Das Verletzte stärken: Seelsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und für Menschen im Wachkoma 9783666624223, 9783525624227, 9783647624228

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Das Verletzte stärken: Seelsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und für Menschen im Wachkoma
 9783666624223, 9783525624227, 9783647624228

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie

Herausgegeben von Lutz Friedrich, Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier Band 73

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Nicole Frommann

Das Verletzte stärken Seelsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und für Menschen im Wachkoma

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624227 — ISBN E-Book: 9783647624228

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62422-7 ISBN 978-3-647-62422-8 (E-Book)  2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort

Im Laufe der vergangenen Jahre ist in den von Bodelschwinghschen Stiftungen ein neues Arbeitsfeld entstanden, das spezialisierte Hilfen für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und für Menschen im sogenannten Wachkoma bereitstellt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Pflege, Medizin, Therapie und Pädagogik suchten mit großem Engagement nach geeigneten Formen angemessener Betreuung. An diesem Prozess konnte ich als Pastorin teilnehmen, da ich in zwei Einrichtungen tätig war, in denen dies schwerpunktmäßig geleistet wurde. Mein ausdrücklicher Dank gilt Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtungen Elim und Rehoboth (und der Vorgänger-Einrichtung Haus Heidegrund), die die Seelsorge unterstützt haben und zum wechselseitigen Lern- und Entwicklungsprozess bereit waren. Die Vorstandsvorsitzenden der von Bodelschwinghschen Stiftungen, Herr Pastor Friedrich Schophaus und Herr Pastor Ulrich Pohl, haben die Dissertation angeregt und gefördert. Sie ist den Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und den Menschen im sogenannten Wachkoma und ihren Angehörigen gewidmet. Tapfer und in hohem Maße herausgefordert meistern viele engagiert ausgesprochen schwierige Lebensumstände. Die vorliegende Arbeit wurde von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität im Jahr 2011 als Dissertation im Fach Praktische Theologie angenommen. Meine Doktormutter, Frau Professorin Dr. Corinna Dahlgrün, hat das Entstehen dieser Dissertation in vorbildlicher Weise begleitet, stets zuverlässig und zuversichtlich – und den Brückenschlag zwischen der Arbeit an der Basis und der akademischen Welt ermöglicht. Herr Professor Dr. Klaus Rothermund, Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie II an der Friedrich-Schiller-Universität, hat das Zweitgutachten übernommen und damit die interdisziplinäre Ausrichtung dieses Seelsorge-Entwurfs verdeutlicht. Für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe „Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie“, die Frau Professorin Dr. Anne Steinmeier empfohlen hat, danke ich dem Vandenhoeck & Ruprecht-Verlag. Die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und die Evangelische Kirche von Westfalen haben die Veröffentlichung durch Druckkostenzuschüsse freundlicherweise gefördert. Die Dissertation wurde für die Drucklegung leicht bearbeitet, der Fußnotenapparat wurde den Wünschen des Verlags gemäß gestaltet. Nicht mehr berücksichtigt werden konnten die Überlegungen der Forschergruppe um

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Vorwort

Steven Laureys, die empfiehlt, das sogenannte Wachkoma mit dem Begriff „Syndrom reaktionsloser Wachheit“ zu benennen.1 Zwei Menschen, die das Dissertationsvorhaben in besonderer Weise begleitet haben, sei darüber hinaus ausdrücklich gedankt: Frau Dr. Margret Bergmeier für das präzise, schnelle und mehrfache Korrekturlesen, Frau Christiane Heintze für die Unterstützung in allen Lebenslagen! Bethel, im Oktober 2012

Nicole Frommann

1 Laureys, Steven/Celesia, Gastone G./Cohadon, Francois/Lavrijsen, Jan/Leon-Carrion, Jos/Sannita, Walter G./Sazbon, Leon/Schmutzhard, Erich/von Wild, Klaus R./Zeman, Adam/Dolce, Giuliano, the Europea Task Force on Disorders of Consciousness, Unresponsive wakefulness syndrome. A new name for the vegetative state or apallic syndrome, in: BMC Medicine 8 (2010), 68; im Deutschen Ärzteblatt vorgestellt durch von Wild, Klaus/Laureys, Steven/Giuliano Dolce, Apallisches Syndrom, vegetativer Zustand: Unangemessene Begriffe, in: Deutsches Ärzteblatt 109 (4/2012), A-143/B-131/C-131 [http://www.aerzteblatt.de/archiv/119915].

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Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und Menschen im Wachkoma als Gegenüber : Einführung . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Besondere Herausforderungen der Seelsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Besondere Herausforderungen durch die erworbene Hirnschädigung für die betroffenen Menschen . . . . . . . . 2.2.1 Erfahrungen in der Nähe des Todes . . . . . . . . . . 2.2.2 Verschiedenartige Funktionsstörungen des Gehirns . 2.2.3 Verlusterfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Leben im Wachkoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Felder der Seelsorge im Umfeld der Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Besondere Herausforderungen für Angehörige . . . . 2.3.2 Besondere Herausforderungen für Institutionen und Facheinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Besondere Herausforderungen für Mitarbeitende . .

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3. Diskussion der besonderen Problematik des Wachkomas in verschiedenen Bezügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Bewusstsein im Wachkoma – Einführung in das Problem . . . 3.1.1 Bewusstsein – vorläufige Definition . . . . . . . . . . . 3.1.2 Bewusstsein und die Frage des Weiter-Lebens – Szenen aus dem seelsorglichen Alltag . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Bewusstsein und Wachkoma – ärztliche Sichtweisen . 3.1.4 Bewusstsein und Wachkoma – juristische Aspekte . . . Exkurs 1: Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen . . . . 3.1.5 Bewusstsein und Wachkoma – philosophische Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.6 Bewusstsein und Wachkoma – theologische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.7 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kommunikation mit Menschen im Wachkoma . . . . . . . . . 3.2.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Kurzer Abriss der Kommunikationstheorie . . . . . .

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Inhalt

Empfehlungen für die Kommunikation mit Menschen im Wachkoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.2.4 Erkenntnisse für die Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . 119 Exkurs 2: Propriozeption und prozesshafte Kommunikation . . . . . . 124 3.2.3

4. Seelsorge-Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Leitfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Begründung der Auswahl der Seelsorge-Konzeptionen und Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Isolde Karle, Seelsorge in der Moderne . . . . . . . . . 4.2.2 Elisabeth Naurath, Seelsorge als Leibsorge . . . . . . . 4.2.3 Manfred Josuttis, Segenskräfte . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Ursula Riedel-Pfäfflin/Julia Strecker, Flügel trotz allem 4.2.5 Barbara Städtler-Mach, Kinderseelsorge . . . . . . . . 4.2.6 Peter Frör, Seelsorge mit Koma-Patienten . . . . . . . Exkurs 3: Multidimensionale Ansätze der Seelsorge mit altersverwirrten Menschen und geistig behinderten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Ergebnisse und Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Eigener Seelsorge-Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Seelsorge ohne Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Seelsorge als Gottvertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Seelsorge als geistliches Tun . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Seelsorge im Angesicht des Todes . . . . . . . . . . . 5.2.3 Seelsorge als Kommunikation des Evangeliums . . . Exkurs 4: Aufbau von externen Gedächtnishilfen . . . . . . . . . . 5.3 Seelsorge als Aufgabe der Gemeinde und der Gemeinschaft 5.4 Seelsorge als gestaltete Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Seelsorge als Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Seelsorge als besuchende Seelsorge . . . . . . . . . . 5.4.3 Seelsorge als Trost und Stärkung der Hoffnung . . . 5.4.4 Seelsorge als Beistand und Fürsorge . . . . . . . . . 5.4.5 Seelsorge als Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Vielfältigkeit des seelsorglichen Konzepts . . . . . . . . . .

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6. Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Seelsorgliche Begegnung, Begleitung und Kommunikation . 6.1.1 Spirituelle Bedürfnisse und religiöse Themen wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Orientierung geben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Trösten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Unerreichbare erreichen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5 Segnen und sich der Kraft des Heiligen vergewissern

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Inhalt

6.1.6 Im Ab und Auf des Lebens begleiten . . . . . . . . . . . 6.1.7 Über den Glauben sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.8 Geburtstage gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.9 Kranke besuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.10 Paarbeziehungen gestalten helfen . . . . . . . . . . . . . 6.1.11 Unvollendetes vollenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Gemeindepädagogischer Ansatz: Ein integratives Musikprojekt. 6.2.1 Ausgangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Musikprojekt „Weite Räume meinen Ohren“ . . . . . . . 6.2.3 Probenorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Vorstellung der Teilnehmenden des Musikprojekts . . . 6.2.5 Beobachtungen an den Probentagen . . . . . . . . . . . 6.2.6 Fazit des Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Ethische Beratung: Handeln an der Grenze von Leben und Tod . 6.3.1 Ethische Beratung im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Ethische Einzelfallberatung als Methode . . . . . . . . . 6.3.3 Ethische Beratung in Einrichtungen der Langzeitbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Ethische Aufgaben der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . 6.4 Sterbebegleitung, Sterben und Tod bei Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und bei Menschen im Wachkoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Umgang mit Sterben und Tod bei Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen . . . . . . . . . . . . Exkurs 5: Todesbilder in der modernen Gesellschaft . . . . . . . . . . 6.4.2 Sterbebegleitung für Menschen im Wachkoma . . . . . . Exkurs 6: Schmerzbehandlung in der Sterbebegleitung bei Menschen im Wachkoma . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 7: Abschiedlich leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 8: Bewusstwerdung des nahenden Todes . . . . . . . . . . . .

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7. Empfehlungen für die Seelsorgeausbildung 7.1 Aus-, Fort- und Weiterbildung . . . . 7.2 Persönliche Weiterentwicklung . . . . 7.3 Erwerb besonderer Kompetenzen . . . 7.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Anhang: Ablaufplan des Musikprojekts . . . . . . . . . . . . . . . . 312 8.1 Ablaufplan des Musikprojekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetze, Urteile, Ordnungen . . . Internetseiten . . . . . . . . . . . Internetseiten zu Eluana Englaro

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Inhalt

Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

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1. Einleitung ,Von einem Augenblick zum nächsten ist alles anders.‘ Ein solcher Satz ist häufig zu hören im Umgang mit Menschen, die von einer Hirnschädigung betroffen sind. Ursachen und Situationen, die zu Hirnschädigungen führen, treten plötzlich und unerwartet ein. Auf Intensivstationen ringen die betroffenen Menschen zunächst um ihr Leben. Wenn sie diese Zeit überleben und eine schwere dauerhafte Hirnschädigung zurückbehalten, dann ist ,nichts mehr so wie es mal war.‘ Die betroffenen Menschen stehen vor vielfältigen Herausforderungen: Wie können sie von jetzt an ihr Leben leben? Was können sie wieder oder neu lernen? Was haben sie unwiederbringlich verloren? Wie können sie ihre Verluste bewältigen? Worin finden sie Ermutigung und Trost? Die Betroffenen unterteilen oft – wenn sie dazu kognitiv in der Lage sind – ihr Leben in ein ,früheres‘ und ein ,heutiges‘ Sein. Die Art der Behinderung wird anders erlebt, als wenn sie angeboren oder frühkindlich erworben wäre oder sich durch einen Alterungs- bzw. Krankheitsprozess ergäbe.1 Die hier vorgelegte Seelsorge-Konzeption „Das Verletzte stärken“2 ist insofern etwas Besonderes, als sie ihren Schwerpunkt auf die Seelsorge für Menschen mit schweren erworbenen Hirnschädigungen und im Zustand des Wachkomas legt. In der Begegnung mit sprachlosen, behinderten oder bewusstseinsveränderten Menschen stoßen die Begleitenden an ihre Grenzen. Die vorliegende Arbeit zeigt, welches Wissen und welche Kenntnisse für die seelsorgliche Arbeit mit Menschen im Wachkoma und für Menschen mit schweren Hirnschädigungen notwendig sind. Der Respekt vor der Lebensleistung der betroffenen Menschen und ihrer Familien, die häufig beeindruckend ist, ist dabei grundlegend für die seelsorgliche Tätigkeit. Seelsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und für Menschen im Wachkoma ist lebensbejahende und Mut machende Seelsorge. Es ist eine Seelsorge, die den Ernst der Erkrankungen und der Behinderungen kennt und die um die erlittenen Verluste weiß. Sie öffnet Räume für die Fragen nach 1 Viele Erkenntnisse und Ergebnisse der hier vorgelegten Seelsorge-Konzeption können dennoch auf die seelsorgliche Arbeit mit anderen nicht sprachfähigen, kognitiv eingeschränkten oder bewusstseinsbeeinträchtigten Menschen übertragen werden. 2 Der Titel „Das Verletzte stärken“ ist einem Vers aus dem Buch Ezechiel entlehnt. Der erste Teil dieses Bibelverses steht an der Wand des Altarraums der Kirche in Eckardtsheim, dem Ortsteil der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, in dem sich u. a. Einrichtungen befinden, in denen schwerpunktmäßig Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen betreut werden. Vgl. Ez 34,16: „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken.“ Bis zum 31. 12. 2009 lautete der Name der Stiftungen „von Bodelschwinghsche Anstalten Bethel“.

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1. Einleitung

dem Sinn des Leidens und dem Sinn des Lebens, für die Trauer und für die Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Tod. Dabei bestärkt sie die betroffenen Menschen im Vertrauen auf Gott, der den Menschen das Leben gegeben hat und sie hält im Leben und im Sterben. Schwere Hirnverletzungen zeigen sich in unterschiedlichen Erscheinungsbildern. Folgende Prämissen sind für die Konzeption der Verfasserin leitend: Menschen im Wachkoma sind eine Teilgruppe der Menschen mit schweren Hirnschädigungen. Ihre Lebenssituation gleicht in den Grundzügen der allgemeinen Problematik des Lebens mit einer schweren bzw. schwersten Hirnschädigung, wobei die Übergänge fließend sein können. Aus der Begleitung von Menschen im Wachkoma und aus der Begleitung von Menschen mit anderen Hirnschädigungen ist wechselseitig zu lernen. Medizinische, psychologische und neurologische Erkenntnisse werden aufgenommen, soweit diese für die seelsorgliche Arbeit sinnvoll und notwendig sind.3 Das umfangreiche Forschungsmaterial der verschiedenen Fachdisziplinen wurde nach den Erfordernissen der vorliegenden SeelsorgeKonzeption gesichtet, ausgewertet und in diese Arbeit einbezogen.4 In methodischer Hinsicht werden in der gesamten Arbeit die Analyse und Kommentierung anonymisierter Falldarstellungen verwendet. Die Daten der Patienten, die in den Fallbeispielen verwendet werden, wurden verfremdet. Auch die verwendeten Namensabkürzungen stimmen nicht mit den Namen der Patienten überein. Damit werden die Persönlichkeitsrechte geschützt und der Datenschutz gewährleistet. Darüber hinaus werden allgemeinverständliche Zeitungsartikel, autobiographische und biographische Erzählungen, die über Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und im Wachkoma berichten, zur Illustration und zum vertiefenden Verständnis herangezogen.5 Dabei zeigte sich, dass noch vor 10 Jahren, zum Teil bis heute, die Betroffenen unspezifisch untergebracht wurden: Menschen im Wachkoma wurden und werden in Alten- und Pflegeheimen versorgt, die ganz auf die Bedürfnisse hochaltriger Menschen ausgerichtet sind. Diejenigen, die gravierende Funktionsstörungen des Gehirns erlitten haben, wurden und werden oft in psychiatrischen Einrichtungen oder Einrichtungen der Behindertenhilfe untergebracht. Ohnehin schon desorientiert, sind sie überfordert durch die zum Teil unverständlichen Gedanken und Verhaltensweisen chronisch psychisch erkrankter Menschen, mit denen sie in den Einrichtungen Kontakt haben. Erst im Laufe der letzten Jahre sind Facheinrichtungen und Fachkrankenhäuser entstanden, die dem besonderen Hilfebedarf der Betroffenen gerecht werden wollen. Die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel haben in 3 Alle wichtigen medizinischen Fachbegriffe werden im Glossar nach Pschyrembel erläutert. Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch. 4 Es gibt meines Wissens noch keine zusammenhängende Darstellung des Themenkomplexes. 5 Da es mittlerweile eine Fülle von literarischen Schilderungen gibt, ist die Vollständigkeit des Überblicks nicht zu gewährleisten.

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1. Einleitung

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der Region Bielefeld u. a. eine Pflegeinrichtung für Menschen im Wachkoma, ein Fachkrankenhaus für Menschen, die dauerhaft Betreuung benötigen, und verschiedene ambulante Dienste aufgebaut6, die das Untersuchungsfeld des vorgelegten Seelsorge-Entwurfs bilden. Dieser ist aus der elfjährigen seelsorglichen Tätigkeit der Verfasserin für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und für Menschen im Wachkoma erwachsen. Er will die Seelsorge für die betroffenen Menschen umfassend analysieren und dadurch einen Beitrag zur Weiterentwicklung der allgemeinen Seelsorge-Lehre leisten. Menschen im Wachkoma und Menschen mit schweren Hirnschädigungen bilden einen Personenkreis, der in der Seelsorge bislang eher vernachlässigt wurde und in der Gesellschaft tabuisiert wird, obwohl dieses Schicksal jeden jederzeit treffen kann. Dieser Personenkreis soll deshalb hier in den Fokus der Seelsorge gerückt werden. Die hier vorgelegte Arbeit zeigt auf, dass Seelsorge für schwerstbehinderte, kommunikationseingeschränkte und bewusstseinsveränderte Menschen möglich und sinnvoll ist. Erfahrungen aus der langjährigen seelsorglichen Arbeit mit den betroffenen Menschen zeigen: Entwicklungen sind im menschlichen Leben immer wieder möglich, auch bei Menschen mit schwersten Behinderungen. Um diese komplexe Thematik detailliert zu analysieren, werden die Themen „Bewusstsein“ und „Kommunikation“ ausführlich erörtert. Da diese Aspekte in der Diskussion über Menschen im Wachkoma außerordentlich relevant sind, muss sich eine neue Seelsorge-Konzeption damit auseinandersetzen: – Das Bewusstsein und die in diesem Zusammenhang von verschiedenen Seiten aufgeworfene Frage der Beendigung von lebenserhaltenden bzw. lebensverlängernden Maßnahmen wird in Auseinandersetzung mit ausgewählten medizinischen, juristischen und philosophischen Entwürfen thematisiert. Das jeweilige Verständnis des Bewusstseinsbegriffs wird aus theologischer Perspektive problematisiert und in seinen anthropologischen Zusammenhang eingeordnet (Kapitel 3.1). – Die Frage, ob und in welcher Weise Kommunikation mit den betroffenen Menschen möglich ist, wird facettenreich erörtert. Dabei werden Beobachtungen aus den Begegnungen mit Menschen im Wachkoma und mit Menschen mit schwersten Hirnschädigungen herangezogen, um wechselseitig aus den Begegnungen zu lernen. Die Übergänge zwischen diesen Gruppen sind fließend (Kapitel 3.2). Anschließend findet eine Auseinandersetzung mit verschiedenen modernen Seelsorge-Konzeptionen statt (Kapitel 4). Einige dieser Ansätze beschäftigen sich mit theoretischen Grundlagen, andere stellen bestimmte Adressatengruppen in den Mittelpunkt. Die Entwürfe sind im Hinblick darauf ausgewählt 6 Vgl. http://www.weiter-leben.de v. 4. 10. 2010. Auf diesen Seiten sind Informationen über Angebote der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in anderen Regionen zu finden.

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1. Einleitung

worden, ob sie einen Ertrag für die Seelsorge für Menschen mit kognitiven Einschränkungen respektive für Menschen in bewusstseinsveränderten Zuständen beisteuern und worin dieser besteht. Eine zentrale Position nimmt die Entwicklung eines eigenen SeelsorgeEntwurfs ein (Kapitel 5). Ziel dieses Seelsorge-Entwurfes ist es, der Vielfältigkeit der seelsorglichen Arbeit durch einen multiperspektivischen Ansatz gerecht zu werden und Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und Menschen im Wachkoma als Adressaten der Seelsorge ernst zu nehmen. Zur Veranschaulichung werden im praktischen Teil der Arbeit exemplarisch einzelne Aufgabenbereiche aus der alltäglichen seelsorglichen Praxis dargestellt, analysiert und kommentiert. Die Praxisbeispiele sind der eigenen seelsorglichen Tätigkeit entnommen. Der erste Abschnitt widmet sich Themen und Feldern der Einzelseelsorge: Besuche, Andachten, Alltagsbegegnungen, Kasualien. Grundlage der seelsorglichen Begleitung ist die Vertrautheit mit den betroffenen Menschen, die durch regelmäßige Begegnungen entsteht (Kapitel 6.1). Der zweite Abschnitt beschreibt exemplarisch ein gemeindepädagogisches Projekt, in dem behinderte und nichtbehinderte Menschen einander ,auf Augenhöhe‘ begegnen und gemeinsam Neues entwickeln. Die Darstellung dieses integrativen gemeindlich-kulturellen Ansatzes soll ermutigen, ähnliche Formen der Begegnung in Gemeinden zu initiieren (Kapitel 6.2). Die Problematik des Lebens mit einer erworbenen Hirnschädigung ist eng mit den Fragen von Leben- und Sterbenlassen verbunden. In ethischen Einzelfallberatungen werden komplexe Problemlagen diskutiert und entschieden. Diese werden im dritten Abschnitt dokumentiert und die Grundlagen der ethischen Einzelfallberatung werden vorgestellt. Die Aufgabe der Seelsorgerinnen und Seelsorger in der ethischen Fallberatung wird erläutert (Kapitel 6.3). Das Leben der Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und der Menschen im Wachkoma ist in besonderer Weise dauerhaft bedroht. Sie haben lebensgefährliche Situationen überlebt – aber oft als geschwächte Menschen. Die Sterbebegleitung und die Auseinandersetzung mit den Themen „Sterben“ und „Tod“ sind ein wichtiger Teil der Seelsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen (Kapitel 6.4). Empfehlungen für die Seelsorgeausbildung werden im Anschluss aufgestellt. Die Seelsorge für Menschen mit Behinderungen steht nicht im Fokus der Seelsorgeausbildung. Deshalb wird der Frage nachgegangen: Was sollte man können und wissen, um für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und Menschen im Wachkoma angemessen seelsorglich tätig zu werden? Seelsorgerinnen und Seelsorger, Gemeinden und Institutionen dürfen die Begegnung mit den Betroffenen und ihren Familien nicht länger scheuen. Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und Menschen im Wachkoma dürfen in der Seelsorgearbeit nicht länger vernachlässigt werden. Das neue Seelsorge-Konzept „Das Verletzte stärken“ zeigt Wege und Möglichkeiten auf,

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1. Einleitung

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diese Arbeit sinnvoll und angemessen zu gestalten und den Glauben auch für diese Menschen und ihre Angehörigen erfahrbar zu machen. Diese Arbeit belegt auch: Wer sich auf die Begegnung einlässt, wird Neues über das Leben, über den Glauben und über sich selbst lernen.

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2. Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und Menschen im Wachkoma als Gegenüber : Einführung Eine Hirnschädigung kann jeden Menschen zu jedem Zeitpunkt seines Lebens treffen.1 Menschen unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen Schichten sind von „erworbenen Hirnschädigungen“2 betroffen. Diese werden beispielsweise durch Schädelhirntraumata nach Unfällen und durch andere äußere Gewalteinwirkungen (traumatische Ursachen) oder durch Hirnblutungen, Schlaganfälle3, Herzinfarkte mit anschließendem Herzstillstand, In1 Das Kuratorium ZNS geht von ca. 270.000 betroffenen Menschen pro Jahr in Deutschland aus, die jährlich ein Schädelhirntrauma aller Schweregrade erleiden, vgl. http://www.hannelore-kohlstiftung.de/zns/zns_wasistdas.html v. 29. 6. 2010. Knapp die Hälfte der Unfallopfer sei unter 25 Jahren. 35.000 betroffene Kinder seien jünger als 5 Jahre. Zurzeit gäbe es „keine ausreichend verlässlichen Zahlen zur Häufigkeit der akuten Schädel-Hirn-Verletzungen und ihren langdauernden Krankheitsverläufen, einschließlich der mentalen, kognitiven und verhaltensneurologischen Beeinträchtigungen“, halten Rickels/von Wild/Wenzlaff/Bock (Hg.), Schädel-Hirn-Verletzung, 1, fest. Siehe auch ebd., 217 f. Die Pflegewissenschaftlerin Christel Bienstein gibt für den Zustand des Wachkomas folgende Fallzahlen an: Schätzungen ergäben, dass von ca. 8.000 – 10.000 Personen ausgegangen werden müsse, die sich im Zustand des Wachkomas befänden. Pro Jahr läge die Zahl der neu betroffenen Menschen in NRW bei ca. 1.000 Menschen, wobei davon ausgegangen werden müsse, dass sich durch die Fortschritte der modernen Medizin die Zahl erhöht habe. Aufgrund der nicht vorhandenen Meldepflicht gäbe es keine exakten Daten über die Anzahl der Betroffenen, sodass in Erfassungen Menschen aufgenommen würden, die sich bereits in einem verbesserten Zustand befänden. Vgl. Bienstein, Versorgung, 133 f. Bienstein bezieht sich auf Schätzungen des Kuratoriums ZNS von 1995 und auf eine Studie von Wichers, Patienten der Phase F. (Nach meiner Kenntnis handelt es sich um Rolf Wiechers.) Vgl. Möllmann, Epidemiologie. Laut Untersuchung des Verfassers beträgt die Inzidenz des Schädel-Hirn-Traumas 332 pro 100.000 Einwohner. Ca. 5 Prozent der Betroffenen erlitten ein Schädel-Hirn-Trauma schweren Grades mit Bewusstlosigkeit, weitere 5 Prozent ein SchädelHirn-Trauma mittelschweren Grades mit deutlichen Zeichen der Gehirnfunktionsbeeinträchtigung, und ca. 90 Prozent ein Schädel-Hirn-Trauma leichten Grades. (Ebd., 7; 108 ff.) Die Schweregradeinteilung erfolgt mit Hilfe der Glasgow Koma Scale. Diese Koma-Skala wurde entwickelt von Teasdale/Jennett, Assessment, 81 – 84. 2 Der Begriff der „erworbenen Hirnschädigung“ wird nicht in dem Sinn verwendet, dass jemand etwas Gutes erwirbt, um es zu besitzen. Dieser Begriff soll verdeutlichen, dass diese Art der Hirnschädigung im Gegensatz zu einer angeborenen Hirnschädigung erst im Laufe des Lebens entsteht. Andere gebräuchliche Begriffe sind u. a. „hirnverletzte Menschen“, „schädelhirnverletzte Menschen“ und „Verletzte mit Schäden des zentralen Nervensystems“. 3 Die Deutsche Schlaganfall-Hilfe gibt folgende Zahlen an: Rund 200.000 Bundesbürger erlitten jährlich einen Schlaganfall, d. h., der Schlaganfall sei die dritthäufigste Todesursache und der häufigste Grund für erworbene Behinderungen im Erwachsenenalter. 37 Prozent der betroffenen Menschen stürben innerhalb des ersten Jahres nach dem Schlaganfall. 70 Prozent der Überle-

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toxikationen4 oder Hirntumore (nicht traumatische Ursachen) hervorgerufen.5 Das schädigende Ereignis trifft die Menschen in vielen Fällen unvorbereitet, so dass sich ihr Leben in Sekundenschnelle, beinahe „schlagartig“, verändert. Eine derartige Hirnschädigung betrifft den gesamten Organismus des Menschen, da das Gehirn das zentrale Organ ist, das alle körperlichen Funktionen steuert. Im Gegensatz zu anderen Organen kann es weder „ersetzt“, noch sein Ausfall auch nur zeitweise maschinell kompensiert werden.6 Eine Schädigung des Gehirns kann, je nach Art und Ausmaß der Schädigung, lebensbedrohliche Konsequenzen haben.7 Die daraus folgende schwerwiegende Beeinträchtigung der körperlichen und psychischen Unversehrtheit der betroffenen Menschen zeigt die Fragilität menschlicher Existenz. Menschen, die von schweren Hirnschädigungen betroffen sind und dadurch gravierende neurologische Schädigungen erlitten haben, berichten, für sie sei es, als ginge ein „Riss durchs Leben“8. Die betroffenen Menschen verbindet ein gemeinsames Schicksal, denn obwohl Art und Schwere der Hirnschädigungen unterschiedlich sind und obwohl sich die dadurch verursachten Störungen und Behinderungen unterscheiden, stehen die Betroffenen vor ähnlichen Problemen und Herausforderungen. Sie beschäftigen sich mit gleichen Themen und Fragen. Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Menschen, die eine so gravierende Hirnschädigung erlitten haben, dass sie dadurch bedingt eine dauerhafte Behinderung erworben haben. Sie leiden unter ausgeprägten Funktionsstörungen der geistigen und körperlichen Fähigkeiten und werden daher vor-

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benden blieben langfristig behindert. 64 Prozent der überlebenden Patienten seien ein Jahr nach dem Schlaganfall pflegebedürftig, ca. 15 Prozent von ihnen müssten in einer Pflegeeinrichtung versorgt werden. Die Schlaganfall-Häufigkeit steige mit zunehmendem Lebensalter an. Vgl. http://www.schlaganfall-hilfe.de/index.php?option=com_content&task=view&id=650&Ite mid=415v. 28. 06. 2010; http://www.schlaganfall-hilfe.de/index.php?option=com_content& task=view&id=2 &Itemid=34 v. 28. 06. 2010. Vgl. Kolominsky-Rabas/Heuschmann/Neundörfer, Epidemiologie, 494: „Der Schlaganfall ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen und steht mit 11,4 % an Platz 3 der Todesursachen in Deutschland nach Herzerkrankungen und Krebs […]. Der Schlaganfall stellt zudem die häufigste Ursache für lebenslange Behinderung im Erwachsenenalter dar und ist damit der häufigste Grund für Institutionalisierung.“ Die Verfasser arbeiten an der Erstellung des Erlanger Schlaganfall-Registers. Vergiftungen. Vgl. zum Ganzen beispielsweise Geremek, Wachkoma, 35 – 128. Andere lebenswichtige Organe können durch eine Transplantation „ersetzt“ oder ihr Ausfall kann beispielsweise durch eine Herz-Lungen-Maschine oder durch Dialyseverfahren (Niere, Leber) übergangsweise kompensiert werden. Vgl. Zieger, Beziehungsmedizinisches Wissen, 53: „Ein Überleben ist heutzutage wegen der modernen Rettungs- und Intensivmedizin häufiger als noch vor 20 Jahren möglich. Dennoch versterben immer noch etwa 30 bis 40 Prozent als schwerstes Unfallopfer am Unfallort und in den ersten Tagen auf der Intensivstation.“ www.riss-durchs-leben.de v. 29. 6. 2010.

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

übergehend oder dauerhaft in stationären Einrichtungen betreut. Dabei stellt die Gruppe der Menschen im Wachkoma eine Sondergruppe dar.9 Menschen, für die ein progredienter Krankheitsverlauf prognostiziert wird (Demenzen unterschiedlichen Typs, Hirntumore mit prognostiziertem progredientem Verlauf, Chorea Huntington, Creutzfeldt-Jacob-Erkrankung, bestimmte Formen der Multiplen Sklerose), werden in dieser Arbeit nicht gesondert berücksichtigt.10 Die besondere Problematik des Lebens mit einer erworbenen Hirnschädigung ist in der Gesellschaft wenig bekannt. Im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie auch der Medien stehen spektakuläre oder extreme Beispiele.11 Deshalb 9 Vgl. ZNS – Hannelore Kohl Stiftung (Hg.), Schädel-Hirn-Trauma: In der neurologischen Rehabilitation (wie auch in der Sozialgesetzgebung) werde ein Phasenmodell zur Beschreibung des Heilungsverlaufs und des Grades der Behinderung verwendet. Man unterscheide verschiedene Rehabilitationsphasen, nämlich: – „die Akutbehandlung (Phase A) – Frührehabilitation (Phase B oder Phase I […]) – die weiterführende Rehabilitation (Phase C) – die medizinisch-berufliche Rehabilitation (Phase C + D oder Phase II) – die Anschlussheilbehandlung (Phase D) – die schulisch-berufliche Rehabilitation (Phase E oder Phase III) – die Langzeitrehabilitation (Phase F). […] Mit dem Wechsel zwischen den Phasen ist häufig auch ein Wechsel des Kostenträgers für die Rehabilitationsleistungen verbunden.“ (Ebd., 13.) Die Phase F umfasst die aktivierende Langzeittherapie und die zustandserhaltende Pflege für die Betroffenen, bei denen trotz umfangreicher therapeutischer Maßnahmen „weiterhin schwere neurologische Ausfälle bestehen bleiben, die es nicht erlauben, ein selbständiges Leben zu führen. Hier reicht der Grad der Behinderung von bleibender Bewusstlosigkeit im apallischen Durchgangssyndrom [bzw. im Wachkoma, die Vf.] bis zu ausgeprägten Funktionsstörungen der geistigen und körperlichen Fähigkeiten, die den Patienten hilflos und pflegebedürftig bleiben lassen.“ (Ebd., 18.) Für die Hilfeleistungen der einen Gruppe gilt als Gesetzesgrundlage die Wiedereingliederungshilfe nach § 53 SGB XII und SGB IX, für die der anderen Gruppe (Menschen im Wachkoma) gilt der Versorgungsvertrag nach der Pflegeversicherung (SGB XI). 10 Zwei Gründe seien dafür genannt: Erstens unterscheidet sich das Erleben der Krankheit bzw. Behinderung bei den unterschiedlichen Erkrankungen, zweitens werden die letztgenannten Personengruppen nicht schwerpunktmäßig in den von mir betreuten Einrichtungen versorgt. 11 Als prominente bzw. prominent gewordene Beispiele seien exemplarisch genannt: Der deutsche Handballer Joachim Deckarm, der 1979 während eines Europapokalspiels einen Sportunfall erlitt; der französische Gendarm Daniel Nivel, der 1998 von deutschen Hooligans während der Fußballweltmeisterschaft überfallen wurde; der Hochseilartist Johann Traber, der 2006 während einer Vorstellung verunglückte; die Amerikanerin Terri Schiavo, deren künstliche Ernährung eingestellt wurde, nachdem sie 15 Jahre im Zustand des Wachkomas gelebt hatte; der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon, der sich nach einem Schlaganfall seit Anfang 2006 im Koma befindet (Vgl. Münch, Der Vergessene, 3.); der Popsänger Edwyn Collins, der zwei Schlaganfälle erlitt und wieder lernte, Gitarre zu spielen (Vgl. Boße, Anfang, V 2/3.); der Skifahrer Daniel Albrecht, der nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma wieder in den Skirennsport zurückkehren will (Vgl. Neudecker, Berg, 3. Der Untertitel des Artikels lautet: „Wie es ist, wenn man nicht mehr weiß, wer man ist. Der Skiweltmeister Daniel Albrecht stürzte im Januar so schwer, dass er drei Wochen im Koma lag. Danach verwechselte er Menschen und Wörter. Mühsam fand er ins Leben zurück. Nun will er wieder Rennen fahren – und besser werden als je

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

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werden in dieser Arbeit Fallschilderungen und einzelne Szenen zur Illustration eingefügt, um das Leben von Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung möglichst differenziert darzustellen. Im Folgenden sollen diese besonderen Herausforderungen, vor die alle Beteiligten gestellt sind, thematisiert werden. Einführend werden die Herausforderungen an die Seelsorge beschrieben, die durch diese Menschen und ihr besonderes Schicksal gegeben sind (Kapitel 2.1). Es handelt sich hierbei um ein spezielles Arbeitsfeld, in dem Seelsorgerinnen und Seelsorger durch die besonderen Lebensumstände der Betroffenen vor spezifische Aufgaben gestellt sind. Eine eigenständige Vorgehensweise ist gefordert, gerade auch im Vergleich mit anderen Fachdisziplinen. Die allgemeine Poimenik hat Menschen mit dieser besonderen Problematik noch nicht in den Blick genommen.12 Neben den Betroffenen (2.2) sind auch deren Familien vor besondere Herausforderungen gestellt, die sich im Laufe der Entwicklung zwar verändern können, aber deren grundlegende Problematik oft dauerhaft zu sein scheint (2.3.1). Neuartig ist, dass verschiedene Träger sozialer Einrichtungen ein eigenständiges Hilfeangebot für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen bereitstellen. Hier wird institutionell versucht, dem besonderen Hilfebedarf zu begegnen, um zu vermeiden, dass die betroffenen Menschen in Altenpflegeheimen oder psychiatrischen Einrichtungen untergebracht werden müssen (2.3.2). Mitarbeitende in diesen speziellen Einrichtungen stehen vor der Aufgabe, hirnverletzte Menschen angemessen zu betreuen, zu pflegen, zu begleiten und zu fördern. Sie sind durch diese Personengruppe in besonderer Weise herausgefordert (2.3.3).

zuvor.“); der zwölfjährige Sohn der Sängerin Annette Humpe (Ideal), der durch einen Autounfall ein schweres Schädelhirntrauma erlitt. (Vgl. Böckem, Traum.) Lesenswert sind die Bücher des Neurologen Oliver Sacks, in denen er die Schicksale von Menschen mit besonderen neurologischen Ausfallerscheinungen schildert: Sacks, Mann; Sacks, Anthropologin. Siehe auch als Einführung Lurija, Gehirn. 12 Vgl. Städtler-Mach, Kinderseelsorge, 11 – 27. Städtler-Mach macht hinsichtlich der Kinderseelsorge ähnliche Beobachtungen. Sie fragt nach den Zusammenhängen und Interdependenzen der Kinderseelsorge und der allgemeinen Poimenik. Kinderseelsorge gehöre zu den speziellen Arbeitsfeldern der Seelsorge, „die sich vor allem dadurch profilieren, dass sie bestimmte Personengruppen und deren spezifische Lebensbedingungen im Blick haben. Kenntnisse über deren besondere Lebensumstände und seelsorgerliche Herausforderungen, die sich daraus ergeben, stehen dabei im Vordergrund.“ (Ebd., 21.) Dennoch sollte eine Seelsorge-Konzeption für eine besondere Personengruppe nicht nur für dieses Arbeitsfeld, sondern auch für weitere Arbeitsfelder wirksam sein.

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

2.1 Besondere Herausforderungen der Seelsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen Das Charakteristikum der Seelsorge für Menschen mit schweren erworbenen Hirnschädigungen liegt in der Besonderheit der Lebenssituation der Betroffenen: Die Dramatik der Erkrankung bzw. der erworbenen Behinderung besteht darin, dass Menschen die Schädigung dieses zentralen Organs unerwartet und plötzlich erleiden. In Folge dieses Ereignisses ändert sich ihr Leben in vielen Bereichen, manchmal auch in jeglicher Hinsicht. Den Menschen ist etwas widerfahren, das sie weder verstehen noch emotional einordnen können. Überdies haben sie oft zusätzlich zur Schädigung des Gehirns die Fähigkeit verloren, darüber so zu kommunizieren, wie sie es vor dem schädigenden Ereignis konnten. Die Herausforderung an die Seelsorge liegt also zum einen darin, die Lebensproblematik der betroffenen Menschen zu verstehen und diese seelsorglich zu begleiten, zum anderen darin, einen eigenständigen seelsorglichen Ansatz zu entwickeln und den theologischen Beitrag zum „Leben mit einer erworbenen Hirnschädigung“ zu formulieren.13 Eine Seelsorge-Konzeption für Menschen mit schweren erworbenen Hirnschädigungen ist in Auseinandersetzung mit modernen Seelsorge-Entwürfen zu entwickeln.14 Für die entsprechende seelsorgliche Arbeit sind Kenntnisse über Erkrankungs- bzw. Behinderungsbilder wie über therapeutische und pflegerische

13 In der kirchlichen Praxis wurde die seelsorgliche Begleitung von Menschen mit kognitiven oder kommunikativen Beeinträchtigungen wie auch mit affektiven Störungen vielfach den diakonischen Einrichtungen überlassen. Für dieses Phänomen ist signifikant, dass es meines Wissens kein differenziertes Seelsorge-Konzept gibt, in dem explizit Menschen mit „geistigen Behinderungen“ im Mittelpunkt stehen. Beispielhaft sei der Abschnitt „Seelsorge an Menschen mit bestimmten Problemen und in besonderen Situationen“ im Handbuch der Seelsorge, bearb. v. I. Becker, 389 – 520, genannt. Darin beschreiben mehrere Autoren die Seelsorge für unterschiedliche Personengruppen, z. B. „Seelsorge an Kranken, Sterbenden und Trauernden“, „Seelsorge an psychisch Kranken“, „Seelsorge an Süchtigen und Suchtgefährdeten“. Die Adressaten der Seelsorge sind jeweils die Betroffenen. Als besondere Gruppe gelten die „Behinderten“, da sie nur gemeinsam mit ihren Angehörigen Adressaten der Seelsorge sind, vgl. Kretzschmar, Seelsorge an Behinderten, 437 – 451. Vgl. auch Ziemer, Seelsorgelehre, der zwar einen Exkurs zu ,Psychischen Krankheiten in der Seelsorge‘ gibt (Ebd., 286 – 291.), aber „Behinderte“ nur in zwei kurzen Abschnitten [u.a. unter dem Thema „Stigmatisierung“ (Ebd., 202.)] erwähnt. Vgl. Klessmann, Seelsorge. Michael Klessmann zählt die Seelsorge mit ,geistig behinderten Menschen‘, ähnlich wie die Seelsorge mit Kindern, dementen Menschen, eventuell auch mit schwer kranken und sterbenden Menschen zu den Ausnahmen der von ihm aufgestellten Beobachtung: „Im Regelfall bildet jedoch die Selbstverantwortlichkeit des ratsuchenden Gegenübers sowohl Ausgangs- als auch Zielpunkt der Seelsorge.“ (Ebd., 124.) Eine weitere Erwähnung finden Menschen mit einer geistigen Behinderung meines Wissens nicht. 14 Siehe Kapitel 4 dieser Arbeit.

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2.1 Besondere Herausforderungen der Seelsorge

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Ansätze15 unverzichtbar. Die Seelsorge bei Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen befindet sich, ähnlich den anderen Disziplinen (z. B. Pflege, Medizin, Neuropsychologie) oder auch den unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen (z. B. Musiktherapie16, Ergotherapie, Logopädie, tiergestützte Therapie), in einer Suchbewegung. Sie ist vor die Frage gestellt, wie eine angemessene seelsorgliche Begleitung für Menschen, die nicht oder nur eingeschränkt verbal kommunizieren können bzw. kognitiv beeinträchtigt sind, gestaltet werden kann und wie die „Kommunikation des Evangeliums“ mit Menschen, die auf elementare Lebensvollzüge zurückgeworfen sind, gelingen kann. Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und eben auch Menschen im Wachkoma sind als eigenständiges Gegenüber wahrzunehmen. Dies geschieht unter der Voraussetzung, dass die Betroffenen, trotz ihrer kognitiven, kommunikativen oder somatischen Beeinträchtigungen Subjekte ihres Seins sind, ähnlich den altersverwirrten oder sterbenden Menschen, den Menschen mit angeborenen geistigen Behinderungen oder auch Kindern. Dabei ist die Seelsorge zu einer differenzierten Vorgehensweise herausgefordert, da sowohl Art und Schwere der Hirnschädigung und ihrer Sekundärfolgen unterschiedlich sind als auch der Umgang mit der erworbenen Behinderung abhängig von Persönlichkeitsvariablen ist (Alter, Geschlecht, sozialem Umfeld, Dauer der Hirnschädigung, Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit).17 Vorläufig wird Seelsorge in dieser Arbeit definiert als „cura animarum“, als Sorge um die Menschen und ihre Seelen. Sie ist nicht zu reduzieren auf bestimmte Formen der Einzelseelsorge, beispielsweise auf das seelsorgliche Gespräch, sondern ist „Kommunikation des Evangeliums“18 und findet in allen Wesensäußerungen der Kirche statt. Grundlage ihres Handelns ist der Glaube, dass Gott der Grund menschlichen Seins und in Jesus Christus das Heil zu finden ist. Ihr Ziel ist es, Menschen in einer besonders schwierigen Lebenssituation zur Seite zu stehen, sie in der Bewältigung ihres Schicksals zu unterstützen und sie der Liebe Gottes zu allen Geschöpfen zu vergewissern. Diese Liebe gilt gerade auch den Menschen, die zu den Mühseligen und Beladenen gehören, und denen, die sich selbst verloren haben (Mt 11,28; Ez 34,16). Da die betroffenen Menschen nicht selbstständig in der Lage sind, eine 15 Auf folgende Konzepte sei als Auswahl verwiesen: Feil/de Klerk-Rubin, Validation; Bienstein/ Fröhlich, Stimulation; Steinbach/Donis, Langzeitbetreuung; Schweizer, Neurotraining. 16 Vgl. Baumann/Gessner (Hg.), ZwischenWelten. Einen Überblick gibt der Aufsatz von Gessner, Konzepte, 9 – 17. 17 Vgl. den Auszug aus der Aktivierungsstudie „Kleiner Unterschied? Frauen und Männer im Wachkoma“ unter http://www.wachkoma.at/Informationen/Jahrestagung_2007/Starke.pdf v. 4. 1. 2010. Vgl. auch Huxel, Ontologie, 389 – 400, zur „Differenz der Individualitäten“ und zu den „Differenzen, die den zeitlichen Verlauf des seelischen Lebens betreffen“. 18 Dieser Begriff wurde ursprünglich vom Theologen Ernst Lange geprägt. Vgl. Lange, Bilanz, 101 – 129.

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

geistliche Begleitung zu erbitten, ist die Entscheidung, sie zu besuchen und sie seelsorglich zu begleiten, aktiv von Seiten der Seelsorgenden zu treffen.19 Ihnen ist ein geistliches Angebot zu machen, zu dem sie sich verhalten können. Dieses Angebot schließt auch Möglichkeiten der Teilhabe an gottesdienstlichen und gemeindlichen Angeboten ein. Diese Form der aufsuchenden Seelsorge ist durch den kirchlichen Auftrag begründet.20 Im Anschluss an die von Kirsten Huxel entworfene „Ontologie des seelischen Lebens“ sollte eine Seelsorge-Konzeption einen vermittelnden Ansatz entwickeln, der die „Eigentümlichkeit eines jeden einzelnen seelischen Lebens“, das Individuelle „im Horizont eines dieses selbst mit umgreifenden Allgemeinen“21 beschreibt. Sie kann nicht einem rein empirischen Ansatz folgen, „der von vorneherein jede Inanspruchnahme allgemeiner Begriffe und Wesensurteile verbietet“, noch einem rein spekulativen Ansatz, „der eine Beschreibung unabhängig von aller Erfahrung ausschließlich vom Begriff des Wesens der Seele her durchführen möchte“22. Huxel empfiehlt für eine „Ontologie des seelischen Lebens“ einen Ansatz, „der seinen Ausgang beim unmittelbaren Erleben nimmt“23 : In diesem Ausgang beim unmittelbaren Erleben ist eingeschlossen, daß die ontologisch-psychologische Beschreibung keine aperspektivische und überzeitlich gültige Metaphysik der Seele bieten kann, aber auch kein reines Ereignisprotokoll der faktischen seelischen Vorkommnisse eines ,bloß‘ individuellen Bewusstseinsstroms.24

Eine Seelsorge, die diesem Ansatz folgt, nimmt einzelne Menschen und konkrete Situationen in den Blick. Sie greift Fragen und Themenstellungen auf, die in seelsorglichen Begegnungen gemacht werden, und reflektiert diese Erfahrungen. Die Praxis der Seelsorge mit Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen wird zu entwickeln, umfangreich zu dokumentieren, zu analysieren und zu reflektieren sein (Kapitel 6). Formen der seelsorglichen Arbeit mit Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen respektive im Wachkoma werden anhand konkreter Beispiele dargestellt. Es werden sowohl gemein19 Ähnlich beschreibt Peter Frör seinen seelsorglichen Zugang zu Menschen, die auf Intensivstationen versorgt werden. Vgl. Frör, Reisen, 11 – 17: „Unser Auftrag in der Seelsorge lautet, zu den Kranken zu gehen und sie zu besuchen.“ Und weiter : „Ich habe mich entschieden, nicht nur zu denen zu gehen, von denen es heißt, dass sie ,wach‘ und ,ansprechbar‘ sind. Ich will auch zu denen gehen, die mir einen Besuch nicht so leicht machen.“ (Ebd., 12.) 20 Vgl. Agende für die Evangelische Kirche der Union II/2, Gottesdienstordnung; Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden IV, Ordination. Vgl. auch Berufung, Einführung, Verabschiedung. Entwurf der Agende IV/1 der VELKD, 15ff, hier besonders den langen Ordinationsvorhalt und die Fragen an die zu Ordinierenden. 21 Huxel, Ontologie, 349. 22 Huxel, Ontologie, 348. 23 Huxel, Ontologie, 348. 24 Huxel, Ontologie, 349.

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2.2 Besondere Herausforderungen für die betroffenen Menschen

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schaftliche Formen25 wie auch Formen der Einzelseelsorge26 geschildert. Darüber hinaus werden Hinweise zu geeigneten Medien und Methoden gegeben. Dieser Ansatz in der Praxis erscheint sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig, um die Gruppe der betroffenen Menschen differenziert zu charakterisieren, ihre Probleme, ihre Themen und Fragen angemessen wahrzunehmen und praxisorientiert seelsorgliche Arbeit zu konzeptionieren. Auf die Unterschiede zwischen der seelsorglichen Praxis für Menschen im Wachkoma und der seelsorglichen Praxis für Menschen, die ausgeprägte Funktionsstörungen der geistigen und körperlichen Fähigkeiten haben, wird ebenso wie auf Gemeinsamkeiten und Analogien zu achten sein. Dabei werden auftretende Phänomene nicht nur beschrieben27, sondern vielmehr in theologische und anthropologische Zusammenhänge eingeordnet und in theologischer Perspektive gedeutet. Phänomene des seelischen Erlebens, die im konkreten seelsorglichen Vollzug auftreten, werden daraufhin untersucht, was aus dem Individuellen für das Allgemeine zu lernen ist. Eine solche Vorgehensweise sollte sich der „unhintergehbaren Perspektivität und Partikularität ihres Ansatzes“ bewusst sein und gleichwohl intendieren, „Aussagen von allgemeiner Geltung zu treffen“.28 Auf diese Weise kann die „Seelsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen“ einen eigenständigen Beitrag zur heutigen Poimenik leisten.

2.2 Besondere Herausforderungen durch die erworbene Hirnschädigung für die betroffenen Menschen 2.2.1 Erfahrungen in der Nähe des Todes Menschen, die eine schwere Hirnschädigung erlitten haben, sind durch eine Erfahrung geprägt, die sie von anderen Menschen unterscheidet. Sie haben ein Geschehen überlebt, das lebensbedrohlich war, das sie auf ihre elementaren Hirnfunktionen zurückgeworfen und in ihrer Existenz getroffen hat. Einige dieser Menschen waren „klinisch tot“ und wurden z. T. mehrfach wiederbelebt, sodass ihr Gehirn einen Sauerstoffmangel erlitten hat. Im Anschluss an die Reanimation befanden sie sich mehrere Tage, oft auch mehrere Monate im 25 Dazu gehören beispielsweise Gottesdienste, Andachten, Kasualien, Aussegnungen, Feste im Kirchenjahr und integrative Projekte. 26 Gespräche bzw. nonverbale Kommunikationsformen zu unterschiedlichen Anlässen wie z. B. Geburtstags- und Krankenbesuche, Sterbebegleitung oder Trauerbegleitung seien genannt. 27 Eine solche Vorgehensweise ist beispielsweise in pflegewissenschaftlichen Studien gebräuchlich, vgl. Bienstein, Versorgung, 133 – 149. 28 Huxel, Ontologie, 349.

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

Koma. Sie waren völlig hilflos. Ihr Überleben war abhängig von der gelingenden intensivmedizinischen Behandlung. Sie haben schädigende Ereignisse überlebt, in Folge derer andere Menschen heutzutage immer noch, trotz des Ausbaus und Fortschritts der Rettungs- und Intensivmedizin, sterben bzw. in deren Folge Menschen noch vor einigen Jahren bzw. Jahrzehnten sicher verstorben wären.29 Sie haben also eine Erfahrung in Todesnähe gemacht, diese aber überlebt. Viele der Menschen mit schweren Hirnschädigungen können sich an die Zeit im Koma nicht erinnern, doch andere berichten von Erfahrungen wie dem Gefühl des Erstickens durch die künstliche Beatmung und dem Gefühl des völligen Ausgeliefert-Seins. Selbst Menschen, die unter ausgeprägtem Gedächtnisverlust leiden, stellen wiederholt die Frage: „War ich schon mal tot?“ Andere erzählen beispielsweise: „Ich war schon mal tot. Sieben Minuten wurde ich reanimiert.“ Die Erfahrung in der Nähe des Todes, das Erleben der Zerbrechlichkeit ihrer eigenen Existenz, prägt ihr Lebensgefühl. Diese Fragilität zeigt sich darüber hinaus in den erworbenen Behinderungen (s. u.), aber auch in akuten lebensbedrohlichen Krisen, die diese Menschen immer wieder treffen können.30 Denn die erworbene Hirnschädigung ist eine Körperschädigung, durch die das Gehirn einiger Betroffener nicht in der Lage ist, die vitalen Körperfunktionen stabil zu steuern. Andere Betroffene, die beispielsweise eine Vorschädigung durch Herzinfarkte oder Schlaganfälle erlitten haben, sind gefährdet, weitere Infarkte oder Insulte zu erleiden.

2.2.2 Verschiedenartige Funktionsstörungen des Gehirns Menschen, bei denen es im Lauf ihres Lebens zu einer Hirnschädigung gekommen ist, leiden unter verschiedenartigen Funktionsstörungen des Gehirns, die abhängig von der Art und Schwere der erlittenen Schädigung sind. In deren Folge können Menschen unter Lähmungserscheinungen (u. a. He29 Vgl. Kammerer, Vorwort, 7 – 10: „Intensivstationen sind in der medizinischen Versorgung relativ neu. Erst seit ca. 30 – 40 Jahren werden Menschen dort für eine Zeit am Leben erhalten, die sie ohne diese Intervention nicht hätten.“ (Ebd., 7.) Vgl. auch Schelling/Peter, Stress, 33: „Moderne Methoden der Intensivmedizin ermöglichen selbst schwerstkranken Patienten ein Überleben mit einer oft erstaunlich guten gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Die Intensivbehandlung bedeutet aber für solche Patienten nicht nur eine notwendige und oft lebensrettende medizinische Maßnahme, sondern auch eine physische und psychische Extrembelastung. Patienten nach Intensivbehandlung berichten gehäuft über traumatische Erinnerungen an die Intensivtherapie, die mit einer vergleichsweise hohen Inzidenz an stressassoziierten Erkrankungen wie der [p]osttraumatischen Belastungsstörung verbunden sind. Traumatische Erinnerungen gelten als besonders lange anhaltend und extrem löschungsresistent.“ 30 S. u. Kapitel 6.4.

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2.2 Besondere Herausforderungen für die betroffenen Menschen

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miparese31, Tetraplegie32) wie auch unter motorischen Störungen (u. a. Ataxie33, Apraxie34) leiden. Kognitive Funktionen können ebenfalls gestört sein. Möglich sind beispielsweise Störungen der Aufmerksamkeit35, Störungen der Lern- und Gedächtnisleistungen36 und Orientierungsstörungen37. Weitere Auswirkungen können beispielsweise Apathie (als organische Motivationsstörung), Anosognosie38 oder auch ein dysexekutives Syndrom39 sein. Darüber hinaus sind Menschen von einer Fülle von Sprachstörungen40 (z. B. Aphasie41, Dysarthrie42, Sprech- und Stimmstörungen, s. u.) betroffen, die ihre Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigen. Eine besondere Problematik stellen affektive Störungen dar, die in Folge der Hirnschädigungen entstehen. Solche organisch bedingten affektiven Störun31 32 33 34 35 36

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Halbseitenlähmung. Lähmung aller vier Gliedmaßen. Störung der Koordination von Bewegungsabläufen. Störung der Ausführung willkürlicher, zielgerichteter und geordneter Bewegungen bei intakter motorischer Funktion. Vgl. Sturm, Aufmerksamkeitsstörungen 2005; Sturm, Aufmerksamkeitsstörungen 22009. Vgl. Prosiegel, Neuropsychologische Störungen 32002, 167: „Lern- und Gedächtnisstörungen stellen nach Aufmerksamkeitsstörungen das zweithäufigste Leistungsdefizit nach erworbener Hirnschädigung dar. Zu Lern- und Gedächtnisleistungen gehören unter klinischen Aspekten insbesondere die Aufnahme (Lernen), das Behalten (kurz-/längerfristig) und das Abrufen von (vor und nach der Hirnschädigung erworbenen) verbalen oder nonverbalen Informationen.“ Vgl. Groh-Bordin/Kerkhoff, Störungen, 500 – 512. Ein besonderes Problem ist bei mangelnder Störungseinsicht (Anosognosie) gegeben. Menschen, die nicht wissen, dass sie unter einer Schädigung leiden, neigen dazu, notwendige therapeutische oder medizinische Behandlungen zu verweigern. Andere überschätzen ihre beruflichen Fähigkeiten und sind nicht bereit, beispielsweise an Arbeitstrainingsmaßnahmen teilzunehmen. Vgl. Matthes-von Cramon/von Cramon, Störungen, 392 – 410, 392: Exekutivfunktionen sind „mentale Prozesse höherer Ordnung, denen in der Literatur Begriffe wie Antizipation, Planung, Handlungsinitiierung, kognitive Flexibilität/Umstellungsfähigkeit (,switching‘), Koordinierung von Informationen/Prozessen, Sequenzierung und Zielüberwachung zugeordnet werden. [… Sie] kommen immer dann ins Spiel, wenn wir Handlungen planen oder Absichten/Ziele über mehrere Schritte (und Hindernisse) hinweg verfolgen.“ Vgl. auch Müller/Münte, Störungen, 480 – 499. Vgl. Middeldorf, Schweigen. S. u. Kapitel 2.2.3.4. Vgl. Middeldorf, Schweigen, 153: „Aphasie ist eine Störung der Sprache infolge einer Hirnschädigung nach bereits abgeschlossenem Spracherwerb.“ Middeldorf unterscheidet zwischen globaler, motorischer, sensorischer und amnestischer Aphasie: „Ein Mensch, der sowohl Probleme beim Sprechen und Verstehen als auch beim Lesen und Schreiben hat, leidet unter einer globalen Aphasie.“ (Ebd., 154.) „Bei der motorischen Aphasie fällt besonders die Schwierigkeit des Sprechers auf, Wörter zu finden und zu äußern, die Grammatik richtig umzusetzen, den korrekten Satzbau anzuwenden und den Bewegungsablauf der ,Sprechwerkzeuge‘ zu steuern.“ (Ebd., 155.) „Die sensorische Aphasie bedeutet generell eine Störung in der akustischen Entschlüsselung oder im Verstehen dessen, was gehört wird.“ (Ebd., 156.) „Amnestische Aphasie bezeichnet eine Störung im Erinnern sprachlicher Begriffe.“ (Ebd., 157.) Vgl. Middeldorf, Schweigen, 205: „Dysarthrische Störungen betreffen den Sprechvorgang. Der dysarthrische Patient kann zwar nur unverständlich sprechen, hat aber im Gegensatz zum aphasischen Patienten keine Probleme mit dem Verstehen von Gesprochenem.“

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gen, die also keine psychische Ursache haben, sind kaum durch herkömmliche psychotherapeutische Verfahren zu behandeln.43 1) Ein Mann, Ende 20, hat unter Einwirkung von Drogen einen Autounfall verschuldet, bei dem er u. a. ein Frontalhirn-Syndrom erlitt. Seit dieser Zeit sitzt er im Rollstuhl. Seine Kommunikation ist eingeschränkt. Seine Stimmung ist schwankend, so dass er unvermittelt auch Mitarbeitenden, zu denen er eine gute Beziehung unterhält, während der Pflege tiefe Kratzwunden zufügt. Wenn eine unbekannte Person ihm die Hand zur Begrüßung gibt, kann es geschehen, dass er diese festhält und plötzlich seine Fingernägel in die Hand des Gegenübers bohrt.44

Vielfach sind Menschen, die eine schwere Hirnschädigung erlitten haben, nicht nur von einer, sondern von einer Kombination der genannten Störungen betroffen, die sie besonders anfangs kaum kompensieren können. Partielle bis vollständige Erholung ist bei einzelnen Betroffenen möglich. Andere stehen vor der schweren Aufgabe, mit den erworbenen Schädigungen weiter zu leben, mit ihnen, wenn möglich, umgehen zu lernen und eventuell Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Die Fähigkeit, diese Störungen zu kompensieren, hängt eng von den vorhandenen kognitiven, aber auch affektiven Kompetenzen ab. Da diese aber oft umfassend gestört bzw. geschädigt sind, sind die Möglichkeiten der betroffenen Menschen zur Bewältigung der erlittenen Schädigung und der Sekundärfolgen eingeschränkt. Wenn die kognitiven, affektiven und somatischen Funktionsstörungen stark ausgeprägt sind, bleiben die Betroffenen ein Leben lang auf Unterstützung und Betreuung angewiesen. Hierbei stellen Menschen im Wachkoma eine besondere Gruppe dar.45

2.2.3 Verlusterfahrungen 2.2.3.1 Verlust von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit Menschen verlieren auf Grund der Funktionsstörungen elementare Fähigkeiten, die für ein Leben in Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erforderlich sind. Die Betroffenen sind zu Menschen geworden, die von anderen abhängig und in unterschiedlichen Belangen des Lebens auf Hilfe angewiesen sind. Soziale Rollen verändern sich, innerhalb der Familie, im Bekannten- und Freundeskreis und im Beruf. Durch die Berufsunfähigkeit verlieren die Betroffenen ihre gesellschaftliche Stellung und einen Großteil ihres sozialen Umfelds. Vielfach führt die Berufsunfähigkeit zu gravierenden finanziellen Belastungen, die die ganze Familie betreffen. 43 Vgl. Gauggel/Schoof-Tams, Interventionen, 823 – 840. Siehe auch Wallesch, Depression, 39 – 41. 44 Die Beispiele sind kapitelweise nummeriert. 45 S.u. Kapitel 2.2.4.

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2) Ein beruflich erfolgreicher Versicherungsvertreter, Mitte 40, verheiratet, drei kleine Kinder, erleidet einen Herzinfarkt, während er Sport treibt. Da er zum einen zu spät und dann auch mehrfach reanimiert wird, weist er einen hypoxischen Hirnschaden auf, dessen Folge verschiedene Störungen der kognitiven Fähigkeiten, eine globale Aphasie und eine Affektstörung sind. Seine Orientierung ist gestört, er neigt zu selbst gefährdenden Handlungen. Da seine Frau nicht in der Lage ist, ihn im eigenen Haushalt zu versorgen, wird er in einem Pflegeheim betreut. Von einem Beamten der Sozialbehörde erhält die Ehefrau den Ratschlag, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, damit sich ihre finanzielle Situation verbessere. 3) Eine alleinstehende Frau, Mitte 50, langjährig berufstätig, zuletzt arbeitslos, erleidet eine Hirnschädigung in Folge eines Herzinfarkts. Sie nimmt, nachdem sie mehrere Monate im Koma gelegen hat, an einer Rehabilitationsmaßnahme teil. Ihre Eltern (Anfang 80) haben in dieser Zeit ihre Wohnung aufgelöst, da sie erwarten, dass ihre Tochter kein selbstständiges Leben mehr führen kann. Die Frau hat sich relativ gut erholt und wird seit einigen Monaten in einer Spezialeinrichtung für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen betreut. Sie kann nicht nachvollziehen, warum sie ihre Wohnung verloren hat, und fühlt sich durch die gesetzliche Betreuung durch ihren Vater entmündigt. Sie beschreibt, dass sie eigentlich in einem Alter sei, in dem sie sich um ihre Eltern zu kümmern habe. Die Verschiebung der Verhältnisse empfinde sie als Belastung, ebenso wie die neu entstandene Abhängigkeit von ihren Eltern, von denen sie sich schon vor Jahrzehnten gelöst habe.

Menschen wie dieser Mann und diese Frau sind aus ihrem bisherigen Leben gerissen worden. Ihre schwere Hirnschädigung betrifft nicht allein sie selbst in ihrer ganzen Existenz, sondern auch ihr familiäres und soziales Umfeld. Die Plötzlichkeit des Ereignisses, das zur Schädigung geführt hat, hat ihnen keine Zeit gelassen, die Folgen zu antizipieren. Die Möglichkeiten, die ihnen vor dem schädigenden Ereignis zur Bewältigung einer solchen Lebenskrise zur Verfügung gestanden hätten, haben sie zeitgleich mit dem Ereignis verloren. Ihnen ist unklar, welche zukünftigen Lebensperspektiven sie haben. Gleichzeitig erscheint ihnen die gegenwärtige Situation als perspektivlos und vielfach auch als sinnlos. Für Nichtbetroffene ist es kaum zu ermessen, wie schmerzlich die Verluste empfunden werden und wie stark das Selbstwertgefühl der Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung beeinträchtigt ist. Resignative Äußerungen („Wer will denn so einen Krüppel wie mich noch haben?“) bis hin zu suizidalen Gedanken („Da wäre es besser, ich bringe mich um – dann seid ihr mich los!“) oder auch suizidale Handlungen bezeugen dies. Die Gefühle sind oft ambivalent: Bei einigen Menschen herrscht Trauer über das Verlorene und über eine Zukunft, die perspektivlos erscheinen kann. Andere empfinden Dankbarkeit für das geschenkte Leben und die noch vorhandenen Perspektiven. Bei anderen Betroffenen wiederum schwanken die Emotionen zwischen beiden Polen. Der zeitliche Abstand zum Ereignis der Schädigung spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle: Einerseits können

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Gewöhnungseffekte eintreten, andererseits kann auch die Hoffnung auf Besserung sinken.

2.2.3.2 Verlust der Orientierung Eine weitere Auswirkung von erworbenen Hirnschädigungen kann eine ausgeprägte Orientierungslosigkeit in Zeit und Raum sein, die ein massives Selbstgefährdungspotenzial in sich birgt. Menschen verlassen ihre Wohnung und sind nicht in der Lage, zurückzufinden. Aus diesem Grund sind einige Menschen geschlossen untergebracht, was sie als bedrohlich und als Einschränkung ihrer Freiheit empfinden.46 Durch ihre mangelnde Krankheitseinsicht können sie die Gründe für eine solche „geschlossene Unterbringung“ nicht nachvollziehen. So ist jeweils individuell abzuwägen, ob Menschen geschlossen oder offen, trotz des vorhandenen Selbst- und Fremdgefährdungspotenzials, untergebracht werden. 4) Zweieinhalb Tage irrt der ehemalige Kaufmann durch den Wald. Er ist aufgebrochen, um „nach Haus“, zu seiner Familie in die 40 Kilometer entfernte Stadt zu laufen. Als er nach den Tagen der Wanderung ein Haus entdeckt, klopft er an und bittet um ein Glas Wasser. Die Frau, die ihm die Tür öffnet, erkennt seinen geschwächten körperlichen Zustand und informiert die Polizei. Er wird mit entzündeten Füßen ins Krankenhaus eingeliefert. In den Gesprächen, die während seines Krankenhausaufenthalts geführt werden, wird deutlich, dass dem Mann nicht bewusst ist, dass er mehrere Tage unterwegs gewesen ist und in welcher Gefahr er sich befunden hat. Einige Wochen später, als er erneut vier Kilometer von der Einrichtung entfernt, in der untergebracht ist, aufgegriffen wird, kann er sich nicht mehr daran erinnern, dass er schon einmal einen Fußmarsch „nach Haus“ unternommen und sich dabei verlaufen hat. Ihm war und ist nicht bewusst, dass er sich auf Grund seiner Orientierungsstörung selbst gefährdet.

Neben der Störung der räumlichen Orientierung gibt es auch die zeitlichkalendarische Orientierungsstörung. Menschen finden dann keinen Halt in der Zeit und können sich auch im Wochenverlauf nicht orientieren. Diese mangelnde zeitliche Orientierung verursacht eine schwerwiegende Verunsicherung, so dass diese Menschen auf klare zeitliche Strukturen und ritualisierte Abläufe angewiesen sind. 46 Vgl. § 1906 BGB: „(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil 1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt […] (2) Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig.“ Vgl. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), Bundesgesetzblatt I, 977.).

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Auch eine personale oder situative Orientierungsstörung führt zu gravierender Verunsicherung der Menschen.47 5) Eine Frau, Anfang 30, ein Kind, mittlerweile geschieden, fragt wiederholt die Mitarbeitenden oder Mitbewohnerinnen: „Wer bin ich?“ oder „Mit wem bin ich verheiratet?“ Manchmal gibt sie sich selbst die Antwort: „Ich bin Susanne V.“ und „Ich bin mit Lothar V. verheiratet.“ An wenigen Tagen erinnert sie sich: „Ich bin geschieden.“ An anderen Tagen sagt sie: „Ich liebe Lothar V.“ Sie weiß, dass sie ein Kind hat, doch weder der Name noch das Alter ihres Kindes sind ihr präsent.

Wenn ein Mensch nicht weiß, wer und wo er ist, dann sind ihm die Grundlagen der eigenen Existenz entzogen. Er weiß nicht, warum er sich an einem bestimmten Ort befindet und welche Perspektiven und Ziele er für sein Leben hat. Manche Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung haben aufgrund ihrer Gedächtnisstörung die Fähigkeit verloren, eine Neuorientierung in Zeit und Raum, zur Situation oder zur Person wieder zu erlernen. Bei einigen entsteht eine „Falsch- bzw. Neuorientierung, bei der es zu einer illusionären Verkennung und Umdeutung der aktuellen Situation kommt.“48 6) Eine Frau, Ende 50, Wissenschaftlerin, identifiziert das Fachkrankenhaus als eine unbekannte Hochschule, an der sie eine zeitlich befristete Lehrtätigkeit übernommen hat. Sie spricht davon, dass sie ihre Vorlesungen vorbereiten muss und hält die Sitzungen mit dem Neuropsychologen für die Gremienarbeit an der neuen Hochschule.

Wenn ein Mensch aufgrund einer kognitiven Störung nicht mehr in der Lage ist, die eigene momentane Lebenssituation zu verstehen und anzuerkennen, ist er dauerhaft mit Ereignissen konfrontiert, die ihn irritieren und verwirren. Menschen reagieren mit sozialem Rückzug oder Therapieverweigerung, häufig ausgelöst durch eine Verunsicherung im Selbstwertgefühl.49

47 Vgl. Prosiegel, Neuropsychologische Störungen 21998, 149: „Man unterscheidet eine personale, situative, örtlich-geographische und zeitlich-kalendarische Orientierungsstörung.“ 48 Prosiegel, Neuropsychologische Störungen 21998, 149. 49 Vgl. Kostrzewa, Palliative Pflege, 41: Kostrzewa beschreibt Anpassungsstrategien von Menschen mit Demenz wie beispielsweise auf der einen Seite Geschäftigkeit, Suche nach Vertrautem, ständiges Fragen, anhängliches Hinterherlaufen, aggressive Verhaltensweisen, Kontaktkontrolle wie Passivität und sozialer Rückzug auf der anderen Seite. Solche Anpassungsstrategien sind auch bei Menschen mit einer hirnorganischen Schädigungen und damit verbundenen kognitiven Einschränkungen zu beobachten.

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2.2.3.3 Verlust von Erinnerungen „Störungen von Gedächtnisleistungen zählen zu den besonders häufig beobachtbaren Folgen von Hirnschädigungen unterschiedlicher Ätiologie und Lokalisation“50, heißt es in einem Lehrbuch der Neuropsychologie. Solche Gedächtnisstörungen träten selten isoliert auf, sondern meist zusammen mit Störungen anderer Hirnleistungen (z. B. exekutive Hirnfunktionen, fehlende Aufmerksamkeitsleistungen). Menschen, deren sogenanntes Langzeitgedächtnis gestört ist, können auf die eigene Geschichte förmlich nicht mehr „zugreifen“. Dabei kann entweder das episodische Gedächtnis51 oder das sogenannte semantische Gedächtnis52 gestört sein. Diese Menschen verlieren das Wissen über sich selbst, weil sie ihre eigene Biographie nicht mehr rekonstruieren können oder die im Lauf ihres Lebens erworbenen Kenntnisse (Beruf, Hobbys) nicht mehr aktivieren können. Vielfach spüren sie den Verlust, den sie erlitten haben. Auf Fragen nach biographisch wichtigen Daten (z. B. Geburtstage naher Familienmitglieder) antworten sie dann schulterzuckend mit einem „Ich weiß nicht.“ 7) Eine neue Mitarbeiterin gratuliert Herrn C. zum 52. Geburtstag. Herr C. streitet ab, so alt zu sein. Er sei 46 Jahre alt. Die Mitarbeiterin macht ihn darauf aufmerksam, dass er 1953 geboren sei. Jetzt befinde man sich im Jahr 2005, deshalb sei er 52 Jahre alt. Sie rechnet Herrn C. die Differenz der Jahre vor. Herr C. kann der Argumentation der Mitarbeiterin nicht folgen. Er wird wütend und läuft weg. Als die Mitarbeiterin Herrn C. am nächsten Tag wieder begegnet, ist er zu ihr so freundlich wie zuvor. Herr C. hat sechs Jahre zuvor einen Herzinfarkt erlitten, der seine schwere Hirnschädigung ausgelöst hat. Für ihn ist in diesem Jahr die Zeit „stehen geblieben“. Er gibt sein Alter stets mit 46 Jahren an, obwohl er mittlerweile 52 Jahre alt geworden ist. So bemerkt er verwundert, dass seine Frau mittlerweile ein neues Auto gekauft hat, obwohl der Kauf des bisherigen Autos, nach seiner Kenntnis, erst zwei Jahren zuvor getätigt wurde. Ihn irritiert auch, dass sein Hund, den er noch als Welpen kannte, mittlerweile verstorben ist.

Andere Menschen haben die Fähigkeit verloren, neue Informationen aufzunehmen, sodass sich bei ihnen auch nach Jahren kein sicheres „Tag-zu-Tag50 Schuri, Gedächtnisstörungen, 375. 51 Vgl. Schuri, Gedächtnisstörungen, 377. Im episodischen Gedächtnis werden persönliche Erlebnisse, die räumlich und zeitlich determiniert sind, gespeichert. 52 Vgl. Schuri, Gedächtnisstörungen, 377. Das semantische Gedächtnis beinhaltet Wissen, das unabhängig von räumlich-zeitlichen Bezügen besteht, das sogenannte ,memory of facts‘. Zum Überblick über die unterschiedlichen Gedächtnissysteme und eine Auswahl klinischer Gedächtnisstörungen vgl. den gesamten Artikel von Schuri. Vgl. auch Thöne-Otto, Gedächtnisstörungen, 453 – 479.

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Gedächtnis“53 einstellt. Die Störung der Erinnerung betrifft nicht das sogenannte Altgedächtnis (Informationen, die über lange Zeit im Gedächtnis repräsentiert sind), sondern Ereignisse, die nur wenige Minuten oder Stunden zurückliegen. 8) Herr H. fragt, wann es endlich Abendessen gibt. Ein Mitarbeiter erinnert ihn daran, dass er mit zwei weiteren Mitpatienten im Restaurant gegessen hat. Herr H. kann sich an den Restaurantbesuch nicht mehr erinnern.

Menschen, die ihre Fähigkeit zu kurzfristigen oder langfristigen Erinnerungen verloren haben, haben auch ein Stück weit sich selbst verloren. Sie leben wie in einem Augenblick und finden keinen Haltepunkt in der sich ständig verändernden Zeit.54 Ohne Erinnerungen sind Menschen kaum in der Lage, sich zurecht zu finden. Sie sind dauerhaft auf andere Menschen angewiesen, die sie bei der zeitlichen Orientierung und der Alltagsbewältigung unterstützen.55

2.2.3.4 Verlust sprachlicher Fähigkeiten Viele Menschen erleiden aufgrund einer schweren Hirnschädigung einen Verlust ihrer Sprache oder ihres Sprachverständnisses. Die Schädigungsformen sind vielfältig, beeinträchtigen aber in jedem Fall das Wohlbefinden der 53 Schuri, Gedächtnisstörungen, 380. Vgl. Jäger, Sterben. Jäger beschreibt in seiner autobiographischen Schilderung, wie es für ihn gewesen ist, nach einer Hirnblutung sein Erinnerungsvermögen verloren zu haben. In dem Kapitel „Gefangener des Augenblicks“ heißt es: „Es war ein Gefühl, wie wenn Menschen, Szenen, Worte und Begegnungen vorbeifliegen wie eine Landschaft beim Blick aus dem Fenster eines ICE bei Tempo 300. Eines ICE, der nur fährt, nie anhält und erbarmungslos die Chance verweigert auszusteigen. Dieses Gefühl ist keinesfalls unbeschreiblich. Es ist die Hölle!“ (Ebd., 11.) Bei Theobald Jäger dauerte es 25 Jahre, bis sein Kurzzeitgedächtnis wieder zu funktionieren begann, und er wusste, was kurz zuvor geschehen war. 54 Vgl. auch Thöne-Otto/Markowitsch, Gedächtnisstörungen. Die Verfasser geben ein Interview mit einer Patientin mit schwerer retrograder und anterograder Amnesie aus einer Studie von Sabine Heel und Claudia Wendel (2002) [leider ohne präzise Literaturangabe] wieder : „Ich kann nichts mehr, ich weiß nichts mehr, ich weiß gar nichts mehr. Also ich … 10 Jahre zurück, 20 Jahre zurück, das weiß ich nicht mehr. … Morgen oder Übermorgen oder am Tag darauf weiß ich nicht mehr, was ich gemacht habe. Verstehen Sie das? Und das … das deprimiert mich, das macht mich fuchsig, weil ich möchte wissen, was los war. Ich möchte auch wissen, was … dass wir zwei eben zum Beispiel meinen Sohn haben, auch wie ich ihn gekriegt habe, weiß ich nicht mehr. Wie ich meinen Mann mal kennengelernt habe, weiß ich nicht mehr. Wissen Sie, ich weiß nicht mehr, ob ich noch jemals was wissen kann oder wenn ich das wissen kann, ob ich noch von dem, das Alte alles immer weiß. Und wenn das weg ist, also das ist für mich … das ist grausam“. (Thöne-Otto/Markowitsch, Gedächtnisstörungen, 9.) 55 Zur weiteren Information über mögliche Interventionsmethoden (repititive Übungen, Training gedächtnisfördernder Strategien, Methoden der Reduktion von Gedächtnisanforderungen, Entwicklung von Gedächtnishilfen) vgl. Schuri, Gedächtnisstörungen, 389 ff; Thöne-Otto/ Markowitsch, Gedächtnisstörungen, 51 – 71.

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betroffenen Menschen. Sie können sich in allen sprachlichen Verarbeitungsmodalitäten zeigen, beim Sprechen und Hören, beim Lesen und Schreiben.56 Manche Menschen haben das Verständnis für die Sprache verloren; sie können den Sinn von Wörtern oder Sätzen nicht mehr entschlüsseln. Andere können nicht mehr sagen, was sie denken. Sie können nicht erzählen, was sie erlebt haben, ihre Gefühle nicht mehr sprachlich ausdrücken oder nur noch einzelne Silben oder Wörter aussprechen. Einigen fallen beispielsweise die Vornamen ihre Kinder oder der eigene Vorname nicht mehr ein, wobei sie sogar wissen und sagen können, dass sie die Namen nicht wissen. Mit Huber und Ziegler ist festzuhalten: Sprachliches Verarbeiten ist eng mit dem Aktivieren von Gedanken und Gefühlen verknüpft, jedoch funktional verschieden […] Patienten mit zentralen Störungen des Sprachsystems (Aphasie) haben nicht notwendigerweise kognitive oder emotionale Störungen.57

Menschen, die ihre Sprache verloren haben, geraten gewissermaßen in eine sprachliche Isolation.58 Sie erleben, dass ihre Sprechversuche manchmal schnell unterbrochen werden oder dass ihre Kommunikationspartner nach einiger Zeit die Bemühungen aufgeben, durch Fragen und Raten das Gemeinte zu verstehen. Der Sprachtherapeut Volker Middeldorf, der in seinem Buch „Komm doch aus dem Schweigen“ eine Fülle von lesenswerten Falldarstellungen wiedergibt, schreibt über die Bedeutung von Sprache für das Leben: Sprache gestaltet unser Leben und bestimmt unser Bewußtsein. Sie prägt unser Denken, Fühlen und Handeln, sie ist maßgeblich am Wachsen unserer Persönlichkeit und vor allem an der Kommunikation mit unseren Mitmenschen beteiligt. Das, was der Mensch als Individuum in der Gesellschaft ist und darstellt, ist er zu einem

56 Vgl. Huber/Ziegler, Störungen, 558 – 608, 562. 57 Huber/Ziegler, Störungen, 559: „Aphasie ist eine Sprachstörung, keine Denkstörung. Betroffen ist die Fähigkeit, Gedanken sprachlich zu formulieren bzw. gehörte und geschriebene Mitteilungen rasch und korrekt zu verstehen. Trotz ihrer Sprachstörung können die Patienten mit den verbliebenen sprachlichen Mitteln sowie durch Zeigen, durch Mimik und Gestik, gelegentlich durch Zeichnen, ihre Gefühle und Wünsche äußern. Sie können folgerichtig denken und sie haben ihre Lebenserfahrungen und ihre beruflichen Kenntnisse nicht vergessen. […] Obwohl die Patienten Gegenstände sprachlich nur schlecht benennen und beschreiben können, ist das Wissen über Eigenschaften und Gebrauch von Gegenständen erhalten.“ (Ebd., 562.) 58 Vgl. Middeldorf, Schweigen, 53, beschreibt Aphasie als ein Verstoßensein in „intellektuelle Einzelhaft“. Vgl. auch Sacks, Pianist, 239 – 248, 240: „Wir sind eine sprachliche Spezies – wir halten uns an die Sprache, um auszudrücken, was wir denken, und sie steht uns in der Regel augenblicklich zu Gebote. Doch bei Menschen mit Aphasie kann die Unfähigkeit zur sprachlichen Verständigung zu einer fast unerträglichen Frustration und Isolierung führen; zu allem Überfluss werden sie von anderen häufig auch noch als Idioten, fast als Unpersonen, behandelt, weil sie nicht sprechen können.“

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maßgeblichen Teil durch die Sprache, nämlich durch ihre Verwendung und das Denken in ihr.59

Nach Middeldorf ist eine funktionierende Sprache für das erfolgreiche Ausfüllen der Rollen im Privat- und Berufsleben von größter Bedeutung.60 Selbst kleinere Sprachstörungen stellen gravierende Beeinträchtigungen für die betroffenen Menschen dar, weil die Bedeutung der Sprache für das Leben von Menschen eine hohe Wichtigkeit besitzt. Bei schweren und schwersten Hirnschädigungen sind Sprachstörungen nur eine von vielen gestörten Gehirnfunktionen. Die Addition der verschiedenen Beeinträchtigungen führt dazu, dass die betroffenen Menschen die Ausfälle kaum kompensieren können. 2.2.4 Leben im Wachkoma Was bisher dargelegt wurde, gilt in besonderer Weise auch für Menschen im Wachkoma. Das sogenannte Wachkoma ist eine ausgeprägte Form der erworbenen Hirnschädigung. Menschen mit einem sogenannten apallischen Syndrom61 sind Menschen mit schwersten erworbenen Hirnschädigungen, die über kein äußerlich erkennbares „Bewusstsein“ verfügen und sich selbstständig weder bewegen noch kommunizieren können. Über das Leben im Wachkoma gibt es verschiedene Hypothesen und noch keine gesicherten Kenntnisse, weil sich dieses Behinderungsbild in größerem Umfang erst seit einigen Jahren durch den Ausbau der Rettungs- und Intensivmedizin herausgebildet hat. 1994 führte das Bedürfnis nach diagnostischer Sicherheit zur Bildung einer Arbeitsgruppe, der Multi-Society Task Force on PVS62, die standardisierte Richtlinien zur Diagnose des apallischen Syndroms (bzw. vegetative state) entwickelte. Diese allgemein gültigen Kriterien dienen 59 Middeldorf, Schweigen, 18. Middeldorf warnt davor, die neurologisch Betroffenen mit der sogenannten „Zwei-Jahres-These“ zu entmutigen, nach der angeblich zwei Jahren nach der Hirnverletzung eine Weiterentwicklung nicht mehr zu erwarten sei. (Vgl. ebd., 15.) 60 Vgl. Middeldorf, Schweigen, 19. Zur weiteren Information vgl. beispielsweise die Informationen des Bundesverbandes für die Rehabilitation der Aphasiker e. V. (http://www.aphasiker.de). 61 Vgl. Nacimiento, Syndrom, 29: „Die Bezeichnung ,apallisches Syndrom‘ […] suggeriert als anatomisches Substrat einen kompletten Ausfall der Hirnrinde, was bei weitem nicht in allen Fällen zutrifft. Deshalb wird dieser Begriff in der aktuellen internationalen Literatur abgelehnt, ebenso die klinisch unscharfen Synonyme ,neokortikaler Tod‘ und ,Wachkoma‘.” Entscheidend sei aber, so Nacimiento, „nicht der Begriff als solcher, sondern die einheitliche und eindeutige Definition, die sicherstellt, dass ein vegetative state, ein apallisches Syndrom oder ein Wachkoma Synonyme für eine klar umrissene Konstellation klinischer Symptome darstellen“. Im englischsprachigen Raum sei die Bezeichnung ,persistent vegetative state‘ oder ,vegetative state‘ gebräuchlich, wobei die Unterscheidung von „persistent“ (andauernd, bleibend) und „permanent“ (irreversibel) zu beachten sei. 62 The Multi-Society Task Force on PVS, Medical aspects (21/1994), 1499 – 1508; The Multi-Society Task Force on PVS, Medical aspects (22/1994), 1572 – 1579. Im Folgenden bei einzelnen Autoren als MSTF abgekürzt. PVS steht für „persistent vegetative state“.

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zur Abgrenzung auch gegenüber verwandten klinischen Syndromen wie dem Locked-In-Syndrom63, dem Koma, dem minimalen Bewusstseinszustand und dem Hirntod.64 Die Multi-Society Task Force on PVS definiert das apallische Syndrom als einen klinischen Zustand, der gekennzeichnet ist durch: – den vollständigen Verlust von Bewusstsein über sich selbst oder die Umwelt und die Fähigkeit zu kommunizieren, – den Verlust [der Möglichkeit] zu willkürlichen oder sinnvollen Verhaltensänderungen infolge externer Stimulation, – den Verlust von Sprachverständnis und […] Sprachproduktion, – Blasen- und Darminkontinenz, – einen erhaltenen Schlaf-/Wachrhythmus, – weitgehend erhaltene Hirnstamm-, spinale-, hypothalamische- und autonome Reflexe.65 63 Zustand mit Unfähigkeit, sich bei erhaltenem Bewusstsein sprachlich oder durch Bewegungen spontan verständlich zu machen. 64 Der Hirntod ist ein Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms bei durch kontrollierter Beatmung noch aufrechterhaltener Herz- und Kreislauffunktion Vgl. zum Ganzen Lipp, Kriterien, 8 – 10. „Die Autoren der MSTF versuchen durch eine umfassende Formulierung der Diagnosekriterien auch Patienten mit nur marginalen kognitiven Fähigkeiten von der Diagnose eines APS auszuschließen.“ (Ebd., 5.) Lipp referiert: „Untersuchungen von Diagnosesicherheit […] zeigen, dass bei ca. 50 % der vermeintlich apallischen Patienten andere, phänomenologisch ähnliche neurologische Syndrome bestehen.“ (Ebd., 4.) Nacimiento zählt zu den möglichen Differentialdiagnosen auch die „fortgeschrittene Demenz“ mit starken kognitiven Einschränkungen. In begrenztem Umfang seien noch willkürliche Reaktionen auf äußere Reize möglich. Die Demenz könne im Endstadium in ein apallisches Syndrom einmünden. (Vgl. Nacimiento, Syndrom, 37.) Die Forschergruppe um Steven Laureys weist darauf hin: „Differentiating the vegetative (VS) from minimally conscious state (MCS) is often one of the most challenging tasks facing clinicians involved in the care of patients with disorders of consiousness (DOC) … Previous studies have shown that 37 to 43 % of patients diagnosed with VS demonstrated signs of awareness.” So Schnakers/Vanhaudenhuyse/Giacino/Ventura/Boly/Majerus/Moonen/Laureys, Accuracy, 9:35. Mit Verweis auf weitere Studien. 65 Lipp, Kriterien, 4. Mit Verweis auf die beiden Artikel der Multi-Society Task Force on PVS. Im englischen Original heißt es u. a.: „The vegetative state is a clinical condition of complete unawareness of the self and the environment, accompanied by sleep-wake cycles, with either complete or partial preservation of hypothalamic and brain-stem autonomic functions. In addition, patients in a vegetative state show no evidence of sustained, reproducible, purposeful, or voluntary behavioral responses to visual, auditory, tactile, or noxious stimuli; show no evidence of language comprehension or expression“. [The Multi-Society Task Force on PVS, Medical aspects (21/1994), 1499.] „Willkürlich“ wird hier im Sinne von „willentlich“ (nicht im Sinne von „selbstherrlich“, „diktatorisch“ oder „rücksichtslos“) verwendet, und zwar als Gegenbegriff zu den „unwillkürlichen“ Regungen des vegetativen Nervensystems. Vgl. Nacimiento, Syndrom: „Bei den betroffenen Patienten fehlen jegliche Hinweise auf eine bewusste Wahrnehmungsfähigkeit der eigenen Person und der Umwelt, eine Interaktion mit dem Untersucher ist nicht möglich […]. Es handelt sich um eine Bewusstseinsstörung, bei der

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2.2 Besondere Herausforderungen für die betroffenen Menschen

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Vom Wachkoma wird der Zustand „minimally conscious state“ (minimaler Bewusstseinszustand) unterschieden. Seine diagnostischen Kriterien werden von Nacimiento folgendermaßen wiedergegeben: – Einfache Aufforderungen werden befolgt – Ja/Nein-Antworten durch Gesten oder Worte (unabhängig davon, ob sie adäquat sind oder nicht) – Verständliche verbale Mitteilungen – Willkürliches Verhalten, einschließlich Bewegungen oder Affektäußerungen, die in einem nachvollziehbaren Bezug zu äußeren Reizen stehen und nicht durch Reflexaktivität bedingt sind.66

Menschen im Wachkoma sind ständig und dauerhaft auf Pflege und Betreuung angewiesen. Ihr Leben ist durch totale Abhängigkeit gekennzeichnet, denn ohne künstliche Ernährung und die Gabe von Flüssigkeit würden sie innerhalb weniger Tage sterben. Sie befinden sich in einem ,veränderten Bewusstseinszustand‘, „von dem sie vorher nichts wissen konnten, und dem sie die Wahrnehmungsfähigkeit, nicht jedoch die Wachheit beeinträchtigt ist […]. Als wesentliches klinisches Merkmal des apallischen Syndroms fehlen also bei der Verhaltensbeobachtung der Patienten Hinweise auf elementare kognitive Funktionen […]. Manche Patienten zeigen auf akustische und/oder visuelle Reize eine Kopf- und Augenwendung zur jeweiligen Reizquelle, was jedoch als primitiver Orientierungsreflex, nicht als willkürliche Reaktion zu werten ist. Auch andere Primitivreflexe können auslösbar sein […]. Außerdem treten nicht selten spontane oder durch äußere Reize induzierte Muskelzuckungen (Myoklonien) auf. Die unwillkürliche Motorik kann sich auch in Form von ungezielten Rumpf- und Extremitätenbewegungen manifestieren. Aber auch mimische Äußerungen, wie Grimassieren, Lächeln oder Weinen werden gelegentlich beobachtet, sie werden bei apallischen Patienten mitunter in tiefen Hirnstrukturen schablonenhaft generiert und sind nicht mit emotionalen Regungen verbunden. Manchmal sind auch Laute, wie Schmatzen, Grunzen und Zähneknirschen zu vernehmen, die als sog. orale Automatismen unwillkürlich entstehen. Unerfahrene Untersucher und insbesondere Angehörige verkennen die hier beschriebenen motorischen Phänomene nicht selten als willkürliche Reaktionen.“ (Ebd., 30 ff.) Nacimiento hält fest, „dass die Bestrebungen, einheitliche Kriterien für die Diagnose und prognostische Bewertung des apallischen Syndroms festzulegen[,] problematisch sind, da die Vielfalt der Ursachen mit einer solchen einheitlichen Beurteilung nicht ohne Weiteres vereinbar ist.“ (Ebd., 41.) 66 Nacimiento, Syndrom, 34, nennt als Beispiele, die derartige willkürliche Verhaltensweisen veranschaulichen: – „Adäquates Lächeln oder Weinen als Reaktion auf verbale oder visuelle Reize, die für den Patienten eine emotionale (keine neutrale) Bedeutung haben. – Direkte Reaktionen durch Worte oder Gesten mit inhaltlich nachvollziehbarem Bezug auf Fragen. – Greifen nach Gegenständen mit eindeutig feststellbarer Beziehung zwischen Objektlokalisation und Richtung des Greifens (gezieltes Greifen). – Berühren und Halten von Gegenständen in einer Weise, die sich der Größe und Form des Objektes anpasst. – Augenfolgebewegung und/oder Blickfixierung, die sich als direkte Reaktion auf die Bewegung bzw. Lokalisation des Stimulus erfassen lässt.“ Nacimiento referiert Giacino/Ashwal/Childs/Cranford/Jennet/Katz/Kelly/Rosenberg/Whyte/ Zafonte/Zasler, Minimally Conscious State, 349 – 353. (Nacimiento gibt die Namen der Autoren der Studie nicht korrekt wieder.)

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

nun ausgeliefert sind.“67 Bewältigungsstrategien, über die Menschen üblicherweise verfügen (z. B. Kommunikation über das Geschehen, Äußerung von Gefühlen, Bewegung) stehen ihnen nicht mehr zur Verfügung, denn sie sind auf ihren Körper und damit auf sich selbst zurückgeworfen. Die betroffenen Menschen sind darauf angewiesen, dass andere die (eventuell doch vorhandenen) minimalen Signale bzw. Zeichen der Kommunikation, die sie aussenden, wahrnehmen und angemessen deuten. Hierbei könnten Rückschlüsse aufgrund der Beobachtung von Menschen, die sich in ähnlichen Zuständen (z. B. im minimalen Bewusstseinszustand) befinden, hilfreich sein.68 9) Nachdem ein Mann mit apallischem Syndrom eine Stunde entspannt im Rollstuhl im Aufenthaltsraum gesessen hat, fängt er an zu husten. Sein Körper wird durch den heftigen Hustenanfall geschüttelt, im weiteren Verlauf bekommt er einen massiven Schweißausbruch. Die Ursache des Hustenanfalls ist unklar, sie kann als beginnende Erkältung, als Ermüdungserscheinung oder auch als Reaktion auf ein Gespräch der Mitarbeiterinnen im Aufenthaltsraum gedeutet werden. Die Pflegekräfte entscheiden, ihn in sein Zimmer zu bringen und ins Bett zu legen. Dabei bleibt letztlich unklar, ob dies seinem „Willen“ entspricht bzw. ob er überhaupt einen Willen „hat“ und ob er diesen „unbewusst“ äußern kann.

Menschen im Wachkoma befinden sich in einem Extremzustand, da sie zu willentlichen, klaren Äußerungen nicht in der Lage sind. Unklar ist auch, ob oder inwieweit sie sich ihrer selbst „bewusst“ sind. Diese Fragen sind in den diversen Disziplinen und zwischen den unterschiedlichen Beteiligten umstritten, weshalb sie im Kapitel 3.1 „Bewusstsein im Wachkoma – Einführung in das Problem“ erörtert werden.

67 Frör, Reisen, 11. Frör beschreibt mit diesen Worten den Zustand des Komas. 68 Geremek, Wachkoma, legt dar, dass „das Koma (aber auch der vegetative Zustand und der Zustand minimalen Bewusstseins) häufig eine transiente Phase [bilden], der entweder komplette Erholung, der Tod oder ein Zustand mentaler und/oder physischer Einschränkungen folgen können. Der Übergang aber ist nicht prompt und kann, je nach zugrunde liegender Ursache, zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen“. (Ebd., 35.) Und er stellt fest: „So weisen viele der Patienten, die als komatös oder im vegetativen Status diagnostiziert werden, eindeutig reproduzierbare kognitive Fähigkeiten auf, andere sind einfach nur blind oder stark seheingeschränkt, sodass das Fehlen wichtiger Diagnosekriterien wie Augenfolgebewegung und Schreckblinzeln fehlinterpretiert wird.“ [Ebd., 36, mit Verweis auf Andrews/Murphy/Munday/ Littlewood/Smith, Misdiagnosis, 13 – 16; Childs/Mercer/Childs, Accuracy.] „Auch die Differenzialdiagnose zwischen dem vegetativen Status und dem Zustand minimalen Bewusstseins erweist sich als schwierig, sodass bis zu 10 % der Patienten im Wachkoma Zeichen minimalen Bewusstseinsniveaus aufweisen, ohne dass dies lange Zeit diagnostiziert wird.“ [Geremek, Wachkoma, 36. Mit Verweis auf Giacino/Kalmar/Whyte, Coma, 2020 – 2029.]

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2.3 Felder der Seelsorge (im Umfeld)

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2.3 Felder der Seelsorge im Umfeld der Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen Eine erworbene Hirnschädigung hat nicht allein Auswirkung auf das Leben der Betroffenen, sondern auch auf ihre Familien und das soziale Umfeld. Die Plötzlichkeit des Ereignisses und die gravierenden Folgen erschrecken und machen Angst. Auch diejenigen, die beruflich Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung betreuen, stehen vor der Herausforderung, sich mit dieser Art der Behinderung auseinanderzusetzen. In den nächsten Abschnitten (2.3.1 – 2.3.3) sollen zum einen diejenigen in den Blick genommen werden, die von einer Hirnschädigung als Angehörige mit betroffen sind, zum anderen diejenigen, die professionell Unterstützung leisten.

2.3.1 Besondere Herausforderungen für Angehörige Angehörige von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen werden „plötzlich und unerwartet“ mit dem schädigenden Ereignis und den darauf hin notwendigen intensivmedizinischen Maßnahmen konfrontiert. In den ersten Stunden und Tagen stehen sie zwischen „Hoffen und Bangen“, dem sehnlichen Wunsch, ihr Angehöriger möge den Unfall oder die akute Erkrankung überleben, und der Angst vor einer Zukunft mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen. Die Plötzlichkeit des Ereignisses reißt nicht nur ihren Angehörigen, sondern auch sie selbst aus dem Alltag. Die Intensivstation ist ein fremder Ort.69 Mancher erinnert sich an die Aussage, die sein Angehöriger vorher getroffen hat: „Ich will kein Leben an Schläuchen.“ So müssen sich die Lebenspartner, Eltern oder Kinder eines verunfallten oder schwersterkrankten Menschen auf die Erklärungen der Ärzte verlassen, wenn diese beispielsweise sagen: „Die Zeit der intensivmedizinischen Behandlung ist eine Übergangsphase. Ihr Angehöriger braucht die Unterstützung der Maschinen momentan, aber nicht dauerhaft.“ Sie sind gefordert, in ärztliche Eingriffe einzuwilligen und Entscheidungen zu treffen, mit denen sie sich zuvor kaum auseinandergesetzt haben. Der Ausgang der Behandlung ist unklar : Wiederherstellung der Gesundheit, ein Leben mit schwersten Behinderungen oder Sterben. Manche erleben Ärzte, die ihnen die Hoffnung nehmen. Rückblickend erzählen sie, dass behandelnde Ärzte Aussagen getroffen haben wie „Das wird nichts mehr.“ oder „Sie müssen sich Ihren Mann wie ein kaputtes Auto vorstellen. Das fährt auch nicht mehr.“ Durch solche Bewertungen werden An69 Folgende Studie verweist auf die Wichtigkeit der Präsenz von Angehörigen für Patienten auf Intensivstationen: Garrouste-Orgeas/Philippart/Timsit/Diaw/Willems/Tabah/Bretteville/Verdavainne/Misset/Carlet, Perceptions.

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

gehörige entmutigt und generell wird das Leben mit Behinderungen und Beeinträchtigungen entwertet. In der Akutsituation mobilisieren Familienmitglieder vielfach große Kräfte, um ihre Angehörigen im Kampf ums Überleben gut zu begleiten. Die Situation ist durch die Ambivalenz von Gefühlen und eine hohe emotionale Belastung gekennzeichnet. Manche werden von Schuldgefühlen geplagt, besonders wenn dem schädigenden Ereignis ein Familienkonflikt vorausging.70 Eindrücklich schildert Daniela Büscher in dem Buch „Das andere Leben“ ihre Gedanken und Gefühle, nachdem ihr Mann eine Hirnblutung erlitt. Über die Zeit auf der Intensivstation berichtet sie: In mir waren so viele Fragen, dass sie sich gar nicht einzeln erkennen ließen. So war ich auch nicht imstande, viele Fragen zu stellen. Das hört sich vielleicht komisch an, aber es war so. Ich versuchte, mir die Geräte erklären zu lassen, die an meinem Mann angeschlossen waren. Aber wirklich wichtige Gespräche über den weiteren möglichen Verlauf führte niemand mit mir. […] Ich blieb fortwährend in dem Glauben, dass mein Mann, wenn er das überleben würde, wieder völlig gesund werden könnte.71

Ihre anfänglichen Gefühle beschreibt sie folgendermaßen: Ich glaube, dass niemand, der nicht in einer ähnlichen Situation gewesen ist, sich vorstellen kann, was diese Erkrankung bedeutet. Die Tatsache, dass es überhaupt keine wirkliche Kommunikation mit dem vertrauten und geliebten Menschen gibt – von jetzt auf gleich – ist für Aussenstehende nicht einmal ansatzweise zu erfassen. Diese absolute Ungewissheit, die Tatsache, nicht auch nur im Entferntesten zu erahnen, wie der Betroffene empfindet, denkt, hofft, bangt, sich ängstigt, zweifelt, kämpft, aufgibt, abschließt oder auch einfach nur sich zurückzieht – dieser Zustand ist zu Anfang beinahe unerträglich. […] Ich wusste, dass mein Mann mich ganz dringend bei sich brauchte, und dass ich seine Verbindung zur ,lebendigen Welt‘ war. Ich überschüttete ihn mit Liebe und Zuwendung und begann zaghaft, bei seiner Pflege mitzuhelfen. Dennoch muss ich sagen, dass ich in dieser Intensivphase völlig unter Schock stand und kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich funktionierte einfach. Doch niemand sah meinen Schockzustand oder nahm sich meiner an, kein Arzt, kein Psychologe.72 70 Menschen, die in konflikthaften oder stressreichen Lebenssituationen Hirnschädigungen erleiden, scheinen keine Einzelfälle zu sein: Der Vater, der nach einem Streit mit seinem Sohn mit dem Motorrad verunglückt; der Mann, der zu seiner neuen Lebenspartnerin ziehen will und am Tag vor dem Umzug eine Hirnblutung erleidet; die Tochter, die eine Überdosis Drogen nimmt; die misshandelte Ehefrau, die nach einem Streit einen Herzinfarkt bekommt; der LKW-Fahrer, der aufgrund von Arbeitsverdichtungen oder einer augenblicklichen Unachtsamkeit einen Arbeitsunfall verursacht. 71 Pommert/Ludwig/Büscher, Leben, 25. 72 Pommert/Ludwig/Büscher, Leben, 29.

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2.3 Felder der Seelsorge (im Umfeld)

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Die Schilderung kann exemplarisch für das Erleben von Angehörigen stehen.73 Gerade zu Beginn der Erkrankung ist die Unsicherheit groß, und die Gefühle schwanken zwischen Trauer, Verzweiflung, Angst und Hoffnung. Wenn der betroffene Patient ohne schwerwiegende Beeinträchtigungen überlebt, können alle Beteiligten diese Zeit wie einen „bösen Spuk“ hinter sich lassen. Wenn Menschen aber eine chronische Hirnschädigung behalten, dann verändert sich nicht nur ihr Leben, sondern auch das Leben ihrer Familie grundlegend und dauerhaft. Sie werden in der psychologischen Literatur als „,sekundär Betroffene‘“74 bezeichnet, die Familie selbst als „head-injured family“75 charakterisiert. Vielfältige Anpassungsleistungen seitens der Familienmitglieder sind erforderlich, ähnlich wie von Angehörigen anderer chronisch erkrankter Menschen. Hämmerling und Wendel haben die Lebens- und Beziehungszufriedenheit von Angehörigen von Hirngeschädigten in einer Pilotstudie untersucht und beschreiben die Belastungen von Angehörigen, in Aufnahme weiterer Studien76, folgendermaßen: Veränderungen auf der sozial-emotionalen, kognitiven und Handlungsebene werden notwendig, die im ursprünglichen Lebenskonzept nicht vorgesehen waren.“77 „Meist fehlt eine klare Rollenidentität; eine Art Doppelrolle zwischen Angehörige/r und Pflegende/r entsteht.78

73 In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Selbsterfahrungsberichten geschrieben von Menschen, die selbst oder deren Angehörige von lebensgefährlichen Erkrankungen oder Unfällen betroffen waren und die diese krisenhaften Zeiten beschreiben. Beispielsweise seien genannt: Goshen-Gottwein, Rufe; Hoffmann-Kunz/Volkhardt, Koma; Carolusson, Tobias. Die Schriftstellerin Kathrin Schmidt verarbeitet in dem Roman „Du stirbst nicht“ eigene Erfahrungen, die sie selbst durch eine Hirnblutung machte. Die Hauptprotagonistin des Romans, Helene Wesendahl, erleidet eine Hirnverletzung. Sie schildert plastisch ihre Gedanken und Gefühle während ihres Genesungsprozesses, vgl. K. Schmidt, Du. Eindrücklich sind auch die autobiographischen Berichte über das Leben mit einem Locked-InSyndrom, die vielleicht annäherungsweise einen Einblick in das Leben mit einer erworbenen Hirnschädigung geben können, auch wenn grundlegend zu beachten ist, dass Menschen im Locked-In-Syndrom keine kognitiven Einschränkungen oder hirnorganisch bedingten Affektveränderungen erlitten haben. Die umfassende Veränderung des eigenen Lebens, die Abhängigkeit von fremden Menschen, die soziale Isolation werden beeindruckend geschildert bei Bauby, Schmetterling; Tavalaro/Tayson, Grund; Vigand/Vigand, Stille. 74 Hämmerling/Ludwig/Wendel, Lebenszufriedenheit, 224, mit Verweis u. a. auf Dinkel/Balck, Krankheit, 116 – 121. 75 Brooks, Head-Injured Family, 155 – 188. 76 Es sei insbesondere verwiesen auf Dinkel/Balck, Bedürfnisse, 138 – 156: Das Bedürfnis der Angehörigen nach Information werde, auch Jahre nach der Verletzung, als am wichtigsten eingeschätzt. Emotionale und familienbezogene Bedürfnisse würden als weniger wichtig eingeschätzt, sie würden aber auch am häufigsten als nicht erfüllt beurteilt. 77 Hämmerling/Wendel, Beziehungszufriedenheit, 114. Mit Verweis auf die Studie von Tröster/ Bersch/Ruppert/Boenigk, Determinanten, 50 – 61. (Mit Angabe eines nicht korrekten Namenskürzels durch Hämmerling/Wendel.) 78 Hämmerling/Wendel, Beziehungszufriedenheit, 114. Mit Verweis auf von Kardoff/Schönberger, Angehörige, 133 – 154.

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

Die Verfasserinnen beschreiben, dass Angehörige von Hirngeschädigten unter verschiedenen psychologischen Langzeitfolgen litten, wobei Depressionen zu den häufigsten Folgen zählten.79 Es werden zudem auch starke Einschränkungen des emotionalen Wohlbefindens mit grenzwertig pathologischen Angstwerten festgestellt.80 Weitere Untersuchungen sind notwendig, um die Auswirkungen auf die Angehörigen und ihre Rolle im Krankheitsbewältigungsprozess zu erforschen.81 Wichtig wäre es auch, der Frage nachzugehen, welche Komponenten hilfreich bzw. hinderlich sind, um die veränderte Lebenssituation zu bewältigen. Auf die Problematik, wie Kinder und Jugendliche mit der Hirnschädigung eines Elternteils umgehen, sei hier nur verwiesen.82

2.3.2 Besondere Herausforderungen für Institutionen und Facheinrichtungen Im Jahr 2003 wurden „Empfehlungen zur stationären Langzeitpflege und Behandlung von Menschen mit schweren und schwersten Schädigungen des Nervensystem in der Phase F“ von der BAR, der „Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation“83 herausgegeben. Diese Bundesarbeitsgemeinschaft ist die gemeinsame Repräsentanz der Verbände der Rehabilitationsträger, der Bundesanstalt für Arbeit, der Bundesländer, der Spitzenverbände der Sozialpartner sowie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zur Förderung und Koordinierung der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Grund79 Vgl. Hämmerling/Wendel, Beziehungszufriedenheit, 114. Mit Verweis auf die Studie von Gillen/ Tennen/Afflek/Steinpries, Distress, 31 – 43. 80 Vgl. Hämmerling/Wendel, Beziehungszufriedenheit, 114. Mit Verweis auf Kitze/von Cramon/ Wilz, Belastungen, 401 – 406. 81 Ertragreich ist in diesem Zusammenhang die Dissertation von Nerb, Hirnverletzung. Instruktiv ist auch die Untersuchung von Lucius-Hoene, Leben. Im Bereich der Pflegewissenschaften ist eine interessante Studie entstanden, in der der Schwerpunkt auf die Situation von pflegenden Angehörigen wachkomatöser Menschen gelegt wird. Vgl. Horn, Angehörige. Es gibt Studien zur Belastung von Angehörigen anderer Patientengruppen. Z.B. sei auf folgende Studie verwiesen: Franz/Meyer/Gallhofer, Belastung. Die Autoren empfehlen, das Ausmaß an Belastung, Leid oder sogar Gesundheitsgefährdung für Angehörige nicht zu verleugnen, sondern möglichst objektiv und zuverlässig zu betrachten. (Ebd., 226.) 82 Vgl. Metzing, Kinder. Metzing untersucht die Belastung von Kindern und Jugendlichen in Familien mit körperlich behinderten, aber auch mit psychisch kranken Eltern. Diese sog. „,young carers‘“ (Ebd., 15.) seien mit einer Vielzahl unterschiedlicher Aufgaben belastet, die sie zusätzlich zu ihrem eigenen Alltag bewältigen müssten. Viele Kinder wüchsen in ihre Pflegerolle hinein und betrachteten sie als normalen Bestandteil ihres Lebens. Als Einflussfaktoren zur Entstehung der Pflegesituationen seien vor allem „ökonomische und soziale Deprivation der Familien, soziales Milieu, Ausbruch und Schwere der Erkrankung, ein Mangel an Unterstützung durch Außenstehende, die Familienkonstellation sowie die Verfügbarkeit von Kindern“ zu nennen. (Ebd., 48.) Kinder wollten die Familie zusammenhalten (Vgl. ebd., 85 – 136.) und im Grunde genommen normal weiterleben. (Vgl. ebd., 137 – 153.) 83 Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (Hg.), Langzeitpflege. Vgl. auch Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (Hg.), Rehabilitation.

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2.3 Felder der Seelsorge (im Umfeld)

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lage der Empfehlungen ist die sogenannte „Phaseneinteilung in der neurologischen Rehabilitation“84, die von der Deutschen Rentenversicherung entwickelt wurde. Nach diesen Empfehlungen arbeiten Einrichtungen, die sich in der „Bundesarbeitsgemeinschaft Phase F“85 zusammengeschlossen haben. Den Jahreszahlen der Publikationen ist zu entnehmen, dass die konzentrierte und kooperative Arbeit für die Patientengruppe der Menschen mit schwersten Hirnschädigungen noch relativ jung ist. Diese Patientengruppe ist erst im Lauf der letzten Jahre in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, seitdem immer mehr Menschen auch mit schwersten Hirnschädigungen dauerhaft überleben. Sowohl die alltäglichen Erfahrungen mit Menschen mit schweren neurologischen Ausfallerscheinungen als auch die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Feld wächst. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist gefordert und entwickelt sich. Unter den beteiligten Fachdisziplinen besteht mittlerweile ein Konsens, dass die Art der Behinderung, die im Verlauf des Lebens „erworben“ wird, eine Besonderheit darstellt. Seit den 1990er Jahren ging der Aufbau spezialisierter Therapieangebote voran, gleichzeitig mit der großen Zunahme an Fallzahlen, die die Fachöffentlichkeit als ,stille Epidemie‘ beschreibt.86 Die Bundesarbeitsgemeinschaft BAG Phase F beschreibt als wesentliche Aufgaben: 1. Entwicklung einheitlicher Qualitätsmaßstäbe, auf deren Basis Rehabilitation, Betreuung und Pflege stationär oder ambulant durchgeführt werden; 2. Betreiben der fachpolitischen Anerkennung der Phase F, d. h. auch die Klärung der Finanzierung der Kosten der Phase F.87 Neben der gesellschafts- und sozialpolitischen Diskussion sind die einzelnen Facheinrichtungen vor verschiedene Herausforderungen gestellt, die folgendermaßen zusammengefasst werden können: – Funktionierende, ineinander greifende Zusammenarbeit aller am Behandlungsprozess beteiligten Institutionen; – Berücksichtigung auch der psychosozialen Bedarfe von Betroffenen und Angehörigen neben der Behandlung körperlicher Funktionsstörungen; – Sicherung der adäquaten ambulanten Nachsorge im häuslichen und beruflichen Lebenskontext.

84 „Weiterentwicklung der neurologischen Rehabilitation. Deutsche Rentenversicherung 1994“, 111 – 127, zitiert nach Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, Langzeitpflege, 20. Vgl. auch Petri, Stand, 55 – 60. 85 Vgl. Satzung Bundesarbeitsgemeinschaft Phase F e. V. v. 19. Oktober 2006. Vgl. http://www.bagphase-f.de v. 20. 7. 2010. Dort findet man Verweise zu den einzelnen Landesarbeitsgemeinschaften Phase F. 86 Vgl. von Bodelschwinghsche Anstalten Bethel (Hg.), Weiter leben, 11. 87 Vgl. Satzung Bundesarbeitsgemeinschaft Phase F [http://www.bag-phase-f.de/seiten/ziele.html v. 20. 7. 2010].

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

Von schwersten Hirnschädigungen Betroffene sollten nicht mangels Alternativen in nicht spezialisierten Pflegeeinrichtungen oder Institutionen der Behindertenhilfe oder Psychiatrie untergebracht werden. Das Ziel sollte sein, dass sie in Facheinrichtungen aufgenommen werden, die eine angemessene und fundierte Behandlungs-, Betreuungs- und Pflegekompetenz gewährleisten.88 Selbsthilfegruppen urteilen, dass auf der Ebene der Sozialpolitik wie im konkreten Ausbau wohnortnaher, differenzierter und personenbezogener Hilfeleistungen Defizite bestehen. Gezielte Öffentlichkeitsarbeit wie die Veranstaltung von Fachsymposien sind eine Aufgabe sowohl der regionalen Institutionen wie der überregionalen Arbeitsgemeinschaften und Interessenvertretungen.89 Die Hilfen sind zurzeit (im Jahr 2010) noch zersplittert. Eine Vielzahl von Einrichtungen hat sich die Professionalisierung und Standardisierung der Arbeit durch die Zusammenschlüsse in Landes- und Bundesarbeitsgemeinschaften als Aufgabe gesetzt. Bemerkenswert ist die enge Zusammenarbeit von Selbsthilfegruppen und Institutionen.

88 So beispielhaft formuliert in v. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel, „Weiter leben“, 11 f. Auf die Feststellung, dass Partikularinteressen von Sozialleistungsträgern eine Lückenlosigkeit des Behandlungs- und Rehabilitationsprozesses behindern, soll im Rahmen dieser Arbeit nur verwiesen, aber nicht näher eingegangen werden. 89 Exemplarisch sei auf die Arbeit folgender Träger verwiesen: http://www.hannelore-kohl-stif tung.de v. 20. 7. 2010, http://www.schaedel-hirnpatienten.de v. 20. 7. 2010 und http:/www.not-on line.de v. 20. 7. 2010, die die Zeitschrift „Not durch Hirnverletzung, Schlaganfall und sonstige erworbene Hirnschäden“ herausgibt. Beispielhaft seien die Nachsorgekongresse der ZNS-Stiftung genannt: 1. Nachsorgekongress 2006 und 2. Nachsorgekongress 2008 mit dem Thema „Rehabilitation und Nachsorge nach Schädel-Hirn-Trauma: Möglichkeit und Wirklichkeit“, der 3. Nachsorgekongress der „Arbeitsgemeinschaft Rehabilitation und Nachsorge nach Schädelhirnverletzung“ 2009 mit dem Thema „Teilhabe – Rehabilitation, Nachsorge und Integration nach Schädelhirnverletzung: Wege und Stolpersteine 2009“, der 4. Nachsorgekongress der „Arbeitsgemeinschaft Teilhabe – Rehabilitation, Nachsorge und Integration nach Schädelhirnverletzung“ mit dem Titel „NeuroRehabilitation stationär – und dann…?“, vgl. http://www.nachsorgekongress.de/startseite v. 4. 1. 2010. Mitglied dieser Arbeitsgemeinschaft ist u. a. die Gesellschaft für Neuropsychologie (http://www.gnp.de v. 20. 7. 2010). Die Inhalte der Nachsorgekongresse sind in den Tagungsbänden nachzulesen. Vgl. Fries/Ludwig (Hg.), Rehabilitation 2007; Ebert/Fries/Ludwig (Hg.), Rehabilitation 2008; Ebert/Fries/Ludwig (Hg.), Rehabilitation 2009; Ebert/Fries/Ludwig (Hg.), Rehabilitation 2010.

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2.3 Felder der Seelsorge (im Umfeld)

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2.3.3 Besondere Herausforderungen für Mitarbeitende Mitarbeitende, die Menschen mit schwersten erworbenen Hirnschädigungen begleiten und pflegen, stehen vor komplexen Herausforderungen in diesem Arbeitsfeld, die durch folgende Elemente gekennzeichnet sind: 1. 2. 3. 4.

Besonderheit der Behinderung; Ansprüche der Angehörigenarbeit; Erprobung und Überprüfung therapeutischer und pflegerischer Angebote; Entwicklung von Konzepten und Arbeitsformen in einem neuartigen Arbeitsfeld.

Mitarbeitende begegnen Menschen mit sehr unterschiedlichen Schicksalen und müssen reflektiert damit umgehen. Manchmal empfinden sie Mitleid oder identifizieren sich mit den betroffenen Menschen („Er ist so alt wie mein Sohn.“ oder „Ich frage mich immer wieder, wie es wäre, wenn es mir so ginge.“). Anderen würden sie am liebsten Vorwürfe machen („Erst hat er seine Frau und seine Kinder geschlagen, dann ist er betrunken vor das Auto gelaufen – und jetzt soll sich seine Familie auch noch um ihn kümmern. Da ist er doch auch selbst schuld.“). Diese Gefühle sind zu benennen und, wenn möglich, in einem supervisorischen Prozess zu bearbeiten, damit eine gute pflegerische, pädagogische oder therapeutische Arbeit nicht behindert wird. Es wäre wünschenswert, Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen und Fachkliniken in den Fokus von psychologischen, pflegewissenschaftlichen und medizinischen Untersuchungen zu rücken, damit belastende und entlastende Faktoren der Arbeit deutlicher beschrieben werden könnten. Auf diese Weise könnte untersucht werden, wie pflegerische und therapeutische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Entlastung in ihrer Arbeit erfahren und für ihre vielfältigen und differenzierten Aufgaben Unterstützung bekommen können. Herausforderungen im professionellen Umgang mit Menschen im Wachkoma Mitarbeitende sind zu sorgfältiger Arbeit herausgefordert, weil das Überleben schwerstpflegebedürftiger Menschen von ihnen abhängt. Ihr Gegenüber ist umfassend hilfsbedürftig und damit abhängig von anderen Menschen. Mitarbeitende können die Sinnhaftigkeit ihres Tuns bejahen und ihre Arbeit als einen guten Dienst empfinden, wenn sie minimale Veränderungen bei den Patientinnen und Patienten zum Teil als Ergebnis ihrer pflegerischen oder therapeutischen Arbeit definieren (z. B. stabile körperliche Zustände ohne krisenhafte Krankenhauseinweisungen; Entwöhnung von einer Trachealkanüle90 ; Schluck- und Essenstraining; gezieltere Augen- oder Kopfbewegungen, Lächeln). 90 Atemkanüle nach Tracheotomie (Luftröhrenschnitt).

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2. Menschen als Gegenüber. Einführung

Mitarbeitende müssen sich in diversen pflegerischen und therapeutischen Konzepten fort- und weiterbilden. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist gefordert.91 Im Weiteren sind sie gefordert, sich mit dem schweren Schicksal der Betroffenen und ihrer Angehörigen sensibel, aber auch distanziert auseinanderzusetzen.92 Schwer belastete Angehörige können durch sie Unterstützung und Hilfe zum Leben erfahren. Herausforderungen für Mitarbeitende in Einrichtungen der Langzeitrehabilitation Während bei Menschen im Wachkoma und im minimalen Bewusstseinszustand die zustandserhaltende Pflege im Mittelpunkt steht, besteht das Ziel der aktivierenden Langzeittherapie darin, rehabilitative Fortschritte hin zu mehr Selbstständigkeit zu ermöglichen. Mitarbeitende können es als belastend empfinden, wenn sie Menschen in ihrer Verzweiflung und Trauer über ihre erlittene Behinderung und den Verlust ihres bisherigen Lebens, den Verlust von Freunden, des sozialen Umfelds und der beruflichen Perspektive begleiten. Die Arbeit mit Menschen, die körperlich oder verbal aggressiv sind, kann die Arbeitszufriedenheit stark einschränken. Die Begleitung von Menschen, die kaum Fortschritte machen bzw. deren Entwicklung eher rückläufig erscheint, zeigt die Grenzen rehabilitativer und therapeutischer Arbeit auf. Dagegen wird oft die Arbeit mit denjenigen Patienten als bereichernd empfunden, die Fortschritte hin zu größerer Selbstständigkeit erzielen, die freundlich im Kontakt sind und dankbar therapeutische und pflegerische Unterstützung annehmen. Bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besteht ein großer Bedarf an Supervision und kollegialer Beratung, damit sie mit den ständig wiederkehrenden Schwierigkeiten und emotionalen Belastungen ihrer Arbeit reflektiert umgehen können. Gerade in den intimen und körpernahen Pflegesituationen sind die Pflegekräfte durch Menschen herausgefordert, die teilweise mit Aggressionen (Treten, Kratzen, Spucken) auf die Körperpflege reagieren. Die Notwendigkeit spezifischer Fachweiterbildung ist mittlerweile anerkannt.93 91 Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, Langzeitpflege, 13ff, nennt Pflege, Ärzte, Therapie (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie), Neuropsychologie und Sozialdienst. Seelsorge findet in den Empfehlungen keine Berücksichtigung. 92 Die Auseinandersetzung mit dem Lebensschicksal der Betroffenen leisten auch Mitarbeitende aus Hauswirtschaft und Verwaltung. Sie finden aber i. d. R. keine Beachtung in den Fortbildungskonzepten. 93 „Bildung und Beratung Bethel“ hat in den Jahren 2009 bis 2011 eine Fachweiterbildung angeboten mit dem Titel „Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen kompetent beraten, betreuen und pflegen“. (Vgl. http://www.lag-phase-f-nrw.de/mediapool/51/515032/data/MEH_ mit_Anmeldung_2009.pdf v. 17. 1. 2011.) Auch in den Jahren 2011 bis 2013 wird eine solche Weiterbildungsmaßnahme durchgeführt. (Vgl. http://www.bildung-beratung-bethel.de/.cms/ 41-1-335 v. 17. 1. 2011.)

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2.3 Felder der Seelsorge (im Umfeld)

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Der individuellen Verschiedenartigkeit der betroffenen Menschen mit ihren Bedürfnissen und Problematiken gerecht zu werden, die selten parallel, sondern oft diametral entgegengesetzt sind, bildet eine der größten Herausforderung für Mitarbeitende. Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen sind eine dynamische, z. T. anspruchsvolle Patientengruppe, wobei sich die Einzelnen in einem sich stetig ändernden Prozess mit wechselnden Emotionen, Gedanken und Perspektiven befinden.

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3. Diskussion der besonderen Problematik des Wachkomas in verschiedenen Bezügen Das Leben von Menschen im Wachkoma ist durch charakteristische Züge gekennzeichnet, von denen zwei in der Diskussion über die Lebensweise dieser Menschen eine besondere Rolle spielen: – Das Bewusstsein, – und, davon abhängig, die Frage der Kommunikationsfähigkeit. Ausgehend von der Beurteilung dieser Fähigkeiten werden Konsequenzen für die Erhaltung bzw. Beendigung des Lebens der betroffenen Menschen diskutiert, sowohl unter Ärzten, Juristen, Philosophen und Theologen als auch allgemein in der öffentlichen Diskussion. Deshalb ist es sinnvoll, diesen Themen differenziert und unter Einbeziehung natur- und geisteswissenschaftlicher Einschätzungen und Erwägungen nachzugehen, um ein differenziertes Bild von den Phänomenen „Bewusstsein“ und „Kommunikation“ zu erhalten. Ziel der Erörterung ist, dass über das Leben schwerstbehinderter Menschen im Wachkoma nicht mehr unter Hinweis auf die vermeintlich eindeutig definierten Begriffe „Bewusstsein“ und „Kommunikationsfähigkeit“ Urteile gefällt werden. Das soll vielmehr durch ein komplexes Verständnis der Thematik erreicht werden.

3.1 Bewusstsein im Wachkoma – Einführung in das Problem Mit der Problemstellung, ob ein Mensch im Wachkoma über Bewusstsein verfügt, wird von unterschiedlichen Seiten die Frage verbunden, ob das Leben eines Menschen ohne Bewusstsein nicht auch beendet werden kann, und zwar in folgender Weise: Wenn Menschen kein Bewusstsein darüber hätten, dass und wie sie leben, dann sei das Sterben für sie mit keinem Verlust und auch keiner beängstigenden Situation verbunden. Verschiedene Fragen werden in diesem Zusammenhang gestellt: – Nehmen Menschen im Wachkoma überhaupt etwas wahr? Und wenn ja, wie nehmen sie ihre Umwelt wahr? – Verfügen sie über ein Bewusstsein? Und wie ist dieses Bewusstsein zu verstehen?

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Zunächst ist zu klären, welches Verständnis von Bewusstsein von den verschiedenen Seiten verwendet wird. Gibt es eine allgemein gültige Definition des „Bewusstseins“ oder wird mit unterschiedlichen „Bewusstseinsbegriffen“ operiert? Meinen eigentlich alle Beteiligten das Gleiche, wenn sie den Begriff „Bewusstsein“ verwenden? Die Klärung des Begriffs ist dort von großer Relevanz, wo die Frage nach dem Vorhandensein von Bewusstsein zu einer Frage von Leben und Tod, von Lebenlassen und Sterbenlassen wird. Wenn nämlich das „Lebensrecht“ eines Menschen von seiner bewussten Teilnahme am Leben abhängig gemacht wird, dann kann die Diskussion über das „Leben im Wachkoma“ exemplarisch werden für den Umgang der Gesellschaft mit Menschen mit schweren Bewusstseinsveränderungen. Das Bewusstsein stellt ein komplexes, interdisziplinär diskutiertes Phänomen dar. Im Folgenden soll das Bewusstsein von Menschen im Wachkoma bzw. die damit zusammenhängenden Problematiken aus medizinischer, juristischer, philosophischer und theologischer Sicht thematisiert werden, um eine differenzierte Sicht zu entwickeln und zugleich eine terminologische Klärung des Begriffs des Bewusstseins zu erreichen. Dazu werden 1. eine vorläufige Definition gegeben; 2. Szenen aus dem seelsorglichen Alltag zum Thema „Bewusstsein im Wachkoma“ beschrieben; 3. exemplarisch Positionen von Medizinern hinsichtlich der Frage: „Wie ist Bewusstsein feststellbar?“ diskutiert; 4. juristische Entwürfe zweier Arbeitsgruppen, die vom Deutschen Bundestag und vom Bundesjustizministerium zum Thema „Patientenverfügungen“ einberufen wurden, erörtert; 5. philosophische Entwürfe, die das „Rätsel“ bzw. das „Problem“ des Bewusstseins thematisieren, dargestellt; 6. zwei theologische Ansätze vorgestellt, mittels derer die Kategorie der „Personwürde“ und das christliche Menschenbild in die Diskussion eingebracht werden.

3.1.1 Bewusstsein – vorläufige Definition Das Bewusstsein ist ein komplexes Phänomen. Bevor die verschiedenen Positionen vorgestellt und diskutiert werden, soll eine vorläufige Definition des Begriffs festgehalten werden. Diese Definition geht über eine Gleichsetzung des Bewusstseins mit der bloßen Verfügungsgewalt über kognitive Fähigkeiten hinaus, wie sie z. T. unreflektiert gebraucht wird. Diese vorläufige Definition kann nur als eine Annäherung an den Begriff verstanden werden, aber nicht als umfassende Begriffsklärung.

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3. Diskussion der besonderen Problematik

Bewusstsein kann verstanden werden als „die Summe der Icherfahrungen und Vorstellungen sowie die Tätigkeit des wachen, geistigen Gewahrwerdens von Eindrücken“1, als die „bes[ondere] Art des Erlebens, in der der Mensch seel[ische] Vorgänge als gegenwärtig und in ihrer Zugehörigkeit zum Ich erfährt.“2 „Bewusstsein meint nicht nur direkt die Wahrnehmung, sondern das Wissen von dieser Wahrnehmung, das in der Einheit eines Selbstbewusstseins verbunden gedacht wird.“3 Bewusstsein als Ich-Bewusstsein meint das „Wissen um die Identität des eigenen Subjekts und der Persönlichkeit“4.

3.1.2 Bewusstsein und die Frage des Weiter-Lebens – Szenen aus dem seelsorglichen Alltag Im Umgang mit Menschen im Wachkoma wird die Frage des Bewusstseins oft thematisiert, und zwar nicht nur in theoretischen Zusammenhängen, sondern im praktischen Umgang miteinander. Pflegende, Therapeuten oder Angehörige, d. h. Menschen, die einen engen Kontakt zu diesen schwerstbehinderten Menschen haben, sagen: „Immer wieder habe ich den Eindruck, diese Frau bekommt etwas mit.“ Einzelne berichten von Reaktionen auf besondere Ereignisse: „Als seine Frau ihm erzählt hat, dass sie schwanger geworden ist, konnte man in den nächsten Tagen morgens eine Veränderung an ihm feststellen. Das ließ nach einigen Wochen wieder nach.“ Auch nach Jahren können Entwicklungen entdeckt werden: „Früher, als dieser Mann zu uns kam, da war er in sich verschlossen. Seine Mimik war starr, sein Körper war voller Kontrakturen. Jetzt, nach drei Jahren, kann er sich strecken. Manchmal lächelt er. Es war für mich etwas Besonderes, als er das erste Mal gelächelt hat.“ Solche Beobachtungen sprechen dafür, dass Menschen im Wachkoma nicht empfindungslos und kommunikationsunfähig sind, sondern sensibel auf ihre Umgebung reagieren. Deshalb stellt sich den Begleitenden oft die Frage, ob die betroffenen Menschen nicht doch über Formen von Bewusstsein verfügen, und wenn ja, in welcher Weise dieses Bewusstsein vorzustellen ist. Ein solches Verständnis von Bewusstsein, das hier ansatzweise skizziert wird, weicht ab von einer „landläufigen“ Definition, die eindimensional Bewusstsein im Sinne von Wissen definiert. Im Folgenden werden einige Szenen, die derartige Formen von Bewusstsein widerspiegeln, geschildert und analysiert. 1) Herr Lo., ein Mann im Wachkoma, spät und mehrfach nach einem Herzinfarkt reanimiert, leidet zusätzlich unter einer chronischen Lungenentzündung. Wegen 1 2 3 4

Meyers Großes Taschenlexikon 2003, Bd. 3, 698. Meyers Großes Taschenlexikon 1992, Bd. 3, 188. dtv-Lexikon 2006 (CD-Rom). Meyers Großes Taschenlexikon 2003, Bd. 3, 698.

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der Verschlechterung seines Zustands war er schon mehrfach im Akutkrankenhaus, wo sich sein Zustand nur unwesentlich besserte. Augenscheinlich leidet er unter akuter Atemnot und wird deshalb erneut ins Krankenhaus eingeliefert. Noch bevor die Übergabe an den Arzt erfolgen kann, kollabiert er auf der Station. Er wird erneut reanimiert; nach erfolgreicher Reanimation wird er auf der Intensivstation künstlich beatmet. Nachdem der behandelnde Arzt den Überleitungsbericht gelesen hat, nimmt er Kontakt zum behandelnden Hausarzt auf: „Hätte ich gewusst, dass dieser Mann so schwer geschädigt ist, dann hätte ich auf eine Reanimation verzichtet.“ Nach dem Absetzen der künstlichen Beatmung wird Herr Lo. in die Pflegeeinrichtung zurückverlegt. Da sich sein Zustand trotz intensiver medizinischer Therapie über Wochen nicht verbessert, sondern verschlechtert, entscheiden sich die behandelnden Ärzte und der gesetzliche Betreuer gegen eine Maximaltherapie, aber für die Gabe von Antibiotika und Schmerzmitteln. Die ambulante Hospizgruppe wird um Begleitung und Unterstützung gebeten. Pflegekräfte, Angehörige und ehrenamtliche Begleiterinnen berichten einhellig, dass sich der Mann entspannt, sobald er spürt, dass jemand an seinem Bett sitzt. Sonst wirft er seinen Kopf umher, seine Stirn ist angestrengt gerunzelt, seine Augen verengt, seine Mimik wirkt leidend, ab und zu stöhnt er leise. Herrn Lo. geht es offensichtlich nicht gut. Nach einigen Tagen stirbt er.

Körperliches und psychisches Erleben hängen bei Menschen im Wachkoma – wie bei allen Menschen – eng zusammen. Herrn Lo.s Körpersprache deutet auf sein Leidensempfinden hin. Er kann sich zeitweise entspannen, wenn er, neben einer guten palliativmedizinischen Behandlung, menschliche Zuwendung erhält: Erlebt oder empfindet er „bewusst“ oder „vor-bewusst“, wenn Menschen bei ihm sind oder wenn er allein ist? Ärztlicherseits ist in der Behandlung von Herrn Lo. die Frage leitend, ob die Krankheitsprognose infaust ist und ob der Sterbeprozess schon irreversibel eingesetzt hat. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht also nicht die Frage, inwieweit sich Herr Lo. seines Zustands bewusst ist und, davon ausgehend, keine generelle Infragestellung der Lebensqualität dieses schwerstbehinderten und schwerstpflegebedürftigen Menschen. Das Ziel der ärztlichen Bemühungen ist eine Linderung des Leidens, auch wenn keine Heilung der akuten Erkrankung mehr möglich ist. Deshalb werden Flüssigkeit und Nahrung und eine palliativmedizinische Behandlung, abhängig vom Krankheitsverlauf, gegeben. 2) Eine Kollegin aus dem Krankenhaus ruft an und bittet die Seelsorgerin aus dem Bereich der Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen um Unterstützung. Sie begleite Frau B., deren Lebensgefährte Herr I. sich seit über einem Jahr im Zustand des Wachkomas befinde und die durch ein Gespräch mit ihrem Hausarzt in Unruhe versetzt worden sei. Dieser habe ihr einen Artikel aus einer Ärztezeitung in die Hand „gedrückt“ und ihr, „zwischen Tür und Angel“, gesagt, sie solle sich doch überlegen, ob sie ihren Mann weiterhin künstlich ernähren lassen wolle. Zu Bewusstsein

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3. Diskussion der besonderen Problematik

käme dieser ja doch nicht mehr, deshalb sei es wohl besser für ihn, wenn man ihn sterben lasse. Die Kollegin bittet darum, Kontakt mit Frau B. aufzunehmen, um mit ihr die Fragestellung „Leben oder Sterben lassen“ zu erörtern und sie in der Entscheidung, ihrem Partner die Ernährung nicht zu verweigern, zu unterstützen. Bei dem folgenden Besuch erlebt die Seelsorgerin eine kompetente und doch zutiefst verunsicherte Frau, die zunächst vom Ereignis erzählt, das zum apallischen Syndrom ihres Lebensgefährten führte. „Einfach umgefallen ist er, aus heiterem Himmel. Wir waren im Urlaub, alles war gut. Und dann … Es war so schwierig. Erst der Notarzt, dann der Rettungshubschrauber. Sie haben ihn ins örtliche Krankenhaus gebracht und dort operiert. Dann haben sie ihn weitergeflogen ins Uni-Klinikum. Ich wusste gar nicht, wo er war. Und ich musste ja auch erst einmal alles richten für die Abreise. Als ich dann einen Tag später zu ihm kam, war er im Koma. Die Ärzte haben mir gleich wenig Hoffnung gemacht: ,Das wird wohl nichts mehr. Ihr Partner kommt nicht mehr zu Bewusstsein.‘ Doch nach einiger Zeit fing er an, die Augen zu öffnen und selbst zu atmen. Da fiel dann zum ersten Mal der Begriff ,Wachkoma‘. Ich wusste gar nicht, was das war. Nach der Zeit in der Reha-Klinik war klar, dass er in diesem Zustand bleiben würde. Da habe ich für ihn ein Altenheim in der Nähe gesucht, um ihn oft zu besuchen. Zu Hause konnte ich ihn nicht pflegen. Jetzt gehe ich täglich zu ihm, halte seine Hand, spreche mit ihm. Ich habe auch das Gefühl, dass er auf mich reagiert, dass er ruhiger wird und sich entspannt, wenn ich da bin. Aber die Pflegerinnen im Altenheim haben wenig Ahnung vom Leben im Wachkoma, da mein Partner der einzige Wachkomapatient in diesem Heim ist. Dort arbeitet ein junger Mann als Hausarzt. Der hat mir letztens diesen Artikel aus dem Ärzteblatt5 gegeben und gesagt, ich solle mal überlegen, wie mein Partner zukünftig medizinisch behandelt werden soll und ob ich nicht die Ernährung einstellen lassen will. Mein Partner habe kein Bewusstsein und würde es auch nicht wieder erlangen. Deshalb würde er auch nichts merken, wenn er nicht mehr ernährt würde, zudem könne er als Arzt auch palliativmedizinisch helfen. Und das sei dann ja auch besser für mich, wenn mein Partner sterben könnte. Aber ich kann das nicht. Und ich will das nicht. Ich bin christlich erzogen. Und ich spüre immer auch etwas, wenn ich bei meinem Partner bin. Aber dieser Arzt sieht das ganz anders als ich. Ich brauche Unterstützung.“

Frau B. erlebt bei ihren Besuchen, dass ihr Lebensgefährte auf sie reagiert. Sie beschreibt, dass Herr I. ruhiger wird und sich in ihrem Beisein entspannt. Ihre Wahrnehmung wird vom behandelnden Arzt nicht geteilt. Er stellt, ausgehend von der Diagnose „Wachkoma“, die Prognose, dass der Mann im Wachkoma sein Bewusstsein unwiederbringlich verloren habe. Oft werden solche Prognosen schon frühzeitig formuliert, um eine vermeintlich realistische Per5 Synofzik/Marckmann, Persistent vegetative state, A 2079 – 2082, mit dem Untertitel „Verdursten lassen oder sterben dürfen?“. Zum Artikel Synofzik/Marckmann s. u. Kapitel 3.1.3. Die Gegenfrage zum genannten Artikel stellt Lothar Ludwig, ein betroffener Vater : „Leben dürfen oder sterben müssen?“, vgl. Ludwig, Leben, 18 – 21.

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spektive zu erhalten: Es bestehe keine Hoffnung auf eine vollständige Restitution des Menschen, mehr noch, es bestehe auch keine Hoffnung auf eine teilweise Erholung aus dem Zustand des Wachkomas. Die Erzählung von Frau B. ist nicht untypisch dafür, wie Angehörige manchmal Begegnungen mit behandelnden Ärzten erleben6 : Der behandelnde Arzt verknüpft in dem Fall von Herrn I. mit der Beurteilung seines Bewusstseins auch ein Urteil über Lebensrecht bzw. Lebenssinn des betroffenen Patienten. Dies geschieht aus augenscheinlich gut begründeter wissenschaftlicher Position. Doch ein derartiges Urteil ist weder unter Medizinern noch aus ethischer Sicht allgemein anerkannt.7 Wünschenswert ist deshalb immer, dass Angehörige von den behandelnden Ärzten umfassend und differenziert informiert werden, auch über die divergierenden Einschätzungen des Wachkoma-Zustands.8 Wenn Angehörige eine andere Perspektive als die behandelnden Ärzte einnehmen, sollten im Sinne einer Multiperspektivität beide Betrachtungsweisen gleichwertig nebeneinander stehen, um eine differenzierte Wahrnehmung der betroffenen Patienten zu erreichen. Zusammenfassend wird festgehalten: Bewusstsein zu haben ist für Menschen ein hohes Gut. Eine bewusste Teilhabe am Leben ist Ziel ärztlicher und pflegerischer Bemühungen. In konkreten Situationen wird, bezogen auf Menschen im Wachkoma, immer wieder von Angehörigen, Pflegenden oder Ärzten, die Frage des Bewusstseins gestellt und mit dieser Frage auch die Frage des Weiterlebens bzw. des Weiterlebenlassens verknüpft. Leider wird der Begriff „Bewusstsein“ in der Diskussion selten definiert, sondern unhinterfragt mit höheren kognitiven Fähigkeiten gleichgesetzt. Ein Leben, das von Bewusstseinsbeeinträchtigungen, geringer Kommunikationsfähigkeit und totaler Abhängigkeit geprägt ist, erscheint vielen ge6 Vgl. z. B. Hoffmann-Kunz/Volkhardt, Koma, 12 – 19: Monika Hoffmann-Kunz erzählt von den ersten Wochen, nachdem ihr Lebensgefährte Volkmar Volkhardt durch einen Verkehrsunfall in den Zustand des Wachkomas geraten ist. Erst nach einer Woche erfährt sie, was ihm passiert ist und in welches Krankenhaus er eingeliefert worden ist. Weiter berichtet sie davon, wie deprimierend die Aussage der Ärztin zwei Monate nach dem Ereignis für sie war, dass ihr Lebensgefährte vielleicht nie mehr aufwachen oder schwerstbehindert bleiben würde. 7 S. u. Kapitel 3.1.3; 3.1.4; 6.3. 8 Vgl. beispielsweise Donis/Steinbach, Langzeitbetreuung, 255: „Trotz mehrfacher Hinweise auf die Unzulässigkeit einer Gleichsetzung wird die medizinische Diagnose eines Wachkomas häufig mit einer ungünstigen Prognose gleichgesetzt. Ungünstige Prognose bedeutet aber in der klinischen Praxis auch Sinnlosigkeit weiterer Maßnahmen – ein Verhalten, das den ungünstigen weiteren Verlauf vorzeichnet. Den Autoren ist kein Krankheitsbild bekannt bei dem, trotz so wenig Wissens über dieses Krankheitsbild, soviel über die Prognose des Krankheitsbildes diskutiert wird. Aber : Wir sind nicht dazu aufgerufen zwischen prognostisch günstigem und prognostisch ungünstigem Leben zu entscheiden, sondern wir sind aufgerufen, die uns anvertrauten Menschen bestmöglich zu betreuen und ihr Recht auf Leben zu schützen und ihnen eine adäquate Lebensqualität zu ermöglichen.“

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3. Diskussion der besonderen Problematik

sunden bzw. nicht behinderten Menschen als nicht lebenswert. Fragen werden aufgeworfen, die auch im intensiven Kontakt nicht endgültig beantwortet werden können. Begegnungen mit Menschen im Wachkoma sind interpretationsbedürftig. Wünschenswert und notwendig ist bei Einzelfallentscheidungen wie auch in der ethischen Grundsatzdiskussion eine Verständigung darüber, in welchem Sinn der Bewusstseinsbegriff gebraucht wird bzw. gebraucht werden sollte. Dieser Frage wird im Weiteren nachgegangen. 3.1.3 Bewusstsein und Wachkoma – ärztliche Sichtweisen Unter Medizinern gibt es unterschiedliche Einschätzungen, ob und inwiefern Menschen im Wachkoma Bewusstsein haben. Diese Frage wird, wie bereits dargelegt, im Rahmen der Überlegungen zur Fortsetzung oder Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen diskutiert. Auf diese Weise kommt der Feststellung, wie das Bewusstsein eines Menschen im Wachkoma beurteilt wird, eine lebenswichtige Bedeutung zu. Im Folgenden werden exemplarisch vier unterschiedliche Ansätze dargestellt, an die sich jeweils eine eigene Stellungnahme anschließt: Matthis Synofzik/Georg Marckmann9 haben im Deutschen Ärzteblatt, ausgehend vom Aufsehen erregenden Fall der amerikanischen Wachkomapatientin Terri Schiavo10, die Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen befürwortet. Im ersten Sammelband „Wachkoma“ der neuen Schriftenreihe „Recht – Ethik – Gesundheit“11 legen die Ärzte Wilhelm Nacimiento12 und Andreas Zieger13 ihre gegenteiligen Überlegungen dar. In dem schon früh entstandenen Sammelband „Bewußtlos“ problematisiert Klaus Dörner die Begriffe Bewusstsein und Bewusstlosigkeit.14 a) Matthis Synofzik und Georg Marckmann konstatieren im Deutschen Ärzteblatt, ausgehend von dem Fall der amerikanischen Wachkomapatientin Terri Schiavo, dass Patienten mit der Diagnose PVS („persistent vegetative state“15) 9 Synofzik/Marckmann, Persistent vegetative state. 10 Aus der Fülle der Stellungnahmen zum Fall von Terri Schiavo seien exemplarisch zwei Artikel genannt: Reiter, Sterben, 236 – 239; Kreye, Schiavo. 11 Höfling (Hg.), Das sog. Wachkoma. 12 Prof. Dr. med. Wilhelm Nacimiento ist seit 2000 Chefarzt der Neurologischen Klinik am Klinikum Duisburg. Seit 2003 ist er Leiter der Klinik für neurologische Frührehabilitation am Klinikum Duisburg. 13 Privat-Dozent Dr. med. Andreas Zieger ist seit 1997 ärztlicher Leiter der Abteilung für SchwerstSchädel-Hirngeschädigte (Frührehabilitation) am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg. 14 Dörner, Leben, 10 – 15. Der Arzt und Psychiater Prof. Klaus Dörner war von 1980 bis 1996 ärztlicher Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie in Gütersloh. 15 Dieser Begriff ist in der angloamerikanischen Literatur gebräuchlich und bedeutet „anhalten-

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ihre bewusste Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit irreversibel verloren haben. Ihres Erachtens lassen sich aus den verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen keine Anhaltspunkte dafür gewinnen, dass Menschen im Wachkoma über eine bewusste Wahrnehmungsfähigkeit verfügen. Patienten im „persistent vegetative state“ seien „wach, aber ohne Bewusstsein“16 (,awake, but unaware‘). Durch neuere funktionell-bildgebende Studien lasse sich zwar beobachten, dass einzelne isolierte kortikale Areale durch kognitive Stimuli erregt werden könnten, doch würden diese diskonnektiert voneinander arbeiten. Deshalb erscheint es Synofzik und Marckmann als sehr unwahrscheinlich, dass Menschen im Wachkoma selbst basale sensorische Ereignisse bewusst erlebten.17 Nachdem Synofzik und Marckmann den Zustand des „persistent vegetative state“ als Zustand ohne Bewusstsein und ohne bewusste Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit beschrieben haben, werfen sie in einem nächsten Schritt die Frage auf, welchen Nutzen Menschen mit der Diagnose eines „persistent vegetative state“ aus ihrem Leben ziehen: Bei Patienten im PVS könnte man sehr grundlegend fragen, ob ein irreversibel bewusstloser Mensch überhaupt einen Nutzen von der Lebensverlängerung haben kann. Denn mit dem Bewusstsein verlieren die Betroffenen die Möglichkeit, sich in irgendeiner Weise zu ihrem Leben zu verhalten, sei es in positiver oder negativer Weise. Damit entfiele die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt einen Nutzen aus der lebensverlängernden Behandlung ziehen zu können, und damit auch die Verpflichtung, diese Maßnahmen durchzuführen.18

Da es zur Zeit noch Rechtsunsicherheit und keinen gesellschaftlichen Konsens über die Bewertung eines Lebens im „persistent vegetative state“ gibt, plädieren die beiden Autoren dafür, dass sich die Entscheidung über die Fortsetzung lebensverlängernder Maßnahmen nach Möglichkeit an den Präferenzen der Patienten orientieren solle. Der mutmaßliche Patientenwille solle handlungsleitend sein.19 Stellungnahme zu den Darlegungen von Matthis Synofzik und Georg Marckmann 1. Die erste Anmerkung gilt der medizinischen Grundlage der Argumentati-

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der“ bzw. „bleibender vegetativer Zustand“. Nach Nacimiento, Syndrom, 29, sollte der Begriff „persistierend“ vom Begriff „permanent“ i. S. von „irreversibel“ unterschieden werden. Synofzik/Marckmann, Persistent vegetative state, A 2079. Vgl. Synofzik/Marckmann, Persistent vegetative state, A 2079 f. Die Verfasser machen aber darauf aufmerksam: „Trotz erheblicher Fortschritte in der neuronalen Bildgebung wird der direkte Zugang zu den subjektiv wahrgenommenen Bewusstseinsinhalten wohl immer verschlossen bleiben.“ (Ebd., A 2080.) Mit Verweis auf Synofzik/Huber/Wiesing, Philosophieren, 1147 – 1152. Synofzik/Marckmann, Persistent vegetative state, A 2080. Vgl. Synofzik/Marckmann, Persistent vegetative state, A 2081 f.

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on: Kann man nach heutigem Wissensstand Prognosen über die Irreversibilität der Bewusstlosigkeit von Menschen im „persistent vegetative state“ stellen? Nach Synofzik und Marckmann ist es eine wissenschaftlich sehr wahrscheinliche Annahme, dass diese Patienten zu keiner bewussten Wahrnehmung mehr fähig sind.20 Dagegen ist festzuhalten: Wenn etwas wissenschaftlich nur sehr wahrscheinlich, aber eben nicht endgültig bewiesen ist, sollte eine wissenschaftlich fundierte Entscheidung gerade bei Fragen des Lebens und Sterbens die gegensätzliche Argumentation umfassend berücksichtigen. Die Tatsache, dass es noch keinen (ärztlichen oder auch gesellschaftlichen) Konsens in dieser Frage gibt, ist ein deutlicher Hinweis, dass die Frage noch nicht umfassend und endgültig entschieden ist.21 2. Für Synofzik und Marckmann ist das Bewusstsein die Voraussetzung, sich zum eigenen Leben zu verhalten. Was verstehen die Autoren unter dieser Aussage? Verhält sich ein Mensch erst dann zu seinem Leben, wenn er etwas bewusst weiß oder tut bzw. wenn er die Fähigkeit besitzt, sich bewusst zu sich selbst verhalten zu können? Verhält sich nicht vielmehr ein Mensch mit jedem Atemzug, mit jedem Herzschlag zu seinem Leben? 3. Synofzik und Marckmann stellen in Frage, ob Menschen im Wachkoma einen Nutzen aus einer lebensverlängernden Behandlung ziehen können. Sie verlassen damit die medizinisch-beschreibende Ebene, ohne dies näher zu begründen. Sie führen innerhalb einer vermeintlich medizinisch orientierten Diskussion Argumente ein, die aus der Gedankenwelt des Utilitarismus stammen. Die Frage der Nützlichkeit der Lebensverlängerung und damit die Frage der Nützlichkeit (schwerbehinderten) Lebens werden von ihnen en passant gestellt. Damit eröffnen sie eine Werte- bzw. Nützlichkeitsdebatte, die sie jedoch nicht explizit ausführen. Eine angemessene philosophische und ethische Diskussion fehlt in ihrem Aufsatz. Sie würde verdeutlichen, dass die Kategorie der Nützlichkeit nicht adäquat für die Beurteilung menschlichen Lebens ist.22 4. Synofzik und Marckmann sprechen im Zusammenhang mit der Sondenernährung der Wachkoma-Patienten Terri Schiavo i. d. R. von „lebensverlängernden“ Maßnahmen und nur ausnahmsweise von „lebenserhaltenden“ Maßnahmen. Die Entscheidung, welchen der beiden Begriffe man für angemessen hält, hängt von der Beantwortung folgender Fragen ab: – Können Menschen überhaupt das eigene Leben oder das Leben anderer verlängern – oder können sie es vielmehr nur verkürzen? 20 Vgl. Synofzik/Marckmann, Persistent vegetative state, A 2081. 21 Vgl. die Leserbriefe zum Artikel von Synofzik und Marckmann: Gieselmann, Sterbehilfe; Morlock, Sterbehilfe. 22 Instruktiv für die Auseinandersetzung mit utilitaristischen Argumenten im Rahmen der Euthanasie-Debatte sind Müllers Darlegungen im Kapitel „Wert des Lebens und Würde des Sterbens“ in: Müller, Tötung, 61 – 94.

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– Verlängert man ein Leben allein schon dadurch, dass man es nicht beendet?23 5. Synofzik und Marckmann wollen die Entscheidung über die Fortsetzung oder den Abbruch von Behandlungen von den Präferenzen der Patienten abhängig machen. Die Feststellung des mutmaßlichen Patientenwillens aber ist schwieriger als allgemein angenommen. Sie wird beeinflusst durch gesellschaftliche Trends und kann sich abhängig von der jeweiligen Lebenssituation verändern.24 6. Synofzik und Marckmann nehmen Stellung zur Auseinandersetzung um die Situation einer Wachkoma-Patientin, die sie persönlich nicht kennen. Sie nehmen eine Art „Fern-Diagnose“ vor und stützen sich in ihrem Plädoyer auf parteiliche Berichte in den Medien. b) Der Arzt Wilhelm Nacimiento hat seine Position sowohl im Deutschen Ärzteblatt25 als auch im Sammelband „Das sog. Wachkoma“26 dargestellt: Das apallische Syndrom sei von Experten aktuell als „eine Bewusstseinsstörung, bei der die willkürliche Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize aufgehoben und eine bewusste Wahrnehmungsfähigkeit der eigenen Person und der Umwelt nicht möglich ist“27, definiert. Bei dieser Bewusstseinsstörung sei nicht die Wachheit, wohl aber die Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt.28 Dabei fügt Nacimiento einschränkend hinzu: „Die fehlende Wahrnehmungsfähigkeit apallischer Patienten lässt sich wissenschaftlich derzeit auch mit modernen apparativen Zusatzuntersuchungen nicht beweisen, das Gegenteil auch nicht.“29 23 Vgl. Müller, Tötung, 28: „Bedenklich ist aber auch der undifferenzierte Gebrauch des Ausdrucks ,Lebensverkürzung‘. Er wird auf recht verschiedene Formen ärztlichen Tuns bezogen. Hier genügt der Hinweis darauf, daß einer ehrlichen Auseinandersetzung über die Pflichten des Arztes gegenüber unheilbar Kranken und Sterbenden nicht damit gedient ist, daß man unterschiedliche Situationen und Praktiken verbal einander angleicht. Dies tut man aber, wenn man beispielsweise Verzicht auf Behandlung und Tötung gleichermaßen als lebensverkürzend klassifiziert, um dann auch eine gleichermaßen begründete Zulässigkeit – oder Unzulässigkeit – zu folgern.“ (Hervorhebungen im Original.) 24 Vgl. zum Ganzen Kapitel 6.3: Ethische Beratung: Handeln an der Grenze von Leben und Tod. Vgl. auch Monin, Kommunikation, 271 – 280: „Patientenverfügungen begrenzen sich auf den Alltagswillen der Patienten und tragen dem veränderten Bewusstsein und Willen der Patienten im Wachkoma keine Rechnung. Eine neue kollektive Einstellung zu veränderten Bewusstseinszuständen und Menschen im Wachkoma erlaubt eine neue ethische Sensibilität, die nicht nur den uns anvertrauten Patienten eine Existenzberechtigung gibt. Sie kann uns anregen, uns den Rätseln der subjektiven Welten in veränderten Bewusstseinszuständen zu öffnen. Echte Beziehungsmedizin umfasst Lebensäußerungen, die über das Alltagserleben hinausgehen.“ (Ebd., 279.) 25 Nacimiento, Diagnose, A 661 – 666. 26 Nacimiento, Syndrom, 29 – 48. 27 Nacimiento, Syndrom, 29. 28 Vgl. Nacimiento, Syndrom, 31. 29 Nacimiento, Syndrom, 32.

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Nacimiento legt präzise dar, wie das apallische Syndrom („persistent vegetative state“) von dem Erkrankungsbild des „minimally conscious state“30 (des minimalen Bewusstseinszustands) abzugrenzen ist: Menschen, die minimale Bewusstseinsregungen (z. B. Ja-Nein-Antworten durch Gesten oder Worte, willkürliches Verhalten, Befolgen einfacher Aufforderungen, verständliche verbale Mitteilungen) zeigen, befinden sich definitionsgemäß nicht im Status des Wachkomas.31 Diese Differenzierung führt er in seinem Artikel aus dem Jahr 2005 ein, dagegen unterscheidet er im Jahr 1997 noch nicht zwischen diesen Patientengruppen. Durch die Einführung des „minimally conscious state“ wird die Patientengruppe der Menschen, die sich in einem irreversiblen Wachkoma befinden, noch enger eingegrenzt. Für diese Patientengruppe fordert Nacimiento eine kritische Definition des Therapieziels: In solchen Fällen ist ein kuratives Therapieziel nicht erreichbar, deshalb sollten konsequenterweise kurative Therapiemaßnahmen unterbleiben, sofern dies mit dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten vereinbar ist. Das bedeutet konkret, dass man nach ausführlicher Besprechung mit den Angehörigen Therapiebegrenzungen vornehmen und auf intensivmedizinische Maßnahmen wie Reanimation, erneute Beatmung oder Dialyse verzichten wird. Auch die antibiotische Behandlung von Infektionen und die Thromboseprophylaxe mit Heparin erscheinen unter diesen Bedingungen nicht sinnvoll. Hier steht das palliative Therapieziel im Vordergrund […]: menschliche Zuwendung, adäquate Pflege[,] Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr sind dabei elementare Bestandteile.32

Stellungnahme zu den Darlegungen von Wilhelm Nacimiento 1. Die Differenzierung zwischen Patientengruppen, die Nacimiento vornimmt, ist für die medizinische Diagnostik sinnvoll, damit verschiedene Grade der Krankheits- und Behinderungsbilder voneinander abgegrenzt werden können, keine Fehldiagnosen gestellt werden und eine angemessene Behandlung bzw. Therapie möglich ist.33 Problematisch wird Nacimientos Argumentationslinie an dem Punkt, an dem er eine „Therapiebegrenzung“, d. h., eine Nichtfortsetzung lebenserhaltender Maßnahmen, für einen bestimmen Personenkreis fordert, und zwar für Menschen im 30 Nacimiento, Syndrom, 34. 31 Die Definition des „minimally conscious state“ stammt aus dem Jahr 2002 und wurde von Giacino/ Ashwal/Childs/Cranford/Jennet/Katz/Kelly/Rosenberg/Whyte/Zafonte/Zasler, Minimally conscious state, 349–353, entwickelt. 32 Nacimiento, Syndrom, 44. 33 Nacimiento, Syndrom, 41, macht anhand von Beispielen deutlich, dass es aufgrund der Vielfalt der Ursachen problematisch ist, einheitliche Kriterien für die Diagnose und prognostische Bewertung des apallischen Syndroms festzulegen. Er nennt Differenzialdiagnosen, mit denen das apallische Syndrom nicht verwechselt werden sollte, um nicht zu Fehleinschätzungen über die Wahrnehmungsfähigkeit von Menschen mit apallischem Syndrom zu gelangen. (Ebd., 36 f.)

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irreversiblen Wachkoma: Zum einen, weil in Einzelfällen partielle Erholungen nach längeren Zeiträumen beschrieben wurden34, zum anderen, weil die Übergänge (in beide Richtungen) zwischen beiden Patientengruppen fließend sind. Nacimiento begründet seine Überlegungen mit dem Verweis auf das mangelnde Bewusstsein der Patienten. Darüber hinaus stellt er die Frage nach „einer für den Patienten akzeptablen Lebensqualität“35, ohne diesen Begriff zu definieren. Nacimiento verlässt die medizinisch-beschreibende Ebene, ohne den Wechsel der Argumentationsebene näher zu kennzeichnen oder zu begründen. 2. Auch in einem zweiten Punkt bemüht sich Nacimiento um eindeutige Abgrenzung der Gruppe der Wachkomapatienten von anderen Patientengruppen, wenn er feststellt: Bei Kranken, die alle diagnostischen Kriterien des apallischen Syndroms erfüllten, sei es äußerst unwahrscheinlich, dass sie Schmerzen bewusst wahrnehmen könnten, weshalb die Gabe von Schmerzmitteln umstritten sei.36 Mit dieser immer stärker differenzierenden diagnostischen Vorgehensweise (Erfüllung aller diagnostischen Kriterien, Irreversibilität) werden die schwerstbehinderten und am meisten hilfebedürftigen Menschen als diejenigen definiert, bei denen am ehesten auf kurative Maßnahmen verzichtet werden kann.37 So kann man fragen: Verfolgt Nacimiento mit dieser immer präziseren Differenzierung der Patientengruppen noch ein anderes Ziel, nämlich zusätzlich zu einem berechtigten diagnostischen bzw. me-

34 Vgl. Nacimiento, Syndrom, 40: Diese seien mit erheblichen neurologischen oder psychopathologischen Defektzuständen verbunden gewesen. 35 Nacimiento, Syndrom, 43. Mit Müller, Tötung, 75, ist dagegen festzuhalten: „Medizinische Prognosen mögen in manchen Fällen recht sicher sein. Aber Urteile über die zu erwartende Lebensqualität eines Menschen sind nicht rein medizinischer Natur, zumal dessen Einstellung zu seinem Zustand und zu seinen Aussichten die Lebensqualität erheblich mitbestimmt […] Auch sind Selbstzeugnisse von Personen zu bedenken, die ein schweres Leid in der letzten Lebensphase als Weg der Aussöhnung mit anderen oder mit dem eigenen Schicksal erlebt haben.“ 36 Vgl. Nacimiento, Syndrom, 44 f. Der Verfasser plädiert für die Verabreichung schmerzlindernder Medikamente bei elementaren Formen der Schmerzverarbeitung, die sich durch vegetative Reaktionen manifestieren, auch wenn die Schmerzen nicht bewusst wahrgenommen werden könnten. Die Studien des Hirnforschers Steven Laureys weisen auf die Schmerzempfindlichkeit von Patienten im minimalen Bewusstseinszustand hin. Vgl. Boly/Faymonville/Schnakers/Peigneux/ Lambermont/Phillips/Lancellotti/Luxen/Lamy/Moonen/Maquet/Laureys, Perception, 1013 – 1020. Vgl. auch Laureys, Hirntod, 62 – 72; Laureys, Death, 899 – 909. 37 Beispielsweise forderten dagegen die Verfasser des sogenannten Bosbach-Entwurfs in der Begründung ihres Gesetzesentwurfs zur Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsgesetz eine rechtliche Ordnung, die gerade auch „den hilflosesten Mitgliedern der Gesellschaft den Schutz der Rechtsordnung bis zuletzt garantiert.“ [Gesetzentwurf der Abgeordneten Bosbach, Röspel, Göring-Eckardt u. a., Entwurf, 8.]

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dizinischen Interesse das Ziel, den Abbruch medizinischer Behandlungen als eine medizinisch zwangsläufige Entscheidung zu rechtfertigen? 3. Nach Nacimiento gehört zum Phänomen des Bewusstseins die Willkürlichkeit38 der Reaktionen, die bei der Bewusstseinsstörung des apallischen Syndroms aufgehoben sei. Welches Verständnis liegt dieser Beschreibung zugrunde? – Zeigen nicht auch Menschen mit äußerlich erkennbarem Bewusstsein oft „unwillkürliche“ Reaktionen wie beispielsweise Freude, Schmerz, Angst oder Trauer? – Menschen im Wachkoma befinden sich in einer extremen Lebenssituation. Wie ,willkürlich‘ bzw. ,willentlich gesteuert‘ können überhaupt die Reaktionen schwerstkranker oder schwerstbehinderter Menschen sein? 4. Nacimiento fordert, dass ein Konsens darüber bestehen müsse, dass Wachkomapatienten lebende Menschen seien, deren Würde unter allen Umständen zu respektieren sei.39 Muss Nacimiento diesen Konsens nicht erst deshalb einfordern, weil er ihn zuvor in Frage gestellt hat? Wird nicht erst durch Nacimientos Argumentation die Würde der Wachkomapatienten in Frage gestellt, wenn so deutlich gefordert wird, dass eine „Therapiebegrenzung“ stattfinden soll? Denn erst mit der Forderung, über die Einstellung kurativer Behandlungsmaßnahmen nachzudenken, wird doch für die Gruppe der Menschen mit apallischem Syndrom ein anderes Behandlungsziel als für andere Patientengruppen gesetzt. Sie werden als gesonderte Patientengruppe beurteilt, insbesondere dadurch, dass die Frage nach der akzeptablen Lebensqualität aufgeworfen wird. c) Der Neurochirurg Andreas Zieger hat für den Umgang mit Patienten im Wachkoma einen sogenannten beziehungsmedizinischen Ansatz entwickelt, in dem körpernah Kommunikation aufgebaut wird. Der Verfasser beschreibt, dass Menschen im Wachkoma „an Leib und Seele schwerst traumatisiert“40 sind. Das Leben im Wachkoma stelle eine extreme Seinsweise dar. Die Körpersprache von Wachkoma-Patienten sei ,subtil‘. Winzige Zeichen und Regungen, die geäußert werden, seien häufig uneindeutig und träten zusammenhanglos zu äußeren Ereignissen auf.41 Durch einen körpernahen Dialogaufbau ist nach Ziegers Erfahrung gut zu spüren und intuitiv zu erfassen, welche Reaktionen Wachkoma-Patienten zeigen.42 Zieger empfiehlt: 38 39 40 41 42

„Willkürlich“ wird hier i. S. von „willentlich“ verwendet. Vgl. Nacimiento, Syndrom, 46. Zieger, Beziehungsmedizinisches Wissen, 55. Vgl. Zieger, Beziehungsmedizinisches Wissen, 60. Vgl. Zieger, Beziehungsmedizinisches Wissen, 72.

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Es erscheint […] plausibel, wenn nicht gar evident, wenn man auf die ,sichere‘ Seite geht und mit Menschen im Wachkoma prinzipiell so umgeht, als seinen [sic!] sie empfindsam, schmerzempfindlich und zu der basalen (unbewussten) emotionalen Bewertung fähig, zwischen einer menschenfreundlichen und menschenunfreundlichen Atmosphäre zu unterscheiden und den Körpertonus ,körpersemantisch‘ darauf entsprechend ausrichten zu können.43

Andreas Zieger steht in seinen Vorträgen und Aufsätzen profiliert dafür ein, Menschen im Wachkoma das Bewusstsein nicht „abzusprechen“. Er versucht die Beobachtungen, die er im Umgang mit Menschen im Wachkoma macht, durch einen differenzierten Begriff des Bewusstseins zu deuten. Hierbei beruft er sich auf Ausführungen des Neurowissenschaftlers und Psychologen HansJoachim Markowitsch. Nach Markowitsch kann Bewusstsein als ein kontinuierliches Prozessgeschehen definiert werden, das von Wachheit (als Fehlen von Schlaf oder Koma) bis zu komplex-integrativen Attributen von Autonoesis (als dem auf die eigene Person bezogenen Reflektieren, das auch mit emotionalen Bewertungen verbunden ist) reicht.44

Und weiter : Bewusstsein ist folglich an physische Anlagen und psychische, durch die Umwelt gesteuerte Ausformungen gebunden. Patienten im Zustand eines Wachkomas oder intraoperativer Wachheit sind sicher eher auf der Ebene anoetischen Bewusstseins als 43 Zieger, Beziehungsmedizinisches Wissen, 71. Ähnlich Monin, Kommunikation, 276 f: „Lebensäußerungen, die nicht in das gesellschaftliche Schema passen, werden als wertlos und für die Beurteilung innerer Erfahrung unangemessen und bedeutungslos angesehen. Verhaltensweisen, die inkohärent, ziellos, und der Situation unangepasst sind, werden in unserer Beurteilung von Bewusstsein vernachlässigt und übersehen, nur Sprache, Logik, und Alltagsverhalten machen Sinn. Bewusstsein wird damit von der Warte des gesellschaftlich Normalen aus beurteilt, und unverständliches, unangepasstes oder divergierendes Verhalten wird entweder pathologisiert oder einfach übersehen. Tief veränderte Bewusstseinszustände, wie sie im Koma und in persistierenden vegetativen Zuständen manifest sind, werden mit fehlendem Bewusstsein gleichgesetzt. […] Neueste Forschungsergebnisse mit bildgebenden Verfahren, die die Funktionen des Gehirns […] und die elektrischen Aktivitäten des Gehirns auf spezifische Aufgabestellungen [hin …] dokumentieren, zeigen, dass wenigstens einzelne Menschen in vegetativen Zuständen offensichtlich in der Lage sind, Aspekte Ihrer [sic!] Umwelt zu registrieren und zu verarbeiten. Diese Inseln der Wahrnehmung sind nachweisbar, obwohl klinisch keine Anzeichen für Bewusstsein vorhanden sind und die Patienten nicht im Stande sind, ihr Erleben und ihre Fähigkeiten durch ihr Verhalten auszudrücken. […] Unsere klinischen Instrumente, die auf dem Verhalten der Patienten basieren[,] sind veraltet und missrepräsentieren deren inneres Erleben und kognitive Fähigkeiten. Wir müssen neu evaluieren[,] wie wir Bewusstsein definieren und wie wir Menschen mit schwerer Hirnschädigung behandeln. Üblicherweise beurteilen wir Bewusstsein anhand von Verhaltensmerkmalen[,] die von außen beobachtbar sind. Diese beobachtbaren und auf Konsens basierenden Kommunikationssignale sind im Umgang mit Menschen mit schwerer Hirnschädigung oder mit stark veränderten Bewusstseinszuständen wenig hilfreich. Daher müssen wir neue Wege in das Erleben der uns anvertrauten Patienten finden.“ 44 Markowitsch, Bewusstsein, 627; Vgl. Zieger, Beziehungsmedizinisches Wissen, 72 f.

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auf der noetischen oder gar autonoetischen Bewusstseins. Trotzdem kann gerade eine Repräsentation auf dieser Ebene zu stärkeren und länger anhaltenden Störungen und Belastungen führen (bis hin zu Dissoziationen), als wenn die Person rational überlegend und sich selbst zu ihrer Umwelt in Beziehung setzend mit dem Zustand umgehen könnte. So stellen gerade Situationen von Notfall, Trauma und Stress prominente Initiatoren für Bewusstseinsstörungen dar.45

Zieger stellt bezüglich des Themenkomplexes „Bewusstsein“ in einem Vortrag auf der Jahrestagung der „Österreichischen Wachkoma Gesellschaft“46 fest: Weil ,Bewusstsein‘ und ,Persönlichkeit‘ keine biomedizinische[n] (naturwissenschaftlich orientierte[n]) Kategorien sind, sondern psychologisch-transpersonale (geisteswissenschaftlich orientierte), kann Biomedizin keine befriedigende oder gar allein gültige Antwort auf die Frage nach der Persönlichkeit im Wachkoma geben.47

Zwar sei es „eine weit verbreitete biomedizinisch-naturwissenschaftliche Denkweise, geisteswissenschaftliche Begriffe wie ,Bewusstsein‘ oder ,Persönlichkeit‘ so zu behandeln wie ,Krankheit‘ oder ,Funktion“‘, die dann „einem bestimmten Ort im Körper oder Gehirn zugeordnet werden“.48 Demnach säßen Bewusstsein und Persönlichkeit in den Teilen der Großhirnrinde, die nur dem Menschen eigen seien.49 Dagegen geht Zieger davon aus, „dass ,Bewusstsein‘ nicht lokalisierbar ist, sondern nur daran gemessen werden kann, inwieweit es uns gelingt, Beziehungen zu ihm herzustellen.“50 Stellungnahme zu den Darlegungen von Andreas Zieger 1. Andreas Zieger führt einen nicht-medizinischen Bewusstseinsbegriff in seine Ausführungen ein. Hier verlässt er, ähnlich wie Synofzik/Marckmann und Nacimiento, die medizinisch-beschreibende Ebene. Zu fordern ist, dass philosophische Kategorien und Begriffe nicht nur zufällig und eklektisch verwendet werden, je nachdem, welche geisteswissenschaftlichen Überlegungen gerade die eigene Position stützen. Wie kann also sicher gestellt werden, dass philosophische Begriffe im medizinischen Diskurs angemessen und fundiert verwendet werden? 2. Insgesamt ist zu fragen, inwieweit sich ein Arzt wie Zieger im ärztlichen, aber auch gesellschaftlichen Diskurs Gehör verschaffen kann, wenn er die Ebene der medizinisch-naturwissenschaftlichen Argumentation verlässt.51 45 46 47 48 49 50 51

Markowitsch, Bewusstsein, 632. Vgl. http://www.wachkoma.at v. 21. 10. 2010. Zieger, Traumatisiert, 14. Vgl. auch Zieger, Forschungsergebnisse, 1 – 22. Zieger, Traumatisiert, 14. Vgl. Zieger, Traumatisiert, 14. Zieger, Traumatisiert, 14. Zieger bezieht sich in seinem Vortrag auf Bodenheimer, Versuch. Hier sei exemplarisch das Expertenstreitgespräch, das bei Geremek, Wachkoma, 193 – 213, dokumentiert ist, genannt. Das Streitgespräch wurde geführt zwischen dem Rechtsanwalt und

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3. Ziegers Engagement für die Bedürfnisse von Menschen im Wachkoma ist m. E. herausragend. Er ist einer der Ärzte, die frühzeitig die Körpersprache von Menschen im Wachkoma als deren Ausdrucksform gewürdigt und wertgeschätzt haben. Er beschreibt das Leben im Wachkoma als eine „menschenmögliche Seinsform“52. Seine Beobachtungen und Erkenntnisse hat er in zahlreichen Vorträgen öffentlich und profiliert dargestellt.53 Sein persönliches Engagement ist hoch zu schätzen. Eine differenziertere, auch philosophische, Grundlegung seiner Position bleibt ein Desiderat. d) Mit einer ähnlichen Zielsetzung wie Zieger argumentiert auch der Psychiater und Philosoph Klaus Dörner in dem Sammelband „Bewußtlos. Eine Herausforderung für Angehörige, Pflegende und Ärzte“54. Pointiert formuliert Dörner, dass das Bewusstsein mehr sei als die Tätigkeit des Verstandes. Erst in der Neuzeit habe durch die Descartes’sche Wende die Fähigkeit des rationalen Erkennens das Menschenbild einseitig geprägt. In einem kurzen, eher aphoristischen Rekurs auf die Begriffsgeschichte zeigt Dörner, dass das Bewusstsein (consciousness) als Unterbegriff aus dem Gewissen (conscience) entwickelt wurde: Das Bewußtsein, also die Fähigkeit des rationalen Erkennens, des Denkens, hat sich demnach aus dem Gewissen, also der Einheit von Handeln und Denken, herausspezialisiert, aber mit Beginn der Neuzeit, unserer modernen Gesellschaft eindeutig die Führung übernommen. Für diesen ungeheuer bedeutsamen, epochalen Wandel steht das berühmte Wort von Descartes: cogito ergo sum = ich denke, also bin ich. Seither also begründen wir Menschen unser Sein, unsere Existenz, unser Menschsein mit unserem Denkvermögen. […] Erst das Denken macht den Menschen zum Menschen […].55

In „Elf Thesen zum Bewußtsein und zur Bewußtlosigkeit“56 legt Dörner Schlussfolgerungen für den Umgang mit Menschen dar, von denen bisher – „möglicherweise leichtfertig“ – gesagt wurde, sie seien bewußtlos:

52 53 54 55

56

Medizinrechtler Wolfgang Putz, dem Arzt Johann Friedrich Spittler, dem Philosophen Ralf Stoecker und Andreas Zieger. Aus vergleichbaren Beobachtungen ziehen die beteiligten Diskussionspartner diametral entgegengesetzte Schlussfolgerungen. Zum vertiefenden Verständnis der Position Spittlers vgl. Spittler, Gehirn. Geremek, Wachkoma, 193. So Zieger im Expertenstreitgespräch. Vgl. http://www.a-zieger.de v. 29. 9. 2010. Bienstein/Fröhlich (Hg.), Bewußtlos, darin der Aufsatz von Dörner, Leben, 10 – 15. Dörner, Leben, 12. Dörner entwickelt wohl auch aus eigener Kenntnis und Betroffenheit im familiären Umfeld seine Sicht des Wachkomas. Seine Enkeltochter Dorothea geriet durch eine Streptokokkensepsis 14 Tage nach ihrer Geburt in den Zustand des Wachkomas. Sein Lehrbuch ist ihr gewidmet. Vgl. Dörner, Arzt, 79; 123. Dörner, Leben, 13.

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1. Es gibt keine Bewußtlosen. Jedes menschliche Sein ist bewußtes Sein, Sein, das sich auf sich selbst, auf andere und auf die Welt bezieht. Nur die Modalitäten und Formen der Bewußtheit des Seins – für uns erkennbar oder nicht erkennbar – sind je nach der Situation unterschiedlich. Bewußtlos wäre gleichbedeutend mit leblos oder tot. 2. Bewußtes Sein ist die erlebte Seite des gelebten Lebens. Jeder kann nur subjektiv für sich bewußt sein, nur ich selbst kann also etwas über die Bewußtheit meines Seins sagen; beim anderen kann ich nur aufgrund beobachtbarer Äußerungen auf den Zustand seines bewußten Seins schließen, ich kann es aber nicht wissen. […] 3. Wenn ich den Eindruck der Bewußtlosigkeit eines Menschen habe, darf ich nur sagen, daß ich meine Unerreichbarkeit für ihn erlebe. […] 9. Bewußt Sein als ,Ich lebe mich‘ gelingt nur dadurch, daß ich das meiste von mir und der Welt gerade nicht verfügbar habe. Es wäre also fast vernünftiger – dies ist halb scherzhaft gemeint –, von unserer Alltags-Bewußtlosigkeit zu sprechen. […] 10. Bewußt Sein kann kein Kriterium für das Einstellen lebenserhaltender Maßnahmen sein. […] Da mein bewußtes Sein nur mir als Subjekt zugänglich ist, kann es hierfür keine von außen kommende ärztliche Erkenntnis geben; denn: bewußtlos heißt leblos. […] Der nur auf die Verstandesfunktionen eingeengte und damit falsche bisherige Bewußtseinsbegriff kann auch zu einer tödlichen Waffe gemacht werden.57

Stellungnahme zu den Darlegungen von Klaus Dörner 1. Dörner verweist in einem kurzen Exkurs auf die Begriffsgeschichte des Bewusstseins und die sog. Cartesianische Wende. Auch er verlässt, ähnlich wie Synofzik/Marckmann, Nacimiento und Zieger, die medizinisch-beschreibende Ebene. Ein interdisziplinärer Austausch wäre notwendig, damit die Verwendung philosophischer Kategorien nicht nur zufällig und eklektisch geschieht. 2. Dörners Identifizierung der Begriffe „bewusstlos“ und „leblos“ widerspricht landläufigen Definitionen.58 Anhand derartiger Gleichsetzungen will er darlegen, dass kognitive Fähigkeiten nur ein möglicher Ausdruck des Bewusstseins sind, d. h., dass sich das Bewusstsein in der Lebendigkeit eines Menschen zeigt: Zum Leben gehört Bewusstsein, die Abwesenheit von Bewusstsein dagegen gehört zum Tod. 57 Dörner, Leben, 13 ff. 58 Vgl. beispielsweise die unter Abschnitt 3.1.1 gegebene vorläufige Definition. Andere Autoren des Sammelbandes formulieren ähnlich wie Dörner. Beispielhaft sei ein Zitat der Pflegewissenschaftlerin Christel Bienstein wiedergegeben: „Bewußtlosigkeit ist immer ein inkomplettes Geschehen. Komplette Bewußtlosigkeit führt zum Tod.“ Bienstein/Fröhlich, Bewußtlos, 68. Vgl. auch Bienstein, Be-wußt-los, 44 – 50. Franco Rest plädiert für eine ganzheitliche Sicht des Menschen: „Der gehirnlich fixierten Bewußtseins- und Personalitäts-Definition ist eine ganzheitliche entgegenzuhalten, die den Menschen von all seinen Bewußtseinsebenen her versteht und den Tod als Beendigung der (diesseitigen) Wirksamkeit aller ,Bewußtseine‘ bestimmt.“ (Bienstein/Fröhlich, Bewußtlos, 67.) Vgl. dazu Rest, Bewußt-Sein, 58 – 63.

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3. Klaus Dörner argumentiert zum Themenkomplex „Bewusstsein und Bewusstlosigkeit“ prononciert bis provokant. Wünschenswert wäre, dass er seine Thesen präzisiert und fachspezifische Konsequenzen für die medizinische Behandlung von Menschen ohne Bewusstsein umfassend erörtert. Die These (1) „Es gibt keine Bewußtlosen.“ gilt eben nicht auf medizinischer, sondern nur auf populärphilosophischer Ebene.59 e) Zusammenfassend wird festgehalten: Unter den Ärzten, also in der Berufsgruppe, die über Behandlungsabbruch oder Fortsetzung von Behandlungen entscheidet, gibt es gravierende Differenzen hinsichtlich der Bewertung des Lebens von Wachkoma-Patienten wie auch der Frage ihres Bewusstseins. Zu fordern ist, dass sich alle Beteiligten um eine differenzierte Herangehensweise bemühen, die Argumente und Gegenargumente berücksichtigt. Sie sollten nicht ihre eigenen Werthaltungen als unumstößliche, medizinisch bewiesene Tatsachen darstellen. Jede Behauptung von einzelnen Autoren60, dass in diesem Zusammenhang klar entschieden sei, wie das Leben von Menschen im Wachkoma zu bewerten ist, ist irreführend und stellt etwas als Tatsache hin, das andere Fachleute gegenteilig bewerten.61 Das „Handeln auf der Grenze zwischen Leben und Tod“ führt zu diffizilen ethischen Überlegungen und Entscheidungen. In der gesellschaftlichen Diskussion sollte dies angemessen reflektiert werden, da bei diesem grenzüber-

59 Vorbildlich sind in diesem Zusammenhang die Darlegungen von Geremek, Wachkoma. Der Verfasser legt differenziert dar: „Unter dem Bewusstsein versteht man im medizinischen Alltag Wachheit sowie eine (psychologisch) nachvollziehbare Fähigkeit, auf kognitive, emotionale und sensorische Reize adäquat zu reagieren.“ (Ebd., 24.) Anschließend verweist der Verfasser darauf, dass die Fragestellung, was Bewusstsein sei, im Zentrum unterschiedlicher Forschungsgebiete stehe, z. B. in der Medizin, der Neurophysiologie, der Psychologie und der Philosophie. Es sei fraglich, ob das Wesen des Bewusstseins je vollständig erforscht und definiert werden könne. (Vgl. ebd., 26.) 60 Diese Vorgehensweise, als Tatsache darzustellen, was unter Medizinern kein Konsens ist, findet sich nicht nur bei Synofzik und Marckmann, sondern beispielsweise auch bei Strätling/ Schmucker/Bartmann, Ernährung, A 2153 – 2154, A 2153. Die Autoren schreiben: „Tatsächlich ist jedoch mit Blick auf die künstliche Ernährung inzwischen im interdisziplinär-wissenschaftlichen Schrifttum längst klar entschieden worden, dass es sich hierbei keineswegs um eine unverzichtbare ,Basisversorgung‘ handelt, sondern um eine ,Behandlungsmaßnahme‘ […]. Deren Indikation ist jedoch bei bestimmten Patienten(gruppen), zum Beispiel wenn sich diese im weit fortgeschrittenen Stadium von Demenz- oder Tumorerkrankungen oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Zustand eines irreversiblen ,Wachkomas‘ befinden, regelmäßig kritisch zu überprüfen und dann gegebenenfalls zu unterlassen oder zurückzuziehen.“ 61 Der Kenntnisstand zum Thema „Wachkoma“ wird durch neuere Forschungen immer wieder verändert. Die Forschergruppe um Steven Laureys in Lüttich, Belgien, und Adrian Owen, Cambridge, berichtet im Februar 2010, es sei gelungen, mit Patienten im sogenannten vegetativen Zustand in Kontakt zu treten. Vgl. Monti/Vanhaudenhuyse/Coleman/Boly/Picard/Tshibanda/Owen/Laureys, Modulation, 1 – 11.

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schreitenden Handeln nur vermeintlich eine Eindeutigkeit der Beurteilung und Bewertung gegeben ist.62 Die besondere Verantwortung der Ärzte besteht in der Letztverantwortung für die medizinische Versorgung der schwerstbehinderten apallischen Menschen. Auf ihren medizinischen Erkenntnissen beruhen juristische Überlegungen. Diese werden im Folgenden exemplarisch dargestellt.

3.1.4 Bewusstsein und Wachkoma – juristische Aspekte Erst in Berlin, dann in Gera und vor kurzem in Magdeburg. Drei Menschen wurden auf Beschluss der Gerichtsbarkeit vom Leben auf den langen Weg zum Tod geschickt. Den langen Weg des Verhungerns und Verdurstens. Jeweils ein Leben wurde ausgelöscht, weil der ,mutmaßliche‘ Wunsch des zum Tode Verurteilten […] die Entscheidung maßgeblich beeinflusste.63

So urteilt in der Zeitschrift „not“ der betroffene Angehörige Lothar Ludwig über aktuelle juristische Entscheidungen, die zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bei Menschen im Wachkoma führten. Der Jurist Wolfram Höfling fragt wohl zu Recht in seinem Aufsatz „Wachkoma – eine Problemskizze aus verfassungsrechtlicher Perspektive“64 aus dem Jahr 2005, ob das Wachkoma als ein „,Modellproblem‘“65 zu betrachten sei, anhand dessen grundlegende verfassungsrechtliche Fragen wie Menschenwürde, Lebensschutz und Selbstbestimmung geklärt werden könnten.66 Er urteilt, in der vormundschaftlichen Judikatur gäbe es deutliche Relativierungstendenzen, die dazu führen, dass apallische Menschen nicht 62 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung zur Lebensqualität einer anderen Gruppe schwerstkranker und schwerstbehinderter Menschen, deren Ergebnisse verbreitete Vorurteile korrigieren. Vgl. Lul/Häcker/Ludolph/Birbaumer/Kübler, Depression, 397 – 403. Die Ergebnisse dieser Studie zum Zusammenhang von physischen Einschränkungen aufgrund von amyotropher Lateralsklerose (ALS) und Depression bzw. Lebensqualität ergaben keinen Zusammenhang. „Die Lebensqualität der ALS-Patienten unterschied sich nicht wesentlich von gesunden Kontrollpersonen; Depressionen waren vergleichweise selten.“ (Ebd., 397.) Die Autoren stellen zusammenfassend fest, dass die Ergebnisse der Studie „dem weit verbreiteten Urteil des besonderen Leidens von schwer körperlich beeinträchtigten Patienten [widersprechen]. Der Entscheidung gegen lebensverlängernde Maßnahmen liegen die Angst vor Autonomie- und Kontrollverlust zugrunde sowie die Sorge, dass fehlende Mobilität und erschwerte Kommunikation zu sozialer Isolation führen könnten.“ (Ebd., 402.) Vgl. zu dieser Untersuchung folgende kurze Stellungnahmen im Deutschen Ärzteblatt: Förstl, Lebenswille; Meyer, Depression; Bickhardt, Depression; Ludolph, Depression. 63 Ludwig, Leben, 18. 64 Höfling, Problemskizze, 1 – 10. 65 Höfling, Problemskizze, 1. 66 Vgl. Höfling, Problemskizze, 4.

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mehr unter dem Schutz des zweiten Artikels des Grundgesetzes67 stehen. Dies ist s. E. aus verfassungsrechtlicher Perspektive hochproblematisch.68 Im September 2009 trat das vom Deutschen Bundestag beschlossene „Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts“ in Kraft, mit dem nach einer Zeit der Ungewissheit Klarheit über die rechtliche Verbindlichkeit von Patientenverfügungen hergestellt wurde: Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Be67 Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG): „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.) 68 Vgl. Höfling, Problemskizze, 5. Beispielhaft verweist er auf die Argumentation eines Beschlusses des Amtgerichts Oberhausen aus dem Jahre 1999: „Die allgemeinen Wertvorstellungen gehen dahin, dass niemand kommunikationsunfähig, bewusstlos, bewegungsunfähig, mit Kontrakturen an Armen und Beinen, Schluckunfähigkeit und der Notwendigkeit künstlicher Ernährung, Inkontinenz und Aussichtslosigkeit der Besserung des derzeitigen Zustandes […] leben will. Es besteht objektiv kein Wunsch an künstlicher Aufrechterhaltung eines nur vegetativen Zustandes. Ein Lebensinteresse ist nicht mehr vorhanden. Es wird kein Leben mehr aufrecht erhalten, sondern der Verelendungsprozess wird durch technische Möglichkeiten hinausgezögert. Es wird nicht das Leben verlängert, sondern das Siechtum.“ (Amtsgericht Oberhausen, Beschluss vom 27. Januar 1999, Az. 10 XVII 749/92, zitiert nach Höfling, Problemskizze, 6.) Vgl. Schäfer, Entscheidungsdeterminanten, 11 – 27. Schäfer referiert eine Studie (standardisierte postalische Befragung) von 1514 Vormundschaftsrichterinnen und -richtern, an der 54 % der angeschriebenen Personen (N = 819) teilnahmen, die über den Abbruch der Beatmung bei fiktiven Fallgestaltungen zum Wachkoma urteilen sollten. Der Ausgangsfall war der Fall einer 82jährigen Patientin, die sich seit drei Jahren im Zustand des Wachkomas befindet. Aufgrund einer schweren Lungenentzündung wird sie beatmet; die Ärzte gehen davon aus, dass sie diese Erkrankung überleben wird. Ein von der Patientin bestellter Bevollmächtigter verlangt den Abbruch der künstlichen Beatmung. Dieser fiktive Ausgangsfall wurde mit verschiedenen Variationen den Vormundschaftsrichtern zur Beurteilung vorgelegt. Zwei Beobachtungen seien hier wiedergegeben: 1. Die Urteile der Richter hingen mit bestimmten Persönlichkeitsvariablen (Alter, Familienstand, Kinder, konfessionelle Gebundenheit, vorhandene eigene Patientenverfügung) zusammen. 2. Den stärksten Einfluss auf die Frage der Genehmigung eines Behandlungsabbruchs hatte die Meinung der Vormundschaftsrichter über die Situation von Menschen im Wachkoma. Diejenigen, die der Meinung waren, dass Wachkomapatienten hirntot sind, genehmigten in der Regel eher einen Behandlungsabbruch. A. Schäfer folgert in ihrer Schlussbemerkung, dass zwei Faktoren für den Ausgang eines vormundschaftsgerichtlichen Verfahrens entscheidend seien, nämlich zum einen das medizinische Wissen der Richter über das so genannte Wachkoma und zum anderen die Frage, ob der Patient mittels einer Vorsorgevollmacht vorgesorgt habe. Ihres Erachtens zeigt sich, dass das medizinische Wissen über das Wachkoma für die juristische Entscheidung von großer Bedeutung ist. Zu den weiteren Ergebnissen der Untersuchung siehe a. a. O.

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handlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen.69

Dies gilt „unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.“70 Menschen können durch eine Patientenverfügung im Voraus bestimmen, wie mit ihnen im Fall der Nichteinwilligungsfähigkeit verfahren werden soll. Die Orientierung am Patientenwillen steht im Mittelpunkt der Überlegungen.71 Die Gesetzeslage ist insofern positiv zu werten, als das Gesetz unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung gilt. Es ist allgemeingültig, da keine besondere Personen- bzw. Patientengruppe herausgehoben wird. Dagegen benennt die Broschüre des Bundesjustizministeriums zur Patientenverfügung, die Textbausteine für eine schriftliche Patientenverfügung enthält, exemplarische Situationen, für die eine Patientenverfügung gelten kann. Dazu gehören u. a. Gehirnschädigungen72 und weit fortgeschrittene Hirnabbauprozesse73. Der Zustand des Wachkomas und Demenzerkrankungen werden beispielhaft genannt. Durch die explizite Nennung besteht m. E. die Gefahr, dass eine Sonderbehandlung der beiden Patienten- bzw. Personengruppen ermöglicht wird, die für andere Patientengruppen nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen würde: Lebenserhaltende Maßnahmen können hier nämlich bei Menschen, deren Krankheitsprognose weder infaust ist noch deren Sterbeprozess irreversibel begonnen hat, unterlassen werden. Die Ausnahmestellung von Wachkoma-Patienten74 soll im Folgenden in einem Exkurs anhand der vieldiskutierten Frage der Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen kritisch erörtert werden.

69 § 1901 a Absatz 1 Satz 1, 2 BGB. 70 § 1901 a Absatz 3 BGB. 71 Die Orientierung am verfügten Willen der Patienten wird durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Juni 2010, das der 2. Strafsenat gefällt hat, bekräftigt. Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09. Dort heißt es: „1. Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht (§ 1901 a BGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen. 2. Ein Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden. 3. Gezielte Eingriffe in das Leben eines Menschen, die nicht in einem Zusammenhang mit dem Abbruch einer medizinischen Behandlung stehen, sind einer Rechtfertigung durch Einwilligung nicht zugänglich.“ (Ebd., 1.) 72 Vgl. Bundesministerium der Justiz (Hg.), Patientenverfügung, 18, Anmerkung 6. 73 Vgl. Bundesministerium der Justiz (Hg.), Patientenverfügung 18, Anmerkung 7. Weitere als exemplarisch benannte Situationen sind der unmittelbare Sterbeprozess und das „Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit“, selbst wenn der Todeszeitpunkt nicht absehbar ist. (Ebd., 17.) 74 Ähnliches gilt für Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenzerkrankung.

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Exkurs 1: Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen Das „Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts“ vom 1. September 2009 wurde durch verschiedene Arbeitsgruppen vorbereitet. Im Mittelpunkt der Diskussion stand u. a. die Frage, ob die Reichweite von Patientenverfügung begrenzt werden sollte. Exemplarisch sollen dargestellt und diskutiert werden: – der Schlussbericht der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“75. Diese wurde durch die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im September 2003 eingesetzt und von dem Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof a. D. Klaus Kutzer geleitet; – der Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin. Patientenverfügungen“76 des Deutschen Bundestages, die unter dem Vorsitz der Richterin a. D. Margot von Renesse tagte. Weitere Arbeitsgruppenergebnisse oder Gesetzesentwürfe werden im Folgenden nicht berücksichtigt, da diese m. E. für die hier interessierende Problematik keine darüber hinausgehenden Überlegungen bieten.77 a) Deutliche Relativierungstendenzen bezüglich des Lebensschutzes von Menschen im Wachkoma finden sich im Schlussbericht der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“. Die Arbeitsgruppe wendet sich gegen eine sogenannte Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen auf unheilbare, tödlich verlaufende Erkrankungen. Deshalb gibt sie in den Textbausteinen zu Patientenverfügungen exemplarisch Konstellationen vor für Krankheiten, die zwar nicht irreversibel final verlaufen werden, für die eine Patientenverfügung aber auch gelten solle. Eine solche Verfügung solle beispielsweise gelten dürfen, wenn in Folge einer Gehirnschädigung meine Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, nach Einschätzung zweier erfahrener Ärztinnen oder Ärzte (können namentlich benannt werden) aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen ist, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist. Dies gilt für direkte Gehirnschädigung z. B. durch Unfall, Schlaganfall oder Entzündung ebenso wie für indirekte Gehirn75 Bundesministerium der Justiz, Patientenautonomie. 76 Deutscher Bundestag, Zwischenbericht der Enquete-Kommission. Vgl. auch Deutscher Bundestag, Schlussbericht der Enquete-Kommission, 196 – 200. 77 Zur Entscheidung standen folgende Gesetzesentwürfe: Gesetzentwurf der Abgeordneten Stünker, Kauch, Jochimsen u. a., Entwurf (Drucksache 16/ 8442 v. 6.3.2008); Gesetzentwurf der Abgeordneten Bosbach, Röspel, Göring-Eckardt u. a., Entwurf (Drucksache 16/11360 v. 16. 12. 2008); Gesetzentwurf der Abgeordneten Zöller, Faust, Däubler-Gmelin u. a., Entwurf (Drucksache 16/11493 v. 18. 12. 2008).

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schädigung z. B. nach Wiederbelebung, Schock oder Lungenversagen. Es ist mir bewusst, dass in solchen Situationen die Fähigkeit zu Empfindungen erhalten sein kann und dass ein Aufwachen aus diesem Zustand nicht ganz sicher auszuschließen, aber unwahrscheinlich ist.78

Eine solche Verfügung soll beispielsweise auch gelten können, wenn ein Mensch „in Folge eines „weit fortgeschrittenen Hirnabbauprozesses (z. B. bei Demenzerkrankung) auch mit ausdauernder Hilfestellung nicht mehr in der Lage [ist], Nahrung und Flüssigkeit auf natürliche Weise zu [sich] zu nehmen“79. Zur Situation des Wachkomas wird genauer definiert: Diese Patientinnen oder Patienten sind unfähig zu bewusstem Denken, zu gezielten Bewegungen oder zu[r] Kontaktaufnahme mit anderen Menschen, während lebenswichtige Körperfunktionen wie Atmung, Darm- oder Nierentätigkeit erhalten sind, wie auch möglicherweise die Fähigkeit zu Empfindungen. […] In seltenen Fällen können sich auch bei Wachkomapatienten nach mehreren Jahren noch günstige Entwicklungen einstellen, die ein weitgehend eigenständiges Leben erlauben. Eine sichere Voraussage, ob die betroffene Person zu diesen wenigen gehören wird oder zur Mehrzahl derer, die ihr Leben lang als Pflegefall betreut werden müssen, ist bislang nicht möglich.80

Stellungnahme zu den Darlegungen der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ 1. In der Regel gilt, dass eine kurativ-medizinische Behandlung erst dann beendet werden sollte, wenn entweder eine Prognose infaust ist und eine Behandlung aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben wird oder wenn ein Sterbeprozess irreversibel eingesetzt hat. Dagegen eröffnet der Entwurf dieser Arbeitsgruppe die Möglichkeit der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bei Menschen im Wachkoma, obwohl diese keine sterbenden Menschen sind. 2. Begründet wird dies mit dem Hinweis, dass Patienten im Wachkoma unfähig zu bewusstem Denken seien und dass ihre Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, verloren gegangen sei. Die Möglichkeit, dass die Empfindungsfähigkeit im Wachkoma erhalten bleibt, wird in Betracht gezogen. Die Höherwertung der intellektuellen Fähigkeiten gegenüber den affektiven Empfindungen eines Menschen entspringt einem einseitig orientierten Menschenbild. Eine Begründung fehlt, warum kognitive Fähigkeiten höher als affektive Fähigkeiten gewertet werden. 78 Bundesministerium der Justiz, Patientenautonomie, 26. 79 Bundesministerium der Justiz, Patientenautonomie, 27. Beide Textbausteine wurden wörtlich in die Broschüre des Bundesministeriums der Justiz, Patientenverfügung, 17 f., aufgenommen. 80 Bundesministerium der Justiz, Patientenautonomie, 26, Anmerkung 18. Auch diese Beschreibung wurde wörtlich in die Broschüre des Bundesministeriums der Justiz, Patientenverfügung, 38, Fußnote 6, aufgenommen.

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3. Der Entwurf erwähnt die Möglichkeit, dass ein Aufwachen aus diesem Zustand nicht ganz auszuschließen sei. Die Rede von einem „Aufwachen“ ist irreführend, weil Menschen im Wachkoma per definitionem über einen erhaltenen „Schlaf-Wach-Rhythmus“ verfügen, d. h., stundenweise wach sind. 4. Menschen sollen in einer Patientenverfügung im Voraus bestimmen können, dass sie nicht im Zustand des Wachkomas leben wollen. Wenn aber doch die Überzeugung gilt, dass Apalliker lebende Menschen sind, dann geht es in der Frage der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen um die Frage, ob lebendigen Menschen die Basisversorgung (Ernährung, medizinische Behandlung) vorenthalten werden darf. Einzelne Menschen mit schwersten, angeborenen geistigen Behinderungen oder schwersten frühkindlichen Hirnschädigungen ähneln in ihrer Lebenssituation und ihren Äußerungsmöglichkeiten Menschen mit apallischem Syndrom. Besteht nicht die Gefahr, dass lebenserhaltende Maßnahmen auch bei diesen Menschen eingestellt werden? Sollte nicht grundsätzlich ein qualitatives Differenzierungsverbot anerkannt werden, das verbietet, in diesen Fragen zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen zu unterscheiden?81 5. Es ist m. E. sehr fraglich, ob Menschen sich auch nur annähernd die Situation vorstellen können, wie es wäre, wenn sie in den Zustand des Wachkomas kämen.82 Der folgende Hinweis von Höfling verdient Berücksichtigung: „Wie lässt sich in einer solchen überaus komplexen und existentiellen Lebensproblematik [wie dem Zustand des Wachkomas, die Vf.] ein valider Wille überhaupt bilden und artikulieren?“83 Wenn dies schon in der akuten Situation kaum möglich ist, um wie viel komplizierter mag es sein, den potentiellen eigenen Willen für eine solche Lebenssituation in angemessener Weise zu antizipieren? Sollte nicht deshalb – bis zum Erweis des Gegenteils – vorausgesetzt werden, dass jeder Mensch die Fortdauer seines Lebens wünscht?84 81 Vgl. Höfling, Problemskizze, 6. Vgl. Deutscher Bundestag, Zwischenbericht der EnqueteKommission, 13, der auf die Möglichkeit hinweist, dass Patientenverfügungen „Türöffner zur aktiven Sterbehilfe“ werden könnten. 82 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 6.3 dieser Arbeit. Vgl. auch die Ausführungen von Dörner, der auf folgenden Zusammenhang aufmerksam macht: „Da z. B. die öffentliche Meinung das Selbstbestimmungsrecht des Patienten um so mehr einfordert, je mehr ein Mensch pflegebedürftig [ist] und je näher er ans Sterben kommt, könnte er auch mit dem dann von ihm vertretenen Selbstbestimmungsrecht in Wirklichkeit zunehmend einer allgemeinen Erwartung der öffentlichen Meinung entsprechen, wonach es anständig sei, daß ein pflegebedürftiger Mensch nicht seine Kinder und sonstigen Angehörigen belastet oder ein sterbender Mensch sich lieber von seinem Arzt den Tod geben lassen sollte. Denn jede Norm, so kostbar sie – wie das Selbstbestimmungsrecht – auch sein mag, kann durch ihre Verabsolutierung und ihre Herauslösung aus dem Gleichgewicht mit anderen Normen auch mörderisch werden.“ (Dörner, Arzt, 82.) 83 Höfling, Problemskizze, 8. 84 Vgl. den Hinweis der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des

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3. Diskussion der besonderen Problematik

b) Die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages unter dem Vorsitz der Richterin a. D. Margot von Renesse plädiert für eine Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen. Sie hat dem Deutschen Bundestag empfohlen, im Rahmen einer gesetzlichen Regelung die Gültigkeit von Patientenverfügungen, die einen Behandlungsabbruch oder –verzicht vorsehen, der zum Tod führen würde, auf Fallkonstellationen zu beschränken, in denen das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tod führen wird. Maßnahmen der Basisversorgung können durch Patientenverfügungen nicht ausgeschlossen werden.85

Zur Begründung der Empfehlung wird im Weiteren ausgeführt: Menschen im Wachkoma sind weder Sterbende noch Hirntote, sondern chronisch schwerstkranke und schwerstpflegebedürftige Menschen, die auf die Fürsorge und Förderung durch ihre Umwelt angewiesen sind. Die Sicherheit von Prognosen über die Rückbildungs- und Rehabilitationschancen in diesem Bereich muss aufgrund neuerer Befunde der neurologischen und neuropsychologischen Forschung neu bewertet werden. Insbesondere Aussagen, nach denen die Rückbildung der Krankheitssymptome (Remission) nur innerhalb von Wochen oder längstens einem Jahr möglich ist, werden zwar immer wieder verbreitet, sind aber aufgrund der vorliegenden Befunde nicht haltbar. Klinische Beobachtungen und Studien zur sensorischen Stimulation, musiktherapeutischen Behandlung und zum körpernahen Dialogaufbau lassen den Schluss zu, dass frühe Therapieverfahren wirksam sind und sich in der Mehrzahl der Fälle mindestens ein Zustand mit gelingender Ja-NeinKommunikation erreichen lässt. […] Insgesamt kündigt sich auf der Grundlage der neurologischen und neuropsychologischen Forschungsbefunde und den Erfolgen der beziehungsmedizinischen Versorgung ein Paradigmenwechsel in der Sichtweise und dem Verständnis von Patienten im Wachkoma an, der eine differenzierte und lebensbejahende Umgangsweise mit dieser Patientengruppe gebietet.86

Stellungnahme zu den Darlegungen der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ 1. Die Enquete-Kommission tritt für eine Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen ein. Die Feststellung, dass Menschen im Wachkoma erstens lebende Menschen seien und zweitens ihr Grundleiden nicht irreversibel sei, führt – neben der Berücksichtigung neuerer medizinischer Deutschen Bundestages, die darauf verweist, „dass die Wünsche in Bezug auf das eigene Sterben nicht nur Ergebnis eines isolierten individuellen Entscheidungsprozesses sind, sondern durchaus durch gesellschaftliche und mediale Trends beeinflusst werden. Auch können sich die in Patientenverfügungen festgehaltenen Vorstellungen über das eigene Sterben in Extremsituationen ändern.“ [Deutscher Bundestag, Zwischenbericht der Enquete-Kommission, 38.] 85 Deutscher Bundestag, Zwischenbericht der Enquete-Kommission, 38. 86 Deutscher Bundestag, Zwischenbericht der Enquete-Kommission, 38 f.

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Erkenntnisse – zu der Feststellung, dass Maßnahmen der Basisversorgung nicht ausgeschlossen werden sollten. 2. Das Konstrukt des Bewusstseins spielt in den Ausführungen der EnqueteKommission keine zentrale Rolle. 3. Menschen im Wachkoma gelten als chronisch schwerstkranke und schwerstpflegebedürftige Menschen. Eine rechtliche Sonderstellung wird ihnen nicht zugewiesen. 4. Dem Selbstbestimmungsrecht von Patienten wird in diesem Entwurf keine zentrale Rolle eingeräumt. Dies kann von Gegnern des Entwurfs als unberechtigter Eingriff in die menschliche Autonomie angesehen werden. Die Vorstellung, in den Zustand des Wachkomas zu geraten, löst – berechtigterweise – Ängste aus: „Wie würde es sein, wenn man nicht mehr über sich selbst verfügen kann? Würde man es sich dann nicht wünschen, so nicht mehr zu leben?“ Zusammenfassend wird festgehalten: Das jeweilige medizinische und neuropsychologische Wissen ist für das juristische Urteil von großer Bedeutung. Auch die Erfahrungen, die Juristen selbst im Umgang mit schwerstbehinderten oder schwersthirngeschädigten Menschen machen, beeinflussen ihre Entscheidungen. Die Frage, ob und welche Bedeutung das Bewusstsein für die Entscheidung über lebenserhaltende Maßnahmen bei Menschen im Wachkoma besitzt, ist umstritten. Der Verweis auf ein fehlendes Bewusstsein bringt nur eine scheinbare Sicherheit im Urteil, lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden. Im Zusammenhang der Gesetzgebung zur Patientenverfügung spielen Begriffe wie die „Patientenautonomie“ und der „Patientenwille“ eine Rolle, die noch gesondert zu bedenken wären, was aber an dieser Stelle nicht geschehen soll.87 Das Wachkoma kann als juristisches „Modellproblem“ verstanden werden, solange Entscheidungen über medizinische Behandlungen von WachkomaPatienten einer wissenschaftlich allgemein anerkannten, eindeutigen Grundlage entbehren. Da in der ärztlichen und juristischen Auseinandersetzung, wie dargestellt, nur mit einem unvollständig geklärten Begriff des Bewusstseins operiert wird, werden im nächsten Schritt einige Ansätze der neueren philosophischen Auseinandersetzung über das Bewusstsein aufgegriffen und diskutiert.

3.1.5 Bewusstsein und Wachkoma – philosophische Annäherungen Mit der Frage, was Bewusstsein ist, setzen sich viele Philosophen auseinander. Der Aspekt des Erlebens, d. h., der subjektive Erlebnisgehalt, stellt einen 87 Exemplarisch wird dies in Kapitel 6.3 geschehen.

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zentralen Teil des „Bewusstseinsrätsels“ dar.88 Für Thomas Metzinger, Professor für theoretische Philosophie an der Universität Mainz, beispielsweise bildet das Problem des Bewusstseins die „äußerste Grenze des menschlichen Strebens nach Erkenntnis“89 ab: Es erscheine vielen „als das letzte große Rätsel überhaupt und als die größte theoretische Herausforderung der Gegenwart.“90 Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel wählt in seinem viel beachteten Aufsatz „What is it like to be a bat?“ aus dem Jahr 1974 sogar den Ausflug in die Welt der Fledermäuse, um dem Rätsel des Bewusstseins auf die Spur zu kommen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass man, selbst wenn man alles über Fledermäuse wüsste, eben nicht wüsste, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Er konstatiert: Die wichtigste und charakteristischste Eigenschaft bewußter mentaler Phänomene ist noch sehr wenig verstanden. Die meisten reduktionistischen Theorien versuchen sie nicht einmal zu erklären. Eine behutsame und gründliche Untersuchung wird zeigen, daß keine derzeit verfügbare Konzeption von Reduktion auf sie andwendbar [sic!] ist. Vielleicht kann zu diesem Zweck eine neue Form von Theorie entwickelt werden; eine solche Lösung liegt aber, falls es sie geben sollte, in ferner theoretischer Zukunft.91

Aus der Fülle der Literatur92 werden zwei Aufsätze von Bieri und Beckermann ausgewählt und dargestellt, die in dieses Problem einführen. So geht der Schweizer Philosoph Peter Bieri der Frage nach: „Was macht das Bewußtsein zu einem Rätsel?“93 Der deutsche Philosoph Ansgar Beckermann sucht zu klären: „Was macht Bewußtsein für Philosophen zum Problem?“94 Ziel ist es, eine differenziertere Sicht auf das Problem des Bewusstseins zu gewinnen. Wenn deutlich ist, wie komplex und ungeklärt das Phänomen des Bewusstseins ist, wird auch deutlich, dass man sinnvollerweise keine Konsequenzen von einem möglichen Vorhandensein des Bewusstseins auf die Entscheidung über lebenserhaltende Maßnahmen ziehen sollte. Dies wird unter Punkt c) dieses Abschnitts erörtert. 88 Dies ist das sogenannte „Qualia-Problem“ bzw. das Problem des phänomenalen Bewusstseins. Vgl. dazu beispielsweise T. Fuchs, Gehirn, 53 – 65. Fuchs bietet in seinem Buch einen umfassenden Überblick über die gegenwärtigen Fortschritte der Hirnforschung. Sein Ziel ist es, „den unmittelbaren ,Kurzschluss‘ von Gehirn und Geist zu überwinden“. (Ebd., 9.) Er wendet sich gegen „einseitig reduktionistische Deutungen des Gehirns“. (Ebd., 9.) 89 Metzinger, Einleitung, 15. Neben dem Problem des Bewusstseins bildet die Frage nach der Entstehung des Universums die Grenze des menschlichen Erkennens. 90 Metzinger, Einleitung, 15. 91 Nagel, 261. Vgl. Nagel, Bat, 435 – 450. 92 Vgl. K. Müller, Bewusstsein, 58 – 60. Klaus Müller spricht davon, dass das „Bewusstsein“ seit den 80er Jahren ein „inflationäres Modethema“ geworden sei. (Ebd., 59.) 93 Bieri, Bewusstsein, 48 – 56. 94 Beckermann, Bewußtsein, 1 – 19. Zur Erforschung des Phänomens des Bewusstseins setzen sich die Autoren auch mit neueren Erkenntnissen der Hirnphysiologie auseinander. Vgl. beispielsweise Beckermann, Phänomene, 413 – 425.

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a) Der Philosoph Peter Bieri zeigt in seinem oben genannten Aufsatz, worin das Rätsel des Bewusstseins besteht und welche Rolle das Bewusstsein für das Denken über die Welt und über den Menschen selbst spielt. Er verweist auf die Uneindeutigkeit des Begriffs: „Das Wort ,Bewußtsein‘, für das es in vielen Sprachen kein Äquivalent gibt, bezeichnet kein einheitliches Phänomen. Es ist vieldeutig und sein Gebrauch plastisch; man muß den Kontext kennen, um zu wissen, was gemeint ist.“95 Ausgangs- und Schlusspunkt seiner Darlegungen ist die schon 1872 von Bois-Reymond formulierte These, dass das Bewusstsein aufgrund der ,kognitiven Begrenzung‘ des Menschen für immer unbegreiflich bleiben werde: Der Mensch werde auch in Zukunft nicht beschreiben können, welches Phänomen dazu führe, dass er nicht nur funktioniere, sondern dass er etwas erlebe. Diese These Bois-Reymonds sei bisher noch nicht widerlegt worden.96 Bieri unterscheidet verschiedene Arten des Bewusstseins: – „Bewußtsein im Sinne der Fähigkeit zu integriertem Verhalten“97 („bei Bewußtsein“ sein), – „Bewußtsein im kognitiven Sinne“98 (ein Bewußtsein haben), – „Bewußtsein im Sinne von Erleben“99. Das Bewusstsein im Sinne von Erleben, nicht Bewusstsein als integriertes Verhalten oder Kognition, stelle die Wissenschaft vor ein Rätsel, denn: „Alle solchen Zustände sind in uns nicht nur vorhanden, sondern wir erleben sie auch: Es fühlt sich auf eine bestimmte Weise an, in ihnen zu sein.“100 Diese Erlebnisse haben besondere Charakteristika: Einmal gibt es sie nur, solange sie bewußt sind im Sinne des Erlebtwerdens. Es bleiben kein Schmerz und keine Angst übrig, wenn die Empfindungen von Schmerz und Angst verschwunden sind. Zweitens sind Erlebnisse genau so, wie sie erscheinen: Wenn ein Zustand als Freude oder Trauer erlebt wird, dann ist er Freude oder Trauer. Und schließlich ist das Erlebtwerden eines solchen Zustands etwas anderes als sein Gedacht-, Geglaubt- oder Beurteiltwerden. Wenn ich einen Zustand als Lust empfinde, so ist das etwas anderes, als wenn ich ihn für Lust halte. Bewußtsein im Sinne von Erleben ist ausschlaggebend dafür, daß ich mich als Subjekt meines Tuns erfahre. […] Damit ein Stück meines Verhaltens eine Handlung im vollen Sinn des Wortes ist, muß ich es erfahren als von mir vollzogen.101

Bieri, Rätsel, 48. Vgl. Bieri, Rätsel, 48; 55 f; Du Bois-Reymond, Grenzen. Bieri, Rätsel, 48. Bieri, Rätsel, 49. Bieri, Rätsel, 49. Bieri, Rätsel, 49: Bieri verweist auf den amerikanischen Philosophen Thomas Nagel, der versucht habe, dieses Phänomen durch seine berühmt gewordene Frage „What is it like to be a bat?“ einzufangen. 101 Bieri, Rätsel, 49 f. 95 96 97 98 99 100

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3. Diskussion der besonderen Problematik

Bieri betont, dass mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht zu erklären ist, warum der Mensch etwas erlebe und sich darin als Subjekt erfahre. Das Erleben als solches sei nicht denknotwendig für den Ablauf hirnphysiologischer Prozesse. Es bestünde nämlich die Möglichkeit, dass diese Prozesse auch abliefen, wenn der Mensch dabei nichts erleben und erfahren würde. Das Unerklärbare bestehe in dem nicht aufhebbaren Zusammenhang physiologischer Prozesse und menschlichen Erlebens: Weil physiologische Prozesse abliefen, erlebe der Mensch etwas.102 Bieri nähert sich in einem weiteren Schritt durch die Verwendung eines Gedankenexperiments Leibnizens103 dem Phänomen des „Bewusstseins“: Man solle sich vorstellen, man würde durch ein Gehirn wie durch eine Fabrik gehen können. Alles könne der „Fabrikbesucher“ beobachten, d. h., er könne alle physiologischen und physikalischen Prozesse sehen. Doch am Ende dieser Fabrikbesichtigung verstünde er immer noch nicht, wie und warum das Erleben und das Bewusstsein des Menschen zustande kämen, d. h., wie aus rein objektiven Determinanten etwas Subjektives entstehen könne bzw. wie sich aus biologischen Eigenschaften Erlebnisqualitäten herleiten ließen. Nach heutigem Kenntnisstand ist laut Bieri das Bewusstsein im Sinne des Erlebens nicht erklärbar. Denn eine „Gehirn-Fabrik“ sei auch vorstellbar, wenn darin alles mit dem Menschen, wie wir ihn heute kennen, identisch sei, mit der einen Ausnahme, dass der dazugehörige Mensch nicht auch nur den Schatten eines Erlebnisses hätte.104 Das Erleben als solches erscheine als nicht denknotwendig für die Tätigkeit des Gehirns. Wenn nun aber das Bewusstsein als Erleben, nicht aber das Bewusstsein im Sinne der Kognition oder des integrierten Verhaltens, das gedankliche Problem darstelle, dann zeige sich, dass der Erkenntnisgewinn einer allein hirnphysiologischen Herangehensweise an das Phänomen des Bewusstseins überschätzt werde. Solange Menschen die Antwort auf das Rätsel des Bewusstseins nicht wüssten, hätten sie etwas Grundlegendes am eigenen Subjektsein nicht verstanden.105 Deshalb gelte für das Rätsel des Bewusstseins etwas, das für sonstige Rätsel nicht gelte:

102 Bieri, Rätsel, 50, führt dazu aus: „Wenn etwas a[m] Bewußtsein vollkommen unbegreiflich ist, dann ist es die Fähigkeit zu erleben und die Erfahrung des Subjektseins. Doch worin besteht das Rätsel eigentlich?“ Er führt im Weiteren aus: „Erstens: Zwischen Erlebnissen und bestimmten physiologischen Prozessen gibt es eine Beziehung der Kovarianz: Sie verändern sich stets zusammen. Zweitens gibt es eine asymmetrische Beziehung der Abhängigkeit: Das Erleben hängt vom physiologischen Geschehen ab, nicht umgekehrt. Und drittens besteht – als Gegenstück dazu – eine asymmetrische Beziehung der Determination: Das physiologische Geschehen bestimmt das Erleben, nicht umgekehrt.“ 103 Leibniz, Monadologie; vgl. Bieri, Rätsel, 50 ff. 104 Vgl. Bieri, Rätsel, 51. 105 Vgl. Bieri, Rätsel, 54.

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„Wir haben keine Vorstellung davon, was als Lösung, als Verstehen zählen würde.“106 Stellungnahme zu den Darlegungen von Peter Bieri 1. Die Argumentation Bieris ist in sich schlüssig und nachvollziehbar, wenn man sich auf die Ebene des geschilderten Gedankenexperiments einlässt. Es verdeutlicht das „Rätsel des Bewusstseins“. Dennoch bleiben Einwände gegen diese Position bestehen, die Bieri selbst in seiner Argumentation aufnimmt. Er verweist darauf, dass der Sachverhalt nur vor dem Hintergrund bestimmter Erwartungen des Erklärens und Verstehens rätselhaft ist. Er wirft die Frage auf, ob vielleicht zu viel erwartet werde, wenn man unbedingt verstehen wolle, wie das Erleben aus den Eigenschaften des Gehirns entstehe.107 2. Bieri löst das Rätsel des Bewusstseins nicht, sondern verweist auf die These der kognitiven Begrenzung des Menschen. Vielleicht könne der Mensch nicht hinreichend erkennen, wie das Gehirn arbeite. Vielleicht sei auch das Gehirn schlicht zu begrenzt, um eine Lösung des Problems zu finden. Vielleicht fehle die richtige Art des Erklärens und Verstehens. All das schlösse aber nicht aus, dass das Rätsel in Zukunft gelöst werden könne, auch wenn man heute noch nicht wisse, wie die Lösung aussehen werde.108 3. Bieris Behauptung, dass Bewusstsein sei ein derzeit nicht zu lösendes philosophisches Rätsel, ist abhängig von den beiden genannten Punkten: Die Argumentation ist bloß immanent schlüssig und setzt die Hypothese der kognitiven Begrenzung des Menschen voraus. b) Der Philosoph Ansgar Beckermann beschreibt den phänomenalen Aspekt des Bewusstseins als den Teil, der das Problem des Bewusstseins für die Philosophie als gegenwärtig unlösbar erscheinen lasse.109 Ziel seines Aufsatzes „Was macht Bewußtsein für Philosophen zum Problem?“ ist, dies näher zu erörtern.110 Zunächst bestehe in der Philosophie weitgehend Konsens darüber, dass das Bewusstsein selbst eine Reihe sehr unterschiedlicher Aspekte beinhalte:

106 Bieri, Rätsel, 56. Vgl. auch Nagel, Fledermaus, 261: „Es ist das Thema ,Bewußtsein‘, welches das Leib-Seele-Problem wirklich vertrackt macht.“ 107 Vgl. Bieri, Rätsel, 54. 108 Vgl. Bieri, Rätsel, 56. 109 Vgl. Beckermann, Bewußtsein, 2: „Es sind jedoch nicht diese eher kognitiven Aspekte des Bewußtseins, die die größten Probleme bereiten. Vielmehr ist es der weitere Aspekt des ,phänomenalen Bewußtseins‘, die Tatsache, daß Bewußtsein häufig mit einem Erlebnisaspekt verbunden ist, die vielen Philosophen das Problem des Bewußtseins – zumindest im Augenblick – schier unlösbar erscheinen läßt.“ Beckermann verweist, ähnlich wie Bieri, auf Nagels Frage ,What is it like to be a bat?‘. 110 Vgl. Beckermann, Bewußtsein, 2 f.

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3. Diskussion der besonderen Problematik

1. „Selbstwissen“, d. h. die „Fähigkeit mancher Wesen, nicht nur ihre Umwelt, sondern auch sich selbst, ihre eigenen Zustände und Handlungen zu repräsentieren“111 (,Metarepräsentation‘ bzw. ,Selbstmodell‘); 2. „Selbstbewußtsein“, d. h. „wenn ein Wesen über den Begriff des Selbst verfügt und diesen Begriff verwenden kann, wenn es über sich nachdenkt“112 ; 3. „,access-consciousness‘[,] der sog. Zugangsaspekt des Bewußtseins“113 4. „Aspekt des ,phänomenalen Bewußtseins ‘“ bzw. „Erlebnisaspekt“.114 Nach Beckermann bildet der Erlebnisaspekt des Bewusstseins, nicht die kognitiven Aspekte, das philosophische Problem. Der Erlebnisaspekt entzieht sich einer präzisen begrifflichen Charakterisierung. Zur Darstellung des Problems erörtert Beckermann die beiden bekanntesten Argumente gegen die wissenschaftliche Erklärbarkeit des phänomenalen Bewusstseins: – Frank Jacksons „Argument des unvollständigen Wissens (,knowledge-argument‘)“115 und – Joseph Levines „Argument der Erklärungslücke (,explanatory gap-argument‘)“116. Frank Jacksons Gedankenexperiment handelt von der brillanten Wissenschaftlerin Mary : Mary lebt in einer schwarz-grauen Umgebung, in der es keine im engeren Sinn farbigen Gegenstände oder Lichter gibt. Dennoch wird sie zu einer Expertin in allen Naturwissenschaften, d. h. auch in Bezug auf das Sehen, insbesondere das Farbsehen, ausgebildet. Wenn nun Mary ihr schwarz-weiß-graues Gefängnis verlässt und zum ersten Mal selbst eine reife Tomate erblickt, dann lernt sie beim Anblick einer reifen Tomate etwas Neues, selbst wenn das physikalische und neurophysiologische Wissen, das sie zuvor hatte, vollständig war, denn sie erwirbt Kenntnis von einer neuen, nicht-physikalischen Tatsache (Wie ist es, rot zu sehen?).117 Die aus diesem Beispiel gefolgerte Behauptung, dass es nicht-physikalische Tatsachen gibt, sei, so Beckermann, umstritten. Es bleibe aber das Problem bestehen, wie und ob es physische Zustände geben kann, die nur dann vollständig erfasst werden können, wenn eine bestimmte Erfahrungsperspektive eingenommen werde. Mit Beckermann ist zu folgern: Ein Mensch versteht bestimmte Dinge erst dann, wenn er sie erlebt. Wenn er sie noch nicht erlebt hat, kann er sie auch 111 112 113 114 115 116 117

Beckermann, Bewußtsein, 1. Beckermann, Bewußtsein, 2. Beckermann, Bewußtsein, 2, im Anschluss an Block, Consciousness, 210 – 219. Beckermann, Bewußtsein, 2. Beckermann, Bewußtsein, 4; Jackson, Mary, 291 – 295. Beckermann, Bewußtsein, 4; Levine, Materialism, 354 – 361. Vgl. Beckermann, Bewußtsein, 4.

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nicht verstehen. Die Erlebnisqualität bestimmter Erfahrungen ist nicht auf physikalische Phänomene reduzierbar. Es gibt zwar einen Zusammenhang zwischen physikalischen Phänomenen und Erfahrungen, dennoch sind Erleben und physikalische Phänomene nicht deckungsgleich, d. h., sie sind voneinander unterscheidbar. Seine Überlegungen verdeutlicht Beckermann anhand von Levines’ „Argument der Erklärungslücke“. Dieses Argument wurde ausgehend von zwei, in der Philosophie intensiv diskutierten Identitätsaussagen entwickelt: „(1) Schmerz ist das Feuern von C-Fasern, und (2) Temperatur ist die mittlere kinetische Energie der Moleküle eines Gases.“118 Nach Levine sei die Aussage (2) „vollständig explanatorisch“119, Aussage (1) aber nicht: Es sei denkbar, dass im menschlichen Körper C-Fasern feuerten, während der Mensch trotzdem keinen Schmerz empfinde, während es undenkbar sei, dass in einem Gas die mittlere kinetische Energie der Moleküle einen bestimmten Wert habe, dieses Gas aber nicht eine entsprechende Temperatur besitze: Der wesentliche Grund dafür, daß die Aussage (1) nicht vollständig explanatorisch ist, ist also, daß (a) die Bedeutung des Ausdrucks ,Schmerz‘ außer einer kausalen Rolle einen weiteren, qualitativen Aspekt umfaßt und daß es (b) unmöglich erscheint, allein mit den Mitteln der Naturwissenschaften zu zeigen, daß es sich für einen Organismus in der für Schmerzen charakteristischen Weise anfühlt, wenn seine CFasern feuern. Ja, es scheint außerhalb der Reichweite jeder möglichen Naturwissenschaft zu zeigen, daß sich das Feuern von C-Fasern überhaupt auf irgendeine Weise anfühlt.120 118 Beckermann, Bewußtsein, 6. 119 Beckermann, Bewußtsein, 7. 120 Beckermann, Bewußtsein, 7 f, fasst das Argument der Erklärungslücke zusammen: „(i) Phänomenale Zustände sind nicht nur durch eine kausale Rolle, sondern auch durch eine bestimmte Erlebnisqualität charakterisiert. (ii) Mit den Mitteln der Naturwissenschaft läßt sich nicht verständlich machen, warum mit einem bestimmten Gehirnzustand eine bestimmte Erlebnisqualität verbunden ist. (iii) Also können phänomenale Zustände nicht auf Gehirnzustände reduziert werden.“ Beckermann, Bewußtsein, 16 f, fasst seine Diagnose, dass und warum der phänomenale Aspekt des Bewusstseins gegenwärtig für die Philosophie ein unlösbares Problem darstellt, in sechs Thesen zusammen: „1. Phänomenale Zustände sind dadurch ausgezeichnet, das[s] sie untrennbar mit einer bestimmten Erlebnisqualität verbunden sind; man ist nicht einfach in diesen Zuständen, sondern man erlebt sie; es fühlt sich auf eine jeweils spezifische Weise an, in diesen Zuständen zu sein. 2. Ein phänomenaler Zustand M ist genau dann auf einen Gehirnzustand P reduzierbar, wenn aus den allgemeinen Gesetzen der Naturwissenschaften und insbesondere aus den allgemeinen Gesetzen der Neurowissenschaften folgt, daß P alle für M charakteristischen Merkmale aufweist.

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3. Diskussion der besonderen Problematik

Das bedeutet also: Schmerzen haben für Menschen eine bestimmte Erlebnisqualität. Menschen erleben Schmerzen unterschiedlich, auch wenn auf physikalischer Ebene Identisches abläuft. Was für den einen Menschen ein unerträglicher Schmerz ist, kann ein anderer Mensch noch verhältnismäßig gut ertragen. Auf physischer oder physikalischer Ebene kann momentan nicht geklärt werden, warum das so ist. Phänomenale Zustände können nicht auf Gehirnzustände reduziert werden; mit naturwissenschaftlichen Erklärungen können bestimmte Gehirnzustände zurzeit nicht vollständig erklärt werden. Deshalb plädiert Beckermann dafür, sich von dem Versuch, das Gegenteil nachzuweisen, nicht abbringen zu lassen, solange noch nicht endgültig feststehe, dass phänomenale Zustände tatsächlich irreduzibel seien.121 Stellungnahme zu den Darlegungen von Ansgar Beckermann 1) Beckermann referiert detailliert den derzeitigen Kenntnisstand über den phänomenalen Aspekt des Bewusstseins. Für ihn steht dabei nicht fest, dass phänomenale Zustände tatsächlich irreduzibel sind – das Gegenteil aber ebenso wenig. Beckermann zeigt leider nicht auf, wie der Versuch aussehen kann, den Beweis dafür zu erbringen, dass der Erlebnisaspekt des Bewusstseins auf einen Gehirnzustand reduzierbar ist. 2) Beckermann hält es nicht für ausgeschlossen, dass ein solcher Beweis in der Zukunft erbracht werden kann. M. E. kann eine solche hypothetische Annahme problematisch werden, wenn sie folgendermaßen fortgesetzt wird: Derzeit könne man das zwar nicht beweisen, aber man sei sicher, man könne das in der Zukunft beweisen. Beckermann selbst argumentiert so nicht, aber beispielsweise das so genannte „Manifest“, das elf führende Neurowissenschaftler formuliert haben: Die Hirnforschung wird in absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits so weit erklären können, dass Voraussagen über diese 3. Ein phänomenaler Zustand M ist nur dann auf einen Gehirnzustand P reduzierbar, wenn aus den allgemeinen Gesetzen der Naturwissenschaften und insbesondere aus den allgemeinen Gesetzen der Neurowissenschaften folgt, daß P mit der für M spezifischen Erlebnisqualität verbunden ist. 4. Das Merkmal, mit einer spezifischen Erlebnisqualität verbunden zu sein, läßt sich nicht auf eine kausale Rolle oder ein bestimmtes Verhalten reduzieren. 5. Das Verfahren, mit dem wir nachweisen können, daß allein durch ihre kausale Rolle charakterisierte Eigenschaften auf die ihnen zugrundeliegenden Mikrostrukturen reduziert werden können, ist im Fall phänomenaler Zustände nicht anwendbar. 6. Es ist gegenwärtig kein anderes Verfahren bekannt, mit dessen Hilfe man zeigen könnte, daß phänomenale Zustände auf Gehirnzustände reduziert werden können. Wir haben im Augenblick nicht einmal eine Vorstellung davon, wie es gelingen kann, dies zu zeigen.“ 121 Vgl. Beckermann, Bewußtsein, 17.

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Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind. Dies bedeutet, man wird widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.122

Problematisch erscheinen solche prognostizierten Erfolgsmeldungen zum einen, wenn prophezeit wird, dass künftige Erkenntnisse letztlich sogar zum Entwurf eines neuen Menschenbilds führen könnten.123 Zum anderen sind solche in Aussicht gestellten Erfolgsmeldungen heikel, wenn erst noch zu beweisende Hypothesen als beinahe schon bewiesene Tatsachen in die derzeitige Diskussion übernommen werden. c) Als Ertrag der philosophischen Reflexion zum Bewusstsein wird zum Komplex „Wachkoma und Bewusstsein“ folgendes festgehalten: 1. Das Phänomen des Bewusstseins ist ein in der Gegenwart ungeklärtes philosophisches Problem. Derzeit kann nichts Eindeutiges und allgemein Gültiges gesagt werden, besonders bezüglich der sogenannten Erlebnisqualität des Bewusstseins gibt es eine Fülle von Fragen. Solange nicht geklärt ist, wie hirnphysiologische Prozesse das Erleben beeinflussen (und auch inwieweit das Erleben hirnphysiologische Prozesse beeinflusst) – und solange das „Problem“ bzw. das „Rätsel“ des Bewusstseins nicht eindeutig gelöst ist, sollte jede unreflektierte bzw. nicht geklärte Verwendung des Begriffs „Bewusstsein“ vermieden werden. 2. Daraus ergibt sich m. E. eine wichtige Forderung, bezogen auf das Leben von Menschen im Wachkoma: Wenn nicht ausreichend beschrieben werden kann, was Bewusstsein ist, dann sollten lebenserhaltende Maßnahmen bei Menschen im Wachkoma nicht mit dem Verweis auf nicht vorhandenes Bewusstsein (bzw. nicht vorhandenes bewusstes Denken) eingestellt werden dürfen. Wenn Menschen etwas Grundlegendes an ihrem eigenen Subjektsein nicht verstehen, solange das Rätsel des Bewusstseins nicht gelöst ist, ist Vorsicht anzumahnen bei allen medizinischen oder juristi122 Das Manifest, Hirnforschung, 36. Zu den Autoren gehört beispielsweise Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Abteilung Neurophysiologie, Frankfurt/Main. Vgl. Singer, Menschenbild. In diesem kleinen Buch werden verschiedene Interviews mit W. Singer wiedergegeben. Auch der Philosoph Thomas Metzinger stellt in einem Interview in der ZEIT die These auf, dass die Forschung in den nächsten 20 bis 50 Jahren das „globale Korrelat von Bewusstsein im Hirn“ recht gut werde eingrenzen können. Vgl. Bahnsen, Riss, 31. Mit solchen Aussagen wird m. E. ein Wissenschaftsoptimismus mit z. T. fragwürdigen Folgerungen vertreten. Wenn ein wissenschaftliches Problem erst in der Zukunft gelöst werden kann, dann sollten daraus keine Konsequenzen für die Gegenwart gezogen werden. Heutige ethische Probleme sollten ausgehend vom gegenwärtigen Wissensstand diskutiert und entschieden werden. 123 Vgl. Manifest, 37: „Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften werden in einen intensiven Dialog treten müssen, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen.“

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3. Diskussion der besonderen Problematik

schen Entscheidungen, die sich auf das Phänomen des Bewusstseins bzw. des Nicht-Bewusstseins berufen. Das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Bewusstsein kann nach dem jetzigen Kenntnisstand nicht zur eindeutigen Handlungsorientierung an der Grenze von Leben und Tod dienen. 3. Es erscheint als eine Reduktion des menschlichen Lebens, wenn das Bewusstsein in der Diskussion über Lebenlassen und Sterbenlassen eine so bestimmende Rolle spielt. Was also ist der Mensch? Er ist jedenfalls mehr und anderes als Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein. Und er ist auch mehr und anderes als seine kognitiven oder kommunikativen Fähigkeiten. Mit Thomas Fuchs, Professor für Psychiatrie in Heidelberg, kann festgehalten werden: Leben, Bewusstsein, Geist sind Grund des Wahrnehmens und Erkennens. Sie sind die Medien, in denen wir uns bewegen. Leben und Geist (und letztlich auch Bewusstsein) können nie vollständig zu Gegenständen des Erkennens werden.124 Das Bewusstsein ist kein isoliert zu betrachtendes Vermögen des Menschen, denn nur das Lebewesen als ganzes ist bewusst, nimmt wahr und handelt.125

3.1.6 Bewusstsein und Wachkoma – theologische Perspektiven Der Hinweis, dass das menschliche Leben mehr und anderes ist als Bewusstsein, dass also das Bewusstsein nicht alleinige Grundlage menschlicher Existenz ist, sondern Menschen in unterschiedlicher Form zu eigen ist126, wird im nächsten Schritt aufgenommen. Aus theologischer Sicht kann das Wesen des Menschen mit dem Begriff des Bewusstseins allein nicht umfassend beschrieben werden. Exemplarisch werden die Aufsätze „Person und Subjekt“127 von Wolfhart Pannenberg und „Subjektivität und Glauben“128 von Ingolf Dalferth zur Entwicklung eines theologischen Beitrags zur Frage des Bewusstseins herangezogen. Beide Autoren weisen darauf hin, dass Bewusstseinserlebnisse punktuell spontan sind129 bzw. dass es „kein virtuelles, sondern immer nur aktuelles Selbstbewußtsein gibt“130. Beide Autoren erörtern das Thema „Bewusstsein“ 124 Vgl. T. Fuchs, Gehirn, 285. 125 Vgl. T. Fuchs, Gehirn, 150. 126 Die unterschiedlichen Formen können beispielsweise sein: Bewusstes Erleben, eingeschränkte Aufmerksamkeit, Schlaf, Somnolenz, Sopor und Koma; die Übergänge können in die eine wie die andere Richtung fließend sein. Vgl. Geremek, Wachkoma, 24 ff. Vgl. Huxel, Ontologie, 392 – 395, die narkotische und tranceartige Zustände, epileptische und mystische Bewusstseinsformen nennt. 127 Pannenberg, Person, 80 – 95. 128 Dalferth, Subjektivität, 18 – 58. 129 Vgl. Pannenberg, Person, 91. 130 Dalferth, Subjektivität, 29.

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nicht eigenständig, sondern innerhalb der Fragen der „Person“131 bzw. des „Selbst“, das als „fundamentaler subjektiver Sachverhalt, als cartesianische Gewißheit oder unmittelbare Selbstvertrautheit“132 bestimmt wird. Die verschiedenen Momente, die sich als Bewusstsein aktualisieren, werden durch ein Anderes zusammengehalten. Das Bewusstsein ist als ein nachgeordnetes Phänomen zu betrachten. a) Der Theologe Wolfhart Pannenberg stellt innerhalb seines Aufsatzes „Person und Subjekt“ einige Überlegungen zum Bewusstsein an. Die Darstellung dieses Aufsatzes wird im Folgenden nur auf das Verhältnis der sogenannten „Bewusstseinserlebnisse“ zum Begriff der „Person“ konzentriert, um – ergänzend zu den vorangehenden Überlegungen – theologische Perspektiven zum „Bewusstsein“ darzustellen und zu erörtern.133 Nach Pannenberg ist der Mensch mehr als sein jeweils gegenwärtiges Bewusstsein bzw. die Aufeinanderfolge seiner je gegenwärtigen Bewusstseinserlebnisse. Seine Geschichte sei unabgeschlossen, d. h. auch, dass das Ich des Menschen nicht statisch und dauerhaft, sondern einem Wandel unterworfen sei. Die Identität des Menschen sei durch das Bewusstsein bzw. die Bewusstseinserlebnisse noch nicht gewährt. Das, was ein Mensch im gegenwärtigen Erleben seines Bewusstseins als sich selbst realisiere, sei nämlich nur ein kleiner Teil seines Lebens, nur ein Ausschnitt seines Menschseins. Die Einheit des Menschen, d. h. seine Identität in der Veränderung der sich realisierenden Bewusstseinserlebnisse, werde durch ein Anderes gewährleistet, nämlich durch sein ,Person-Sein‘. Das Wort ,Person‘ meine mehr als das „punktuell auftretende Ich“134, es beziehe sich auf das gesamte Leben eines Individuums. Im Begriff der „Person“ würden die spontan auftretenden Bewusstseinserlebnisse zu einer Gesamtheit verbunden, und so werde dem Menschen seine Identität verliehen135 : 131 Pannenberg, Person, 80 – 95. 132 Dalferth, Subjektivität, 22. 133 Für die Unterscheidung von ,Selbst‘, ,Ich‘ und ,Person‘ sowie die Neubestimmung des PersonBegriffs wird auf den genannten Aufsatz verwiesen. 134 Pannenberg, Person, 91. 135 Vgl. Pannenberg, Person, 91. „Das Ich ist nach Sartre von sich aus überhaupt kein ,stehendes und bleibendes‘ Ich im Sinne der transzendentalen Subjekttheorie. Es ist vielmehr ebenso wie das Selbst erst Produkt einer Reflexion auf die unpersönliche Spontaneität des Bewußtseins hinsichtlich der Einheit seiner Zustände (als Selbst) und Handlungen (als Ich). Aber das Bewußtsein des Ich scheint doch zunächst mehr an der punktuellen Erfahrung spontaner Gegenwart des ,Gegenstandes‘ zu hängen, den die Mitwelt durch unseren Namen bezeichnet und der uns durch Verinnerlichung ihrer Erwartungen und Urteile in der Vorstellung des Selbst gegeben ist. Die Vorstellung eines bleibenden Ich wäre dann in der Tat, wie Sartre will, erst Resultat der Reflexion, aber, anders als er es beschreibt, Resultat der im Selbstbewußtsein vollzogenen Identifizierung der spontanen Ichmomente mit der kontinuierlichen Einheit des Selbst, die ihrerseits durch die Aufgabe dieser Integration laufend modifiziert wird.“ (Vgl. Sartre, Transzendenz, 20.)

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Die Person kann nicht mit der bloßen Tatsache eines Ichbewußtseins identisch sein; denn bei dem Wort Person meinen wir mehr als das punktuell auftretende Ich. Das Wort Person bezieht sich auf das ganze Leben eines Individuums. Ein Ich sind wir immer schon. Person werden wir noch, obwohl wir es immer auch schon sind. ,Person‘ bezieht sich auf das die Gegenwart des Ich übersteigende Geheimnis der auf dem Wege zu ihrer besonderen Bestimmung noch unabgeschlossenen Totalität seiner einmaligen Lebensgeschichte.136

Der Begriff der Person sei dabei ausgezeichnet durch seine inhaltliche Bestimmung, die gekennzeichnet sei durch die Vorstellung der gottgegebenen Würde des Menschen und die christliche Überzeugung von der unendlichen Bedeutung und Wichtigkeit des einzelnen Menschen. Die Würde des Menschen sei dabei nicht im Menschen selbst begründet, in seiner Subjektivität oder einem schon vorhandenen oder zu erwerbenden Bewusstsein. Die Würde des Menschen sei letztlich in Gott begründet. So hält Pannenberg fest, „daß die eigentümliche Würde des Menschen als Person darin begründet ist, daß er in seinem Weg zu sich selbst auf Gott bezogen ist als den Ursprung seiner möglichen Freiheit, seines möglichen Selbstseins.“137 Pannenberg verweist auf den Begriff der Gottebenbildlichkeit, in dem biblisch die „eigentümliche Würde des Menschen, [nämlich] das Verbot, sein Leben anzutasten, begründet (Gen 9,6)“138 sei. Deshalb könne der Mensch im eigentlichen Sinn auch nicht über sich und andere verfügen; er könne (und dürfe) anderen Menschen nicht ihre Würde – und damit ihr Lebensrecht – aberkennen. Letztlich sei die Person des Menschen aller Verfügung entzogen, auch wenn über den konkreten Menschen sehr wohl verfügt werden könne. Weil das Leben der Menschen, sein offenes Lebensvertrauen, auf Gott gerichtet sei und weil der Mensch in seiner Frage nach sich selbst auf Gott bezogen und zu Gott hin unterwegs sei, sei der Mensch als ,Person‘ letztendlich der menschlichen Verfügungsgewalt entzogen.139 So habe der Mensch sowohl seine Bestimmung als auch seine Würde nicht aus sich selbst heraus, sondern sie seien ihm von Gott her gegeben und hingen zusammen, denn: „Die eigentümliche Würde der Person ist begründet im Geheimnis ihrer noch un-

136 Pannenberg, Person, 91: „Wir sind noch unterwegs zu uns selbst, zur Totalität unseres Daseins.“ (Ebd.) 137 Pannenberg, Person, 92. 138 Pannenberg, Person, 92. 139 Vgl. Pannenberg, Person, 92: „Es wird so auch deutlich, weshalb die Person des Menschen sich aller Verfügung entzieht, obwohl über die Individuen, sosehr sie jeder für sich ein Ich sind, leider sehr wohl verfügt werden kann, sei es durch Gewalt oder Manipulation oder Gehirnwäsche. Die Person des Menschen entzieht sich insbesondere deshalb aller Verfügung durch andere, weil das offene Vertrauen, das den Lebensvollzug des Menschen trotz aller Entstellungen und Verkümmerungen doch immer wieder trägt und auf seine Identität zielt, damit implizit auf Gott gerichtet ist und der Mensch darum in seiner Frage nach sich selbst auf Gott bezogen, zu Gott hin unterwegs ist, ob ihm das nun ausdrücklich zum Thema wird oder nicht.“

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abgeschlossenen Geschichte, in der sie auf dem Wege ist zu ihrer Bestimmung, zu ihrem Selbstsein.“140 Stellungnahme zu den Darlegungen von Wolfhart Pannenberg 1. Durch den Begriff der Gottebenbildlichkeit begründet Pannenberg das Verbot, das Leben eines anderen Menschen anzutasten. Wenn das Leben dem Menschen von Gott gegeben ist und auf Gott ausgerichtet ist („ob ihm das nun ausdrücklich zum Thema wird oder nicht“141), dann ist aus theologischer Sicht eine Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bei einem Menschen, der nicht irreversibel sterbend ist, ein Eingreifen in den Machtbereich bzw. die Verfügungsgewalt Gottes. 2. Weil Bewusstseinserlebnisse punktuell spontan142 sind, sollte die Entscheidung über die Fortsetzung lebenserhaltender Maßnahmen bei Menschen im Wachkoma nicht abhängig gemacht werden vom jeweils aktuellen „Bewusstseinszustand“, da sich dieser in einem steten Wandel befindet. Das Wesen des Menschen ist nicht durch die Beschreibung und das Verstehen der Aufeinanderfolge aktueller Bewusstseinserlebnisse zu erfassen. Seine Identität als Person, die erst die Einheit der aufeinander folgenden, je aktuellen Bewusstseinserlebnisse ermöglicht, hat der Mensch nicht aus sich selbst heraus und kann sie auch nicht durch sich selbst herstellen. 3. Wenn die Geschichte des Menschen zeit seines Lebens unabgeschlossen ist, dann ist aus theologischer Perspektive zu folgern: Ein Abbruch des Lebens bedeutet auch einen Abbruch der möglichen Geschichte und damit der möglichen Vollendung eines Menschen. Das könnte bedeuten, dass ein Mensch seine Bestimmung, sein Selbstsein nicht erreicht, weil er seine augenblickliche Existenz absolut gesetzt hat oder weil andere seine augenblickliche Existenz für absolut erachten. Menschliches Leben hat Prozesscharakter, so dass bei allen Betrachtungen über den Menschen immer auch seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine mögliche Zukunft beachtet werden sollten. Wenn nun der Mensch in seiner Frage nach sich selbst schon jetzt implizit oder explizit auf Gott bezogen ist und wenn seine Geschichte noch nicht abgeschlossen ist, dann bedeutet ein vorzeitiges Ende seines Lebens auch den Verlust der Möglichkeit, zu seiner wahren Bestimmung zu gelangen. b) Der Theologe Ingolf Dalferth will in seinem Aufsatz „Subjektivität und Glaube“, in dem er die Problematik der theologischen Verwendung der philosophischen Kategorie „Subjektivität“ aufzeigt, eine Verhältnisbestimmung der beiden genannten Kategorien vornehmen. Innerhalb dieser Verhältnis140 Pannenberg, Person, 92. 141 Pannenberg, Person, 92. 142 Vgl. Pannenberg, Person, 91.

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bestimmung der theologischen Kategorie (Glaube) und der philosophischen Kategorie (Subjektivität) stellt er einige interessante Überlegungen zum Bewusstsein an, die für das Verständnis der Lebensform „Wachkoma“ fruchtbar sein können. Dalferth beschreibt die Problematik des Subjektivitätsparadigmas143 und stellt fest, dass das „Ich“ die „Last einer ganzen Wirklichkeitskonzeption“144 nicht zu tragen vermag. Das „Selbst“ könne nicht als „Maßstab theologischer Relevanz“145 propagiert werden, da die menschliche Existenz nicht allein im „Modus personaler Beziehungen“146 konstruiert und verstanden werden könne, sondern nur, wenn die transpersonalen Dimensionen des Menschseins, der „Sozialcharakter“147 des Lebens, expliziert würden. Die Subjektivität des Menschen bzw. die Subjektivitätsstruktur sei, so Dalferth „damit nicht fundamentale begründungstheoretische Voraussetzung allen Denkens, Wissens und Handelns, sondern Resultat eines komplizierten empirischen Entstehungsprozesses, in dem wir diese Struktur durch Interaktion mit unserer Umwelt aufbauen.“148 Auch könne das Ich nicht als „das kontinuierlich bestehende und allem Wechsel des Bewußtseins identisch zugrundeliegende Subjekt der individuellen Entwicklung“149 verstanden werden, sondern die Identität des ,Ich‘ entstehe in einem lebenslangen Entwicklungsprozess. Deshalb könne das Bewusstsein nicht im Sinne einer präreflexiven Vertrautheit des Menschen mit sich selbst verstanden werden.150 Bewusstsein wie Selbstbewusstsein stellten keine eigenständigen Sachverhalte dar. Das zeige sich auch darin, dass es kein „virtuelles, sondern immer nur aktuelles Selbstbewußtsein“ gibt, da es „immer nur zusammen mit und an aktuellem Bewusstsein auftritt“151. Das Bewusstsein (Vorstellungen) sei analog der Sprache (Kommunikation) in die Subjektivitätsstruktur eingeordnet als Fähigkeit, sich selbst zu thematisieren.152 Das ,Ich‘, die ,Subjektivität‘ eines Menschen sei zu verstehen als Struktur, die nicht vorgegeben sei, sondern sich im Lauf des Lebens entwickele: Die Vgl. Dalferth, Subjektivität, 20. Dalferth, Subjektivität, 20. Dalferth, Subjektivität, 18. Dalferth, Subjektivität, 21. Dalferth, Subjektivität, 21. Dalferth, Subjektivität, 48. Dalferth, Subjektivität, 48. Vgl. Dalferth, Subjektivität, 48. Vgl. auch ebd., 27: „Daß jedes Bewußtsein von etwas auch ein (nicht selbst wiederum gegenständliches) Bewußtsein von etwas ist […] ist kein Grund, eine besondere präreflexive Vertrautheit mit sich selbst, ein nicht gegenständlich existierendes Selbst als Referent des Selbstbewußtseins, ein beharrendes, numerisch identisches Ich als Fixpunkt einer Lebensgeschichte oder sonst einen, besonderer Erklärung bedürftigen, subjektiven Sachverhalt zu unterstellen oder zu postulieren.“ 151 Dalferth, Subjektivität, 29. 152 Vgl. Dalferth, Subjektvitität, 48.

143 144 145 146 147 148 149 150

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Subjektivitätsstruktur des Menschen entwickele sich erst im Prozess des Lebens, in einem komplexen, empirischen Entwicklungsprozess durch Interaktion mit der Umwelt.153 Erst während und durch diesen Lebensprozess entwickelten sich die Kontinuität und Stabilität des Ich- und Selbstbewusstseins, die dem Menschen Identität verliehen. Menschen seien „Wesen im Werden“154, bei denen nur umrisshaft abzusehen sei, was sie zu werden bestimmt seien. Dieses Verständnis des Menschen als ,im Werden seiend’ verändere die Sicht auf den Menschen: Solange der Mensch lebe, seien seine Geschichte und seine Identität unabgeschlossen. Die unmittelbare Erfahrung des Menschen sei als ambivalent zu durchschauen, d. h., der Mensch sei sich selbst nicht unmittelbar zugänglich. Seine Bestimmung habe er von Gott her, auch wenn sich dieses dem Menschen nicht unmittelbar von selbst erschließe. Der Mensch sei dabei letztlich sich selbst, d. h., seiner eigenen Verfügungsgewalt, entzogen: Weil wir im Verlauf unserer kontingenten Lebensgeschichte das werden, was wir sind, können wir uns in via nie im Blick auf das uns jeweils gerade Zugängliche als das erfahren, was wir Gott sei Dank in Wahrheit sind, sondern nur in der Orientierung an der Geschichte Jesu Christi, die uns lehrt, an unserem jeweils wirklichen Selbstverständnis zwischen dem zu unterscheiden, was unser wahres Selbstverständnis fördert und was es behindert.“ Und: „Solange wir in via sind, wird dieser Prozeß nicht abgeschlossen sein.155

153 Vgl. Dalferth, Subjektivität, 48: „Vielmehr entwickeln sich sowohl das Ich-Bewußtsein als Zentrierung meiner letztlich vermittelten und über meinen Körper selegierten und gebündelten Welterfahrung als auch das Selbst-Bewußtsein als sozial vermittelte Totalität meiner Zustände, Qualitäten, Erfahrungen und Handlungen erst allmählich im Lebensprozeß kausalen Interagierens mit der Umwelt zu identitätsbildender Kontinuität und Stabilität. Die Subjektivitäts-Struktur, also die Fähigkeit, sich selbst im Medium des Bewußtseins oder der Sprache zu thematisieren, ist damit nicht fundamentale begründungstheoretische Voraussetzung allen Denkens, Wissens und Handelns, sondern Resultat eines komplizierten empirischen Entstehungsprozesses, in dem wir diese Struktur durch Interaktion mit unserer Umwelt aufbauen.“ 154 Dalferth, Subjektivität, 54; 56. 155 Dalferth, Subjektivität, 53. Dalferth plädiert dafür, dass nicht der Begriff der „Subjektivität“ die theologische Anthropologie bestimmen soll: „Das menschliche Selbstverständnis hätte nicht zunächst nur coram mundo oder seipso, sondern von vornherein coram deo […] entfaltet werden müssen und so als unhintergehbares Differenzverständnis einsichtig werden können, nämlich als Verständnis unseres durch Unglaube und Glaube, Sünde und Gnade bestimmten geschöpflichen Personseins vor Gott.“ (Ebd., 41.) „[…] Glaube und Unglaube sind […] noch immer die brauchbarsten, weil reicheren und weiterreichenden Kategorien, mit denen die Theologie das wahre oder falsche menschliche Selbstverständnis denken kann – brauchbarer jedenfalls als die problematische Kategorie >Subjektivität