeiten, die ihrer Natur nach einen ununterbrochenen Fortgang mit Schichtenwechsel erfordern, unter der Bedingung überschritten werden, daß die Arbeitszeit durchschnittlich sechsundfünfzig Stunden wöchentlich nicht übersteigt. Durch diese Bestimmung wird der Anspruch der Arbeitnehmer auf die Ruhezeit nicht berührt, die ihnen etwa nach der innerstaatlichen Gesetzgebung als Ersatz für den wöchentlichen Ruhetag zugesichert ist. ArtikelS 1.

Erweisen sich die Bestimmungen des Artikels 2 über die Arbeitszeit ausnahmsweise als nicht anwendbar, aber nur in diesem Falle, kann durch Vereinbarungen zwischen Berufsverbänden von Arbeitnehmern und Arbeitgebern die tägliche Arbeitszeit auf der Grundlage eines für einen längeren Zeitraum aufgestellten Arbeitsplanes geregelt werden, sofern jenen Vereinbarungen, die der Regierung mitzuteilen sind, die Geltung von Verordnungen gegeben ist.

2.

Die durchschnittliche Arbeitszeit, berechnet auf die Zahl der im Plane festgestzten Wochen, darf unter keinen Umständen achtuundvierzig Stunden wöchentliche überschreiten.

Artikel6 1.

Die Behörden können durch Verodnungen für einzelne Gewerbe oder Berufe zulassen a)

dauernde Ausnahmen für Vorbereitungs- und Ergänzungsarbeiten, die notwendigerweise außerhalb der für den Betrieb allge-

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens

b) 2.

449

mein festgesetzten Arbeitszeit vorg~nommen werden müssen, oder für gewisse Gruppen von Personen, deren Arbeit in besonderem Maß Unterbrechungen mit sich bringt, vorübergehende Ausnahmen bei außergewöhnlicher Häufung der Arbeit.

Derartige Verordnungen dürfen erst nach Anhörung der beteiligten Berufsverbänden der Arbeitgeber und der Arbeitnhemr, falls solche bestehen, erlassen werden. Sie müssen für jeden einzlnen Fall die Höchstzahl der zulässigen Überstunden vorschreiben. Diese Überstunden müssen mindestens um fünfundzwanzig vom Hundert höher bezahlt werden.

Artikel 7 1.

2.

Jede Regierung hat dem Internationalen Arbeitsamt zu übersenden a)

ein Verzeichnis der Arbeiten, die anerkanntermaßen im Sinne des Arktikels 4 ihrer Natur nach einen ununterbrochenen Fortgang erheischen,

b)

eingehende Mitteilungen über den Stand der in Arktikel 5 vorgesehenen Vereinbarungen,

c)

eingehende Mitteilungen über die auf Grund des Aritkels 6 erlassenen Verordnungen und ihrer Anwendung.

Das Internationale Arbeitsamt hat der Allgemeinen Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation alljährlich einen Bericht darüber zu erstatten.

ArtikelS 1.

Um die Durchführung der Bestimmungen dieses Übereinkommens zu erleichtern, wird jeder Arbeitgeber verpflichtet, a)

29 GnobhCIT

durch Anschläge an gut sichtbarer Stelle im Betrieb oder an einem anderen geeigneten Ort oder auf sonst eine von der Regierung genehmigte Weise Beginn und Schluß der Arbeitsstunden oder bei Schichtarbeit Beginn und Schluß jeder Schicht bekanntzugeben, wobei die Arbeitsstunden so festgesetzt werden müssen, daß sie die in diesem Übereinkommen vorgeschriebenen Gren-

F. Anhang

450

zen nicht überschreiten, und einmal bekanntgemacht, nur in der von der Regierung genehmigten Art und Weise abgeändert werden dürfen,

2.

b)

in gleicher Weise die während der Arbeit gewährten Ruhepausen, die nicht als Arbeitszeit gelten, bekanntzugeben,

c)

alle auf Grund der Artikel3 und 5 dieses Übereinkommens geleisteten Überstunden in ein Verzeichnis einzutragen, dessen Form die innerstaatlichen Gesetzgebung oder die Verordnungen der zuständigen Stelle bestimmen.

Die Beschäftigung einer Person außerhalb der nach a) festgesetzten Arbeitsstunden oder während der nach b) festgesetzen Ruhepausen gilt als ungeseztlich.

Artikel 9 - 13 (entfallen) Artikel14 Die Bestimmungen dieses Übereinkommens können in jedem Staate durch die Regierung im Fall eines Krieges oder anderer Ereignisse, welche die Landessicherheit gefährden, außer Kraft gesetzt werden. Artikel15 Die förmlichen Ratifikationen dieses Übereinkommens sind nach den Bestimmungen der Verfassung der Internatinalen Arbeitsorganisation dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes zur Eintragung mitzuteilen. Artikel16 (entfällt) Artikel17 Sobald die Ratifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Argeitsorganisation beim Internationalen Arbeitsamte eingetragen sind, teilt der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes dies sämtlichen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation mit.

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens

451

Artikel18 Dieses Übereinkommen tritt mit dem Tag in Kraft, an dem diese Mitteilung durch den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes stattgefunden hat. Es bindet nur die Mitglieder, die ihre Ratifikation beim Internationalen Arbeitsamt haben eintragen lassen. In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes andere Mitglied mit dem Tag in Kraft, an dem seine Ratifikation beim Internationalen Arbeitsamt eingetragen worden ist. Artikel19 Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, seine Bestimmungen spätestens am. 1. Juli 1921 in Geltung zu setzen und die zu ihrere Durchführung nötigen Maßnahmen zu treffen. Artikel20 Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum ersten Mal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes kündigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen. Ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach der Eintragung beim Internationalen Areitsamt ein. Artikel21 Der Verwaltungsrat des Internationalen Areitsamtes hat mindestens alle zehn Jahre einmal der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchührung dieses Übereinkommens zu erstatten und zu prüfen, ob seine Durchsicht oder Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll. Artikel22 Der französische und der englische Wortlautdeises Übereinkommens sind in gleicher Weise maßgebend.

29°

452

F. Anhang

Convention Limiting the Hours of Work in Iodostrial Undertakings to Eight in the Day and Forty-eight in the Week The General Conference of the International Labour Organisation, having been convened at Washington by the Government of the United States of America on the 29th day of October 1919, ... adopts the following Convention, which may be cited as the Hours of Work (Industry) Convention, 1919, for ratification by the Members of the International Labour Organisation, in accordance with the provisions of the Constitution of the International Labour Organisation: Article 1 1.

2.

For the purpose of this Convention, the term "industrial untertaking" includes particularlya)

mines, quarries, and other works for the extraction of minerals from the earth;

b)

industries in which articles are manufactured, altered, cleaned, repaired, ornamented, finished, adapted for sale, broken up or demolished, or in which materials are transformed; including shipbuilding and the generation, transformation, and transmission of electricity or motive power of any kind;

c)

construction, reconstruction, maintenance, repair, alteration, or demolition of any building, railway, tramway, harbour, dock, pier, canal, inland waterway, road, tunnel, bridge, viaduct, sewer, drain, well, telegraphic or telephonic installation, electrical undertaking, gas work, waterwork or other work of construction, as well as the preparation for or laying the foundations of any such work or structure;

d)

transport of passengers or goods by road, rail, sea or inland waterway, including the handling of goods at docks, quay, wharves or warehouses, but excluding transport by band.

The provisions relative to transport by sea and on inland waterways shall be determined by a special conference dealing with employment at sea and on inland waterways.

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens

3.

453

The competent autharity in each cauntry shall defme the line of divisian which separates industry fram cammerce and agriculture.

Artikel2 The working hours of persans emplayed in any public or private industrial undertaking or in any branch thereaf, ather than an undertaking in which anly members of the same family are employed, shall not exceed eight in the day and forty-eight in the week, with the exceptions hereinafter provided for: a)

the provisians of this Canventian shall not apply to persans holding positions of Supervision of management, nor to persans emplayed in a confidential capacity;

b)

where by law, custom, or agreement between employers' and workers' Organisations, or where no such organisations exist, betweeen employers' and workers' representatives, the hours of work on one or more days of the week are less than eight, the Iimit of eight hours may be exceeded on the remaining days of the week by the sanction of the competent public authority, or by agreement between such organisations or representatives; provided, however, that in no case under the provisions of this paragraph shall the daily Iimit of eight hours be exceeded by more than one hour;

c)

where persans are employed in shifts it shall be permissible to employ persans in excess of eight hours in any one day and fortyeight hauers in any one week, if the average number of hours aver a periods of three weeks ar less does not exceed eight per day and forty-eight per week.

Article 3 The Iimit of hours of work prescribed in Article 2 may be exceeded in case of accident, actual ar threatened, or in case af urgent wark ta be dane to machinery or plant, or in case of "force majeure", but only so far as may be necessary to avaid serious interference with the ordinary warking af the undertaking.

F. Anhang

454

Article 4 The Iimit of hours of work prescribed in Article 2 may also be exceeded in those processes which are required by reason of the nature of the process to be carried on continuously by a succession of shifts, subject to the condition that the working hours shall not exceed fifty-six in the week on the average. Such regulation of the hours of work shall in no case affect any rest days which may be secured by the national law to the workers in such processes in compensation for the weekly rest day. Article 5 1.

In exceptional cases where it is recognised that the provisions of Artide 2 cannot be applied, but only in such cases, agreements between workers' and employers' organsiatons concerning the daily Iimit of work over a Ionger period of time may be given the force of regulations, if the Government, to which these agreements shall be submitted, so decides.

2.

The average nurober of hours worked per week, over the number of weeks covered by any such agreement, shall not exceed forty-eight.

Article 6 1.

2.

Regulations made by public authority shall determine for industrial undertakingsa)

the permanent exceptions that may be allowed in preparatory or complementary work which must necessarily be carried on outside the Iimits laid down for the generat working of an establishment, or for certain classes of workers whose work is essentially intermittent;

b)

the temporary exceptions that may be allowed, so that establishments may deal with exceptional cases of pressure of work.

These regulations shall be made only after consultation with the organisaitons of employers and workers concerned, if any such Organisations exist. These regulations shall fix the maximum of additional hours in each instance, and the rate of pay for overtime shall not be less than one and one-quarter times the regular rate.

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens

455

Article 7 1.

Each Government shall communicate to the International Labour Officea)

a Iist of the processes which are classed as being necessarily continuous in character under Article 4;

b)

full information as to working of the agreements mentioned in Article 5; and full information concerning the regulations made under Article 6 and their application.

c) 2.

The International Labour Office shall make an annual report thereon to the General Conference of the International Labour Organisation.

Article 8 1.

2.

In order to facilitate the enfocement of the provisions of this Convention, every employer shall be requireda)

to notify by means of the posting of notices in conspicuous places in the works or other suitable place, or by such other method as may be approved by the Government, the hours at which work begins and ends, and where work is carried on by shifts, the hours at which each shift begins and ends; these hours shall be so fJXed that the duration of the work shall not exceed the Iimits prescribed by this Convention, and when so notified and in such manner as may be approved by the Government;

b)

to notify in the same way such rest intervals accorded during the Period of work as are not reckoned as part of the working hours;

c)

to keep a record in the form prescribed by law or regulation in each country of all additional hours worked in pursuance of Articles 3 and 6 of this Convention.

It shall be made an offence against the law to employ any person outside the hours ftXed in accordance with paragraph a), or during the intervals flXed in accordance with paragraph b).

Article 9 to 13 (entfallen)

456

F. Anhang

Articlc 14 The operation of the provisions of this Convention may be suspended in any country by the Government in the event of war or other emergency endangering the national safety. Article 15 The formal ratifications of this Convention, under the conditions set forth in the Constitutioon of the International Labour Organisation, shall be communicated to the Director-General of the International Labour Office for registration. Article 16 (entfällt) Article 17 As soon as the ratifications of two Members of the International Labour Organsiation have been registered with the International Labour Office, the Director-General of the International Labour Office shall so notify all the Members of the International Labour Organisation. Article 18 This Convention shall come into force at the date on whicb such notfication is issued by the Director-General of the International Labour Office, and it shall then be binding only upon those Members which have registered their ratifications with the International Labour Office. Thereafter this Convention will come into force for any other Member at the date on which its ratification is registered with the International Labour Office. Article 19 Each Member which ratifies this Convention agrees to bring its provisions into operation not later than 1 July 1921, and to take such action as may be necessary to make these provisions effecitve. Article 20 A Member which has ratified this Convention may denounce it after the expiration of ten years from the date on which the Convention frrst comes into force, by an act communicated to the Director-General of the In-

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens

457

ternational Labour Office for registration. Such denunciation sball not take effect until one year after the date on which it is registered with tbe International Labour Office. Article 21 At least once in ten years the Governing Body of the International Labour Office shall present to the General Conference a report on the working of this Convention, and shall consider tbe desirability of placing on tbe agenda of the Conference the question of its revision or modification. Article 22 tic.

The French and English texts of this Convention shall both be autben-

Convention tendant a limiter a huit heures par jour et

a quarante-huit heures par semaine le nombre des heures de travail dans les etablissements industriels

La Conference generate de !'Organisation internatioale du Travail, convoquee a Washington par Je gouvernement des Etats-Unis d'Amerique, le 29 octobre 1919, .... adopte Ia convention ci-apres, qui sera denommee Convention sur Ia duree du travail (industrie), 1919, a ratifier par les Membres de !'Organisation internationale du Travail conformement aux dispositions de Ia Consitution de !'Organisation internationale du Travail: Article 1 1.

Pour l'application de la presente convention, seront consideres comme "etablissements industriels" notamment: a)

les mines, carrieres et industries extractives de toute nature;

b)

les industries dans lesquelles des produits sont manufactures, modifies, nettoyes, repares, decores, acheves, prepares pour Ia vente, ou dans lesquelles les matieres subissent une transformation, y compris la construction des navires, les industries de demolition de maeriel, ainsi que la production, Ia transformation et Ia transmission de Ia force motrice en general et de l'electricite;

458

F. Anhang

c)

Ia construction, Ia reconstruction, l'entretien Je reparation, Ia modification ou Ia demolition de tous bätiments et edifices, ehernins de fer, tramways, ports, docks jetees, canaux, installations pour Ia navigaton interieure, routes, tunnels, ponts, viaducs, egouts collecteurs, egouts ordinaires, puits, installations Mlegraphiques Oll te(ephoniques, installations electriques, usines a gaz, distribution d'eau, ou autres travaux de construction, ainsi que les travaux de preparation et de fondation precedant les travaux ci-dessus;

d)

le transport de personnes ou de marchandises par raute, voie ferree our voie d'eau, maritime ou interieure, y compris Ia mantention des marchandises dans les docs, quais, wharfs et entrepöts, a l'exception du transport a Ia main.

2.

Les prescriptions relatives au transport par mer et par voie d'eau interieure seront fixees par une conference speciale sur le travail des marins et mariniers.

3.

Dans chaque pays l'autorite competente determinera Ia ligne de demarcation entre l'industrie, d'une parte, le commerce et l'agriculture, d'autre part.

Article 2 Dans tous les etablissements industriel, publies Oll prives, ou dans leurs dependances, de quelque nature qu'ils soient, a l'exception de ceux dans lesquels sont seuls employes les membres d'une meme famille, Ia duree du travail du personnel ne pourra exceder huit heures par jour et quarante-huit heures par semaine, sauf !es exceptions prevues ci-apres: a)

les dispositions de Ia presente convention ne sont pas applicables aux personnes occupant un poste de surveillance ou de direction ou un poste de confiance;

b)

lorsque en vertu d'une loi ou par suite de l'usage ou de conventions entre les organisations patronales et ouvrieres (ou, a defaut de telles organisations, entre !es representants des patrons et des ouvriers), Ia duree du travail d'un ou plusierus jours de Ia semaine est inferieure a huit heures, un acte de l'autorite competente ou une convention entre les organisations ou represen-

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens

459

tants susmentionnes des interesses peut autoriser le depassement de Ja Iimite des huit heures les autres jours de Ia semaine; le depassement prevu par Je present paragraphe ne purra jamais exceder une heure par jour; c)

lorsque !es travaux s'effectuent par equipes, Ia duree du travail pourra etre prolongee au dela de huit heures par jour et de quarante-huit heures par semaine, a Ia condition que Ia moyenne des heures de travail calculee sur une periode de trois semaines ou moins ne depasse pas huit par jour et quarante-huit par semaine.

Article 3 La Iimite des heures de travail prevue a l'article 2 pourra etre depassee en cas d'accident survenu ou imminent, ou en cas de travaux d'urgence a effectuer aux machines ou ä l'outilage, ou en cas de force majeure, mais uniquement dans Ja mesure necessaire pour eviter qu'une gene serieuse ne soit apportee a la marche normale de l'etablissement. Article 4 La Iimite des heures de travail prevue a l'article 2 pourra etre depassee dans les travaux clont le fonctionnement continu doit, en raison meme de Ia nature du travail, etre assure par des equipes successive, a la condition que les heures de travail n'excedent pas en moyenne cinquante-six par semaine. Ce regime n'affectera pas !es conges qui peuvent etre assures aux travailleurs par !es lois nationales en compensation de leur jour de repos hebdomadaire. Article 5 1.

Des reglements de l'autorie publique determineront par industrie ou par profession: a)

les derogations permanentes qu'il y aura lieu d'admettre pour les travaux preparatoires Oll complementaires qui doivent etre necessairement executes en dehors de la Iimite assignee au travail general de l'etablissement, ou pour certaines categories de personnes dont le travail est specialement intermittent;

460

F. Anhang

b)

2.

les derogations temporaires qu'il y aura lieu d'admettre pour permeUre aux entreprises de faire face a des surcroits de travail extraordinaires.

Ces reglements doivent etre pris apres consultation des Organisations patronales et ouvrieres interessees, Ia ou il en existe. Ils determineront le nombre maximum d'heures supplementaires qui peuvent etre autorisees dans chaque cas. Le taux du salaire pour ces heures supplementaires sera majore d'au moins 25 pour cent par rapport au salaire normal.

Article 7 1.

2.

Chaque gouvernement communiquera au Bureau international du Travail: a)

une Iiste des travaux classes comme ayant un fonctionnement necessairement continu dans le sens de l'article 4;

b)

des renseignements complets sur Ia pratique des accords prevus a l'article 5;

c)

des renseignements complets sur les dispositions reglemenaires prisesenvertu de l'article 6 et leur application.

Le Bureau international du Travail presentera chaque annee UD rapport a ce sujet a Ia Conference generale de !'Organisation internationale du Travail.

Article 8 1.

En vue de faciliter l'application des dispositions de Ia presente convention, chaque patron devra: a)

faire connaitre au moyen d'affiches apposees d'une maniere apparente dans son etablissement ou en tout autre lieu convenable, ou selon tout autre mode approuve par le gouvernement, les heures auxquelles commence et finit le travail, ou, si le travail s'effectue par equipes, les heures auxquelles commence et fmit le tour de chaque equipe; !es heures seront ftxees de fa~on a ne pas depasser !es limites prevues par Ia presente convention, et, une

II. Text des Washingtoner Arbeitszeitübereinkommens

461

fois notifiees, ne pourront etre modifiees que selon le mode t la forme d'avis approuves par le gouvernement;

2.

b)

faire connaitre, de Ia meme fat;on, les repos accordes pendant la duree du travail et consideres comme ne faisant pas partie des heures de travail;

c)

inscrire sur un registre, selon le mode approuve par la legislation de chaque pays ou par un reglement de l'autorite competente, toutes les heures supplementaires effectuees en vertu des articles 3 et 6 de Ia presente convention.

Sera considere comme illegal le fait d'employer une personne en dehors des heures flXees en vertu du paragraphe a), ou pendant les heures flXees en vertu du paragraphe b).

Article 9 - 13 (entfallen) Article 14 Les dispositions de Ia presente convention peuvent etre suspendues dans tout pays par ordre du gouvernement, en cas de guerre ou en cas d'evenemtnes presentant un danger pour Ia securite nationale. Article 15 Les ratifications officielles de Ia presente conventin, dans les conditions etablies par Ia Constitution de !'Organisation internationale du Travail, seront communiquees au Directeur general du Bureau international du Travail et par lui enregistrees. Article 16 (entfällt) Article 17 Aussitöt que les ratifications de deux Membres de l'Organsiation internationale du Travail auront ete enregistrees au Bureau international du Travail, le Directeur general du Bureau international du Travail notfiera ce fait a tous !es Membres de !'Organisation internationale du Travail.

462

F. Anhang

Article 18 La pn!sente convention entrera en vigueur a Ia date ou cette notification aura ete effectuee par le Directeur general du Bureau international du travail; eile ne liera que les Membres qui auront fait enregistrer leur ratification au Bureau international du travail. Par Ia suite, Ia presente convention entrera en vigueur au regard de tout autre Membre aIa date oilla ratification de ce Membre aura ete enregistree au Bureau international du travail. Article 19 Tout Membre que ratifie Ia presente convention s'engage a appliquer ses dispositions au plus tard le 1er juillet 1921, et a prendre telles mesures qui seront necessaires pour rendre effectives ces dispositions. Article 20 Tout Membre ayant ratifie Ia presente convention peut Ia denoncer a l'expiration d'une periode de dix annees apres Ia date de Ia mise en vigueur initiale de Ia convention, par un acte communique au Directeur general du Bureau international du Travail et par lui enregistre. La denonciation ne prendra effet qu'une annee apres avoir ete enregistree au Bureau international du Travail. Article 21 Le Conseil d'administration du Bureau international du Travail devra, au moins une fois par dix annees, presenter a Ia Conference generale un rapport sur l'application de Ia presente Convention et decidera d'inscrire a l'ordre du jour de Ia Conference Ia question de Ia revision ou de Ia modification de Ia dite convention. Article 22 Les textes et l'autre.

fran~ais

et anglais de Ia presente convention feront foi l'un

G. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen I.

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2.

- Nachlaß Albert Thomas (=Korrespondenz aus seiner Zeit als Direktor des BIT; 1919 - 1932. 94 AP ...) - Akten des französischen Arbeitsministeriums (Travail et 5ecurite Sociale; F 22j. ..) - Akten Police Generale (f. 7j... ) 3. 4. S.

Bundesarchiv Koblenz Akten der Reichskanzlei (R 43 lj... ) Akten des Deutschen Industrie- und Handelstages (R 11/...) Akten des Vereins Deutschen Eisen- und Stahlindustrieller (R 13 1/...) Nachlaß Silverberg Nachlaß Wissell Kleine Erwerbungen Nachlaß Otte Akten des Politischen Archh·s des Auswärtigen Amtes (PA/.-) Referat Vökerbund Referat Besetzte Gebiete Sonderreferat Wirtschaft Reparationen Gesandtschaft Bern Botschaft Paris Botschaft London Büro Staatssekretär Nachlaß Stresemann (Ehemaliges) Zentrales Staatsarchiv Potsdam (ZStA/-)

- Akten des Reichsarbeitsministeriums - Akten des Reichswirtschaftsministeriums - Akten der Präsidialkanzlei

G. Quellen- und Literaturverzeiclulis

464

- Akten der Zentralarbeitsgemeinschaft - Akten des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates 6.

Public Record Office, London

- Ministry of Labour, General Department, International Labour "Hours Convention. Meeting of Ministers of Labour from Belgium, France, Gerrnany, Great Britain on 8th Sept. 1924" (Lab 2/994/IL 125/29) - Memorandum des englischen Arbeitsministers vom 29.03.1926 (CAB 24/179, C.P. 137) - Protokoll über die Kabinettssitzung vom 29.01.1926 (CAB 23/52, CAB 2 (26) 7) 7.

Historische Kommission zu ßerlin - Restakten des ADGB Bundesvorstandes (HiKo/NB ...) Hamburger Staatsarchiv

8.

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466

G. Quellen- und Literaturverzeichnis Protokoll der Verhandlungen des 12. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands (2. Bundestag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes). Abgehalten in Breslau vom 31.08- 04.09.1925, Berlin 1925 Protokoll der Verhandlungen des 13. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands (3. Bundestag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftbundes). Abgehalten in Harnburg vom 03. - 07.09.1928, Berlin 1928 Reichsarbeitsblatt, Amtsblatt des Reichsarbeitsministeriums und der Reichsarbeitsverwaltung, amtlicher und nichtamtlicher Teil, Berlin 1918 ff 28. Sonderheft zum Reichsarbeitsblatt, Vorarbeiten zum Arbeitsgesetzbuch in zwangsloser Folge, Berlin 1923 Societe des Nations (Ed.): Journal Officiel, IX Annee. N° 1, Janvier 1928 Trade Union Congress (Ed.): Repon of Missions to Ministers, London 1923 Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte und Drucksachen 1919 ff Verhandlungen des Deutschen Industrie- und Handelstages. Berlin 1922-1926

III. Zeitungen und Zeitschriften (ausgewählte Artikel und Beiträge) - AfA-Bundeszeitung - Berliner Tageblatt - Betriebsrätezeitung - Börsenzeitung - Borsig-Zeitung - Der Arbeitgeber - Der Deutsche - Der Deutsche Metallarbeiter - Deutsche Allgemeine Zeitung - Deutsche Arbeitgeber Zeitung - Deutsche Winschaftszeitung- Organ des Deutschen Industrie- und Handelstages - Die Gesellschaft -Die Zeit - Frankfurter Zeitung - Gewerkschaftszeitung - Gewerkschaftsarchiv - International Labour Review - Internationale Rundschau der Arbeit - Kölnische Zeitung - Kölnische Volkszeitung - Metallarbeiterzeitung - Revue Internationale du Travail - Soziale Praxis -Vorwärts - Westdeutsche Arbeiterzeitung . - Wirtschaftliche Nachrichten aus dem Ruhrbezirk - Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands

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