Das Urphänomen des Lebens: Ernst Cassirers Lebensbegriff 9783787320899, 9783787317080

Der Kant und Cohen verpflichtete Philosoph der symbolischen Formen widmet sich Ende der 20er Jahre scheinbar affirmativ

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Das Urphänomen des Lebens: Ernst Cassirers Lebensbegriff
 9783787320899, 9783787317080

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CASSIRER-FORSCHUNGEN

CASSIRER-FORSCHUNGEN Band 12

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Christian Möckel

Das Urphänomen des Lebens Ernst Cassirers Lebensbegriff

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Für Tanja und Christina

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2005. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung

XI

1

1 Philosophischer Lebensbegriff und Lebensphilosophie . . . . . . . 2 Ernst Cassirer, der Lebensbegriff und die Lebensphilosophie . . 3 Untersuchungsfragen und Darstellungsprobleme . . . . . . . . . . . .

1 14 19

erstes kapitel Denkart und Lebensordnung (1902–1913)

25

1 Die Lebensordnung der Renaissancekultur . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

1.1 Leben, Allleben, Beseeltheit und Leben als Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Geistiges Leben, Lebensauffassung und Grundkonflikt des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Lebensordnung und Wechsel der Lebens- und Lehrformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Leben, Erleben, Intuition und wissenschaftliche Erkenntnis . . .

26 30 35 43

2.1 Kritik erkenntnistheoretischer Topoi der Lebensphilosophie (Erleben, Intuition und Begriff) . . . . . . . . . . . . 2.2 Vorüberlegungen zu einem philosophischen Lebensbegriff (Doppelrichtung und Symbolverhältnis) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Lebendigkeit der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 61

3 Wissenschaft vom organischen Leben, der Person und den geistigen Lebensmächten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

zweites kapitel Lebensform und Lehrform (1916–1921)

73

1 Naturleben, Organismus und geistiges Leben . . . . . . . . . . . . . . .

78

1.1 Natur, Organismus und Urphänomen des Lebens . . . . . . . . 1.2 Individuelle Lebensform in Natur und Geist . . . . . . . . . . . . 1.3 Methodische Überlegungen: Entzweiung, Einheit und symbolische Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 87

43

95

VI

Inhalt

2 Leben als Biographie: Lebensform, Lehrform und Epochenprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

2.1 Biographisches Leben und seine innere Form . . . . . . . . . . . 99 2.2 Lebensform: Lebensführung und Lehrform . . . . . . . . . . . . . 106 2.3 Dichtung, Philosophie und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3 Kultur: Formen des Geistes in Lebensordnungen . . . . . . . . . . . . 116 3.1 Kulturelle Formen des geistigen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.2 Lebensformen, Lebensordnung und Stufenreihe . . . . . . . . . 121 4 Problembewußtsein und Kritik lebensphilosophischer Topoi . . 130 4.1 Lebendigkeit der Anschauung und Sprache des gewöhnlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.2 Kritik lebensphilosophischer Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

drittes kapitel Denkformen und Lebensformen (1923–1925)

141

1 Lebensbegriff und Lebensphilosophie als Thema von wachsender Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2 Allgemeine Ausdruckstheorie des lebendigen Geistes: Kultur . . 148 3 Unmittelbarkeit des organischen und Mittelbarkeit des geistigen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4 Denkform, Lebensform und Lebensgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.1 Denkform und Lebensform: Doppelrichtung oder Stufenfolge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.2 ›Urquell alles Lebens‹ und mythisches Selbstgefühl . . . . . . . 173 5 Kritik des lebensphilosophischen Intuitionismus: Formen des Lebens und lebendige Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

viertes kapitel Paradies des Lebens und menschliche Freiheit (1927–1932)

185

1 Paradies des Lebens und kulturelles Symbol. Lebensphilosophie und Philosophie der symbolischen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2 Grundphänomen des Lebendigen überhaupt: das Ausdrucksphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2.1 Ausdruckserleben und Ausdrucksphänomene . . . . . . . . . . . 193 2.2 Unzerstörbarkeit der Ausdrucksphänomene . . . . . . . . . . . . 199

Inhalt

VII

3 Entfaltung der immanenten Differenz des Ausdruckslebens . . . 203 3.1 Begriffliche Kontinuität zwischen Leben und Geist? Schicksal oder Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Lebensordnung: symbolische Form und ethische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Leben, Symbol, Geist: Distanzierung vom bloßen Lebenswillen durch Symbolisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ausdrucksphänomen und Lebensnähe. Subjektive Quelle und objektive Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203 209 214 226

4 Erkenntnis- und seinstheoretische Implikationen . . . . . . . . . . . . 232 4.1 4.2 4.3 4.4

Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit der Wahrnehmung . . . . Intuition des Lebens oder Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . Natürliches Weltbild und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebendigkeit der Formen und ihre belebende Funktion . . . .

232 235 238 240

5 Geist, Leben und Symbol – ein Klärungsversuch . . . . . . . . . . . . 242 5.1 Auflösung der Antinomie im Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 5.2 Lebensnähe des Geistes und Geistigkeit des Lebens . . . . . . . 246 5.3 Leben und Geist als metaphysischer Bedeutungsunterschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 6 Leistung, Grenze und Gefahr der Lebensphilosophie . . . . . . . . . 253 6.1 Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit des Seins. Methodische Reflexion kontra Intuition des Lebens . . . . . . 6.2 Ausdrucksfunktion und Symbolverhältnis . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Grundgegensatz von Leben und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Nietzsche und der ›Wille zur Macht‹ . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Klages und die Anklage wider den Geist . . . . . . . . . . . 6.3.3 Bergson und der irrationale Wille . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Spengler und die organischen Lebensformen der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.5 Simmel und die ›Wendung zur Idee‹ . . . . . . . . . . . . . . 6.3.6 Scheler und die geistige Leitung des Lebens . . . . . . . . 6.4 Krisis des modernen Lebensgefühls und Diagnosen der Lebensphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253 257 264 266 269 273 276 279 282 285

VIII

Inhalt

fünftes kapitel Kulturelle Lebensformen und Basisphänomene (1935–1941)

293

1 Naturform und Kulturform des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1.1 Biologisches Grundphänomen des Lebens selbst . . . . . . . . . 295 1.2 Zusammenhang höherer und niederer Lebensformen . . . . . 300 2 Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung . . . . . . . . . . . 303 3 Urphänomene des Lebens und Basisphänomene der Wirklichkeitserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 3.1 Philosophie der Basisphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 3.2 Kulturwerke und Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 4 Subjektives und objektives Kulturleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 4.1 Lebensgefühl und objektiver Sinn. Kulturgeschichtsschreibung und unzeitliche Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 4.2 Problematische Deutungen des Kulturlebens . . . . . . . . . . . . 326 5 Leistung und Schranke lebensphilosophischer Kulturgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

sechstes kapitel Geistiges Leben in Kulturformen (1944/45)

337

1 Begrifflichkeiten der biologischen und der anthropologischen Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 2 Menschliches Dasein: Symbolisierung und kulturelle Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 2.1 Durch Symbolisierung zur Lebensform der Kultur . . . . . . . 344 2.2 Kulturelle Lebensordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3 Formen kulturellen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 3.1 Mythische Lebensform und religiöses Bewußtsein der Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 3.2 Politik und Historie als kulturelle Lebensformen . . . . . . . . . 357 3.3 Kunst: Leben der geistigen Formen und Leben in den Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 4 Bedrohtheit des Kulturlebens und Entlastungsfunktion der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5 Philosophien des Lebens und der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Inhalt

IX

Resümee: Leben, Form, Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Sigelverzeichnis der zitierten Schriften Cassirers . . . . . . . . . . . . . . . 395 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

Vorwort

Die vorliegende Schrift stellt Ergebnisse zur Diskussion, die in dem durch die DFG geförderten Forschungsprojekt zum Thema Der Lebensbegriff in Cassirers Werk erzielt wurden. Das Vorhaben, die unerwartet intensive und grundsätzliche Inanspruchnahme des Lebensbegriffs im philosophischen Werk Cassirers aufzuklären und sein Verhältnis zur zeitgenössischen Lebensphilosophie genauer zu bestimmen, war durch die 1995 von J. M. Krois herausgegeben Nachlaßmanuskripte der Jahre 1928 und 1940, von denen einige den seinerzeit unveröffentlichten IV. Teil des Hauptwerkes Philosophie der symbolischen Formen Cassirer bilden, angeregt und inspiriert worden. 1 Diese Texte hatten der von E. W. Orth 1993 in einem Auswahlband wieder zugänglich gemachten kritischen Auseinandersetzung Cassirers mit der Lebensphilosophie bzw. der philosophischen Anthropologie Schelers aus den Jahren 1929/30 ein noch größeres Gewicht beigelegt. 2 Da Cassirer sich selbst immer als ein Wissenschaft, Rationalität, Vernunft und Geist verpflichteter Denker verstand und als solcher auch so wahrgenommen und rezipiert wurde, ist in der internationalen Cassirerforschung bereits seit Jahren mit Blick auf diese Texte eine eingehende Untersuchung des Problemfeldes »Cassirer und die Lebensphilosophie« angemahnt und auch skizzenhaft durchgeführt worden. 3 Eine umfassende und systematische Textrecherche zu seinem Verhältnis zur Lebensphilosophie bzw. zu der Rolle des Lebensbegriffs in seinem philosophischen Werk stand aber bislang noch aus; sie wird hiermit vorgelegt. Die Untersuchung konnte sich auf die Ergebnisse der sich in den vergangenen Jahren rasant entwickelnden Cassirerforschung4 stützen, in der verschiedene Aspekte des Forschungsvorhabens in einer Reihe von grundlegenden Studien zu Cassirer, u. a. in den Passagen über das Problem des Mythos, berührt werden oder Erwähnung finden, ohne dabei allerdings das eigentliche Thema der Darstellung abzuge1 2 3 4

ECN 1: 3–109, 123–195. GL: 32–60; ECW 17: 185–205. Siehe u. a. Werle (1988), Orth (1993), Knoppe (1994), Ferrari (1995). Plümacher (1999), Fischer (1999), Breil (2000).

XII

Vorwort

ben. 5 Das Forschungsprojekt konnte außerdem auf neuere Forschungen zu Cassirers Goethe-Rezeption zurückgreifen, in denen die Begriffe Leben, Lebensform und Denkform, Lebensordnung, Leben als Urphänomen, das Organische versus das Mechanische etc. eine große Rolle spielen. Es profitierte dabei insbesondere von der in jüngsten Veröffentlichungen vertretenen These, wonach Cassirer durch die Philosophie der Renaissance und das philosophische Denken Goethes entscheidend angeregt und geprägt worden ist. 6 Gefordert und befördert hat die Recherche ebenfalls die sich in den letzten 10 Jahren ausweitende, alte Vereinfachungen überwindende Beschäftigung mit der Lebensphilosophie, mit ihren sehr unterschiedlichen Vertretern und deren philosophischen Leistungen. Diese neueren Forschungen und Publikationen zur Lebensphilosophie bzw. zum Lebensbegriff haben sich zum einen weitgehend von ihrer Rezeption unter dem Eindruck der Verstrickung bestimmter Argumente bzw. mancher Vertreter in die NS-Geschichte frei gemacht und thematisieren zum anderen die Lebensphilosophie nicht mehr ausschließlich als eine Geschichte des theoretischen Versagens. 7 Zudem tritt in der derzeitigen Philosophie neben dem Tatbestand, daß der Lebensbegriff nicht nur ein wichtiger Anhaltspunkt nahezu aller philosophischen Systeme war und ist, auch die Tatsache wieder stärker ins Bewußtsein, daß Vernunft und Geist ohne Lebensbezug nicht sinnvoll thematisierbar sind. 8 Wertvolle Anregungen für das Projekt boten schließlich die Forschungen und Publikationen zu denjenigen lebensphilosophisch orientierten oder inspirierten Denkern, deren Ideen und Schriften Cassirer kritisch rezipiert, von denen er bestimmte Anregungen empfängt bzw. von denen er sich in gewisser Weise philosophisch bestätigt sieht. 9 Die in Umsetzung des Projektes 1999 begonnene Auswertung der seinerzeit nicht zur Publikation gekommenen Texte aus den Jahren 1928 bis 1940, in denen Cassirer unter Rückgriff auf den Lebensbegriff um eine präzisere Fassung seiner Symbolphilosophie ringt, kritisch die von der zeitgenössischen Lebensphilosophie (Simmel, Scheler, Klages, Bergson, Spengler) erreichte Lösung des Symbolproblems prüft und sich erneut

5

Paetzold (1995), Orth (1996), Ferrari (1996), Schwemmer (1997). Krois (1995), Knoppe (1995), Naumann (1998), Krav č enko (1999), Naumann/ Recki (2002). 7 Siehe u. a. Ebrecht (1991), Albert (1995), Fellmann (1993), Pothast (1998), Albert/ Jain (2000). 8 Gerhardt (1995b), Gerhardt (2002). 9 Auf Simmel bezogen siehe u. a. Orth (1991), Köhnke (1996), Geßner (1996), Krech (1998). 6

Vorwort

XIII

seiner eigenen Quellen (Goethe, Kant) vergewissert, führte umgehend und dringlich zu zwei methodischen Konsequenzen. Zum einen änderte und verschärfte sie den Blick für Cassirers extensive Inanspruchnahme des Lebensbegriffs bzw. für das intensive Ringen um das Problem des Lebens in den veröffentlichten Schriften wie dem III. Teil des Hauptwerkes Philosophie der symbolischen Formen (1927–29), dem IV. Band des Erkenntnisproblems (1940, 1950) oder den Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942). Auch die Auswertung des 1999 veröffentlichten Nachlaßtextes Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, der ebenfalls gegen 1940 fertiggestellt worden war, bestätigte die guten Gründe für den geschärften Blick. Zum anderen hatten die ersten Untersuchungsschritte die Notwendigkeit offensichtlich werden lassen, den Rahmen der Recherche auf die vor 1928 verfaßten Schriften auszuweiten und nach Linien von Kontinuität und Bruch in der Thematisierung der Lebensproblematik sowohl in den beiden ersten Teilen der Philosophie der symbolischen Formen (1923, 1925) als auch im früheren philosophischen Werk zu suchen. Bald wurde klar, daß sich die Recherche nicht auf die ›geistesgeschichtlichen‹ Schriften Freiheit und Form (1916) und Kants Leben und Lehre (1918) beschränken konnte, sondern zur Aufklärung des Lebensbegriffs im philosophischen Werk Cassirer selbst die ›scientifischen‹ ersten Bände zur Geschichte des Erkenntnisproblems (1906/07) und das Leibnizbuch (1902) heranzuziehen waren. Im Resultat der sich ausweitenden Studie wurden die relevanten Schriften, Artikel und derzeit veröffentlichten Nachlaßmanuskripte Cassirers von Leibniz’ System (1902) bis zum Mythus des Staates (1945) auf seine Thematisierung des vielgestaltigen Lebensproblems und seine Haltung zu den Vertretern der modernen Lebensphilosophie bzw. der zeitgenössischen Philosophie überhaupt hin ausgewertet und daraus ein Textkörper erstellt, der konkret Auskunft darüber gibt, bei welchen Anlässen Cassirer zu welchen Aspekten des Lebensthemas Stellung bezieht. Aus dem Grunde kommt er ausführlich selbst zu Wort; außerdem mußten die Anlässe der Stellungnahmen erläutert werden. Struktur (Darstellungsform) und Belegfülle des Textkörpers sollen eine wohl fundierte Verallgemeinerung der Aussagen Cassirers zum Lebensproblem ermöglichen. Bei der Vorbereitung und Herstellung der nunmehr der wissenschaftlichen Öffentlichkeit überantworteten Schrift habe ich umfangreiche Unterstützung erfahren, für die ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Mein Dank gilt insbesondere der DFG, die sowohl die mehrjährige Recherchearbeit als auch die Drucklegung ihrer Resultate großzügig finanziell gefördert hat. Zu danken habe ich zudem vielen in der Cas-

XIV

Vorwort

sirerforschung exponierten Kollegen, die das ganze Unternehmen mit Interesse und Ermunterung befördert haben, stellvertretend seien Enno Rudolph (Zürich), Ernst Wolfgang Orth (Trier), Birgit Recki (Hamburg), Oswald Schwemmer (Berlin) und Massimo Ferrari (L’Aquila) genannt. Wertvolle Hilfe habe ich von Kollegen und Studierenden des Instituts für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin erfahren: Volker Gerhardt, dem die umsichtige Leitung des Forschungsprojektes oblag, verdanke ich nicht nur entscheidende Anregungen bei der philosophischen Durchdringung des Zusammenhanges von Vernunft und Leben, sondern auch kollegialen Rückhalt in allen Phasen der Arbeit. Außerdem bot er mir mehrfach die Gelegenheit, Zwischenergebnisse der Recherche am Institut zur Diskussion stellen zu können. John M. Krois stand mir jederzeit bereitwillig als kritischer Gesprächspartner zur Verfügung, wenn es galt, eigene Arbeitsergebnisse mit den bisherigen Positionen abzugleichen. Steffi Schadow und Christian Vogel haben mir durch ein gründliches Korrekturlesen des Manuskriptes einen großen Dienst erwiesen. Der Felix Meiner Verlag (Hamburg) wiederum hat, in der Person von Marion Lauschke, das Projekt von Anfang an mit Interesse begleitet und mich dann in allen Angelegenheiten der Drucklegung des Manuskriptes hilfreich beraten und betreut. Marcel Simon-Gadhof hat umsichtig und engagiert die Herstellung des Buches betrieben. Und schließlich hätte ich das nunmehr vorliegende Buch und die ihm vorangegangene mehrjährige Forschungsarbeit ohne die Rücksichtnahme und den Zuspruch meiner Familie nicht erfolgreich zum Abschluß bringen können.

Berlin-Friedrichshain, im September 2004

Einleitung

1 Philosophischer Lebensbegriff und Lebensphilosophie Vom Leben ist in philosophischen Texten in mehrfacher Bedeutung die Rede, es ist als Motiv aus ihnen ebensowenig wegzudenken wie die Begriffe Logos, Vernunft oder Geist. Wir finden den Begriff – oder besser die Begriffe – des Lebens in ethischen, sozialphilosophischen, politischen, erkenntnistheoretischen, anthropologischen und kulturphilosophischen Abhandlungen, und dies bereits seit der griechischen Antike. 1 Begriffe wie Leben, Lebensordnung, Lebenswelt etc. können folglich aus rein sachlichen Gründen gar nicht ausschließlich der sich auf sie berufenden philosophischen Richtung überlassen werden, kommt ihnen doch in den vielfältigsten Systemen und Theorien eine wichtige Funktion zu. Außerdem muß zumindest erwähnt werden, daß das Leben auch für die Naturwissenschaften einen wichtigen Forschungsgegenstand darstellt, wovon u. a. die Life Sciences künden. 2 Da hier keine theoretisch-systematische Abhandlung über den Lebensbegriff beabsichtigt ist, müssen und können einige wenige Überlegungen und Andeutungen als Einführung in die eigentliche Untersuchung hinreichen. Auf den Begriff des Lebens stoßen wir in philosophischen Systemen in mehreren Bedeutungen oder Zusammenhängen, die in der nachfolgend dokumentierten Recherche zum Lebensbegriff im Werk Cassirers noch weiter aufgeschlüsselt werden. 1. Der Terminus wird im Sinne des biologisch Lebendigen (biologische Lebensformen), das vom toten, mechanischen Aggregatzustand unterschieden wird, gebraucht. 2. Leben steht aber auch für das Vitale, Organische, Körperliche, das die psychische und geistige Tätigkeit des Menschen trägt. In abgewandelter Form meint der Lebensbegriff Lebensbezug, Lebenspraxis und Lebensbedeutsamkeit der Vernunft, der Erkenntnis. 3. Er hat weiter die Bedeu-

1

Siehe den Artikel »Leben«, in: Ritter (1980, Bd. 5: 52-97). Unter diesem Sammelbegriff erforschen z. B. Chemiker die molekularen Grundlagen des Lebens, wobei sich die Ergebnisse in neuen Pharmaka niederschlagen. Für die moderne Wissenschaft ist es allerdings immer schwierig, eine »allgemein gültige Defi nition von Leben« im biologischen Sinne zu geben. – Gee (1999: 43). 2

Einleitung

3

de Beziehung von praktischem Leben und vernünftiger Vermittlung, von Verwurzelung der Vernunft im Leben (Lebensfundament) und Lebensbedeutsamkeit der Vernunft. 8 Auch könne bei Kant keine Rede von einer Idealisierung des Vernunftvermögens sein, da seine »Dialektik« eine genauere Kritik ihrer Grenzen und Gefahren enthält als viele spätere Warnungen vor ihren Abstraktionen. 9 Dennoch findet sich das spätere lebensphilosophische Motiv, die Fülle des psychischen Lebens der Einseitigkeit bloßer Verstandesschlüsse entgegen zu halten, bereits im Idealismus der Deutschen Klassik, wenn auch nicht als unüberwindbarer Gegensatz. So klingt bei W. v. Humboldt, der im Grunde auf die Harmonie von Kopf und Herz abzielt, ein solches Motiv an, wenn er der »bloß kalten Idee des Verstandes« das »warme Gefühl des Herzens« gegenüberstellt. 10 Dem »kalten und darum [...] allemal unfeinen Verstand« stünden die »süßesten Gefühle« gegenüber, wobei das »Medium des Gefühls« es uns aber ermöglicht, dem »unbedingt gebietenden Gesetz« der Vernunft auf eine »menschliche Weise« zu gehorchen. 11 Hier treffen wir auf die Tatsache, daß die Romantik am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert viele Themen der späteren Lebensphilosophie bereits artikuliert. Hegel, in jungen Jahren dem romantischen Lebensbegriff durchaus zugeneigt, polemisiert in seiner späten Rechtsphilosophie (1821) heftig gegen romantisch-lebensphilosophische Positionen in der Philosophie seiner Zeit. So übt er Kritik an einer Philosophie, die das Wort Leben im Munde führt und dabei den »Haß gegen das Gesetz« der Vernunft predigt, d. h. Sache, Gesetz und Vernunft dem Gefühl opfert. 12 Ungeachtet dieser Kritik stellt Cassirer 1930, anläßlich seiner Analyse der Philosophie der Gegenwart, anerkennend und Hegel in Schutz nehmend fest, dieser habe die »Rechte des Lebens« mitnichten seiner panlogistischen Tendenz geopfert, sondern einen »neuen, systematisch im höchsten Sinne fruchtbaren Begriff des [geistigen – C. M.] Lebens geprägt«. 13 Immer dann, wenn man das Leben, das komplementär zur Vernunft fungiert oder die Existenzform des Geistes ausmacht, jedoch vor allem als einen Gegenbegriff zur reflexiven, vermittelnden, logischen Vernunft deutete, wurde beiden Begriffen, dem vorlogischen Leben und dem

8 9 10 11 12 13

Ebd., 129, 135, 143, 185, 204, 245, 268. Ebd., 191. Humboldt (1985: 121). Ebd., 143. Hegel (1981: 21 f.). GL: 53; ECW 17: 201 f.

4

Einleitung

logischen Denken, Unrecht getan. Dieser aus dem Zusammenprall von Aufklärung und Romantik14 neuen Schwung erhaltende Gegensatz erfährt gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine weitere Steigerung, als der Begriff des Lebens in einer besonderen Richtung der Philosophie, aber auch der Dichtung und der Kunst als zentraler Begriff (unmittelbares Leben, Erleben, Intuition) auftritt, der analytischem Denken, rechnerischer Vernunft und abstrahierendem Geist antinomisch entgegengestellt oder übergeordnet wird. Dennoch ist auf die methodische Unterscheidung zwischen der Lebensphilosophie als einer philosophischen Hauptströmung Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts und der Funktion des Lebensbegriffs in den verschiedensten philosophischen Systemen der Philosophiegeschichte Wert zu legen, auch wenn der Lebensbegriff dank der Lebensphilosophie im »allgemeinen Zeitbewußtsein um 1900 zum Schlüsselbegriff und Zentralbegriff der Epoche wurde«. 15 Der Weg zum Bewußtsein eines antinomischen Gegensatzes zwischen Leben und Denken war allerdings keine alternativlose Entwicklung. In Philosophie und Geisteswissenschaften war und ist immer auch das Verständnis präsent, Leben und Vernunft als sich einander voraussetzende oder als korrelierende Bestimmungen zu nehmen und auszulegen. 16 Die philosophischen Überlegungen zum Verhältnis der Begriffe Leben und Vernunft (Geist) bewegen sich letztlich um zwei grundsätzliche Positionen. Die eine faßt das Leben nicht als einen antinomischen Gegensatz zur Vernunft, sondern beides als eine lebendige Einheit auf, da die Vernunft bei aller Selbständigkeit im Leben gründet, seiner bedarf und ihm dient. In diesem ergänzenden, bedingenden Sinne finden sich beide Begriffe in vielen wichtigen philosophischen Systemen. Für die andere Position gelten Leben und Vernunft (Verstand/ Geist) als zwei gegensätzliche, sachlich und logisch einander ausschließende Begriffe (Gehalte/Bestimmungen), von denen einer den anderen beeinträchtigt, ausschließt und, im schlimmsten Falle, zerstört. Die Behauptung einer solchen bloßen Antinomie findet sich sowohl bei einigen radikalen Lebensphilosophen (Klages) als auch bei manchen Vertretern 14

Schon zur Zeit der Romantik bzw. in ihrer Tradition rechnen sich einige Denker (Jacobi, Carlyle) der Philosophie des Lebens zu. »Von deutschen romantischen Autoren [...] entlehnte Carlyle den Terminus Lebensphilosophie«. – MS: 257. 15 Ritter (1980, Bd. 5: 89). 16 So vertritt Lévi-Strauss, Ethnologe und Erforscher des mythischen Denkens, die Auffassung, daß zwischen Denkvorgängen und dem »Grundphänomen des Lebens«, »zwischen Leben und Denken nicht jene absolute Kluft besteht, die der philosophische Dualismus des 17. Jahrhunderts als gegeben hinstellte.« Vielmehr unterscheide sich das, »was in unserem Denken vorgeht«, nicht fundamental vom »Grundphänomen des Lebens«. – Lévi-Strauss (1996: 36 f.).

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der rationalistischen Philosophie. Allem Anschein nach sind aber die Alternativen Leben oder Geist, Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit, Gefühl oder Verstand, Fluß/Werden oder Erstarrung/Gewordenes etc. lediglich Scheinalternativen. Weder die radikale Lebensphilosophie noch der radikale Rationalismus bieten eine überzeugende Erklärung der jeweiligen Ausschließlichkeit ihrer Bestimmungen. Selbst die Lebensphilosophie ist auf einen das Logische und Begriffliche ausschließenden Lebensbegriff nicht zu reduzieren. Dennoch wurde sie insbesondere seit den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts recht pauschal als geist- und vernunftfeindlich, irrationalistisch und präfaschistisch abgetan und kaum als eine ernsthafte und produktive philosophische Strömung wahrgenommen (Lukács). Interessanterweise stimmte Cassirer trotz aller vorgebrachter Kritik niemals in diesen Chor der Verächter ein,17 was nach 1945 zunächst nicht wirklich wahrgenommen wurde. Den Schwierigkeiten im Umgang mit den in der Regel politisch äußerst konservativen Philosophen des Lebens sind aber durchaus bedenkliche Verstrickungen der modernen Lebensphilosophie in antiliberale und antihumane Weltanschauungen bzw. politische Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg vorhergegangen, die sie als Strömung ebenso wie den Lebensbegriff nachhaltig diskreditiert haben. Trotzdem bleibt die Reduktion ihrer vernunft- und kulturkritischen Stoßrichtung auf eine objektiv bewirkte Zerstörung von Rationalität und Humanität und die Verkürzung des Lebensbegriffs auf den irrationalistischen Gegenbegriff zu rationalem Denken, begreifendem Geist und allgemeiner Vernunft unsachgemäß und unzutreffend, auch wenn dies längere Zeit ihr ›Schicksal‹ in der philosophischen Wahrnehmung und Rezeption geprägt hat. 18 Es ist dieses Rezeptionsschicksal, das auf den ersten Blick Cassirers ›Flirt‹ mit der Lebensphilosophie und dem Begriff des Lebens so außergewöhnlich und verwunderlich erscheinen läßt. Die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eine besondere Richtung formierenden Philosophen des Lebens wie Nietzsche, Bergson, Dilthey, Simmel, Klages oder Spengler, die niemals eine einheitliche Schule oder Richtung bildeten, fragen nicht mehr nur »nach Sinn, Wert und Zweck des Lebens«, sondern arbeiten an dem Versuch, das Leben zum Zentral17

Noch im letzten Lebensjahr polemisiert er gegen in den USA verbreitete Auffassungen, Hegel, Carlyle und Spengler der nationalsozialistischen Weltanschauung zuzuschreiben oder sie für sie mitverantwortlich zu machen. – MS: 248 f., 281 f., 289 f., 301, 322 f., 348, 356, 359 f., 381 f., 383 f. 18 Diese Deutung fi ndet sich im Grunde auch noch in G. Pflugs Artikel »Lebensphilosophie« im renommierten Historischen Wörterbuch der Philosophie. – Ritter (1980, Bd. 5: 139 f.).

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begriff eines Philosophierens zu machen, das sich zwar der rationalen Denksprache bedient, im Leben selbst aber entweder nur die Grundschicht des Denkens sieht oder gar die gegen das Denken opponierende Wissensform des Erlebnisses. 19 Aufmerksamkeit erregte diese Weise des Philosophierens bald, von vielen wird sie begrüßt. Scheler, der 1913 Klarheit über Anspruch und Bedeutung der ihn beeindruckenden Philosophie des Lebens sucht, sieht sie, indem sie den Gegensatz des unmittelbar »gelebten Lebens« gegen alle anderen Weisen von Seiendem betont und zum Ausgangspunkt macht, die gewaltige Aufgabe der »Umbildung der europäischen Weltanschauung« in Angriff nehmen. 20 An eine in diesem Geiste vollzogene Umbildung der Weltanschauung knüpft er sehr hochgesteckte kulturphilosophische oder weltanschauliche Erwartungen, werde sie doch »sein wie der erste Tritt eines jahrelang in einem dunklen Gefängnis Hausenden in einen blühenden Garten«. 21 Obwohl sich eine Reihe gemeinsamer Motive der um das Leben kreisenden Philosophien ausmachen lassen, die zum Teil auch schon bei Goethe aufscheinen, 22 bedeutet der Begriff des Lebens nahezu für jeden namhaften Vertreter der lebensphilosophischen Strömung etwas anderes, wird er z.T. an einem anderen Gegenbegriff entwickelt. So ist Schopenhauers Wille mit dem Intellekt (der Vorstellung) seinem Wesen nach inkommensurabel, Nietzsche versteht den ›Willen zur Macht‹ als einen Willen zum Leben, zur Lebenssteigerung, Bergson propagiert neben dem Begriff der Lebensschwungkraft (élan vital) den Terminus einer Intuition des Lebens als selbständiger Wissensform neben dem Intellekt, Dilthey gelangt zur geschichtlichen Welt von der Deutung des Lebens, der psycho-physischen Lebenseinheit aus, Simmels Selbsttranszendenz des Lebens realisiert sich als Streben sowohl nach Mehr-Leben als auch nach Mehr-als-Leben, Scheler sieht wirkmächtiges, orientierungsloses psychisches Leben und machtlosen leitenden Geist sich gegenseitig bedürfen, Spengler läßt die Hochkulturen einen organischen Lebenszyklus durchschreiten, und bei Klages treten die Begriffe Seele bzw. Leben und Geist für immer auseinander, wenn der Mensch die mythisch-magische Lebensweise verläßt. Der Begriff des Lebens, der in dieser neuen, durch die Philosophen des Lebens geprägten Konstellation die Ausformung bestimmter Bedeutungsnuancen erfährt und seinen Platz (Funktion) im kategorialen Appa-

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Schmidt (1934: 364). Scheler (1972a, GW 3: 339). Ebd. Möckel (2003a, 25 ff.).

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rat der Philosophie des 20. Jahrhunderts erhält, wird vom rezipierenden philosophischen Bewußtsein zunehmend einseitig in der ›Frontstellung‹ zum Titel einer allgemeinen Vernunft oder als Alternativbegriff zu einer reduktionistischen Auffassung vom Menschen als rationalem, begrifflich sich zur Welt verhaltenden, abstrahierenden Wesen wahrgenommen. In der Folge erleidet er in der philosophischen und weltanschaulichen Diskussion das Schicksal eines »Kampfbegriffes«, das noch lange auf ihm lasten wird. 23 Auch konstatiert der der Lebensphilosophie zugetane Frischeisen-Köhler bereits 1921, daß sich »die streng wissenschaftliche Philosophie« gegenüber der von Dilthey, Eucken, Nietzsche und Simmel repräsentierten Richtung »bisher wesentlich ablehnend verhalten« hat, wobei insbesondere die Neukantianer eine »schroff abweisende Haltung eingenommen« hätten. 24 Doch es gab selbst in den 20er und 30er Jahren durchaus ausgewogene und differenzierte Stimmen hinsichtlich des Lebensbegriffs und der sich auf ihn beziehenden Philosophen. So lehnt Rickert in seinem 1920 publizierten Buch die Lebensphilosophie zwar aus erkenntnistheoretischen Gründen – Philosophie ist für ihn grundsätzlich Begriffsphilosophie und nicht unmittelbare Intuition – ab und sieht in ihr eine bloße ›Modeströmung‹. 25 In seiner kritisch-würdigenden Besprechung widerspricht Frischeisen-Köhler der allgemeinen These Rickerts, wonach die namhaftesten Vertreter der Lebensphilosophie beim »Philosophieren über das Leben allein mit dem Leben auskommen« wollten. 26 Rickerts Buch enthält jedoch auch das Bekenntnis zu einem noch zu erarbeitenden Begriff des Lebens, was dann in seinem Alterswerk immer wichtiger werden wird. 27 Ebenso wie Rickert hält Th. Litt die Lebensphilosophie für eine durchaus berechtigte Reaktion gegen bestimmte Einseitigkeiten »sowohl der psychologistischen als auch der logizistischen Theorien«. 28 Außerdem seien der »eigentümlichen Wirkungskraft« der Lebensmotive sogar Denker wie Natorp erlegen, »denen ihre Systematik eigentlich diese Wendung verbieten mußte«. 29

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Gerhardt (1995b: 591). Frischeisen-Köhler (1921: 112 f.). 25 Rickert (1922: 36, 46, 70). 26 Frischeisen-Köhler (1921: 120). 27 Müsse doch das Leben »in seinem Reichtum und in seiner unerschöpfl ichen Lebendigkeit« Ausgangs- und Endpunkt des Philosophierens sein. – Rickert (1921: 181); siehe dazu auch Fulda (1999). 28 Litt (1927: 33 f.). 29 Ebd., 35. Da die Lebensphilosophie den Gegensatz von psychologistischen und logizistischen Positionen nicht zur Synthese bringen, sondern überschreiten und auf24

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Ähnlich wie Rickert führt auch Hönigswald (1931) eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des unmittelbaren Lebens bzw. Erlebens innerhalb der Erkenntnistheorie, insbesondere vermißt er eine methodische Begründung des von den Lebensphilosophen behaupteten Rechtes der Subjektivität. 30 Außerdem weist er sowohl auf die Unhaltbarkeit einer bloßen Gegenüberstellung von Erleben und Denken als auch auf das Problematische hin, den Begriff des Erlebens gegen das Begriffliche auszuspielen. 31 Trotzdem könne eine Philosophie des Lebens durchaus legitim sein, allerdings nicht als eine Wissenschaft. 32 Hönigswald ist zudem um eine sachliche Bestimmung der für eine wissenschaftliche Erkenntnistheorie wichtigen Begriffe Leben, Erleben, Organismus etc. bemüht. 33 Mit seinen Untersuchungen zum Verhältnis von Lebensphilosophie (Dilthey) und Phänomenologie (Husserl) steht Misch für eine Rezeption, die Bedeutung und Möglichkeiten des Lebensbegriffs in seiner Weiterentwicklung gerecht zu werden und auszuschöpfen sucht. 34 Nachdem Scheler Ende der 20er Jahre lebensphilosophische Positionen heranzieht, um eine philosophische Anthropologie zu entwerfen, bemüht sich der ihn rezipierende Plessner in den 20er und 30er Jahren um eine kritische Würdigung der Leistungen der Lebensphilosophen und legt eine eigene produktive Theorie des Lebens vor. Er spricht den Gedanken aus, daß sich die neue philosophische Disziplin der Anthropologie als eine Wendung von der Lebensphilosophie her formiert, weshalb Denker wie Dilthey und Misch für sie wichtige Vorläufer seien. 35 Ohne das Ambivalente der Lebensphilosophie, ihren vernunft- und kulturkritischen Duktus zu teilen, 36 hält er sie, ähnlich wie auch Cassirer, noch in seinem heben wollte, sieht auch Litt sie letztlich sachlich gescheitert, weil »noch teilweise in der Antithetik verfangen«. – Ebd., 41. 30 Hönigswald (1997: 200). 31 Ebd., 7. »[...] man verachtet den ›Begriff‹, man stürzt sich in den Abgrund ›schauender‹ Intuition oder entschwindet in den wolkigen Höhen eines allen Trivialitäten der Arbeit entrückten Ahnens – alles im Vertrauen auf den wissenschaftlich unverbildeten Kern des ›Menschen‹. Indessen, die Forschung in der Philosophie hat keinen Grund, an sich irre zu werden.« – Ebd., 201. 32 Ebd., 12. 33 Ebd., 104 ff., 128, 132 ff. So sei z. B. die Wissenschaft von der Sprache, die Grammatik, zwar nie mit dem Leben identisch, werde sich aber immer »an dem ›Leben‹ [...] messen« müssen. – Ebd., 150. 34 Misch (1931). 35 Plessner (1975: 3-37). Philosophische Anthropologie ist für ihn die Wissenschaft vom Leben, der es um »Operationsgesetze des Lebens«, um eine »Korrelationsstufentheorie von Lebensform und Lebenssphäre [geht], die den pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebenstyp umfaßt«. – Ebd., IV. 36 »Mit dem Rückschlag gegen den Fortschrittsoptimismus, mit der Zivili sations-

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Beitrag »Deutsches Philosophieren in der Epoche der Weltkriege« (1938) für die wichtigste Strömung der Zwischenkriegszeit. Ihre große Wirkung sei nicht zuletzt durch die »nihilistische Stimmung der bürgerlichen Nachkriegsjugend« möglich geworden. 37 Wie Simmel deutet Plessner den Begriff des Lebens als den Kulminationspunkt der philosophischen Terminologie im 20. Jahrhundert. Der Lebensbegriff habe den ehemaligen Zentralbegriff der zeitlosen und allgemeinverbindlichen Vernunft abgelöst und ziele auf das dämonisch Spielende, unbewußt Schöpferische. Er selbst teilt offenbar die Einsicht von Jaspers, wonach Vernunft ohne Existenz gehaltlos ist, Existenz ohne Vernunft aber dumpfer Trotz. 38 Obwohl der erfahrungsfeindliche Intuitionismus Bergsons keine anthropologische Theorie zu stützen vermag, würdigt Plessner das »befreite Gefühl, das die Lebensphilosophie eines Bergson trägt«. 39 Unter dem Aspekt der Geisteswissenschaften (Dilthey) sei mittlerweile eine »neue Lebensphilosophie« entstanden, die als nichtintuitionistische der Erfahrung nicht mehr feindlich gegenübersteht, sondern als »Philosophie der menschlichen Existenz« fungiere. 40 Der in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg dominierenden, »von Skepsis angefressenen Lebensphilosophie« bescheinigt Plessner durchaus philosophische Leistungen. So nennt er 1938 Heideggers von der Lebensphilosophie beeinflußte existentialistische Daseinsanalyse in Sein und Zeit zwar eine »präfaschistische Philosophie, listenreich, böse und kühn«, gesteht ihr aber trotzdem zu, daß mit ihr »ein neuer Entwurf des In der Welt-Seins aus einem Guß gelang«. 41 Und auch die nach 1918 zunehmend »geistfeindliche Antwort einer bestimmten Art Lebens- und Existenzphilosophie«, die bei Klages z. B. den »lebensverbundenen und der Lebenssteigerung dienenden Prozeß« (Nietzsche, Simmel) abgelöst habe, muß deshalb nicht ohne jegliche Einsichten sein. 42 Obwohl Klages auf verhängnisvolle Weise eine »prälogisch-prähistorische Urtümlichkeit« verteidigt, die vor und über aller Vernunft stehe, täte man ihm »Unrecht, wenn man sein Werk mit der faschistischen Modeströmung [Rosenberg – C. M.] in Verbindung bringen wollte«. 43

müdigkeit, mit der Verzweiflung am schöpferischen Sinn des Sozialismus« kam bald der »große Augenblick für die Ideologie des Lebens«. – Ebd., 3. 37 Plessner (1953a, 21 f.). 38 Ebd., 18. 39 Ebd., 15. 40 Plessner (1975: 14). 41 Plessner (1953a: 22). 42 Ebd., 24. 43 In prophetischen Worten formuliert Plessner 1938 die Erwartung: »Unter dem

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Trotz solcher zeitgenössischen Stimmen von Kritikern, die Lebensphilosophie als theoretisches Gebilde ernst zu nehmen und ihr – bei aller Vernunft- und Kulturfeindlichkeit, bei all ihrem unakademischen Charakter – realen philosophischen Sachverstand zuzugestehen, sollte sich in Wahrnehmung und Rezeption der Lebensphilosophie nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst eine Lesart durchsetzen, wie sie das von Lukács in den 30er Jahren verfaßte Buch Die Zerstörung der Vernunft (2. Aufl. 1955) mit seiner durchgängigen weltanschaulichen Kritik und Verdammung enthält. 44 In ihr wird großes Augenmerk darauf gelegt, daß einige Vertreter der zeitgenössischen Lebensphilosophie (Spengler, Klages, Chamberlain, Heidegger) in der Tat zeitweilig in eine persönliche oder weltanschauliche Nähe zum Nationalsozialismus gelangten bzw. sie gesucht haben, daß einige Nazigrößen ihre Schriften geschätzt haben und daß sich die faschistische Ideologie und Philosophie auf lebensphilosophische Begriffe, Argumente und Erklärungen (Goethe, Nietzsche) – mit Recht oder zu Unrecht – berufen hat. Diese Verstrickungen werden teilweise dem Begriff des Lebens selbst angelastet. Die verständlichen Gründe der im geteilten Nachkriegsdeutschland lange Zeit überwiegend negativ besetzten Rezeption sollen hier nicht diskutiert oder gar bestritten werden. Indem sich stellvertretend in der Lebensphilosophie am Ende des 19. Jahrhunderts das vom Glauben an die Vernunft, die Naturwissenschaften und den sozialen wie technischen Fortschritt geprägte 19. Jahrhundert auf die dabei verlorengegangene Ganzheitlichkeit, auf das vergessene oder verdrängte irrationale Gefühl, auf das Individuelle und Singulare, auf das Tragische und Schicksalhafte besann, wurde neben der durchaus berechtigten Kritik an Einseitigkeiten der rationalistischen und positivistischen Philosophie bzw. Vernunftkultur sehr wohl auch eine gehörige Portion Krisisbewußtsein, Kulturkritik, Pessimismus und Nihilismus zum Ausdruck gebracht. 45 In der Folge, insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg, sollte sich die Lebensphilosophie deshalb in der Tat teilweise empfänglich für den grassierenden Antiliberalismus und Totalitarismus erweisen. Als eine Reak-

Eindruck, daß der Mensch die Eskapaden der Idee mit seinem Blut bezahlen muß, wird sich die Wiederentdeckung der Vernunft vollziehen.« – Ebd., 32. 44 Lukács, der philosophisch selbst von Simmel profitiert hatte, führt 1937 die Rickertsche Kritik an den Lebensphilosophen nicht nur weiter, sondern reduziert die zur »herrschenden Ideologie der ganzen imperialistischen Periode in Deutschland« (318) erhobene Lebensphilosophie auf einen Irrationalismus, der die deutsche Philosophie – unbewußt – in die nationalsozialistische Ideologie geführt und jegliche Verstandes- bzw. Vernunftphilosophie diskreditiert habe. – Lukács (1984: 329). 45 Siehe u. a. Löwith (1983, Bd. 2: 475-540).

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tion auf den empfundenen Verfall des bürgerlich-liberalen Kosmos bzw. auf die Enttäuschung der an ihm als dem Projekt der Moderne haftenden vielfältigen Erwartungen beförderte die von ihr in Philosophie und Geistesleben getragene Wendung die Suche nach einem geordneten Dasein jenseits dieses Kosmos, was sie der Gefahr aussetzte, von antiliberalen Bewegungen vereinnahmt zu werden. 46 Das 20. Jahrhundert müsse, so eine in vielen Variationen formulierte Forderung, einen Neuen Menschen hervorbringen, oder zum ursprünglichen Menschentum zurückfinden. 47 Zunächst einmal sah man im 1914 entfachten Weltkrieg dafür das probate Mittel. 48 Nach dem Weltkrieg, der die europäische bürgerliche Kultur für immer zerstört zu haben schien, setzten manche Romantiker auf eine konservative Revolution. 49 In den 20er und 30er Jahren werden unter Anhängern der Lebensphilosophie rechtskonservative, demokratiefeindliche und antiaufklärerische Auffassungen vertreten, die teilweise der sich formierenden nationalsozialistischen Ideologie ähneln, die ihr auch das eine oder andere Argument in die Hand geben. Trotz dieser Entwicklung vermochten die vielfältigen Vertreter der lebensphilosophischen Richtung bis in die 20er und 30er Jahre wichtige Beiträge zu philosophischen Grund- oder Zeitfragen zu formulieren, auch wenn ihre gelegentlich drastischen, gegen die Würde des rationalen Denkens und der spätbürgerlichen Kultur gerichteten Thesen lange Zeit den Blick darauf versperrten. Dies wird insbesondere in der Rezeption der Lebensphilosophie seit Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts (dem Ende des Ost-West-Konfliktes?) deutlich. Es gibt nun wieder ein größeres Interesse an ihr, ein intensiveres Bemühen, ihren Denkern philosophisch gerecht zu werden, ohne ihre problematischen Positionen

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Damit wird ein kulturkritischer Impuls zu Ende geführt, der von Rousseau erstmals klar formuliert wurde und der seitdem zur geistigen europäischen Wirklichkeit gehört. In der Ablehnung der bürgerlich-liberalen Moderne als dekadenter und niedergehender Lebensform bestehen auch Berührungspunkte zwischen dem Nationalsozialismus/Faschismus und dem sowjetischen Kommunismus. 47 »Es geht um den Neuen Menschen, vielleicht die zentrale Obsession des zwanzigsten Jahrhunderts, eine Idee, die Scharlatane und Spinner, Künstler, Philosophen, Mediziner und Unternehmer begeistert hat, bevor sie zum unveräußerlichen Inventar totalitärer Ideologien gehörte. [...] Das Leitbild des Neuen Menschen [...] war gegen die Folgen der modernen Wirtschaft und eine instrumentelle Wissenschaft gerichtet. [...] Aus dem Gegenentwurf zur Moderne wurde ein Ideal ihrer Überbietung.« – Biesky (1999: 11). 48 Im November 1914 erhofft Simmel vom bereits drei Monate tobenden Krieg, der gefühlsmäßig für ihn »irgendwie einen anderen Sinn hat als Kriege sonst haben«, daß er endlich »die sonst vielleicht noch lange verschlossenen Tore aufgerissen« haben möge, die zum »neuen Menschen« führen. – Simmel (1999a, GA 16: 29). 49 Jünger (1982).

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oder Verirrungen zu verschweigen (z. B. ihren Antisemitismus). Dabei wird zunehmend nach möglichen Leistungen dieses Denkens für das heutige Philosophieren bzw. philosophische Selbstverständnis gefragt. Es erscheinen Publikationen systematischen Charakters, die den Begriff des Lebens als wichtige philosophische Kategorie behandeln und lebensphilosophische Ansätze kritisch befragen. 50 Nicht zu übersehen ist auch die umfangreiche Forschungs- und Rezeptionsliteratur zu Nietzsche, Dilthey, Simmel, Heidegger oder Scheler, in der die Philosophie bzw. der Begriff des Lebens eine große Rolle spielt. 51 Mit seiner Studie zur Theorie der Selbsterfahrung hat Fellmann, für den »in der Lebensphilosophie ein geistiges Potential steckt, das noch nicht ausgeschöpft ist«, 52 einer vorurteilsfreien und offenen Befragung der Lebensphilosophen einen entscheidenden Impuls verliehen. Dies hat u. a. die These möglich gemacht, wonach die frühe Lebensphilosophie (Dilthey, Simmel) wichtige philosophische Herausforderungen formulierte, zu deren Lösung sie dann von Denkern wie Scheler, Heidegger, Husserl oder Wittgenstein tiefgehend transformiert und somit weiterentwickelt wird. 53 Bei den Lebensphilosophen findet Fellmann unverzichtbare Ansätze für eine moderne Theorie der Selbsterfahrung, die andere philosophische Systeme nicht bereitzustellen vermochten. 54 Im Ganzen harrt die Frage, was die weit differierenden Lebensbegriffe dieser wichtigen Grundströmung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für das philosophische Problembewußtsein im Einzelnen letztlich leisten, trotz aller zeitgenössischen und derzeitigen Untersuchungen noch ihrer begründeten endgültigen Antwort. Das Fragen nach möglichen Leistungen dieser Begriffe für das heutige Philosophieren bzw. philosophische Selbstverständnis schließt allerdings auch die Perspektive ein, gelegentlich zu einem negativen Resultat zu gelangen. Ein systematisch und wirkungsgeschichtlich interessiertes Nachdenken über den Begriff vom Leben führt u. a. auf seine kritische Funktion für eine jede Philosophie bzw. Theorie der Vernunft. Er kann zur Thematisierung eines übersteigerten oder ›bodenlosen‹ Verfahrens der Vernunft, einer Vorstellung vom Menschen als einem reinen Vernunftwesen dienen, das sich von seinem subjektiven, anschaulichen Erfahrungsboden

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Siehe u. a. Ebrecht (1991); Albert (1995); Fellmann (1993); Pothast (1998); Gerhardt (1999, 2002); Albert/Jain (2000). 51 Siehe z. B. Großheim (1991, 1994). 52 Fellmann (1993: 31). 53 Ebd., 217. 54 Ebd., 19.

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losgelöst hat. Vorarbeiten in diesem Sinne haben u. a. Rickert, 55 Husserl 56 und Fellmann 57 geleistet. Außerdem ist das methodische Potential des Lebensbegriffs für die Beschreibung ambivalenter Züge von Kultur bzw. Kulturprozessen weiter auszuloten und zu bestimmen. Vor allem aber ist dem Leben in einer modernen Theorie der Vernunft sein legitimer Platz, seine notwendige Funktion noch nachdrücklicher als bisher geschehen einzuräumen. Der dafür von der modernen Philosophie zu entwickelnde »Begriff von Rationalität [...], der den Willen zum Leben in das Denken hineinnimmt«, 58 hat u. a. in der bereits erwähnten These Gerhardts über die Doppelbindung von Vernunft und Leben am Beispiel der Philosophie Kants Gestalt angenommen. Hatte Kant doch entdeckt, »daß die Vernunft an ihre begrifflichen Opponenten, an Natur, Gefühl und Anschauung gebunden ist«. 59 Bei dieser notwendigen philosophischen Arbeit sind auch die Lebensbegriffe der Vertreter der historischen Lebensphilosophie zu befragen. Gilt doch selbst für ihre ideologischen Vertreter wie Klages oder Lessing: »Betrachtet man daraufhin die Schriften der Lebensphilosophen, [...] so stellt man mit Erstaunen fest, daß sie keineswegs so eindimensional und undialektisch argumentieren, wie es aus den populären Schlagwörtern wie Rasse, Blut und Boden zu erwarten wäre«, vielmehr »finden sich bei den heute noch verpönten Autoren überraschende Einsichten in die Struktur des modernen Bewußtseins«. 60 Und selbst ein lebensphilosophisch inspirierter Denker wie Ortega y Gasset fordert, »die reine Vernunft auf die lebendige Vernunft zurückzuführen« bzw. »die beiden Worte Vernunft und lebendig zusammenzudenken«. 61

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Rickert (1921: 175 ff.). So mit dem in der Spätphilosophie anhand der Theorie der alltäglichen Lebenswelterfahrung unternommenen Versuch, der entwurzelten, bodenlosen Vernunft mit ihren freischwebenden Idealisierungen wieder einen Geltungsboden zu eröffnen. – Husserl (1976, Hua VI). 57 Fellmann weist zu Recht darauf hin, daß »gegenüber dem weltanschaulichen Idealismus [...] die Stärke der Lebensphilosophie darin [liegt], daß sie an der erlebten Vernünftigkeit die Grenzen der abstrakten Vernunftbegriffe aufzeigt.« – Fellmann (1993: 249). 58 Ebd., 71. 59 Gerhardt (2002: 8, 20). Für Gerhardt hat die vom Lebenswillen getragene Vernunft, »so unbedingt sie sich in ihren eigenen Einsichten auch präsentiert, [...] ihren Grund im Leben«, hat in ihm eine »gleichermaßen äußere und innere Kondition ihrer Tätigkeit«. Die Vernunft des Menschen müsse »in allen ihren Funktionen selbst als Teil des Lebenszusammenhanges begriffen werden«. – Ebd., 128, 133, 145. 60 Fellmann (1993: 143). 61 Ortega y Gasset (1987: 180 Anm.). 56

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2 Ernst Cassirer, der Lebensbegriff und die Lebensphilosophie Vor dem Hintergrund des ›Schicksals‹ der Lebensphilosophie und des Lebensbegriffs im 20. Jahrhundert ist es auf den ersten Blick schon erstaunlich, wenn der oft als Kantianer wahrgenommene Cassirer in den 20er Jahren die Lebensphilosophie als wichtigste Repräsentantin der modernen Philosophie auffaßt, sich intensiv und betont sachlich mit wichtigen lebensphilosophischen Theorien (z. B. der Erklärung der Zeit) befaßt und schließlich sogar bemüht ist, den eigenen Grundbegriff der symbolischen Form des Geistes mit Hilfe des Lebens bzw. der emotionalen Ausdrucksfunktion (physiognomische Wahrnehmung) zu vertiefen und nachhaltiger zu begründen. 62 Wir lesen in den unveröffentlicht gebliebenen Texten des Jahres 1928 mit einem gewissen Erstaunen von der »Urtatsache [...] des ›Lebens‹«, vom »Urphänomen des Lebens selbst«, das den Ausgangspunkt seiner Symbolphilosophie bilde, und von deren Aufgabe, »dieses Urphänomen in seinem Bestand u[nd] in seiner vollständigen Entfaltung« darzustellen. 63 Damit stellen sich eine Reihe von Fragen: warum hat Cassirer diese Hinwendung vollzogen, was bedeutet sie für das Konzept der Philosophie der symbolischen Formen, hat sie nicht eine Vorgeschichte im Werk, die bislang in der Rezeption einfach zu wenig Beachtung fand? 64 Gilt doch die Philosophie der symbolischen Formen noch heute vielen als eine philosophische Richtung in der Tradition rationalistischer und transzendentaler Vernunftphilosophie. Der Marburger Kantianismus (Cohen, Natorp, Hartmann), innerhalb dessen Schule Cassirer zunächst originell und eigenständig wirkt, 65 hat sich ursprünglich vor allem als logizistische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie hervorgetan. In diesem Sinne kann er als ein philosophischer Gegenpol zur Lebensphilosophie verstanden werden. Doch in Wirklichkeit ist der Neukantianismus »eine durchaus vielfältige und mit anderen philosophischen ›Strömungen‹ mannigfach verwobene Forschungsrichtung«, in der man gleichzeitig

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In dem an Verweisen reichen Artikel »Leben« im Historischen Wörterbuch der Philosophie fi ndet Cassirer unter den Denkern, die sich auf den Lebensbegriff stützen, keine Erwähnung, auch nicht im Abschnitt über den Neukantianismus, wo u. a. Rickert, Lask, Bauch und Natorp genannt sind. (Ritter [1980, Bd. 5: 92]) Allein im Abschnitt über den Lebensbegriff in der neuzeitigen Philosophie vor Kant fi ndet seine Schrift Die platonische Renaissance in England (1932) als eine sekundäre Quelle Eingang. – Ebd., 71. 63 ECN 1: 263. 64 Möckel (1998: 355-386). 65 Siehe dazu u. a. Ferrari (2002: 103 ff.); Renz (2002: 8 f., 72 ff.); Krois (2002).

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Schüler von Simmel und Cohen/Natorp sein kann. 66 So ist der Cohenund Natorpschüler Cassirer eben auch von Simmels Ideen über Leben und Form 67 und von Diltheys lebens- und kulturphilosophischen Ideen 68 beeindruckt. Zudem bleibt der ganze Marburger Kantianismus nicht von den Wandlungen im philosophischen Selbstverständnis der Zeit unberührt. Fordert doch Natorp seit 1912 zu einer »philosophischen Durchdringung des Lebens«, was zunächst das immanente »Leben des Bewußtseins« meint, auf, um das Leben der Kultur zu verstehen. 69 Diese sich bereits in der von Cassirer öfter zitierten Allgemeinen Psychologie (1912) niederschlagende Tendenz führt im Spätwerk (Philosophische Systematik, 1922/23) 70 zur Annahme einer Transzendenz des Lebens, das nun gegen die Kultur ausgespielt wird. 71 Die »Selbstberichtigungen und Umbildungen«, die dem Neukantianismus verbundene Denker wie Natorp, Cassirer, Hönigswald oder Rickert in den 20er Jahren vollziehen und sich dabei gelegentlich auch lebensphilosophischen Positionen sachlich annähern, haben bereits Zeitgenossen wie Th. Litt bemerkt und beschrieben. Nach ihm hat der dem »Kreise der von logizistischen Grundpositionen ausgegangenen Denker« zugehörige Cassirer mit seiner Philosophie der symbolischen Formen einen Weg beschritten, auf dem die »Alleinherrschaft logizistischer Prinzipien gebrochen wird«. 72 Während die aktuelle Cassirerforschung erst im Zusammenhang mit der Veröffentlichung sowohl der Nachlaßtexte »Zur Metaphysik der symbolischen Formen« (1928) 73 und »Über Basisphänomene« (1935/40) 74 als auch durch den Wiederabdruck des während der Davoser Hochschultage gehaltenen Vortrages über »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1929/30) 75 gezielt ihren Blick darauf richtete, daß Cassirer sich in den 20er Jahren dem Lebensbegriff und der Lebensphilosophie zuwendet, 76 hatten Zeitgenossen wie Litt dies schon 66

Orth (1993: 13). Möckel (1996: 31-43). 68 Möckel (2001a: 163-179). 69 Natorp (1912a: 219); Renz (2002: 64). 70 Natorp (1912b, 2000). 71 Renz (2002: 64 f.). 72 Litt (1927: 54 f.). 73 Hier wertet Cassirer insbesondere Simmels Lebensanschauung (1918), aber auch Schriften Bergsons, Klages’ und Spenglers aus. – ECN 1: 3-109. 74 Im Manuskript setzt sich Cassirer intensiv mit Bergson, Dilthey und Husserl, aber auch mit Scheler, Simmel, Lipps und Heidegger auseinander. – ECN 1: 123-195. 75 Der Vortrag ist vor allem Scheler gewidmet, aber geht auch auf Klages ein. – GL: 32-60; ECW 17: 185-205. 76 Vorarbeiten zum Lebensbegriff bei Cassirer fi nden sich u. a. bei Werle (1988), Orth (1993), Knoppe (1994) und Ferrari (1995). 67

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aus den zwischen 1923 und 1929 veröffentlichten drei Teilen der Philosophie der symbolischen Formen (PsF) herausgelesen. 77 Die 1929 im Vorwort zum Dritten Teil der PsF angesprochene und für später in Aussicht gestellte grundsätzliche Stellungnahme zur Philosophie der Gegenwart, d. h. zu Lebensphilosophie, Existenzphilosophie und philosophischer Anthropologie, 78 die 1928 in Grundzügen bereits entworfen war, hatte Cassirer mit dem 1929 in Davos gehaltenen Vortrag nur sehr rudimentär öffentlich gemacht. Die vorliegende Untersuchung hat sowohl die weitgehend übersehene Tatsache stichhaltig belegt, daß die veröffentlichten drei Teile der PsF eine solche Auseinandersetzung im Ansatz bereits enthalten, als auch das starke Interesse Cassirers für die vielgestaltige Problematik des Lebens schon in den frühen ›logizistischen‹ Schriften aufgezeigt, wovon bislang in der wissenschaftlichen Literatur so gut wie überhaupt nicht die Rede war. Damit konnten zwei verbreitete Annahmen als Fehldeutungen erwiesen und widerlegt werden. Das betrifft zum einen den falschen Schein, es gäbe einen frühen (1902–1913) rein ›logizistischen‹ bzw. szientifischen‹ Cassirer (siehe Kapitel I), dessen Hinwendung zu geisteswissenschaftlichen Fragestellungen erst nach 1914 und dann auch noch unabhängig vom kultur- und lebensphilosophischen Kontext der Zeit erfolgt (Kapitel II). Die erstaunlich frühe Bezugnahme auf den Begriff des Lebens resultiert nicht zuletzt aus der von Orth benannten Duplizität der Cassirerschen Grundmotive – des mathematischen Funktionalismus und des »lebendigen Zusammenhanges der konkreten Kulturverhältnisse«. 79 Zum anderen hat sich die Auffassung als falscher Schein erwiesen, Cassirer vollziehe erst 1928 in den abschließenden Arbeiten zum III. Teil der PsF, die unveröffentlicht bleiben, seine interessiert-kritische Hinwendung zum Lebensbegriff (Leben, Erleben, Subjektivität, Unmittelbarkeit, Ausdrucksphänomen) und zur modernen Lebensphilosophie (Kapitel III und IV). Auch bedeutet diese Hinwendung nicht, daß der Begriff der Lebensordnung in seinem Spätwerk den bekannten der symbolischen Formen ablöste. Außerdem konnte belegt werden, daß die Rezeption lebensphilosophischer Positionen sowohl Ende der 30er/ Anfang der 40er Jahre (Kapitel V) als auch im letzten Lebensjahr 1944/45 (Kapitel VI) eine intensive Fortführung erfährt.

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In ihnen setzt sich Cassirer u. a. mit dem Intuitionismus Bergsons, mit Klages, Scheler und Heidegger auseinander, diskutiert aber vielfach auch lebensphilosophische Positionen ohne Bezug auf konkrete Personen. 78 PsF III: VIIIf.; ECW 13: Xf. 79 Orth (1993: 16).

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Trotz aller Bezugnahme auf viele Bedeutungsfacetten des Lebensbegriffs und seiner Integration in die PsF, worüber die vorliegende Studie den Nachweis führt, kann von einem Übergehen auf die Positionen der Lebensphilosophie allerdings keine Rede sein. Cassirer erkennt aber nachdrücklich die Wirkmächtigkeit der Lebensphilosophie und die Tatsache an, daß sie als wichtigste zeitgenössische Strömung das Grundproblem der modernen Philosophie in ihrer Epoche, nämlich die sich im Lebensgefühl des modernen Menschen ausdrückende Erfahrung des Gegensatzes von Leben und Geist (Kultur) bzw. von Einheit und Vielfalt, zum Thema macht. Und er gesteht zu, daß dabei Ansätze zu seiner Lösung in die gleiche Richtung weisen, die auch die Philosophie der symbolischen Formen beschreitet. Gleichzeitig verhält er sich von Anfang an kritisch-ablehnend gegenüber bestimmten Thesen und Versprechungen der Lebensphilosophie und ihres Intuitionismus. Außerdem wird ihm früh die von der zeitgenössischen Lebensphilosophie objektiv ausgehende Gefährdung für die moderne Kultur (Vernunft, Humanität, Freiheit, Individualität) einsichtig. Sein 1945 formulierter Vorwurf an die moderne Philosophie des Lebens hält dieser die objektive Schwächung der Widerstandskraft der Philosophie gegen den Wiedereinbruch der magisch-mythischen Regeln im politischen Denken und Handeln der Menschen vor, da in seinem Gefolge der totalitäre Führerstaat errichtet wird. Dennoch vermag Cassirer in den Jahren 1927/28 dem Lebensbegriff nicht zu entraten. Zum einen, weil er die Philosophie der symbolischen Formen als eine Kulturphilosophie mit einer Theorie verschiedener Ausdrucksformen fundiert, wobei er das subjektive, unmittelbare Leben / Erleben als »Quell« und »Urgrund« aller symbolisch-darstellenden Distanzierung oder Vermittlung, wie sie der Mensch zu seiner kulturell bedeutsamen Wirklichkeit aufbaut, deutet. Zum anderen, weil er seine Philosophie bereits hier in eine philosophische Anthropologie wendet. Aber Cassirer arbeitet trotz aller identisch erscheinenden Terminologie mit einem grundsätzlich anders aufgefaßten Begriff des Urphänomens Leben als die meisten Lebensphilosophen, vor allem wegen der Formbestimmtheit seines Lebensbegriffs. Die vorliegende Studie lotet Gemeinsames und Trennendes dieser unterschiedlichen Lebensbegriffe aus. Das vielgestaltige Lebensproblem kommt bei ihm in einer ganzen Reihe von Fragestellungen und Begriffen zum Vorschein, auch unabhängig davon, ob er mit ihnen lebensphilosophische Positionen rezipiert oder nicht. Als zentrale, sich im Werk fortschreibende Aspekte haben sich u. a. das ein antinomisches Verhältnis abweisende Inbezugsetzen von Leben und Geist und die Polemik gegen die Beteuerung herausgestellt, die Intuition

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des Lebens führe in die durch begriffliche Reflexion verloren gegangene Unmittelbarkeit des Erlebens zurück. Als neuartige Gesichtspunkte und Erkenntnisse dürfen sowohl der Sachverhalt gelten, daß Cassirer bereits in den frühen ›szientifischen‹ Schriften diese Aspekte ausführlich thematisiert, d. h. mit dem Problem des Lebens bestens vertraut ist, als auch die Tatsache, daß die Mitte der 20er Jahre entdeckte physiognomische Ausdruckswahrnehmung als dem Urphänomen des Lebens gewissermaßen eine Zäsur in seinem Verständnis des Lebens bedeutet, wurzeln doch die symbolischen Formen Mythos und Sprache in dieser tiefsten Schicht. Diese Erkenntnis läßt ihn ein interessiertes, aufgeschlossenes Verhältnis zur zeitgenössischen Lebensphilosophie finden, da es – aus der Sicht der sich der Vernunft verpflichtet wissenden Philosophen – gerade problematische Denker wie Klages oder Spengler sind, die eine Ausdrucks- und Symboltheorie entwerfen. So konnte aufgezeigt werden, daß sich Cassirer 1928 keineswegs, wie vielfach angenommen, zufällig der zeitgenössischen Lebensphilosophie zuwendet. Zudem hatten ihn seine philosophie- und ideengeschichtlichen Studien schon früh zu einer Beschäftigung mit der Romantik als einer der Quellen der modernen Lebensphilosophie geführt. Neben der Intensität, Originalität und Kontinuität, mit der sich Cassirer seit dem Leibnizbuch dem Problem des Lebens stellt und es vom Makel eines unversöhnlichen und unausweichlichen Gegenpols zur Vernunft befreit, hat sich sein prägnantes Philosophieverständnis als wegweisend erwiesen. Verbindet er hier doch die Ablehnung originalitätssüchtiger Systemschmiederei mit dem Bestreben, jegliche Philosophie unvoreingenommen auf ihren theoretischen Beitrag zu systematischen philosophischen Problemen zu befragen. 80 Auch rückt er von der weit verbreiteten Erwartung ab, ein einzelnes philosophisches System könnte alle Seiten der Wahrheit erfassen und offenlegen. 81 Schwemmer sieht in dem tiefen, dem »Geist der Renaissance« geschuldeten Verständnis für die »Pluralität nicht nur des Welterfassens, sondern auch unserer Ausdrucks- und Existenzformen« eben die »Grundcharakteristik der Philosophie Cassirers [...], die ihn zu einem modernen Denker macht, in dessen Werk viele der

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Er entwirft an Stelle der kritisierten Systeme keine neue Philosophie, sondern ist bemüht, »aus einem rekonstruierenden Nachvollzug dieser philosophischen Konzeptionen und Positionen heraus deren Sinn [...] zugleich [zu] erschließen und wechselseitig aufeinander [zu] beziehen«. – Schwemmer (1997: 199). 81 So komme z. B. der Deutungsprozeß der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens nie zum Stillstand, weil jede Epoche, jede Denkrichtung ihre eigene ›wahre‹ Deutung hat bzw. entwirft, wobei sich diese Deutungen als Teilaspekte des Ganzen letztlich ergänzen. – VM: 275 f.

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geistigen Strömungen unserer Gegenwart aufgenommen und zusammengeführt werden«. 82 Dieses Verständnis hatte es diesem selbst noch im Mythus des Staates ermöglicht, eine sachliche und würdigende Kritik der Lebensphilosophie als eines Ausblickes auf die Wahrheit vorzunehmen; eine Sichtweise, um die die deutsche Philosophie nach 1945 erst lange wieder zu ringen hatte. Das Cassirersche Philosophieverständnis, das ein Denken in engen Schulgrenzen überwindet, sich der ganzen Überlieferung versichert, die geistige Kulturleistung historischer Epochen würdigt und daraus klare Stellungnahmen zu Fragen der Zeit gewinnt, ruft am Beginn des neuen Jahrhunderts ein allgemeines Interesse hervor, nachdem das 20. Jahrhundert unzählige philosophische Fronten, Kämpfe und Feindschaften erlebt hat. Da offensichtlich keine Strömung, Richtung oder Konzeption für sich allein die Wahrheit uns bewegender Problemstellungen in ihrer ganzen Fülle zu erfassen und auszusprechen vermag, erscheint es ratsam, jenseits der philosophischen ›Schützengräben‹ mehr an den gemeinsamen Sachproblemen zu arbeiten. Das Zusammenführen des Ertrages unterschiedlichster Schulen kann sich nicht so vollziehen, das einfach »eine Position gegen andere und neben andere« gesetzt wird, vielmehr ist, wie es Cassirer vorgemacht hat, ein »Übergehen zwischen den verschiedenen Positionen, die alle ihr Recht in sich haben«, 83 der Sache viel dienlicher. Eine solche sachorientierte und integrative Art und Weise des Philosophierens hätte sich u. a. beim Versuch, Ansätze eines modernen Lebensbegriffes bzw. eines systematischen Verständnisses von der Bedeutung des Lebensbegriffs für die zeitgenössische Philosophie zu formulieren, zu bewähren.

3 Untersuchungsfragen und Darstellungsprobleme Das methodische Hauptproblem der Recherche, die Aufschluß geben soll, in welchen Bedeutungen und Kontexten Cassirer mit dem Lebensbegriff arbeitet und welche Modifikationen es dabei zu verzeichnen gibt, bestand darin, eine sinnvolle, inhaltlich begründete Einteilung des mehr als 40-jährigen philosophischen Schaffens zu finden, die sich primär am Lebensthema und nur in zweiter Linie an der Entwicklung der eigentlichen Grundpositionen orientiert. Die Einteilungsentwürfe wurden mehrfach mit den Forschungsergebnissen konfrontiert, wodurch sich 82 83

Schwemmer (1997: 242, 24). Ebd., 215.

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schließlich sechs Perioden bzw. Sachkapitel herauskristallisierten. Auf einige die Gliederung berührende Ergebnisse der Untersuchung soll hingewiesen werden. So hat die Auswertung der frühen Periode (1902–1921) in Cassirers Schaffen entgegen der ursprünglichen Erwartung ergeben, daß dieser bereits in den ›szientifischen‹ Werken (1902–1910), und dies mit Blick sowohl auf die Philosophiegeschichte und als auch auf Diltheys Schriften, intensiv den Lebensbegriff in mehreren Bedeutungen rezipiert und sich mit damit in Zusammenhang stehenden Fragen auseinandersetzt. Die zunächst zugrunde gelegte Annahme, daß der Lebensbegriff erst in den geistesgeschichtlichen Schriften der Jahre 1916/18 zielgerichtet verwendet wird, mußte folglich korrigiert werden. Deshalb wurde dieser Periode (Kapitel II) eine noch frühere (Kapitel I) vorangestellt. Die Untersuchung des Hauptwerkes PsF (1923–1929) und die Ordnung der Arbeitsergebnisse haben zu zwei weiteren neuen Einsichten geführt, die ebenfalls Modifikationen der vorgesehenen Periodisierung nachsichzogen. Um deutlich hervorheben zu können, daß Cassirer 1927/ 28 die für ihn wichtigste Bedeutung des Lebensbegriffs auf die unmittelbare Ausdrucksfunktion bzw. Ausdruckswahrnehmung bezieht und das so gedeutete ›Urphänomen des Lebendigen‹ als letzten Eckstein seiner Philosophie der symbolischen Formen versteht, erschien es sinnvoll, die Darstellung der Lebensthematik in den ersten beiden Teilen der PsF (1923, 1925) (Kapitel III) von der im dritten (1927–1929) zu separieren. Zum anderen wurde entgegen der ursprünglichen Vermutung der Beleg erbracht, daß die Aussagen zum Lebensbegriff, die Cassirer in PsF III und in den 1928 und 1929 erstellten Vorarbeiten zum vierten Teil trifft, der speziell der Philosophie der Gegenwart und damit der Lebensphilosophie gewidmet sein sollte, trotz aller wertschätzenden Passagen zu den einzelnen Lebensphilosophen weitgehend identisch sind, weil aus ein und demselben Grundverständnis des Lebens resultierend. Dieses äußert sich darin, daß die auch von einigen Lebensphilosophen erfaßte unmittelbare Ausdrucksfunktion als unabdinglich für die Philosophie der symbolischen Formen gilt. Deshalb wurde die Auswertung des dritten Teils der PsF mit der Untersuchung der Nachlaßtexte von 1928 bzw. dem Vortrag von 1929 zusammengeführt (Kapitel IV). Die sich anschließende Auswertung hat zudem ergeben, daß hinsichtlich der Positionen zum Lebensbegriff die von Cassirer zwischen 1935 und 1941 verfaßten Schriften bzw. Manuskripte Das Erkenntnisproblem IV, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, »Über Basisphänomene« und Zur Logik der Kulturwissenschaften sowohl inhaltlich und als auch vom zeitlichen Schaffensprozeß her enger als vermutet zusammengehö-

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ren. Wiederkehrende Themen, Thesen, zitierte Autoren und Begrifflichkeiten belegen den sachlichen und zeitlichen Zusammenhang dieser vier Texte. Diese Erkenntnis hat eine nicht beabsichtigte vergleichende Untersuchung angeregt (Kapitel V). Und schließlich haben die in den letzten beiden großen Schriften Versuch über den Menschen und Der Mythus des Staates (1944/45) vorgefundene vielfältige Begrifflichkeit des Lebens und die mit Vertretern der Lebensphilosophie geführte Auseinandersetzung angeregt, sie als eigenständige Periode zu behandeln (Kapitel IV). Über das in dieser Einleitung schon Ausgeführte hinaus lassen sich die die Untersuchungen leitenden Fragen noch einmal wie folgt resümieren: 1. Es war die Haltung Cassirers zur modernen Lebensphilosophie aufzuklären und dabei Modifikationen und Wendungen festzuhalten. Recherche und Darlegung hatten zudem zu prüfen, inwieweit an seinem methodischen Umgang mit dieser Strömung ein Verständnis philosophischer Arbeit zum Ausdruck kommt, das als eine nachahmenswerte, modellhafte Methode des zeitgemäßen Philosophierens begriffen werden kann. 2. Das entscheidende Motiv der Untersuchung zielt auf Cassirers Versuch, das Urphänomen des Lebens in die Philosophie der symbolischen Formen zu integrieren bzw. diese auf das Urphänomen des Lebens zu gründen. In dem Zusammenhang war zu klären, ob das Leben bzw. die ursprüngliche Lebensform als erste symbolische Form oder als deren tiefster Quell, als deren Wurzel fungiert. 3. Es galt weiter zu ermitteln, in welchem Verhältnis bei Cassirer biologische und gesellschaftliche Lebensform des Menschen stehen und welche Rolle dabei der symbolischen Form der Kultur (Mythos) zugemutet wird. Mit Blick darauf war zu prüfen, ob der von 1906 bis 1945 immer wieder gebrauchte Terminus der Lebensordnung den Begriff der symbolischen Form konkretisiert oder gar ersetzt. 4. Und schließlich hatte die Untersuchung zu offenbaren, welche sachlichen und ideengeschichtlichen Anregungen (Renaissance, Leibniz, Kant, Goethe, Hegel, Simmel) Cassirer verarbeitet, die sich auf sein Verständnis der verschiedenen Bedeutungskontexte des Lebens bzw. der Funktion des Lebensphänomens in seiner Philosophie der symbolischen Formen auswirken. Als eine Herausforderung darf die Tatsache gelten, daß er die Wertschätzung der Persönlichkeit Goethes und dessen origineller philosophischer Auffassungen, die sich um den Begriff des Lebens, des Ganzheitlichen und der Urphänomene zentrieren, mit der lebensphilosophischen Richtung (Dilthey, Simmel, Chamberlain, Spengler) teilt. Abschließend soll auf einige Schwierigkeiten und notwendige Einschränkungen hingewiesen werden, denen sich die Recherche ausgesetzt sah. Gemäß seiner Arbeitsmethode stellt Cassirer in den ausgewerteten

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Schriften und Manuskripten scheinbar nur historische bzw. zeitgenössische Positionen und Systemansätze dar, die dann aber durch das Prisma seines eigenen systematischen Philosophieverständnisses gedeutet und geordnet werden. Eine der Eigenarten Cassirers äußert sich darin, daß er systematische Positionen den rezipierten Quellen zuschreibt oder anhand kritisch gewürdigter fremder Gesichtspunkte entwickelt. 84 Damit sieht sich der Cassirerforscher vor die Herausforderung gestellt, in diesen scheinbar an fremden Systemen interessierten Darlegungen die systematischen Auffassungen und Konzepte Cassirers freizulegen. In der vorliegenden Arbeit mußte diese Freilegung für die sich erst entwickelnde Theorie geschehen, durch die er das Lebensthema in der Philosophie der symbolischen Formen verankert. Eine weitere Schwierigkeit der Untersuchung bestand darin, daß in Cassirers Werk der Lebensbegriff wie auch die Philosophie des Lebens, der Intuition und des subjektiven Erlebens – bis auf ganz wenige Ausnahmen, die sich auf kleine Texte und Vorträge beschränken – niemals den eigentlichen Untersuchungs- oder Darstellungsgegenstand bilden. Seine sich über das gesamte Lebenswerk erstreckende Thematisierung des facettenreichen Lebensproblems muß deshalb an vielen Gegenständen aufgezeigt und verdeutlicht werden, die vordergründig manchmal wenig mit ihm zu tun haben. Das zieht die Konsequenz nach sich, daß die Abhandlung nicht allein vom Leben, sondern von den Themen handelt, die Cassirers Werk ausmachen. Allerdings erlaubt dieser Tatbestand wiederum eine ansatzweise Reformulierung von wichtigen Teiltheorien des Werkes unter dem Blickwinkel des Lebensthemas und der entsprechenden Lebensbegriffe. Obwohl sich somit seine vielfältigen philosophischen Positionen nicht aussparen ließen, versteht sich die vorliegende Arbeit nicht als Auslegung oder Darstellung der philosophischen Grundauffassungen Cassirers als solcher, sondern als Studie zu dem besonderen Thema des Lebens, das aber vielerlei Rückschlüsse auf die Gesamtphilosophie zuläßt. Die Arbeit verfolgt das Anliegen, möglichst textnah und nachvollziehbar aufzuweisen, daß und wo, in welchen Zusammenhängen der Lebensbegriff und seine Implikationen im gesamten Werk Cassirers präsent sind. Eine vorgefaßte Vermutung oder Theorie konnte sich dabei nur als hinderlich erweisen. Verallgemeinerungen der Belegstellen wurden nur soweit vorgenommen, wie dies die Rechercheergebnisse erlauben. Die für die Darstellungsform wichtigste Frage war die, ob die Forschungsergebnisse grundsätzlich chronologisch, in der zeitlichen Ab84

Siehe dazu u. a. Renz (2002: 73).

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folge der Entstehung bzw. Publikation der Cassirerschen Texte, oder systematisch, nach Themenkreisen und Bedeutungsfacetten des Lebensproblems gegliedert, dargelegt und abgehandelt werden sollten. 85 Die Entscheidung ist für eine chronologische Darstellungsform gefallen, die die systematische Ordnung auf die jeweiligen Schaffensperioden beschränkt. Die Positionen und Überlegungen Cassirers lassen sich auf diese Weise besser in den jeweiligen geistesgeschichtlichen Kontext und Erfahrungshorizont des Philosophen einfügen. Die sechs Schaffensperioden, die sein Lebenswerk allerdings nicht lückenlos abdecken, repräsentieren jeweils eine neue Phase der Arbeit am Lebensthema, die aber auch das Moment der Kontinuität bezüglich des Arbeitsgegenstandes und der philosophischen Grundposition kennt.

85

Denkbare systematische Themenkreise und Bedeutungsfacetten des Lebensproblems sind u. a. die psychologische Unmittelbarkeit des Erlebens und ihre theoretisch-begriffl ich vermittelte Aufklärung (Reflexion versus Intuition), der Ausbruch aus dem biologischen Leben ins symbolisch-geistige Leben (Natur versus Kultur), die Kultur als Lebensordnung und als System geistiger Lebensformen, Leben und Form (Leben versus Geist), die elementare Ausdruckswahrnehmung und ihr protodarstellender Charakter, die Lebendigkeit des Geistigen (Ideellen) und dessen Lebensfundament etc.

erstes k a pitel

Denkart und Lebensordnung (1902–1913)

1 Die Lebensordnung der Renaissancekultur Die frühen ›szientifischen‹ oder gar ›logizistischen‹ Schriften dokumentieren, daß Cassirer unabhängig von der lebensphilosophischen Begrifflichkeit, die er in den ihm bekannten Werken der Zeitgenossen (Dilthey, Scheler, Frischeisen-Köhler etc.) antrifft, in seinen historisch-systematischen Studien zum Erkenntnisproblem bzw. zur modernen Theorie der Begriffsbildung in unterschiedlichsten Bezügen auf das Thema des Lebens stößt, da es zum terminologischen Bestand der rezipierten Systeme gehört. Hier sind vor allem die Studien zu den Denkern der Naturphilosophie und der Renaissance hervorzuheben, zumal für ihn die Renaissance »die Geburt eben des Geistes, der die Moderne ermöglicht«, bedeutet. 1 Bestimmte Begrifflichkeiten bzw. Bezüge des Lebens werden kommentarlos angeführt, bei anderen gibt er zu verstehen, daß sie ihm für die eigene Darstellung angemessen oder gar unverzichtbar erscheinen. Gleichzeitig enthalten die frühen Schriften wichtige Einwände gegen bestimmte, auch im Umfeld der Lebensphilosophie vertretene Deutungen der Beziehung von Leben (Unmittelbarkeit) und Denken (Vermittlung). Eine systematische oder zusammenhängende Beschäftigung mit dem Begriff des Lebens gibt es hier aber noch nicht. Dennoch ist es diese frühe Affinität zum Lebensbegriff, zum Problem der Kultur und der Biographie großer Persönlichkeiten, die darauf hindeutet, daß der junge Cassirer bereits die lebensphilosophisch-historisierende Tradition Diltheys verarbeitet. Er bedient sich gewissermaßen der von ihr ausgebildeten Methoden, einschließlich ihrer Begrifflichkeit, und stellt sich den durch Dilthey aufgeworfenen Fragen. Wenige Jahre später, gegen Ende seiner frühen Schaffensperiode, sieht er sich auch durch seinen philosophischen Lehrer Natorp darin bestätigt, daß die Zeit »nach nichts so sehr wie nach einer philosophischen Durchdringung des Lebens« verlangt, weshalb die »Philosophie selbst mit dem warmen Lebensblute« der Kulturentfaltung zu durchdringen ist. 2 1 2

Schwemmer (1997: 223). Natorp (1912a: 219).

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erstes k apitel 1.1 Leben, Allleben, Beseeltheit und Leben als Individualität

Da die ersten beiden der acht Bücher des EP I/II (1906/07) der Wiederentdeckung des Erkenntnisproblems durch die Naturphilosophie der Renaissance gewidmet sind, 3 wovon auch Leibniz’ System (1902) handelt, drängen sich hier die Begriffe des Lebens, der Belebung, der Lebendigkeit und des Alllebens nahezu von selbst auf. Deshalb kann Cassirer ganz grundsätzlich feststellen, daß die Naturphilosophie der Renaissance dem Lebensbegriff große Aufmerksamkeit schenkt, wenn sie im Ich alle Kräfte des Universums sich »zur lebendigen Einheit« durchdringen sieht, oder wenn sie Ich und Kosmos ein »allgemeines Lebensprinzip« zuschreibt und den Kosmos mit einem »Lebewesen« vergleicht. 4 Selbstverständlich teilt er diese metaphysischen bzw. naturalistischen Begriffsbedeutungen und Lebenszuschreibungen nicht. Dennoch hält Cassirer fest, daß das Leben hier ein großes und zentrales Thema ist, das als ein solches in der Cartesischen Philosophie zunächst verschwindet. Bereits in Bezug auf Cusanus (I. Buch) ist die Rede sowohl vom »gegensätzlichen Leben der Erscheinungswelt« als auch vom »eigenen unerschöpflichen Sein und Leben« des Geistes. 5 Bei dessen Schüler Bovillus sieht Cassirer neben den »psychologischen Grundkräften des Lebens« auch den Kosmos, der als »Lebewesen« gilt, von einem »allgemeinen Lebensprinzip« beseelt. 6 Diese Grundanschauungen seien keine willkürlichen oder zufälligen Meinungen einzelner Philosophen oder Wissenschaftler. Sie spiegelten vielmehr die »Einheit und durchgehende Übereinstimmung [ . . . ] zwischen der innerlichen gedanklichen Entwicklung und zwischen den mannigfachen Formen und Gestaltungen des äußeren Lebens« wider. 7 Die Hoch- und Wertschätzung des Lebens und der Lebendigkeit sei eben ein Charakterzug, ein Ausdruck der »Welt- und Lebensansicht« der Renaissancemenschen. 8 Folglich entwirft Cassirer vor dem Leser eine philosophische Epoche, die dem Leben, den vitalen Kräften und Gefühlen des Lebens zugetan ist, überall seine Vitalität, sein Fließen und Werden, aber auch seine symbolischen Tiefen erschaut und vom Geist der Lebendigkeit und Lebens-

3

Die folgenden Bücher III bis VI behandeln rationalistische und empiristische Erkenntnistheorien, die Bücher VII und VIII die Herausbildung und Ausformung der kritischen Erkenntnislehre Kants. 4 EP I/ECW 2: 52. 5 Ebd., 18, 21. 6 Ebd., 52. 7 Ebd., 60. 8 Ebd., 288.

Denkart und Lebensordnung (1902–1913)

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bejahung getragen wird. Dabei läßt er durchblicken, daß spätere Philosophien daran zu messen seien, auch wenn sie die naturphilosophischen Substanzbegriffe durch mathematische Funktionsbegriffe ersetzen. Überall da, wo auf die aristotelische Philosophie in ihrer Auslegung durch die Renaissancedenker eingegangen wird, die ihre verkannte Originalität wieder erkennen, ist bei Cassirer vom Verlauf des »organischen Lebens«, den »Lebensvorgängen des Körpers«, den »Lebewesen« als individuellen Körpern die Rede. 9 Er hält aufgrund dieses Quellenstudiums an der Einsicht fest, daß für die Renaissancedenker, denen es bereits um »das eigentliche Problem der Individualität« gehe, sich »unser seelisches Leben [ . . . ] als ein Ganzes vegetativer, sensitiver und intellektueller Funktionen darstellt«. Sie hätten bereits erfaßt, daß die Vorgänge, die sich am beseelten Körper abspielen, sich dem »Ziel der Selbsterhaltung und Selbstvervollkommnung des Lebewesens unterordnen«. 10 Mit einer dynamischen, organischen und beseelten Auffassung der Natur sieht sich Cassirer auch in den Kapiteln über die Naturphilosophie und deren Naturbegriff (II. Buch) konfrontiert. Hier werde klar ausgesprochen, daß »die Absonderung des Einzelnen [ . . . ] ein Werk der Abstraktion [ist], während einzig das Ganze in lebendiger Wirklichkeit besteht und seinen Teilen vorangeht.« Die Naturphilosophen sehen das gesamte All als »belebt« an, wobei unterschiedliche Momente die »Glieder ein und desselben übergeordneten Lebenszusammenhanges« bzw. »Weltorganismus« bilden. 11 Er hält nicht nur das Ineinssetzen von »Bewegung und Leben« bei Naturphilosophen wie Paracelsus, Bruno oder Leonardo für bemerkenswert, sondern auch ihre – quasi lebensphilosophische – Erkenntnis, wonach »Lebendiges nicht aus Leblosem zu erstehen« vermag. 12 Beseelung und Belebung alles Seienden werde bei ihnen so weit getrieben, daß alle Existenz als »ihrer selbst bewußtes Leben« gilt. Weiter arbeitet Cassirer heraus, wie sich Natur- und Lebensbegriff in Abhängigkeit voneinander wandeln. Bei Kopernikus z. B. stehe die Wandlung im Inhalt des Naturbegriffs in einem engen Zusammenhang mit der von ihm geteilten »neuen ethischen Lebensansicht, neuen Weltund Wertbetrachtung«, die überall zum Ausdruck gelangt. 13 Kepler und auch Galilei wiederum ersetzen den Lebensbegriff der Renaissance-Naturphilosophie durch die Vorstellung vom mechanischen bzw. göttlichen

9 10 11 12 13

Ebd., 83 f., 88. Ebd., 87 f. Ebd., 172. Ebd., 173 f. Ebd., 228.

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erstes k apitel

Uhrwerk. 14 Dabei gehe aber auch das aristotelische »biologische System«, das »Einheit und [ . . . ] Stufengang der organischen Formen« verwirklicht, verloren. 15 Bei Descartes schließlich (III. Buch) gelte »das Leben nur [noch – C. M.] als Sonderfall der mathematisch-mechanischen Gesetze«, was jeglichen naturphilosophischen Anthropomorphismus aus ihm ausschließt. 16 Der Naturbegriff der exakten Wissenschaft (17. Jahrhundert) lasse von dem der Renaissance, »von jenem lebenswarmen Bilde« nur wenig zurück, die Natur erscheint nun als »ein Gerippe«, als »das abstrakte Schema der mathematischen Notwendigkeit«. 17 Doch bereits bei Spinoza »belebt sich« das mathematische Schema der Naturerklärung, indem er die »innere Lebendigkeit« der Natur, wie sie für die Renaissance (Naturphilosophie) ganz selbstverständlich war, nunmehr auf den Naturbegriff der exakten Wissenschaft überträgt. Doch derjenige Philosoph, für den »das Problem des Lebens« erneut im Zentrum des theoretischen Systems steht, ist Leibniz. Zunächst bestimme sich Leben bei ihm als »ein ursprünglich und begrifflich einheitliches Grundverhältnis« von Seele und Körper, das allerdings »durch die Reflexion in eine Verschiedenheit von [gegensätzlichen – C. M.] Momenten zerlegt« wird. 18 Hier hält Cassirer den methodologischen Gedanken fest, wonach wir die »Lebensprozesse« der Körper als Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht unmittelbar vorfinden. Vielmehr müßten sie als ein solcher Gegenstand erst erklärend aufgebaut werden. So versuche Leibniz den Körper als »konkrete Wirklichkeit, als Träger und Subjekt der Lebenserscheinungen«, von »den Abstraktionen der mathematischen Naturwissenschaft« her aufzubauen. Weil ihm die »Organisation« als »physische Voraussetzung des Lebens« gilt, erweitere er die Mechanik zum Organismus, ohne dafür den fremden Faktor des biologischen Lebens (»Lebenskraft«) einführen zu müssen. 19 Cassirer diskutiert, wie Leibniz das psychische Leben des Organismus mit den Begriffen der Monade und der prästabilierten Harmonie entwickelt. Mit ihnen vollziehe er den Übergang von der abstrakten Mechanik zum »Gebiet der organischen Naturbetrachtung«. Dabei wird »ein bestimmtes Subjekt als [ . . . ] selbsttätiger Quell all seiner inneren Wandlungen« gedacht, und dieses Subjekt ist die Monade. 20 In ihr (Be14 15 16 17 18 19 20

Ebd., 294, 296. Ebd., 319. Ebd., 389. EP II/ECW 3: 91. LS/ECW 1: 365. Ebd., 358 f. EP II/ECW 3: 152.

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wußtsein) komplettiere die Subjektivierung (Streben) die Objektivierung der Inhalte (Vorstellung) und werde so zum individuellen Selbstbewußtsein eines Organismus. 21 Erst »durch die Erfüllung mit dem Inhalte des individuellen Selbstbewußtseins hat sich der Begriff der Monade zum Begriff des Lebens erweitert«. 22 Deshalb bilde »der Begriff der Monade [ . . . ] den ersten Versuch, das Problem des Individuums innerhalb des Idealismus darzustellen und zur Lösung zu bringen«. 23 Auf den Begriff der Monade für psychisches – und geistiges – Leben stößt Cassirer auch bei Goethe, so in Maximen und Refl exionen. Individualität, Selbstbewußtsein und sich objektivierende Subjektivität gehören somit von Anfang an zum Begriff des Lebens als eines in der Zeit »werdenden Wesens«. 24 Die innere Erfahrung, die die Monade als ein individuelles Bewußtsein oder psychisches Erlebnis erlangt, will er jedoch keineswegs – wie Leibniz und die Philosophen des Lebens – als eine neue Erkenntnisquelle aus eigenem Recht verstanden wissen. 25 Die begriffliche Fassung des Individuums bzw. des Individuellen, die Leibniz sich als die Form des Lebens erschließt, indem er »im Begriff des Zufälligen ein irrationales Moment in das System der Erkenntnis einführt«, beeindruckt Cassirer sehr. 26 Damit sei der Anschluß des rationalistischen Idealismus an die individuelle Wirklichkeit geschafft, die nicht in den mathematischen Funktionen aufgeht. In diesem System, in dem das Ich als Schöpfer seiner Inhalte, die Monade als individuelle Substanz gedeutet wird, erweist sich die Irrationalität des Empirischen, des Individuellen als ein Moment der Rationalität. 27 Er ist sich mit Leibniz einig, daß wir »das Sein in keiner anderen Form als in der des individuellen Lebens« erkennen und erfahren, denn die Individualität ist »die einzige Art [ . . . ], in der sich die Realität uns unmittelbar offenbart«. 28 Monade und Individuum werden bei Leibniz folgerichtig zu einem Begriff des lebenden Organismus erweitert, der »bis heute wissenschaftlich wirksam« sei. 29 Weil »zu jedem organischen Körper [ . . . ] also ein eigenes Selbst, ein eigenes Zentrum der Bewußtheit« gehört, lassen wir, so denkt Cassirer

21 22 23 24 25 26 27 28 29

LS/ECW 1: 333. Ebd., 358. Ebd., 433. Ebd., 497. Ebd., 352 f. Ebd., 344 f. Ebd., 346 f. Ebd., 354. Ebd., 358 ff., 367.

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Leibniz weiter, bei der wissenschaftlichen Betrachtung dem »Phänomen organischer Strukturen und Bildungen« als Einzelbildungen eine »lebendige Einheit, ein Analogon des Ich entsprechen«. 30 Bei »der Anwendung des Monadenbegriffs auf das biologische Problem« habe sich zudem die Leibnizsche Präformationslehre als »ein notwendiger Durchgangspunkt« dahin erwiesen, den »Begriff des Lebens, der von Descartes aus der Naturbetrachtung entfernt worden war, wieder zu philosophischer Anerkennung« zu bringen. 31 Beim Aufbau der objektiven Wirklichkeit in prästabilierter Harmonie haben wir es mit einem einheitlichen, dialektisch aufgefaßten »natürlichen Lebensprozeß« zu tun. 32 Cassirer würdigt zudem ausdrücklich die Tatsache, daß in Leibniz’ Erkenntnistheorie dem Begriff des individuellen Lebens als letzter der Formbegriff (Zweck des Geschehens) zu Grunde liege. Um das anschauliche Einzeldasein als Entwicklungsprozeß eines »individuellen Lebens zu verstehen, müssen wir den reinen Vernunftbegriff einer Identität [ . . . ] in die Reihe hineindenken«. 33 Der Auffassung Leibniz’, daß die Formprinzipien bzw. die individuellen Entwicklungsgesetze »selbst unentstanden und unvergänglich« sind, steht auch Cassirer nahe. 34 Bei der Darlegung des Ringens um das Problem der Individualität des organischen Lebens greift er außerdem auf Begriffe wie »Kontinuität des Lebens«, »Gesamtheit alles Lebendigen« und »Unsterblichkeit« des »organischen Lebens« zurück. 1.2 Geistiges Leben, Lebensauffassung und Grundkonflikt des Lebens Auch wenn Cassirer vom »geistigen Leben« in der Epoche der Renaissance und seinen markanten Grundzügen handelt, spielen die Termini des Lebens eine Schlüsselrolle. Dabei erfolgt das Eingehen auf das Lebensgefühl bzw. das sittliche Selbstverständnis einiger Denker dieser Zeit in einer nahezu existentialistisch-lebensphilosophischen Begrifflichkeit. Insofern regen ihn die Studien zum EP I/II sehr früh an, die Tragfähigkeit des Lebensthemas auch für eine Durchdringung des Erkenntnisproblems zu prüfen. Die Annahme, daß jede historisch-systematische Auffassung von den Modalitäten und Rechtsgründen objektiver Erkenntnis im jeweiligen 30

Ebd., 363, 365. Ebd., 366 f. 32 Hier klingt die dialektische Methode aus Hegels Phänomenologie des Geistes an, die Cassirer kennt und gelegentlich auch zitiert. 33 LS/ECW 1: 368 f. 34 Ebd., 370. 31

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Lebenskontext des Denkers verankert ist, wird bei Cassirer durch zwei methodologische Entscheidungen gestützt. Zum einen von der Orientierung auf die Erfahrung, die er seit der Naturphilosophie der Renaissance in Wissenschaft und Philosophie sich immer stärker durchsetzen sieht. Zum anderen durch die Bedeutung, die er der kulturellen Totalität des Lebens in einer konkreten Epoche beimißt. Erkenntnis gilt ihm damit als Erkenntnis des Lebens und als Erkenntnis in einem Lebenskontext. So gelangt er anhand der ausgewerteten Quellen zu dem Schluß, daß in der Renaissance das »sittliche Leben« nunmehr freier werde, weil sich ihre Ethik darin bewähren muß, »daß sie den Zweck des Lebens in diesem selbst zu finden lehrt«, d. h. »im wirklichen Leben der Geschichte selbst«. Außerdem gehe es den Philosophen bereits in dieser Kulturepoche darum, »das echte Leben des Geistes« in seiner jeweiligen Autonomie zu erfassen. 35 Sie interessieren sich für die vielfältigen geistigen Lebensäußerungen des schöpferischen Menschen. Die humanistische Rhetorik z. B., die sich gegen »die abstrakte Schulgelehrsamkeit« der Scholastik wendet, und die ihren Maßstab »an der lebendigen Sprache« hat, setze »die genaue psychologische Kenntnis der Totalität aller [ . . . ] Lebensäußerungen« des Menschen voraus. 36 Für die Renaissance bewährt sich der »Wert des Lebens« außerdem durch den »ästhetischen und sittlichen Wert der Individualität«. 37 Eine ganz eng mit dem existentialistischen Verständnis des Lebens verschlungene Terminologie findet sich dort, wo Cassirer die skeptische »Lebensanschauung« Montaignes darstellt. Bei ihm verliere zum einen der Mensch sein altes christliches Privileg in der »Stufenreihe der Lebewesen«. 38 Zum anderen sehe er ohne freie Selbsttätigkeit des Ich das »ganze Leben [ . . . ] zum Geschwätz« entarten. Im Gedanken der »freien Selbsttätigkeit des Bewußtseins« 39 entdeckt bei Montaigne das Individuum in sich die »geistige Grundform der Menschheit überhaupt«. 40 Die Darstellung dreht sich immer wieder um das Leben, so wenn er Montaignes Auffassung über die »Bewegtheit des äußeren Lebens«, das »empirische Leben«, den »Wert des Lebens«, über »Ziel und [ . . . ] Richtschnur des Lebens« und den »Kern des Lebens selbst« wiedergibt. Dabei legt er Montaignes »äußere Lebensschicksale« bis ans »Ende eines ruhelosen

35 36 37 38 39 40

EP I/ECW 2: 96. Ebd., 102, 104 f. Ebd., 100. Ebd., 145 f. Ebd., 154 f. Ebd., 157.

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Lebens« als exemplarisches Beispiel für die Einheit von Leben und Lehre, von Lebensgefühl und Philosophie frei. 41 Die intensive, hinter einer nach außen getragenen Skepsis verborgene Lebensbejahung Montaignes komme u. a. darin zum Ausdruck, daß bei ihm die Zweifel den Weg von der »abstrakten Betrachtung ins Leben selbst zurückweisen«. 42 Sei doch bei ihm, und dies in Leben und Werk, die Skepsis nichts anderes als das »Lebenselement [ . . . ] des Geistes« selbst. 43 Auch in der Darstellung der Ethik Pascals, die das »Leben des Einzelnen« und das »Leben der Gemeinschaft« in den Blick nimmt, entwirft Cassirer wegen dessen Skepsis gegenüber der Selbständigkeit und Selbstgesetzgebung der Vernunft eine existentialistisch erfahrene Situation des Denkers, in der lebensphilosophische Topoi anklingen. Er sieht bei ihm »die intellektuelle Verzweiflung, die Ungewißheit über das Woher und Wohin des Ich und des Alls« sich ergreifend aussprechen, und dies aus der Erfahrung heraus, daß unmittelbares Lebensgefühl und Reflexion einander zersetzen. 44 Pascal werde durch diesen Konflikt deshalb so stark ergriffen, weil er bestimmte psychologische Grundmotive in voller Unmittelbarkeit in sich »erlebt«. Bei dieser markanten Persönlichkeit sieht Cassirer ebenfalls die Übereinstimmung zwischen dem Ziel der philosophischen Ethik, die die »Entwurzelung des natürlichen Persönlichkeitsgefühls, die völlige Auflösung und Hingabe des Ich« fordert, und der »eigenen Lebensgeschichte« ihres Autors bestätigt. 45 Durch die beim Übergang von der Renaissance zum 17. Jahrhundert (Bacon) eintretende Veränderung in der »subjektiven Stimmung des Philosophierens und Forschens«, die Cassirer feinfühlig registriert, bekommt das »geistige Leben« einen anderen Mittelpunkt. 46 Entgegen der durch Montaigne und Pascal repräsentierten Skepsis und Selbstzweifel erkenne sich im 17. bzw. 18. Jahrhundert die Vernunft nunmehr als fähig und zureichend, das »Ganze der individuellen Lebensführung zu bestimmen und die Formen der empirischen Gemeinschaft zu erschaffen«. 47 Schwemmer hat darauf aufmerksam gemacht, daß Cassirers Denken selbst »eine polare [ . . . ] Spannung zwischen Renaissance und Aufklä-

41

Ebd., 160 f. Das Deutungsprinzip einer Einheit von Leben und Lehre wendet Cassirer später u.a. auf die biographisch-werkorientierten Darstellungen Kants und Goethes an. 42 Ebd., 162. 43 Ebd., 440. 44 Ebd., 433. 45 Ebd., 438 f. 46 EP II/ECW 3: 1. 47 EP I/ECW 2: 500.

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rung« austrägt, dabei aber letztendlich doch der Aufklärung folgt, was bedeute, daß die »konkretisierende und individualisierende Imagination und Gestaltung« der »abstrahierenden und schematisierenden Symbolisierung«, die Bildhaftigkeit der abstrakten Sprache geopfert wird. 48 In Mystik und antiker Naturphilosophie bemerkt Cassirer eine sich abzeichnende metaphysische Fragerichtung, die mythisch-religiöses Denken mobilisiert, um den Grundkonflikt des Lebens, der als »die Vereinzelung des Ich, seine Trennung vom substantiellen Urgrund aller Dinge« erfahren wird, zu überwinden. Dieses Denken wolle die unausweichliche »Entfremdung des Individuums vom Urgrund alles Seins« aufheben und »die Rückkehr zu ihm auf dem Wege der Betrachtung« ermöglichen. 49 Diese intellektuelle Verzweiflung an der Ungewißheit der eigenen Existenz und des Alls spreche sich nicht zuletzt in der Person Pascals bzw. in seiner skeptischen Philosophie aus. 50 Scheint doch im Verhältnis der Naturbegriffe von Renaissance und exakter Wissenschaft auch bereits die, von Cassirer nicht geteilte, spätere lebensphilosophische Kritik am kalten rechnerischen Verstand auf, als Problem bzw. als Gemütsstimmung der Verarmung des Lebens gedeutet. 51 Es ist bezeichnend, daß er solche Thematisierungen existentieller Erfahrungen, in denen das Ich Gefährdungen erlebt, nicht einfach als ein falsches Bewußtsein abtut, sondern als ein (psychologisches) Faktum hinnimmt. Zumal er bei seinen historischen Studien auf Persönlichkeiten wie Pascal und Montaigne stößt, die genau diese Erfahrung auf authentische Weise artikulieren. Ähnlich wie Dilthey erblickt er in ihr ein ursprüngliches, starkes »Gefühl des Lebens« im Menschen selbst, 52 das durch die Vernunftwissenschaft – das Rückgrat der europäischen Metaphysik – weder erschöpft noch ersetzt werden kann. Neben allem Verständnis für diese »Tatsache des Lebens« meldet Cassirer aber auch einen grundsätzlichen Einspruch gegen die Weise ihres Ausdrucks an. Ist er doch selbst um eine rationale Durchdringung des Problems bemüht, weshalb er konsequent auch jegliche metaphysische Hypostasierungen und reduktionistische Übertragungen ablehnt. Das betrifft den Versuch der frühen metaphysischen Fragerichtung, »die Tatsache des Seins aus der Tatsache des Lebens zu deuten«. Damit werde »das Dasein und die sinnliche Lebendigkeit der Dinge [ . . . ] nicht

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Schwemmer (1997: 239 f.). EP II/ECW 3: 543 f. EP I/ECW 2: 431 f. EP II/ECW 3: 91. Dilthey (1922, GS I: 395, 406).

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mehr unmittelbar erfaßt«, sondern kraft eines allgemeinen metaphysischen Prinzips gemeistert. 53 Die unaufhebbare, aber irrtümlich auf das Sein projizierte »Tatsache des Lebens« könne sehr wohl als »Urgrund« des metaphysischen Suchens, als metaphysischer »Grundtrieb des Denkens« verstanden werden. 54 Sie lasse sich aber durch diejenigen Bewußtseinsformen, die sich auf die Mathematik gründen, klar und adäquat aussprechen, da es dem mathematischen Denken nicht um die Existenz von Dingen, sondern allein um die Geltung von Urteilen gehe. 55 Folglich vermag es diesen Urgrund für das moderne Selbstbewußtsein zumindest zu unterlaufen, wenn auch nicht als solchen aufzuheben. Mit den aus dem Lebensgefühl der Entfremdung, Vereinzelung und Verzweiflung resultierenden skeptisch-nihilistischen Schlußfolgerungen vertraut, hält er diese aber keineswegs für zwingend, da die Skepsis – wie etwa bei Montaigne – auch als das »Lebenselement [ . . . ] des Geistes« begriffen werden kann. 56 Dieses Verteidigungsmotiv wird 1929/30 in der Auseinandersetzung mit Scheler und Klages wiederkehren. Außerdem würden die evidenten Grundwahrheiten des Denkens, wenn sie in den Kreis der Skepsis hineingezogen werden, völlig widerrechtlich dem Gefühl unterstellt. 57 Die Anfänge der exakten Wissenschaft bringen eine Wendung der Frage- und Lösungsrichtung hinsichtlich der den Grundkonflikt des Lebens ausmachenden Entfremdung bzw. Vereinzelung des Ich von Urgrund des Seins, die das Denken beängstigt, mit sich, weil es dieser um das Geltungs- und nicht mehr um das Seinsproblem gehe. 58 Jedoch habe erst der Kritizismus Kants die ganze metaphysische Fragestellung zu überwinden vermocht. In ihm finden sich Gegenstandswissen und Wissen um das Ich nun in einem systematischen Prinzip (Synthesis als Einheitsfunktion), in der »eigentlichen, wahrhaften Ursprungseinheit« geeint. 59

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EP II/ECW 3: 544. Ebd., 542, 544, 613. Ebd., 546. EP I/ECW 2: 440. Ebd., 437. EP II/ECW 3: 545 f. Ebd., 553 f.

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1.3 Lebensordnung und Wechsel der Lebens- und Lehrformen Den geschichtlichen »Wechsel aller Lebens- und Lehrformen« eines Zeitalters verfolgt Cassirer als Veränderung in der »ganzen Art der Lebensführung, der Kultur, der politischen und sozialen Ordnung«. 60 Der in dem Zusammenhang, aller Wahrscheinlichkeit nach, mit Blick auf Dilthey im EP I (1906) eingeführte Begriff der »Lebensordnung« bietet einen Beleg dafür, wie der frühe Cassirer dem Lebensbegriff – und seinen Ableitungen – nicht nur große Aufmerksamkeit schenkt, sondern ihm auch eine konzeptionelle Bedeutung (Funktion) zuschreibt. Mit dem Terminus knüpft er an einen zu der Zeit unter Denkern wie Dilthey, Eucken und Scheler verbreiteten Ausdruck an, den er dann bis ins letzte Lebensjahr immer wieder einsetzen wird. 61 Die frühen Studien Cassirers beabsichtigen zu zeigen, wie sich die im Kritizismus Kants kulminierende bzw. erfüllende »neue Denkart« herausbildet, deren Vorzug es ist, jegliches Substanz- und Seinsdenken überwunden zu haben. Die detailreiche Darstellung läßt sich diese neue Denkart über einen seit der Renaissance geführten »Kampf gegen die ›substantielle Form‹«, 62 die in der scholastisch-mittelalterlichen Philosophie vorherrschte, durchsetzen. Diese Deutung provoziert die Frage, ob Cassirer sein umfangreiches Projekt zur Geschichte des Erkenntnisproblems in Philosophie und Wissenschaft nicht auch als einen alternativen Entwurf zu Diltheys Studie über Herrschaft und Verfall »der Metaphysik der substantiellen Form« 63 versteht oder sich von ihr zumindest als einem Referenzsystem anregen läßt. 64 Dafür sprechen u. a. sowohl die in Vorrede und Einleitung zum EP I dargetanen methodischen Prinzipien und Mittel des Unternehmens als auch die Tatsache, daß er mit Diltheys Schriften wohl vertraut ist, wie zahlreiche Verweise und Zitate belegen. 65 Zunächst lesen sich die acht Bücher der Bände EP I/II, die die Geschichte von Mathematik und Mechanik mit der der Philosophie und der sich etablierenden Geisteswissenschaften verknüpfen, nahezu als ein Gegenentwurf zu den von Dilthey betonten gegensätzlichen methodischen

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Ebd., 135, 137 f. Möckel (2001b, 2001a). 62 EP I/ECW 2:, 63. 63 Dilthey (1922, GS I: 360). 64 Gerhardt/Mehring/Rindert (1999: 207). 65 Das meint die in LS und im EP I/II zitierte Einleitung in die Geisteswissenschaften [1883], Erstes und Zweites Buch (GS I), und diejenigen Beiträge Diltheys aus den 80er und 90er Jahren, die später den II. Bd. der GS II bilden. 61

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Prinzipien in den Natur- und Geisteswissenschaften. Gelangen doch beider Aussagen über die endgültige Ablösbarkeit der Metaphysik der substantialen Formen, getragen durch die moderne wissenschaftliche Denkart in Europa, zu recht unterschiedlichen Schlußfolgerungen. 66 Dennoch weist der methodische Ansatz Cassirers, das historische Auftauchen des neuen Forschungs- und Erkenntnisideals nicht allein in der Geschichte der Logik, sondern vielmehr in den »verschiedenen geistigen Kulturmächten« aufzusuchen, soweit sie ein »theoretisches Selbstbewußtsein« erringen, 67 nicht nur eine Nähe zu Cohen und Natorp, sondern auch zu Dilthey auf. Mit letzterem teilt er zudem die methodische Absicht, die historische Darstellung des Werdens der Begriffe in eine konkrete – mittelalterliche oder neuzeitliche – »Lebensordnung« einzubetten. 68 Das vorstehend bereits für die frühen Schriften belegte Interesse Cassirers am Begriff des organischen, geistigen und gesellschaftlichen Lebens und seinen vielfachen Abwandlungen (Lebensgefühl, -auffassung, -haltung) erscheint damit in einem zusätzlich schärferen Licht. Sieht er doch die innere Fortbildung des Erkenntnisbegriffs in die »Wandlungen aller konkreten Welt- und Lebensauffassungen« einer bestimmten historischen Periode eingebunden, da diese »die Umformung ihrer logischen Grundansicht« anregen. 69 Die Tatsache, daß ihn gerade die Quellen und Antriebe dieser Wandlungen und Umformungen interessieren, verbindet ihn ein Stück weit mit Diltheys hermeneutischer Lebensphilosophie. Um die »intellektuelle Gesamtbewegung eines Zeitalters«, in der ein treibendes Erkenntnisideal vorherrscht, erfassen zu können, müßten »alle Inhalte und Richtungen der Kultur« in den Blick genommen werden, was wiederum Philosophie und Wissenschaft, als zwei »gleich selbständige und unentbehrliche Symptome« des Erkenntnisideals, sowie »die übrigen Gebiete geistiger Tätigkeit« wie Recht, Sitte, Sprache, Kunst und Religion, einschließt. 70 Obwohl Cassirer hier schon in jeder der vielfältigen geistigen Kulturmächte oder jedem der Gebiete geistiger Tätigkeit ein eigenes Struktur- oder Bildungsgesetz vermutet, gelten sie ihm noch nicht als eigenständige Energien oder Richtungen des 66

Gemeinsam ist beiden Projekten aber die Erwartung, daß die Vorherrschaft der Metaphysik in den Welt- und Lebensanschauungen des modernen Menschen, der modernen Gesellschaft sich auflöst. 67 EP I/ECW 2: IX. 68 Genau dies hat Orth offenbar mit seinem Hinweis im Auge, wonach Cassirer im EP I methodisch ein Doppelmotiv von exakt-mathematischem Funktionalismus und geisteswissenschaftlich aufgefaßtem »lebendigen Zusammenhang der konkreten Kulturverhältnisse« realisiert. – Orth (1993: 16). 69 EP I/ECW 2: 6. 70 Ebd., 8 f.

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Geistes. Er ist aber auch bestrebt, das geistige Prinzip herauszuarbeiten, das eine konkrete historische Epoche prägt, indem es alle geistigen Lebensäußerungen formt und folglich in allen aufweisbar sein muß. Für die Annahme, daß er sein Projekt einer Geschichte des Erkenntnisproblems zu Diltheys Arbeiten über die Geschichte der Metaphysik mehr oder weniger absichtsvoll in Beziehung setzt und dabei von ihnen nicht ganz unbeeindruckt bleibt, spricht auch das Einbinden der sich herausbildenden neuen erkenntnistheoretischen Denkart in die sich wandelnden Totalitäten der konkreten historischen Welt- und Lebensauffassung, wie sie in den drei großen Epochen antike, mittelalterliche und moderne Welt vorliegen. Ein weiteres Indiz dafür ist zudem, daß er sich in den beiden Bänden des EP einer ähnlichen Terminologie wie Dilthey (Leben, Lebensgefühl, -ansicht, -führung, -verhältnisse etc.) bedient. Dilthey hatte in der konkreten Lebensverfassung, Lebensstimmung oder Seelenverfassung der einzelnen Menschen bzw. ihrer kulturellen Repräsentanten das relative, historisch konkrete, nicht weiter ableitbare erklärende Prinzip dieser Totalitäten entdeckt, zu welchem die philosophischen und wissenschaftlichen Systeme in einem Verhältnis bloßer Repräsentation stünden. 71 Und auch dem frühen Cassirer gilt es als eine Tatsache, daß die Gesamtheit der Lebens- und Weltanschauungen, der theoretischen Systeme und ästhetischen Stile, der politischen und religiösen Überzeugungen in einer Epoche, oder bei einer bedeutsamen Persönlichkeit, zusammenstimmen müssen. Dennoch betrachtet er die historische Ausprägung dieser Momente mehr als konkrete Gestaltung eines sachlichen, zeitlosen, ideellen Formprinzips, das sich in der universellen Sprache der Mathematik und der mathematischen Mechanik formulieren lassen müsse. Dilthey hingegen vermag in den mathematischen Prinzipien nur eine Teilmethode zu sehen, die das geistige und geschichtlich-gesellschaftliche Leben nicht nur nicht erklärt, sondern vielmehr noch Tendenzen der Vereinseitigung und Entlebendigung befördert. 72 Im Zweiten Buch der Einleitung in die Geisteswissenschaften verwendet er mehrfach den Begriff der Lebensordnung, der in etwa die Termini menschlich-geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit bzw. geistiggeschichtlich-gesellschaftliche Welt ergänzt. So spricht er von einer mittelalterlichen »Weltansicht und Lebensordnung«, um das komplette Bild vom geistigen und gesellschaftlichen Leben des Menschen in der historischen Ordnung des Mittelalters zu charakterisieren. 73 In anderen 71 72 73

Dilthey (1940a, GS II: 359). Dilthey (1922, GS I: 368, 372, 375; 1940b, GS II: 279). Dilthey (1922, GS I: 354).

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Texten ist bei Dilthey aber auch die Rede von der »Lebensordnung« der römischen Gesellschaft und ihren typischen »Lebensbegriffen«. 74 Außerdem beschäftigen ihn die Veränderungen, die der moderne Mensch vollzieht, wenn er seine Individualität entdeckt, behauptet und so zu der ihn prägenden gegenwärtigen »Lebensordnung« findet. 75 Eine Lebensordnung umfaßt die »Grundlinien von wirtschaftlichem Leben, rechtlicher Ordnung, moralischem Gesetz, Schönheitsregeln, Gottesglauben und Gottesverehrung« und außerdem noch die Grundbegriffe im Denken, Dichten, Glauben und Handeln. 76 Eine dauerhafte Lebensordnung auf der Grundlage eines »natürlichen Systems« oder zeitlosen Prinzips findet keine Anerkennung; auch die liberale individualistische kapitalistische Ordnung deutet Dilthey als ein historisches Durchgangsstadium. 77 Der Begriff einer Lebensordnung findet sich ebenfalls in den späten Schriften. So kommt er 1905, also etwa zu der Zeit, in der Cassirer ihn aufgreift, auf das von »Kant und seiner Schule« angewandte Verfahren zu sprechen, vom Seelenleben der Individuen auf die Bedingungen in ihm zurückzugehen, »die eine den einzelnen gemeinsame Welt in allgemeingültigen Erkenntnissen und in allgemeinen und notwendigen Lebensordnungen möglich machen«. 78 In seinem letzten Werk, in dem er die Typen der Weltanschauung in Übereinstimmung mit den Charaktertypen der großen Genies entwickelt, weil bei ihnen die »typische Lebensverfassung« mit dem Charakter eine Einheit bilde, sieht er sich die Lebensverfassung »in ihrer Lebensordnung aus[drücken]. Sie erfüllt alle ihre Handlungen. Sie äußert sich in ihrem Stil«. 79 Für die relativ weite Verbreitung des Terminus Lebensordnung spricht auch, daß er sich ebenfalls bei der Lebensphilosophie nicht zuzuordnenden Denkern wie Windelband 80 und M. Weber 81 findet. Ein Beleg dafür,

74

Dilthey (1940c, GS II: 11). Dilthey (1922, GS I: 355). 76 Dilthey (1940d, GS II: 91, 175). 77 Ebd., 245. 78 Dilthey (1925, GS IV: 47). 79 Dilthey (1931, GS VIII: 98). 80 Bei Windelband ist die Rede von der »durch den Staat und den gesellschaftlichen Zusammenhang gefügten Lebensordnung« (431), von der Vernunft, die »mit ihren Formen zugleich den Inhalt erzeugt und in diesem Inhalte ihre eigene Lebensordnung [ . . . ] als intellektuelle Anschauung oder intuitiven Verstand« verwirklicht (476), von der »industriellen Lebensordnung« (549). – Windelband (1912). 81 Für Weber zeichnet sich in der Epoche der kapitalistischen Wirt schaftsorganisation die Bürokratie »gegenüber anderen geschichtlichen Trägern der modernen rationalen Lebensordnung [ . . . ] durch ihre weit größere Unentrinnbarkeit« aus. – Weber (1988: 330; 1990: 834). 75

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daß es sich nicht um eine terminologische Neuschöpfung handelt, ist z. B. die Rede vom Recht als der »Lebensordnung des Volkes« bei dem Rechtsphilosophen Stahl (1802-1861). 82 Am exzessivsten arbeitet zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber wohl der Lebensphilosoph Eucken mit dem Begriff der Lebensordnung, von ihm hat ihn vielleicht auch sein Schüler Scheler 83 entlehnt. Insbesondere in den 1906 veröffentlichten Grundlinien einer neuen Lebensanschauung (2. Aufl. 1913), mit denen Leben, Seele und Kultur zu einer neuen Einheit geführt werden soll, fungiert die »Lebensordnung« als ein konstitutiver Begriff. 84 Der im EP I von Cassirer erstmals verwendete Begriff der Lebensordnung baut außer dem Bezug auf das geistige und soziale Leben in einer einheitlichen Kulturepoche zudem auf einem idealistisch und rationalistisch verstandenen Ordnungsbegriff auf, der im ideell-relational gedeuteten Ordnungsbegriff der modernen Naturwissenschaft und des Kritizismus (Raum- und Zeitlehre) sein Vorbild hat, wobei er sich gelegentlich auch auf Leibniz’ Definition des Raumes als eines reinen Ordnungsbegriffs beruft. 85 Die Texte Diltheys dürften ihn dabei angeregt oder darin bestärkt haben, die ideelle Ordnung und das historisch-konkrete geistige Leben zusammenzudenken. Eine Bestätigung dafür gibt Cassirer allerdings weder im EP noch in späteren Schriften, in denen er erneut auf den Begriff der Lebensordnung zurückgreift. 86 Zuerst wird der Begriff auf die Epoche der Renaissance bezogen, deren »einheitliche konkrete Lebensordnung« auf der Einheit und durchgehenden Übereinstimmung zwischen der innerlichen gedanklichen Entwicklung und den »mannigfachen Formen und Gestaltungen des äußeren Lebens« beruhte. 87 Auf eine mit Dilthey vergleichbare Weise stellt er dabei fest, daß sowohl für die Epoche des Humanismus als auch

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Eisler (1904, Bd. 2: 233). Scheler bringt einmal zum Ausdruck, daß der ›kapitalistische Geist‹ eines derjenigen Zeichen sei, »die uns das Absterben der Lebensordnung anzeigen, unter deren Kraft und Richtung wir noch leben.« – Scheler (1972b, GW 3: 343 f.). 84 Eucken unterscheidet fünf traditionelle »Lebensordnungen« (religiöse, idealistische, naturalistische, gesellschaftliche und individualistische) und untersucht die Voraussetzungen für eine neue, in die der moderne Mensch sich durch Selbstbesinnung bewußt stellen soll. (Eucken [1913, IX, 3–46, 47, 71 ff., 103 ff.]). Den gleichen Begriffsapparat des Lebens und der Lebensordnung setzt er auch in Der Sinn und Wert des Lebens [1908] ein. – Eucken (1914: 231–378). 85 Ferrari (1992: 168 ff., 176 f., 180); siehe dazu auch LS/ECW 1: 42, 127, 214, 225 ff., 232. 86 FF: 10/ECW 7: 11; IG: 22/ECW 9: 263; PsF II: 156/ECW 12: 151; GL: 100/ ECW 18: 132; PA: 366/ECW 15: 286; VM: 340. 87 EP I/ECW 2: 60. 83

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für die des Mittelalters gelte, daß bei den sie repräsentierenden Persönlichkeiten wie Pascal, Montaigne oder Kopernikus das »Lehrsystem« und das praktizierte »Ideal individueller und gemeinschaftlicher Lebensführung« eine Einheit bilden. Das gesellschaftliche Leben einer Epoche vollziehe sich in der Struktur verschiedener »geistiger Kulturmächte«, 88 die in Übereinstimmung sowohl mit den für sie typischen »konkreten Welt- und Lebensauffassungen« (Ideale der Lebensführung) als auch mit einer bestimmten »logischen Grundansicht« (Erkenntnisideal) stehen. 89 Das gesellschaftliche Ganze umfaßt also die »Art der Lebensführung, der Kultur, der politischen und sozialen Ordnung«. 90 Mit dem Begriff der Lebensordnung lassen sich all diese Momente in eine einheitliche Ordnung (System) bringen, die von einem inneren Prinzip, einem Grundgesetz variabel, aber in festen Grenzen aufgebaut, erzeugt wird. Im Unterschied zu den einzelnen symbolischen »Lebensordnungen«, in die Cassirer 1932 den zu erziehenden Menschen gestellt sieht, die untereinander ebenfalls zusammenstimmen,91 bedeutet ihm 1906 die »Lebensordnung« einer konkreten Kultur- oder Geschichtsepoche lediglich die übereinstimmende Gesamtheit innerer und äußerer Motive, Denkrichtungen, Zwecksetzungen und Gestaltungen, die auf ein einheitliches Prinzip schließen lassen. Doch schon hier spricht er die Überzeugung aus, daß jede dieser Kulturmächte gleichzeitig einer eigenen Gesetzlichkeit entspringt, die, indem sie zusätzlich in die übergreifende Lebensordnung als einem variablen Gesetz eingefaßt ist, einen bestimmten Akzent, eine epochale Tönung erfährt. Dabei sieht er es aber noch als eine zukünftige Aufgabe an, auszuweisen, ob sich in den Kulturmächten eine »gemeinsame Grundtendenz [ . . . ] aussondern und festhalten läßt«. 92 Der Gedanke eines einheitlichen geistigen Prinzips oder Stils, der die subjektiven und objektiven Momente einer geschichtlich-gesellschaftlichen Totalität prägt, findet sich in abgewandelter Weise als Zentralbegriff einer Kulturepoche auch bei Simmel93 und als Typus der Arbeitsteilung und der Produktivkräfte bereits 1845 in Marx’ materialistisch-ökonomischer Geschichtsphilosophie. 94 Im Sinne einer durch ein geistiges Prinzip geprägten, gestalteten kulturellen Lebenstotalität hebt für Cassirer die neuzeitliche humanistische »Lebensordnung«, bzw. ihr neues Ideal der 88 89 90 91 92 93 94

Ebd., IX. Ebd., 6. Ebd., 137. GL: 100; ECW 18, 132. EP I/ECW 2: 9. Simmel (1999b, GA 16: 186 f.). Marx/Engels (1973, MEW 3: 21 f.).

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Lebensführung, »die gesamte soziale Gliederung des Mittelalters auf«, bis in die Gestaltung des »politischen Lebens« hinein. 95 Wenn er im weiteren detailliert beschreibt, wie sich die neuzeitliche Lebensordnung gegenüber dem »mittelalterlichen Leben« und dessen korporativen Zügen durch einen neuen Begriff des Bewußtseins und eine neue Auffassung des Individuums auszeichnet,96 dann verarbeitet Cassirer entweder Diltheysche Anregungen oder befindet sich zumindest mit ihnen in Einklang. Im neuen »Lebensideal« der Renaissancezeit komme im Unterschied zur »Lebensordnung« des Mittelalters ein neues Verständnis des »sittlichen Lebens« bzw. des sittlichen »Zwecks des Lebens« zum Ausdruck. 97 Jede konkrete historische Lebensordnung ruhe nämlich auf einem charakteristischen subjektiven »Lebens- und Selbstgefühl«, das sich in den »Lebensäußerungen« der Menschen objektiviert. Und weil alle Richtungen dieses geistigen Lebens (Sprache, Terminologie, logische Lehren) von ein und denselben Motiven getragen sind, erweisen sie sich als mehr als nur die »zufällige und äußere Hülle des Gedankens«. 98 Die methodischen Vorgaben, die sich aus dieser Bedeutung des Begriffs der Lebensordnung ergeben, lassen das programmatische Aufsuchen der »Keime und Symptome einer neuen Denkweise im allgemeinen Bewußtsein« 99 zu weit mehr als einer Spezialgeschichte des Erkenntnisproblems in der neueren Zeit geraten. Derartig gestimmt entwirft und setzt Cassirer vielmehr ein großes geisteswissenschaftliches Projekt um, welches den »Wechsel aller Lebens- und Lehrformen« der historischen Zeitalter bzw. ihrer »Lebensordnungen« zur Darstellung bringt. 100 Das Projekt geht nicht zuletzt deshalb über eine bloße Geschichte der Erkenntnistheorien weit hinaus, weil es für die neuere Zeit darlegt, wie »die ganze Art der Lebensführung, der Kultur, der politischen und sozialen Ordnung sich geändert« hat. 101 Indem Cassirer hier im Plural von »Lebensformen einer vergangenen Zeit« spricht, die in einer historisch-konkreten Lebensordnung zusammenstimmen, nimmt er mit diesem Begriff der Lebensform inhaltlich dasjenige vorweg, was er später unter den symbolischen Formen der Kultur versteht. 102 Goethe nachahmend und Spengler vorgreifend geht er zudem physiognomisch an die konkreten

95 96 97 98 99 100 101 102

EP I/ECW 2: 60. Ebd., 63 f. Ebd., 95. Ebd., 101 f. Ebd., 129. Ebd., 135. Renz (2002: 71 Anm. 178). EP I/ECW 2, 137.

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Lebensäußerungen der Menschen heran, kommt es ihm doch nicht auf »das Äußere der Lebensformen einer [ . . . ] Zeit«, sondern auf ihr inneres Prinzip an, das sie prägt, das den äußeren Formen ihre Bedeutung innerhalb der historischen und relativen Ordnung gibt. 103 In jeder historischeinmaligen Lebensordnung bilden jeweils andere zentrale Begriffe (z. B. göttliche Transzendenz, Selbstbewußtsein) den »Mittelpunkt für das geistige Leben«.104 Außerdem gewinne jede große epochale Lebensordnung in einem »Grundsystem der [ . . . ] Lebensanschauung« eine gewisse Selbsteinsicht, ein gewisses Selbstverständnis der Logik ihrer Motive. Einzelne philosophische Denker (Montaigne) können, so heißt es bei Cassirer wie auch bei Dilthey, durch ihre »Lebensanschauung« als Repräsentanten oder Sprecher dieser, eine ganze Geschichtsepoche prägenden »Welt- und Lebensanschauungen« fungieren. 105 Zu den methodischen Implikationen einer historischen Lebensordnung gehört der Tatbestand, daß die konkrete »Welt- und Lebensansicht«, die den jeweiligen Kulturbegriff prägt, in ihrem Ergebnis mittelbar auf die Fassung und die systematische Stellung des Erkenntnisproblems zurückwirkt. 106 So finden bestimmte »Widersprüche der Welt- und Lebensanschauung« ihren Ausdruck und Reflex in der vorherrschenden Theorie des Erkennens. 107 Außerdem schlagen sich die »Zeit- und Lebensbedingungen« eines Philosophen oder Wissenschaftlers wenigstens mittelbar in seinem System nieder. 108 Eine Wandlung im Inhalt des Naturbegriffs, wie sie sich in Philosophie und Naturwissenschaft vollzieht, ist für Cassirer somit auch Ausdruck einer »neuen ethischen Lebensansicht, einer neuen Welt- und Wertbetrachtung«, die die Motive der Menschen auf allen Gebieten des Lebens nachhaltig zu bestimmen beginnt. 109 Gewandelter Naturbegriff, neue ethische Lebensansicht und neue Weltbetrachtung sind Momente einer neuen epochalen Lebensordnung, die durch sie und das in ihnen wirkende neue geistige Prinzip gebildet wird. Die Einbettung der Geschichte des Erkenntnisproblems in dieses Konzept einer konkreten historischen Kulturtotalität bestätigt nachdrücklich, daß es bereits in Cassirers Frühwerk keine zwei unvermittelt auseinanderfallenden Ansätze, einen szientifisch-funktionalen und einen geisteswissenschaftlichen, gibt. 110 103 104 105 106 107 108 109 110

Ebd., 138. EP II/ECW 3: 1. EP I/ECW 2, 145, 200. Ebd., 153. Ebd., 200. Ebd., 489. Ebd., 228, 231. Orth (1993: 16).

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2 Leben, Erleben, Intuition und wissenschaftliche Erkenntnis Bisher hat sich gezeigt, daß Cassirer bei der Rezeption der philosophischen Systeme der Renaissance und der Neuzeit vielfach auf den Begriff des Lebens stößt und ihn bei der Deutung der kulturellen Zusammenhänge (Totalität) der historischen Epoche, bei der Klärung von geistigen Abhängigkeiten, Einheiten und Wandlungen (Denkart) selbst in mehreren Bedeutungen zielgerichtet einsetzt. Darüber hinaus enthalten die Schriften dieser frühen Schaffensphase sowohl eine negative, kritische Diskussion von erkenntnistheoretischen Annahmen, die sich auf das Erleben als eigenständiger Erkenntnisquelle (Rechtsgrund) beziehen, als auch erste positive Überlegungen, wie ein philosophischer Grundbegriff Leben in der transzendentalen und kritizistischen Philosophie zu positionieren wäre. Das Eigentümliche an beiden Problemkreisen ist, daß bei ihrer Abhandlung nicht immer explizit vom Leben die Rede ist.

2.1 Kritik erkenntnistheoretischer Topoi der Lebensphilosophie (Erleben, Intuition und Begriff) Das Problem des Lebens als eines philosophischen Grundbegriffs ist immer präsent, wenn Cassirer Kritik an den Begriffen des unmittelbaren Erlebens und der Intuition entwickelt, soweit mit ihnen eine eigenständige Quelle (Rechtsgrund) objektiver Erkenntnis behauptet wird. Diese Kritik stellt eine Polemik gegen einen Topos dar, der nicht nur im Sensualismus, sondern auch in der zeitgenössischen Lebensphilosophie eine zentrale Bedeutung beansprucht. Er gibt sich damit als grundsätzlicher Gegner aller Romantisierung der erlebten Unmittelbarkeit als unabhängiger Quelle wahren Wissens zu erkennen. Gleichzeitig ringt Cassirer jedoch, und das ist bezeichnend für sein Verständnis von Philosophie und Wissenschaft, um das Problem der Unmittelbarkeit, weil er in ihm ein echtes Grundproblem der Erkenntnis sieht. Mit diesen Erörterungen bezieht er unausgesprochen Stellung zu erkenntnistheoretischen Positionen der Lebensphilosophie, obwohl er außer Dilthey und Scheler kaum einen ihrer Vertreter namentlich erwähnt und die Genannten zudem nicht als Lebensphilosophen kennzeichnet. Mit dem Pragmatismus (Dewey, James) findet 1910 in SuF eine der Lebensphilosophie verwandte philosophische Richtung Erwähnung. 111 Die Lebensphilosophie selbst ist in dieser Periode noch kein expliziter Gegenstand der Untersuchun111

SuF: 422; ECW 6, 345.

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gen Cassirers. Mit einer Ausnahme: In dem EP I findet sich eine kurze Passage zur Kritik an der rein intuitiv-deskriptiven Methode, um das Historische zu erfassen (Scheler). Als Gegner des von ihm vertretenen kritischen oder logischen Idealismus fungiert vielmehr der unkritische Sensualismus (Locke, Berkeley) bzw. der Empirismus überhaupt. 112 Eine erste offene Kritik an lebensphilosophischen Positionen erfolgt 1913 an dem Dilthey nahestehenden Berliner Kollegen Frischeisen-Köhler. 113 Bezüglich des Topos des »unmittelbaren Erlebens« lassen sich Cassirers Überlegungen zu drei Thesen zusammenfassen, die im folgenden erläutert werden sollen. Für ihn hat 1. das subjektive Erleben des als Empfindung oder Wahrnehmung Gegebenen keinen erkenntnistheoretisch relevanten Wert. Im Rahmen der strikten kritizistischen Trennung von genetischen und Geltungsfragen spricht er aber 2. dem ursprünglich ganzheitlichen psychischen Erlebnis als einem subjektiven Erleben weder seinen unmittelbaren noch seinen deskriptiven Charakter für das empirische Bewußtsein ab. Schließlich ist er 3. von der erkenntnistheoretisch notwendigen Scheidung (Zerspaltung, Reduktion, Entanschaulichung) dieser ursprünglichen Einheit durch die intellektuellen Verfahren der Abstraktion und Reflexion überzeugt, soll die objektive Erkenntnis der Wirklichkeit vorankommen. Die Unmittelbarkeit des Lebens als eine psychologische Realität hat folglich erkenntnistheoretisch keinen dauerhaften Bestand, wie dies der Intuitionismus beansprucht, wenn Bergson Intuition und Analyse als unmittelbares und mittelbares, Symbole verwendendes Verfahren unterscheidet. 114 Zu 1. Wer von der Gewißheit der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung Gebrauch macht, wie dies Dilthey z. B. in der Einleitung unter Bezug auf die »innere Erfahrung« der Menschennatur tut,115 der bemühe neben bzw. außer dem erzeugenden Denkprinzip eine zweite Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis, und die erweise sich damit – weil jenseits des Denkens – als eine transzendente, substantiale Quelle. 116 Cassirer, der hier für ein mathematisch-logisches Prozeßdenken eintritt, deutet jegliches verdinglicht-transzendente Denken als mythisches Ursprungsdenken, das abzulehnen sei. 117 Die »Berufung auf die unmittelbare Erfahrung« 112

LS/ECW 1: 144. E. Cassirer: Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik (1913), in: EBK: 27 ff.; ECW 9: 159 ff. 114 Bergson (1916: 4 f., 27 f.). 115 Dilthey (1922, GS I: XVIII). 116 LS/ECW 1: 56, 61. Das würde zudem eine »Umdeutung [der Begriffe – C. M.] aus einer Methode in eine Existenz« bedeuten, was Cassirer entschieden zurückweist. – Ebd., 75. 117 Ebd., 59 f. 113

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bedeute somit auch, zur »sinnlich-mythischen Form der Kausalität« zu greifen. 118 Die unmittelbar sinnliche Auffassung leide an dem Defekt, daß sie das Gegebene qualitativ unvergleichlich läßt. Nur ein höherer begrifflicher Gesichtspunkt vermag den qualitativen Vergleich leisten. 119 Für Cassirer gilt 1902 – im Bunde mit Platon – allein das Denken als das »Urbild und Original des Seins«. 120 Es geht ihm dabei allerdings um den Primat des Denkens als eines »Begriffs der Funktion« und keineswegs um ein metaphysisches oder theologisches Erschaffen der konkreten Erfahrungswelt. 121 Das Prinzip des Denkens bzw. der höhere begriffliche Gesichtspunkt sei im Gegensatz zur sinnlich-anschaulichen Unmittelbarkeit des Erlebens allerdings »nicht unmittelbar gegeben«. 122 Weil das Sein des Erkenntnisprinzips das Sein der Dinge begründet, gebe es für den Erkenntnistheoretiker zwar »keine phänomenale Wirklichkeit jenseits des wissenschaftlichen Erkennens und außerhalb seiner Bedingungen«, wohl aber für das psychologische Wahrnehmen der Wirklichkeit. 123 Cassirer wendet sich auch gegen den naiven Realismus des populären Denkens als einer Theorie wissenschaftlicher Erkenntnis. 124 Er findet die Grundüberzeugung seines Logizismus, wonach das Gegebene ein Denkprodukt ist, schon bei Descartes und Leibniz vorgedacht. 125 Erfahrung und sogar Empfindung, alle scheinbar hinzunehmenden sinnlichen Tatsachen, müßten »als Leistung des reinen Denkens erkannt« werden. 126 Mit anderen Worten, hier wird klar die »Ursprünglichkeit der Denkfunktion« betont und scharf »gegen die unmittelbare sinnliche Empfindung und Wahrnehmung« abgegrenzt. 127 Ein derart rationalistischer Erfahrungsbegriff erweist sich als nahezu abgelöst von der unmittelbaren Wahrnehmung bzw. dieser kommt keine eigenständige Rolle zu. 128 Deshalb ist es nur konsequent, wenn Cassirer auch gegen einen Erfahrungsbegriff (Bacon) votiert, der eine »›reine‹ Erfahrung« an118

Ebd., 56 f. Ebd., 272. 120 Ebd., 63. 121 »Das Erzeugen der Gegenstände durch den Verstand« sei lediglich als »eine Metapher« zu verstehen, die nicht wortwörtlich genommen werden darf. – EBK, 74; ECW 9, 198. 122 LS/ECW 1: 159. 123 Ebd., 184. 124 Ebd., 226. 125 Ebd., 3, 131. 126 Ebd., 136; EP I/ECW 2: IX. 127 EP I/ECW 2: 73. So würdigt er an Galilei, daß bei dem »die reine gedankliche Konstruktion der wissenschaftlichen Erfahrung den unmittelbaren Sinnenschein aufhebt und sich an seine Stelle setzte«. – Ebd., 226. 128 Ebd., 271. 119

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nimmt, die abgelöst von jeder begrifflichen Voraussetzung gedacht ist. 129 Wissenschaftliche Erkenntnis wird vielmehr als mittelbare »symbolische« Darstellung und »funktionale Verknüpfung« verstanden,130 wobei jegliches Gegebene bereits die Züge irgendeiner »begrifflichen Formung« in sich trägt. 131 Cassirer besteht allerdings auf dem »kritischen Begriff der ›reinen Sinnlichkeit‹« bzw. auf der »Grundlage der ›reinen Anschauung‹ der Zeit«, da für das exakte Wissen von einem Gegenstand ein bloß geistiges Erfassen nicht ausreicht. 132 Der Begriff der Anschauung, der dem des Lebens notwendig korreliert, wird jedoch gegenüber dem des Denkens tendenziell abgewertet, da er keine eigene Erkenntnisquelle benennt. 133 Das Denken suche bei der wissenschaftlichen Begriffsbildung in der Anschauung nur »seinen Wert und Halt «. 134 Als Grundtendenz entfernten sich die Begriffe »von dem konkreten Faktum der Anschauung in seiner sinnlichen Lebendigkeit [ . . . ] mehr und mehr«. 135 Diese Tendenz bedauert Cassirer keineswegs, sondern sieht in ihr den Erkenntnisfortschritt der Naturwissenschaft verwirklicht. Bieten doch abstrakte Theorien mittelbar eine tiefere Einsicht in die Wirklichkeit als das sinnlich-anschauliche Weltbild. Deshalb kann er sagen, daß sich das Denken von der Anschauung letztlich nur trennt, um »mit neuen selbständigen Hilfsmitteln zu ihr zurückzukehren und sie dadurch in sich selbst zu bereichern«. 136 Zu 2. Obwohl sich Cassirer gegen das unmittelbare Erleben als einer eigenständigen Geltungsquelle der Erkenntnis ausspricht, da diese ihre Rechtfertigung allein im Denken finde, bildet für ihn das psychisch unmittelbar Gegebene, Erlebte dennoch den letzten Zielpunkt der philosophischen Erkenntnistheorie, zu dem jede Welterklärung hinleiten muß. 137 Denn das individuell erlebende Ich sei als ein »Urphänomen« anzuerkennen, das weder erzeugt noch abgeleitet werden kann. Aus diesem Grunde hat Cassirer auch am Begriff der »inneren Erfahrung« (Leibniz) lediglich auszusetzen, daß der eine neue Erkenntnisquelle

129

SuF: 141; ECW 6: 115. EP I/ECW 2: 406. 131 SuF: 141; ECW 6: 115. 132 LS/ECW 1: 85, 193. 133 Die Tatsache, daß bei Leibniz die Anschauung als »die freie konstruktive Erzeugung von Gestalten nach einem bestimmten einheitlichen Prinzip verstanden« werde, würdigt Cassirer deshalb als einen sehr modernen Standpunkt. – SuF: 102; ECW 6: 82. 134 Ebd., 88; ECW 6: 71. 135 Ebd., 195; ECW 6: 160. 136 Ebd., 304; ECW 6: 250. 137 LS/ECW 1: 353. 130

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eröffnet. 138 Psychologische, innere oder subjektive Erfahrung bleibe als rezeptive immer auf intellektuelle Spontaneität und Bedeutungsgebung angewiesen. Deshalb dürfe die »unmittelbare Evidenz«, die das »Ergebnis der ›inneren‹ Erfahrung« ist, niemals dem begrifflichen Beweis mit seinen abstrakten Gründen als unerreichbar gegenüberstellt werden. 139 Cassirer unterscheidet hier also zwischen der psychologisch relevanten »Wirklichkeit, die als Inhalt der Empfindung unmittelbar gegeben« ist, und dem »echten wissenschaftlichen Sein, das erst im Fortgang des Denkens zu erarbeiten ist«. 140 Gegen Mach, Positivismus und Phänomenalismus gewandt erklärt er das »Gegebene der Anschauung« lediglich zum psychologischen Ausgangspunkt der Erkenntnis. 141 Das unmittelbar Erlebte ist und bleibt ein psychologisches Faktum, das selbst keine erkenntnistheoretische Geltung (Rechtsgrund) eröffnet. 142 Diese von Cassirer festgestellte Differenz143 hat durchaus etwas mit der im Geiste der Zeit vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem logisch zu begründenden Charakter der Geltung objektiver Erkenntnis und der psychologischen »Lebhaftigkeit« des Vollzugs von Vorstellungsakten bzw. zwischen logischer und genetischer Analyse zu tun. 144 In diesem Sinne gilt Cassirer die Psychologie als die »Lehre von dem subjektiven Denkverlauf und seinen kausalen Gesetzen«, die Logik dagegen als die »Betrachtung der Grundbeziehungen, die zwischen den Gegenständen des Denkens bestehen«,145 wobei allerdings logische und psychologische Analyse ihren Anteil am Aufbau der Wahrnehmungswelt haben. 146 Wenn Cassirer auf die beschreibende Psychologie (Dilthey, Natorp, Husserl, Litt) als diejenige Wissenschaft zu sprechen kommt, die die Unmittelbarkeit des Erlebens aufzuklären hofft, dann berührt er einen Schnittpunkt von Lebensphilosophie und Phänomenologie. Ihre Innovation sieht er zunächst u. a. darin, daß die neue Psychologie im Unterschied zur naturwissenschaftlich (kausalgenetisch) verfahrenden die »Unterscheidung zwischen dem ›Inhalt‹ und dem ›Gegenstand‹ des Bewußtseins« getroffen hat. 147 Die philosophische Originalität und Pro-

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Ebd., 352 f. Ebd., 363 f. EP II/ECW 3: 31 f. SuF: 153; ECW 6: 125. EBK, 70 f.; ECW 9: 195 f. EP II/ECW 3: 190 f., 304, 309. Lotze (1912: 512). EP I/ECW 2: 478. Ebd., 5; EP II/ECW 3: 190 f. EP I/ECW 2: 508 f., 479.

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duktivität der neuen beschreibenden, rekonstruktiv arbeitenden Psychologie wird er bis ins Alterswerk ergründen, auslegen und würdigen. 148 Zu 3. Der gerade von den Lebensphilosophen in der einen oder anderen Weise zum Ausdruck gebrachte Gegensatz zwischen dem unmittelbaren und ungeschiedenen, ganzheitlichen Erleben und dem diese Einheit zerstörenden rationalen begrifflichen Denken ist als ein Grundkonflikt von Anfang an in Cassirers Schriften präsent. Dabei gilt ihm in erkenntnistheoretischer Hinsicht die Erlebnisunmittelbarkeit, wenn das reflexive Denken erst einmal aktiv geworden ist, als unwiederbringlich verloren. Der damit thematisierte Konflikt, daß jegliche psychologische anschauliche Unmittelbarkeit durch intellektuelle Vollzüge in notwendiger Weise zersetzt und zerlegt wird, ist auch schon den Philosophen der griechischen Antike bekannt und bewußt, stellt also keineswegs eine Entdeckung der modernen Philosophie dar. Seine Bewußtwerdung in der griechischen Philosophie bringt er in der Einleitung in das EP I (1906) in ein historisch-systematisches Schema. Als unterste Stufe fungiert die ursprüngliche »naive Weltauffassung«149 bzw. das »Weltbild der unmittelbaren Anschauung«,150 das als eine »Illusion der Empfindung« – auf einer zweiten Stufe – durch die vormoderne, hypostasierende und substantialisierende Weltanschauung des reflektierenden Denkens, 151 d. h. durch eine »einzige Illusion des Begriffs«, zersetzt wird. 152 Auf einer dritten Stufe entfaltet sich ein modernes funktionales und symbolisierendes Denken,153 das die »Urelemente des Seins« (Atom etc.) »als gedankliche Schöpfungen«, als »Symbole für die Ordnungen und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen« faßt. Als vierte Stufe fungiert das Bewußtsein von der geschichtlichen Abfolge dieses intellektuellen Aufbauprozesses. 154 Entscheidend für uns ist hier der von Cassirer beschriebene Übergang von der ersten zur zweiten Stufe dieses Grundkonfliktes. Die Reflexion, die zum unverzichtbaren Bestand intellektueller Verfahren gehört, zerlegt beim Erfüllen ihrer Funktion unweigerlich ein ursprünglich »einheitliches Grundverhältnis« in eine »Verschiedenheit von Momenten«,155 was auch für die in der psychologischen Erfahrung erlebte ursprüngliche

148 149 150 151 152 153 154 155

ECN 1: 142 ff. EP I/ECW 2: 505. Ebd., 2. Ebd., 517. Ebd., 450. Ebd., 508. Ebd., 2 f., 5. LS/ECW 1: 365.

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Einheit der Sinnenwelt gilt. Die unmittelbare Erfahrung, »die noch von keinem Moment der Reflexion durchsetzt ist«, die noch keine »feste Scheidewand« zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt kennt und in der die Inhalte des Bewußtseins »noch jene Passivität, jene fraglose und unzweifelhafte Gegebenheit« besitzen, wird vom Denken bzw. Nachdenken unweigerlich gespalten und zerrissen. 156 Diese »Entzweiung« ist einer jeden wissenschaftlichen Weltbetrachtung inhärent, und allein die interessiert Cassirer in den frühen Werken. Er wird nicht müde zu betonen, daß, hat die »Sonderung« im begrifflichen Denken erst einmal mittels Reflexion und Abstraktion stattgefunden, »kein Weg zur ursprünglichen Einheit und Totalität zurückführt«, auch wenn dies die Lebensphilosophie und der Intuitionismus immer wieder versprechen. 157 Ihm ist zudem der erkenntnistheoretische Konflikt als unlösbares Dilemma geläufig, wonach »das Abstrakte und das Konkrete, die ›Theorie‹ und das ›Phänomen‹ [ . . . ] auf keiner Stufe unserer wissenschaftlichen Erfahrung jemals vollkommen überein[stimmen]«. 158 Dies zieht die Unausweichlichkeit nach sich, daß unsere Begriffe die volle Wirklichkeit »niemals erreichen und decken«. 159 Die Tatsache, daß Cassirer in den geschichtlichen Systemen der Philosophie auf den Lebensbegriff stößt und daß er in seinen Erörterungen auf ihn nicht verzichtet, läßt ihn bald erkennen, daß der Konflikt zwischen Erleben und Denken gar keine Entdeckung der modernen Lebensphilosophie ist. Auch hat sie nicht als erste über die Konsequenzen eines »›abstrakten‹ Wissens« nachgedacht, ebenso hat sie sich nicht als erste gegen die Vernunft aufgelehnt. Das vollzieht z. B. bereits die skeptische ethische Philosophie Pascals, die dabei mit existentialistischen Ausdrücken arbeitet. (Siehe Abschnitt 1.2) Die sich hier aussprechende »intellektuelle Verzweiflung« an der Ungewißheit der eigenen Existenz hat ja mit dem unauflösbaren Grundproblem zu tun, daß jedes »unmittelbare Lebensgefühl [ . . . ] durch die Reflexion vergiftet« und »jede Reflexion wiederum durch die Forderungen des Augenblicks vereitelt« wird. 160 Das auch von den Lebensphilosophen effektvoll thematisierte Unterbrechen des lebendigen Flusses unmittelbaren Erlebens durch fi xe Begriffe deutet Cassirer zudem nicht als Abfall oder Verfall, sondern als dialektischen Prozeß. Dem erkennenden Denken komme die Aufgabe zu,

156 157 158 159 160

SuF: 360 f.; ECW 6: 293. EP I/ECW 2: 514 f. Ebd., 321. Ebd., 400. Ebd., 432 f.

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»aus dem Flusse der Erfahrung Bestandteile herauszuheben, die sich als Konstanten der theoretischen Konstruktion brauchen lassen«. 161 Die empirischen Naturgesetze, die Konstanten höherer Ordnung lösen »sich im ferneren Prozeß der Erkenntnis wiederum in Variablen« auf. In diesem Fortgang scheint die feste Grundgestalt des Seins und Geschehens immer wieder zu zerrinnen: »Wir ergreifen das beharrliche Sein nur, um es wieder zu verlieren.« Deshalb dürfe der philosophisch gebildete Wissenschaftler nie aus dem Blick verlieren, das dasjenige, was wir Wissenschaft nennen, »wie eine stets sich erneuernde Illusion, eine Phantasmagorie« erscheint. 162 Und dieser Schein ist auszuhalten und ist auch aushaltbar, er rechtfertigt weder Nihilismus noch Skeptizismus. Wenn Cassirer die Annahme von ursprünglichen, gewissen Empfindungsinhalten (Hume, Mach) bzw. eines der reinen Erfahrung gegebenen formlosen, »von jeder begrifflichen Voraussetzung« abgelöst gedachten Empfindungsmaterials als scheinbaren Ausweg aus diesem Grundkonflikt des Erkennens zurückweist, 163 dann verbindet ihn dies u. a. mit dem Phänomenologen Husserl, der ebenfalls in jedem Wahrnehmungsakt eine ideelle bedeutunggebende Schicht aufdeckt.164 Es gibt für Cassirer keine isolierten empirischen Tatsachen, ohne ihren relationalen Ort in Reihen und Beziehungen, und die formlose reine Empfindung ist keine »empirische Wirklichkeit, sondern lediglich das Ergebnis einer Abstraktion«. 165 Die mühsam zu überwindende Kluft zwischen Tatsachen und ihren ideellen Relationen ergebe sich ausschließlich für eine metaphysische Auffassung, während der kritische Idealismus das Objekt »sich in der fortschreitenden Erfahrung selbst gestalten« läßt. 166 In diesem Sinne darf das Gegebene der Erfahrung eben nicht als rein psychologischer Inhalt angesehen werden. 167 Eine Diskussion dieser Problematik unter Bezug auf Philosophen, die der Philosophie des Lebens zuzurechnen sind, bildet in der Periode 1902 – 1913, wie schon erwähnt, noch die Ausnahme. Eine solche stellt die Auseinandersetzung mit dem Verständnis historischer Erkenntnis beim

161

SuF: 352; ECW 6: 286. Ebd., 352 f.; ECW 6: 287. 163 EBK, 55, 60 ff.; ECW 9: 187; siehe auch SuF: 141; ECW 6: 116. 164 Möckel (2003b: 43–62). 165 SuF: 377, 381; ECW 6: 307, 310. Bei der Annahme formloser »reiner Erfahrung«, die für sich selbst Evidenz beansprucht, wird diese Evidenz »dadurch erkauft, daß der Inhalt, der auf diese Weise gewonnen wird, ein schlechthin individueller ist«. – Ebd., 393; ECW 6: 319. 166 Ebd., 395; ECW 6: 321. 167 Ebd., 398; ECW 6: 324. 162

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frühen Scheler (EP I) dar. Von einer Geisteswissenschaft, die meint, direkt am unmittelbaren Erleben und Verstehen ansetzen und ideelle Formprinzipien entbehren zu können, sei ein methodischer Fehlschlag zu erwarten. Ohne »sachliche Prinzipien der Beurteilung werden die historischen Erscheinungen, die für sich allein stumm sind, [niemals] zu einer lebendigen und sinnvollen Einheit«. 168 Als wirkliche Geistesgeschichte erweise sich letztlich »nur das, was wir kraft gedanklicher Synthesen aus ihr machen«. Das Problem der Einheit der Geschichte sei, wie Goethe richtig erkannt habe, der Erkenntnis als hypothetisches Postulat voranzustellen und zu bewähren. 169 Diese Überlegungen richten sich explizit zwar gegen Scheler, können aber durchaus auch Diltheys Einleitung (1883) meinen. In ihr hatte dieser der Stummheit der Natur (Tatsachen) die Tatbestände in der Gesellschaft gegenübergestellt, die uns unmittelbar, durch inneres Erleben verständlich seien. 170 Eine Erkenntnisfunktion des unmittelbaren Erlebens abweisend besteht Cassirer darauf, daß man ohne wissenschaftliche Ordnungsbegriffe »in der geschichtlichen ›Arbeitswelt‹ der Kultur nicht heimisch« werden könne. Auf dieses Thema kommt er 1913, in der Rezension einer Schrift seines Berliner Kollegen Frischeisen-Köhler,171 noch einmal zurück. Hier weist er dessen Auffassung ab, daß der Aufbau von Wirklichkeit nicht aus rationalen Prinzipien zu verstehen und zu begründen sei, sondern »aus den irrationalen Daten und Tendenzen des Bewußtseins, die sich jeder bloß begrifflichen Analyse entziehen, die aber im Erleben selbst unmittelbar gewiß und aufzeigbar sind«. 172 Cassirer sieht damit, »im engen Anschluß an Dilthey«, den »Standpunkt des konkreten Erlebnisses dem [ . . . ] des bloßen Denkens gegenübergestellt«. Nach Frischeisen-Köhler werden Wirklichkeit bzw. Dasein dem einzelnen Individuum »vor allem Denken im Erlebnis des Willens bewußt und gewiß«, das als Potenz »nicht weiter begrifflich deduzierbar«, dafür aber jederzeit erlebbar ist. 173 Die aus dieser Annahme folgende Behauptung, wonach sich auch jedes Wissen um den Zusammenhang dieser Wirklichkeit auf Erfahrungen gründet, »die aus unserem willentlichen Leben stammen«, hält er allerdings für eine zirkelhafte Erklärung, bei der das Abzuleitende schon vorausgesetzt ist. Im Willenserlebnis werde nämlich bereits eine Gliederung

168 169 170 171 172 173

EP I/ECW 2: 12. Ebd., 15. Dilthey (1922, GS I: 36). Frischeisen-Köhler (1912). EBK: 27; ECW 9, 159. Ebd., 28; ECW 9, 159 f.

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– die räumlich-zeitliche Wirklichkeit bzw. Struktur – und damit eine gegenständliche Struktur vorausgesetzt. Nimmt man das unmittelbar erlebende Wollen lediglich »ganz im Sinne eines bloßen ›Gefühls‹ des Strebens«, dann führt uns kein Weg aus dem »Kreise der Subjektivität« heraus. Cassirer polemisiert hier gegen jegliche Versuche, »hinter alle bloß ›logischen‹ Faktoren zurückzugehen«.174 Ohne »das Prinzip der logischen ›Konsequenz‹ und Geschlossenheit der Erfahrungsinhalte« gebe es zumindest keine objektive, wissenschaftlich relevante Wirklichkeitserfahrung. Die echte Erkenntniskritik frage nämlich gar nicht danach, aus welcher sachlichen Quelle etwas Gegebenes entsprungen ist, sondern nur danach, »welche Bedeutungsunterschiede und Wertdifferenzen innerhalb dieses ›Gegebenen‹ anzunehmen sind«. 175 Damit erweist sich die »Differenzierung des anfänglich scheinbar einheitlichen Gebietes in sich selbst« als das alleinige Phänomen, »das einer Erklärung bedürftig und fähig ist.« Die Berufung auf das Willenserlebnis erscheine mehr als Resultat denn als Erklärung des objektiven Wissens bzw. der Erkenntnis. Wenn weder das innere Erleben (Dilthey) noch die gebende Anschauung bzw. Intuition (Husserl), sondern vielmehr das konstruierende Denken als das entscheidende Erkenntnismittel zu gelten hat, dann ist nicht nur der phänomenologische Begriff der Intuition, sondern auch die unmittelbare Intuition des Lebens (Bergson) abzuweisen. Da dieser Begriff aber bei philosophischen Vorbildern wie Leibniz eine Rolle spielt, ist Cassirer bemüht, ihm eine Deutung zu geben, die sich in seine Erkenntnistheorie einfügt. Dieser gilt der wissenschaftliche Gegenstand nicht als ein gegebenes Dasein, sondern als die Gesetzlichkeit eines intellektuellen Denkprozesses,176 der das »Gegebensein« gesetzmäßig »entstehen« lasse. 177 Alles scheinbar evident »anschaulich Gegebene« sei auf einen fundierenden Gedanken zurückzuführen,178 weshalb eine wie immer geartete »anschauliche Evidenz« (Descartes), hier stimmt Cassirer mit Leibniz überein, »zu ihrer Beglaubigung der Deduktion aus reinen Denkprinzipien« bedürfe. 179 Demgegenüber wird »die Bewährung eines Begriffs durch die unmittelbare Gegebenheit der sinnlichen Anschauung« ver worfen. 180 Folglich bevorzugt der frühe Cassirer einen Begriff der Intuition, der genau dies beinhaltet, wie z. B. den Begriff der intel174 175 176 177 178 179 180

Ebd., 29 f.; ECW 9, 161. Ebd., 32; ECW 9, 163. LS/ECW 1: 52. Ebd., 171. Ebd., 241. Ebd., 100. Ebd., 112.

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lektuellen Intuition (Descartes, Leibniz). Hier bedeutet »Intuition [ . . . ] – im Gegensatz zur sinnlichen Auffassung eines Gegebenen – die freie Gestaltung des Objektes aus dem reinen Gesetz des Verstandes«.181 Damit habe Intuition überhaupt nichts mit dem Versuch gemeinsam, »das Seiende unmittelbar zu schauen«, weil dies immer auch eine substantiale Auffassung des Seins impliziert. 182 Von Leibniz inspiriert sieht er »im Ausdruck des methodischen ›Schauens‹« nichtsinnlicher Ideen bzw. möglicher Gegenstände, was deren konstruktive Erzeugung als Geltungseinheiten meint und damit der Idee ihren originalen Platonischen Sinn zurückgewinne, das Denken sich zu seiner objektivierenden Bedeutung bestimmen. 183 Das reine Denken, das alle Sinnlichkeit und Anschaulichkeit konstruiert, beruhe auf einem Denken, das kein diskursives Vergleichen ist, »sondern beschreibendes Entwerfen des Inhaltes: In dieser Funktion kann es geradezu durch den Ausdruck der ›Intuition‹ bestimmt werden«. 184 Außerdem sei die Vielheit der Erkenntnisinhalte allein durch eine »einheitliche ›Intuition des Geistes‹« zu erfassen. 185 Von einer Intuition des Lebens, wie sie von der Lebensphilosophie (Bergson) 186 vertreten wird, ist dabei überhaupt keine Rede. Cassirer setzt sich aber auch kritisch mit der Annahme einer göttlichen intellektuellen Anschauung bzw. eines göttlichen intuitiven Verstandes in Leibniz’ Philosophie auseinander. 187 Sein Bestreben ist es in den frühen Werken, dem bei Descartes und Leibniz gebräuchlichen Terminus der Intuition eine solche Deutung zu geben, die sie zwischen die Sinnlichkeit und das logische Denken postiert, ohne ihr einen unmittelbar gebenden Sinn zuzugestehen. Für seine Deutung der Intuition, die sich auch auf Platons Ideenlehre beruft,188 sucht Cassirer in der Philosophiegeschichte weitere Belege. Dabei stößt er bei Cusanus neben dem abstrahierenden Verstand auf den schauenden Intellekt mit seinen »eigenen und freien Schöpfungen«. 189 In dieser Tradition mittelbarer intellektueller Schau stehe auch Hobbes, dem das Denken als ein »freies anschauliches Konstruieren« gilt, was erlaube, den empirischen Inhalt der exakten Wissenschaft in einen rationalen Inhalt

181 182 183 184 185 186 187 188 189

Ebd., 8. Ebd., 68. Ebd., 110. Ebd., 146. Ebd., 202, 204. Bergson (1916: 46 ff.). LS/ECW 1: 348, 350. EP I/ECW 2: 520, 523. Ebd., 40, 44.

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zu verwandeln. 190 Bei Locke dagegen würden Erfahrung (Induktion, Experiment) und Intuition (Deduktion) immer weiter auseinander treten. 191 Spinozas Auffassung jedoch, wonach »jedes bloß vermittelte Erkennen« auf dem Grunde einer »unmittelbaren Intuition« des absoluten Seins ruht, das »uns selbst ergreift«, kann und will Cassirer nicht teilen. 192 Mit einer solchen Intuition erschauen wir nämlich das Allgemeine unmittelbar im Einzelnen und müssen es nicht »in mühseliger Deduktion erschließen«. 193 Doch genau diese Deduktion, d. h. das Recht der Betrachtung, »kraft derer wir in einem Individuellen ein Typisches erschauen«, bildet das eigentliche sachliche Problem. 194 Spinozas gesamte Philosophie ziele auf den »Grundbegriff der Intuition« des Seins, der Sache selbst hin und unterscheidet sich von der Intuition Descartes’ ganz grundlegend, die ein Prinzip der Einsicht bedeute. Der ausgebildetste Begriff der Intuition findet sich bei Leibniz. Er bezeichnet ein »Grundvermögen der freien Begriffsgestaltung«, bei dem sich der »synthetische konstruktive Aufbau der Erkenntnis« an die analytische Zerlegung der Begriffe anschließt. 195 Mit Leibniz und gegen Husserl besteht Cassirer darauf, daß die Elemente der Deduktion nicht der unmittelbaren Anschauung entnommen werden können, sondern vorher in logischer Zergliederung gewonnen werden müssen. Auf den so im Geiste des Marburger Kantianismus gedeuteten Begriff der Intuition soll auch Kants Anschauungsbegriff gebracht werden. Gegen die sinnlichen Anschauungsformen von Raum und Zeit polemisierend hält Cassirer allein den »produktiven Sinn der Anschauungsformen, das freie synthetische Verfahren, das ›Erdichten‹« und folglich das »spontane Entwerfen der Raumgebilde« für angemessen. Die Deutung jedoch, die die Anschauung »als etwas ›Gegebenes‹ dem Geiste gegenüberstehen« läßt, gilt ihm als verfehlt und hypostasierend. 196 Er bedauert, daß die Begriffe intuitiv und intellektuell beim reifen Kant keine Wechselbegriffe mehr seien, sondern vielmehr einen Gegensatz bildeten. Während die Bedeutung von intuitiv in dem Sinn von intellektuell aufgehe, dürfe der Terminus der Intuitivität dem schauenden Denken jedoch nicht eine der Sinnlichkeit vergleichbare unmittelbare Anschaulichkeit zuschreiben. Von einer nichtsinnlichen Intuitivität des Allgemeinen oder Idealen (Husserl) 190 191 192 193 194 195 196

EP II/ECW 3, 41. Ebd., 215. Ebd., 57. Ebd., 60. Ebd., 250. Ebd., 102, 105. Ebd., 525.

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könne keine Rede sein, weil bei dem Versuch, »reine Vernunftbegriffe in Bildern der Anschauung vorstellig zu machen«, einfach Mystik entstehe. 197 Mystik, Mythus, Hypostasierung und Verdinglichung werden von Cassirer bekämpft, weil sie Skeptizismus nach sich ziehen.

2.2 Vorüberlegungen zu einem philosophischen Lebensbegriff (Doppelrichtung und Symbolverhältnis) Wie wir festgestellt haben, rezipiert Cassirer den Begriff des Lebens nicht nur in den untersuchten historischen Systemen der Philosophie, sondern diskutiert auch seine erkenntnistheoretischen Implikationen. Außerdem deutet er bestimmte Umschläge des Bewußtseins, so von der scheinbaren Einheit des Erlebens zu abstrakten logischen Gegensätzen, als einen Grundzug menschlicher Erkenntnis. Sein transzendentalphilosophischer Standpunkt 198 hat u. a. zur methodischen Konsequenz, daß er nicht der kausalgenetischen Frage nach dem Ursprung bzw. Entstehen der Inhalte nachgeht, sondern sich über die Bedingungen der Möglichkeit bzw. der Funktion der wissenschaftlichen Erkenntnis klar zu werden sucht. In diesem Sinne besteht er darauf, daß ein logischer Gegensatz des Denkens nicht aus einer differenzlosen Einheit hervorgeht, sondern durch Reflexion, Abstraktion und Hypostasierung aus einer ursprünglichen Doppelrichtung gebildet wird. Eine solche strukturelle Doppelrichtung weist er später auch im Begriff des unmittelbaren Lebens (Erleben) auf, die ihn an den Form- bzw. Geistbegriff bindet. So, wenn er dem Leben – wie dem Geist – das Moment der Form ebenso wie das beständige Werden (Fließen) als gleichzeitige Richtungen zuschreibt. 199 Diese Doppelrichtung schwingt auch in den Ausdrücken ›geistiges Leben‹ und ›lebendiger Geist‹ mit. Erleben und geistiges Deuten befinden sich dabei in Korrelation. Wenn dem Menschen diese Richtungs- und Bedeutungsunterschiede bewußt werden, setzt er diese korrelativen Momente als einen absoluten Gegensatz z. B. von Leben (Seele) und Geist (Vernunft). In den späteren expliziten Stellungnahmen zum Problem des Lebens und zur zeitgenössischen Lebensphilosophie spielt dann diese funktionale Erklärung des logischen Gegensatzes eine zentrale Rolle. Sinngemäß beschäftigt sie aber Cassirer bereits 1902, wenn er deutlich 197 198 199

Ebd., 527. Siehe dazu u.a. Renz (2002: 74–82). GL: 51 f.; ECW 17: 200 f.

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macht, daß der Bedeutungsunterschied von Begriffen wie Materie und Form nicht durch die räumliche Metaphorik des Innen und Außen erfaßt und adäquat sprachlich ausgedrückt wird. 200 An Leibniz’ Begriff der ursprünglich erzeugenden Setzung von Teil und Ganzem hebt er deshalb zustimmend hervor, daß dieser sich von »der Analogie mit dem sinnlich-räumlichen ›Innen‹ und ›Außen‹« gelöst habe. 201 Bei Leibniz sieht er die eigene Auffassung bestätigt, wonach scheinbare Gegensätze wie Form und Materie, Seele und Körper nur in- und miteinander aufzeigbar sind. 202 Isoliert voneinander verliere dagegen das Eine wie das Andere seinen Sinn. Ein Verhältnis wie das von Materie und Form läßt sich also nicht durch zwei getrennte ursächliche Faktoren erklären, die man für sich seiend und wirksam annimmt. 203 Analoges gelte für die Begriffe der fließenden Erlebnisunmittelbarkeit und der formenden Vermittlung, die ebenfalls nur »in- und miteinander aufzeigbar« sind. Dieses ursprünglich einheitliche Grundverhältnis, dem nur Bedeutungsdifferenzen einwohnen, wird jedoch von der intellektuellen Reflexion und Analyse zerlegt. Das zeige sich u. a. am korrelativen Verhältnis von Willen und Denken, das nur durch Reflexion und Analyse zum Gegensatz wird. 204 Sich terminologisch an Goethe orientierend205 findet Cassirer auch bei Bruno die Auffassung vor, wonach im »unendlichen Leben des Ganzen« zwei voneinander untrennbare Richtungen wie Sympathie und Antipathie, Streben und Gegenstreben den »Grundtypus alles natürlichen Geschehens« bilden. 206 Eine wichtige Schlußfolgerung, die er aus solchen in der Philosophiegeschichte belegten Überlegungen zieht, zielt zwar nicht direkt auf das Problem des Lebens, sondern auf das der Erkenntnis, dürfte aber für beide Problemkreise Geltung besitzen: Nicht die Einheit der Regeln bildet das Problem, sondern die »Zweiheit, die Spaltung der Erfahrung in zwei verschiedene Hälften«. 207

200

1928 wird er Simmels Ringen um einen modernen Lebensbegriff dafür kritisieren, daß dieser trotz des Vorzuges, Leben (Werden) und Form (Idee) in Eins gefaßt zu haben, den funktional-symbolischen Charakter des Lebens durch diese Metaphorik verschenkt habe. – ECN 1: 14. 201 LS/ECW 1: 117; 348. 202 Ebd., 364. 203 »Die Materie ist stets nur in Bezug auf die Form, wie anderseits die Form nur in Beziehung auf die Materie gilt.« – SuF: 412; ECW 6: 336. 204 »Der Wille ist nicht minder ursprünglich, als es das Denken ist; beide bedeuten primitive Richtungen, die sich jedoch nur in gegenseitiger Beziehung aufeinander darstellen [lassen]«. – LS/ECW 1: 388. 205 Goethe (1998, Bd. 13: 308). 206 EP I/ECW 2: 232. 207 EP II/ECW 3: 606.

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Ein weiteres Problem lokalisiert Cassirer in der Tatsache, daß die ursprüngliche Doppelrichtung, daß ihre gegensätzlichen Momente vom metaphysischen Denken hypostasiert werden, indem es »das LogischKorrelative in ein Dinglich-Gegensätzliches umdeutet«. Dieses berge bereits alle anderen Gegensätze in sich und lasse sich fortschreitend in sie entfalten. 208 Das metaphysische Hypostasieren der Richtungen bzw. Bedeutungsmomente am ursprünglich Einheitlichen, das somit nichts Diffuses, Formloses ist, erweise sich deshalb als so problematisch, weil keine dialektische Lösung diese Trennungen jemals wieder völlig aufzuheben vermag. Demgegenüber werde das funktionale Denken und Auslegen der »unmittelbaren Erfahrung, die noch von keinem Moment der Reflexion durchsetzt ist,« der also der scheinbar antinomische »Gegensatz des ›Subjektiven‹ und ›Objektiven‹ noch völlig fremd« ist, 209 viel besser, adäquater gerecht. Historisch und praktisch werde das naive Weltbild jedoch zunächst vom reflexiven und dann vom hypostasierenden Denken abgelöst. Dennoch müssen sich, so Cassirer, die relativen, beweglichen, un fi xierten Momente oder Richtungen, die die unmittelbare Erfahrung als einen Bewußtseinszustand auszeichnen, beschreiben und erklären lassen, ohne daß sie durch die begriffliche Reflexion dinghaft zerlegt und hypostasiert werden. Eine beschreibende Erklärung, die sich des funktionalen Denkens bedient, verzichtet auf die verräumlichenden Metaphern, da die dieses Grundverhältnis mehr verdunkeln als aufklären, indem sie »an die Stelle einer lebendigen Wechselbeziehung [ . . . ] eine fertige und absolut abgeschlossene Sonderung der Dinge« setzen. 210 In Wirklichkeit haben wir es ja auch mit einer dynamischen, beweglichen Bedeutungsdifferenz (Materie und Form, Leben und Geist) zu tun, in der das eine Moment keineswegs ursprünglicher und logisch unmittelbarer als das andere ist, da beide nur miteinander bestehen. 211 Deshalb können ein und derselbe Erfahrungsinhalt »subjektiv und objektiv heißen, je nachdem er relativ zu verschiedenen logischen Bezugspunkten genommen wird«. 212 Cassirer deutet auch die Begriffe Denken und Anschauung in diesem Sinne als eine Doppelrichtung, die sich gegenseitig und aufeinander bestimmt. Bei Frischeisen-Köhler z. B. beruhe die kritikwürdige Vernachlässigung des rationalen Denkens gegenüber dem irrationalen Willenser-

208 209 210 211 212

SuF: 359; ECW 6: 292. Ebd., 360 f.; ECW 6: 293. Ebd., 363; ECW 6: 295. Ebd., 392; ECW 6: 319. Ebd., 365; ECW 6: 297.

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lebnis auf einem zu eng gefaßten Begriff des Logischen. Das von diesem als unbestimmte, sekundäre Betätigung aufgefaßte Denken, die ohne das in der Anschauung bereits vorliegende Gegebene »gänzlich halt- und inhaltslos wäre«, 213 kann dann diesen gegebenen Bestand bloß zerlegen und wieder zusammensetzen. Der wahre »logische Idealismus« jedoch, dem sich Cassirer zurechnet, lasse »das Moment des ›Gedanklichen‹« bereits in der Anschauung selbst als integrierenden Grundbestand gelegen sein. Einschränkend fügt er aber hinzu, für den Idealisten sei trotz des Tatbestandes, daß die die Anschauung ordnenden logischen Formen nur deshalb die Formen des Gegebenen sind, weil es gedacht wird, dieses Denken »freilich kein ›Erdenken‹«, d. h. »kein willkürliches Hineinlegen von Formen« ins Gegebene sei. 214 Wenn wir den Begriff der Anschauung durch den des Lebens und den Begriff der logischen Formen durch den der geistigen Formen ersetzen, erhalten wir mit dieser Argumentation einen recht genauen Einblick in Cassirers Deutung des philosophischen Lebensbegriffs, der in keinem räumlichen Verhältnis zu den Formen gedacht wird. Leben wie Anschauung gelten ihm niemals als »vernunftloses Chaos«, sondern weisen immer schon zumindest Spuren der ideellen, geistigen Spontaneität auf. 215 Das von Cassirer entwickelte funktionale Denken, das auch für das Lebensthema Konsequenzen zeitigt, erweist sich von Anfang an zudem als ein der Repräsentation und Symbolisierung verpflichtetes Denken. Dies belegen bereits die ersten Schriften. Immer dort, wo er gegen jegliche substantialisierte und hypostasierte Auslegung der Begrifflichkeiten polemisiert, drängt sich das symbolische und repräsentative Prinzip für das Verhältnis von Einzelnem und Gesetz (Ganzes) geradezu auf. Dieses Prinzip wiederum konnte und mußte letztlich auch für die einzelnen Lebensmomente und den Lebensprozeß als Ganzen gelten. Den Grundgedanken des Symbols, das als ein Einzelnes für die Unendlichkeit, eine Zahlenreihe etc. steht, hatte bereits Cusanus formuliert. 216 Descartes nehme diesen Gedanken auf, wenn er seine Wahrnehmungstheorie nicht auf stoffliche, bildliche Übereinstimmung zwischen Wahrnehmungsbild und Wahrgenommenen, sondern auf die funktionale Verknüpfung und symbolische Darstellung der Sachverhalte gründet. 217 213

EBK: 33; ECW 9: 164. Ebd., 34; ECW 9: 165. 215 Siehe dazu Renz (2002: 84). 216 Bei ihm trägt das Symbolisierte nichtsinnlichen, ideellen Charakter und ist allein durch »das Auge des Intellekts« zu fassen, als das Symbolisierende dagegen fungiert die sinnliche Natur. – EP I/ECW 2: 21, 24, 33 f., 36, 38. 217 Ebd., 406. 214

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Die vielfältigsten und produktivsten Ansätze findet Cassirer aber bei Leibniz vor, dessen »Versuch einer allgemeinen Begriffs- und Zeichensprache« bzw. Zeichenwissenschaft er umfassend würdigt. Hier erfüllen die mathematischen Zeichen die Funktion von Begriffen, indem sie »gegenständliche Beziehungen«, »gedankliche Relationen zwischen den Inhalten«, d. h. »Grundrelationen der Mathematik« darstellen. 218 Das Einzelne repräsentiert die Vielfalt, indem es sie darstellt. 219 Am Beispiel, wie das reale Zeitmoment den zeitlichen Gesamtprozeß repräsentiert, verdeutlicht Cassirer, daß die Repräsentation des Gesamtprozesses durch ein Einzelglied allein dadurch möglich ist, daß wir »das Einzelne als Sonderfall einem umfassenden System eingeordnet denken«. 220 Der tiefere Sinn der Repräsentation des Mannigfaltigen beruhe dabei nicht auf der unmittelbaren sinnlichen Ähnlichkeit zwischen dem Ausdruck eines Gegenstandes und diesem selbst, sondern auf der lediglich »analogischen Entsprechung in den logischen Grundverhältnissen«. Cassirer hält zudem fest, daß bei Leibniz im Prinzip der Repräsentation die »Grundlage für den Begriff des Symbols geschaffen« ist, 221 den dieser schon auf exemplarische Weise nutze. 222 Hier bedeutet für Cassirer der Terminus funktionell das Gegenteil zu substantiell und der Terminus symbolisch zielt – in Anlehnung an Leibniz – auf den Gegensatz zu unmittelbar, d. h. zu intuitiv. 223 Er würdigt zudem, daß Leibniz auch an einer »allgemeinen Symbolik« gearbeitet hat, die die Einzelgebiete und Richtungen des Denkens gegenseitig durcheinander darstellbar machen soll. 224 Im Grunde ist für Cassirer das Leibnizsche Symbol auch schon mit einer Ausdrucksfunktion verbunden, 225 so z. B. wenn diesem die Kunst als reine »Symbolik des Gefühls« gilt. 226 Die Einsicht, das Verhältnis zwischen Einzelnem und Mannigfaltigem, zwischen Teil und Ganzem als Repräsentation aufzufassen, richtet sich gewollt oder ungewollt gegen den Anspruch sowohl der intuitioni218

LS/ECW 1: 124. Das mathematisch ›Einfache‹ erhält bei Leibniz »den logischen Sinn und die Aufgabe der ›Repräsentation des Mannigfaltigen‹«. – Ebd., 163. 220 Ebd., 263, 269. 221 Ebd., 217 f. 222 So gehe bei Leibniz »die Extension [ . . . ] in funktionell symbolischer Bedeutung in den Prozeß ein.« Auch »die Einheit des Bewußtseins« werde bei ihm »symbolisch darstellbar«. – Ebd., 173. 223 Für Leibniz »ist eine Erkenntnis symbolisch, wenn sie sich damit begnügt, den Inhalt, statt ihn direkt [ . . . ] vorzustellen, durch Zeichen wiederzugeben; sie ist intuitiv, wenn sie dieses Hilfsmittels nicht bedarf.« – EP II/ECW 3: 113. 224 LS/ECW 1: 365, 418. 225 Ebd., 418; vgl. auch SuF: 56; ECW 6: 44. 226 LS/ECW 1: 419. 219

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stischen Lebensphilosophie als auch des sensualistischen Positivismus, die Unmittelbarkeit des Erlebten erfassen und festhalten zu können. In dem Zusammenhang gelten Cassirer auch die uns »direkt gegebenen Empfindungen« nur als unvollständige Symbole der Wirklichkeit. 227 Gegen den »repräsentativen Charakter« der Wahrheit hatte der Lebensphilosoph Dilthey mit dem Argument polemisiert, die Repräsentation ziehe die »Relativität des Wahrheitsgehaltes« eines Systems nach sich. 228 Berkeleys Auffassung, wonach der Wahrnehmung über ihren unmittelbaren Inhalt hinaus eine Funktion zuwächst, »vermöge derer sie uns völlig anders geartete [ . . . ] Verhältnisse repräsentiert«, bringt Cassirer dagegen Sympathie entgegen. 229 Die Zeichen, denen jene Funktion der Allgemeinheit eignet, die der sinnlichen Vorstellung für immer versagt bleibt, sind keine willkürlichen Gebilde, sondern besitzen die Eigenschaft der Stellvertretung und repräsentieren die Gültigkeit, nicht das Sein der Beziehungen und Verknüpfungen zwischen den Ideen. 230 Weil die Begriffe für Berkeley ebenfalls eine repräsentative Funktion besitzen, habe es die Wissenschaft ausschließlich mit Symbolen zu tun. 231 Für das in der modernen Naturwissenschaft sich durchsetzende funktionale und symbolische Denken erweisen sich die Urelemente des Seins (Begriffe wie Atom etc.) »als gedankliche Schöpfungen«, als »Symbole für die Ordnungen und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen«. 232 Deshalb gehe schon bei Kant »alle ›Realität‹ des ›transzendentalen‹ Gegenstandes« in die »reine symbolische Bedeutung auf«. 233 Eine weitere Ausprägung erhalten diese Überlegungen wenige Jahre später in SuF (1910). Die Annahme, daß durch Relationen verknüpfte Glieder eines Geschehens einzelne herausgehobene Phasen desselben als Symbole des Gesamtprozesses fungieren lassen, wird von Cassirer später gelegentlich auch auf den biographischen Lebensprozeß angewandt, so in seinen Kant- und Goethedarstellungen. In SuF aber wird die Erkenntnis als ein geistiger Gesamtprozeß verstanden, der sich in seinen einzelnen Phasen symbolisiert und repräsentiert findet, von denen eine auf die anderen hinweist. 234 Die Theorie der Repräsentation sei mittlerweile sogar 227

»Aber was in diesen Inhalten symbolisiert ist, das sind keine absoluten Dinge außerhalb des Geistes, sondern der Inbegriff [ . . . ] unserer geistigen Gesamterfahrung«. – Ebd., 243. 228 Dilthey (1922, GS I: 359, 406). 229 EP II/ECW 3: 235 f. 230 Ebd., 264 f. 231 Ebd., 240. 232 EP I/ECW 2: 2 f. 233 EP II/ECW 3: 633. 234 SuF: 376; ECW 6: 306 f.

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von der Skepsis bedroht gewesen, weil das Symbol keine Ähnlichkeit mit der ideellen Bedeutung mehr hat, die es ausdrückt. Doch die neueste Theorie hebe dieses Bedenken auf. Der Begriff der symbolischen Repräsentation umfaßt mindestens zwei Momente, zwei Seiten. Zum einen bedeutet alles scheinbar rein psychologisch Gegebene, das uns die sinnliche Wahrnehmung (Empfindungen) präsentiert, zugleich etwas, »was nicht direkt in ihm selbst liegt«, überschreitet also auf ideelle Weise die Wahrnehmungsgegebenheit. 235 Zum anderen liege aber »in dieser ›Repräsentation‹ [ . . . ] kein Moment, das uns über die Erfahrung als Gesamtsystem hinausführt«. Folglich besitzt jedes Einzelglied der Erfahrung insofern »symbolischen Charakter, als in ihm das Gesamtgesetz, das die Allheit der Glieder umschließt, mitgesetzt und mitgemeint ist.« 236

2.3 Lebendigkeit der Erkenntnis Als eine der Schattierungen bzw. Bedeutungsnuancen des Lebensbegriffs bezieht Cassirer die Terminologie, die von der »Lebendigkeit« bzw. »Belebung« der Erkenntnis handelt, auf die wissenschaftliche Erkenntnis als einen lebendigen Gesamtvorgang mit seinen Teilaspekten, auf das Lebendige der einzelnen Erkenntnisvermögen (Anschauung), was auch das Leben des Geistes, des Ideellen und der Formen einschließt, auf die lebendige Wirkung dargestellten, vermittelten und rezipierten Wissens und auf das Eingebettetsein der Erkenntnis in das Leben des Menschen, seine kulturelle Lebenswelt und Lebenspraxis. Den Lebenscharakter des Erkennens, der Erkenntnismittel und des Erkannten versteht er als eine wichtige Forderung an die Wissenschaft selbst, die es einzulösen gilt. Indem sich die Wissenschaft dessen bewußt wird, mißt sie sich dem »eigentlichen Leben der Erkenntnis« an und ist selbst lebendig. 237 Diese Forderung bezieht Cassirer keineswegs allein auf die sinnlich-anschauliche Erkenntnis, sondern auch – und vor allem – auf die theoretische oder ideelle Einsicht, der die Anschaulichkeit abgeht. 238 Mit dem Verständnis für das Leben und die Lebendigkeit der Erkenntnis, ihrer Gewinnung und ihrer Darstellung, steht er in einer langen und weiten Tradition, die weit über die Strömung der Lebensphilosophie hinausgeht. Der von ihm hoch verehrte Goethe hatte z. B. seinerzeit diese

235 236 237 238

Ebd., 32; ECW 6: 24 f. Ebd., 197 f., 399; ECW 6: 161 f., 324. EP I/ECW 2: 13. Siehe dazu Möckel (2003b: 9–24).

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Einsicht in markanten Worten formuliert und auch selbst beherzigt. Er konstatiert dabei die Lebendigkeit des Erkennens und der Wissensvermittlung sowohl für die sinnliche Anschauung und ihre Orientierung auf die Welt der Phänomene als auch für die belebende Funktion des Ideellen. 239 Auch gilt ihm Leben als Manifestation, als symbolische Äußerung (Besonderung) eines Ideellen oder Gesamtzusammenhanges. 240 Cassirer ist sich dieser Tradition wohl bewußt, weshalb er den Sinn für die Lebendigkeit des Erkennens bzw. das Vermögen, sie auf lebendige Weise darzutun, immer wieder würdigt, sobald er ihm in den geschichtlichen und zeitgenössischen Systemen der Philosophie entgegentritt. Zunächst teilt er ganz grundsätzlich die Erwägung, wonach die Lebendigkeit beim Erforschen und Darstellen einer Erkenntnis (Theorie), die sich der Sache und der Begrifflichkeit nach jenseits der wahrnehmbaren sinnlichen Wirklichkeit bewegt, dem menschlichen Fassungs- und Verstehensvermögen angemessen und zuträglich ist. Dies gilt auch für die methodische (logische) Begründung einer Erkenntnis. Allerdings gehe die »lebendige und unmittelbare Arbeit der Forschung« in der Regel einen anderen Weg als die erkenntnistheoretische Betrachtung. Forschung und logische Rechtfertigung lassen sich, als zwei Richtungen des Erkennens, nicht einfach zur Deckung bringen. 241 Es ist Cassirer immer ein anerkennendes Wort wert, wenn es ein Autor vermag, den inneren Zusammenhang zu einem »lebendigen Ausdruck« zu bringen. 242 Die Tatsache, daß geistige Systeme (Philosophie und Erfahrungswissenschaft) in einer epochalen kulturellen Ordnung in »lebendigem Zusammenhang« stehen, setzt aber voraus, daß sie im Bewußtsein der Zeitgenossen wachgehalten werden. 243 Lebendigkeit des Erkennens bedeutet also auch, Zusammenhänge zu erfassen und sie anschaulich, verständlich darzutun. In diesem Sinne bezieht sich Cassirer auf die »lebendigste« Schrift eines Autors und hebt sie von denjenigen Werken ab, die einen geringeren Grad an Lebendigkeit besitzen, weil dann auch ihre Ausstrahlung, Wirkung auf Geist und Gemüt der Leser schwächer ausfällt. 244 Deshalb hält er, als ein an der Vermittlung und Breitenwirkung des Wissens Interessierter, die »anschauliche Belebung und Verdeutlichung des Gedankens« durch Allegorien oder sprachliche Bilder für vorteilhaft. 245 Damit zollt er der 239 240 241 242 243 244 245

Goethe (1998, HA 13: 164); siehe dazu Möckel (2003a: 25–53). Goethe (1998, HA 13: 55). SuF: 278 f.; ECW 6: 229. EP I/ECW 2: 229. EP II/ECW 3: 348. EP I/ECW 2: 64. LS/ECW 1: 419.

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sinnlichen Anschaulichkeit als wichtigem Stimulus für die Faßlichkeit von unanschaulichen oder abstrakten Gedanken (Theorien) didaktischen Respekt, obwohl seine Begriffs- und Erkenntnistheorie die Abkehr von ihr als notwendigen Schritt wertet. Es hat auch den Anschein, als rückt Cassirer mit seiner Auffassung vom Lebendig-Werden einer Einsicht in die Nähe von Diltheys hermeneutischem Verstehen des Lebens. Indem z. B. Burckhardts Darstellung uns das Gesamtbild der Renaissance in seinen einzelnen Zügen erst »wieder lebendig gemacht« hat, 246 eröffnet sie uns das Verstehen der qualitativen Vielfalt dieser Kultur- und Geistesepoche. Noch weiter auf Dilthey und ein für die Lebensphilosophen überhaupt typisches Verständnis bewegt sich Cassirer zu, wenn er u. a. die »subjektive Lebendigkeit von Montaignes Stil« preist. 247 Ist es doch gerade diese subjektive, echte und von begrifflicher Reflexion noch nicht verfälschte Lebendigkeit, die uns die Lebensphilosophen als alternatives Erkenntnisziel gegenüber der wissenschaftlichen Objektivität in der Naturforschung propagieren. Doch die »subjektive Lebendigkeit« des philosophischen Stils beim Beschreiben der eigenen Innerlichkeit, des eigenen Lebensgefühls etc. gilt Cassirer hier nicht als eine Form wissenschaftlicher Objektivation, auch wenn sie diese unter Umständen zu beleben vermag. 248 Seine eigene moderne Theorie der wissenschaftlichen Begriffsbildung schränkt – im Unterschied zur Phänomenologie – den anschaulichen Charakter von etwas Gegebenem allein auf die Sinnlichkeit ein und spricht ihn den abstrakten Allgemeinbegriffen ab. Obwohl für ihn die Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Wahrnehmung durchaus ein Faktum der beginnenden empirischen Erfahrungserkenntnis ist, 249 ent fernen sich aber die Begriffe, die auf dieser Erfahrungsgrundlage gebildet werden, »von dem konkreten Faktum der Anschauung in seiner sinnlichen Lebendigkeit [ . . . ] mehr und mehr«. 250 Folglich entziehen sich die allgemeinen Relationen bzw. die sie ausdrückenden Begriffe der Möglichkeit sinnlich-anschaulicher Darstellung und verlieren alle sinnliche Lebendigkeit. 251 Einige sich anschließende Erläuterungen sollen

246

EP I/ECW 2: 61. Ebd., 149. 248 So registriert er mit Interesse, daß bei Spinoza »das mathematische Schema der Naturerklärung« sich »belebt«, weil er die für die Renaissance selbstverständliche »innere Lebendigkeit« der Natur auf den Naturbegriff der exakten Wissenschaft überträgt. – EP II/ECW 3: 92. 249 SuF: 431; ECW 6: 351 f. 250 Ebd., 195, 297; ECW 6: 160, 243 f. 251 LS/ECW 1: 206. 247

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dartun, warum Cassirer die von der Renaissance- und Naturphilosophie erhobene Forderung, die »trockenen Abstraktionen« des scholastischen Denkens auszumerzen, trotzdem nicht abweisen muß. 252 Zum einen unterscheidet er, ganz im Geiste der Zeit, den logisch zu begründenden Charakter der Geltung objektiver Erkenntnis von der psychologischen »Lebhaftigkeit« des Vollzugs von Vorstellungsakten. 253 Für den konkreten psychologischen Vollzug des Erkennens stehen die Sinnlichkeit und die ihr gemäße Lebendigkeit – Gefühlsregungen und unmittelbares Erleben – nicht in Frage. Zum anderen hält Cassirer bekanntlich die Behauptung, uns sei ein unmittelbares, völlig form- und ordnungsloses subjektives Leben (Erleben) wissentlich zugänglich, für einen Mythos bzw. eine Selbsttäuschung. Die Lebendigkeit z. B. historischer Erscheinungen, die als Momente eines sich entfaltenden Gesamtprozesses fungieren, werde durch die notwendigen anschauungslosen sachlichen Prinzipien der Beurteilung nicht beeinträchtigt. Das Ziel der Erkenntnis, diese Erscheinungen zu einer »lebendigen und sinnvollen Einheit« werden zu lassen, wird durch sie sogar erst realisierbar. 254 Denn die sachlichen Prinzipien der Beurteilung des im psychischen Vollzug sinnlich-anschaulich Gegebenen fügen sich in die ideelle Schau der zu gestaltenden lebendigen und sinnvollen Einheit der Erscheinungen im Prozeß ein. In diesem Sinne einer »höheren« Anschauung (Goethe) kann Cassirer auch daran festhalten, daß in der Renaissance die »lebendige Anschauung des Naturganzen [ . . . ] das Grundziel der Betrachtung« bleibt. Auch wenn dies immer mehr durch rationale und mathematische Mittel geschieht. 255 Auf Grund einer solchen rational gestützten oder ermöglichten Lebendigkeit drücke sich das »humanistische Lebens- und Selbstgefühl« der Renaissancezeit in der »Überlegenheit des neuen persönlichen Bildungsideals über die abstrakte Schulgelehrsamkeit« der Scholastik aus. 256 Die humanistische Rhetorik z. B. finde ihren Maßstab an der »lebendigen Sprache«. 257 Auch der Naturforscher Kepler, für den die erstrebte anschauliche »Lebendigkeit« dem Urteil des Verstandes durchdringlich bleiben muß, stehe für diese Haltung. 258

252

Besitzt doch für ihn allein der leere Gattungsbegriff keinen wissenschaftlichen Geltungswert, der abstrakte mathematischen Relations- und Funktionsbegriff aber sehr wohl. – EP I/ECW 2: 317 ff., 349, 373. 253 EP II/ECW 3: 304, 309. 254 EP I/ECW 2: 12. 255 Ebd., 265. 256 Ebd., 102. 257 Ebd., 104 f. 258 Ebd., 292.

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Schließlich reklamiert Cassirer Lebendigkeit und belebende Wirkung selbst für die unanschaulichen Ideen, für unsinnliche Denkweisen und Wirkungen. Immer wieder sieht er Notwendigkeiten und andere ideelle Bestimmungen aus irgend etwas »quellen«, wobei er hier einen Begriff verwendet, der sich auf das Leben und sein Entspringen aus biologischem, psychischem und geistigem Quell bezieht. 259 Außerdem stünden ideelle Bedeutungsgehalte wie Allgemeines (Gesetz) und Besonderes (Tatsache) in »lebendigem funktionalen Zusammenhang«, indem sie sich zueinander wie Mittel und Zweck verhalten. 260 Sie befinden sich in einer »lebendigen Wechselbeziehung«. 261 Mehrfach spricht er auch vom Lebendigsein bzw. Lebendigwerden einer unsinnlichen Idee, so, wenn eine ehemals lebendige und deshalb wirkmächtige Idee diese ihre verlorene oder vergessene Lebendigkeit bei den einflußreichen Denkern einer Epoche zurückgewinnt. Deshalb untersucht er z. B., ab wann die eigentliche Grundfrage des Platonismus »lebendig geworden« ist. 262 Neue theoretische Probleme werden im Denken bzw. in der Problemsicht großer Philosophen »lebendig «. 263 In einem bedeutenden Werk tritt uns das »lebendige und unmittelbare Zeugnis einer neuen Denkart« entgegen. 264 Ebenso kann ein neuer Blick einen neuen Ideengehalt »lebendig« werden lassen. 265 Mit diesem Ausdruck verbindet Cassirer sowohl das Lebendigsein des Ideellen im Sinne eines ideellen Werdens, aber auch große Klarheit und Prägnanz, Einsichtigkeit und Wirkung auf andere Menschen. 266 Als Gegenteil von Lebendigkeit oder Belebung gilt die Erstarrung, das Abtöten, was vor allem im metaphysischen Denken Platz hat, weil das seine Begriffe, Relationen, Ideen etc. substantialisiert, hypostasiert und verdinglicht. Außerdem zieht die alte, traditionelle Logik der Klassifizierung (Gattung, Arten) diese lebensfeindlichen Konsequenzen nach sich. Ein leeres Wort, ein Substanzbegriff kann niemals zu »wirklichem Leben erweckt werden«. 267 Deshalb sieht Cassirer den »Beweis der Lebendigkeit« einer bestimmten Problemstellung immer dann vorliegen, wenn sich ein Denker (Descartes) beim Durchdringen wissenschaftlicher Einzelprobleme über die fatale metaphysische Richtung der Begriffsbildung

259 260 261 262 263 264 265 266 267

Ebd., 400, 403. SuF: 313; ECW 6: 255. Ebd., 363; ECW 6: 295. EP I/ECW 2: 66. EP II/ECW 3: 204. Ebd., 503. EP I/ECW 2: 44. Ebd., 271. EP II/ECW 3: 220.

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zu erheben vermag. 268 Wenn Hypostasierung, Substantialisierung und Verdinglichung des Denkens erst einmal aufgedeckt und kritisiert sind, dann spüre man selbst in den überlieferten Gewändern der Scholastik die »lebendige Regung neuer und folgenreicher Gedanken«. 269 Eine Denkweise zeichne sich immer dann durch »Kraft und Lebendigkeit« aus, wenn sie metaphysische Irrwege vermeidet. 270 Eine wichtige, Leben zersetzende Weise metaphysischen Denkens resultiert, wie bereits angesprochen, aus dem metaphorischen Gebrauch verräumlichender Termini. Sie verdunkeln z. B. das Grundverhältnis von Subjektivem und Objektivem, weil sie an die Stelle einer »lebendigen Wechselbeziehung« eine fertige und absolut abgeschlossene Sonderung der Dinge setzen. 271 Bei aller Würdigung der Nuancen von Lebendigkeit und Belebung für die Erkenntnis und ihre darstellende Vermittlung gesteht Cassirer diesen Qualitäten jedoch nicht zu, als eine eigene Rechtsquelle für die Wahrheit des Wissens zu fungieren. Die Objektivität, die wir Tatsachen und ihren Verknüpfungen zusprechen, müsse vielmehr logisch begründet sein. Sie dürfe demgegenüber nicht lediglich auf der »Energie und Lebhaftigkeit« beruhen, die den Geist zu seinen Verwirklichungen treibt. 272 Insbesondere wendet er sich dagegen, die erlebte Lebendigkeit psychischer Vollzüge des Denkens und Erkennens als eine Rechtsquelle der Wahrheit und Objektivität der Erkenntnis zu deuten. Deshalb hält er auch Humes Erkenntnistheorie entgegen, daß weder die »sinnliche Lebhaftigkeit [ . . . ] der Einzelvorstellungen« noch die »Lebhaftigkeit des Vorstellens« zur Begründung der Objektivität und Notwendigkeit hinreichen. 273 Vielmehr sei nach der inhaltlichen Bestimmtheit und nach der phänomenologischen Beschaffenheit zu fragen, die wir in Wirklichkeit meinen, »wenn wir unseren Ideen ein ›objektives‹ Sein zusprechen«. Der Verweis auf die »Lebendigkeit«, mit der sich die Einzelvorstellungen oder Wahrnehmungen dem Bewußtsein aufdrängen, erkläre logisch noch nichts. 274 Für das wissenschaftliche Erkennen ist es eben nicht die »sinnliche Lebhaftigkeit des Eindruckes«, sondern dieser innere Beziehungsreichtum logischer Differenzierung, der dem Einzelinhalt das Kennzeichen wahrhafter Objektivität aufprägt. 275

268 269 270 271 272 273 274 275

LS/ECW 1: 53. EP I/ECW 2: 446 f. Ebd., 265. SuF: 363; ECW 6: 295. EP II/ECW 3: 309. Ebd., 304, 309. Ebd., 317. SuF: 373; ECW 6: 303.

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3 Wissenschaft vom organischen Leben, der Person und den geistigen Lebensmächten In den frühen Untersuchungen und Darstellungen des Erkenntnisproblems geht Cassirer nicht nur dem Zusammenhang von historischer Lebenswelt und Methodenverständnis nach, sondern untersucht auch die sich herausbildende Begrifflichkeit des Lebendigen, der Person und des geistigen Seins (Kulturmächte des Lebens). Deshalb schenkt er neben den Problemen der mathematischen Wissenschaften auch dem Problem der Lebenswissenschaft (Biologie) und der Wissenschaften vom geistigen Leben breite Aufmerksamkeit. Die organische Natur bzw. der lebende Organismus bilden spätestens seit Kants Kritik der Urteilskraft einen Gegenstand für Philosophie und Naturwissenschaft. In diesem Kontext zeigt auch Cassirer Interesse für die Wissenschaften des organischen Lebens bzw. der biologischen Individuen – als den Trägern des Geistes. Auch aus dem Grunde hält er in ihrer Geschichte nach Vorleistungen und Ansätzen Ausschau, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Wirkungen entfalten. Erneut gilt ihm Leibniz als wichtiger Anreger. In dessen philosophisch-wissenschaftlichem System werde auf exemplarische und bahnbrechende Weise Mechanik (Physik) und Organik (Biologie) über den Ansatz des Geschichtlichen miteinander versöhnt. 276 Den Anfang mache dasjenige mathematische Verfahren, mit dessen Hilfe sich Physik und Biologie aus nur einem Prinzip, und nicht aus zwei einander fremden Prinzipien, aufbauen lassen. Hierbei habe sich Descartes mit der Ansicht ein philosophisches Verdienst erworben, daß die »biologische und anthropologische Erfahrung« sich erst auf dem Grunde der mathematischen und mechanischen aufbaut. 277 Diese Tendenz, die Lebenserscheinungen monistisch nach dem Prinzip der Mechanik zu erklären, führe Leibniz auf beispielgebende Weise fort. 278 Dabei vollziehe dieser den Übergang von der abstrakten Mechanik zum »Gebiet der organischen Naturbetrachtung«, indem mit der Monade ein bestimmtes Subjekt als »selbsttätiger Quell all seiner inneren Wandlungen« gedacht wird. 279 Indem sich der Aufbau der Wirklichkeit in prästabilierter Harmonie als ein Prozeß vollzieht, bei dem allen durchlaufenen Gesichtspunkten eine relative, aber notwendige Bedeutung zukommt, haben wir es nach Cassirers Auffassung hier mit einem einheitlichen »natürlichen

276 277 278 279

LS/ECW 1: 456. Ebd., 20. Ebd., 358. EP II/ECW 3: 152.

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Lebensprozeß« zu tun. An Leibniz’ Erweiterung der Mechanik zur Biologie schätzt er insbesondere, daß dies erfolgte, ohne eine dem begrifflichen System fremde »Lebenskraft« zu Hilfe zu nehmen. Möglich war dies aber nur durch die Einführung des irrationalen Zufalls ins System. Begünstigt hatte diese Erweiterung auch die Tatsache, daß Leibniz’ mathematischer Rationalismus nicht mehr im notwendigen Gegensatz zur entwicklungsgeschichtlichen Auffassung stand. 280 Dagegen vermag Cassirer in dem Tatbestand, daß bei Aristoteles die Logik gegenüber der Biologie die leitende Funktion der Erkenntnis verliert, nur einen Rückschritt in Bezug auf den logischen Idealismus Platons zu sehen. Werde doch bei Aristoteles das ganze Universum ausgehend vom Organismusbegriff als »einheitliche, formgebende und lebensspendende Tätigkeit« erklärt, was eine Substantialisierung der Begriffe nach sich zieht. 281 1902 hatte Cassirer mit Interesse registriert, daß Lessing und Herder die Monadologie, mit deren Hilfe Leibniz sich den Organismus als Individuum ebenso wie den lebendigen Geist erschlossen hatte, für die Geisteswissenschaften (Geschichte) nutzbar gemacht haben. 282 Überhaupt habe schon der junge Leibniz die Geisteswissenschaften als selbständiges Thema erfaßt und sei zu einem Vorreiter im Prozeß der notwendigen Selbstverständigung über diese Wissenschaften geworden, wogegen es der Cartesischen Philosophie an einer »sicheren Grundlegung der Geisteswissenschaften« (Ethik) noch fehlt. 283 Cassirer, dem in den Jahren 1902 und 1906/07 die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften nicht bereits als methodologisch selbständige Wissenschaften gelten, sieht in der noch nicht abgeschlossenen »Entwicklung des modernen Begriffs des Selbstbewußtseins« eine wichtige Voraussetzung, sie als solche erst zu ermöglichen. 284 Dieser Begriff des Selbstbewußtseins lasse u. a. Montaigne mit den Mitteln der Skepsis auch einen neuen Kulturbegriff gewinnen, der letztlich als »Ausgangspunkt für eine Um- und Neugestaltung der Geisteswissenschaften« dient. 285 Einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung des Begriffs des Bewußtseins und Selbstbewußtseins leistete dann erneut Leibniz. Vor allem dadurch, daß er den Übergang vom Organismus zum individuellen Geist

280

LS/ECW 1: 378 f. EP I/ECW 2: 528. 282 LS/ECW 1: XI. 283 EP I/ECW 2: 491. 284 Ebd., 9 f. Auch Dilthey hatte 1883 das Problem eigenständiger Gei stes wissenschaften mit dem Thema »der Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins« verknüpft. – Dilthey (1922, GS I, 6). 285 EP I/ECW 2: 153. 281

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beschreitet, indem er die »geistige Entwicklung des Menschen innerhalb des Ganzen des organischen Lebens« auffaßt. 286 Indem er die Geschichte als ein eigenständiges Grundproblem (Zweckbegriff) erkannt hatte, vermochte Leibniz dem lebendigen Individuum als biologischem Ichbegriff eine eigene Art der Realität, eine neue Wertbezeichnung zu eröffnen, durch die es sich vom bloßen lebenden Naturobjekt unterscheidet und zum »ethischen Begriff der Persönlichkeit« wird. Mit diesem Übergang trete er methodologisch in die »Probleme der geistigen Kultur« und der entsprechenden Wissenschaften ein. 287 Der Intellektualismus, wie Leibniz ihn vertritt, mache den Wert der Persönlichkeit niemals allein vom Intellekt, sondern immer auch von der praktischen Willenskraft abhängig. Dabei bringe der Wille als das praktische Bewußtsein nur ein Motiv, das in jedem theoretischen Denkakt bereits latent ist, zur Ausführung und Bestimmung. Beide Gebiete seien folglich nur »in unserer Abstraktion geschieden«. 288 (Siehe auch vorliegendes Kapitel, Abschn. 2.1) Der Hinweis auf die ursprüngliche Ungeschiedenheit und Gleichwertigkeit von Willen und Denken richtet sich – explizit oder implizit – gegen die Lebensphilosophen Schopenhauer und Nietzsche, die beide den Geist dem Willen unterordnen. 289 Geistiges Sein, das das Personsein bzw. den Persönlichkeitsbegriff überschreitet, erfährt bei Cassirer eine Bestimmung, die, sich auf Leibniz berufend, ihm Wesenszüge des Lebendigen und Geschichtlichen zuerkennt. Es »enthüllt und offenbart« sich erst in der Tätigkeit, im Funktionieren, nicht aber in seinen Einzelsätzen. 290 Außerdem sei dieses Sein nirgends abgeschlossen, sondern entsteht erst in dem geschichtlichen Gesamtprozeß »aus der Arbeit und Mitwirkung der einzelnen«. 291 Cassirer zeigt sich von Leibniz’ Einsicht beeindruckt, wonach das Ganze der sittlichen »Gemeinschaft aller Vernunftwesen« als ein ethischer Idealund Aufgabenbegriff wahrhaft nur in der Spiegelung und Konzentration durch die vielen »individuellen Einheiten« gegeben ist. 292 Damit ist das sittliche Ganze allein in den mannigfachen sittlichen Individuen wahrhaft existent, es ist bloß symbolisch zu fassen (Goethe). Sich auf die Begriffe bzw. Gegenstände des lebenden Organismus (Individuum), der Person (Selbstbewußtsein) und des intersubjektiven Gei286 287 288 289 290 291 292

LS/ECW 1: 379. Ebd., 380. Ebd., 387, 390. Darauf kommt Cassirer 1928 noch einmal zurück: ECN 1, 26 f. LS/ECW 1: X f. Ebd., 432. Ebd., 395f.

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stes (Kulturmächte) beziehend kann Cassirer nach den methodologischen Eigenheiten der entsprechenden Wissenschaften fragen. Ihn interessiert dabei nicht nur, wie sich in den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften das Erkenntnisproblem stellt, sondern er spürt auch ihrer philosophischen Grundlegung nach. 293 Damit reagiert er sowohl auf die durch Dilthey 1883 angestoßene Debatte um die Spezifik der wissenschaftlichen Objektivität in den Wissenschaften vom Geschichtlichen, Kulturellen und Geistigen als auch auf die Bemühungen der Marburger Autoritäten, den Kritizismus Kants über die Naturwissenschaften hinaus auf die Ethik und Ästhetik und schließlich die Kulturwissenschaft zu erweitern. Deshalb beschäftigen ihn die historischen Anläufe zu einer geisteswissenschaftlichen Objektivität und ihre grundlegenden methodologischen Fragen. Er will u. a. klären, inwieweit eine einheitliche erkenntnistheoretische Grundeinstellung, die der Geschichte der neueren Mathematik und Philosophie zu entnehmen ist, neben der wissenschaftlichen Objektivität in Physik bzw. Mechanik auch die in Biologie, Ethik und Historie zu sichern vermag. Außerdem ringt er um eine Antwort auf die Frage, worin überhaupt die Spezifik der Lebens- und der Geisteswissenschaft gegenüber der mathematischen Naturwissenschaft besteht. Scheint ihm doch 1902 das »Streben der neueren Erkenntnistheorie seit Kant [ . . . ] immer deutlicher auf die kritische Grenzbestimmung zwischen Natur und Sittlichkeit, auf eine Scheidung in der Methodik der Natur- und Geschichtserkenntnis« hinzuzielen. 294 Sowohl in Hinblick auf seinen Begriff der ganzheitlichen Kultur einer Epoche, deren geistige Grundrichtung durch ein inneres Prinzip bestimmt ist (Lebensordnung), als auch gewissermaßen im Vorgriff auf den Begriff der Kultur als Ganzes symbolischer Formen, spricht sich Cassirer jedoch dagegen aus, exakte Wissenschaften, zu denen er wohl letztlich auch die Biologie zählt, den philosophischen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen abgesondert gegenüber zu stellen, da sie alle zusammen ein geistiges Ganzes bildeten. 295 In diesem Sinne polemisiert er gegen den von Rickert behaupteten »Gegensatz der historischen Individualbegriffe und der naturwissenschaftlichen Gattungsbegriffe«. Auch von einem Gegensatz der Geschichte und der Theorie könne keine Rede sein, weil »dieser gedanklichen Sonderung keine reale Trennung in den Wissenschaften selbst entspricht«. 296 Beide durch Rickert herausgestellten

293 294 295 296

EP I/ECW 2: 61, 504. LS/ECW 1: 380. Ebd., 490. SuF: 307; ECW 6: 252 f.

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gegensätzlichen Weisen der Begriffsbildung stehen, als der traditionellen Aristotelischen Logik verpflichtet, zudem im Widerspruch zu Cassirers Konzept einer neuen Logik der Bildung von Allgemeinbegriffen. Die eigene Erklärung zweier unterschiedlicher Richtungen der Begriffsbildung bzw. Objektivierung in Natur- und Kulturwissenschaft wird er auf systematische Weise erstmals 1918 in Kants Leben und Lehre geben. 297 Aber bereits 1906 ist ihm völlig klar, daß eine spezielle Methode geisteswissenschaftlicher bzw. historischer Erkenntnis, die auf unmittelbares Erleben und Verstehen setzt und meint, ohne ideelle Gesichtspunkte, Allgemeinbegriffe, sachliche Prinzipien der Beurteilung, gedankliche Synthesen auszukommen, abzulehnen ist. 298 Im EP I/II nimmt Cassirer zunächst »verschiedene geistige Kulturmächte«, soweit sie ein theoretisches Selbstbewußtsein errungen haben, in den Blick. 299 Alle »Strömungen und Kräfte der allgemeinen geistigen Kultur« (Philosophie, Naturwissenschaft, Recht, Sprache, Kunst, Religion etc.) sind nämlich nicht nur in die Klärung des Erkenntnisproblems mit einzubeziehen, sondern es ist auch ihre jeweilige methodologische Variation der für die Kulturepoche (Lebensordnung) typischen Fassung dieses Problems darzustellen. 300 Die sich in den sich formierenden Kultur- oder Geisteswissenschaften vollziehende innere Fortbildung des Erkenntnisbegriffs erweist sich als ebenfalls in die »Wandlungen aller konkreten Welt- und Lebensauffassungen« eingebunden. Das methodische Selbstverständnis dieser Wissenschaften kann demnach den historischen »Welt- und Lebensauffassungen« nicht beliebig davoneilen. Folglich besteht ein Zusammenhang zwischen der ganzen Begrifflichkeit des »Lebensgefühls«, der »Lebensanschauung« bzw. der »Lebensordnung« und der konkreten Objektivationsrichtung der Wissenschaft, der ihr eine gewisse Selbsteinsicht erlaubt. 301 Das ist nach Cassirers Auffassung eine relativ neuartige Einsicht, schien doch bislang z. B. die Logik der Begriffsbildung von dem »eigentlichen Leben« unberührt zu bleiben. 302 Damit ist der Einfluß der philosophischen oder wissenschaftlichen Ideen einzelner Denker (Kopernikus) auf die jeweiligen »Welt- und Lebensanschauungen« und auf das vorherrschende Wissenschaftsverständnis keineswegs in Frage gestellt. Aber auch für die Wissenschaften von den geistigen Kulturmächten gilt, daß 297 298 299 300 301 302

KLL: 306–327; ECW 8: 276–295. EP I/ECW 2: 12 f.; Siehe auch vorliegendes Kapitel Abschn. 2.1. EP I/ECW 2: IX. Ebd., XI, 6 , 8 f. EP II/ECW 3: 145. SuF: 3; ECW 6: 1.

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äußeres und inneres Leben, »Lehrsystem« und »Ideal individueller und gemeinschaftlicher Lebensführung« eine Einheit bilden. Ein analoger methodischer Gedanke findet sich bei Dilthey, wenn er darauf hinweist, daß die wahren Metaphysiker der modernen Zeit »gelebt« haben, »was sie schrieben«. 303 Hinsichtlich der Wissenschaften von den einzelnen Kulturmächten ist sich Cassirer noch nicht sicher, ob hier von je eigenen oder eher von einer allgemeinen Methode des Aufbaus des jeweiligen Gegenstandes auszugehen ist. Das Problem ergibt sich u. a. daraus, daß jede dieser Kulturmächte einer eigenen Gesetzlichkeit entspringt, und daß diese gleichzeitig in die übergreifende Lebensordnung als variablem Gesetz eingefaßt ist und so übergreifend durch sie einen bestimmten Akzent, eine bestimmte Tönung erfährt. Es gilt Cassirer 1906 noch als fraglich, ob sich deshalb in ihnen eine »gemeinsame Grundtendenz [ . . . ] aussondern und festhalten läßt«. 304 In Bezug auf die Geschichte der Geisteswissenschaften fragt er sich zudem, ob sich in ihnen ein und dieselben allgemeinsten Beziehungen immer »nur unter einer anderen Gestalt und Hülle« darstellen, ob in ihnen folglich »eine allgemeine logische Struktur in aller Aufeinanderfolge besonderer Begriffssysteme« erhalten bleibt. 305

303 304 305

Dilthey (1922, GS I, 358). EP I/ECW 2: 9. Ebd., 13.

zweites k a pitel

Lebensform und Lehrform (1916–1921)

Die Schriften der Periode 1916–1921, die nunmehr hinsichtlich des Lebensthemas ausgewertet werden, enthalten trotz der in den Vordergrund tretenden geistesgeschichtlichen und kulturphilosophischen Problematik keinen Bruch mit den Untersuchungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems, die 1910 in SuF ihre systematische Zusammenfassung erfahren hatten. Aus der Beschäftigung mit der theoretischen Erkenntnis in Form der exakten mathematisch-naturwissenschaftlichen Begriffsbildung war Cassirer Schritt für Schritt die Einsicht erwachsen, daß diese geistige Form nicht isoliert betrachtet werden darf, da sie auf »niederen« Formen der Weltkonstitution wie der empirischen Anschauung oder sogar dem Mythos aufbaut. An der ihm in diesen Jahren zuwachsenden Einsicht, wonach »echte theoretische Formmomente und Formmotive« nicht erst in der exakten Naturwissenschaft, sondern bereits in der »Gestaltung des ›natürlichen Weltbildes‹, des Weltbildes der Wahrnehmung und Anschauung« obwalten,1 geht das zweite große Projekt, die Philosophie der symbolischen Formen, hervor. 2 Gleichzeitig findet das alte historisch-systematisch bearbeitete Projekt zum Erkenntnisproblem mit EP III (1920) seine Fortsetzung. Mit der sich in den beiden zentralen Werken dieser Periode, Freiheit und Form (FF: 1916) und Kants Leben und Lehre (KLL: 1918), bereits anbahnenden Ausweitung des philosophischen Interesses von der exakt wissenschaftlichen Erkenntnisform auf nicht- und vorwissenschaftliche Formen des Aufbaus von Sinnwelten gewinnt für Cassirer das Lebensthema in seiner viele Facetten umfassenden Begrifflichkeit immer weiter an Bedeutung. Er wird gewissermaßen bald den Abstieg bzw. den Rückweg von der abstrakten wissenschaftlichen Begriffsform in das unmittelbare Lebensgefühl, in das unmittelbare Daseinserleben des Mythos antreten. Dies schlägt sich bereits in den die PsF vorbereitenden Schriften dieser Periode nieder, aber auch im EP III.

1

PsF III: V; ECW 13: VII. Im Vorwort zu PsF I weist Cassirer 1923 darauf hin, daß die gesamte PsF in ihrem »ersten Entwurf auf die Untersuchungen« zurückgeht, die in dem Buch SuF (1910) zusammengefaßt sind. – PsF I, V; ECW 11: VII. 2

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zweites k apitel

Die Arbeit am Lebensbegriff vollzieht sich maßgeblich während der Rezeption der Denker und Dichter der kulturellen Lebensordnung des Deutschen Idealismus. Dies zwingt Cassirer zu keiner willkürlichen Interpretation, hatte doch schon Dilthey 1906 darauf aufmerksam gemacht, daß sich die nachkantische deutsche Philosophie der Jahre 1795–1800 als eine frühe Philosophie des Lebens lesen läßt. 3 Und auch die kritische Philosophie Kants kreist bekanntlich immer wieder um das Verhältnis von Vernunft und Leben. 4 In den Kriegsjahren erfährt sich Cassirer selbst als in den »Kämpfen und Gegensätzen des unmittelbaren geschichtlichen Lebens« stehend und um Orientierung und Zuversicht ringend. Diese eröffnet sich ihm in der »Anschauung des Ganzen«, wie Philosophie und Literatur des Deutschen Idealismus gut ein Jahrhundert zuvor Freiheit (Autonomie) und Form (Gesetz) in Selbstgesetzgebung und künstlerischem Schöpfertum zu vermitteln wußten. Sie prägten damit eine ganze historische Lebensordnung. Zum ideellen Mittelpunkt der geistesgeschichtlichen Studien, die von Leibniz anheben und bis zu Hegels Tod führen, ist ihm bezeichnenderweise die »Analyse von Goethes Weltansicht« geworden, was zu einer umfangreichen Goethestudie auswächst. 5 Der von Goethe aufgenommene und sein ganzes Werk prägende Lebensbegriff findet gerade in jenen Jahren eine breite Rezeption unter Anhängern einer Philosophie des Lebens. 6 Ihre wichtigsten Exponenten Dilthey, Simmel, Chamberlain und Gundolf, die viel beachtete Bücher über Goethe verfassen, 7 sind Cassirer wohl bekannt oder werden mit Aufmerksamkeit bedacht. 8 Auch Spengler, dessen Werk vom Untergang des Abendlandes er Mitte der 20er Jahre studiert,9 erklärt Goethe zu seiner philosophischen Leitfigur. 10 Ins-

3

Dilthey (1925, GS IV: 58 f., 138 ff.). Gerhardt (2002: 8). Gerhardt weist in der Philosophie Kants eine »Theorie des Lebens« auf, die u. a. Herder verpfl ichtet ist und die sich erstmals in Träume eines Geistersehers [1766] skizziert fi ndet. – Ebd., 109. 5 FF: XIV; ECW 7: 391. 6 Diese Inanspruchnahme verwunderte Zeitgenossen wie Rickert nicht sonderlich. Er hält den bei Goethe und den modernen Lebensphilosophen bemühten Lebensbegriff für nahezu deckungsgleich, weshalb es evident sei, daß »sich Goethe in der Tat als Vorläufer der modernen Lebensphilosophie bezeichnen« läßt. – Rickert (1922: 137 f.). 7 Dilthey (1988); Simmel (1925); Chamberlain (1939); Gundolf (1920); siehe dazu Möckel (2003a: 13 ff., 55 ff., 77 ff.). 8 Siehe Möckel (2003a: 155 ff.). 9 Rückblickend heißt es, er habe dieses Aufsehen erregende Werk zum »ersten Male gelesen«, als er »gerade mit Studien über die Philosophie der italienischen Renaissance« beschäftigt war – MS: 380. 10 Spengler (1991: IX, 68 Anm. 1); siehe Möckel (2003a: 105 ff.). 4

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besondere in FF greift Cassirer eine ganze Reihe von Begriffen, Bildern und Gleichnissen auf, mit denen Goethe bestimmte Lebensbezüge ausdrückt, und macht sie sich zu eigen. 11 Dabei knüpft er an eine Reihe von Bedeutungen des Lebens an, wie sie für die früheren Texte (1902–1913) aufgewiesen werden konnten, so an die Termini Lebensform und Lebensordnung. Entscheidende philosophische Einsichten in die Begrifflichkeit des Lebens werden in den 1921 als Sammlung Idee und Gestalt (IG) veröffentlichten Beiträgen, die eine »Ergänzung zu den Studien zur deutschen Geistesgeschichte« bilden, erneut an Goethe und seinem Werk gewonnen und expliziert. Cassirer ist sich hier bereits darüber im Klaren, daß er eine neue Grundansicht erarbeitet, die eine umfassende Theorie der Erkenntnis, d. h. eine über die Form des wissenschaftlichen Denkens und damit über den Kantischen Ansatz hinausweisende »moderne Philosophie« begründet. 12 Am augenscheinlichsten führt der – 1920 verfaßte und 1922 erstmals veröffentlichte – Aufsatz »Goethe und Platon«13 von Goethes Lebensbegriff zur gerade Gestalt annehmenden PsF. Bei aller Aufmerksamkeit für das philosophische Denken im Deutschen Idealismus, einschließlich seiner Dichter und Literaturtheoretiker, expliziert Cassirer seine philosophischen Ideen immer wieder in einer Kantauslegung. Dies mußte seinen Blick sowohl auf die Einheit von Leben und Vernunft in Kants Philosophie14 als auch auf deren Zusammenhang mit der Lebensordnung der Epoche richten. Deshalb läßt sich das Kantbuch (KLL: 1918) auch als ein Werk lesen, in dem die Begrifflichkeit des Lebens den konzeptionellen Rahmen abgibt. Es ist nicht verwunderlich, daß sich eine ganze Reihe von Bestimmungen und Deutungen des Lebensbegriffs aus FF in diesem biographisch orientierten Werk finden, war doch das Manuskript 1916 bereits vollendet. Kants epochemachender Beitrag zum Begriff des Lebens offenbart sich Cassirer vor allem im zweiten Teil der, auch von Goethe hochgeschätzten,15 Kritik der Urteilskraft 16 über die anzunehmende Teleologie in der Na11

Krois (1995). B. Recki hat kürzlich in Cassirers Theorie der symbolischen Form der Kunst, die geradezu emphatisch die »Lebendigkeit als Leistung der Kunst« betone, auf ein entscheidendes Element »des Goethischen Einflusses« aufmerksam gemacht, das sich als »Zusammenhang von Kunst und Leben« erschließt. – Recki (2002: 205 ff.). 12 IG: 31, 33; ECW 9: 269 f., 271 f. 13 GgW: 103–148; ECW 18: 410–434. 14 Gerhardt (2002: 83, 252 f.). 15 Dieser hebt an Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft hervor, daß in ihr das »innere Leben der Kunst ebenso wie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus [ . . . ] deutlich ausgesprochen« war. – Goethe (1998, HA 13: 28). 16 Die KUk bringe nicht nur eine »neue Gesamtbewegung des Denkens« zum Ausdruck, sondern habe sich zudem als »Kreuzungspunkt aller lebendigen geistigen

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tur. 17 Im ersten Teil zur Kritik der ästhetischen Urteilskraft macht Kant auf den Zusammenhang des Lebens und der geistigen Tätigkeit des Menschen aufmerksam,18 was von den Interpreten oft übersehen wird. »Leben« und »Lebensgefühl« befinden sich für ihn in Analogie oder in Kontinuität 19 zu den urteilenden geistigen Vermögen, speziell zu den ästhetischen Urteilen. So »befördern« die ästhetischen Geschmacksurteile und die sie begleitenden »Gefühle der Lust oder Unlust« das subjektive »Lebensgefühl«. Das ästhetisch geformte »Lebensgefühl« bildet eine eigenständige Unterscheidungsart gegenüber logischen und sittlichen Urteilen. Auch stellt Kant den wechselseitigen Zusammenhang von körperlichen Gefühlen des Schmerzes und Vergnügens mit dem subjektiven »Lebensgefühl«, dem Zustand des Gemütes (Munterkeit) und dem Gefühl körperlicher Gesundheit fest. 20 »Lebendigkeit«, »Belebung« als Stärke, Vitalität der »Lebenskräfte« wird von ihm sowohl mit dem beständigen Wechsel von geistigen bzw. sinnlichen Zuständen und neu hergestelltem Gleichgewicht als auch mit dem spielerischen Charakter von sinnlichen und geistigen Kräften begründet. 21 In den Schriften FF und KLL setzt Cassirer zudem sowohl die philosophischen Grundüberzeugungen als auch die Lebens- und Weltauffassungen Goethes und Kants in ein vergleichendes Verhältnis. Damit bedient er ein zentrales Motiv der philosophischen Debatte seiner Zeit. Bei manchen Anlässen betont er stärker, daß Kant und Goethe in einer Interessen seiner Epoche« erwiesen (KLL: 291; ECW 8: 263). Die Anthropologie, in der Kant ebenfalls exzessiv den Begriff des Lebens und seine Abwandlungen gebraucht, wird von Cassirer allerdings geringgeschätzt und nur mit wenigen Worten gestreift. – KLL: 435; ECW 8: 392. 17 Kant (1902: §§ 65, 81, 82). Von der Natur und ihren Vermögen zu Selbstorganisation und Selbsterhaltung will Kant nicht als einem »Analogon zum Leben« sprechen, da dies ihrer bloß physischen Materie Beseeltheit und Geistigkeit (Zweckmäßigkeit) zuschreiben würde. Aller Naturzweck dürfe nur als regulativer Begriff des ›als ob‹ verstanden werden (ebd., § 65). Makkreel schließt daraus, daß für Kant die Zweckmäßigkeit des organischen Lebens ein rein geistiges Prinzip ist, das Leben bei ihm »seinen Sinn primär aus der Spontaneität des Bewußtseins« bezieht und »nur sekundär etwas Biologisches« ist. – Makkreel (1997: 147). 18 Kant (1902: §§ 1, 3, 4, 23, 29, 43, 49, 54). 19 Gerhardt (1995a: 4); Makkreel (1997: 146 f.). 20 Er ist sich hier bewußt, wie »eng die Vernunft mit den scheinbar vernunftlosen Vorgängen des Lebens und Fühlens«, wie »eng die Sphäre der Vernunft mit der leiblichen Verfassung des Menschen verbunden ist«. – Gerhardt (2002: 282, 232). 21 Recki weist nicht nur darauf hin, daß Kant die ästhetische Lebendigkeit im ersten Paragraphen seiner KUk betont, indem er das ästhetische Urteil auf das Lebensgefühl des Subjektes bezieht, sondern auch auf den Tatbestand, daß der Ästhetiker Ernst Cassirer zu den »wenigen Kantinterpreten [gehört], die den damit abgerundeten Zusammenhang der Kunst mit dem Leben von Anfang an betonen«. – Recki (2002: 212, 215).

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gemeinsamen philosophischen Tradition stünden, 22 bei anderen bringt er sie in ein eher gegensätzliches Verhältnis von Begriffsdenker und schauendem Künstler. 23 In der Idee einer zweckmäßigen Natur, in der sich die »Einheit von Vernunft und Leben« ausmachen läßt, und in ihrer »Erschließung über das Lebensgefühl« in ästhetischer Einstellung stimmen jedenfalls Goethe, Kant und Cassirer zusammen. 24 In seiner Rezeption des nachkantischen Idealismus achtet Cassirer nicht nur auf das Ringen um die Problematik des Lebens, sondern auch auf die Kritik an unbilligen Ansprüchen der begriffslosen Anschauung gegenüber der begrifflichen Vernunft. Als ein Wendepunkt gilt ihm dabei die »große methodische Abrechnung mit Schelling«, die Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1806) vollzieht. 25 Der ursprünglich einer romantisch lebensphilosophischen Position nahestehende junge Hegel26 ist hier zum Verteidiger der Begriffsphilosophie gegenüber den Ansprüchen des Intuitionismus geworden, ohne jedoch die »Rechte des Lebens« verkannt, ohne die »vitale Sphäre der logischen aufgeopfert« zu haben. 27 Im umfangreichen Hegel-Kapitel des bereits 1919 fertiggestellten EP III verfolgt Cassirer deshalb mit Interesse dessen Abrechnung mit der Lebensphilosophie seiner Zeit, weiß er sich doch mit der Kritik an der romantizierenden Philosophie der unmittelbaren Anschauung eng verbunden. Gleichzeitig wird das methodische Verfahren und der systematische Aufbau der Phänomenologie des Geistes als Vorgriff bzw. als Modell für die konzeptionell weit gediehene Philosophie der symbolischen Formen ins Auge gefaßt. 28 Dabei kommt auch immer wieder Hegels Lebensbegriff zur Sprache, insbesondere in Zusammenhang mit dessen Frühschriften. In der Art, wie Cassirer den Begriff »Leben des Geistes« bzw. »geistiges Leben« bei Hegel deutet, kann er als ein Vorgriff auf den eigenen Begriff der geistigen Kultur verstanden werden, die als höhere Einheit eine Vielheit von symbolischen Kulturformen umfaßt, welche eigenständige geistige Gestaltungsprinzipien realisieren.

22

Cassirer (1912: 272); ECW 9: 137. FF: XV; ECW 7: 392 f. 24 Recki (2002: 217). 25 FF: 361; ECW 7: 379. 26 »In der philosophischen Frühzeit« bis 1803 glaubt Hegel mit Schelling, daß der »einzige Weg, sich des Absoluten als Gegenstandes der Philosophie zu bemächtigen, [ . . . ] der Weg der intellektuellen Anschauung [ist]« – EP III/ECW 4: 290. 27 GL: 53; ECW 17: 201. 28 Siehe dazu Möckel (2004b). 23

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zweites k apitel 1 Naturleben, Organismus und geistiges Leben 1.1 Natur, Organismus und Urphänomen des Lebens

Nahezu alle in der Periode zwischen 1916 und 1921 rezipierten philosophischen Systeme lenken Cassirers Aufmerksamkeit auf das Problem des Naturlebens als einer Ganzheit und auf den lebendigen Organismus, seine Grundgesetze und Grundbestimmungen. Hierbei handelt es sich vor allem um die naturphilosophischen Konzepte, wie sie von Leibniz, Kant, Goethe, Schelling und Hegel hinterlassen wurden. So gewinnt Kant in der KUk an Hand der »organischen Zweckformen« einen reicheren Begriff der Natur. 29 Auch bei Schelling steht das Grundphänomen des »organischen Lebens« – neben dem der Kunst – im Mittelpunkt neuartiger Betrachtungen. 30 Und für Hegel ist die Idee erstlich das »organische Leben«, weil sich in ihm in der Form des objektiven körperlichen Seins eine Einheit des Zwecks darstellt. 31 Nur für Fichte besitzt die Natur kein »eigenes inneres Leben«. 32 Der »Gedanke des organischen Lebens« gehört als unleugbares Faktum in unseren Naturbegriff und konkretisiert sich durch Termini wie »Lebensprozeß«, »Lebensphase«, »Lebensäußerung«, »Lebensform« etc. 33 In seinen Darstellungen der philosophischen Systeme des Deutschen Idealismus finden wir die Grundbestimmungen des organischen Lebens im seelischen und geistigen Leben der Individuen ebenso wieder, wie sie als Bestimmungen des Geisteslebens, der lebendigen Vernunft auf das Naturleben und das der einzelnen Organismen ausgedehnt werden. Deshalb treffen wir z. B. auf die Begriffe Lebensform und Lebensordnung sowohl in Aussagen über das biologische als auch über das geistige und kulturelle Leben. Der Begriff des organischen Lebens in der Natur fällt jedoch nicht nur notgedrungen erneut in Cassirers Blickfeld, sondern er ist bereits ein fester Bestandteil seiner eigenen, sich beständig schärfenden Theorie des Lebens. Deutlich wird dies zunächst im Leibnizkapitel, wie es FF bereithält. An seine früheren Leibnizdarstellungen anknüpfend würdigt Cassirer hier sowohl die monistische, von den Gesetzen der Mechanik ausgehenden Erklärung des Organismus, 34 die den »Grund des Lebens« in 29 30 31 32 33 34

EP III/ECW 4: 14. Ebd., 218. Ebd., 346. Ebd., 210. KLL: 360; ECW 8: 324 f. Weil für Leibniz die sich nach ewigen Gesetzen vollziehenden Kreise des kos-

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ihm selbst sucht, 35 als auch die Erweiterung dieser Erklärung vom Standpunkt des Organismus aus, da sie es letztlich nicht vermag, »allen Erscheinungen des Lebens« eine erschöpfende Begründung zu geben. 36 Leibniz hatte nämlich erkannt, daß »das Problem des Organismus, das Problem des Lebens« niemals in den Bewegungsformen der reinen Mechanik aufgeht. 37 Erst die zusätzliche Annahme eines identischen Subjektes im Wandel der Lebenserscheinungen schließe die mechanisch-materiellen Gestaltungen zu einer einheitlichen »Lebensreihe« zusammen, bei der der »Lebensprozeß« mehr ist als die Summe der einzelnen, von Zeitpunkt zu Zeitpunkt »veränderlichen organischen Bildungen«. Einen analogen Gedanken würdigt er wenig später auch bei Kant. 38 In diesen Überlegungen findet Cassirer zwei Momente vor, die ihm selbst sehr wichtig sind. Das ist zum einen der Gedanke, wonach Leben sich durch den Primat des Ganzen gegenüber den Teilen charakterisiert. Dieser Aspekt spielt in der Deutung des auch bei Kant und Goethe bemühten Begriffs des Organischen eine große Rolle. Zumindest Goethe knüpft mit seinem Begriff des Organismus an Leibniz’ Lehre an. 39 Zum anderen sieht Cassirer in Leibniz’ Idee eines identischen Subjektes im Wandel der äußerlichen Gestaltungen den Begriff des lebendigen Bewußtseins vorbereitet. Das »Leben des Bewußtseins« vereint den rastlosen Strom des Wechsels mit der Identität des tätigen Selbst, was wiederum bewußtes Leben charakterisiert. 40 Im Selbstbewußtsein stehen wir im »Quellpunkt des Werdens selbst«. Er gelangt aber auch zu dem Schluß, daß Leibniz den an den Bewußtseinserscheinungen erwiesenen Zusammenhang von beständigem Wechsel und identischem Punkt der Wahrnehmung dieses Wechsels, der als Quellpunkt des Werdens fungiert, auf das »Ganze der Lebenserscheinungen« übertrage. Andererseits gehe bei ihm mehrfach die Betrachtung des »Naturlebens« in die Betrachtung des »geistiges Lebens« über. 41 Die Darstellung von Kants teleologischem Naturbegriff gibt Cassirer die Gelegenheit, ausführlich auf das »Problem des Lebens«, auf den

mischen Daseins auch für das Leben gelten, nimmt er keine besonderen »lebensspendende Kräfte« an, sondern sieht im »Reiche des Lebendigen« sich die mechanischen Gesetze entfalten. – FF: 34; ECW 7: 37. 35 FF: 280; ECW 7: 296. 36 Ebd., 37; ECW 7: 40. 37 Cassirer (1912: 261); ECW 9: 128. 38 KLL: 379; ECW 8: 341 f. 39 FF: 240 f; ECW 7: 255 f. 40 Ebd., 38; ECW 7: 41. 41 Ebd., 51; ECW 7: 55.

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biologischen Organismus einzugehen. So hebt er für die Verknüpfungen der Einzelgebilde in der Welt der »organischen Natur« die eigentümliche Gesetzesform der Zweckmäßigkeit hervor, die sie von den Sachverhalten der sittlichen und der mechanisch-kausalen Welt grundsätzlich unterscheide. 42 Die Gesetzesform der Zweckmäßigkeit des Lebens löst das Problem der »individuellen Formung des Wirklichen«, der »individuellen Seinsgestaltung«. 43 Cassirer hält das Kantische Konzept einer als zweckmäßig aufzufassenden organischen Natur für einen außerordentlich produktiven Gedanken. Dabei läßt er sich auch durch Goethes Auffassung der Natur als einem Lebensganzen inspirieren. 44 Der zweckmäßige Organismus wird als ein Ganzes, als der »Ursprung der Teile und der Grund ihrer konkreten Bestimmtheit« aufgefaßt. 45 Ohne dieses dem Zweckgedanken inhärente Prinzip eines Primates des Ganzen gegenüber seinen Teilen sei kein Leben begrifflich vorstellbar bzw. faßbar. Der »Begriff des Lebens«, so Cassirer die Auffassung Kants interpretierend, nimmt eine Art der Wirksamkeit an, die von der Einheit zur Vielheit, vom Ganzen in die Teile geht, was den organischen Lebensprozeß als einen solchen ausmache. »Ein Naturgeschehen wird uns zum Lebensprozeß«, wenn alle seine Besonderheiten für uns »Ausdrücke Eines Geschehens und eines ›Wesens‹« sind, das sich nur in mannigfachen Bildungen offenbart. Hier klingt der Symbolbegriff an, den Cassirer in den Schriften Goethes vorfindet und für sich entdeckt. 46 Die Teile bzw. die Besonderheiten des Ganzen, des Lebensprozesses, tragen somit ein richtunggebendes Prinzip in sich und sind in einem wechselseitigen Ineinandergreifen zu denken. Genau diese Bedeutung liegt im Begriff des Organismus. Wenn bei ihm die »besondere Lebensphase« ihre Deutung erst aus der »Gesamtheit der Lebensäußerungen«, der sie angehört, er-

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KLL: 305; ECW 8: 275. Mit der Unterscheidung dreier Formen der Gesetzlichkeit, die je einen eigenen Inhalt bestimmen und zu denen sich je eine »ihr entsprechende Bewußtseinsfunktion« aufweisen lasse, ist ein wichtiger Gedanke der Philosophie der symbolischen Formen antizipiert. – Ebd., 322, 344; ECW 8: 291, 310. 43 Ebd., 306, 327; ECW 8: 276, 295. 44 Zumal Cassirer Kants KUk nicht unbeeinflußt von seiner Goetherezeption jener Jahre studiert, so daß Goethes teleologisches Interesse an der Metamorphose der Naturphänomene für ihn zunehmend die Rolle eines Lese- und Verständnisfi lters annahm. – Makkreel (1997: 149 f.). 45 KLL: 358; ECW 8: 322. 46 »Das Wahre [ . . . ] läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen [ . . . ] Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifl iches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.« – Goethe (1998, HA 13: 305).

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hält, dann gelte dies ebenfalls für das Leben der schöpferischen Persönlichkeit (Goethe). 47 Bestand und individuelle Form des Organismus durchdringen sich wechselweise, das eine scheint nur um des anderen willen da zu sein. So besitze der »Gedanke des Selbstzweckes« in der äußeren Erscheinung des lebendigen Organismus ein »symbolisches Gegenbild«. 48 Die organische Natur, die als das »Substrat der Lebenserscheinungen« aufzufassen ist, läßt sich als Erfahrungswelt strukturell nur mit Hilfe des regulativen Zweckbegriffs vollständig aufbauen. Deshalb haben wir es innerhalb der »Lebenserscheinungen« mit zwei verschiedenen »Ordnungsweisen« – mechanistische Kausalität und Zweckmäßigkeit – zu tun, die einander aber ergänzen. 49 Das »Geheimnis des organischen Lebens« im Sinne seiner Entstehung aus anorganischen Sachverhalten bleibt laut Cassirer innerhalb der kritischen Philosophie jedoch unlösbar, weil es sich um eine metaphysische Frage handele. 50 Die in der Erfahrung sich aufweisende Wechselseitigkeit der beiden Ordnungsweisen finde ihre Darstellung in Kants »Begriff der Entwicklung«. Der Lebensprozeß als eine Entwicklung setzt eine »›geprägte Form‹«, ein »einheitliches ›Subjekt‹ der Lebenserscheinungen« voraus, das sich in allen Wandlungen selbst erhält, indem es sich selbst umgestaltet. 51 Gleichzeitig muß der zweckgerichtete Lebensprozeß in seinen zeitlichen Einzelphasen ursächlich erklärt werden. Die Zweckidee würdigt Cassirer später auch an Hegels Begriff des »organischen Lebens«. Dieses sei dadurch charakterisiert, daß sich in ihm in der Form des objektiven körperlichen Seins eine Einheit des Zwecks, ein Prinzip der Gestaltung darstellt. Dabei bezeichnet die Seele den »Zweck eines lebendigen Geschehens, zu dem sich der Leib als Mittel, als Organ verhält. So ist sie der Ausdruck der immanenten Vernünftigkeit dieses Geschehens; des ›Logos‹, der in ihm gebunden liegt«. 52 Durch Rückgriff auf die Ideen des Zweckes und des organischen Lebens schaffen wir, so Cassirer, die vereinzelten Erfahrungen zur Anschauung eines »lebendigen Ganzen« um. Dabei sind wir uns aber zugleich seiner Grenze als eines »Ganzen von Phänomenen« bewußt, weshalb Goethe vom Leben als einem »Urphänomen« gesprochen habe. Und auch für Kant sei die »Erscheinung des organischen Lebens und

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KLL: 359; ECW 8: 324. Ebd., 363; ECW 8: 327. Ebd., 367 f.; ECW 8: 332. Ebd., 373; ECW 8: 336. Ebd., 379; ECW 8: 342. EPIII/ECW 4: 346 f.

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die Idee des Zwecks, in der sie sich für unsere Erkenntnis ausdrückt, ein solches Urphänomen«, mit dem sich die menschliche Erkenntnis zu begnügen hat. 53 Der Kritizismus arbeite nicht mit einem metaphysischen Entwicklungsbegriff, der in den »Ursprung des Seins zurückdringt und in ihm das ›Geheimnis des Lebens‹ aufschließt«, sondern mit dem Prinzip, vermöge dessen sich für unsere Erkenntnis erst die »ganze Fülle und der Zusammenhang der Lebenserscheinungen« vollständig darstellt. 54 Auch Goethes Bemühen, das organische Leben philosophisch und naturwissenschaftlich zu fassen, wird ausführlich kommentiert, obwohl letztlich die sich wandelnde Lebensform der individuellen Lebensgeschichte Goethes im Mittelpunkt des Interesses steht. Dabei gelangt Cassirer zu dem Schluß, daß Goethe das gelungene Ineinander von künstlerischem Ich (Innen) und objektiviertem Ausdruck des tätigen Ich (Außen) als die Eigentümlichkeit seiner autonomen Lebensform mit seinen Naturstudien auch auf die Natur und ihre Formen des organisch Gewordenen überträgt. 55 Goethe finde folglich das gleiche Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, das er aus der Dichtung kennt, in anderen Sphären wieder, so in der »Auffassung alles natürlichen und geistigen Werdens«. 56 Er empfinde und deute auf die Weise die »Naturformen als Lebensformen«, erfahre die Natur als etwas dem Ich und seinen Taten Verwandtes. Später begreift er dann die »geschichtlichen Lebensformen der Menschheit als Naturformen, die in sich selbst ihre Gesetze und das Maß ihres Aufstiegs und Abstiegs haben«. 57 Geschichtliche Lebensformen werden damit von Goethe als organische Natur betrachtet. Das geschätzte ideelle oder idealistische Moment an Goethes Lebensbegriff erschließt sich Cassirer immer da, wenn dieser alles Sinnliche, Unmittelbare, Subjektive als Ausdruck, Symbol, Offenbarung eines Übersinnlichen, Unfaßbaren oder Objektiven erschaut, dem Übersinnlichen aber die metaphysische Transzendenz verweigert. Diese Sicht verbinde Goethe mit der neuen Denkart der Neuzeit, die von Cassirer nunmehr weniger rationalistisch und logizistisch aufgefaßt wird. In seiner Anschauung des Naturlebens setze Goethe eben nicht auf die »gestaltlose Empfindung«, sondern auf die in der Natur zu erschauende Idee, 58 womit er ganz klar die Sphäre der bloß »empirischen und rechnenden Naturbe-

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KLL: 379; ECW 8: 341. Ebd., 383; ECW 8: 345. FF: 180; ECW 7: 191. Ebd., 186 f.; ECW 7: 198. Ebd., 180; ECW 7: 191. Ebd., 206; ECW 7: 218.

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trachtung« verlassen hat. Das Ideenschauen wird sowohl bei Goethe als auch bei Cassirer als ein symbolisches, mittelbares Schauen (Kontemplation), keineswegs aber als unmittelbar gebendes Schauen verstanden. 59 Allein durch eine solche ideelle Denkweise, deren symbolische Ideenbegriffe antithetische Setzungen zusammendenken, werde das Leben in den Gebilden der Natur nicht begrifflich zerstört. 60 In den Goethe gewidmeten kleineren Beiträgen aus den Jahren 1918 bis 1920 kommt Cassirer erneut auf dessen Begrifflichkeit des Lebens zurück, der er sich selbst weitgehend versichert. Er will u. a. klären, was diese Auffassung von der mathematisch-physikalischen Betrachtungsweise unterscheidet bzw. in welchem Verhältnis beide zueinander stehen. Aufgrund der unterschiedlichen Begriffstypen konstatiert Goethe zwar einen produktiven Widerspruch zwischen dem Standpunkt der Metamorphose der Pflanzen und dem der mechanischen Naturwissenschaft samt ihrer sinnlichen Wahrnehmung, hält aber einen Gegensatz zwischen den mathematisch-physikalischen Begriffen und der unmittelbaren Sinnenansicht für ein Verhängnis, das auf Irrtümern und gefährlichen Abstraktionen beruht. 61 Seine Naturbetrachtung ist nämlich keine quantifizierende, sondern nimmt als eine »fundamental neue Form der Beziehung des Besonderen aufs Allgemeine« von den »Urphänomenen des Lebens« ihren Ausgang. 62 Diese alternative Beziehung, die als spezifische Regel »alles organische Geschehen« beherrscht, erweist sich im Resultat als »zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig«. 63 Das Bild oder die Metapher einer beweglichen, veränderlichen und dabei festen, gesetzmäßigen Ordnung identifiziert Cassirer nicht nur mit dem Lebendigen, sondern findet sie auch in den symbolischen Formen wieder, die als lebendige Formen verstanden werden. Die Besonderheit der an den »Phänomenen des Lebens« entwickelten Weise der Theoriebildung besteht bei Goethe darin, daß sich in ihr das Seiende selbst dem synthetischen Blick des Forschers zu »Lebensreihen« formt, ohne daß diese Reihenform des Umwegs über das analytische Denkmittel der Zahl bedürfe. 64 Der Gedanke der Metamorphose der Gestalt gilt ihm als ein »Urbegriff der Vernunft«, der den Wandel und das

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Deshalb moniert Cassirer die Überlegungen Goethes, Kants Begriff eines fi ktiven göttlichen intuitiven Verstandes (intellectus archetypus) »unmittelbar in der lebendigen Tat des Forschers und Künstlers darzustellen«. – EP III/ECW4: 258. 60 FF: 215; ECW 7: 228. 61 IG: 36; ECW 9: 274 f. 62 Ebd., 42; ECW 9: 281. 63 GgW: 118; ECW 18: 417. 64 IG: 44; ECW 9: 282.

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Entstehen neuer Formen zur Grundlage des Verstehens macht. 65 In einer solchen, dem Urphänomen des Lebens verpflichteten Naturauffassung ist allerdings kein Platz für eine rein »›anorganische‹ Naturwissenschaft«. 66 Weil die Maxime der Metamorphose eine »genetische Methode« stützt, die sich als Platonische Idee bzw. ideelle Denkweise bewährt, kann Cassirer ihr zustimmen. 67 Goethe wende sich im Unterschied zu Platon aber nicht den logischen Paradoxa zu, sondern richtet die ideelle Schau auf den »Lebensprozeß« selbst, dessen Einheit die einzelnen, gegenläufigen Phasen übergreift, was ebenfalls ein Paradox bildet. 68 Die Idee – als das Urbildliche und Typische – vermittelt Sein und Werden und erlaubt es, die paradoxale Einheit von Fluß und Fixierung im Geiste zu vollziehen, eine Einheit, die – für Cassirer – Leben überhaupt charakterisiert. Deshalb mündet alle Naturbetrachtung Goethes immer wieder in die eine »allbefassende Idee des Lebens« ein. 69 Auch dem ideell untersetzten Phänomenalismus der Goetheschen Naturbetrachtung vermag Cassirer grundsätzlich zuzustimmen. Das wird z. B. in dem Hinweis deutlich, wonach es für Goethe gegenüber dem »Phänomen des Lebens« kein Jenseits, keine Transzendenz gibt, weil für ihn nichts über die »Grenze des Lebens« hinaus weist. 70 Als Naturforscher gehe er von den abgeleiteten Phänomen stetig bis zu einem Urphänomen zurück, das nicht weiter zerlegt bzw. abgeleitet wird. 71 Goethe bleibe grundsätzlich bei der »Tatsache des Lebens« stehen und vertraue auf die »reine Intuition der Natur«, die als symbolische nichts mit einer den Gegenstand gebenden Anschauung zu tun hat. Die feste und ewige, aber zugleich lebendige Regel, die das organische Geschehen beherrscht, lasse die Gestalten zwar nicht aus ihr selbst heraus, aber doch innerhalb ihrer selbst sich umbilden. 72 Mit Blick auf die zeitgenössische Lebensphilosophie, die Cassirer grundsätzlich als Metaphysik wahrnimmt, wird er nicht müde heraus65

GgW: 113; ECW 18: 414. Eine anorganische Lehre kann für Goethe nur eine Wissenschaft des Verstandes und des alltäglichen praktischen Lebens sein. – Ebd., 114; ECW 18: 414 f. 67 Insbesondere in Platons Auffassung der ideellen Genesis als einem ›Werden zum Sein‹ fi nde die Idee als Seele des Seins, als »Idee des Lebens« zum »Leben«. – Ebd., 142 f. ; ECW 18: 430 f. 68 Ebd., 146; ECW 18: 433. 69 Ebd., 116; ECW 18: 416. 70 Ebd., 116 f.; ECW 18: 416 f. 71 IG: 72; ECW 9: 310 f. »Keine begriffl iche Zumutung hat Goethe heftiger abgewehrt als die, gegenüber dem Grundphänomen des Lebens nach einem anderen ›Erklärungsgrund‹ als dem, der in ihm selbst liegt, zu fragen.« – GgW: 117; ECW 18: 416. 72 GgW: 117 f; ECW 18: 417. 66

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zustellen, daß für Goethe, auf den sich moderne Lebensphilosophen ja gern berufen, der Lebensbegriff eben kein metaphysisch letzter Begriff ist, der alles erklärt. Die Absage an jegliche Metaphysik werde auch nicht dadurch beeinträchtigt, daß für ihn das »Urphänomen des Lebens« das erste ist, durch das alles Ideelle erst faßbar, erst vermittelt ist. 73 Der »Begriff des Lebens« lasse sich nicht als »letzte Lösung« der philosophischen und wissenschaftlichen Grundprobleme, sondern nur als »höchster Problembegriff« verstehen. Um das Geheimnis der Einheit einer bestimmten organischen Struktur und der »stetigen Differenziertheit alles Lebendigen« haben die Philosophen weiter zu ringen. Nicht zuletzt deshalb, weil der »Erscheinung des Lebens« selbst eine Zweiheit der Ansichten, z. B. der äußere und der innere Sinn, immanent und notwendig einwohnt. 74 Sobald wir aber die gegensätzlichen Sichten von Ruhe und Bewegung, Sein und Wandel, Anschaulichkeit und Begriff zusammendenken, führt das grundsätzlich zu einem logischen Problem. So sei es Goethe völlig klar, daß das, was in der übersinnlichen Idee innigst verbunden ist, von der sinnlichen Erfahrung immer als getrennt wiedergegeben wird. Cassirer scheint Goethe auch in der Gewißheit zu folgen, daß es sich schon deshalb lohnt, um das logische Paradox zu ringen, weil die Praxis des reinen künstlerischen Schaffens diesen Widerspruch real immer wieder überwindet. 75 Dieses »Unbegreifliche« schlägt sich zudem im Kunstwerk nieder. Mit dem paradoxen Begriff des Urphänomens drücke Goethe genau diese unbegreifliche Einheit aus. 76 Die bereits in FF in Bezug auf Goethe festgestellte Ausweitung der Lebensform des künstlerischen Schaffens auf die Naturbetrachtung erweitert Cassirer wenig später durch seine Analyse der Übertragung des Lebensprinzips selbst auf die unbelebte Natur (Physik). Die von Goethe anstelle mathematischer Quantifizierungen ins Feld geführte »›ewige Formel des Lebens‹« konnte jedoch auf optische, d. h. rein physikalische Phänomene nicht unmittelbar angewandt werden. Hier bedarf es eines zusätzlichen Mittelglieds, um den organischen Blick vollziehen zu können. Gelingt dies, könne der von Goethe geforderte, sich am Leben orientierende Blick auf ein sich zum Ganzen Webenden hin, bei dem alle Phänomene untereinander einen »lebendigen Bezug« haben, durch den sie sich als ein zusammenhängendes System darstellen, als alternative Methode auch in der physischen Welt dienen. Die notwendige Vermitt-

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Ebd., 146 f.; ECW 18: 433. Ebd., 118 f.; ECW 18: 417. Ebd., 121 f.; ECW 18: 418 f. Ebd., 131; ECW 18: 424 f.

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lung zwischen den optischen Phänomenen und dem »Grund- und Urphänomen des Lebens selbst« kann theoretischer und experimenteller Art sein. 77 Der paradoxe Begriff des Urphänomens, der die unbegreifliche Einheit von Phänomen und Idee ausdrückt, bedeute dabei für den Physiker ein »letztes«, für den Philosophen dagegen ein »erstes«. 78 Das Reihenprinzip, das Goethe nicht der Mathematik (Zahlenlehre), sondern der organischen Natur mit ihrem »›inneren Gesamtleben‹« entnimmt, und das er auch auf die Auffassung der physikalischen Einzelerscheinungen anwendet, soll selbst noch als »Lebensphänomen, als Gesetz und Rhythmus des konkreten Gesamtlebens der Natur« angeschaut und in diesem Anschauen innerlich angeeignet werden. Damit kann der Vorgang des Sehens als eine »scharf umschriebene Lebenserscheinung« gedeutet werden, die, einem inneren Gesetz gehorchend, es erst erlaubt, die Differenzen im Gesehenen zu entwickeln und zu begreifen. 79 Ein rein analytisch-mathematisches Verfahren erweist sich damit als einseitig. Deshalb sucht Goethe auch immer das »Lebendig-Eine, das Prinzip der ›Gestalt‹«, das aus der Vielheit seiner Teile nicht zu komponieren ist. 80 Der sich daraus ableitenden Polemik gegen die Abstraktionen in der Naturwissenschaft folgt Cassirer zwar nicht unbesehen, 81 läßt aber die organisch-ideelle Naturanschauung als eine gleichberechtigte alternative Erkenntnis gelten. 82 Obwohl er der Übertragung des Lebensprinzips auf die anorganische Natur 83 nicht unbesehen folgen mag, stimmt er dem sich an das Anschauen anschließenden oder ihm alternierenden Denken der Elemente in ideellen Zusammenhängen zu. Aus seinen Goethedarstellungen ist ersichtlich, daß er dessen sich am Phänomen des Lebens orientierende Form geistiger Weltgestaltung, die sich auch der künstlerischen Anschauung versichert, als auf die gesamte organische wie anorganische Natur anwendbare Erkenntnisform würdigt. 84 Eine jede mit Eigenrecht ausgestattete Auffassungsweise müsse allerdings auch ihre Relativität dem »gesamten Kreis des Objektiven« gegenüber erkennen. 85

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IG: 44 f.; ECW 9: 283. GgW: 132; ECW 18: 425. IG: 45; ECW 9: 283. Ebd., 49; ECW 9: 287. Siehe dazu Möckel (2003a: 163 ff.). IG: 52 ff., 57; ECW 9: 290 ff., 295. Ebd., 71; ECW 9: 309 f. Ebd., 72; ECW 9: 310. Ebd., 75; ECW 9: 314.

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1.2 Individuelle Lebensform in Natur und Geist Wie schon in LS (1902) schreibt Cassirer Leibniz auch in FF das Verdienst zu, philosophisch den Zugang zum individuellen Charakter des organischen Lebens samt seiner psychischen und geistigen Schichten gefunden zu haben. Auch für ihn besteht Klarheit darüber, daß dasjenige »Allgemeine, das wir ›Leben‹ nennen«, nur in »durchgängiger Individualisierung« zugänglich ist. 86 Bereits der Skeptiker Montaigne suchte das »individuelle Leben in all seiner Relativität, in seiner grenzenlosen Wandelbarkeit und Zufälligkeit«, wobei ihn am individuellen, wandelbaren Leben vor allem der beständige Übergang interessierte. 87 Beim Auffinden des inneren Gesetzes dieser Individualität gelinge Leibniz ein großer Schritt nach vorn. Für jede »Einzelreihe des Lebens« muß nämlich der Quellpunkt und damit das Gesetz des Überganges von einem zeitlichen und gestaltmäßigen Zustand zum nächsten gefunden werden, was das Ganze erst zu einer »individuellen Einheit« macht. Indem Leibniz das innere Gesetz des Überganges als »individuelle ›Form‹« auffaßte, erschloß sich ihm der »organische Lebensprozeß« als Individualität der schöpferischen Entwicklungsregeln. 88 Da die Form »in sich selber ein Gesetz ihrer inneren Bindung und Selbstbeschränkung« trägt, 89 bannt sie als innere Form 90 das »ewig quellende Leben« zugleich in innere Schranken, aus denen es nicht heraustreten kann. Denn jede Form ist »zugleich frei und gebunden«. 91 Sie erweist sich als gebunden, weil als Gesetz fungierend, als frei, weil ein individuelles Gesetz exekutierend. Ein solches individuelles Gesetz sieht Leibniz sogar im gesamten All walten, dessen »unendlicher Lebensprozeß« von einem System strebender Kräfte bzw. freiwaltender Tätigkeiten getragen werde, denen jeweils »ein Gesetz ihrer inneren Bindung und Selbstbeschränkung« innewohnt. 92 Damit nimmt er bereits die Dialektik von Freiheit und Form vorweg, die im Deutschen Idealismus die exemplarische Lösung als eine »›bewegliche Ordnung‹« findet. In Leibniz’ Verständnis der »Dynamik des Lebens«, die sich bei Schelling z. B. in der Gestaltung und Umgestaltung der Natur offenbart, findet Cassirer Einsichten formuliert, wie sie wenig später auch in 86 87 88 89 90 91 92

FF: 249; ECW 7: 264. Ebd., 4; ECW 7: 4. Ebd., 38 f.; ECW 7: 42. Ebd., 48 f.; ECW 7: 52. KLL: 301; ECW 8: 272. FF: 39; ECW 7: 42. Ebd., 48 f.; ECW 7: 52.

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Simmels letztem Werk Lebensanschauung (1918) anklingen und wie er sie 1922 selbst resümieren wird. 93 Besagt diese Dynamik doch, daß sich das Leben in Formen befestigen muß und gleichzeitig beständig über sie hinaus strebt. Dabei werden dem Leben die es ordnenden Formen nicht äußerlich vorgegeben, sondern entfalten sich aus seinem Inneren heraus. Auf diese Weise antizipiere Leibniz’ Lehre vom Leben und den Formen letztlich Goethes »Begriff der ›Metamorphose‹« und könne das Leben als ein »sich stetig neu erzeugendes Leben« fassen, das sich insbesondere als Tätigkeit darstellt. 94 Das sich stetig aufs Neue erzeugende tätige Leben existiert also ausschließlich in individuellen Formen, d. h., es ordnet sich nach individuellen Gesetzen. So haben wir es gemäß Leibniz mit einer »unendlichen Totalität individueller Lebensformen« zu tun. 95 Für das Pflanzen- und Tierreich meint der Begriff der individuellen Lebensformen sowohl die den einzelnen Gattungen, Arten und Unterarten als auch den einzelnen Gattungsexemplaren eigentümlichen Gesetze bzw. Formen. In diesem Sinne sprechen Goethe und Cassirer von biologischen Lebensformen. Deren Individualität ist also nicht auf ein einzelnes Exemplar, ein einzelnes Individuum, beschränkt. 96 Deshalb hat er, wenn von Naturformen als Lebensformen im Plural die Rede ist, die »in sich selbst ihre Gesetze und das Maß ihres Aufstiegs und Abstiegs haben«,97 die einzelnen, vielfältigen Formen natürlichen organischen Seins im Auge, die je einem eigenen Gesetz genügen. Der Begriff der Lebensform als eines biologischen Individuums macht eine durchgehende Bedeutung des Terminus auch in späteren Texten Cassirers aus. Immer wenn es ihm um die zweckmäßige organische Natur als ein »Ganzes von Lebensformen« und nicht um die Natur als ein Inbegriff mechanisch-kausaler Gesetze geht, dann zielt die Argumentation auf die inneren Formen und individuellen Gesetze der biologischen Arten und ihrer Individuen. 98 Die biologischen Lebensformen lassen sich durch die symbolische Ideenschau, die sowohl von der gebenden Anschauung des Allgemeinen

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WWS: 200; ECW 16: 104. FF: 50, 55, 58; ECW 7: 54, 59, 62. 95 Ebd., 82; ECW 7: 88. Auch bei Schelling gründet die »›Autonomie in der Erscheinung‹ [ . . . ], die wir mit dem Begriff ›Leben‹ zum Ausdruck bringen«, in seiner »individuellen Kraft der Selbstbildung«, die äußere Einflüsse umbildet. – EP III/ ECW4: 220 f. 96 So spricht Cassirer 1912 von den »wirklichen Lebensformen, d[en] Individuen der Biologie«. Cassirer (1912: 261); ECW 9: 128. 97 FF: 180; ECW 7: 191. 98 KLL: 358; ECW 8: 323. 94

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(Husserl) als auch von der empirischen Abstraktion leerer Gattungsbegriffe (Locke) zu unterscheiden ist, exemplarisch erfassen. Goethe z. B. entdeckt auf diese Weise am »Lebendig-Einzelnen« eine neue Weise der Betrachtung, die das Urphänomen begrifflich ausspricht. 99 Durch sie werden die Phänomene lebendiger Individualität in Verknüpfung und Kontinuität erfaßt, was dem Sinnenschein durchgängiger Verschiedenheit jedoch widerspricht. Für diese symbolische Betrachtung bedeutet das lebende Individuum einen »stetigen Zusammenhang von Lebensphasen«, in welcher jeder einzelne Lebensmoment sich als ein »Ausdruck der gesamten Lebensreihe« erschließt. 100 Erst diese ideell-symbolische Beziehung vollende die »Einheit der lebendigen Gestalt« des Individuums. Der Begriff der symbolischen Regel, in welchem die antithetischen Momente der Beharrung und Veränderung zusammengedacht werden, sei für uns eben »fest und ewig, aber zugleich lebendig«, beruht also auf dem oben erläuterten Ordnungsbegriff. 101 Mit der sich bei Leibniz und Goethe abzeichnenden ideell-symbolischen Betrachtungsweise läßt sich, wenn sie auf die organischen Lebensformen der Natur angewandt wird, was sinnliche Form und übersinnliche Idee im Begriff des Urphänomens vereint, in den Einzeldingen, im individuellen Leben die unerklärbare, nicht weiter ableitbare Antinomie von Beharrung (Fixierung) und Veränderung (Fluß) wiederentdecken. In dieser Einstellung, so Cassirer, werden wir nicht mehr auf ein »metaphysisch-Unbegreifliches zurückgewiesen, sondern zu dem ›Urphänomen‹ des Lebens selbst zurückgeführt«. 102 Gedanklich, begrifflich stoßen wir auch hier auf eine logische Antinomie, die sich jedoch im praktischen Lebensprozeß selbst immer wieder aufs Neue vermittelt. Unser logisches, diskursives Denken vermag diese Antinomie aber nicht widerspruchsfrei aufzulösen. Im Weiteren wird Cassirers Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, daß das Problem der Individualität des Lebens und der Beziehung dieser Besonderung zum Ganzen des Geisteslebens bereits die frühe Hegelsche Philosophie durchzieht. Für diese wiederhole sich im »Leben des Geistes« beständig die Spaltung und Antithese in ein begrenztes »individuelles Leben« und in die Negation dieser Besonderung. Wenn er im EP III vom Verhältnis des »›Ich‹ zu einer universellen geistigen Lebensform«

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FF: 216; ECW 7: 229. Ebd., 218 ff.; ECW 7: 233 f. 101 Ebd., 220; ECW 7: 234. Außerdem bilden diese Grundgedanken den Kern in Goethes Metamorphoselehre des Lebendigen (Urpflanze, Urtier). 102 Ebd., 221; ECW 7: 235. 100

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bei Hegel spricht, dann meint dies die Beziehung des Ich zu einer symbolischen Kulturform wie der Religion, dem Staat etc.103 In dieser Beziehung erneuert und abbreviert der einzelne Geist des Individuums die »Gesamtarbeit des Geistes«, der die »Allheit seiner besonderen Formen« zu durchlaufen hat, bei seinem eigenen Durchlauf und gelangt so zur Erkenntnis seiner selbst. 104 Seine Gesamtanschauung von der »Eigenart des geistigen Lebens« habe Hegel anhand des »religiösen Lebens« ausgebildet und zu einem Grundprinzip – dem Synthesebegriff – verdichtet. 105 Bereits am Beispiel Goethes hatte Cassirer das Problem einer Übertragung der das innere individuelle Formgesetz aufdeckenden ideell-symbolischen Betrachtungsweise von den organischen Naturformen auf alles übrige Lebendige, inklusive auf den lebendigen Geist, das geistige Sein, thematisiert. 106 Goethe, der diese Betrachtungs- oder Anschauungsweise ursprünglich im poetischen Schaffen zunächst selbst vollzogen und dann entdeckt hatte, daß der »ursprüngliche lebendige Trieb des [dichterischen – C. M.] Schaffens« immer schon unter einem Formgesetz steht,107 überträgt sie später auf die Naturanschauung und dehnt sie am Ende auf das gesamte »Leben des Geistes« aus. Deshalb sind für ihn schließlich »Kunstform und Naturform« nur noch zwei Ausdrücke ein und desselben Problems. Im Resultat, so Cassirer, ist für Goethe dasjenige, was für ihn einmal das »Leben der Natur« war, d. h., das »stetig Werdende, rastlos Tätige, das jedoch sich selbst Maß und Schranke setzt«, zugleich das »Leben des Geistes«, z. B. das »›Leben der Wissenschaft‹«. 108 Wenn er Kant die Fähigkeit zuschreibt, trotz aller Konzentration auf das Problem der allgemeingültigen Erkenntnis das »Ganze des natürlichen und des geistigen Lebens« zu überblicken und von innen her als einen einzigen »Organismus der ›Vernunft‹« zu begreifen,109 dann läßt er erkennen, daß er diesen Einheitsgedanken teilt und ihn auch in den historischen Systemen verfolgt. 110 Neben der Individualität und inneren Formgesetzlichkeit ist es die Annahme einer »Energie des Lebens«, weshalb Leibniz dem natürlichen, organischen Leben und dem geistigen Leben ein und dieselben Bestimmungen zuweisen kann. Diese Energie

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EPIII/ECW 4: 277 f. Ebd., 293. Ebd., 315. FF: 223, 242; ECW 7: 237, 256 f. Ebd., 243 f.; ECW 7: 258. Ebd., 242 f., 246; ECW 7: 256, 261. KLL: 384; ECW 8: 346. FF: 51; ECW 7: 55.

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des Lebens, die sich als »unendlich gestaltenreich, alles durchströmend, nirgends erloschen« zeigt,111 wird in Cassirers PsF als eine Totalität von »Energien des Geistes« wieder auftauchen. Die von Kant in der KUk thematisierten grundlegenden Beziehungen zwischen Geist (Vernunft), Gefühl und Körper des Menschen112 werden auch von Cassirer in KLL aufmerksam verfolgt und benannt. Ihn beschäftigt dabei vor allem der Zusammenhang des Ästhetischen mit dem Lebensgefühl und dem teleologischen Prinzip des Lebendigen,113 aber auch die von Kant deutlich gemachte Verbindung zwischen ästhetischem Gemütsleben (Lust- und Unlustgefühle) und körperlicher Gesundheit. 114 So widmet er dem ästhetischen Lustgefühl, das sich als subjektiver Ausdruck mit der eigentümlichen Zweckmäßigkeit verbindet, die wir in der »Ordnung der Erscheinungen« in der belebten Welt antreffen, große Aufmerksamkeit. 115 Das den Geist belebende Lustgefühl werde in der KUk auch unmittelbar durch jede spielerische Äußerung der künstlerisch-ästhetischen Einbildungskraft ergriffen. Wenn Cassirer hier vom »›Lebensgefühl‹ des Subjektes selbst« bzw. von unserem »konkreten Lebens- und Selbstgefühl« spricht, das eine »Einheit der Stimmung« zum Ausdruck bringt,116 dann stellt er anerkennend fest, daß Kant in mehreren Paragraphen subjektives Leben (Lebensgefühl) und objektiven lebendigen Geist (Einbildungskraft) in Beziehung bzw. Wechselwirkung setzt. 117 Wichtig sei außerdem, daß das »harmonische Spiel der Gemütskräfte«, geordnet

111

Ebd., 84; ECW 7: 89. Siehe dazu Gerhardt (2002: Kapitel 5, §§ 14–22, 264–286). 113 Kant handelt im § 23 davon, daß das ästhetische Vermögen (Reflexionsurteile des Schönen und des Erhabenen und die von ihnen bewirkten Gefühle der Lust oder Unlust) das organische, körperliche »Leben« auf diverse Weise befördert. Das Gefühl des Schönen sei ein Reflexionsurteil, das »direkt ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich« führt (Kant [1902: § 23, 92 f.]). Dagegen sei das Gefühl des Erhabenen ein Reflexionsurteil, das eine Lust nach sich zieht, die »nur indirekt entspringt«, indem »sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung derselben erzeugt wird«. – Ebd., 93; siehe dazu auch Recki (2002: 212 ff.). 114 Im § 29 erläutert Kant den Zusammenhang der mit Schmerzen oder Vergnügen verbundenen Vorstellungen, dem durch sie affi zierten »Gefühl des Lebens« und dem Gefühl des körperlichen Organs (Kant [1902: § 29, 133]). Im § 43 geht es ihm um die im Spiel und beim Lachen bewirkte »bloß körperliche« Belebung, die das Gefühl der physiologischen Gesundheit befördert. – Ebd., § 43, 199 f. 115 KLL: 322; ECW 8: 291. 116 Ebd., 337 f.; ECW 8: 305. 117 Einmal geht es um das Subjekt und sein subjektives »Lebensgefühl«, das vom ästhetischen Gefühl der Lust beeinflußt wird, zum anderen um ein »allgemeines Weltund Lebensgefühl«, das alle Subjekte und deren Lebensgefühle betrifft. – Ebd., 339, 341; ECW 8: 306 f. 112

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durch die teleologische Urteilskraft der Vernunft, der Natur selbst den »Gehalt des Lebens« gibt. 118 Die Darstellung des Erkenntnisproblems in Fichtes Wissenschaftslehre bietet Cassirer erneut die Gelegenheit, die Übertragbarkeit des organischen Lebensprinzips auf die Erkenntnis zu diskutieren, gilt sie in dieser doch als eine »organische Einheit«. 119 Der »Organismus der Erfahrung« bzw. das »eigentliche Leben dieses Organismus« können nicht durch eine genetische Rekonstruktion aus den letzten Elementen ersetzt werden, sondern ist laut Fichte als faktische Bestimmtheit der Erkenntnis anzusehen. 120 Indem die Philosophie nun alles Faktische der Erkenntnis genetisch konstruiert und gleichzeitig alles genetische Konstruieren des Wissens auf die faktische Bestimmtheit der Erkenntnis richtet, vermag sie zwar das Leben selbst nicht zu ersetzen, wohl aber den »Gehalt dieses Lebens« ihm selbst offenbar zu machen. 121 Daß ein Zusammenbringen von Leben und Erkennen diesen durchaus richtigen Gedanken auch überziehen kann, belegt nach Cassirers Auffassung insbesondere Schopenhauers Willensmetaphysik, in der die Erkenntnis »in ihrer rein biologischen Leistung auf[geht]: Sie ist das Werkzeug für den schlechthin gebietenden Lebenstrieb«. 122 In ihr ist von einer Doppelbindung zwischen Leben und Vernunft keine Rede mehr. Große Aufmerksamkeit wird dem Erkenntnistheoretiker Fichte der Periode ab 1800/01 gewidmet, in der er das »eine unvermittelte geistige Leben des Wissens«, das »universelle Leben und seine Gesetzesform« zum Ausgangspunkt seiner Philosophie erklärt. Die Wissenschaftslehre wird nun als das Bewußtsein eines »alle Individualität in sich fassenden und aufhebenden Lebens« verstanden, das so zum absoluten Wissen, zum Sein der Wahrheit wird. 123 Dieses ist in einem dialektischen Prozeß zu begreifen und könne, so der späte Fichte, »nur gelebt« werden. Deshalb muß jede »wahrhaft lebendige Philosophie [ . . . ] demnach vom Leben fortgehen« und zum Sein, zum Wissen hingelangen. Der umgekehrte »Weg vom Sein zum Leben« dagegen erscheint als völlig verkehrt, weil er ein in allen seinen Teilen irriges System erzeugen muß. 124 Für Cassirer erweist sich die lebensphilosophische Position Fichtes als ein Platonismus,

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Ebd., 356; ECW 8: 321. EP III/ECW 4: 153. Ebd., 162. Ebd., 160 f. Anm. Ebd., 405. Ebd., 172, 178. Ebd., 179.

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wenn dieser das Wissen dort an seine Grenze gelangen läßt, wo es zur »Anschauung eines ursprünglichen Lebens« kommt, das »noch jenseits seiner selbst liegt«. 125 Das Leben jenseits des Wissens ist als das göttliche Leben das wahre und einige Leben, im Gegensatz zur toten empirischen Natur. Für den späten Fichte ist folglich das göttliche Absolute die »ursprüngliche Form des Lebens«. 126 Eine Parallelisierung von organischer Natur und Menschengeist macht Cassirer auch bei Schelling dingfest. Dessen Auffassung der Natur als geschaffene und gleichzeitig als eine »sich selbst organisierende« produktive Kraft, läßt sie, wie auch den Menschengeist, als etwas Symbolisches erscheinen. Cassirer fühlt sogleich, »daß es Goethes Begriff der Natur ist, der hier konstruiert und transzendental verstanden werden soll«. 127 In Schellings Naturphilosophie lassen sich, so hebt er durchaus anerkennend hervor, der »Begriff des Lebens und der des Wissens« nur gemeinsam, nur mit- und durcheinander fassen und entwickeln. Das Wissen ist hier »das zur Klarheit und Einsicht gelangte Leben, wie das Leben nur das verhüllte, noch nicht zum Bewußtsein über sich selbst gelangte Wissen ist«. 128 An Hegels panlogischem Übergang aus der Begriffslogik in die Naturphilosophie und der ihn begleitenden religiös-mythischen »Umbildung der Form des organischen Werdens in die Form logischen Werdens« hatte einst nicht nur Goethe Anstoß genommen, sondern auch Cassirer bleibt ihr gegenüber skeptisch, ablehnend. 129 Die Ablehnung bezieht sich aber nur auf diese Umbildung, nicht auf eine empirisch verifizierbare Parallelität und auch nicht auf die Einsicht in eine gegenseitige Durchdringung von organischem und logisch-begrifflichem Werden. Deshalb weist er Hegels dialektische Methode nicht etwa brüsk ab,130 vielmehr vermag er der Rede von der die »Organisation der Vernunft als Ganzes« bzw. vom »Organismus der Vernunft selbst« einiges abzugewinnen. 131 So z. B. die Einsicht, daß die »reine Form des Begriffs« und die »reine Form des Lebens« sich durchdrungen haben. 132 Cassirer sieht es zudem als philosophische Leistung an, daß die spekulativen Denker Fichte, Schelling

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Ebd., 180 f. Ebd., 189. Ebd., 219 f., 225. Ebd., 230. Ebd., 363. Ebd., 294. Ebd., 296, 303. Ebd., 340.

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und Hegel versuchen, das »Leben und die Selbstentfaltung des göttlichen Verstandes« vor uns hinzustellen. 133 Die neue Gesamtansicht, die speziell Hegel nach 1800 entwirft, wonach das Ganze des Geistes sich nur als Entwicklung darstellen kann, scheint er zu teilen, auch wenn sie irrtümlich »unmittelbar aus dem Begriff des Lebens selbst gefolgert« wird. 134 Denn daß wir es mit einem »konkreten Leben des Geistes selbst« zu tun haben, ist auch für Cassirer eine philosophische Tatsache. 135 Deshalb stimmt er auch Hegels Einsicht zu, wonach es Objektivität für den individuellen Geist nur in der »Form einer allgemeinen Bindung [gibt], kraft deren er sich als Glied einer umfassenden lebendigen Gesamtheit weiß«. 136 Fraglich ist nur, ob die antinomische Natur des lebendigen Geistes dieselbe ist, wie die des diskursiven und logischen Denkens. Außerdem hält Cassirer Hegel vor, nicht nur »Prinzipien und Richtlinien des geistigen Lebens« aufgestellt, sondern den »Gesamtgang dieses Lebens« auch noch vorweggenommen und zusammengefaßt zu haben. 137 Bei allen Überziehungen in der Logik habe Hegel aber erkannt, daß das echte Ansich sich nur in der »Grundund Urform des geistigen Lebens selbst erfassen« läßt. 138 Es sei unzweifelhaft, daß der »Geist des Menschen« ein »tiefstes und innerlichstes Leben« gewinnt und sich dank ihm entfaltet. 139 Dennoch zeichnet das »geistige Leben«140 gegenüber dem der Natur zumindest das Wissen um die Kräfte bzw. Formen aus, die in ihm walten. Außerdem beherrscht es die Kräfte und Formen kraft dieses Wissens, indem es zur Wissenschaft wird. Diese Einsicht findet Cassirer in Hegels Phänomenologie des Geistes exemplarisch ausgesprochen, er wird sie regelmäßig zitieren. 141 Analog zu der Annahme einer »unendlichen Totalität individueller Lebensformen« in der organischen Natur142 entwickelt er nunmehr immer klarer die Vorstellung einer Vielzahl von Formen des geistigen Lebens, die eine Ganzheit, eine Ordnung, eine Lebensordnung bilden.

133

Ebd., 465. Ebd., 282. 135 Ebd., 297. 136 Ebd., 313. 137 Ebd., 357. 138 Ebd., 365. 139 FF: 35; ECW 7: 38. 140 Im Gegensatz zu Descartes, der das Geistige mit dem Denken gleichsetzt, habe Leibniz in der Metaphysik »an Stelle des Begriffs des Denkens den reicheren und umfassenderen des Lebens gesetzt«, was das Denken als nur eine Form des Lebens nimmt. – FF: 61; ECW 7: 65. 141 Ebd., 51; ECW 7: 55; siehe auch EPIII/ECW 4: 292. 142 FF: 82; ECW 7: 88. 134

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In seiner geistesgeschichtlichen Studie sind dies u. a. die Denkform,143 die ästhetische Form144 , die Naturform und die politische Form145 des lebendigen Geistes bzw. des geistigen Lebens.

1.3 Methodische Überlegungen: Entzweiung, Einheit und symbolische Repräsentation In den Schriften dieser Periode nimmt Cassirer den Grundgedanken erneut auf, das Leben mit einer Doppelrichtung, Doppelbewegung oder Korrelation zweier gegenläufiger Richtungen (Bedeutungen) zu assoziieren (siehe I. 2.2 der vorliegenden Arbeit). Dieser methodische Gedanke ergänzt und erweitert die übrigen Bestimmungen, die er über das Leben zusammenträgt bzw. sich zu eigen macht, außerdem verknüpft er sie alle mit der in dieser Zeit konzipierten Philosophie der symbolischen Formen. So zeichnet sich ab, daß, wenn vom Leben die Rede ist, wir es mit dem Primat des Ganzen vor seinen Teilen zu tun haben, was eine Zweckidee impliziert. Seelisches Leben vollzieht sich zudem an einem identischen Subjekt des beständigen Wandels, wodurch sich das Bewußtsein als identisches Selbst erschließt. Daraus ergibt sich, daß es als paradoxe Einheit von Fluß und Fixierung zu fassen ist, was aber logisch-begrifflich nicht widerspruchsfrei gelingt. Deshalb nimmt Cassirer die Anregung Goethes auf, Leben als ein Urphänomen zu behandeln, das sich einer weiteren Ableitung oder gar einer mathematischen Konstruktion entzieht. Im psychischen Erleben stehen wir zwar in der Unmittelbarkeit des subjektiven Lebens, im reflexiven Vergewissern zeigt sich aber, daß im Vollzug des Erlebens bereits ideelle, theoretische Leistungen teilhaben, weshalb im Lebensbegriff ein Zweifaches vorausgesetzt werden muß. Diese Voraussetzung harmoniert auch mit der Einsicht, wonach dem Leben ein Drang zur Äußerung wesenseigen ist, d. h. ihm eine Ausdrucksfunktion innewohnt. Die Zweiheit tritt auch als korrelativer »Gegensatz zwischen ›Freiheitsprinzip‹ und ›Formprinzip‹« auf, der die gesamte neuere Geschichte des geistigen Lebens durchziehe. Dieser Gegensatz, der eine allgemeinste Antithese, ein Grundgesetz bildet, dem alle geistigen Objektivationen gleichsam unterliegen, realisiere sich immer konkret, was den geistigen

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Ebd., 61; ECW 7: 65. Ebd., 65; ECW 7: 69. Ebd., 345, 363; ECW 7: 363, 383.

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Produkten die Individualität ihres Werdens zusichert. 146 Die Einsicht, daß gegensätzliche, einander scheinbar ausschließende Bestimmungen nicht einfach auseinander abgeleitet werden können, bezieht Cassirer keineswegs bloß auf das Problem des Lebens. Er ist sich nämlich bewußt, daß gegensätzliche Bedeutungsmomente, wie »zufällig« und »gesetzmäßig«, zwar irreduzibel sind, nicht aber behandelt werden dürfen, als seien sie verschiedenen Seinssphären angehörende Teile. Vielmehr müsse von einer »unlösbaren Korrelation« zwischen solchen Bedeutungsmomenten ausgegangen werden, »ohne sie ihrem Begriffe nach ineinander aufgehen zu lassen«. 147 Solche gegensätzlichen Momente treten auch als Festes und Fließendes in der »unmittelbaren Wahrnehmung« zu Tage. 148 Für Cassirer repräsentiert insbesondere Goethe den Typus Denker, der es als ein Gesetz des Schaffens erkannt und erfühlt hat, daß der Schaffende immer wieder damit konfrontiert wird, »wie Tod und Leben, Aufbauen und Zerstören in ein und demselben untrennbaren Akte enthalten und beschlossen sind«. 149 Für den Künstler sind auch Empfindung und Ausdruck nicht zwei getrennte Phasen des Schaffens, sondern sie bilden in ihrem Ineinander seine »eigentümliche Lebensform«.150 Damit ist der Gedanke ausgesprochen, daß sich der Bedeutungsgegensatz nicht aus zwei einander äußerlichen Richtungen aufbaut, sondern als paradoxe Doppelbewegung in ein und demselben Akt ursprünglich enthalten ist und sich nur analytisch in zwei logisch antinomische Bewegungen auseinanderlegen läßt. Eine typische Doppelbeziehung, der übrigens jede »individuelle Denkerpersönlichkeit« eine eigentümliche Lösung gibt, weil sie sie regelrecht »lebt«, findet Cassirer in Goethes Einsicht angesprochen, daß das Leben, indem es dem Denken eine »Form gibt, zugleich dessen eigene Form zurück[erhält]«. 151 In diesem eigentümlichen Wechselverhältnis erscheint jedes der beiden Momente »zugleich als bestimmend und als bestimmt«. Unter Bezug auf Kant will Cassirer auch ideelle Anschauung und Begriffsarbeit als eine »Doppelrichtung« in der Philosophie verstanden wissen. Anschauung dürfe nicht unabhängig von begrifflicher Selbster-

146

Ebd., XIII; ECW 7: 390. EP III/ECW 4, 10. So habe sich die Korrelation von Wissen und Gegenstand im Spätwerk Fichtes als »das eigentliche Lebensprinzip der Wissenschaftslehre erwiesen«. – Ebd., 198. 148 Ebd., 370 f. 149 FF: 259; ECW 7: 275. 150 Ebd., 179; ECW 7: 190. 151 KLL: 2; ECW 8: 2. 147

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kenntnis von »›unter hinauf‹« (Aristoteles) vollzogen werden. 152 Ebenso gehören Analyse und Synthese als gegenläufige Grundfunktionen der Erkenntnis notwendig zusammen. 153 In der Dialektik Hegels, für die das Denken in demselben Sinne antinomisch ist, wie es das »konkrete Leben des Geistes selbst« ist, findet Cassirer schließlich die Doppelrichtung exemplarisch durch den Gedanken einer »ursprünglichen Entzweiung« zum Ausdruck gebracht. 154 Dieser Gedanke folge aus Hegels philosophischem Grundprinzip, das sich wiederum im »Begriff der Synthesis als des Zusammenschlusses und der absoluten Identität eines Ungleichartigen« offenbart. Hegel habe erkannt, daß »alles Leben« eine Einheit verlangt, die nicht im ruhenden Dasein zu fassen, sondern allein im Prozeß zu ergreifen ist: »eine Einheit, die nur dadurch ist, daß sie sich aus einer ursprünglichen Entzweiung herstellt«. 155 In der Phänomenologie des Geistes lasse er die »ursprüngliche Entzweiung« sich in Ich und Du stufenweise entfalten und schließlich in der absoluten Einheit, d. h. in der »absoluten Identität eines Ungleichartigen«, aufheben. 156 Dieser auf der ursprünglichen Entzweiung des Einen beruhende Begriff der Einheit schließt die Vorstellung zweier äußerlicher Seinspole oder Potenzen – »Leben« und »Geist« -, die erst nachträglich zu vereinen wären, aus. Auch in den Begriffen des Symbols und der Repräsentation,157 wie sie bei Leibniz und Goethe verstanden werden, findet Cassirer Anregung für seine Auffassung des Doppelcharakters, bzw. findet diese dort bestätigt. Es sei vor allem Goethes Dichtung, seiner Kunst- und Naturbetrachtung vergönnt gewesen, eine »reine Symbolik des Wirklichen zu schaffen«. 158 Der späte Goethe hält das paradoxe Doppelverhältnis des Lebens »in einem begrifflichen Symbol« – der Monas – fest, wobei er sich, wie Cassirer selbst auch, der Grundkategorien von Leibniz’ Monadenlehre bedient. 159 In seiner Wiedergabe der Leibnizschen Überlegungen zum Verhältnis von Ganzem und Teilen deutet sich der spätere Begriff symbolischer Prägnanz bereits an, wenn davon die Rede ist, daß »jede Lebenserscheinung« auf paradoxe Weise einen Teil darstellt, der, »rein in sich verharrend, dennoch bereits das Ganze ›ist‹«. Leibniz erfaßt diesen Sachverhalt u. a. dort,

152

Ebd., 447; ECW 8: 402. IG: 45 f.; ECW 9: 284. 154 EPIII/ECW 4: 297. 155 Ebd., 315. 156 Ebd., 309. 157 Zum Begriff der Repräsentation in Cassirers Philosophie siehe jetzt Plümacher (2004: 7 ff., 263 ff., 485 ff.). 158 EP III/ECW4: 263. 159 FF: 177; ECW 7: 188; Goethe (1998, HA 12: 396 f., Maximen 227–229). 153

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wo ihm das Bewußtsein als der »Ausdruck des Vielen in Einem« gilt. 160 Auch die Monade ist für ihn das Einzelsubjekt, das nicht mehr nur ein Teil und Glied des Ganzen ist, »sondern dieses Ganze selbst darstellt und in sich faßt«. 161 Insbesondere bei der »Gestaltung des inneren Lebens« einer Person greift Leibniz auf das symbolische Repräsentationsverhältnis von Ganzem und Teilen zurück. An der »›symbolischen‹ Betrachtungsweise« Goethes hebt Cassirer hervor, daß sie das Einzelne als Ausdruck des Ganzen und das Ganze als sich im Einzelnen offenbarend annimmt. 162 Die symbolische Regel, in der die antithetischen Momente der Beharrung und der Veränderung zusammengedacht werden, und die wir auf das Lebendige anwenden, ist für uns »fest und ewig, aber zugleich lebendig«. 163 Als die »symbolische Darstellung eines Lebensganzen« würdigt Cassirer den Tatbestand, daß in Goethes dramatischen Werken das Ganze jeder einzelnen Gestalt ausgehend von einem einzelnen Moment entfaltet, aufgebaut wird. 164 Bei ihm könnten einzelne literarische Gestalten einen »rein symbolischen Sinn« gewinnen, da sich an ihnen jenes Grundverhältnis vollzieht, das er als den »Kern aller wahren Symbolik« bezeichnet: die Repräsentation des Allgemeinen durch das Besondere, indem es sich lebendig-augenblicklich als das Unerforschliche offenbart. 165 Goethes Faustdichtung ist demnach »zugleich unmittelbarste Lebensdarstellung und reinste Symbolik« sowohl des Gegensatzes als auch der Versöhnung von »›Form‹ und ›Freiheit‹«. 166 Einzelphänomene als Symbole des Ganzen sind nicht Momente, die das Ganze bloß »begrifflich vertreten«, sondern sie sind Momente, die dieses Ganze noch »unmittelbar bedeuten und sind«. 167 Leben und Symbol, Form und Freiheit, Werden und Idee, Urdifferenz und Einheit (Synthese) fließen am Ende dieser Periode in Cassirers neuem Begriff der symbolischen Form zusammen. 160

FF: 41; ECW 7: 44. »Im Bewußtsein ist jeder Inhalt nur, indem er sich auf die Gesamtheit aller anderen [Inhalte – C. M.] bezieht; aber eben diese Beziehung selbst [ . . . ] ist das Ergebnis eines unendlich vielfältigen Lebens, das seine Identität ständig von neuem erzeugt.« – Ebd., 42; ECW 7: 45. 161 Ebd., 115; ECW 7: 122. 162 Ebd., 214; ECW 7: 227. Siehe auch EP III/ECW4: 249. 163 FF: 220; ECW 7: 234. 164 Die einzelnen Gestalten treten hier nicht als »individuelle Repräsentanten irgendeines allgemeinen Charakters« auf, sondern als »geprägte Formen, die sich lebend entwickeln«. – Ebd., 247; ECW 7: 262. 165 Ebd., 264; ECW 7: 280. 166 Ebd., 268; ECW 7: 283. 167 Um ein Ganzes als lebendiges zu betrachten, müsse man das »Kleinste als Symbol verstehen, an dem sich ihm die eine, ewige Ordnung des Ganzen, als wahrhaft konkrete und allumfassende, offenbart.« – IG: 46; ECW 9: 284.

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2 Leben als Biographie: Lebensform, Lehrform und Epochenprinzip 2.1 Biographisches Leben und seine innere Form Obwohl auch das menschliche Individuum den biologischen Lebensgesetzen der menschlichen Gattung unterliegt, erfährt sich hier das Leben noch durch eine kulturelle und eine individuell-biographische Wirklichkeit überbaut. Die beabsichtigte Aufklärung des Lebensbegriffs und seiner Wandlungen im Werk Cassirers hat folglich nicht nur nach dem Verständnis für die biologischen, organologischen Gesetze (Formen) des Lebens, sondern auch nach den beiden speziell menschlichen Dimensionen zu fragen. In ihnen verbinden sich die charakteristischen Bestimmungen des Lebens als eines Urphänomens mit weiteren inneren Formen. Diese Verbindung sieht Cassirer an den Lebensverläufen Kants und Goethes samt ihren geistig-kulturellen Schöpfungen exemplarisch zutage treten, verschmelzen doch bei bedeutsamen Personen Individualität und objektives Werk. 168 In dem Zusammenhang fällt ihm auf, daß sich gewisse Bestimmungen des organischen Lebens auch im individuell-biographischen Leben einer Kulturwerke erschaffenden Persönlichkeit offenbaren. So rechnet er es Goethe hoch an, daß dieser solche Momente des Organischen im eigenen Leben immer wieder bewußt thematisiert. Dies geschieht z. B., wenn der alternde Dichter für sich und sein individuelles Leben das diesem innewohnende »Gesetz des zugleich fortschreitenden und welkenden Lebens« erfaßt, was sich auch auf seine geistige Produktion auswirke. 169 Schon im Goethe-Kapitel in FF hatte sich die Argumentation immer wieder um den »Lebensgang« Goethes zwischen Geburt und Tod bewegt. Der Lebensgang wird als das von einer inneren Lebensform getragene tätige Leben des bedeutenden Menschen ausgelegt, das seine subjektiven Energien in vielfältigen Lebensinhalten entfaltet und damit in objektiven Formen ausdrückt, die aber alle Teile eines einheitlichen, lebendigen Ganzen bleiben. Cassirer interessiert auch der Wechsel des inneren Formprinzips in den unterschiedlichen Lebens- und Schaffensepochen Goethes. Auf diese Weise finden vielfältige Termini, die diesen Wechsel erfassen und beschreiben, Eingang in die Darstellung, wobei sie häufig Zitaten aus

168 169

KLL: 2; ECW 8: 2. IG: 24 f.; ECW 9: 266.

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dem Schrifttum Goethes entstammen. Da Cassirer hier Leben als Bündel objektivierender geistiger Energien und Taten auffaßt, die sich nach ihren jeweils individuellen Gesetzen als fest (Form, Gesetz) und als beweglich (Freiheit, Subjektivität) zugleich bestimmen,170 tritt der Formbegriff in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. In gewissem Sinne ergänzt der Terminus »geistige Energie« den der verschiedenen »Lebensformen«. Damit zeichnet sich bereits die Art und Weise der Bildung geistiger Kultursphären ab. Die »geistige Energie« wird mit dem »Phänomen des Lebens«, das Goethe allen seinen Naturbetrachtungen zugrunde legt, in Beziehung gesetzt. Außerdem spürt Cassirer dem Sachverhalt nach, inwieweit die inneren Formen des individuellen lebendigen Tuns und die kulturell objektivierten Formen in einem aufweisbaren Verhältnis zueinander stehen. In nahezu allen Schriften, die in der Periode zwischen 1916 und 1921 entstehen, ringt er nun um den Formbegriff im Allgemeinen und um den Begriff der Lebensform im Besonderen. Zunächst geht er zwei in der deutschen Geistesentwicklung beschrittenen Wegen zum lebendigen Formbegriff nach, habe man sich ihm doch von der subjektiven und von der objektiven Seite her angenähert. Hatte »die stetige Linie der deutschen Geistesentwicklung« von Leibniz bis Herder den (ästhetischen) Formbegriff aus dem subjektiven Leben, Erleben und Gefühl entwickelt, so unterbrach Winckelmann diese Entwicklung mit einer »neuen Formwelt« und einem »neuen Formprinzip«, das sich als »objektives Schauen« gegen das innere Denken, subjektive Gefühl, als plastisches Prinzip gegen das dynamische Prinzip, als Typisches gegen das Individuelle richtet. 171 Die Synthese beider Zugänge zur subjektiv-objektiven Form werde insbesondere von Goethe geleistet. Weiter beschäftigt ihn, wie die kritische Philosophie Kants über den Begriff der Autonomie und wie das praktische Kunstschaffen Goethes die Einheit von bindender Form und belebender Freiheit einer grundsätzlichen Lösung zuführen. Diese Synthese, die einen Begriff vom geistigen Leben bzw. vom lebendigen Geist erst ermögliche, deutet er geradezu als das innere Schaffensgesetz der Wendezeit vom 18. zum 19. Jahrhundert. Bilde sich doch in Deutschland um 1800 »eine bestimmte Korrelation von Freiheitsidee und Staatsidee«, 170

Er hält deshalb mit Interesse fest, daß für Fichte das Wissen als Leben, als Substrat des Seins eine dialektisch-genetische Selbsterzeugung vollbringt: »Das Wissen als Bild, als Erscheinung ist [ . . . ] das Sichauswirken der Tätigkeit des Gestaltens und Bildens selbst – es ist nicht sowohl objektivierende Intuition, als ein Sich-selbst-›intuierend-Machen‹ in wirklich freier Lebendigkeit.« – EP III/ ECW 4: 186. 171 FF: 138 f.; ECW 7: 147.

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von der »Idee der Freiheit und jener objektiven ›Form‹, die sich im Staat und seinen Bindungen darstellt«, heraus. 172 Deshalb erklärt er diese Einheitsidee zur charakteristischen Lebensform, die die Lebensordnung der Epoche prägt und die in der Kantischen Philosophie theoretisch reflektiert ihren Ausdruck findet. 173 Für alles echte geistige Sein und Werden ist der Formgedanke nämlich nicht einfach die »Ergänzung zum Freiheitsgefühl«, liegt er doch als notwendiges Moment in diesem selbst. Die Begrenzung, die die Form dem Gestaltungsprozeß auferlegt, erweist sich als »ursprünglich in den gestaltenden Funktionen des Lebens selbst beschlossen«.174 Leben ist, und diese Feststellung wird Cassirer immer wieder treffen, eben kein formloses Fließen und Werden, und auch der »ursprüngliche lebendige Trieb des Schaffens« steht immer schon unter einem »Formgesetz«. 175 Bei Goethe werde diese Synthese von Freiheit und Form zunächst in der Kunst, in der Poesie erfaßt und gestaltet, obwohl sie keineswegs nur eine ästhetische Form ist. »Der Gegensatz und die Versöhnung von ›Form‹ und ›Freiheit‹« ist vielmehr ein Grundthema im gesamten »Leben Goethes und ein Grundthema der deutschen Geistesgeschichte«. 176 Die gelungene Synthese setzt die Freiheit des tätigen Individuums von äußeren »Lebensmächten« und erweist sich gleichzeitig als unaufhebbare Bindung an sein »individuelles Gesetz«. So wird nach Goethe »der Mensch frei von allen äußerlich-konventionellen Lebensmächten, indem er bis in den tiefsten Grund zurückgeht, aus dem ihm sein individuelles Gesetz und seine individuelle Gebundenheit quillt«. 177 Den durch Simmel 1917/18 ausgesprochenen Gedanken einer Rückwendung der das unmittelbare Leben transzendierenden Idee zu diesem Leben178 nimmt Cassirer de facto vorweg, wenn er sich darüber im Klaren ist, daß sich die Welt der geschaffenen poetischen Gebilde letztlich »von ihrem Schöpfer ablöst« und, wie sie »durch ihn bestimmt und geformt war, nunmehr ebenso ihn selbst bestimmt und formt«. 179 In dieser Doppelbeziehung und -bestimmung löst sich der innere Formbegriff in einen ganzen Form172

Ebd., 311, 365; ECW 7: 327, 383 f. Dieses Verdienst Kants ist letztlich gemeint, wenn Cassirer davon spricht, daß »von der Seite des Formproblems her [ . . . ] Goethe, von der Seite des Freiheitsproblems her [ . . . ] Schiller seinen Weg zu Kant«, d. h. zur Einheit von Freiheit und Form in ihrer Synthese gefunden haben. – Ebd., 170; ECW 7: 180. 174 Ebd., 184; ECW 7: 195. 175 Ebd., 243 f.; ECW 7: 258. 176 Ebd., 268; ECW 7: 283. 177 Ebd., 188; ECW 7: 199. 178 Simmel (1918: 1–27, 28–98). 179 FF: 188; ECW 7: 200. 173

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prozeß auf, der es erlaubt, ein »Lebendiges« durch Formenwandel darzustellen. 180 Diesen lebendigen Formprozeß habe Goethe an sich selbst erlebt und dann auch künstlerisch bewußt gestaltet. 181 Auf dem Gebiet der Kunst, in der ästhetischen Sinnwelt haben wir es zunächst mit einem reinen ästhetischen »Formwillen«, mit einer »Fähigkeit zur Gestaltung von innen heraus« zu tun, die sich – wie bereits bei Montaigne – als innere »Stileinheit«, als »höchstes gestaltendes Prinzip« an der »unabsehbaren, quellenden Fülle« des sich wandelnden Lebens bewähren muß. Diesen Willen zur ästhetischen Gestaltung von innen heraus, der die großen Gestalten der Deutschen Klassik und des Deutschen Idealismus seit Ende des 18. Jahrhunderts auszeichnet, nennt Cassirer den Ausdruck einer »neuen Lebensform«, die sich sowohl im geistigen Schaffen als auch im persönlichen Leben bewähre. 182 Bereits im 16. Jahrhundert war Montaigne zum »Künstler einer neuen Lebensform« geworden, die den äußeren Herrschaftswillen des Renaissancemenschen durch den inneren reinen »ästhetischen Formwillen« ersetzt. Als weitere historisch auftretende typische Lebensform einer Epoche beschreibt Cassirer die »Form des mystischen Lebens« und die aus ihr resultierende »Doppeltheit in der Lebensstellung des Mystikers«, die sich in der Hinwendung zum Göttlichen und zum Irdischen manifestiert. 183 Die Zeit des 18. Jahrhunderts bringt dann eine »eigene Lebensform« hervor, die in der Form der kritischen Philosophie ein reflexives Selbstbewußtsein von sich erlangt. Deshalb kommt es hier zum »unmittelbaren Ineinandergreifen von Spekulation und Leben, von kritischer Reflexion und schöpferischer Gestaltung«. 184 Das Hervortreten einer einheitlichen oder zumindest die Kunst beherrschenden Lebensform im kulturellen Schaffen einer Zeit bedeutet, daß alle konkreten Formen dieses Tuns sich durch »eine durchgehende Richtung der Frage« auszeichnen. Und diese Fragerichtung veranlaßt die schöpferischen Geister im 18. Jahrhundert, sich dessen bewußt zu sein und in dem Sinne tätig zu werden, daß die objektive Norm (Bindung) aller Gestaltungsformen nicht in äußerlichen (heteronomen) Gesetzen, sondern in den »eigentümlichen Gesetzen jeder bestimmten Bewußt-

180

Ebd., 258; ECW 7: 273. IG: 10; ECW 9: 244 f. 182 Diese neue »Lebensform« als ein neues inneres Gesetz des Schaffens setzt Cassirer auch in Beziehung zur neuen »Denkart«, die als mathematisches Erzeugen des Erkenntnisgegenstandes in der Naturwissenschaft mit Kepler und Galilei durchbricht. – FF: 10; ECW 7: 10 f. 183 Ebd., 5, 14; ECW 7: 5, 16. 184 Ebd., 142; ECW 7: 151. 181

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seinsrichtung selbst« liegt. 185 Damit hebt Cassirer die neue autonome Lebensform des 18. Jahrhunderts, welche die Bindungen und Gestalten aus sich selbst heraus setzt, von der alten heteronomen Lebensform ab, die sich an äußeren oder transzendenten Formen (Regeln, Gesetzen, Ideen) orientiert und mißt. Goethe, der für sich beansprucht »›von innen heraus [zu] leben, [ . . . ] von innen heraus zu wirken‹«, gilt ihm dabei als wichtigster Exponent dieser neuen Lebensform, die auf ein inneres, alle Äußerungsweisen prägendes Formprinzip der Autonomie und Selbstbestimmung setzt. Als das gesamte Lebensgefühl der Menschen bestimmende Form kennt sie auch keine form- und gestaltlose Innerlichkeit (Gefühl) jenseits eines bildenden Prinzips, wie dies noch in der vorhergehenden Kultur der betonten Innerlichkeit als Ideal angestrebt worden war. 186 Die enorme Prägekraft der inneren Lebensform der Person Goethe verdeutlicht Cassirer in dem Aperçu, es sei »die neue Lebensform in Goethe, die die neue Kunstform, deren Schöpfer er ist, bedingt«.187 Die innere Lebensform findet ihr Pendant in einer entsprechenden »Lebens- und Erkenntnisstimmung«, in einem »spezifischen Lebensgefühl« oder in einer bestimmten »seelischen Stimmung« gegenüber dem »Welt- und Lebensganzen«. 188 Entweder trägt die von der Lebensform geprägte künstlerische Tätigkeit der für die Kulturwirklichkeit repräsentativen Individuen zur Ausbildung eines neuen »Lebensgefühls« bei, oder ihre innere Schaffensform sucht und findet Anschluß an eine bestehende »Lebens- und Erkenntnisstimmung«. Schließlich gewinnen Lebensform und Lebensgefühl Einfluß auf die Richtung der Lebensführung. Gewissermaßen in der Tradition Diltheys und Chamberlains deutet Cassirer die individuelle Lebensführung (Lebensgang) Goethes und die Eigenheiten seines künstlerisches Schaffens samt Resultaten nicht als zwei getrennte Sphären oder Vorgänge, sondern sieht sie einer gemeinen Quelle, Wurzel, einem gemeinsamen Bildungsprinzip entspringen. Bei Goethe durchdringen sich also die Kräfte, aus denen sich das Leben »formt«, und die Dichterkräfte »innerlich und ursprünglich«, sie sind »in ihren Wurzeln eins«. 189 Damit fungieren die konkreten Äußerungs- und Objektivations-

185

Ebd., 143; ECW 7: 152. Ebd., 175; ECW 7: 185. 187 Ebd., 171; ECW 7: 181. In Goethe entdeckt er nämlich den Künstler bzw. Intellektuellen, der sowohl innere wie äußere Form als auch Form und Freiheit im unmittelbar gelebten, ideell gerichteten schöpferischen Schaffensprozeß vermittelt. Damit sei er der erste deutsche Dichter, »der nicht sowohl ein ›Ideelles‹ vertritt oder hat, als er es vielmehr selbst lebt und ist. – Ebd., 174; ECW 7: 184. 188 Ebd., 261, 177, 187; ECW 7: 277, 198, 199. 189 Ebd., 172; ECW 7: 182. 186

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weisen der Persönlichkeit sogleich als die Vollzugsweisen ihres Lebens und lassen sich ihm nicht entgegensetzen: »Die künstlerische Gestaltung folgt nicht auf das Leben, [ . . . ] sondern sie ist ein bestimmender Faktor im Aufbau des Lebens selbst«. 190 Cassirer teilt Goethes Einsicht, daß unser Leben (Erleben) sich uns nicht in seiner Unmittelbarkeit eröffnet und erschließt, sondern nur über das Bilden und Tun in seinen Bildungen und Taten. Deshalb muß Goethe »das Leben selbst an das ›Bild des Lebens‹ hingeben – denn er hat und besitzt seinen Gehalt erst, wenn er ihm aus dem Bilde zurückstrahlt«. 191 Das Leben bzw. die Lebensenergien Goethes entfalten sich jedoch nicht allein in einer bewußten Lebensführung und im poetischen Tun. Vielmehr tritt dieses »ursprüngliche Verhältnis der schöpferischen Elemente« in drei Grundformen nach außen hervor: »In der Form seines Lebens, in der Form seiner Lyrik, und in der Form seiner Naturbetrachtung und seiner objektiven Naturforschung«. 192 Wenn Cassirer hier in drei unterschiedlichen geistigen Äußerungsweisen das »gleiche Gesetz«, ein und denselben »lebendigen Zusammenhang« wirken sieht, dann nimmt er de facto Anregungen der Goethedeutung auf, wie sie Dilthey, Simmel und Chamberlain vorlegen. 193 Mit dieser Deutung stellt sich auch bereits das Problem der symbolischen Formen: Drei Gestaltungsweisen von Wirklichkeit vollziehen sich nach dem gleichen inneren Gesetz und unterscheiden sich dennoch in ihren Bedeutungen bzw. Sinngehalten. Unklar bleibt an der Argumentation aber noch, ob das individuelle Leben des Künstlers, oder auch das gemeinschaftliche Leben einer Generation, bloß von einer inneren Lebensform, von einem inneren Gesetz der Lebenstätigkeit bestimmt wird, oder ob wir es mit mehreren inneren Prinzipien zu tun haben, die das menschliche Dasein und seine verschiedenen Objektivationsweisen prägen. Die »innere ›Form‹« des Lebens, die sich Goethe als Künstler bewußt gegeben hatte, muß sich als inneres Gesetz sowohl in der künstlerischen Produktion als auch in den übrigen Lebenstaten innerhalb der »Lebensverhältnisse in Weimar« bewähren. 194 Diese eine bestimmende innere Lebensform erweist sich nie als alterna190

Ebd.; ECW 7: 181. Ebd., 176; ECW 7: 186. 192 Ebd., 175; ECW 7: 185. 193 So sieht Chamberlain z. B. in seinem Goethebuch, in dem »ein Durchbruch zu einer synthetischen, auf die Totalität des Goetheschen Schaffens gerichteten Sehweise« erfolgte (Mandelkow [1980, Bd. 1, 191]), in Goethes Dichtung, Naturforschung und sittlicher Lebensführung ein einheitliches Grundprinzip verwirklicht, obwohl es sich um drei gleichberechtigte Weltanschauungen bzw. Geistesrichtungen handele. – Chamberlain (1939: 288 f.). 194 FF: 192, 194; ECW 7: 203, 206. 191

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tivlos, denn sie wird von konkreten Individuen je nach tätiger Präferenz und vorherrschender »Lebenswirklichkeit« erwählt. Dies gilt auch für den reflektierten, theoretischen Ausdruck möglicher Lebensformen. Bereits Goethe war der Meinung, daß selbst die Philosophen »uns nichts anderes als ›Lebensformen‹ darbieten« können, aus denen wir nach unseren individuellen Präferenzen die persönlich angemessene auswählen. Diese durch die Philosophie dargebotenen Lebensformen behaupten ihre jeweilige Geltung nicht abgelöst »von aller Lebenswirklichkeit, von allen Betätigungen des Anschauens und Produzierens, des Betrachtens und Handels«. 195 Sie werden auch nicht ein für allemal als passende gewählt, ist doch z. B. während seiner Italienreise Goethes »gesamte Lebens- und Erkenntnisstimmung eine andere geworden«. 196 An Dilthey erinnert, wenn Cassirer feststellt, daß die philosophische Deutung der Totalität menschlicher Äußerungen stets an die besonderen Bedingungen anknüpfen muß, in denen das Individuum steht. Für Goethe ist, nach Cassirers Überzeugung, ab einer gewissen Zeit die Kantische »kritische Lehre selbst zum Ausdruck einer bestimmten Lebensform geworden, die ihm vertraut und verständlich war«. 197 Er habe in dieser philosophischen Denkart und Lebensform seine »eigentümliche Erkenntnis- und Lebensform« wiedererkannt, bestätigt gefunden. Gleichzeitig schuf der »von innen heraus lebende« Künstler, Naturbeobachter und Lebensgestalter, indem er sich selbst »fortschreitend objektiv wurde«, eine neue »Form des objektiven Geisteslebens«. 198 Er erlangte mit der Zeit immer mehr Klarheit darüber, daß »alles Leben und Werden, alles Maß und alle Gestaltung« auf dem »Grundgeheimnis der Form« und damit auf einer objektiven Norm beruht. 199 Da die – auf Zeit – gewählte und angemessene innere Lebensform alle Taten und Gedanken Goethes prägte, bildet sein »Leben« als ein »lebendiges Fließen« zu jedem Zeitpunkt eine »Einheit, die sich nicht in [isolierte – C. M.] ›Perioden‹ abteilen und zerfällen läßt«. 200 Es bleibt als individuelles und als gattungsmäßiges »menschliches Dasein« bei allem fließenden Wechsel immer an seine »allgemeine Grundform« gebunden. Gleichzeitig vollenden sich in ihm gesetzmäßige »Kreise des Daseins«, die als seine »Glieder«, als die einzelnen biographischen Lebensphasen, 195 196 197 198 199 200

Ebd., 250; ECW 7: 265. Ebd., 261; ECW 7: 276 f. Ebd., 253; ECW 7: 267. Ebd., 257; ECW 7: 273. Ebd., 265; ECW 7: 281. Ebd., 184; ECW 7: 195.

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notwendig ineinander greifen. 201 Den Biographen Cassirer beeindruckt an Goethes gelebter Lebensform, wie sowohl die Subjektivität als auch die Objektivität von Maß und Regel aus einer einzigen Wurzel stammen bzw. in diesem Sinne zu verstehen sind. 202 An diesen Überlegungen zu Leben und Form wird erneut deutlich, daß für Cassirer sich beides nur in einer Einheit realisiert und auch nur in einer solchen gegenseitigen Bedingtheit philosophisch erfaßt werden kann. Goethe versteht sein eigenes »Leben und Dasein« zudem als Teil einer allgemeinen Symbolik, in welcher das Ewige (Ganze) sich im zeitlichGegenwärtigen spiegelt. 203 Außerdem interessiert ihn das »Ganze des eigenen Lebens«, der unvergängliche »wahre Gehalt dieses Lebens«, der sich aber jeweils nur in den konkreten vergänglichen, augenblicklichen Lebensphasen und Lebenstaten offenbart. In der »›lebendig augenblicklichen Offenbarung des Unerforschlichen‹«, des wahren Ganzen erkennt Goethe somit das »Wesen des echten Symbols«. 204 Jede einzelne Lebensgestalt der geschichtlichen Vergangenheit – wie der Natur – erfordert nach diesem Verständnis die »innere Belebung und Aneignung, die Durchdringung mit der persönlichen Lebensform«. 205 Diese Einsicht, die Goethe in seinem Schaffen umsetzt, ermöglicht es ihm, in seinen dramatischen Werken die einzelnen Gestalten sich als »geprägte Formen« »lebend entwickeln« zu lassen und das Ganze der Gestalt über die »symbolische Darstellung eines Lebensganzen« zu entfalten. Diese Leistung Goethes ringt Cassirer großen Respekt ab. 206

2.2 Lebensform: Lebensführung und Lehrform In der Darstellung von Kants Leben und Lehre verfolgt Cassirer ein ähnliches Interesse wie in der Goetheauslegung. Der hier ebenfalls auf eine Biographie bezogene Lebensbegriff zielt auf das wesentliche, typische, mitteilenswerte Dasein des Individuums Kant zwischen Geburt und Tod, das zudem seine »Individualität« ausmacht. Werden in der Goetheaus201

Ebd., 185 f.; ECW 7: 197. Das persönliche »Leben, das nichts anderes verlangt, als selber rein auszuströmen, faßt und fi xiert sich damit zugleich in einer objektiven Anschauung«. – Ebd., 199; ECW 7: 212. 203 Ihn zeichnet ein »spezifi sches Lebensgefühl« aus, das auf pantheistische Weise das Ich mit dem All verwoben erlebt und als »Lebens- und Liebesgefühl« zugleich unmittelbar »Schöpfergefühl« ist. – Ebd., 177, 179; ECW 7: 188 f. 204 Ebd., 202; ECW 7: 215. 205 Ebd., 203; ECW 7: 216. 206 Ebd., 247; ECW 7: 262. 202

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legung individuelle Lebensführung, Dichtung und Naturanschauung in Beziehung zu dem Begriff der inneren Form des Lebens gebracht, so sind es im Kantbuch Lebensgestaltung samt Lebensanschauung und philosophisches System, deren Doppelbezug Cassirer aufklären will. Folglich hat der Biograph hier weder den bloßen Umfang der Gedankenarbeit noch lediglich die empirische Fülle der »äußeren Lebenshaltung« darzulegen, sondern die »Schlichtheit und Geschlossenheit der gestaltenden Gedanken« des philosophischen Systems mit den »großen und durchgehenden Zügen der [ . . . ] Lebensführung« so zu verbinden, daß der »eigentliche ›Sinn‹ dieser Lebensführung im Laufe der menschlichen und philosophischen Entwicklung« hervortreten kann. 207 Wichtige konzeptionelle Aussagen finden sich zunächst in Vorrede und Einleitung von KLL, wobei hier mit auf das Leben abzielenden Begriffen operiert wird, die sowohl aus der Beschäftigung mit Goethe (FF) herrühren als auch schon ins EP I/II Eingang gefunden hatten. Im letzten Kapitel zieht Cassirer eine konzeptionelle Bilanz und greift deshalb noch einmal verstärkt auf die Begriffe des Lebens zurück. Das die Individualität und Originalität Kants ausmachende innere Prinzip deutet er als die »Richtung und Tendenz zum Allgemeinen«, es tritt »in gleicher Weise in der Gestaltung des Leben, wie in der der Lehre hervor«. 208 Zwischen der Tendenz der Lehre zum Allgemeinen und der partikularen Schrullenhaftigkeit der individuellen Lebensführung Kants, 209 d. h. zwischen »der Form des kritischen Systems« und der individuellen »Lebensform« seines Schöpfers, gebe es aber einen Widerspruch bzw. Gegensatz. Die der Person Goethe in Weimar möglich gewordene »volle und gleichmäßige Entfaltung des Lebens und Schaffens« sei Kant in Königsberg so nicht gegeben gewesen. Der sein gesamtes Dasein formende und durchdringende »unbeugsame Wille« erwies sich zwar als »positiv-schöpferisch« in der Philosophie, im persönlichen Leben dagegen als »beschränkend und verneinend«. 210 Cassirer sieht jedoch die Weise der Lebensführung und die ideelle Ausrichtung der Lehre Kants in einer Beziehung stehen, in der die Gerichtetheit (Sinn) beider Aktivitäten einem einheitlichen, ja ein und demselben inneren Prinzip, »Mittelpunkt« oder Quell entspringt. Gleichzeitig sieht

207

KLL: VI; ECW 8: VIII. Ebd., VIf.; ECW 8: VIII. 209 Mit diesem lange währenden Vorurteil über das schrullige, gleichförmige und pedantische Alltagsleben Kants räumt Gerhardt in eindrucksvoller Weise auf. – Siehe Gerhardt (2002: 62–120). 210 KLL, 6 f.; ECW 8: 6 f. 208

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er die Lebens- und die Lehrform in der »Doppelbeziehung« von Bestimmen und Bestimmtsein, was grundsätzlich für jegliches Leben und jede lebendige Form gelte. 211 Das innere Prinzip, die innere Form aber, die sich im Leben und im Philosophieren Kants offenbart und bewährt, sei diejenige Lebensform, die in Deutschland die ganze historische Epoche, das 18. Jahrhundert, prägt. Diese konzeptionellen Überlegungen führt Cassirer auf Anstöße zurück, die er aus der Philosophie seines Lehrers Cohen erfahren habe. 212 Er gibt sich davon überzeugt, daß jede bedeutsame Persönlichkeit der Kulturwelt aus einem »geistig-lebendigen Mittelpunkt« heraus lebt, dem alle ihre geistigen Energien »mittelbar oder unmittelbar« entquellen bzw. in dem sie ihre Formung erfahren. Damit das biographische Material des »Lebensganges« zu einer »wahrhaft einheitlichen geistigen Gesamtgestalt« zusammengeschlossen werden kann, die auch in der »Lehrform« wiederkehrt, muß dieser Mittelpunkt als der Ausgangspunkt der Darstellung gesucht und gefunden werden. Aus dem geistig-lebendigen Mittelpunkt heraus baut sich alles Andere auf, auch der Gegenstand der Biographie – die individuelle Persönlichkeit, die aus einem »Prozeß der inneren Selbstbildung« erwächst. Dieser Prozeß wiederum läßt sich indes nur dadurch sichtbar machen, »daß man die Lebensgeschichte [ . . . ] und die systematische Entwicklung der Lehre in eins faßt«. 213 Im letzten Kapitel des Kantbuches kommt Cassirer noch einmal auf das Verhältnis von »philosophischer Lebensarbeit« und »äußerem Leben« zurück. Aufgrund des unveränderlichen geistigen Mittelpunktes bleiben bei Kant »Lebenshaltung« und Verhältnis zur Welt auch dann unverändert, wenn er philosophische Fortschritte macht. 214 Der aufgefundene »geistig-lebendige Mittelpunkt« erlaubt auch die Lösung eines weiteren Problems der wissenschaftlichen Biographie: Das »äußere Leben«, d. h. die mannigfache alltägliche »Lebensgestaltung« und die Partikularität samt möglicher Schrullenhaftigkeit der »Lebensführung« sind auf die sich in ihr äußernde allgemeine »Lebensform« der Person zu hinterfragen. 215 Hier versteht Cassirer unter Lebensform das innere Prinzip, nach welchem ein Individuum sein Leben gestaltet und sich eine geistige Welt aufbaut, einschließlich ein theoretisches Denksystem (Denk- und Lehrform). Sie gibt dem biographischen Leben der großen

211 212 213 214 215

Ebd., 2; ECW 8: 2. Ebd., VII; ECW 8: VIIIf.; siehe auch Cassirer (1912). Ebd., 8; ECW 8: 7. Ebd., 421, 385; ECW 8: 380, 347. Ebd., 6; ECW 8: 5 f.

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Persönlichkeit und allen seinen Äußerungen Form. Der geistig-lebendige Mittelpunkt enthüllt sich folglich als das innere ideelle Prinzip, das die »einheitlich geistige Gesamtgestalt«, die »Geschlossenheit und Ganzheit« des Daseins der bedeutsamen Persönlichkeit, also von Lebensführung und Lehrform, verbürgt. Diese Geschlossenheit wiederum läßt sich zur Anschauung bringen, indem man dieses Ganze als »ein Erstes und Ursprüngliches denkt, das beiden, dem Werk und dem Leben, zugrunde liegt«. Dieses zunächst unbestimmte »Erste und Ursprüngliche« entfaltet und offenbart sich in der »reinen Energie des Gedankens und in der Energie der persönlichen Lebensgestaltung«. 216 Die Wahl einer bestimmten »Lebensform«, die auf ihre Weise die praktische Lebensbewältigung und das theoretische Werk ordnet, strukturiert, muß aber mit dem persönlichen Charakter, den angeborenen Neigungen (Gemüht, Vitalität, Seelenzustand, Instinkt, Trieb) dessen, der die Wahl trifft, harmonieren. Gemäß den individuellen, eigenartigen Neigungen, der individuellen Charakterprägung, was bestimmte typische Lebensgrundhaltungen befördert, trifft jeder geistig tätige Mensch, so auch Kant, seine Wahl der Lebensform und bringt so sein Leben mit der auf ihn passenden Philosophie (Lehrform) in Übereinstimmung. Sobald also der passende typische Held auftritt und seine Wahl getroffen hat, wird eine jede Philosophie (Richtung) mit Leben erfüllt, d. h. sie wird mit der Welt fertigt und meistert die »Aufgabe des Lebens«. 217 Da sich die von einer bedeutsamen Persönlichkeit der Philosophiegeschichte gemäß eigener Neigung gewählte eigentümliche Lebensform sowohl in der persönlichen »Lebensführung«, und folglich im biographischen Leben, als auch im theoretischen Lebenswerk, in der Form der philosophischen Lehre manifestiert, gilt es diejenige konkrete, besondere »›Lebensform‹ zu entdecken und anschaulich zu machen«, die der durch sie vertretenen philosophischen Lehrform entspricht. 218 Gelingt dies, läßt sich die Eigenart und das Bedeutsame der individuellen Lebensleistung wissenschaftlich zur Darstellung bringen. Jede wahre Lehrform einer Philosophie hat zudem ihre eigene, von der Persönlichkeit des Philosophen unabhängige, allein der Logik der Sache geschuldete Geschichte. Außerdem dürfe eine Lebensform nicht einfach als Träger oder als passives Gefäß für die spezielle Lehrform verstanden werden. Repräsentiert doch die Lebensform des großen Philosophen oft auch die allgemeine Lebensform der Kultur in einer historischen Epoche. 216 217 218

Ebd., 8; ECW 8: 7. Ebd., 1; ECW 8: 1. Ebd., 2; ECW 8: 1.

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Die diesen Zusammenhang aussprechende Einsicht einer Doppelbeziehung findet Cassirer, wie bereits erwähnt, auch bei Goethe vor. Dieser hatte erfaßt, daß das philosophische Denken sich dank seines objektiven Gehaltes nicht allein das »Leben« (Dasein, Wirklichkeit, Lebensführung, Lebensform) unterwirft, sondern vom Leben einer konkreten Zeit und Kultur (Lebensordnung), dem es »seine Form gibt, zugleich dessen eigene Form« zurückerhält. In diesem Wechselverhältnis 219 erscheinen die beiden Momente »Lehrform« und »Lebensführung«, die aufeinander wirken, »zugleich als bestimmend und als bestimmt«, als »formend« und »geformt«. 220 Das Bestehen auf solch einer Doppelbeziehung ist, dies sei hier wiederholt, charakteristisch für Cassirers gesamtes Philosophieren und wird sich auch im Begriff der symbolischen Form als einer beweglichen Ordnung des geistigen Lebens niederschlagen. Genau an dieser Doppelbeziehung, in der Leben und philosophische Lehre stehen, entfaltet sich die »individuelle Denkerpersönlichkeit« Kants. Die konkrete Weise des Knüpfens dieser Beziehungen zu einer Einheit bilde das »geistige Grundthema« des Lebens dieser Persönlichkeit und somit den »Mittelpunkt« ihrer Biographie. Individualität und Werk verschmelzen, indem sich mit der Lehr- oder Systemform zugleich »die persönliche ›Lebensform‹« expliziert, was sich als biographisch bedeutsames »Leben« der Persönlichkeit darstellen läßt. 221 Die Einheit von Individualität der Person (Lebensform und Lebensführung) und Eigentümlichkeit ihres Werkes (Lehrform, höchste Abstraktionen), die Cassirer auch bei Descartes, Augustinus und Petrarca gegeben sieht, findet ihre erklärende Deutung als »Einheit des ›Subjektiven‹ und ›Objektiven‹«. 222 Wobei das Subjektive sowohl die »persönliche Stimmung« als auch die »subjektive Lebendigkeit der Behandlung und Darstellung« wissenschaftlicher Probleme umgreift. 223 Beide Momente, die Form des individuellen Lebens und die Form des theoretischen Werkes, stehen in einer Beziehung zur gegebenen Lebensordnung, d. h., auch zur »konkreten Situation«, zu den »sozialen Bindungen und Konventionen« des gesellschaftlichen Seins. Außerdem wirken sie auf das soziale Sein zurück, so wie Kant mit seiner gegen die Sentimentalität gerichteten Ethik »unmittelbar und konkret in das Le219

»Ideelles und Reelles, Weltbild und Lebensgestaltung sind Momente ein und desselben unteilbaren geistigen Entwicklungsprozesses geworden.« – Ebd., 4; ECW 8: 3. 220 Ebd., 2; ECW 8: 2. 221 Ebd., 2, 4; ECW 8: 2 f. 222 Ebd., 3; ECW 8: 2. 223 Ebd., 5; ECW 8: 4.

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ben der Nation eingegriffen und ihm eine neue Richtung gegeben« hat. 224 Eine große Philosophie wird von den Zeitgenossen sofort als eine »neue Lebensmacht« empfunden, die nicht ohne Einfluß auf die geistige Lebensordnung der Zeit bleibt. 225 Sie ist in dieser Eigenschaft aber auch den anderen Lebensmächten ausgesetzt und damit sowohl Zuspruch als auch Kritik unterworfen. In diesem Sinne haben Kant äußere Anforderungen, aus der Rezeption seines Werkes resultierend, am Ende gedrängt, »über den selbstgewählten Kreis des Lebens und der philosophisch-schriftstellerischen Pläne« hinauszugehen und persönliche Erklärungen im öffentlichen philosophischen Richtungsstreit abzugeben. 226 Dies berücksichtigend und interpretierend erweitert Cassirer am Schluß der Kantbiographie das in der inneren Form gründende Zusammenspiel von Lebensgestaltung und Lehrform, die in Kants System als kausale Naturform, als sittliche Form und als Zweckform schon auseinander getreten sind, noch um die politische und die religiöse Form. Er gelangt hier außerdem zu der Feststellung, daß Kant, nachdem mit der KUk das System (Lehrform) theoretisch begründet und abgerundet war, sich wieder »mit Vorliebe den unmittelbaren Lebensfragen zu[wandte], die die Epoche bewegten«. 227 Und diese »Lebensfragen« sind vor allem politische Probleme. Die daraus hervorgehende politische Publizistik samt »Betrachtung des staatlichen Lebens« erklärt sich bei Kant ebenfalls aus dem »festen und einheitlichen Mittelpunkt«, aus der inneren Form, die Freiheit als Autonomie und als Bindung begreift. 228 Cassirer bemerkt als einen »typischen Zug« in Kants Leben, der es von dem Leben Goethes deutlich unterscheide, daß in ihm die »persönlichen und individuellen Momente« nicht zu reicherer Entfaltung gebracht, sondern »in den Dienst der sachlichen Forderungen« und Aufgaben gestellt sind. »Die persönlichen Lebens- und Daseinsformen behalten hier rein als solche keinen selbständigen Eigenwert; ihre ganze Bedeutung geht darin auf, daß sie zum Stoff und zum Mittel für das Leben des abstrakten Gedankens werden, der nach eigenem Gesetz und kraft seiner immanenten Notwendigkeit fortschreitet«. 229 Form und Struktur des »Kantischen Lebens« gründet letztlich auf diesem Verhältnis von Person und Sache, was die Größe, aber auch die Schranken dieses Lebens deutlich macht. In ihm scheint die »individuelle Fülle des Lebens« der Hingabe an die 224 225 226 227 228 229

Ebd., 288; ECW 8: 260. Ebd., 390; ECW 8: 352. Ebd., 388; ECW 8: 349. Ebd., 391; ECW 8: 352. Ebd., 397, 392; ECW 8: 358, 353. Ebd., 443; ECW 8: 399 f.

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sachlich-geistigen Ziele geopfert worden zu sein. Gleichzeitig tritt aber das Allgemeine in einer »unmittelbaren subjektiven Lebendigkeit« als Grundrichtung der geistigen Bestrebungen zutage, die in verschiedensten Richtungen den Weg vom Einzelnen zum Ganzen, vom Individuellen zum Allgemeinen durchlaufen. 230 In dieser Grundrichtung seines Geistes stellt Kant einen Gesamtbegriff von »Denken und Tun«, von »Begreifen und Vollbringen« auf. Den von Platon und Aristoteles herrührenden Zwiespalt dieser zwei Richtungen des begreifenden und vollbringenden Geistes, den Goethe in den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre klar ausspricht, 231 habe Kant überwunden, weil er in der Grundrichtung seines Geistes außerhalb dieses universellen geistesgeschichtlichen Gegensatzes stehe. 232 Cassirer ist nämlich zu dem Schluß gelangt, daß sich in der Kantischen Philosophie diese beiden Grundtendenzen »verknüpfen und durchdringen«, daß sie in ihr in einem Gleichgewicht stehen, das keiner der beiden Tendenzen einen Vorrang einräumt. Diesen Denkstil nennt er den »spezifisch modernen Begriff des Idealismus« 233 und deutet damit Kant sehr stark im Banne Goethes.

2.3 Dichtung, Philosophie und Leben In den Schriften jener Jahre untersucht Cassirer die Lebens- und Schaffensformen nicht allein bei Goethe und Kant, sondern auch bei Platon, dessen Verständnis der Idee als eines Formprozesses er sehr schätzt und das er bei Goethe meint wiederzufinden. Im Kantbuch liegt die Betonung darauf, daß philosophische Lehrform und individuelle Lebensform bzw. Lebensführung dann eine Einheit bilden, wenn sie in demselben Prinzip, in derselben inneren Form gründen. In FF lenkt er die Aufmerksamkeit auf dieses innere Prinzip, das in Goethes Leben sowohl der Lebensführung als auch der Dichtung und der – philosophisch sich vergewissernden – Naturanschauung die Grundformung aus einer Quelle gewährt. In den kleineren Arbeiten, die zwischen 1918 und 1921 entstehen, erweitert Cassirer diese Auslegung um das Fallbeispiel Platon, das er insbesondere mit der Lebensleistung Goethes konfrontiert. Dabei stellen Dichten und Philosophieren zwei Weisen (Richtungen) 230

Ebd., 444; ECW 8: 400. Goethe (1998, HA 14: 53 f.). 232 »Ein uralter Zwiespalt, der durch die gesamte Geschichte des Denkens hindurchging, schien jetzt zum erstenmal überwunden und gelöst.« – KLL: 446; ECW 8: 403. 233 Ebd., 448; ECW 8: 404. 231

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geistigen Tuns dar, die sich auch in sich selbst unterscheiden können. Cassirer gelangt zu der Einsicht, daß nicht nur die Dichtungen, sondern auch die wahrhaft schöpferischen philosophischen Gedanken, neben ihrem »rein abstrakten, begrifflich faßbaren Inhalt ein eigentümliches konkret-geistiges Leben, eine Kraft der Gestaltung und Formgebung in sich schließen«. Die sich so abzeichnende Stellung des philosophischen Gedankens im Ganzen der geistigen Wirklichkeit will er an den »einzelnen großen geschichtlichen Beispielen« Platon und Goethe aufweisen und beleuchten. 234 Konkret-geistiges Leben bedeutet für Cassirer also die Kraft der Gestaltung und Formgebung, wobei Kraft wohl auch »Energie« meint. 235 Obwohl er die auf einem einheitlichen inneren Formgesetz ruhende mögliche Einheit von abstrakter, begrifflicher Denkform und erlebender, subjektiver Dichtform erkennt und ausspricht, weiß er auch, daß sie als eigenständige Ausdrucksformen des Geistes nicht identisch sein können. Deshalb sei in Goethes Dichtwerk Pandora die »Begriffs- und Gedankenform« auch nicht von Anfang an völlig in die »Erlebnis- und Dichtform« aufgelöst, sondern besitzt ihr gegenüber einen selbständigen, ablösbaren Bestand. Aber der Dichter vermag es, eine neue »eigentümliche Einheit« von »Gedanke und Erlebnis« herzustellen, wobei abstrakter Gedanke und künstlerisches Erlebnis jeweils die Prägung des anderen annehmen. 236 Cassirer hält außerdem Goethes Auffassung für zutreffend, wonach das dichterische »Reich der reinen Gestalten«, die Platons »Ideen« entsprechen sollen, in der Sinnenwelt selbst »lebendig und gegenwärtig« ist, da die Gestalt als ein Allgemeines zu gelten hat, das nur in seinen Besonderungen »ist und lebt«. 237 Daraus wird klar, daß auch Dichten und subjektives Leben nicht einfach ein und dasselbe sind. Cassirer lenkt die Auf merksamkeit auf die Tatsache, daß Goethe es als eine »Grundrichtung seines Lebens« bzw. als das Eigentümliche seiner »Gesamtanschauung der Wirklichkeit« bezeichnet, als Dichter an die »Verwandlung des Lebens in ein Bild«, d. h. in Dichtung, in ein Kunstwerk gebunden zu bleiben. »In diesem Sinne bedeutet alle Kunst [ . . . ] die Entfernung vom Leben, um sich dem Leben damit um so fester zu verknüpfen«. Mit anderen Worten: erst das künstlerisch geformte Leben erhebt das momentane seelische Erleben zu Dauer und Wiederholbarkeit. 238

234 235 236 237 238

IG: Vorwort; ECW 9: 619. Ebd., 18; ECW 9: 258. Ebd., 5; ECW 9: 245. Ebd., 11; ECW 9: 252. Ebd., 19 f.; ECW 9: 261.

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Beim alternden Dichter, so bemerkt Cassirer tiefsinnig, werde die Individualität nun in die soziale Gemeinschaftstat transformiert. Um in der Kraft des Handelns wirksamen Schutz gegen die »geistigen Mächte der französischen Revolution« zu finden, die Goethe nach 1806 immer mehr »in sein eigenes Leben und in das Dasein seines Volkes eingreifen« sieht, suche er zunehmend das Ganze nicht mehr »in dem Einzelnen, sondern in den Einzelnen«. 239 Außerdem treten anstelle der ganzheitlichen Individualität bei den einzelnen Helden nunmehr Notwendigkeit und Gesetzlichkeit des Daseins viel stärker in den Blick. Dieses stärker erfaßte Allgemeine oder Generelle erweist sich aber mitnichten als Wendung ins Abstrakte, denn der alte Goethe gestaltetet aus dem »unmittelbaren Ganzen seines Lebensgefühls« heraus, dem nunmehr ein neuer »Zug ins Allgemeine« eigen ist. Dieser mit Kant geteilte Zug ins Allgemeine vermeidet alle Abstraktheit, indem er eine Erlebniseinheit trägt. Das Allgemeine des Denkens und die konkrete, vielschichtige Lebenspraxis bilden eine Totalität. »Die Grundgegensätze und Grundphasen des Lebens: [ . . . ] das Leben im Sinnen und Bilden und das Leben in Entschluß und Tat, dies alles sind für Goethe jetzt keine bloß begrifflichen Sonderungen mehr, sondern es sind selbst beseelte und gefühlte Einheiten«. 240 Das konkrete sinnliche Leben gilt nicht mehr als Allegorie des Allgemeinen, sondern als sein Symbol. Im Kantbuch stehen für diese »Grundgegensätze und Grundphasen«, also Kontemplation und Tat, die zwei Wege (Richtungen) des philosophischen Erkennens, wie Platon und Aristoteles sie repräsentieren. Nun, 1920, charakterisieren sie das Leben selbst. So lasse Goethe nicht mehr nur die »besonderen Lebenserscheinungen«, sondern auch die »allgemeinen Lebensmächte« sichtbar werden und in »geschlossenen Gestalten« heraustreten. Das Dringen auf das »›Urbildliche‹ und ›Typische‹«, das seine klassische Periode gekennzeichnet hatte, ist in ihm nun »aufs höchste gesteigert« und hat sich zudem mit der »individuellen Weise des Sehens und Erlebens«, von der Goethe beherrscht ist, rein und vollständig durchdrungen. 241 In dieser Spannung stehe Platon mit seiner Philosophie aber lediglich für eine Seite des Grundgegensatzes, für eine Grundphase: für die reine Kontemplation, losgelöst von aller Lebenstat. Die trotz wichtiger Gemeinsamkeiten ins Auge fallenden Unterschiede zwischen den philosophischen Überzeugungen Goethes und Platons las-

239 240 241

Ebd., 23; ECW 9: 264. Ebd., 25; ECW 9: 266. Ebd., 25; ECW 9: 267.

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sen auch auf unterschiedliche Lebensformen bei beiden Persönlichkeiten schließen. Diese beiden gegensätzlichen philosophischen Weltentwürfe sind samt den sie stiftenden Persönlichkeiten jede als eine ganze Natur in ihrer inneren »Wahrheit, Folgerichtigkeit und Abgeschlossenheit« aufzufassen. An jedem der großen gedanklichen Systemen ist »vor allem die ›Lebensform‹« zu suchen, der es entstammt und die es in sich »zum Ausdruck bringt«. 242 Auf diese Weise hatte sich Goethe selbst die großen historischen Persönlichkeiten erschlossen. In dem Bemühen z. B., Platon aus seiner konkreten Zeit heraus zu verstehen, rührte er an das »eigentliche Geheimnis alles historischen Begreifens: an die Frage, wie es möglich ist, rein mit den Mitteln der individuellen Phantasie über die Grenzen der eigenen Individualität hinauszudringen und die objektive Anschauung einer fremden Geisteswelt in sich aufzubauen«. 243 Die Interpretation des Goetheschen Verfahrens rückt dieses in Nähe zu den Fragestellungen, die Dilthey bewegen. In der »geistigen Stellungnahme« zu dieser Grundfrage allen historischen Begreifens lassen sich nach Cassirer »zwei ursprüngliche Lebens- und Denkformen, zwei typische Weisen der geistigen Auseinandersetzung zwischen Ich und Welt«, zwei gegensätzliche »Grundansichten« gewinnen. 244 Hinsichtlich der Welt- und Lebensanschauungen stehen sich mit Platon und Goethe »zwei große geistige Welten« einander gegenüber, die sich gleichzeitig berühren. Jede der beiden Persönlichkeiten empfindet und begreift das »Ganze der Welt- und Lebensprobleme auf eigene Weise«. 245 Deshalb herrscht in der Sphäre der letzten geistigen Grundentscheidungen die Differenz vor. Dennoch besitzt die Wahrheit in solchen Verwandtschaften und in solchen Gegensätzen erst ihr »konkretes geschichtliches Leben«. Die Gestalt Goethes bleibt für Cassirer auch 1920 das exemplarische Beispiel für eine einheitliche Welt- und Lebensanschauung. Dabei biete das »eigentümliche Formgesetz« seiner Dichtung den »wahren Quellpunkt und das eigentliche ›Erklärungsprinzip‹« seines ganzen Schaffens. 246 Doch dieses Formgesetz weist nicht allein unmittelbar auf den »Mittelpunkt« von Goethes eigenster künstlerischer Gestaltungsweise zurück, in ihm sprechen sich auch sein »Naturgefühl« und sein individuelles »Menschen- und Lebensgefühl« aus. Formgesetz, Mittel- oder

242 243 244 245 246

GgW: 108; ECW 18: 411. Ebd., 107; ECW 18: 411. Ebd., 108 f, 114; ECW 18: 412. Ebd., 148; ECW 18: 434. IG: 3 f.; ECW 9: 243.

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Quellpunkt des geistigen Lebens stimmen bei Goethe mit seiner »Lebensansicht« ebenso zusammen, wie mit seinem »Gedanken- und Anschauungskreis«. 247 Dieses innere Formgesetz allen Schaffens faßt er hier von Anfang an als eine »ursprüngliche Totalität, ein universelles Gesetz« auf, das sich beständig mit sich selbst identisch erhält und das doch in jeder seiner individuellen Äußerungen ein Neues und Eigenes ist. Diese Einheit von allgemeinem Gesetz der Formung und individueller Variation dieser Formung bei den konkreten, wirklichen Äußerungen oder Objektivierungen des schöpferischen Geistes macht sich Cassirer selbst zu eigen. Auf diese Weise wird nämlich die Regel »zwar als fest und ewig, zugleich aber als lebendig gedacht«. 248 Was er mit Blick auf das große Individuum, das – durch Werke – sein Leben und die Kultur schafft bzw. gestaltet, im Anschluß als die konkrete gewählte »Lebens- und Denkform« und als die typische Weise der geistigen Auseinandersetzung zwischen Ich und Welt thematisiert, nennt er anderen Orts mit Blick auf die kulturelle Wirklichkeit, in der sich das Individuum vorfindet und tätig bewährt, die historische »Lebensordnung«. Die Lebensordnung wird bekanntlich auch als eine feste und zugleich lebendige Ordnung gedacht. Damit hat Cassirer mit Hilfe des logischen Paradoxes von Bindung und Freiheit erneut den Begriff einer lebendigen Ordnung umrissen, die sich letztlich auch in allen kulturellen Formen aufweisen lassen muß, was sich als eine »Vernunftbetrachtung« jedoch erst auf dem »Gebiet des Lebens« erschließt.

3 Kultur: Formen des Geistes in Lebensordnungen 3.1 Kulturelle Formen des geistigen Lebens Die Bedeutung des Begriffs Leben erstreckt sich bei Cassirer auch auf die Gesamtheit aller bildenden, objektivierenden Formen des »geistigen Lebens« samt deren objektive Bildungen wie Religion und Wissenschaft, Philosophie und ästhetische Kritik. 249 Er spricht außerdem von den »konkreten politisch-geschichtlichen Lebensmächten«, die, um philosophisch gewürdigt werden zu können, als »ideelle geistige Wirklichkeiten« analysiert und konstituiert werden müssen. 250 Diese durch jeweilige Wissen-

247 248 249 250

Ebd., 5, 8; ECW 9: 245, 248. Ebd., 39 f.; ECW 9: 278. FF: 143; ECW 7: 152. Ebd., 367; ECW 7: 385.

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schaften zu erforschenden kulturellen Wirklichkeiten müssen nach ihren inneren Formgesetzen aufbaut werden, die es folglich zu entdecken gilt. Goethe und Hegel sich verpflichtet wissend erläutert Cassirer, daß hierbei ihre Totalität aus einem Moment, aus einer einzelnen Gestalt gesetzmäßig aufzubauen sei. So habe insbesondere Goethes Einbildungskraft »die Gabe des ›Ableitens‹« im Sinne einer völligen Entfaltung eines Einzelmoments zur »Totalität einer Gesamtreihe« besessen. 251 Alle echte Dichtung wie alle echte Theorie, die sich auf Vernunft gründet, erblickt in den einzelnen Phänomenen einen inneren, in selbständigen Gesetzen gegründeten »Zusammenhang des Lebens und Wirkens«. 252 Bereits Kant habe diesen differenzierenden Blick auf das Ganze der Kultur vorbereitet. Insbesondere am Ende seines Lebens beschäftigte ihn die »Frage nach der Stellung der philosophischen Theorie im Ganzen der geistigen Kultur«. An diesem Ganzen gelten ihm »Wissenschaft und Religion, Staats- und Rechtsleben« als die einzelnen Teile. 253 Jedem Teil weist er ein eigenes geistig-lebendiges Vermögen, eine eigene lebendige Energie und eine eigene Gesetzlichkeit (innere Form) zu. Eine Ausnahme bildet dabei lediglich die Religion bzw. Religionsphilosophie. Die hat das dreiteilige philosophische System nicht als ein »völlig selbständiges Systemglied, als eine eigentümliche, auf autonomen und unabhängigen Voraussetzungen beruhende Betrachtungsweise« vorgesehen, weil für Kant das Religiöse kein »eigenes und eigengesetzliches Gebiet des Bewußtseins« abgibt. 254 All den religiösen, philosophischen, literarischen und staatstheoretischen Produkten (Lehren) der Geistesgeschichte, die sich als Kulturwerke zudem in einem »geistigen Zusammenhang« vorfinden, stellt Cassirer die entsprechenden Grundformen des Lebens – »religiöses Leben«, »politisches Leben« etc. – an die Seite. In diesen kulturellen Lebenssphären werde seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland um eine neue innere Form des Lebens gerungen, deren Prinzip oder Gesetz darin besteht, die geistigen Produkte ihrem eigentlichen Grundgehalt nach aus dem eigenen Inneren heraus »zu gestalten und nachzuerleben«. 255 Der jeweilige Grundgehalt, der das Produkt als ein ästhetisches oder religiöses etc. ausweist, sei in jeder »geschichtlichen Einzeläußerung« wiederzuer251

Ebd., 230 f.; ECW 7: 244. Für Goethe sei die Einbildungskraft das Medium, in dem alle anderen Kräfte des geistigen Wesens »leben und weben.« – Ebd., 238; ECW 7: 254. 252 Ebd., 239; ECW 7: 254. 253 KLL: 400 f; ECW 8: 361. 254 Ebd., 407 ff.; ECW 8: 367 ff. 255 FF: 6; ECW 7: 7.

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kennen. Die alles durchdringende, prägende epochale Lebensform muß sich also in jeder einzelnen kulturellen Lebenssphäre auf eigentümliche Weise bewähren. Diese Erfahrung verarbeitend nimmt bereits Herder eine unbegrenzte »Fülle von Wirkungskreisen« an, deren jeder »rein in sich selbst zentriert ist«. Kultur als eine in sich gegliederte »Bestimmtheit des Lebens selber« erweist sich folglich als aus diesen eigengesetzlichen Wirkungskreisen aufgebaut, die dennoch eine übergreifende Einheit, ein kulturelles Ganzes bilden. 256 Eingedenk dieser Erkenntnis interessiert sich Cassirer stärker für den Aufbau des »konkret-geschichtlichen Lebens« aus seinen einzelnen Sphären oder »Sondergebieten«. 257 Es geht ihm nicht zuletzt darum, das »Ganze eines Lebenszusammenhanges« konkret, in seinen rein in sich selbst zentrierten Teilen zu verstehen. Dafür sind der systematische und der historische Aufbau dieses kulturellen Ganzen aufeinander zu beziehen. In gewissem Sinne findet Cassirer in Hamann einen Vorläufer, der seine Aufmerksamkeit schon auf die ganze »Mannigfaltigkeit und Stufenfolge der konkreten geschichtlichen Lebensformen« gerichtet hatte. 258 Jede in einer bestimmten Lebenssphäre sich manifestierende geistige Bildung des Menschen entschlüsselt sich als Äußerung einer der vielfältigen inneren »lebendigen Energien« des Gemüts bzw. des Geistes. Diese bilden den »eigentlichen Quell und Ursprung« der geistigen Objektivationen und enthalten je ihr eigenes Maß, ihr eigenes Gesetz, ihre eigene innere Form. 259 Das »Ganze des Lebens und der Lebensbedingtheit eines Volkes« läßt sich also erst aus einzelnen kulturellen Gebilden, Schöpfungen entwickeln und aufbauen, wenn deren innere Formgesetze beachtet und durchschaut werden. Ehe wir mit Cassirer die »äußerlich-konventionellen Lebensmächte«, d. h. die »geistig-geschichtlichen Lebensmächte« der kulturellen Wirklichkeit 260 auf ihre historische, epochale »Lebensordnung« beziehen, sollen seine Überlegungen zu einigen einzelnen Formen zur Sprache gebracht werden. In jeder Lebenssphäre bzw. in jedem »Lebensinhalt« verschmilzt das individuelle Erleben der Akteure immer aufs Neue mit dem »geistig-geschichtlichen« Ganzen. 261 So nimmt im deutschen Geistesleben des 18. Jahrhunderts die ästhetische Form und das Nachdenken über sie einen zentralen Platz ein.

256 257 258 259 260 261

Ebd., 117 f.; ECW 7: 123 f. Ebd., XV; ECW 7: 392. Ebd., 119 f.; ECW 7: 127. Ebd., 122 f.; ECW 7: 129. Ebd., 188 f.; ECW 7: 201 f. Ebd., 201; ECW 7: 214.

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Dabei geht es vor allem um den »Ursprung der künstlerischen Formelwelt« und um den »Sinn dieser Formwelt« als einer Sphäre des »geistigen Lebens«. 262 Den Dichtern, Literaturtheoretikern und Philosophen jener Epoche kommt aus Cassirers Sicht das Verdienst zu, ihren Ursprung, ihre Quelle in der subjektiv tätigen, aus sich heraus frei bildenden Lebensform gesucht und gefunden zu haben, die durch ein eigenes inneres Gesetz gebunden ist und bleibt. Dank der tätigen inneren Form des Lebens erweist sich die künstlerische Wahrheit nicht so sehr als »die des Seins, als die des Lebens«. So wächst das ästhetische Gebilde aus dem »Prozeß des Lebens« heraus, der – als ein nicht erloschener – durch seine Begrenzungen hindurchscheint. 263 Die ästhetische, subjektive Lebensäußerungen gestaltende Form fungiert, und dies weist bereits auf die symbolische Form der Kunst voraus, als eine »selbständige Weise der Gestaltung«, als eine »eigentümliche ›Energie‹«, die dem Ganzen der Wirklichkeit einen eigenen ästhetischen Sinn verleiht, es ästhetisch auffaßt und formt. 264 Damit habe sich bereits im Rationalismus des 18. Jahrhunderts die Einsicht durchgesetzt, daß die »logische Erkenntnis« nicht der einzige Maßstab im »Ganzen des geistigen Lebens« ist und daß wir folglich unser »Vorstellungsleben« nicht auf die Begriffslogik reduzieren dürfen. 265 Das Wesen bzw. das Gesetz der ästhetischen Bildungsenergie als einer »Energie des Lebens« war gefunden, zudem war erkannt, daß in den künstlerischen Äußerungen nur »eine lebendige Energie« und nicht verschiedene Teilenergien der Seele walten. 266 Es klingt ebenfalls bereits der Gedanke symbolischer Prägnanz an, wenn Cassirer festhält, daß ästhetische Gestalten zwar einen individuellen Mittelpunkt besitzen, gleichzeitig aber in einen eigentümlichen Wesenszusammenhang gehören, in dem sie allerdings die selbständige Eigenart und das »Eigenleben« nicht verlieren. 267 Ihr Eigenleben beruht auf einer eigentümlichen symbolischen Beziehung zum Ganzen, zum Gesamtbild der Wirklichkeit und des geistigen Kosmos. Die ästhetischen Gebilde lassen das sie aufbauende Subjekt in einem eigentümlichen »allgemeinen Medium« stehen, das sich vom Medium dinglicher Erfahrung grundsätzlich unterscheidet. 268 Zudem wird im 18. Jahrhundert der Begriff der inneren Sprachform als Beispiel einer autonomen Form relevant. Während sich Kants Dreitei262 263 264 265 266 267 268

Ebd., 65; ECW 7: 69. Ebd., 72, 85; ; ECW 7: 77, 90. Ebd., 73; ECW 7: 78. Ebd., 77; ; ECW 7: 81 f. Ebd., 79, 110; ECW 7: 87, 117. KLL: 327 f; ECW 8: 295 f. Ebd., 341; ECW 8: 307.

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lung der »geistigen Energien« in Logisches, Sittliches und Künstlerisches auch insofern als zu eng gefaßt erweist, als in ihm die »Welt der Sprache« fehlt, 269 legt Herder eine Deutung der Sprachform vor, die den »›Sinn‹ der Sprache« in ihr selbst sucht und einen eigenen Gehalt der Sprache aufweist. Dafür muß er auf den »eigentümlichen Lebensvorgang« zurückgehen, von dem aus sie ihre Bildung und ihr Gesetz erhält. Um den Zusammenhang von innerer Form und Sinn der vorgefundenen Sprache aufklären zu können, bedurfte es eines »Mittelbegriffs«, und den fand Herder in dem der sprachlichen Äußerung, bestimme sich doch »alles Leben überhaupt als Trieb und Drang zur ›Äußerung‹«. 270 Damit richtet sich auch Cassirers Aufmerksamkeit auf eine entscheidende Bestimmung des Lebens – auf seine Ausdrucksfunktion. Er stimmt mit Herder völlig darin überein, daß Sprache nicht als Kopie und Abdruck eines Vorhandenen, sondern als »Entfaltung und Ausdruck seelischer Energien« zu verstehen ist. Die »Energie des Lebens« bzw. die Bewußtseinsfunktion, die das Sprachzeichen schafft, das den Ausdruck trägt, muß schon in der »ursprünglichen Gewinnung und Gestaltung des Inhaltes, der bezeichnet wird, wirksam sein«. Objektive Sprachform und subjektive Lebensform bilden beim Sprechen eine ursprüngliche Einheit, keineswegs jedoch eine nachträglich hergestellte. Die Sprache wurzelt nämlich, so Cassirer bereits 1918, in einer noch ungeschiedenen Sphäre des Lebensgefühls. 271 Aus dieser Quelle heraus begrenzt sich die Sprache, formt sich »zum Ausdruck«. Der »Gedanke der ›Formung‹« ist somit ausgesprochen. 272 Aber auch in der politischen Form spricht sich im deutschen Geistesleben um 1800 das Prinzip der Autonomie als einer bestimmten »Korrelation von Freiheitsidee und Staatsidee«, d. h. von Freiheit und Form aus. 273 Mit dem Prinzip der Autonomie sei ein »fester und einheitlicher Mittelpunkt« gegeben, der sich auch in der politischen Publizistik Kants gegen die Reaktion in Preußen offenbart. 274 Die Idee der Freiheit und jene »objektive ›Form‹, die sich im Staat und seinen Bindungen darstellt«, werden im Deutschen Idealismus als lebendige, korrelative und autonome Einheit zusammengedacht. Das »staatlich-rechtliche Leben« bzw. das »politische Leben« steht nun nicht mehr unter dem alten antinomischen

269

IG: 64; ECW 9: 302. FF: 125; ECW 7: 132. 271 Ebd., 127; ECW 7: 134 f. 272 Cassirer selbst bestimmt die Sprachform wenig später als eine »reine Funktion, kraft derer wir uns die Welt von innen her aufbauen und ihr eine bestimmte geistige Prägung geben«. – IG: 64; ECW 9: 302. 273 FF: 311; ECW 7: 327. 274 KLL: 392; ECW 8: 353. 270

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Gegensatz von Freiheit (Autonomie) und Form (Heteronomie). 275 Weil ein rein äußerliches, heteronomes Gesetz das »einzelne konkrete Leben« letztlich vertilgt, werde der auf dem Prinzip der Autonomie gründende Staat – zumindest in der politischen Philosophie – jetzt vielmehr als ein »Analogon persönlichen und individuellen Lebens« anerkannt. 276 Endlich seien, u. a. bei Humboldt, die Nationen und mit ihnen die Staaten bzw. die Staatstheorien in den »Kreis der geistigen Energien und ursprünglichen Lebensmächte« aufgenommen, deren Totalität es in der welthistorischen Betrachtung zu überschauen gilt. 277 Als »Gesamtleben« in einer immer mehr zerrissenen kulturellen und sozialen Welt erscheint der Staat vor allem in Hegels Rechtsphilosophie, für die sich der »Zusammenhang zwischen dem Einzelleben und dem Gesamtleben« in der gleichen Bestimmtheit auch in der Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Staate darstellt. 278 Den jungen Hegel hatte zunächst die »Grundform des antiken Lebens« als die eines »verlorenen politischen Paradieses« interessiert, in welchem die Einzel- und das Gesamtleben exemplarisch vermittelt und versöhnt waren. In seiner Rechtsphilosophie sucht er den für die Zeit nach der Vertreibung aus diesem politischen Paradies aufscheinenden Gegensatz zwischen »Leben« und christlicher Religion mit Hilfe einer »neuen Form des staatlichen Lebens« zu versöhnen. 279 Für Fichte dagegen stellt die Religion eine »ursprüngliche Form des Lebens«, nicht aber einen Gegensatz zum Leben dar. 280

3.2 Lebensformen, Lebensordnung und Stufenreihe Bereits im EP I/II hatte Cassirer die Frage nach einer »übergreifenden Einheit«, nach einem »geistigen Zusammenhang« kultureller Objektivationen, die diversen »Energien des Lebens« entspringen, gestellt. Daran knüpft er in FF an, wenn er zunächst einen solchen Zusammenhang im Gegensatz der korrelativen Kategorien »objektive Form« und »subjektive Freiheit« vermutet. Dieser Gegensatz bilde als allgemeinste Antithese ein

275

FF: 324, 334; ECW 7: 341, 350. In Verbindung mit dem »staatlichen Leben« sieht Cassirer das »gesellschaftliche Leben«, das nicht näher bestimmt wird, aber auf eine soziale Dimension verweist, die selbst individualistische Lehren nicht ignorieren können. – Ebd., 327; ECW 7: 344. 276 Ebd., 328, 331; ECW 7: 345, 348. 277 Ebd., 336; ECW 7: 353. 278 EP III/ECW 4, 279. 279 Ebd., 281. 280 Ebd., 168.

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Grundgesetz, das übergreifend für alle geistigen Objektivationen gleichsam gilt. 281 Damit spielt er erneut auf den Begriff einer »beweglichen Ordnung« an. So setzte sich die durch Kant thematisierte Autonomie des Geistes, die den Gegensatz zwischen Freiheit und Form vermittelt, zunächst in einer besonderen geistigen Sphäre durch, später aber in allen Sphären der nationalen Kultur und schließlich überschritt sie »jede spezifisch-nationale Bedingtheit und Schranke«. 282 Cassirer nimmt nun den im EP I eingeführten Begriff der »Lebensordnung« auf und wendet ihn erneut auf die »Gesamtheit des geschichtlichen Lebens« an, 283 in deren diversen Lebenssphären samt ihren geistigen Objektivationen sich eine konkrete Lösung des Grundgegensatzes von Form und Freiheit in Gestalt eines allgemeinen Bildungsgesetzes durchgesetzt hat. Das damit gefundene eigentümliche Bildungsgesetz für jede geistige, d. h. objektivierende Tätigkeit trete am klarsten in der bei den tonangebenden Persönlichkeiten vorherrschenden inneren Lebensform zutage. Die neue Weise der schöpferischen Produktion und ihre Selbsteinsicht, die in einer einzelnen Lebenssphäre wie in der Religion, in der Ästhetik oder in der Naturwissenschaft Fuß gefaßt hat, läßt wiederum auf die entsprechende neue, dieses Bildungsgesetz repräsentierende Lebensform bei ihren Trägern schließen. In der Konsequenz weist sich diese Neuerung auch auf andere Objektivationsrichtungen aus. So folgte im 16. und 17. Jahrhundert auf die durch Kopernikus, Kepler und Galilei begonnene Umgestaltung des theoretischen Weltbildes bald die Umbildung der »allgemeinen Lebensordnung«, die noch auf dem Prinzip (Gesetz) der Heteronomie beruhte. 284 Damit setzte eine gründliche Umwälzung des »geschlossenen mittelalterlichen Systems der Lebensanschauung« ein, 285 die vor allem die Stellung des Individuums zur kulturellen Welt als einer transzendenten, heteronomen Realität umkehrt. Sein Verhältnis zu demjenigen, was den »geistigen Sinn und die geistige Substanz des Lebens« ausmacht, wälzt sich um. 286 Es verbreitet sich nun die neue Auffassung, daß das Individuum zur »Welt und zu ihren Ordnungen, zum staatlichen und sozialen Leben« in demjenigen Verhältnis steht, »das es sich selbst gibt«. 287 Mit

281

FF: XIII; ECW 7: 390 f. Ebd., XVf.; ECW 7: 393. In der Wiedergabe in ECW 7 fehlen die Worte »spezifisch-nationale«. 283 Ebd., 271; ECW 7: 286. 284 Ebd., 10; ECW 7: 11. 285 Ebd., 115; ECW 7: 121. 286 Ebd., 10; ECW 7: 11. 287 Ebd., 11; ECW 7: 12. 282

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dem Ausleben des Grundgegensatzes von Freiheit und Form im Sinne der Autonomie, was eine neue innere Lebensform entbindet, ist auch ein neuer »einheitlicher Mittelpunkt« gegeben, von dem aus sich die reformierte Weltsicht entfaltet. Von ihm wird ein neuartiger »fortschreitender Aufbau der geistigen Wirklichkeit« geleistet, in welchem die »großen objektiven Ordnungen wie Staat, Recht, Wissenschaft und Sittlichkeit erst ihre bestimmte Stelle und durch sie ihre Rechtfertigung erhalten«. 288 Der Begriff der Lebensordnung zielt auch hier auf die übergeordnete Einheit aller geistigen Lebenstätigkeiten und ihrer Resultate, nicht auf das bewegliche Maß einer einzelnen geistigen Energie. Außerhalb oder jenseits der konkreten historischen Lebensordnung vermag sich kulturelles Leben nicht zu entfalten. Deshalb mußte die durch Luthers individualistischen, subjektiven Freiheitsbegriff aufgelöste Bindungskraft der mittelalterlichen heteronomen Lebensordnung, die auf einem »autoritativen Lehr- und Lebenssystem« beruhte, aus dem neuen Prinzip der Autonomie – in einem neuen Sinne – wiederhergestellt werden. 289 Dazu waren neben der Religion auch die anderen »objektiv geistigen ›Formen‹ – wie Gesellschaft und Staat, Wissenschaft und Recht« 290 – nicht nur auf einen neuen Rechtsgrund zu stellen, sondern auch in ihrer Selbständigkeit zu erfassen und in ihrem eigentümlichen Gesetz zu begreifen und zu konstituieren. Anstelle der Heteronomie war die »Autonomie innerhalb der Einzelgebiete« zu erringen, ehe ihr neuer geistiger Zusammenhang sich in der neuzeitlichen oder bürgerlichen Lebensordnung durchsetzen konnte. Diesen Zustand sieht Cassirer in den Lebenswerken Goethes und Kants erreicht. Die »allgemeine Lebensordnung« der Menschen wirkt durch die ihr korrespondierende geistige »Grundstimmung« stark auf die einzelnen schöpferischen Geister und Akteure zurück. Dies zeigt sich u. a. an der Persönlichkeit Leibniz’, dessen philosophische Lehre nicht zuletzt im »Gesamtleben der Nation« wurzelt, d. h. in der durch die Reformation erneuerten Lebensordnung seiner Zeit. Cassirer sieht den »größten deutschen Forscher des 17. Jahrhunderts«, der durch die »Grundstimmung der Reformation« geprägt ist, als die »lebendige Verwirklichung dieses inneren Zusammenhanges«. 291 Deshalb sei seine Philosophie auch immer nach ihrem »Zusammenhang mit der allgemeinen geistigen Kultur« zu

288

Ebd., 16; ECW 7: 17. Ebd., 18; ECW 7: 19. 290 Cassirer spricht von ihnen als den »verschiedenen Richtungen des geistigen Lebens«, die »die moderne geistige Kultur« ausmachen. – Ebd., 19; ECW 7: 20. 291 Ebd., 43, 34 f.; ECW 7: 46, 37. 289

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betrachten. Den Gedanken, daß das schöpferische (bildende) innere Prinzip, das das Leben einer einzelnen großen Persönlichkeit bestimmt, sich in eine bestimmte geschichtliche Ordnung, in eine intelligible Gesamtordnung einfügt und aus ihr seinen Sinn bezieht, hatte Cassirer schon 1912 auf Kant und Goethe bezogen, indem er die Feststellung traf, daß in der Individualität einer Biographie auch das Zeitalter zum Vorschein komme. 292 So war der Philosoph Kant »mit all seinen Gewohnheiten und mit seiner gesamten Lebensordnung völlig in seiner Vaterstadt verwurzelt«. 293 Der Begriff einer Lebensordnung, der bislang die Wertorientierung bzw. die Maßrichtung der Kulturtotalität einer Epoche kennzeichnete, wird hier in KLL erstmals als individuelle Ordnung einer einzelnen Person aufgefaßt, die aus ihrem »geistig-lebendigen Mittelpunkt« heraus die vielfältigen geistigen und lebenspraktischen Energien samt ihren Gestaltungen in eine Einheit bringt. Diese individuelle Lebensordnung »wurzelt« aber in den überpersönlichen kulturellen Ordnungen der Vaterstadt, des Landes, des Jahrhunderts, die die gesellschaftliche Lebensordnung konstituieren. Das je eigene Maß bzw. innere Gesetz einer lebendigen Energie des Geistes, wie etwa der ästhetischen, erfährt durch eine national oder epochal geltende, vorherrschende Lebensordnung eine besondere Prägung oder Brechung. Diese Lebensordnung ist selbst wiederum so zu verstehen, daß sie in einem bestimmten universellen Prinzip, in einer bestimmten Form des Lebens gründet. Im Dichtwerk Pandora (1807) hat Goethe, so legt es Cassirer aus, zwei allgemeine, typische Lebensordnungen der Menschenwelt entworfen. In der ersten, in der Lebensordnung, in der Epimetheus und Prometheus leben, herrscht der Dualismus zwischen dem tatenlosen geistigen Sinnen und dem unmittelbaren praktischen, aber formlosen Tun vor. 294 Cassirer deutet diesen Dualismus in Anlehnung an Nietzsche, allerdings ohne ihn zu erwähnen, als Gegensatz von »dionysischem Rausch« (Tat) und »apollinischer Klarheit« (Sehen). 295 In einer zweiten, jedoch noch zukünftigen Ordnung, in der einst ihre beiden Kinder leben werden, die die Gaben der Pandora – das Reich der tätigen Formen – angenommen haben, ist dieser alte Gegensatz aufgehoben und versöhnt. In ihr nehmen die Menschen die »Welt der Form« nun tätlich, schaffend und umschaffend an. Im »Reiche Pandorens«, in der zukünftigen neuen Lebensordnung

292 293 294 295

Cassirer (1912: 272); ECW 9: 138. KLL: 419; ECW 8: 377 f. IG: 13, 17; ECW 9: 252, 258. Ebd., 19 f.; ECW 7: 260.

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erhält jede Tat ihren eigentümlichen Wert aus dem »ursprünglichen und reinen Formwillen«. So fügt sich die Gestalt, d. h. die tätige Form, dem menschlichen Leben ein und gelangt zur vollen Wirklichkeit. 296 In dieser neuen Ordnung erschließt sich der »Sinn des Lebens« vor allem in der »Gemeinschaftsarbeit«, im Bild des »Gesamtlebens der Menschheit«. 297 Damit stelle Goethe zu Beginn des 19. Jahrhunderts dem individualistischen Ideal des deutschen Humanismus das soziale Ideal gegenüber, »der Forderung einer Totalität der Menschenkräfte, die im Individuum zur freien Entfaltung kommen sollen, stellt sich die Forderung einer umfassenden gemeinsamen Lebensordnung entgegen, die jeden Einzelnen an seinem Teile und innerhalb seiner begrenzten Leistung in Anspruch nimmt«. 298 Doch bereits der junge Hegel hatte vor 1803 das Auseinanderdriften, Auseinanderfallen der »Gesamtsphäre des geistiges Lebens« in die verschiedenen geistigen Lebenssphären samt ihren Objektivationen zum Thema seiner Philosophie erhoben, weil dieser Konflikt auch das individuelle Ich betrifft, das in diesen Sphären lebt. Er sucht nach einer »universellen geistigen Lebensform«, zu der sich das Ich als derjenigen »Gesamtsphäre des geistiges Lebens« verhalten kann, in der alle auftretende »Fremdheit« verschwindet. 299 Zunächst glaubte Hegel, diese universelle Lebensform in der das »auseinanderfallende Leben« wieder als Einheit herstellenden und versöhnenden Religion gefunden zu haben. 300 Cassirer sieht in dieser Fragestellung eine große philosophische Leistung, habe mit ihr Hegel doch das Problem der Synthesis von dem »Boden der reinen Erkenntnis auf denjenigen des konkreten geistigen Lebens, in der Totalität seiner Äußerungen, versetzt«. 301 Die bei Goethe und Hegel analysierten Problemaufwerfungen, die das geistige Leben betreffen, haben Cassirer bereits auf den Entwicklungsgedanken geführt, den er mit dem Begriff einer »Stufenreihe« der Geistes- bzw. Kulturformen aufnimmt. Wenn er in FF vom »Aufbau der deutschen Geistesgeschichte und dem Verhältnis ihrer einzelnen bestimmenden Momente« spricht, 302 dann hat er zunächst die aufbauende,

296

»Das Reich der Form gewinnt Leben und Wirklichkeit im Reich der Tat«. – Ebd., 17; ECW 9: 258. 297 Ebd., 18 f.; ECW 9: 259. 298 Ebd., 22; ECW 9: 263. 299 EP III/ECW 4: 277, 282. 300 Ebd., 289. 301 Ebd., 279, 281. Hier verweist Cassirer auch auf Diltheys Studie Die Jugendgeschichte Hegels (Berlin 1905, S. 106 ff). – Ebd., 279 Anm. 302 FF: XIII; ECW 7: 390.

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dialektische Entfaltung des Grundgegensatzes von objektiver Form und subjektiver Freiheit im Auge, wie er sich in den einzelnen geschichtlichen Objektivationen des lebendigen Geistes entfaltet. Die nachkantischen Systeme hätten den »Problemkreis Kants« vor allem hinsichtlich des Kulturganzen, seiner Struktur und seines Aufbaus erweitert. 303 Den entscheidenden Schritt auf eine moderne Philosophie des geistig-lebendigen Kulturganzen hin habe jedoch Hegel mit seiner dialektischen Methode und dem Entwicklungsbegriff vollzogen. 304 Für diesen stellt sich »das Ganze des ›objektiven Geistes‹« außer in der Philosophie noch in Religion, Kunst, Sittlichkeit, Recht, Wissenschaft und im Staat dar. 305 Bereits im Systemfragment von 1800 habe Hegel vor dem Hintergrund seines Lebensbegriffs die neue Gesamtansicht in ihren allgemeinen Umrissen entworfen, wonach das »Ganze des Geistes sich nur als Entwicklung darstellen« kann, was hier »unmittelbar aus dem Begriff des Lebens selbst gefolgert« wird. Cassirer zeigt sich vor allem von dem methodischen Gedanken Hegels beeindruckt, wonach die Gesamtheit der »geistigen Kulturformen« eine »einzige aufsteigende Reihe« bildet, die zuletzt in der Philosophie ihren Abschluß findet. 306 Jede einzelne Kulturform stellt eine besondere Betrachtungsweise der aus der Entzweiung synthetisch erzeugten Einheit dar. 307 Diesen methodischen Gedanken legt Cassirer nun auch seinem zweiten großen Lebensprojekt, der Philosophie der symbolischen Formen, zugrunde. 308 Die in Hegels Phänomenologie des Geistes zum Ausdruck gebrachte Überzeugung, daß das Ganze der geistigen Wirklichkeit nur besteht, »indem es sich in der Allheit seiner Momente vollzieht und indem es in diesem Vollzug die Einheit der Momente [ . . . ] zugleich weiß«, wird von ihm geteilt und in der PsF umgesetzt. 309 Das »besondere Leben« erfaßt sich so als »Glied eines Ganzen«, als »Glied einer umfassenden lebendigen Gesamtheit«, die es umfängt und beherrscht. 310

303

EPIII/ECW 4: IX. Ebd., 338. 305 Ebd., 353. Cassirer selbst spricht hier von den »allgemeinen Formen des Geistes [ . . . ], wie sie sich in Recht und Staat, in Sittlichkeit und Kunst, in Philosophie und Religion darstellen«. – Ebd., 282. 306 Ebd., 360. 307 »Die ›Phänomenologie des Geistes‹ umfaßt alle diese Betrachtungsweisen, indem sie versucht, sie in notwendiger Stufenfolge auseinander hervorgehen zu lassen und damit jeder von ihnen zugleich mit ihrer Stelle im System ihr relatives Recht zu bestimmen«. – Ebd., 297 f. 308 Siehe dazu Möckel (2004b). 309 EP III/ECW 4: 316. 310 Ebd., 281, 313. 304

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Allerdings, so wendet der kritische Idealist Cassirer gegen den absoluten Idealisten Hegel ein, setzte dessen Philosophie auf diese Weise »ihre Ergebnisse, als die höheren und abschließenden, den untergeordneten Ergebnissen der anderen Kulturformen entgegen«. 311 Daher begründet die Philosophie Hegels die übrigen Kulturformen nur in dem Sinne, »daß sie ihnen ihre autonome und selbständige Geltung entzieht, um sie dem eigenen Selbstzweck einzufügen«. Auf der autonomen und selbständigen Geltung aller geistigen Lebensformen aber beruht gerade Cassirers sich formierende Kulturphilosophie. Aus seiner Sicht hätte Hegel vielmehr auf die »Erhaltung der Autonomie« dieser Formen setzen müssen. Die kritische Philosophie leitet die »Mannigfaltigkeit der Kulturformen und des geistigen Kulturbesitzes« nicht einfach aus der Vernunft ab, sondern erweist demgegenüber die »Einheit der Vernunft in ihren verschiedenen Grundrichtungen, im Aufbau und in der Gestaltung der wissenschaftlichen, der künstlerischen, der sittlichen und religiösen Welt«. Trotzdem bewegt sich Cassirer weit auf Hegels Erkenntnis zu, wonach das Grundproblem allen Lebens die »fundamentale Entzweiung und Einigung« eines jeden seiner Einzelmomente ist. Für die Dialektiker Hegel und Cassirer ist das »konkrete Leben des Geistes« grundsätzlich ebenso antinomisch, wie es auch das Denken ist. 312 Weil bei Hegel dieses Grundproblem durch die philosophische Logik seinen »allgemeinen begrifflichen Ausdruck« erhalten hat, gilt sie ihm als der reine Exponent aller Geistigkeit: »sie ist die Wahrheit des Lebens, das der Geist in all seinen Grundformen vollzieht«. 313 Der sich objektivierende Geist vollzieht sein Leben, indem er in einer »aufsteigenden Reihe« die »Gesamtheit der geistigen Kulturformen« durchläuft, durchlebt. 314 Wenn Cassirer 1918 an Hand von Goethes Dichtwerk Pandora die »geformte Wirklichkeit« den »Gehalt des Lebens« ausmachen läßt, dann steht er kurz vor seinem Begriff der kulturellen Realität als einem Ensemble symbolischer Geistesformen. Das kulturelle »Leben selbst« als ein Werden offenbart sich als ein Reich von flüchtigen, beweglichen allgewaltigen ästhetischen, sprachlichen etc. Formen, die ihm eine zeitweilige Ordnung geben. Um sich diese Formwelt geistig aneignen zu können, muß der Künstler sie aufbauen und damit erschaffen. 315 Die im Pandora-

311

Ebd., 360. Ebd., 297. 313 Ebd., 350 f. 314 Ebd., 360. 315 »Nicht im Betrachten der Form, sondern im Schaffen der Form bewährt sich die eigentliche bildende Kraft des Menschen.« – IG: 16; ECW 7: 257. 312

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Symbol thematisierte »Herrschaft der reinen ›Gestalt‹« bzw. der tätigen Form erweist sich als ein ganzes System von Stufen bzw. als Stufenreihe, bei der Wissenschaft und Kunst zwar »an der Spitze« stehen, diese Reihe aber nicht erschöpfen. Die »Stufenreihe« umfaßt alle »Formen bildender und gestaltender Tätigkeit von der niedersten bis zur höchsten«. 316 Im Jahr 1920, in dem das Konzept der PsF weitgehend definiert ist, 317 gelten Cassirer die einzelnen lebendigen Energien oder Formen des Geistes, zu denen neben Kunst, Sprache und Wissenschaft inzwischen auch der Mythos gerechnet wird, als Grundmittel der Objektivierung, die in ihren Verhältnissen zueinander untersucht werden sollen. Dafür ist ein umfassendes Bezugssystem, ein »Inbegriff der geistigen Grundfunktionen überhaupt« vorauszusetzen, in welchem wie der Sprache, so auch jedem anderen Einzelglied sein »idealer Ort« bestimmt werden muß. 318 Das läuft auf die »allgemeinste und umfassende Theorie der geistigen Formen« hinaus, die »jede dieser Formen zugleich in ihrer Individualität und in ihren systematischen Beziehungen zu erfassen« hat. 319 Damit rüstet Cassirer zur »Analyse aller Grundformen des Weltverständnisses überhaupt«. Der Bestand der Kultur wird jetzt nicht nur aus den einzelnen autonomen »Grundformen des Weltverständnisses« – den Strukturrichtungen der Kultur – aufgebaut, sondern »Bestand und Gehalt« einer jeden besonderen Funktion werden zudem »in einer fortschreitenden Stufenfolge vor uns« entwickelt. Und das bedeutet, der Bestand einer jeden geistigen Funktion ist durch alle Gebiete als Durchgangsstufen des geistigen Gesamtlebens hindurch zu verfolgen. Damit erschließen sich Cassirer die grundlegenden Strukturebenen der Kultur, auf denen z. B. die Sprachform als eine konkrete Strukturrichtung ihren Bau und ihre Formgesetze wandelt. Je nachdem, ob sie für die emotionale, die anschauliche oder die denkende Ebene gilt. In dieser Art von Stufenfolge unterscheiden wir die Sprachform des »lyrisch-dichterischen Empfindens«, des »täglichen Lebens« und der »logischen Erkenntnis«. 320 Von einem besonderen »systematischen Umkreis« des Lebens, der durch eine bestimmte symbolische geistige Grundfunktion aufgebaut 316

Ebd., 20; ECW 7: 261. Cassirer plant bereits seine sehr weitgefaßte Erkenntnistheorie, für die nicht nur das »wissenschaftliche Denken«, sondern auch andere »Mittel und Wege« wie »Sprache und Mythos, Kunst und Religion, [ . . . ] mathematisch-exakte und empirischbeschreibende Erkenntnis« uns die »Wirklichkeit überhaupt zu einem bedeutungsund sinnvollen Ganzen, zu einem geistigen ›Kosmos‹« zu gestalten vermögen. – Ebd., 65; ECW 9: 304. 318 Ebd., 65; ECW 9: 303. 319 Ebd., 69; ECW 9: 307. 320 Ebd., 65 f.; ECW 9: 303 f. 317

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wird, zum nächsten Umkreis, zur nächsten Richtung des geistigen Lebens wechseln Gehalt und Bedeutung jeder einzelnen Bewußtseinsgestalt (Raum, Zeit etc.), weshalb Cassirer hier von einem »geistigen Bedeutungswandel« spricht, bei dem neue und eigene Gestaltungsprinzipien zum Tragen kommen. 321 Diese schließen sich in Bezug auf eine einzelne Bewußtseinsgestalt (Naturbegriff) zu einer »Gesamtleistung« des lebendigen Geistes zusammen, die die Philosophie aufzuklären hat. 322 Das methodische Grundproblem ergibt sich aus dem paradoxen Sachverhalt, daß jeder geistigen Form Individualität zukommt, d. h. ein individuelles Bildungs- und Formgesetz, während sie sich gleichzeitig in systematischen Beziehungen mit den anderen Formen befindet, sie also in einer Gesamtreihe, in einer »Totalität geistiger Auffassungsweisen« steht, die einem allgemeinen Gesetz untersteht. Eine jede mit Eigenrecht ausgestattete Auffassungsweise bzw. Betrachtungsart 323 muß auch ihre Relativität dem »gesamten Kreis des Objektiven« gegenüber erkennen, weil sie nicht alle seine Momente aufnimmt. In einem übergreifenden Ganzen ist für Cassirer der Ausgleich zwischen den verschiedenen Grundfunktionen aber möglich. 324 Das bedeutet für die sich hier abzeichnende Kulturphilosophie der symbolischen Formen bzw. des lebendigen Geistes die Aussicht, die sich zersplitternden, entfremdenden geistigen Lebensformen des Menschen überwinden und versöhnen zu können. Das Für und Wider dieses insbesondere durch Simmel populär gemachten Konfliktes zwischen Leben und Kultur wird Cassirer von nun an nicht mehr los.

321

Ebd., 66 f.; ECW 9: 305. Ebd., 68 f.; ECW 9: 306 f. 323 Goethes am Lebensphänomen orientierter Naturbegriff besitzt das relative Recht einer solchen besonderen geistigen Auffassungsweise. Natur erschöpfe sich aber erst in der Synthese mehrerer solcher »Betrachtungsweisen«, insofern bleibt Goethes Naturbegriff einseitig. – Ebd., 70 f.; ECW 9: 306 ff. 324 Ebd., 75 f.; ECW 9: 314. 322

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zweites k apitel 4 Problembewußtsein und Kritik lebensphilosophischer Topoi 4.1 Lebendigkeit der Anschauung und Sprache des gewöhnlichen Lebens

Cassirer schenkt nicht nur dem Urphänomen des Lebens große Aufmerksamkeit, sondern stimmt auch mit den Lebensphilosophen in der Forderung überein, die Lebendigkeit der Anschauung, des Denkens und der Darstellung von Sachverhalten nicht zu vernachlässigen oder gar verloren gehen zu lassen. Deshalb gebraucht er den Ausdruck »lebendig« immer wieder als Adjektiv, das einen Gegensatz zu »abstrakt«, »mittelbar« und »unanschaulich« zum Ausdruck bringen soll. Dies geschieht z. B., wenn er ausspricht, daß sich ein »abstraktes philosophisches Thema« mit den »unmittelbaren und lebendigen Interessen unserer Gegenwart« berühren kann. 325 Ein erfaßbarer Zusammenhang, eine tätige innere Form etc. drücke sich immer »unmittelbar und lebendig« zugleich aus. 326 Die »konkrete und lebendige Darstellung der einzelnen Künste« oder ihrer Gestaltungen, wie sie sich z. B. bei Goethe oder Schopenhauer findet, zieht Cassirers Lob und Beifall auf sich. 327 Auch diejenigen Momente, Vermögen und Prinzipien, die zur »Belebung« des menschlichen Gemüts, der im Erkenntnisprozeß eingesetzten Begrifflichkeit oder der abschließenden Darstellung eines Sachverhaltes beitragen, werden immer wieder aufs Neue vermerkt und damit betont. 328 So hält es Cassirer für erwähnenswert, daß bei Goethe das »sinnliche Auffassungsvermögen« (Eindrucksvermögen) und die »belebende Gabe der Wandlung und der gesetzlichen Umbildung des Gegebenen« eine Einheit bilden. 329 Durch ein bestimmtes Bild werde gelegentlich auch der »eigentümliche Begriffsgehalt wieder lebendig, für den es als symbolischer Ausdruck dient«. 330 Durch die einheitliche Energie des Geistes läßt sich eine Handlung des Menschen »von innen her beleben«. 331 Die Erfahrung, daß in uns ein bestimmtes Gefühl »lebendig« werden kann, weist u. a. auf die durch Cassirer aufmerksam registrierte Feststellung Kants, wonach das »Gefühl der Lust«, das sich als subjektiver Ausdruck mit der

325 326 327 328 329 330 331

FF: XI; ECW 7: 388. Ebd., 259; ECW 7: 274. EP III/ECW 4: 421. FF: 20; ECW 7: 22. Ebd., 234; ECW 7: 248. Ebd., 69; ECW 7: 73. Ebd., 121; ECW 7: 128.

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eigentümlichen Zweckmäßigkeit verbindet, die wir in der »Ordnung der Erscheinungen« in der belebten Welt antreffen, belebend auf die Verstandeskräfte einwirkt. 332 Außerdem schaffe die Zweckidee, gemeinsam mit der Idee des organischen Lebens, die vereinzelten Erfahrungen zur »Anschauung eines lebendigen Ganzen um«. 333 Ihm ist auch bewußt, daß ein unerschütterlicher Glaube als lebendige Quelle zu wirken vermag und daß das »freie Spiel« die Einbildungskraft belebt. Diese Überlegungen klingen z. B. an, wenn Cassirer schildert, wie nach Kant die »unmittelbare Lebendigkeit« der ästhetischen Vorstellung bzw. Einbildungskraft sich im freien Gestalten der interesselosen Phantasie niederschlägt und wie die »Elemente des Spiels« die allgemeinen »Grundfunktionen des Bewußtseins« bilden. 334 Er weist weiterhin auf den Umstand hin, daß bei Kant die Achtung vor der Freiheit der sittlichen Person und ihres Selbstbestimmungsrechtes nicht als eine abstrakte Forderung wirkt, sondern vielmehr als »unmittelbar lebendige, jede Einzeläußerung bestimmende Triebfeder«. 335 Deshalb würdigt Cassirer auch die Kritik, die Hamann und Goethe gegen die »toten« Abstraktionen vorbringen, da sie die lebendige Energie des Geistes zersplittern und in Teilen isolieren. 336 Er teilt die Überzeugung, daß den »abstrakten Gattungsbegriffen« der »Hauch des Lebens« nicht mitgeteilt werden kann. 337 Die Alternative sucht er allerdings nicht in anschaulichen Begriffen, sondern im Ersetzen der leeren Gattungsbegriffe der alten, traditionellen Logik durch Funktionsbegriffe nach dem Beispiel der modernen Mathematik. 338 Nach Cassirer soll und kann auch ein Gedanke »lebendig« sein. 339 Die Grundfragen des Erkennens müssen in ihrer wahrhaften »Konkretion und Lebendigkeit« gefaßt werden. 340 Deshalb steht er zu der Forderung, die »lebendige Anschauung« philosophischer und wissenschaftlicher Sätze bzw. Theorien gegenüber einseitigen, abstrakten, sich ins Detail verlierenden Arbeitsweisen zu pflegen. 341 Kulturelle Gebilde wie die Philosophie sind zudem nur als methodische Ganze »lebendig« und vernünftig denkbar. 342 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342

Ebd., 119; ECW 7: 126; KLL: 322; ECW 8: 291. KLL: 379; ECW 8: 341. Ebd., 334 f.; ECW 8: 301 f. Ebd., 441 f.; ECW 8: 398. FF: 110 f.; ECW 7: 117 f. Ebd., 215; ECW 7: 229. Siehe dazu Möckel (2003a, 155 ff.). EP III/ECW 4: 128. IG: 34; ECW 9: 272. KLL: V; ECW 8: VII. Ebd., 394; ECW 8: 355.

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Obwohl Lebendigkeit und Leben gewöhnlich mit dem ununterbrochenen Fließen, einschließlich des Bewußtseinsstromes, assoziiert werden, ist für Cassirer ein Bewußtsein, das sich dem »Strom der Vorstellungen« einfach überläßt, ohne zu beurteilen, zu unterbrechen und zu fi xieren, ein rein tierisches Bewußtsein. Das Scheiden von Strom und Beharrung, von Zufälligem und Notwendigem erlaubt uns vielmehr erst die Vorstellung vom »identisch Beharrenden«, auf das uns auch der Gedanke an das eigene Ich notwendig führt, indem er über die unmittelbaren, sich wandelnden sinnlichen Eindrücke hinausweist. 343 Infolge der Notwendigkeit, in den kontinuierlichen Strom der Vorstellungen einzugreifen, geht dessen Unmittelbarkeit, geht die Unmittelbarkeit des Erlebens und Fühlens verloren. So hebt Cassirer wohl mit Bedacht die Einsicht Goethes hervor, nach der dasjenige, »was so voll, so warm« in der Seele »lebt«, sich grundsätzlich nicht adäquat sprachlich-begrifflich ausdrücken, vom Dichter aufs Papier bringen läßt. Vielmehr verwandelt sich dem Schreibenden der »Schauplatz des unendlichen Lebens« unter der Hand in den »Abgrund des ewig offenen Grabes«. 344 Obwohl diese Erfahrung des InSprache-Fassens an einen schmerzhaften Verlust der Lebenswärme und Lebensnähe denken läßt, gilt Cassirer alles romantische Zurückstreben »aus der Sphäre des ›Begriffs‹ zur Unmittelbarkeit des ›Lebens‹« als vergeblich und bedenklich. 345 Dies richtet sich jedoch nicht gegen eine Kritik an den rationalistischen, leblosen Abstraktionen, solange sie nicht die »reine Energie des Denkens selbst« bekämpft und durch »unterbewußte« und »irrationale« Mächte zurückdrängt. Die Sprache versagt jedoch nicht nur notgedrungen beim Ausdrücken des subjektiven Erlebens, obwohl sich gerade der Poet immer wieder erfolgreich daran versucht, sondern auch beim Wiedergeben des relationalen und funktionalen Charakters der physischen Verhältnisse unserer raum-zeitlichen Existenz. Die uns dafür in der Regel zur Verfügung stehende reale Sprache entspringt der verdinglichten naiven Weltsicht und bezeichnet folglich auch die Erkenntnisbedingungen als substantielle Dinge oder Dingverhältnisse. Das ist deshalb so, weil die »Abstraktion, auf die die Sprache des Lebens und die Sprache der empirischen Wissenschaften gründet«, doch stets gleichsam das kategoriale Gebäude der »naiven Weltsicht« unangetastet läßt. 346 Und die auf diese Weise fundierte Sprache deutet logische Verhältnisse grundsätzlich in empirische

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FF: 46 f.; ECW 7: 50. Ebd., 260; ECW 7: 275. Ebd., 355 f.; ECW 7: 373. EP III/ECW 4: 4.

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Dingverhältnisse um. Damit erweist sich die »Sprache des gewöhnlichen Lebens«, die keine kritische Einstellung einnimmt, als ein Problem für die wissenschaftliche Erkenntnis. 347 Eine gewisse Spannung zwischen Lebendigkeit, Einheit und begrifflicher Zergliederung muß beim Erkennen wie bei jeder Vergewisserung über die Wirklichkeit aber ausgehalten werden. Fichte hat dies für sich gelöst, indem er das, »was im Begriff und in der Abstraktion notwendig als Zweiheit, als Spaltung und Entgegensetzung erscheint«, zuletzt doch in einer »höchsten Lebenseinheit« umschlossen sein läßt. 348 Den ihm oft gemachten Vorwurf, daß er die »blutlose Abstraktion des leeren Seins erst nachträglich mit dem Schein des Lebens erfüllt habe«, hält Cassirer in dieser Form für völlig unbegründet. 349 Schellings Kritik an der sogenannten Reflexionsphilosophie, deren Begriffe – die gewöhnlichen empirischen Gattungsbegriffe – nicht die Einheit des Lebenden leisteten, sondern es vielmehr trennten, teilt Cassirer nur bedingt, trotz dessen Nähe zu den philosophisch-naturwissenschaftlichen Auffassungen Goethes. 350 Schelling erwartet, daß sich mit Hilfe des Goetheschen Gedankens der Metamorphose, den er in seinem weitesten symbolischen Sinne faßt, »alle Abstraktionen [ . . . ] wieder auflösen« und damit erneut »in die unmittelbare freundliche Anschauung« eintauchen. 351 Diese Erwartung weist Cassirer zwar nicht pauschal zurück, läßt aber ein metamorphosisches Anschauen der Naturphänomene nur als einen Erkenntnisweg neben dem der mathematischen Naturwissenschaft gelten. 352 Auch Fries, dem es um die wirkliche Erfahrung des »gemeinen Lebens« gehe, worunter er die innere Wahrnehmung, die subjektive innere Erfahrung und unmittelbar-gewisse Urteile versteht, die er »aller bloß mittelbaren Reflexion« gegenüberstellt, thematisiert in Cassirers Augen einen realen Gegensatz. 353 Bei dem Versuch, die »Urform der unmittelbaren Erkenntnis«, die »ursprüngliche Synthesis der unmittelbaren Erkenntnis« aufzusuchen, die, obwohl sie psychologisch nicht unmittelbar gegeben und nicht zu unmittelbarer Anschauung zu bringen ist, aber dennoch »aller logischen Synthesis des Verstandes« notwendig zugrunde 347

Ebd., 75. Ebd., 187. 349 Ebd., 207 Anm. 350 Ebd., 221. Wie auch Goethes Erkenntnislehre, so suche Schellings Philosophie sich »mitten in diesem Strom, in dieser Dynamik des Lebensprozesses zu erhalten und dennoch in ihr zugleich rastlos auf die Anschauung eines Urbildlichen und Typischen zu drängen.« – Ebd., 259. 351 Ebd., 260. 352 IG: 75 f.; ECW 7: 313 f. 353 EP III/ECW 4: 433, 435. 348

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liegt, setzt er auf das subjektive »Wahrheitsgefühl«. 354 Mit einem subjektiven Gefühl ist jedoch keine objektive Form, keine objektive Wahrheit zu begründen. Der Rationalist Cassirer setzt allerdings neben der Reflexion und der logischen Begrifflichkeit sehr wohl auch die lebendige Anschauung in ihr Recht ein, nur dürfe sie nicht als die unmittelbare »Anschauung eines Seins« mißverstanden werden. Man müsse die Anschauung vielmehr als »geistigen Blick«, »ideelle Auffassung« oder Zusammenschau nehmen. 355 In dem Zusammenhang erinnert er auch an Fichtes Verfahren der »genetischen Konstruktion«, das die Bedeutung einer bestimmten »Weise des Sehens« habe. 356 Seinen eigenen Anschauungsbegriff begreift Cassirer jetzt als Kontemplation reiner Formen. 357 Die Intuition dürfe jedoch nicht, wie es Schellings »intellektuelle Anschauung« suggeriert, »Reflexion und abstrakten Begriffen« gegenübergestellt werden. 358 Bestehe doch so die Gefahr, daß die absolute Vernunft wegen ihrer, das rein kontemplative Schauen ablösenden »Methode der begrifflichen ›Konstruktion‹« letztlich auf ein »schlechthin Irrationales« trifft, weil sie die Kluft zwischen Ideenwelt und Sinnenwelt nicht zu schließen vermag. 359 Offenbar fehlen Cassirer an Schellings »rein konstruktivem Denken« die Momente der Erfahrung und Analyse (Zerlegung). Nach seiner Überzeugung ist an der »kritischwissenschaftlichen Zergliederung des Einzelnen«, der »begrifflichen Reflexion und Analyse« festzuhalten, weil dies durch »keine ursprüngliche geniale Anschauung« des Ganzen der Welt ersetzt werden könne. 360

354

Ebd., 439 f. Ebd., 134, 408 f. Zum Begriff der Zusammenschau siehe Mehring (1999: 73 ff.). 356 EP III/ECW 4: 156 f. 357 Wenn er 1919 Schopenhauers Auffassung wiedergibt, wonach die Welt der ästhetischen Betrachtung »uns in einen Kreis [stellt], in dem alles stoffl iche Interesse am Gegenstand selbst und seinem Dasein erloschen ist und in dem nur noch das reine und ruhige Schauen der ewigen und typischen Grundformen alles Seins gilt«, dann klingt der Begriff der Kontemplation an, wie er später im Manuskript »Über Basisphänomene« (ECN 1) bemüht wird. – Ebd., 407. 358 Ebd., 224. 359 Ebd., 260. »Der Panlogismus hat hier sein Ende erreicht: Die absolute Vernunft trifft auf ein schlechthin Irrationales«. – Ebd., 264. 360 Ebd., 396. 355

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4.2 Kritik lebensphilosophischer Topoi Die beachtliche Aufmerksamkeit, die Cassirer in seinen Werken dem »›Urphänomen‹ des Lebens« bzw. dem Lebensbegriff widmet, wird durch eine kritische Haltung gegenüber den erkenntnistheoretischen und metaphysischen Positionen der Lebensphilosophie, einschließlich ihres Anspruchs, die Unmittelbarkeit des Lebens begrifflich zu erschließen, ohne sie dadurch in eine Mittelbarkeit zu verwandeln, vervollständigt. Allerdings schlägt sich die kritische Komponente in dieser Periode seines Schaffens in keinem speziellen Werk, nicht einmal in einem eigenen Zeitschriftenbeitrag nieder. Dennoch lassen sich in den Schriften mehrere Ansätze herausarbeiten, sich dieser kritischen Aufgabe anzunehmen. 361 Ein solcher Ansatz offenbart sich immer dann, wenn Cassirer die Bevorzugung der Anschauung gegenüber der Reflexion im frühen Deutschen Idealismus diskutiert. In dem Zusammenhang kommt er auch regelmäßig auf den unabdinglichen Gegensatz lebendig-fließender (subjektiver) Unmittelbarkeit und (objektivierender) begrifflicher Fixierung zu sprechen. Außerdem fordert er, wie schon in den frühen Schriften, eine klare Unterscheidung zwischen dem logischen »›Bestand‹ der Erkenntnis« und den »inneren psychologischen Tätigkeiten«, die die Erkenntnis vollziehen. 362 Das Logische dürfe sich nicht »ins Faktische« verlieren, da dies eine unbedingt zu bekämpfende Tendenz zum Psychologismus nach sich zieht. 363 Cassirers Distanz zur Philosophie des Lebens wird auch greifbar, wenn er Schopenhauers Willensmetaphysik kommentiert. Hierbei dürfte – zumindest mittelbar – zudem Nietzsches Philosophie in seinen Blick geraten. Und schließlich polemisiert er gegen einen Lebensbegriff bar jeglicher Formung und Differenz. Die bereits in den frühen Schriften enthaltene Kritik am metaphysischen Verständnis der Intuition findet in dieser Schaffensperiode ihre Fortsetzung. Damit weist Cassirer einen zentralen Begriff lebensphilosophischer Erkenntnislehren und Metaphysiken des Lebens ab. Die Auffassung von einem göttlichen »›intuitiven‹ Verstand« bzw. einer unmittelbaren »Schau der Ideen« findet er u. a. bei Leibniz und Maimon vor. 364 Die schauende Vernunft Spinozas wird ebenfalls – erneut – als metaphysische Substanzschau abgewiesen, und selbst Goethe entferne 361

Nach dem derzeitigem Kenntnisstand ist davon auszugehen, daß sich Cassirer bis 1920/21 noch nicht wirklich mit den die Problematik des Lebens in den Mittelpunkt stellenden Texten Simmels, Bergsons, Klages’ und Spenglers befaßt hat. 362 EP III/ECW 4: 449. 363 Ebd., 458 f. 364 Ebd., 15, 92.

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sich in dieser Frage vom kritischen Kant. Schellings »intellektueller Anschauung«, die als ein genetisches Verfahren ihren Gegenstand in ein reines Werden auflöst, steht Cassirer skeptisch gegenüber. 365 Bekanntlich hatten Hegel und Schelling in ihrer »philosophischen Frühzeit« geglaubt, daß »der einzige Weg, sich des Absoluten als Gegenstandes der Philosophie zu bemächtigen«, der Weg der intellektuellen Anschauung ist. Den Bruch mit diesem Irrglauben bringe dann 1806 die Phänomenologie des Geistes, deren an der Anschauungsphilosophie geäußerten Kritik Cassirer grundsätzlich zustimmt. 366 Auch Rickert formuliert zu der Zeit, als Cassirer diese Überlegungen im EP III niederschreibt, mit seiner Schrift Die Philosophie des Lebens (1920) eine analoge Kritik an der Bevorzugung der unmittelbaren Intuition gegenüber dem vermittelten Begriff. 367 Man ist sich mit Hegel darin einig: Wer im Geiste eines »Romantizismus« die Form des Begriffs als die Ausdrucks- und Daseinsform der Wahrheit »schmäht oder herabsetzt, der hat daher zugleich den eigentlichen Gehalt der Philosophie vernichtet. Wenn das Wahre in das gesetzt wird, was man als Anschauung oder als unmittelbares Wissen des Absoluten oder der Religion bezeichnet, – so ist damit an Stelle der Einsicht die bloße Erbauung getreten«. 368 Im Terminus der intellektuellen Anschauung werde der »dynamische Charakter des Denkens und des wahren Begriffs« verkannt. Doch auch nach der Abwendung Hegels von der Anschauungsphilosophie bleibt seine Logik für Cassirer die »Logik des intuitiven Verstandes; – eines Verstandes, der nur das außer sich hat, was er selbst aus sich erzeugt.« Für den kritischen Idealismus dagegen bedeutet die »Spontaneität des Verstandes« nicht die des Erschaffens, sondern die des Bestimmens. 369 Außerdem könne nach Hegel nur von der schon vollendeten »Anschauung des Ganzen« aus die Einseitigkeit der Teile überwunden werden, was das erst resultative Ganze doch wieder irrtümlich an den Anfang setzt. Unter Bezug auf Kant deutet Cassirer ideelle Anschauung und Begriffsarbeit als die »Doppelrichtung« in der Philosophie. Die Anschauung des echten Intelligiblen (Unbedingten) dürfe niemals rein spekulativ, unabhängig von der begrifflichen »Selbsterkenntnis von unten hinauf«

365

Ebd., 244, 255. »Die ›Phänomenologie des Geistes‹ bedeutet den endgültigen Bruch mit dieser methodischen Grundansicht. In der Wertschätzung und Wertordnung zwischen Begriff und Anschauung scheint sich jetzt eine völlige Umkehr vollzogen zu haben.« – Ebd., 291. 367 Rickert (1922: 3. Kap., 34–62). 368 EP III/ECW 4: 291. 369 Ebd., 352. 366

Lebensform und Lehrform (1916–1921)

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vollzogen werden. Deshalb lehnt er die einseitige Berufung auf irgendwelche »Erleuchtungen der Intuition« oder auf ein »psychologisches oder mystisches unmittelbares Evidenzgefühl« ab. Ohne Erfahrung und ihre Zergliederung samt folgendem geistigen Wiederaufbau ist das echte Intelligible (Unbedingtes) nicht zu fassen. 370 Mit anderen Worten, ohne die nüchterne »Arbeit des Begriffs« läßt sich die intellektuelle Anschauung nicht mit wirklichem Gehalt füllen. 371 Mehrfach weist Cassirer einen romantischen Lebensbegriff zurück, der jegliche Form, Bindung oder Gesetzlichkeit ausschließt. Mit dem Leben sei immer schon eine Zweiheit, eine Doppelbedeutung gesetzt. Die durch Schelling, der den »Lebensprozeß« als ein echtes Urphänomen auffaßt, welches von nichts mehr abgeleitet ist, erhobene Forderung nach »Indifferenz« dessen, was jenseits der sogenannten »Urdifferenz« liege, erscheint Cassirer jedoch als unergiebig, 372 da aus einer angenommenen Indifferenz die Differenz nicht logisch nachvollziehbar hervorgehe. Dennoch bescheinigt er Schelling ein Verdienst: »Diese Tendenz, das Leben der Natur nicht nur im Gedanken abzubilden, sondern es unmittelbar zu fassen und nachzuerleben, war es in der Tat gewesen, die Schelling über den wissenschaftlichen Naturbegriff Kants wie über den abstrakten ethischen Gehalt der Fichteschen Lehre hinausgetrieben hatte.« Allerdings sei er, indem er die Vermittlung des Begriffs verschmähte, noch weit gefährlicheren Medien verfallen: »Zwischen sein Denken und die Wirklichkeit schiebt sich immer von neuem gleichsam ein magischer Schleier«. 373 Dieses Bestreben, das Leben unmittelbar zu erfassen, schlage sich auch in der romantischen Staatstheorie nieder, die mit der Auffassung des »Absoluten als lebendiger Prozeß« und des Staates als »›Organismus‹ und ›Person‹« auf Schelling zurückgeht. Für den ist der Staat eine »Bildung ursprünglich und unbewußt waltender lebendiger Kräfte«. 374 Die romantische Staatswissenschaft strebe in der Person A. Müllers »aus der Sphäre des ›Begriffs‹ zur Unmittelbarkeit des ›Lebens‹ zurück.« Nach Müller wollen alle höheren Wissenschaften »›erlebt, nicht bloß erkannt und erlernt werden‹«. 375 Sein romantisches Verständnis will »›die ganze Lebenserscheinung eines Staates‹« nicht reflektierend, sondern aus dem

370

KLL: 447 f.; ECW 8: 403 f. EP III/ECW 4: 238. 372 Ebd., 225, 240 f. 373 Ebd., 273. 374 FF: 351 f.; ECW 7: 369 f. 375 Ebd., 355; ECW 7: 373. »Wie alle höheren Wissenschaften, so auch die Staatswissenschaften: sie wollen erlebt, nicht bloß erkannt und erlernt werden.« – Müller (1922: 16). 371

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miterlebten »Leben des Gedankens« heraus erfassen. Man führt einen Kampf gegen die rationalen Theorien vom Staate und gegen seine empirische rationale Zielbestimmung. 376 Die romantische Staatstheorie, die den Staat zum »Gewächs« des Volksgeistes macht, ordnet damit das Moment der Freiheit immer mehr dem der Notwendigkeit (Form) unter. Diese Konsequenz, die Freiheit und die Autonomie der zwingenden Notwendigkeit zu opfern, dürfte Cassirer philosophische Vorbehalte gegenüber der Romantik und der Lebensphilosophie genährt haben. Die Kritik am rationalen Begriff, die das Ziel verfolgt, das »geschichtliche Leben des Staates« in seiner ganzen Fülle auszuschöpfen, richte sich nämlich nicht nur gegen die tote Abstraktion, sondern auch gegen die »reine Energie des Denkens«. Damit wird das Geistige folgerichtig durch unbewußte und irrationale Mächte zurückgedrängt, was den Sinn der anvisierten »Unendlichkeit des Lebens« mißverstehen läßt und zu seiner »Begrenzung und Erstarrung« führt. Die romantische Staatstheorie endet in der Realität letztlich damit, daß sie der »politischen Reaktion der Restaurationsperiode die Wege« bereitet. 377 Es ist vielmehr Hegel, der das »geschichtliche Leben« des Staates und seine rationale Begründung zu einer Synthese bringt, die jegliche Romantik und Irrationalität vermeidet. Die »Anschauung des geschichtlichen Lebens« führt ihn nicht mehr ins »Dunkel des Irrationalen« zurück, die Vernunft ist bei ihm als der »unendliche Stoff und die unendliche Form alles natürlichen und geistigen Lebens« zu erkennen. Und der Ertrag dieses Lebens der Vernunft stellt sich »im Staate dar«. Bei Hegel ist zudem das gesamte »System des öffentlichen Lebens« von der »lebendigen Individualität eines Volkes« aus zu begreifen. 378 Der romantischen Deutung des Lebens hatte außer Hegel auch der Ästhetiker Schiller widersprochen. Zustimmend stellt Cassirer fest, daß für diesen alles, was den Inhalt unseres Strebens nach Realität ausmacht, »Leben« ist, wobei die Forderungen der Form sich in der Gestalt eines Lebendigen zusammenfassen lassen. Damit ist z. B. in der Schönheit das »Leben zur Form, die Form zum Leben geworden. Sie ist ›lebendige Gestalt‹.« Die Betrachtung müsse sich zur »Freiheit des geistigen Lebens« erheben und dürfe »dieses Leben« nicht als ein bloß grenzen- und endloses, gestaltloses stehen lassen. »Leben« und »Gestalt« stellen einen Gegensatz dar, der sich bei richtiger Betrachtung als einheitliche »›lebendige Gestalt‹« erweist, was

376 377 378

FF: 355 f.; ECW 7: 373 f. Ebd., 356; ECW 7: 374. Ebd., 358 ff.; ECW 7: 378 f.

Lebensform und Lehrform (1916–1921)

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die Romantik mit dem von ihr favorisierten formlosen Leben nicht erfaßt und nicht zu erfassen vermag. 379 Auch bei der Bezugnahme auf die späte Wissenschaftslehre Fichtes, in der das Sein der Wahrheit innerlich als »absolutes Leben« (göttliches Leben) und äußerlich als geformtes, bestimmtes Dasein betrachtet wird, was zusammen die Wirklichkeit bilde, klingt bei Cassirer eine gewisse kritische Distanz durch. Zum einen, weil hier das jenseits allen Wissens geschaute ursprüngliche, göttliche absolute Leben als das wahre und einheitliche Leben gilt. 380 Zum anderen, weil die Wissenschaftslehre in Cassirers Augen nun, da sie die »Anschauung des einen wandelbaren und in sich ungebrochenen Lebens« zum Ziel hat, die Individualität aus dem Blick verliert. Der Begriff des »individuellen Lebens und Selbstbewußtseins« ist aus einer realen metaphysischen Potenz grundsätzlich nicht herzuleiten. 381 Hatte Cassirer noch mit dem Lebensbegriff sympathisiert, den Fichte in seinem frühen kritisch-ethischen Diskurs heranzieht, so weist er den im metaphysischen Diskurs formulierten Begriff des Lebens ab. Während ihm das Leben als ein Urphänomen gilt, an dem sich die Erkenntnis bescheiden muß, deutet der späte Fichte das metaphysische Absolute als die »ursprüngliche Form des Lebens«. 382 Ein Allem vorausliegendes Absolutes, d. h. ein freier Willen, eine absolute Vernunft vor aller theoretischen, praktischen und urteilenden Vernunft, worin Fichte das »wahre Leben des Geistes« gegründet sieht, kann für den kritischen Idealisten nicht zur Debatte stehen. 383 Schopenhauers Willenslehre, die das Phänomen des Willens, das wir als »unmittelbaren Inhalt des Erlebens« in uns vorfinden, zum Schlüssel für die Auslegung der Gesamtnatur macht, steht Cassirer ebenfalls ablehnend gegenüber. Sie lasse die Erkenntnis des Intellektes (die Vorstellung) in ihrer »rein biologischen Leistung« aufgehen, indem sie diese zum »Werkzeug für den schlechthin gebietenden Lebenstrieb« bestimmt. 384 Damit läßt diese Willenslehre die Erkenntnis auf dem »somatischen Leben des Organismus« beruhen, der selbst wieder auf dem metaphysischen »Willen zum Leben« fußt. 385 Dieser metaphysischen Lehre wird eine Erkenntnislehre entgegengestellt, für die bestimmte Grundurteile, keineswegs aber ein Ansichsein wie der »Wille zum Leben«, die letzte Instanz 379 380 381 382 383 384 385

Ebd., 300 f.; ECW 7: 317. EP III/ECW 4: 188, 181. Ebd., 184 f. Ebd., 189. Ebd., 192 f. Ebd., 404 f. Ebd., 414.

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hinsichtlich der Geltung von Erkenntnisurteilen bilden. Um ein solches Ansichsein zu behaupten, würden nämlich diese Grundurteile bereits vorausgesetzt. Cassirer weist also einen metaphysischen, absoluten »blinden Willen zum Leben«, der als bewirkte Welt in Erscheinung tritt, ab. 386 Schopenhauers Versuch einer »genetischen Metaphysik« bleibe grundsätzlich problematisch, da er Willen und Intellekt trennt, anstatt beides als in Korrelation zu behandeln. Indem er beides in ein dinghaftes Verhältnis von Grund und Folge stellt, entwickelt Schopenhauer einen biologischen und entwicklungsgeschichtlichen Typus der Metaphysik, dem der kritische Philosoph nicht beizustimmen vermag. 387 Dennoch scheint Cassirer keine grundsätzlichen Einwände gegen die Annahme eines »ursprünglichen Lebens- und Weltgefühls« zu erheben. 388 Auch Schellings nicht unberechtigte Kritik am starren Weltbild der Dinge hatte Cassirer mit Verständnis von einem »universellen Mitempfinden mit der Natur«, von einem »romantischen Weltgefühl« getragen gesehen. 389 Offenbar vermag er auch Schopenhauers Lehre von der ästhetischen kontemplativen Erkenntnis bzw. der »künstlerischen Anschauung« (Kontemplation) zuzustimmen, die, weil sie sich vom Willen zum Leben befreit hat, das Wirken dieses Willens letztlich aufzuheben, zu negieren vermag. Cassirer selbst wird nämlich bald die kontemplative Anschauung der Formen als Alternative zur unmittelbaren, gebenden Intuition (Bergson, Husserl) entwickeln. Doch bedauerlicherweise schließe bei Schopenhauer die »Verneinung des Willens zum Leben« die Entwicklung des Wissens ab, »indem sie mit dem Sein auch die Erkenntnis als Reflex des Seins auslöscht«. 390 Eine solches Auslöschen des Seins der Welt und seiner intellektdualen Erkenntnis kann und will Cassirer nicht gutheißen. Die »Verneinung des Lebens überhaupt« meine bei Schopenhauer allerdings stets einen »Übergang eben dieses Lebens aus einer individuell-beschränkten in eine rein allgemeingültige Form«. 391

386 387 388 389 390 391

Ebd., 422. Ebd., 419 f. Ebd., 396. Ebd., 235, 237. Ebd., 424, 422. Ebd., 428.

dr ittes k a pitel

Denkformen und Lebensformen (1923–1925)

1 Lebensbegriff und Lebensphilosophie als Thema von wachsender Bedeutung Mit dem Blick auf das Hauptwerk PsF gelangen wir ins Zentrum der Debatte um Cassirers Verhältnis zum Begriff und zur Philosophie des Lebens. Obwohl Werle 1986, auf dem Züricher Symposion zu Cassirers PsF, das Interesse der Cassirerforschung auf die Nachlaßtexte des Jahres 1928 und ihre Stellungnahme zur zeitgenössischen Lebensphilosophie gelenkt hatte,1 ist diese Debatte im Grunde 1993 durch Orths Fest stellung initiiert worden, daß Cassirers Philosophie mit der Entscheidung in VM (1944), den Menschen als animal symbolicum zum Zentrum des Wirklichkeitsverständnisses zu erklären, ohne dabei aber die Begriffe der Kultur und des Lebens ihre tragende Bedeutung verlieren zu lassen, »sich nun endgültig einer kulturanthropologisch orientierten Lebensphilosophie zu nähern [scheint], die jedoch gegenüber der sogenannten Lebensphilosophie des späten 19. Jahrhunderts eher kritisch eingestellt ist«. 2 Die in der vorliegenden Arbeit präsentierten Rechercheergebnisse bekräftigen das Grundsätzliche dieser These ebenso wie die in ihr ausgesprochene Differenzierung. Außerdem haben sie eine weitere Überlegung Orths dem Anschein nach widerlegt, in Wirklichkeit aber untermauert. Mit der hatte er darauf verwiesen, daß »diese Tendenz in den späten zwanziger Jahren – 1928 mit dem [ . . . ] Entwurf eines vierten Bandes für die PsF [begonnen hatte], in welchem die durchaus ironischen Titel ›Metaphysik der symbolischen Formen‹ und ›Geist und Leben‹ eine wichtige Rolle spielen«. Wäre dies das entscheidende letzte Wort Orths geblieben, dann müßte ihm allerdings widersprochen werden. Doch er schränkt diese Aussage selbst insofern wieder ein, als er im Folgenden nachweist, daß Cassirer sich weniger an die moderne Lebensphilosophie annäherte als 1

Werle legt das Augenmerk auf die kritische, negative Einstellung Cassirers zur Lebensphilosophie, die er als Gegner ins Gespräch bringe, um »seine eigene Phi losophie und deren Dignität zu profi lieren«. (Werle [1988: 277, 280]) Frappante Ähnlichkeiten sehe Cassirer allein mit Bergsons Philosophie des Lebens. – Ebd., 282 f. 2 Orth (1993: 11).

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vielmehr von Anfang an für ihre Fragestellungen offen war. So habe er z. B. bereits in PsF I (1923) in den Termini Symbol, Kultur und Leben philosophiert und war folglich von einer rein szientifischen Denkweise weit entfernt. 3 Neben Urphänomen, Form, Symbol und Befreiung gehört Leben bei Cassirer zu den »Urworten«, die nicht zuletzt durch Goethe inspiriert sind. 4 Die Wichtigkeit des Lebensbegriffs für ihn konnte auch in den vorangegangenen Kapiteln der Arbeit belegt werden. Es kann inzwischen als gesicherte Tatsache gelten, daß Cassirer vor der Veröffentlichung bzw. vor dem Abfassen seines Hauptwerkes PsF vielfach und in Variationen mit dem Begriff des organisch-vitalen und geistigen Lebens arbeitet, der ihm sowohl in den rezipierten historischen Systemen als auch in zeitgenössischen Werken (Dilthey) entgegentritt. Gleichzeitig polemisiert er von Anfang an gegen die Ansprüche des Intuitionismus (Unmittelbarkeit des Gegebenen) und des Biologismus (Leben als Wille zur Macht). Die eigenständige Strömung der Lebensphilosophie, die nicht zuletzt spätestens mit Schelers 1913/14 veröffentlichten Beitrag 5 in sein Blickfeld getreten sein muß, thematisiert er dennoch nicht oder nur sehr zurückhaltend. Der Band EP III (1919/20) scheint in dieser Frage aber eine gewisse Wende einzuleiten, da hier, wie oben dargelegt, der frühe Deutsche Idealismus als Philosophie des Lebens auftritt. Auch die von Cassirer aufmerksam verfolgte zeitgenössische Goetherezeption wirft das Lebensthema auf. Obwohl nicht bestritten werden kann und soll, daß Cassirer – gemäß seinen konzeptionellen Absichten – im Jahr 1928 eine für ihn beispiellos intensive Befragung der zeitgenössischen Lebensphilosophie beginnt, die eine gewachsene Bedeutung des Lebensbegriffs für sein eigenes Philosophieren offenbart, wird aber der Nachweis geführt, daß er bereits zu Beginn der 20er Jahre die moderne Philosophie des Lebens samt ihrem zentralen Thema als das vorherrschende philosophische Problem deutet und behandelt. Deshalb setzen wir den Beginn »dieser Tendenz« nicht in die »späten zwanziger Jahre«, sondern vielmehr in die frühen 20er. Im Folgenden wird zunächst eine Erklärung dieser gesteigerten Aufmerksamkeit Cassirers für das Lebensthema versucht, wobei nochmals zu betonen ist, daß dem die grundsätzliche Offenheit und Interessiertheit schon lange vorherging. Das größere Interesse hat zunächst mit der Stimmung zu tun, in der z. B. sein ehemaliger Berliner Lehrer und Kollege Simmel 1918 den Be3 4 5

Ebd., 11 ff. Krois (1995: 300). Scheler (1972a).

Denkformen und Lebensformen (1923–1925)

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griff des Lebens als den »Zentralbegriff« der aktuellen »Kulturepoche« gedeutet hatte. 6 Cassirer selbst beschreibt später diese ebenfalls wahrgenommene Lebensstimmung der Nachkriegsjahre einmal sehr plastisch, um zu erklären, weshalb Spenglers Untergang des Abendlandes einen solch unbeschreiblichen Erfolg erlangen konnte. 7 Er erwähnt allerdings Simmels Schriftchen Der Konflikt der modernen Kultur namentlich erst in den vorbereitenden Materialen zu den Texten von 1928, die die PsF als IV. Teil beschließen sollten. 8 Gewiß haben auch Rickerts Buch über die Philosophie des Lebens als einer »Modeströmung« (1920) 9 und seine Besprechung durch Frischeisen-Köhler in den Kant-Studien (1921) eine gewisse Wirkung hinterlassen. Sie könnten bei ihm den Eindruck bestärkt haben, wonach die »moderne Philosophie« eine »›subjektive‹ Wendung« vollzogen hat, die sie dazu führte, die »Gesamtheit ihrer Probleme [ . . . ] im Begriff des Lebens zu zentrieren«. 10 Die Kenntnis des Rickertschen Buches tut er ebenfalls erst in den speziell der Lebensphilosophie gewidmeten Texten von 1928 kund. 11 Seine Besprechung durch FrischeisenKöhler erwähnt Cassirer allerdings bereits in einer Aufzeichnung, die etwas ungenau auf die Jahre 1921 bis 1927 datiert wird. 12 Der langjährige Kollege aus Berliner Universitätszeiten13 dürfte seine Aufmerksamkeit für die Lebensphilosophie durchaus bekräftigt haben. In früheren Schriften, die Cassirer 1913 bespricht,14 hatte FrischeisenKöhler zumindest keinen Hehl aus seiner Nähe zu Diltheys lebensphilosophischen Positionen gemacht. Einige Feststellungen und Erwägungen, die er 1921 im Zusammenhang mit Rickerts Kritik an der Begriffsfeindlichkeit der modernen Lebensphilosophie formuliert, lesen sich wie Fingerzeige für Cassirers nunmehrige Haltung zur Lebensphilosophie. So hält Frischeisen-Köhler dem Neukantianismus pauschal vor, sich schroff abweisend zur lebensphilosophischen Bewegung zu verhalten, was als wissenschaftliche Kritik nicht ausreiche. 15 Dies wird Cassirer bald durch eine sachlich-würdigende Kritik Bergsons, Klages’, Spenglers, Simmels und Schelers zu entkräften suchen. Er ist weiter der Meinung, 6

Simmel (1999, GA 16: 186 f.). MS: 378 f. 8 ECN 1: 217 f. (Konvolut 184a – ca. 1928). 9 Rickert (1922). 10 PsF I: 48; ECW 11: 46. 11 ECN 1: 8 (Konvolut 184b – 1928). 12 Ebd., 266 (Konvolut 107 – ca. 1921–1927). 13 Siehe dazu Krois (1994: 15). 14 Siehe den Beitrag »Erkenntnistheorie nebst Grenzfragen der Logik« in: EBK: 3–76, 27 ff.; ECW 9: 139–200, 159 ff. 15 Frischeisen-Köhler (1921, 112 f.). 7

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Rickerts kritische Prüfung und Abweisung der intuitionistischen und biologistischen Begriffe des Lebens, von der sich Cassirer in vielem bestätigt sehen kann, werde den Intentionen ihrer einzelnen Vertreter wie Bergson, Dilthey oder Husserl oft nicht gerecht. Außerdem müsse man sich auch mit der Richtung Euckens auseinandersetzen, die von »dem geistesgeschichtlichen Leben des Menschen ihren Ausgang« nimmt. 16 In dem Zusammenhang würdigt Frischeisen-Köhler bereits 1921 Simmel als einen Lebensphilosophen, der mit seinem Begriff des geistigen Lebens wesentliche Schranken dieser philosophischen Strömung überschreite. Er hält nämlich alle »Versuche, vom Begriff des Geistes aus den des Lebens zu vertiefen, in besonderem Maße darum für erforderlich, weil durch den Begriff des Geistes das Philosophieren über das Leben« gerade die von Rickert geforderte »Ergänzung durch das ›Andere‹«, d. h. durch den Begriff oder die Form, erfahren kann. »Dies fortschreitend immer deutlicher erkannt und herausgearbeitet zu haben, macht [ . . . ] vor allem die Bedeutung Simmels aus«. 17 Mit dieser Einschätzung könnte er Cassirer ebenfalls beeinflußt oder angeregt haben. Seine sich anschließende Feststellung, Simmel thematisiere in seinem letzten Werk Lebensanschauung nicht nur die Antinomie von Leben und Form, sondern habe hier auch den Versuch unternommen, »in seinem Begriff von Leben den Bezug auf die Idee, die Setzung ideeller [ . . . ] Welten hineinzunehmen, durch welche das Leben [ . . . ] von der Stufe der Vitalexistenz zu der des Geistes sich erhebt«, kehrt sinngemäß als eine würdigende Auslegung 1928 bei Cassirer wieder. 18 Grundsätzlich umspannt für Frischeisen-Köhler das »Problem der Lebensphilosophie« auch das der »Philosophie des geistigen Lebens«, weshalb eine »positive Fortführung der Lebensphilosophie« auf dem Gebiet des »geistig-geschichtlichen Lebens« Sinn mache. 19 Auch diese These erlaubt in gewissem Sinne einen Vorblick auf die Philosophie der symbolischen Formen und ihr Verhältnis zum Problem des Lebens. Und wenn Frischeisen-Köhler Widerspruch erhebt gegen Rickerts Diagnose dessen, was die kritische Philosophie als eine bloße Erkenntnislehre von der Lebensphilosophie lernen könne, weil diese die Exzesse des Rationalismus ausgleicht bzw. auf sie aufmerksam macht, scheint er erneut Cassirer einen Fingerzeig zu geben. Zudem wird hierbei deutlich, daß er – ähnlich wie Cassirer auch – die Philosophie als »universale Wissenschaft vom Weltganzen« versteht und den überholten

16 17 18 19

Ebd., 125 f. Ebd., 127. ECN 1: 10 ff. Frischeisen-Köhler (1921: 128, 138).

Denkformen und Lebensformen (1923–1925)

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engen kritizistischen Begriff der Philosophie als bloßer Erkenntniskritik ablehnt. Fast scheint es regelrecht auf Cassirer gemünzt zu sein, wenn er ausführt, daß dann, wenn die kritische Philosophie ihre Fragestellung auf »alle Gebiete der Kultur« ausgedehnt hat, auch eine »periodische Erweiterung des jeweiligen Materials für ihre Probleme« diese nicht mehr beeinträchtigen könne. 20 Zum einen biete die moderne Lebensphilosophie selbst so eine Erweiterung, zum anderen sei eine »wahrhaft kritische Philosophie« sich des notwendigen Bezuges auf das »geistige Leben«, das stets irrational ist, immer bewußt. Doch Frischeisen-Köhler geht noch weiter und fordert, beabsichtigt oder nicht, Cassirer regelrecht heraus. Er ist nämlich bereit, die Kopernikanische Drehung Kants zurückzunehmen und die Philosophie sich wieder unmittelbar der Wirklichkeit selbst und nicht mehr bloß der Erkenntnis der Welt zuwenden zu lassen. In diesem Zusammenhang gewinnt für ihn gerade die Lebensphilosophie eine ganz einzigartige Bedeutung, da es ihr »in erster Linie um Durchbrechung der auf Erkennen des Erkennens eingeschränkten kritischen Haltung« geht. Die Tatsache, daß die Lebensphilosophie »an die Sachen selbst heran« will, die er mit dem von Simmel gebrauchten Begriff einer »neuen Axendrehung der gesamten philosophischen Einstellung« umschreibt, erschüttert in seinen Augen die bisher feste Position des Kritizismus nachhaltig. 21 Doch sei dieser selbst bereits in sein kritisches Stadium eingetreten, was sich u. a. an der Hinwendung der Marburger (Natorp) »zu einer Metaphysik in Annäherung an Hegel« zeigt. Damit wiederhole sich die Überwindung des Kritizismus im lebensnahen Deutschen Idealismus. 22 Als interessant für unsere eigene Fragestellung das Philosophieverständnis Cassirers betreffend erweist sich hieran nicht nur, daß auch Frischeisen-Köhler die Beschränkung der Philosophie auf die »allgemeingültigen, logisch-formalen Erkenntnisse« als überholt ansieht und daß er – wie Cassirer – die Arbeit an einem System des Wissens fordert, welches sich an Hegels Systemidee in der Phänomenologie des Geistes orientiert. Diese Systemidee ist seiner Meinung nach zudem mit der modernen Lebensphilosophie durchaus vereinbar. 23 Dabei ist auch ihm bewußt, daß Hegel, der in jungen Jahren »zu den Lebensphilosophen« zu rechnen war, 20

Ebd., 133. Ebd., 134 f. 22 »Die Lebensphilosophie mag eine Modeströmung sein; aber sie ist doch zugleich ein Anzeichen für ein tiefes Sehnen unserer Zeit nach einer inhaltlichen, sachlichen Auffassung des Wirklichen, dem weder die positivistische noch die kritizistische Zurückhaltung [ . . . ] Genüge gewährt.« – Ebd., 135. 23 Ebd., 136 f. 21

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in der Vorrede zu diesem Werk schroff gegen die lebensphilosophische Unmittelbarkeit polemisiert hat; eine Polemik, auf die Cassirer mehrfach aufmerksam macht. 24 Doch sogar Rickert, so fährt Frischeisen-Köhler fort, gesteht zu, daß selbst die Phänomenologie des Geistes noch »Gemeinsamkeiten mit den [lebensphilosophischen – C. M.] Modetendenzen zeigt«, so etwa in den Begriffen der »lebendigen Substanz«, des »organischen Ganzen« oder des »inneren Lebens« des Daseins als einer dialektischen Selbstbewegung des Begriffs. 25 Außerdem sehe sich die »moderne Lebensphilosophie«, wie sie von Dilthey oder Misch vertreten wird, »zu den Aufgaben einer dialektischen Logik fortgeführt«. 26 Den Verweis auf die Bedeutung des Begriffs oder des Problems des Lebens in der Philosophie des deutschen Idealismus könnte Cassirer, wie das EP III zeigt, ohne Einschränkung unterschreiben. Mit Blick auf die dokumentierte Vorgeschichte in seinem frühen Werk und auf die Stimmungen bzw. Anregungen, die er aus ihm vertrauten Kreisen erfährt, können die drei zwischen 1922 und 1927 verfaßten und bis 1929 veröffentlichten Teile der PSF, einschließlich ihres unveröffentlichten vierten Teils (1928), als ein Gegenentwurf zur lebensphilosophischen Lösung philosophischer Grundprobleme bzw. zu entsprechenden Ansprüchen ausgelegt werden. Gleichzeitig sollten die drei Teile der PsF aber auch als ein Versuch gelesen werden, ihrer insbesondere in den 20er Jahren empfundenen philosophischen Bedeutung, einschließlich der Bedeutung des Begriffs vom Leben, gerecht zu werden. Dabei betonen die 1928er Manuskripte – und der Schelers Anthropologie gewidmete Vortrag von 1929 – den Anteil der Lebensphilosophen an den Problemaufwerfungen und ihre Nähe zu den selbst favorisierten Problemlösungen nur stärker als die drei veröffentlichten Bände der PsF. Ist es deshalb angebracht, alle vier Teile des Hauptwerkes als ein Stück in den Blick zu nehmen und in einem Kapitel abzuhandeln? Unsere Recherche legt eine andere Verfahrensweise nahe, die dem Verhältnis von Kontinuität und qualitativer Wendung in Cassirers Haltung zum Problem des Lebens bzw. zur Lebensphilosophie gerechter wird. Mit den 1928 verfaßten Texten, die das Hauptwerk beschließen sollten, vollzieht er keine plötzliche Wendung hin zur Lebensphilosophie, sondern hier kulminiert vielmehr eine Entwicklung, die aus der frühen Periode herrührt und die in den 1923 und 1925 veröffentlichten PsF I/II verstärkt greifbar ist. In beiden Büchern hatte er u. a. betont, daß die Vorarbeiten 24 25 26

FF: 352, 361; ECW 7: 370, 379; EP III/ECW 4: 293. Frischeisen-Köhler (1921: 137). Ebd., 138.

Denkformen und Lebensformen (1923–1925)

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und Entwürfe zur Philosophie der symbolischen Formen bis auf die Untersuchungen in SuF (1910) 27 und auf die Arbeit am EP III (1919) 28 zurückreichen. Das führt uns folglich auch auf die in diesen Zeiten angestellten Überlegungen zum Begriff des Lebens. Genau genommen hat Cassirer bereits im Vortrag über den »Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften«, der 1921/22 erstmals die zukünftige Philosophie der symbolischen Formen begründet, für sich die Beziehung von Leben und Form im lebendigen Geist grundsätzlich geklärt. 29 Über die gesamten 20er Jahre vertieft er die bereits in den frühen Schriften gewonnen Einsichten in den strukturellen (funktionalen, bestandmäßigen) Zusammenhang zwischen dem Leben des Geistes und der symbolischen Form des Geistes. Außerdem spricht er in unterschiedlichen Bedeutungen vom Leben bzw. dem Problem des Lebens. Dabei bleibt es ohne Zweifel bemerkens- und aufklärungswert, daß er in den 20er Jahren im Begriff des Lebens den »zentralen Problembegriff« der zeitgenössischen Philosophie sieht. Die Jahre 1928/29 bilden zwar den Kulminationspunkt dieser Thematisierung, aber auch danach, so zwischen 1937 und 1941 oder 1944/45, kehrt Cassirer gezielt zum Problem des Lebens zurück. Gewiß hat dies auch damit zu tun, daß Philosophie und Weltanschauung des Nationalismus dem Leben in einer klar antirationalen Konnotation einen zentralen Platz einräumen. Dennoch kann aus gutem Grund sehr wohl von einer Wendung Cassirers in Bezug auf das Problem des Lebens gesprochen werden, allerdings erfolgt diese nicht von der Thematisierung im veröffentlichten III. zu der im unveröffentlicht gebliebenen IV. Teil der PsF. Sie wird vielmehr mit der Abfassung von PsF III (Phänomenologie der Erkenntnis) im Laufe des Jahres 1927 vollzogen, wenn er die bereits 1923 entworfene allgemeine Theorie der Ausdrucksfunktionen des Geistes um eine Phänomenologie der Ausdruckswahrnehmung bzw. der Ausdrucksphänomene erweitert, oder besser, unterbaut. 30 Die Ausdruckswahrnehmung wird von ihm nunmehr mit dem »Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹« identifiziert. Ihr entspringen alle übrigen geistigen Funktionen bzw. Formen, in denen sie selbst auch niemals ganz versiegt. Damit modifiziert

27

PsF I: V; ECW 11: VII. PsF II: XIII; ECW 12: XV. 29 »Für die Philosophie [ . . . ] kann daher niemals das Leben selbst, vor und außerhalb aller Geformtheit, das Ziel und die Sehnsucht der Betrachtung bilden; sondern für sie bilden Leben und Form eine untrennbare Einheit. Denn erst durch die Form und ihre Vermittlung nimmt die bloße Unmittelbarkeit des Lebens die Gestalt des Geistes an«. – WWS: 200; ECW 16: 104. 30 Siehe dazu Möckel (2003c). 28

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sich auch Cassirers Verhältnis zur zeitgenössischen Lebensphilosophie. Obwohl er, wie bereits erwähnt, schon zu Beginn der 20er Jahre in der Lebensphilosophie – einschließlich der philosophischen Anthropologie – die wichtigste Repräsentantin der »modernen Philosophie« sieht, eröffnet sich ihm aber 1927 mit der Ausarbeitung seiner Phänomenologie der Ausdrucksphänomene als dem genealogischen und systematischen »Urboden« aller geistig-symbolischen Leistungen ein neuer Zugang zu dieser zeitgenössischen Philosophie. Sie wird nun als eine Richtung wahrgenommen, deren Vertreter wie Klages oder Spengler Verdienste um die Ausarbeitung der Ausdrucksphänomene und ihres symbolischen (physiognomischen) Charakters haben. Deshalb würdigt Cassirer insbesondere seit 1927 deren systematische Nähe zur eigenen Philosophie der symbolischen Formen. Aus dem Grunde erscheint es für die vorliegende Darstellung angebracht, die PsF III und die unveröffentlicht gebliebenen Texte des Jahres 1928 in einem eigenen Kapitel IV zusammenzufassen.

2 Allgemeine Ausdruckstheorie des lebendigen Geistes: Kultur Als Cassirer gegen 1918 damit beginnt, die Problemstellungen gezielt auf geisteswissenschaftliche auszuweiten, sieht er sich gezwungen, die noch in SuF vertretene, an der mathematischen Naturwissenschaft orientierte Erkenntnistheorie zu einer Theorie vielfältiger ideeller Auffassungsweisen zu erweitern. Daraus geht eine »›Formenlehre‹ des Geistes« hervor, wobei unter Geist »die Gesamtheit seiner Funktionen« zu verstehen ist. 31 Diese Formenlehre erfaßt die »verschiedenen Grundformen des ›Verstehens‹ der Welt« und grenzt sie voneinander ab. In der Konsequenz entsteht der »Plan einer allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen«, 32 welche die lebendige Subjektivität ausmachen, worunter die »neuere Philosophie« eine neuartige, universelle »Auffassung der Spontaneität des Geistes« versteht, »die sich gleich sehr als Spontaneität des Gefühls und des Willens, wie als solche der Erkenntnis erweist«. 33 Diese allgemeine Ausdruckstheorie, die nicht zu deduzieren, sondern aus dem Bestand der Erfahrung herauszuarbeiten ist, eröffnet ein Philosophieren vom Standpunkt des »Systems der geistigen Ausdrucksformen«, das zunächst die Grundformen Mythos, Sprache und Wissenschaft umfaßt. 34

31 32 33 34

PsF I: V, 236; ECW 11: VII, 237. Ebd., V; ECW 11: VII. Ebd., 90; ECW 11: 88. PsF II: VIII; ECW 12: X.

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Dieses in den drei Teilen des Hauptwerkes entwickelte System nimmt die Gestalt einer Philosophie der symbolischen Formen an und erschließt letztlich das Ganze des geistigen Kulturlebens. Die symbolischen Formen werden als geistige Ausdrucksformen und damit als Auffassungsweisen gedeutet, die in einer Stufenfolge aus der unmittelbaren Welt des Lebens die geistige Kultur als ein System verschiedener Sinn- und Bedeutungsganzheiten ausbilden. 35 In jeder dieser Auffassungsweisen wird die »passive Welt der bloßen Eindrücke« zu einer »Welt des reinen geistigen Ausdrucks« umgebildet. Jede innere Anschauung muß gleichzeitig eine Äußerung einschließen, weil das innere Bild seinen Gehalt erst dadurch gewinnt, »daß es sich zum Werk zusammenfaßt und im Werk nach außen tritt«. 36 Das Ausdrucksverhalten führt tief ins Lebensphänomen zurück, ursprünglich drückt sich »jede Erregung des Inneren« zunächst »in einer leiblichen Bewegung aus«, 37 später gilt dies von allen geistigen Gehalten. 38 Das Leben äußert sich somit in den Formen des Geistes, die ihm einen Widerstand entgegen bringen. Ausdrucksverhältnisse sind deshalb als »Formprozesse« zu begreifen. 39 Die ideelle Form als der Gehalt des Geistes, der sich allein in seinen Äußerungen erschließt, bedient sich zu seinem Ausdruck der sinnlichen Zeichen. 40 Auf diese Weise bekundet sich die reine, ideelle Aktivität des Geistes in »Systemen sinnlicher Symbole«, die mit einem »Objektivitätsund Wertanspruch« auftreten. 41 Jede symbolische Form, die von einer eigentümlichen Energie des lebendigen Geistes getragen wird, besitzt einen eigen »Ausdruckswillen«. 42 Der systematische Überblick über die verschiedenen Richtungen des Ausdruckswillens führt auf eine »Art Grammatik der symbolischen Formen«. 43 Zum »Wesen jeder echten geistigen Ausdrucksform« gehört eine innere »Dynamik«, die den scheinbaren Gegensatz von Innerlichem und Äußerlichem und damit von subjektivem Leben und objektiver Kultur (bzw. Welt überhaupt) verflüssigt. 44 Alle »geistigen Ausdrucksformen«

35

PsF I: 11, 102; ECW 11: 9 f., 101. PsF III, 47; ECW 13: 45. 37 PsF I: 127; ECW 11: 124. 38 Das gilt nicht nur für die einzelnen Bewußtseinsgehalte, sondern auch für den Gesamtprozeß, »kraft dessen aus der ›unmittelbaren‹ Einheit des Lebens die Welt des Geistes, als eine Welt von Vermittlungen, hervorgeht.« – PsF III: 47; ECW 13: 45. 39 Schwemmer (1997: 123). 40 PsF I: 18 f.; ECW 11: 16 f. 41 Ebd., 21; ECW 11: 19. 42 PsF II: 282; ECW 12: 276. 43 PsF I: 19; ECW 11: 17. 44 PsF II: 123; ECW 12: 117. 36

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vollbringen nämlich die Leistung, bei der Objektivierung eines rein innerlichen Erlebens zu einer äußerlichen Erfahrung45 die Anschauung des Äußeren mit innerlichen Bestimmungen zu durchsetzen. »Selbst dort, wo die Betrachtung sich ganz im Kreise des ›Äußeren‹ zu bewegen scheint, ist daher in ihr immer noch der Pulsschlag eines inneren Lebens fühlbar«. 46 Nach dieser Einsicht hängt, wie er bereits 1923 betont, jeder Ausdrucksform des Geistes immer noch ein emotionaler Charakter, ein Pulsschlag des subjektiven Erlebens an. 47 Damit ist im Grunde der Zusammenhang von Ausdruck und Leben bereits hergestellt. Für die allgemeine Ausdruckstheorie geistiger Formen und Bedeutungen realisiert sich dieser unauflösliche Zusammenhang von Ausdruck und Leben u. a. in den Zeichen, die als eine »Energie des Inneren« entschlüsselt werden, die sich »in einem Äußeren ausprägt und objektiviert«. 48 Durch die Art der Auffassung gewinnt das sinnliche Zeichen (physisches Material) ein neues »geistiges Leben«, weil das, »was es unmittelbar ist«, gegenüber dem, »was es mittelbar leistet und ›besagt‹«, zurücktritt. 49 Im Weiteren verbindet Cassirer den Zeichencharakter der geistigen Ausdrucksformen mit der »Urfunktion der Repräsentation« des Bedeutungsganzen, der die »Grundfunktion des Bedeutens« zugrundeliegt. 50 Die somit symbolisch fungierenden Zeichen dienen ausschließlich als Mittel des »Ausdrucks für bestimmte Bedeutungskomplexe«. 51 Der damit vollzogene Aufbau eines »Verweisungszusammenhanges ist eine produktive Leistung des Bewußtseins«, und als solche ein Urphänomen. 52 Mit dem Fortschreiten der symbolischen Medien (Sprache, empirisches Weltbild) im Struk-

45

Unter Objektivierung versteht Cassirer das Verfahren, ein Individuelles zum Allgemeinen zu erheben, wobei es einen »eigentümlichen ideellen Gehalt« empfängt. – PsF I: 8 f.; ECW 11: 7. 46 PsF II: 128; ECW 12: 122. 47 PsF I: 93; ECW 11: 91. 48 Ebd., 25; ECW 11: 23. 49 Ebd., 27; ECW 11: 25. In dem Vortrag »Der Begriff der symbolische Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1921/22) hatte Cassirer ausgeführt, daß »unter einer ›symbolischen Form‹ [ . . . ] jede Energie des Geistes verstanden werden [soll], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeigent wird.« – WWS: 175; ECW 16: 79. Rudolph hat nun darauf aufmerksam gemacht, daß Cassirer hier »den Begriff des Symbols in einem sehr eigentümlichen Sinne« verwendet: »In diesem Symbolbegriff fallen Zeichen und Bezeichnetes, Signum und Signifi kat approximativ zusammen.« – Rudolph (1999: 15). 50 Sandkühler legt Wert auf die Feststellung, daß Cassirer einen neuen, »veränderten Begriff der Repräsentation« an die Stelle der alten »Abbildtheorie der Repräsentation« setzt. – Sandkühler/Pätzold [Hrsg.] (2003: 83 f.). 51 PsF I: 42 f., 34; ECW 11: 40 f., 32. 52 Schwemmer (1997: 92).

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turganzen der Erkenntnis geht der direkte Zusammenhang zwischen auszudrückender (innerer/äußerer) Wirklichkeit und symbolischem Zeichensystem als dem Mittel dieses Ausdrucks immer mehr verloren. Am Ende sind z. B. die Sprachlaute zu bloßen »Bezeichnungs- und Bedeutungslauten« geworden, ihr materialer, sinnlicher Lautklang hat mit dem durch sie bezeichneten Inhalt nichts mehr gemein. 53 So, wie jede Energie des Lebens einen eigenen Ausdruckswillen besitzt, sind jeder der »selbständigen geistigen Grundfunktionen« (Sprache, Kunst, Mythos, Wissenschaft) ihre speziellen »Ausdrucksformen und Ausdrucksgesetze« eigen. 54 In dem sich abzeichnenden System der Kultur, das sich als ein »Ganzes des geistigen Lebens« erschließt, nehmen alle Ausdrucksformen eine autonome Stellung ein. 55 Die symbolischen Gestaltungen des Geistes, in einzelnen Energien gründend, bilden niedere und höhere »Stufen« der kulturellen Wirklichkeit und machen so die »geistige Kultur« aus. 56 Diesen Prozeß der Kulturkonstitution als einer Stufenfolge autonomer geistiger Ausdrucksformen und Ausdrucksgesetze bezeichnet Cassirer in Anlehnung an Hegels Phänomenologie des Geistes als das »konkrete Leben des Geistes«. 57 Der lebendige Geist gilt ihm dabei als das »Subjekt des Kulturprozesses«, welcher sich in den »konkreten Grundform[en] des geistigen Lebens« vollzieht. 58 Die Tätigkeiten des lebendigen, sich in bestimmten Formen ausdrükkenden Geistes konstituieren sowohl das, was wir ideell-begrifflich und konkret-geschichtlich »Menschheit« nennen, als auch die bedeutungsbesetzte Wirklichkeit überhaupt. 59 Die sich so konstituierende Menschheit lebt in »ganz verschiedenen Lebens- und Kulturkreisen«. Als ein solcher Kulturkreis gilt Cassirer die »staatlich-religiöse Lebensordnung« Chinas, als eine andere die sich davon unterscheidende Kultur Indiens. 60 Er

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PsF I: 138; ECW 11: 136. Schwemmer hält hier Cassirer entgegen, daß er die »Materialität dieser Symbolismen« nicht sieht und so vernachlässigt. – Schwemmer (1997: 49). 54 PsF I: 125; ECW 11: 123. 55 Ebd., VII, 8; ECW 11: IX, 6. 56 Ebd., 11; ECW 11: 10. 57 Ebd., 15; ECW 11: 13. 58 Ebd., 18, 47; ECW 11: 16, 45. 59 PsF II: 18; ECW 12: 16. 60 Ebd., 127, 156; ECW 12: 121, 151. Den Terminus »Lebensordnung« verwendet Cassirer in den Jahren 1923–1925 nur einmal in PsF II. In vergleichbarem Sinne – als »gesellschaftliche Lebensordnung«, »patriarchalische Lebensordnung« – fi ndet er sich etwa zur gleichen Zeit in Plessners 1923 verfaßter Schrift Grenzen der Gemeinschaft (Plessner [2002: 12, 17, 26, 115, 121]) und – als »vernünftig-sittliche Lebensordnung im allgemeinen« – in einem nachgelassenem, 1923 niedergeschriebenem Text Husserls. – Husserl (1997: 224).

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spricht auch von verschiedenen »Kulturstufen« menschlichen Lebens. 61 Offensichtlich mit Blick auf Spenglers Theorie kultureller Symbole hält auch er Ausschau nach dem jeweiligen Symbol, das die ästhetische oder religiöse »Grundanschauung« eines Kulturkreises, einer Kulturstufe repräsentativ zum Ausdruck bringt. Vor dem Hintergrund seiner Theorie der symbolischen Ausdrucksfunktionen interessiert ihn auch »der typische Gegensatz der Denkweisen und der intellektuellen Gesamtstimmung« in den historischen Hochkulturen. 62 Sich gezielt Hegel versichernd hebt Cassirer die für den kulturellen Lebensprozeß charakteristische Besonderheit hervor, daß der Geist nicht nur in den von ihm selbstgeschaffenen Symbolen (Medien) »lebt«, sondern sie zunehmend als das »begreift«, was sie sind. 63 Die Tatsache, daß sich für die »Gesamtheit der geistigen Ausdrucksfunktionen« ihre Leistungen zunächst in durchaus »unbewußter Form« vollziehen, erläutert er 1925 an Hand einer Philosophie der Technik, die die Prägung der Außenwelt durch die sinnlich-leiblichen Organe des Menschen thematisiert. Nach und nach entnimmt der Mensch schließlich seinen geistigen Bildungen die »objektiven Maße, an denen er sich mißt und durch die er sich als einen selbständigen Kosmos mit eigentümlichen Strukturgesetzen begreift«. Dieses »Verhältnis zwischen dem ›Innen‹ und ›Außen‹« bildet »für das Verständnis aller geistigen Ausdrucksformen die Richtschnur«. 64 Einen wichtigen Ausblick auf sein Verständnis, das Leben und Geist nicht als absoluten Gegensatz, sondern vielmehr als zwei Richtungen, Dimensionen an ein und demselben faßt, bietet eine Formulierung aus dem Jahre 1923. Hier erscheint ihm der »dualistische Gegensatz« von Fluß und Fixierung der Bewußtseinsgehalte in der jeweiligen »konkreten Grundform des geistigen Lebens selbst« aufgehoben, weil sie beides auf eigentümliche Weise miteinander vermittelt. 65 Aus der Tatsache, daß sich eine jede »Grundform des Geistes« gelegentlich nicht nur als Teil der Wirklichkeit, sondern auch als ein Ganzes setzt und damit absolute Geltung für sich in Anspruch nimmt, was auf den Versuch hinausläuft, die »eigentümliche Prägung, die sie mit sich führt, der Gesamtheit [ . . . ] des geistigen Lebens aufzudrücken«, ergeben sich nach Cassirer die entschei-

61 62 63 64 65

PsF II: 134; ECW 12: 128. Ebd., 163; ECW 12: 159. Ebd., 34; ECW 12: 32. Ebd., 261, 264; ECW 12: 257, 260. PsF I: 47; ECW 11: 45.

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denden »Konflikte der Kultur und Antinomien des Kulturbegriffs«. 66 Dagegen erscheint ihm 1923/25 das von Simmel als tragischer Konflikt beschriebene Problem, daß subjektive und objektive Lebenslogik nicht mehr zur Deckung zu bringen sind, eher als ein Verstehensproblem. Cassirer sieht zudem jeden »echten Begriff der Realität« des Kulturlebens in »die Mannigfaltigkeit und Fülle der Formen des geistigen Lebens« aufgehen. Dabei bestimmt er geistiges Leben mitnichten als ein formloses, sondern als ein solches, »dem selbst das Gepräge der inneren Notwendigkeit und damit das Gepräge der Objektivität aufgedrückt ist«. 67 Die Gesamtheit der geistigen Ausdrucksformen bildet für ihn auch kein mechanisches Aggregat, sondern wird »als geistig-organische Einheit gedacht«. 68 Indem er betont, daß ihm die Grundfunktionen geistigen Ausdrucks als das »letzte Positive des Geistes und des Lebens« gelten, macht er auf das Übergreifende, nicht aber auf das Trennende von Geist und Leben aufmerksam. 69

3 Unmittelbarkeit des organischen und Mittelbarkeit des geistigen Lebens Die Begriffe »unmittelbar« und »mittelbar« benutzt Cassirer als relationale und damit relative Begriffe. 70 Was in einem konkreten Zusammenhang unmittelbar genannt wird, erweist sich in einem anderen als bereits vermittelt. So scheint dem sinnlichen Erleben eine ursprüngliche Unmittelbarkeit zugänglich zu sein, die sich erst in der kritischen Reflexion verliert. Deshalb ist das naive Leben in einer bestimmten Einstellung von der kritisch-reflexiven Analyse dieses Lebens bzw. dieser Einstellung zu unterscheiden. Diese Analyse legt aber frei, daß die erlebte Unmittelbarkeit in sich bereits geistig strukturiert, ideell auf ein Ganzes bzw. andere Relationen bezogen ist etc. Folglich erlebt das mythische Bewußtsein seine Inhalte zwar unmittelbar, erweist sich aber der Betrachtung gegenüber als ein geformtes, vermitteltes Erlebnis, eben als ein durch mediale geistige Energie oder Form konstituiertes. Nur in letztem Sinne beruht die Rede von der Unmittelbarkeit des Erlebens auf einem Irrtum. Aller-

66

Ebd., 13; ECW 11: 11. Ebd., 48; ECW 11: 46. 68 PsF II: VIII; ECW 12: XI. 69 Ebd., 7; ECW 12: 5. 70 Den relationalen Charakter der Begriffe in Cassirers Philosophie scheint Heidegger zu übersehen, wenn er die PsF II dafür kritisiert, daß hier die ontologische 67

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dings ist uns diese Lebensunmittelbarkeit allein in einer sie aufhebenden sprachlich-begrifflichen Form wissenschaftlich zugänglich. Deshalb weist Cassirer zwar die Rede der Lebensphilosophen von einer uns zugänglichen Unmittelbarkeit subjektiven Erlebens ab, spricht selbst aber mehrfach von der »unmittelbaren Einheit«, so, wenn er auf die »unlösliche Verflechtung« von Bedeutung und Bedeutungsträger in einer »elementaren Ausdrucksbewegung« bzw. im mimischen Ausdruck einer subjektiven Empfindung abzielt. 71 Die unmittelbare Einheit mimischen oder magischen Ausdrückens subjektiver Empfindungen trägt aber zugleich eine Zweiheit, eine Differenz in sich: Einerseits steht sie völlig in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens, andererseits geht sie über diese hinaus, vollzieht sie bereits eine erste geistige Repräsentation oder Darstellung. Die im Mythos erlebte Indifferenz zwischen sinnlichem Träger und mythischem Sinn nennt Cassirer gelegentlich auch eine »Unmittelbarkeit«, was aber keine formlose, sinnlose Unmittelbarkeit meint. Wir haben es bei Cassirers Thematisierung der Unmittelbarkeit des Lebens mit mindestens drei Aspekten zu tun. Der erste Aspekt hat das Problem der Vermitteltheit des scheinbar unmittelbaren Erlebens (Wahrnehmen) zum Gegenstand, weil es sich bereits um ein symbolisches Erfassen bzw. Aufbauen handelt. Das Bewußtsein des Menschen lebt zwar zuerst in einer »unmittelbaren Erscheinungswirklichkeit«, die unterliegt aber der »mythischen Auffassung und Umprägung«. 72 Im Vergleich mit der empirischen Wahrnehmungs- und Anschauungswelt befinden wir uns in ihr aber noch in einer »Sphäre der mythischen Unmittelbarkeit«. 73 Demgegenüber machen in dem später entwickelten und ausgebildeten Erfahrungsbewußtsein empirische Dinge und ein Komplex empirischer Eigenschaften die Welt aus. Bevor aber das Selbstbewußtsein ein sinnliches Bewußtsein, d. h. eine Wahrnehmungswelt mit »deutlich geschiedenen Wahrnehmungskreisen« aufbaut, was eine abstraktive Leistung und eine theoretische Bearbeitung des sinnlich Gegebenen voraussetzt, »lebt es in den Gebilden des mythischen Bewußtseins« und damit in »der Sphäre der mythischen Unmittelbarkeit«. 74 In gewissem Sinne kehrt das Problem wieder, »sofern wir außerhalb der Sphäre bewußter, kritisch-wissenschaftlicher »Verfassung und Seinsart« der Grundtermini Bewußtsein, Leben, Geist und Vernunft nicht aufgewiesen werden. – Heidegger (1991: 265). 71 PSF I: 126 f.; ECW 11: 125. 72 PsF II: 3; ECW 12: 1. 73 Ebd., Xf.; ECW 12: XIII. 74 Ebd.; ECW 12: ebd.

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Reflexion stehen«, denn dann »leben und sind« wir »beständig« in der »Welt unserer unmittelbaren Erfahrung«. Auch diese Welt enthält eine »Fülle von Zügen, die sich, vom Standpunkt ebendieser Reflexion, nur als mythisch bezeichnen lassen«. 75 Doch auch hier wie in der mythischen Unmittelbarkeit entfaltet sich bereits die Dialektik von »Bindung und Lösung«. 76 Auf den »untersten Stufen mythischen Denkens« scheint für Cassirer dieses Denken noch ganz dem »unmittelbaren Sinneseindruck hingegeben und vom elementarsten sinnlichen Triebleben beherrscht«. In Wirklichkeit findet sich auch hier bereits eine »Art Gliederung«, die aber nur dem reflexiven Bewußtsein zugänglich ist. 77 Auch die Welt der unmittelbaren Erfahrung des modernen Menschen erweist sich bei aller ihrer Lebensunmittelbarkeit ebenfalls als schon geistig geformte, gestaltete, aufgebaute Welt, trotz aller Beteuerungen und Beschreibungsversuche der Sensualisten. An anderer Stelle betont Cassirer die Differenz zwischen der mythischen Einstellung, in der die von ihr ergriffenen Gegenstände in einer individuellen Atmosphäre »leben« und gleichzeitig zur Transzendenz streben, und der alltäglichen Einstellung mit ihrer Wahrnehmung und vorwissenschaftlichen Erfahrung. Die mythischen Inhalte des Bewußtseins besitzen nämlich »eine gemeinsame Tönung, vermöge deren sie sich aus der Reihe des Alltäglichen und Gewöhnlichen, des gemeinen empirischen Daseins herausheben«. 78 Allen Gehalten, die diese Tönung besitzen, sei der »Charakter der ›Heiligkeit‹« aufgeprägt. 79 Eine radikale These stellt Cassirer mit der Behauptung auf, daß alle Bewußtseinsweisen, auch die scheinbar ausschließlich eindimensionale, Präsenz im Sinnlichen realisierende Wahrnehmung, sich als geformtes und symbolisch-repräsentierendes Bewußtsein erweisen. Erst als ein solches vollbringt dieses seine wesentliche und eigentümliche Leistung und konstituiert das »scheinbar ›Gegebene‹« durch bestimmte geistige Akte. 80 Dies geschieht, indem jede Bewußtseinsweise mit natürlichen und künstlichen Zeichen oder wenigstens mit Bildern einen Sinn ausdrückt, ihn symbolisiert. Nur ein Zeichen in Anspruch nehmendes Leben vermag sich zu medialisieren und objektivieren. Mit Hilfe der »künstlichen« sym-

75

Ebd., 19; ECW 12: 17. Ebd., 33; ECW 12: 31. 77 Ebd., 80 f.; ECW 12: 76. 78 Ebd., 94; ECW 12: 88. 79 Ebd., 95; ECW 12: 89. 80 Diese Akte werden von »irgendeiner primären bedeutungsgebenden Funktion« vollzogen. In dieser primären, den Sinneseindruck prägenden Funktion, nicht erst in jener sekundären besonderen geistigen Formung liegt »dasjenige, was das [ . . . ] Geheimnis jeder symbolischen Form ausmacht«. – Ebd., 117; ECW 12: 111. 76

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bolischen Sprachzeichen z. B. treten wir dem »fließenden Eindruck« feste Gestalten bildend gegenüber, wodurch der Eindruck für uns Dauer und Form gewinnt. 81 In der »symbolischen Funktion des Bewußtseins« findet damit ein grundlegender Gegensatz seine Darstellung und Vermittlung, nämlich der Dualismus zwischen der »Form des zeitlichen Geschehens«, d. h. der stetigen Veränderung, und der Form der Gestalt, d. h. der unbeweglichen Dauer. 82 So vollzieht sich in den symbolischen Formen eine Vermittlung von Leben und Geist: Der »lebendige, sich beständig erneuernde Prozeß des Bewußtseins« wird hier mit dem »geistigen Bestreben«, in diesem Prozeß bestimmte Halte- und Ruhepunkte zu gewinnen, vermittelt. Dieser »dualistische Gegensatz« erscheint in der Sprachform als einer »konkreten Grundform des geistigen Lebens selbst« aufgehoben. 83 Die »unmittelbare Einheit« der Gegensätze, mit der jede symbolische Form ihr Leben, ihre Stufenfolge beginnt, erscheint uns aber als »ein nachträgliches Werk der Abstraktion und Analyse«. 84 Immer wieder kommt Cassirer auf diesen Gegensatz zu sprechen, der auch als Bruch zwischen der unendlichen Konkretheit des emotionalen Lebens und der endlichen Fassungskraft des begrifflichen Denkens bzw. der Sprache von sich Reden macht. Wenn unter Leben die »subjektiven Gemütszustände« verstanden werden, dann kann die Sprache noch weit weniger als die »Unmittelbarkeit der Dinge« beanspruchen, die »Unmittelbarkeit des Lebens« zu ergreifen. 85 Für Cassirer ist es aber nicht hinnehmbar, die Sprache bzw. die Sprachform in einen solchen nahezu absoluten Widerspruch zu der »Fülle und Konkretion der sinnlichen Empfindungs- und Gefühlswelt« zu setzen. Liege doch der Wert der geistigen Gestaltung in der Sprache gar nicht in der »Nähe zum unmittelbarGegebenen, sondern in der fortschreitenden Entfernung von ihm«. Diese Distanz vom unmittelbaren Dasein und vom »unmittelbaren Erleben« ist die Bedingung seiner Sichtbarkeit, seiner geistigen Bewußtheit. 86 Die symbolische Form setzt diese Distanz und setzt sie gleichzeitig voraus, sie vollbringt die Distanzierung. Der zweite Aspekt steht für den historischen und systematischen Übergang von der Unmittelbarkeit des organischen Lebens zur Mittelbarkeit des geistigen Lebens. Dies meint den symbolischen Emanzipati-

81 82 83 84 85 86

PsF I: 43; ECW 11: 41. Ebd., 46 f.; ECW 11: 44. Ebd., 47; ECW 11: 45. Ebd., 126 f.; ECW 11: 124. Ebd., 136; ECW 11: 134. Ebd., 137 f.; ECW 11: 136.

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ons- und Erweiterungsprozeß, den der Mensch vom tierischen Dasein aus zur Kultur durchläuft und in dem er sich überhaupt erst als Mensch, als Wesen der Kultur, erschafft. Wir führen solange, wie wir fast distanzlos an unsere Umwelt angepaßt sind und in der »Unmittelbarkeit des Lebens« verharren, ein weitgehend tierhaftes Leben. Allein das Symbolvermögen erlaubt uns die schrittweise »Distanzierung«, Entfernung von der Unmittelbarkeit des Lebens, die, wenn sie durch nichts gebrochen, vermittelt wird, uns fest an sich bindet. Cassirer behauptet nun, daß wir den Bruch oder die Distanz zur unbedingten Einbindung in die vitale Lebensunmittelbarkeit mit den symbolischen Formen Sprache, Mythos und Kunst etc. ausfüllen und damit unsere Lebenswelt vermittelst dieser symbolischen Medien erfahren. Vom ursprünglich rein sinnlichen Sehen gelangen wir so zu einem geistigen »Sehen« der Wirklichkeit; ein Ausdruck, den er gern unter Berufung auf Goethe benutzt. Zwischen das unmittelbare Ich-Leben und die als Widerstand erfahrene objektive Gegenstandswelt schiebt sich, so seine These, das Reich der symbolischen Formen des lebendigen Geistes. Folglich befindet sich der Mensch mit seiner sich entfaltenden symbolischen Kultur auf »einem Weg zu immer weiteren Möglichkeiten der Befreiung des geistigen Lebens aus urtümlichen Zwängen«. 87 Während Simmel eher das schicksalhaft Tragische, Ambivalente dieses Prozesses ausspricht, legt Cassirer das Gewicht auf sein befreiendes, emanzipatorisches Potential, ohne damit jedoch seine Konflikte und Gefahren zu übersehen. Das eigentliche Herausarbeiten aus der Unmittelbarkeit tierischen Daseins – und seiner natürlichen Ausdrucksphänomene – beginnt, wenn die mittelbare Deutbewegung die unmittelbare Greifbewegung nach einem Gegenstand ablöst bzw. abgelöst hat. Mit dieser Ablösung sieht Cassirer 1923 eine wichtige Etappe auf dem Wege »von der tierischen zur spezifisch-menschlichen Entwicklung« beschritten, in der die »erste sinnliche Unmittelbarkeit fortschreitend zu überwinden« ist. 88 In dem Zusammenhang betont er den »Hiatus« zwischen den tierischen »Ruflauten und den Bezeichnungs- und Bedeutungslauten der menschlichen Sprache«. Bei letzteren ist die Trennung von den sinnlichen Affekt- und Erregungslauten bereits vollzogen. Indem die Sprache eine »dreifache Stufenfolge« des mimischen (nachahmenden), analogischen (zuordnenden) und symbolischen (bedeutenden) Ausdrucks durchläuft, wird diese Distanz zum unmittelbaren tierischen Dasein immer weiter gespannt, 89 87 88 89

Schwemmer (1997: 218). PsF I: 128 f.; ECW 11: 126. Ebd., 138 f.; ECW 11: 137.

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wobei die »sinnlichen Hüllen« vom sprachlichen symbolischen Ausdruck nach und nach abgestreift werden. 90 Das ursprüngliche, indifferente, quasi tierische Bewußtsein sieht Cassirer in einem Zustand der »Dumpfheit« und »Befangenheit im bloßen Dasein und im sinnlichen Eindruck und Affekt«, aus dem es die unterschiedlich gerichteten Gestaltungsweisen des Geistes nach und nach heraustreten lassen, wodurch es sich zum Kulturbewußtsein formt. 91 Die tierische »Unvermitteltheit des Lebens« werde bereits im mythischen Bewußtsein durch eine erste symbolische Vermittlung überschritten, auch wenn in diesen Akten Darstellendes und Dargestelltes noch ganz undifferenziert als Einheit, als Identisches erlebt werden. Cassirer ist hier der Auffassung, daß die mythische Gestaltungsweise von Wirklichkeit diesem Zustand »passiver Befangenheit« zwar noch angehört, gleichzeitig aber als tätiges Gestalten nach einem geistigen Prinzip schon aus ihm hinausweisen. 92 Gestaltet doch bereits der Mythos eine eigenständige Form von »Objektivität« und Sinn. So ringt sich eine gewisse Stufe des mythischen Zeitbewußtseins (Anschauungsform) allmählich von der »unmittelbaren Gebundenheit im sinnlichen Eindruck und im momentanen sinnlichen Affekt« los. 93 Die mythische Form erweist sich somit als Brücke, als Scharnier zwischen tierischer und menschlicher Existenz. Die symbolischen Formen, auch die des Mythos, stellt also der Mensch »zwischen sich und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur«, von der er sich damit entfernt. Die Formen treten als ein »neues mittleres Reich« immer vielgestaltiger zwischen die Welt des Innen und die Welt des Außen und lösen die »anfangs bestehende Spannung« allmählich auf. 94 Das Eigentümliche ist, daß dem Menschen die symbolische Distanzierung zunächst nicht bewußt ist, obwohl er sie auslebt und vollzieht. Da im historisch und systematisch frühesten, elementarsten Zeichensystem, dem mythisch-magischen Medium, die »Sache« und das »Zeichen« für die Sache selbst noch nicht deutlich voneinander geschieden werden, ist auch kein Bewußtsein, kein Wissen um diese Bedeutungsdifferenz möglich. Dennoch wird das symbolisierende, distanzierende, medialisierende und objektivierende Tun vollzogen. Die Mittelstellung der symbolischen Medien zwischen Subjekt und Welt läßt sie im frühen mimischen Stadium ihrer Entfaltung noch dem lebendigen

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Ebd., 148; ECW 11: 146. PsF II: 18; ECW 12: 16. Ebd., 19; ECW 12: 16 f. Ebd., 137 f.; ECW 12: 131. Ebd., 31; ECW 12: 29.

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Prozeß des Bewußtseins unmittelbar angehören, während das in ihnen zugleich herrschende geistig-ideelle Bestreben in diesem bestimmte Halte- und Ruhepunkte zu gewinnen sucht. Es scheint, als begreife Cassirer die symbolischen Formen, die vermittelnden Medien als seine spezifische Lösung des Gegensatzes von Leben (Subjektivität) und Geist (Objektivität), werden sie doch in der Folge konsequent als »konkrete Grundform[en] des geistigen Lebens« gedeutet. 95 Es ist bezeichnend, daß er diesen in den Manuskripten von 1928 thematisierten Grundgegensatz von »Leben« und »Geist« bereits 1923 so deutlich zur Sprache bringt. Eine wichtige Veränderung, die durch die Ausbildung der mittleren symbolischen Reiche, die sich zwischen den subjektiv erlebenden, als Lebewesen reagierenden Menschen und die auf ihn einwirkende Umwelt schieben, eintritt, besteht darin, daß hier der Wille und die Erfüllung des Willens beginnen auseinander zu treten. Das dazwischen schlüpfende »trennende Medium« weckt das Bewußtsein der notwendigen vermittelnden Mittel und Schritte, die die Erfüllung des Willens sicherer machen. So entdeckt der Mensch die Funktion von Werkzeugen als Mittel zum gewollten Zweck. 96 Auf der Seite des »geistigen Selbstbewußtseins« sind damit innere Willenswelt und äußere Wirkwelt als eine Differenz, als ein Gegensatz auseinandergetreten; ihr ursprünglich »unmittelbarer« Zusammenhang ist nun für den Menschen für immer zerrissen. Als vermittelter Gegensatz ist der Zusammenhang aber handhabbarer geworden. Diese neue Schranke für den Willen schiebt »immer neue Zwischenstufen« zwischen sinnlichen Trieb und seine Erfüllung ein, was die »wirkliche ›Distanz‹ zwischen Subjekt und Objekt« schrittweise aufbaut. Mit dem Gebrauch des Werkzeuges stellt sich dem Menschen endgültig das »Bild dieser Außenwelt« her. 97 Die symbolischen Formen, Funktionen und Energien des lebendigen Geistes erweisen sich als bestimmte, eigenständige, unterschiedlich vorgehende Weisen sowohl der Distanzierung von der ursprünglichen Unmittelbarkeit des Lebens bzw. des Erlebens als auch als Richtungen der Objektivierung, des Aufbaus von kulturellen Bedeutungs- und Lebenssystemen. Leben ist als Grenz- bzw. Ausgangsbegriff unmittelbares Dasein, und als symbolisierendes Dasein des Menschen ist Leben vermittelte Existenz. Der dritte Aspekt betrifft die Parallele, die sich über den Begriff des Organischen zwischen Leben und Geist herstellen läßt. Cassirer würdigt

95 96 97

PSF I: 47; ECW 11: 45. PsF II: 254 f.; ECW 12: 250. Ebd., 256 f.; ECW 12: 253.

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nämlich, wenn auch auf kritische Weise, daß die Romantik an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert den »allgemeinen Formbegriff« an den des lebenden »Organismus« anlehnt, weil in ihm die dualistischen Gegensätze versöhnt scheinen. So schließt sich z. B. für Schelling im Organismus die »Kluft, die das unbewußte Werden der Natur vom bewußten Schaffen des Geistes zu trennen scheint«. 98 Wenn in dem Zusammenhang Cassirer davon spricht, daß in Goethes Begriff des Organismus das Organische »einer Regel unterworfen [wird], die, nach dem Goetheschen Ausdruck, fest und ewig, aber zugleich lebendig ist«,99 dann wird hier erneut, in Kontinuität, die Bestimmung dessen gegeben, was sich ihm als eine Lebensordnung oder als eine Ordnung darstellt, die auch im formend-geformten Wesen einer jeden symbolischen Form aufscheint. Das qualitative Maß läßt diese Ordnung beweglich und lebendig sein, und trotzdem einer Regel, einem Gesetz gehorchen. Außerdem bleibt die bewegliche Ordnung des Einzelnen auf einen Rahmen (Ganzheit, Gesetz) bezogen, den sie repräsentiert und durch den sie etwas bedeutet. Allerdings hafte dem in der Romantik spekulativ gebrauchten Begriff des Organismus eine unbestimmte Vieldeutigkeit an, die ihn für diese Vermittlung geradezu prädestiniere. »Denn gerade die mittlere, sozusagen schwebende Stellung, die er zwischen ›Natur‹ und ›Geist‹, zwischen dem bewußtlosen Wirken und dem bewußten Schaffen einnimmt, scheint zu gestatten, ihn bald nach der einen, bald nach der anderen Seite der Betrachtung hinüberzuziehen«. 100 Im 19. Jahrhundert erfahre der spekulative Organismusbegriff aber eine Wandlung. Er behält zwar seine zentrale Stellung in der Systematik der Geisteswissenschaften, »aber sein Sinn und seine Tendenz erfährt eine durchgreifende Wandlung, seitdem dem Entwicklungsbegriff der romantischen Philosophie der biologische Entwicklungsbegriff der modernen Naturwissenschaft gegenübertritt.« In der »Betrachtung der Lebensphänomene selbst« wird der spekulative Begriff der »organischen Form« mehr und mehr durch ihren rein naturwissenschaftlich-biologischen Begriff zurückgedrängt. 101 In diesem Sinne spricht Cassirer immer wieder von den biologischen »Lebensformen«. Die von Frischeisen-Köhler thematisierte Übertragung des Lebensbegriffs – bzw. seiner Momente wie die innere Form – von der biologischen Natur auf den schaffenden Geist102 wird von ihm ebenfalls gewürdigt,

98 99 100 101 102

PsF I: 98; ECW 11: 96. Ebd., 116; ECW 11: 114. Ebd., 108; ECW 11: 107. Ebd., 109; ECW 11: 107. Frischeisen-Köhler (1921: 116 ff.).

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spürt er dieser Möglichkeit doch seit dem Leibnizbuch (1902) selbst nach. »Für die Erklärung des organischen Lebens war der Begriff der ›individuellen Form‹ schon von Leibniz geprägt worden – und durch Herder war er sodann über die ganze Weite des geistigen Daseins ausgebreitet« worden. In dem Zusammenhang findet die »Verbindung der Idee der organischen Form und der Idee der Totalität« aller möglichen Besonderungen ihre Würdigung. 103 Wie bereits angesprochen, will Cassirer den lebendigen Geist sehr wohl im Sinne eines Organismus und nicht eines mechanischen Aggregates verstanden wissen. So erweise sich die Sprache als »geistige Gesamtform« in mehrerer Hinsicht als ein »Organismus, in welchem [ . . . ] das Ganze früher als die Teile ist.« Ihr organischer Charakter zeigt sich u. a. daran, daß sie mit einem »komplexen Gesamtausdruck« beginnt. 104 Dies ist hier wohl so zu verstehen, daß sich im geistigen Leben Momente des organischen Daseins wiederfinden, ebenso wie scheinbar ungeistige Lebensvollzüge beim Menschen ideell-geistige Momente einschließen. Aber weder läßt sich der lebendige Geist biologisch erklären, noch der biologische Organismus – allein – vom geistigen Leben her. 105

4 Denkform, Lebensform und Lebensgefühl 4.1 Denkform und Lebensform: Doppelrichtung oder Stufenfolge? Die dem Menschen eigenen geistigen Energien bzw. Funktionen vollbringen nicht ausschließlich eine Leistung der Objektivierung, sondern auch eine der Subjektivierung. Cassirer erläutert dies erstmals anhand der Sprachform, an ihrer anschaulich-darstellenden Stufe. Wie andere Geistesfunktionen auch ziele sie auf äußere Objektivation und auf innere Subjektivation, d. h. auf die Ausprägung einer Ich-Wirklichkeit. Dabei weist bzw. wirkt die objektivierende Funktion auf die subjektivierende Richtung zurück. 106 Im Fall der Sprachform bestimmen der objektive und der subjektive »Anschauungskreis« als »korrelative« Kreise wechselseitig ihre Grenzen. Damit sind die sprachlichen Ausdrücke innerer, subjektiver Anschauung gleich »ursprünglich« wie die äußerer, objektiver. »Die Form und Gestaltung des Ichbewußtseins« bzw. des »Ichgefühls«

103 104 105 106

PsF I: 99; ECW 11: 97. Ebd., 273, 282 f.; ECW 12: 273, 281. Siehe dazu auch Renz (2002: 271 f.). PsF I, 167, 203, 213; ECW 11: 166, 202, 212 f.

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wird demnach auch über die verschiedenen Stufen der Sprachform vermittelt. Diese entfaltet sich in einer Doppelbewegung des Geistes vom »Inneren« zum »Äußeren« und umgekehrt. Hier ist ein kurzer Exkurs angebracht. Die Auslegung eines scheinbar unvermittelten sachlichen Gegensatzes als Doppelrichtung der Bedeutungsgebung eines einheitlichen Vermögens bildet in Cassirers Philosophieverständnis eine zentrale Annahme (siehe Kap. I, Abschn. 2.2). Sie kehrt auch in der Auflösung des Gegensatzes von Leben und Geist wieder (siehe Kap. IV, Abschn. 5). Vor dem Hintergrund dieser Auffassung lehnt er die bloße Abgrenzung und Entgegensetzung dialektischer Antipoden wie Inhalt und Form, Beziehung und Element als eine metaphysische und substantialistische Position ab. Sie sollen nicht als »voneinander unabhängige Bestimmungen«, sondern als »miteinander gegeben und in wechselseitiger Determination« gedacht werden. 107 Ebenso bilde die Einheit der »Erkenntnisfaktoren« – Sinnlichkeit und Denken, Anschauung und Denken, Materie und Form – ein »ursprünglich-gewisses und ursprünglich-bekanntes Phänomen« gegenüber ihrer analytisch abgeleiteten Entgegensetzung. 108 Zudem erscheint, wie bereits erwähnt, jeder »dualistische Gegensatz«, insbesondere der zwischen Fluß und Fixpunkt der Bewußtseinsgehalte, aufgehoben in der »konkreten Grundform des geistigen Lebens selbst«. 109 Bei der Sprachform vollzieht sich dies als praktische Vermittlung des Lebensflusses des Werdens mit den ihm entgegenstehenden festen Bestimmtheiten – den Begriffen. 110 In symbolischen Objektivierungen durchdringen sich die Momente, die in der »bloß verstandesmäßigen Reflexion einander fliehen, zu einer neuen Einheit«. Das gilt u. a. für Gegensätze wie Freiheit und Notwendigkeit, Individualität und Allgemeinheit, Subjektivität und Objektivität, Spontaneität und Bindung. 111 Bereits Humboldt habe an die Stelle des »metaphysischen Gegensatzes der Subjektivität und Objektivität« ihre reine »transzendentale Korrelation« treten lassen. 112 In jeder noch so primitiven Erscheinung menschlichen Bewußtseins, menschlicher seelischer Akte sucht und findet Cassirer deshalb die Doppelrichtung bzw. Urdifferenz von Sinnerfüllung des Sinnlichen angelegt,

107

Ebd., 31; ECW 11: 30. Ebd., 40; ECW 11: 38. Nach Knoppe sind diese Überlegungen Cassirers in gewissem Sinne von Cohen beeinflußt worden. – Knoppe (1994: 466 f.). 109 PsF I: 47; ECW 11: 45. 110 Ebd., 251 f.; ECW 11: 251. 111 Ebd., 90; ECW 11: 87 f. 112 Ebd., 102; ECW 11: 100 f. 108

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auch wenn diese nicht bewußt wird. Mit der Zweiheit von Sinn und Sinnlichem scheint auch das Moment der Vermittlung, der Distanzierung, der Repräsentation gegeben. Diese Differenz galt ihm 1919 in Anlehnung an Hegel als die antinomische Quelle der Selbstentwicklung des erkennenden Denkens und des »konkreten Leben des Geistes«. 113 Deshalb hatte er mit Interesse verfolgt, wie in der Phänomenologie des Geistes auf den drei Stufen Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Vernunft (Geist) jeweils »ursprüngliche Entzweiungen« neue Bewegungen entfalten, die zwar zunächst in einer »absoluten Einheit« aufgehoben werden, letztlich aber doch wieder über sie hinausdrängen und in die nächst höhere Stufe eintreten, ohne dazu durch äußerliche Ursachen gezwungen zu werden. Die Problematik der antinomischen Quelle jeglicher Bewegung durchzieht auch seine spätere Kritik an Simmel und Scheler. 114 Der Anfang der sich in immer mehr Richtungen zerlegenden objektivierenden Bewegung des lebendigen Geistes bedarf einer immanenten antinomischen Differenz, er kann nicht aus der absoluten Unmittelbarkeit bloßen Erlebens anheben. Die Einheit des geistigen Lebens erzeugt sich vielmehr erst aus der »Entzweiung«. 115 Gleichzeitig darf die Entzweiung aber nicht als Gegensatz absolut getrennter, eigenständiger antinomischer Pole aufgefaßt werden, da diese niemals zu wirklicher Einheit zu bringen wären. Später deutet Cassirer die ursprüngliche Dualität der Symbolisierung oder Repräsentation als den endlich gefundenen »entzweiten« Ausgangspunkt, als die ursprüngliche Differenz, hinter die es kein wirkliches Zurück in eine reine Erlebnisunmittelbarkeit gibt, wie dies jedoch von den Lebensphilosophen für die »Intuition des Lebens« in Anspruch genommen wird. Der »entzweite« Anfang bildet in der natürlichen Anschauung bzw. Wahrnehmung ein »ursprünglich-gewisses und ursprünglich-bekanntes [einheitliches – C. M.] Phänomen«, das erst durch die Verstandesabstraktion zu einem absoluten Gegensatz zerlegt wird. Wegen der »Urfunktion der Repräsentation« gibt es im Bewußtsein »von Anfang an kein abstraktes ›Eines‹, dem in gleich abstrakter Sonderung und Loslösung ein ›Anderes‹ gegenübersteht«. Vielmehr erweist sich, daß beide »sich wechselseitig bedingen und sich wechsel-

113

EP III/ECW 4: 297. Das Neue und Originelle sah Cassirer bei Hegel in dessen »Begriff der Synthesis als des Zusammenschlusses und der absoluten Identität eines Ungleichartigen«, die als Ausgangspunkt der Betrachtung diene (ebd., 315). Damit habe Hegel das Problem der Synthesis »von dem Boden der reinen Erkenntnis auf denjenigen des konkreten Lebens, in der Totalität seiner Äußerungen, versetzt«. – Ebd., 280. 114 Siehe dazu Möckel (1998). 115 EP III/ECW 4: 297.

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seitig repräsentieren«.116 Hegel, der dies sinngemäß mit dem »Begriff der Synthesis« umschreibt, meine dies aber noch substantial und keineswegs funktional. 117 Den Gedanken einer Leistung der geistigen Form in zwei entgegengesetzten Richtungen entwickelt Cassirer exemplarisch anhand des Mythos als objektiver bzw. objektivierender »Denkform« und subjektiver bzw. subjektivierender »Lebensform«. Diese Auslegung des Mythos lasse sich aber im Grunde auf alle symbolischen Formen übertragen. Offen bleibt jedoch, warum Cassirer die Subjektivierung, d. h. die Prägung einer subjektiven Ich-Welt, hier als »Lebensform« bezeichnet. Ohne Zweifel spielt er damit auf die Bedeutung des Lebens als eines subjektiven Erlebens an. 118 In einem weiteren Sinne muß sich dieses Schema einer konträren Leistungsrichtung auf alle drei Grundstufen der Entfaltung einer Form anwenden lassen: auf die Wahrnehmungs- bzw. Ausdrucksstufe, auf die Anschauungs- bzw. Darstellungsstufe und auf die theoretische Erkenntnis- bzw. Bedeutungsstufe. Dabei erscheint die Ausdrucksfunktion als subjektivste, die Bedeutungsfunktion als objektivste Gestaltung sowohl des Welt- als auch des Ichpols. Was die Begrifflichkeit etwas verwirrend erscheinen läßt, ist der Tatsache geschuldet, daß Cassirer gleichzeitig mit dem dreigliedrigen Schema von Denkform, Anschauungsform und Lebensform (d. h. Lebensgefühl) operiert. Unter diesem Gesichtspunkt korreliert der mythischen Denkform sowohl eine Anschauungsform (von Raum, Zeit und Zahl) als auch eine Lebensform im Sinne eines bestimmten Lebensgefühls, einer bestimmten Lebensstimmung, die als Tönung in den mythischen Anschauungs- und Denkformen ihren Niederschlag findet. Deshalb kann es bei ihm heißen, daß die Grundkategorien des Weltaufbaus (Zeit, Raum, Zahl, etc.) durch das »reine Denken, [ . . . ] das Gefühl und die Anschauung« geprägt und dominiert werden,119 daß sich Raum-, Zeit- und Zahlbegriff »allmählich über immer weitere Kreise des Empfindens, des Anschauens und Denkens« ausdehnen. 120 Dabei eignet dem Lebensgefühl Unmittelbarkeit, dem Denken Mittelbarkeit und der Anschauung teilweise beides. Parallel dazu behandelt Cassirer Anschauungs- und

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PsF I: 40 f.; ECW 11: 39. EP III/ECW 4: 315. 118 Werle machte bereits darauf aufmerksam, daß Cassirer in den Manuskripten von 1928 den Lebensbegriff ohne Erklärung sowohl für das subjektive Erleben als auch für das Phänomen des geistigen Lebens heranzieht, und deutet dies als eine List, um die Lebensphilosophie als Gegner ins Gespräch zu bringen. – Werle (1988: 277). 119 PsF II: 156; ECW 12: 151. 120 Ebd., 172; ECW 12: 169. 117

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Denkform als Weisen einer bestimmten Richtung der Objektivierung, während der Mythos als eine »Lebensform« eine notwendige Stufe im Prozeß der Subjektivierung des Geistes, der Konstitution des Ich- und Wirbewußtseins bildet. Die beiden Deutungsschemen der Denk- und Lebensform erinnern an das in FF (1916) und KLL (1918) zugrundegelegte Schema der Dialektik von Lehr- und Lebensform bei großen Persönlichkeiten wie Kant und Goethe. Gleichzeitig begibt sich Cassirer mit der Auffassung des Mythischen als einer Lebensform, die sich im Gefühl, in der Weltanschauung und im gegenständlichen Denken manifestiert, auf ein Gebiet, auf dem sich die Lebensphilosophen bewegen, wenn sie nach einer Alternative zum rationalen, logischen Denken suchen. Für Krois zeigt sich hier in »Cassirers Berufung auf Lebensformen statt auf ›reine‹ Subjektivität zumindest eine lebensphilosophische Perspektive«, was im Übrigen »Heidegger auch in seiner Rezension des Buches feststellte, aber für mangelhaft begründet hielt«. 121 Die kulturelle Sinnrealität einer jeden historischen oder zeitgenössischen Gesellschaft – als System des geistigen Lebens – wird von einer Totalität symbolischer Formen auf je bestimmten Stufen der Entfaltung gebildet, wobei die höheren systematischen Entfaltungsstufen (Erkenntnis) die niederen (empirische Anschauung und Ausdruckswahrnehmung) voraussetzen. Dies im Blick habend weist Cassirer – in Auseinandersetzung mit Durkheim – darauf hin, daß diese Sinnrealitäten in ihrem konkreten Bestand, ebenso wie ihre typische empirische Naturauffassung und die entsprechende »Form der Gesellschaft«, selbst durch jeweils spezielle »Denkformen«, »Anschauungsformen« und »Grundformen des Erlebens« konstituiert werden, daß sie ausschließlich als »etwas geistigBedingtes und geistig-Vermitteltes« verstanden werden können. 122 Wie entwickelt sich nun die subjektive Lebensform des Mythos parallel zur objektiven »Denkform«? Und wie wird der Mythos als »Lebensform« im Sinne eines sich ausdrückenden Lebensgefühls gedeutet? 123 Zunächst definiert Cassirer den Mythos als ein »Gebiet des geistigen Lebens«, das der Scheidung von »allgemeinem Begriff«, bloßer »Empfindung«, »unmittelbarem Trieb«, »sinnlicher Wahrnehmung und Anschauung« vorausliegt und ihr gegenüber indifferent bleibt. 124 Das »mythische

121

Krois (2002: 234); Siehe dazu Heidegger (1991a). PsF II: 230 ff.; ECW 12: 228 f. 123 Der Grundbegriff des Gefühls bzw. des Lebensgefühls weist bei Cassirer gewisse Bezüge zu Natorps Begriff des Gefühls auf, der zur Fundierung des Religionsbegriffs dient. – Siehe dazu Renz (2002: 116). 124 PsF II, 32; ECW 12: 30. 122

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Denken und Vorstellen« vollziehe außerdem eine »Allbeseelung« und konstituiere so eine »allgemeine Sphäre des ›Lebens‹« in der Wirklichkeit. Im mythischen Bewußtsein realisiert sich somit eine eigentümliche »Grundrichtung« sowohl des »Lebensgefühls« als auch des »mythischen Denkens«, die die »Totalität alles Lebendigen« allen Bewußtseinsgehalten aufprägt. 125 Es ist zudem ein Bilderbewußtsein, das der »Welt des sinnlich-passiven Eindrucks« verfallen ist, und sich dennoch von ihr abgrenzt. Die eigentümliche Grundrichtung des Mythos wird als eine »bestimmte ›Strukturform‹ des Geistes« beschrieben, früher hatte Cassirer von der »relativ gleichbleibenden ›inneren Form‹« des jeweiligen symbolischen Bewußtseins gesprochen. 126 In den Goethe- und Kantdarstellungen beispielsweise bezeichnet er die Lebensform als innere, alle Richtungen der geistigen Aktivität prägende Form. Die folgenden drei Überlegungen sollen Cassirers Begrifflichkeit zu klären versuchen. 127 I. Das bildhafte Denken und Vorstellen deutet er 1923 als die »erste primitive Grundschicht des Denkens«, d. h. als eine erste objektivierende Denkform. 128 An der »Funktion des Mythischen« wirken aber mehrere »seelische Grundkräfte« mit, neben dem Denken auch die Anschauung und das Gefühl. 129 Der ursprünglich in »Bildgestalten« lebende Mythos ist ebenso wie das theoretische Erkennen der Wissenschaft als eine objektivierende »Denkart« zu nehmen,130 er bildet eine erste not wendige Stufe der Entfaltung des sich objektivierenden Geistes. 131 Als »Denkform« baut der Mythos ein eigenes »Gegenstandsbewußtsein« auf, stellt also eine eigene Form der Objektivierung dar, die ein eigenes Weltbild begründet. 132 Somit besitzt diese Denkform eine eigene ›Logik‹, zudem ist sie mit den Denkformen der empirischen Erfahrung und der theoretischen Wissenschaft vergleichbar: sie alle vollziehen analoge »Verknüpfungsweisen«, um dem sinnlich-Mannigfaltigen die Form der Einheit zu geben, tun dies aber auf unterschiedliche Weise. Auch die wissenschaftliche Denkform hat einmal ein »mythisches Vorstadium« durchlaufen. 133 Als theoretische Denkform prägt sie sogar die ihr entsprechende empirische Wahrnehmungs- und Anschauungswelt, der ursprünglich eine »Welt des unmit-

125 126 127 128 129 130 131 132 133

Ebd., 231 f.; ECW 12: 229. Ebd., 15, 17; ECW 12: 13 f., 15. Siehe dazu auch Hartung (2003: 229–236). PsF I: 276; ECW 11: 276. PsF II: 25 f.; ECW 12: 23 f. Ebd., 215, 233, 282; ECW 12: 211, 229, 276. Ebd., 12 f.; ECW 12: 10 f. Ebd., 39; ECW 12: 35. Ebd., 76, 78; ECW 12: 73, 74.

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telbaren Sinneseindrucks« vorgelagert zu sein scheint. 134 Cassirer spricht sich aber dagegen aus, einen »Zustand der reinen Unmittelbarkeit«, als den Anfang aller empirischen Erkenntnis, anzunehmen, in dem die Eindrücke nur in ihrer sinnlichen Beschaffenheit »erlebt« werden, ohne daß an ihnen schon »irgend eine Formung« vollzogen wird. Eine solche »›naive‹ Stufe des Erfahrungsbewußtseins« stelle vielmehr eine theoretische Konstruktion, einen »Grenzbegriff« dar, den sich die Reflexion geschaffen hat. 135 Das mythische Gegenstandsbewußtsein, das die Krisis und damit die Sonderungen und Verknüpfungen des empirischen Bewußtseins (Wahrheit-Schein, Ideelles-Materielles) noch nicht kennt,136 lebt ausschließlich »in der Gegenwart seines Objektes« und überschreitet diese nicht. Hier vollzieht sich die »bloße Hingabe an den [sinnlichen – C. M.] Eindruck selbst und seine jeweilige ›Präsenz‹«. Folglich nähern wir uns in dieser Einstellung dem »Unmittelbaren« durchaus einen Schritt weiter als es das empirische Bewußtsein vermag. Jegliche Gegenständlichkeit tritt im mythischen Bewußtsein in einer einzigen Ebene auf, ohne unterschiedliche Realitätsstufen (Leben-Tod, Traum-Wachen). Ihm ist damit auch die »Scheidung zwischen einer Welt des unmittelbaren Seins und einer Welt der mittelbaren Bedeutung« fremd.137 Es gilt ihm die Identität von Bild und Sache, es kennt kein Verhältnis der »Repräsentation« (Darstellung). Als Denkart, als objektivierender Geist gestaltet und formt der Mythos eine bestimmte Ordnung des Lebens jenseits des Alltäglichen. Hier besitzen verschiedene, aus der »Sphäre des Gleichgültigen und Alltäglichen herausgehobene Lebensverhältnisse« (»Lebensphasen«, »Lebensepochen«) den Wert eines »eigenen Rings des Daseins«, eines eigenen »Lebenskreises«. 138 In diesem Kreis ist die »Kontinuität des Lebens« nahezu aufgehoben. Cassirer scheint hier den Begriff der mythischen Denkform an den einer Schicksals- und Rechtsordnung zu binden, in die buchstäblich alles einbezogen ist. Diese Einbezogenheit aller Gehalte wird anfänglich mit »naiven sinnlichen Bildern« ausgedrückt, später leistet dies ein »reiner geistiger Ausdruck«. 139 II. Der Anschauungsform, die das symbolische Weltbild des Mythos aufbaut und auf der dessen Denkform letztlich beruht,140 liegt nach Cas134 135 136 137 138 139 140

Ebd., 41; ECW 12: 37. Ebd., 46; ECW 12: 42. Ebd., 47, 72; ECW 12: 43, 68 f. Ebd., 51; ECW 12: 47. Ebd., 128, 134 f.; ECW 12: 122, 128 f. Ebd., 139; ECW 12: 133. Während die »Denkform« Verbindungen und Einheit zwischen den Gehalten

168

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sirer eine Art »Ur-Teilung« zugrunde. Diese bedeutet eine »geistige ›Krisis‹«, eine »Scheidung« im Ganzen des Bewußtseins. Von einer bloßen Unmittelbarkeit des Erlebens ist nun keine Rede mehr, da die Urteilung eine Strukturierung vorgenommen hat. Sie enthält zudem bereits alle späteren Teilungen im Keime. In ihr läßt sich »nicht sowohl die Eigenart des mythischen Denkens, als die des mythischen Anschauens und des mythischen Lebensgefühls aufweisen«. 141 Bei der Ur-Teilung hat Cassirer die Trennung der Alltäglichkeit der Daseinsinhalte und ihrer besonderen Heiligkeit in einer »bestimmten ideellen Bezogenheit« im Auge. 142 Das Bewußtsein zerlegt – als »primäre mythische Formgebung« – das »unterschiedslos ›indifferente‹ Sein« in verschiedene »Bedeutungskreise«: in den Kreis des alltäglichen und den Kreis des heiligen Daseins. 143 Die Urteilung schlägt sich u. a. in der mythischen Tönung der Raumund Zeitanschauung nieder. So nimmt z. B. die mythische Raumanschauung eine »eigenartige Mittelstellung zwischen dem sinnlichen Wahrnehmungsraum« und dem »Raum der reinen Erkenntnis« ein. In ihm wird die spezifisch mythische Tönung der Elemente »unmittelbar erlebt« und mit »spezifischen mythischen Gefühlswerten verknüpft«. 144 Diese Raumanschauung steht also in einem engen Verhältnis zum mythischen »Lebensgefühl«. Den räumlichen Sonderungen und Gliederungen wohnt folglich ein »inneres mythischen Leben inne«, sie werden jeweils als ein selbständiges, mit »eigenem Leben begabtes ›Gebilde‹« (Götter) genommen. 145 In der objektiv-subjektiven Zeitanschauung, in der der Mythos allen seinen Gestalten ein »Hervorgehen, ein Werden, ein Leben in der Zeit« zuspricht, und die ihn die kosmische Zeit in einer »eigentümlichen biologischen Gestaltung und Umformung erleben« läßt, erscheint alles als ein »Lebensvorgang«. 146 Alle äußeren physischen Erscheinungen werden auf das Dasein des Menschen projiziert. Das daraus resultierende mythische Zeitgefühl schlägt zwischen der »subjektiven Lebensform und der objektiven Anschauung der Natur« die Brücke. D. h., das mythische Zeitgefühl findet sich in der objektiven Anschauung der Welt und in der subjektiven Anschauung des eigenen Ich bzw. des Anderen wieder. herstellt, ordnet und strukturiert die »Anschauungsform« die Bewußtseinsinhalte nach bestimmten räumlichen, zeitlichen Akten, die Bedeutungskreise wie Gewöhnliches – Ungewöhnliches, mythisch Bedeutsames – mythisch Unbedeutsames unterscheiden. 141 PsF II: 90; ECW 12: 86. 142 Ebd., 94 f., 100; ECW 12: 89, 94. 143 Ebd., 95, 98, 100; ECW 12: 89, 93 f. 144 Ebd., 104, 106; ECW 12: 98, 100. 145 Ebd., 121; ECW 12: 115. 146 Ebd., 129, 135; ECW 12: 123, 129.

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Andererseits lebt im konkreten »mythisch-religiösen Zeitbewußtsein« bzw. »Zeitgefühl« immer eine bestimmte Dynamik des mythischen Lebensgefühls. 147 Die Zeitanschauung wird vom Lebensgefühl getragen, sie ist aber auch durch die Denkform mitbestimmt. Das Spezifische, Eigentümliche am ursprünglichen »mythischen ›Phasengefühl‹« sieht Cassirer darin, daß es die Zeit im »Bilde des Lebens« erfaßt und all das, was sich in der Zeit bewegt, unmittelbar in die »Form des Lebens« aufgehen läßt. 148 Das mythische Zeit- und Phasengefühl »lebt« – anfänglich – in den einzelnen Phasen und »fühlt« den ewigen Kreislauf des Geschehens mehr als es ihn »denkt«, dennoch ruft es das »mythische Denken« wach. Selbst ein subtiler abstrakter Begriff der theoretischen Denkform könne die »Farbe des spezifisch-mythischen Zeitgefühls [noch – C. M.] an sich tragen«. 149 III. Das »mythische Denken« als ein »primitives Denken« ist nach Cassirer geradezu charakterisiert durch die »eigentümliche Flüssigkeit und Flüchtigkeit, die die Anschauung und der Begriff des persönlichen Daseins« in ihm besitzen. 150 Auch vom Ich ist ein theoretischer Begriff, eine räumlich-zeitliche Anschauung und ein lebendiges Gefühl möglich. In PsF II (III. Abschn.) geht es ihm um die Entdeckung des Universums des »eigenen Inneren« durch den mythischen Menschen. 151 Dies geschieht sowohl durch Denken und Anschauen des Inneren als auch durch das sich ausweitende Wirken des emotionalen, fühlenden Ich auf die Außenwelt, was die Innenwelt erst abgrenzt und sichtbar macht. Den nötigen Subjektivierungsprozeß, der das Ich-Bewußtsein konstituiert, sieht Cassirer durch den Umschlag von »Naturmythen« zu »Kulturmythen« (Gabe des Feuers etc.) in Gang kommen. Dieser Umschlag werde von einer Auseinandersetzung zwischen »Ich und Welt« begleitet, bei der die Gestalt (das Bild) des mythischen Gottes »zwischen Ich und Welt tritt«. 152 In dieser Auseinandersetzung findet sich erst das Ich des Menschen selbst. Paradoxerweise laufe hier die Verallgemeinerung nach der »objektiven Seite« hin – die Abwendung vom »räumlich- oder zeitlich Einzelnen« – parallel zu einer Individualisierung nach »der Seite des subjektiven Lebens hin« – der Ausbildung zur Einzelheit der Person. Die geistige Symbolform des Mythos fungiert beim Aufbau der objektiven, äußeren »Welt des Tuns« und beim »Aufbau der Welt der ›inneren‹ Erfahrung« in konträrer, gegenläufiger Richtung. 147 148 149 150 151 152

Ebd., 146, 152; ECW 12: 141, 147. Ebd., 136 f.; ECW 12: 130 f. Ebd., 144; ECW 12: 139. Ebd., 190; ECW 12: 186. Ebd., 238 f.; ECW 12: 235 f. Ebd., 245; ECW 12: 241.

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Für beide konträr gerichteten, aufbauenden Leistungen erblickt Cassirer 1925 im Mythos die lebendig-geistige Ausgangsform. So habe die Mythologie ihren »eigentlichen Lebensgrund« eben darin, daß sie einen notwendigen ursprünglichen Quellzustand des Bewußtseins bildet. 153 Schwemmer sieht deshalb im Mythos bzw. im mythischen Formbewußtsein die Quellform für alle anderen symbolischen Formen. 154 Hieran anschließend stellen sich einige Fragen. Ist wirklich der Mythos als die Quellstätte aller übrigen symbolischen Formen, »geistigen Energien«, Aufbau- und Gestaltungsweisen von kulturellen Sinnsystemen zu betrachten, oder haben wir diese nicht vielmehr im »Urphänomen des Lebens«, im »Lebensgefühl«, im Ausdrucksphänomen zu suchen? Auch die Beziehung, in der für Cassirer Mythos und Leben als Verhältnis der elementarsten symbolischen Dimension sowohl der Ausdrucksfunktion als auch der unmittelbaren »Lebendigkeit« in der quasi noch tierischen Ausdruckswahrnehmung stehen, ist noch genauer aufzuklären. Was würde eigentlich, wenn wir keine eigene symbolische Form Leben vorfinden, von den der Lebensphilosophie entlehnten Begriffen wie »Urtatsache des ›Lebens‹«, »Urphänomen des Lebens«155 letztlich übrig bleiben? Etwa die »Urschicht«, in der selbst das mythische Bewußtsein wurzelt und lebt? Wenn das mythische Weltgestalten die Quellstätte aller anderen symbolischen Formen ist, dann fragt sich doch, ob der mythischen Lebensform eine andere, frühere Lebensform vorangeht. Dies müßte dann wohl die tierische als eine nichtsymbolische Lebensform sein. Außerdem ist die Frage zu beantworten, ob nach Cassirers Auffassung das »Urphänomen des Lebens« bereits symbolisch vermittelt ist? Wir haben uns Klarheit darüber zu verschaffen, welches der Ort der »Unmittelbarkeit des Lebens« in der PsF ist und bleibt; u. U. haben wir es mit einem reinen Grenzbegriff – wie dem eines »›intuitiven Verstandes‹« bei Kant – zu tun. Die bewußt polemisch und appellativ formulierten Fragen und Überlegungen sollen im Verlaufe des vorliegenden III. und des folgenden IV. Kapitels einer Antwort näher gebracht werden. Der Mythos, der ein wirkliches Bewußtseinserlebnis ist, erweist sich für Cassirer also als eine »eigentümliche und ursprüngliche Lebensform«. Gleichzeitig ist für ihn offenbar, daß der Mythos »von jedem Schein ei153

Ebd., 9; ECW 12: 7. »Als eine wirkliche, von Cassirer auch ausdrücklich reflektierte, ›Stufe‹ ist dagegen der Ausgang aus dem Mythos zu sehen, dem alle anderen symbolischen Formen entspringen.« – Schwemmer (1997: 40). »Der Mythos ist für Cassirer ›sozusagen die Urschicht des Bewußtseins und der tragende Grund für alle seine Leistungen‹.« – Ebd., 41. 155 ECN 1: 263, 264. 154

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ner bloß einseitigen [willkürlichen – C. M.] Subjektivität befreit« ist. 156 Der »gesamte Reichtum und die gesamte Dynamik der mythischen Lebensformen« beruhen darauf, den Bedeutungskreis des heiligen Daseins immer neuen Inhalten des Bewußtseins aufzuprägen. 157 In dieser Ausdrucksweise scheint der Begriff der Lebensform den einer mythischen Lebensordnung zu implizieren: Der mythische Kosmos als ein geistig gestalteter hat neben den biologischen Lebensformen und den Lebensformen der kulturell arbeitsteiligen Gesellschaft als eine eigene Realität zu gelten, und nicht einfach nur als ein künstlerisches Werk. Diese Bedeutungszuschreibung klingt auch an, wenn die Feststellung fällt, daß sich »die gesamte mythische Lebensform« in der Dynamik der wechselseitigen Spiegelung des anschaulich-räumlichen Innen und Außen ausprägt, »von ihr in gewissem Sinne abgelesen werden« kann. 158 Wenn Cassirer auch schon 1925 die Überzeugung artikuliert, daß der Mythos aus einer »geistigen Urschicht« stammt, dann hat er damit – zumindest terminologisch – noch nicht die reine Ausdruckswahrnehmung, die reinen Ausdrucksphänomene im Auge, die in PsF III diesen Platz einnehmen werden. Noch stellt er nur fest, daß selbst die eine »intuitive Einheit« des Mythos erfassende Anschauung, als eine vordiskursive »Form der Anschauung«, noch »nicht die letzte Schicht« bezeichnet, aus der er stammt und aus der ihm ständig »neues Leben zufließt«. 159 Diese letzte Schicht finde sich in der »Dynamik des Lebensgefühls«, aus der die mythisch geordnete Welt »ursprünglich erwächst.« Das ursprüngliche Lebensgefühl werde durch innere seelische Zustände erregt, worauf es die ganze mythische »Vorstellungswelt erwachsen läßt«. Folglich wird hier ein besonderes Lebensgefühl als Quelle oder als Fundament der mythischen Anschauungs- und Denkform angenommen. 160 Damit scheint unmittelbares Leben bzw. Erleben zwar als Quell aller symbolischen Medien zu fungieren, ist aber selbst kein vermittelndes Medium. Weiter ist für die frühe Existenz des Menschen von einer nichtmythischen Bewußtseinsform des alltäglichen Lebens auszugehen, die Ansätze der sinnlichen Wahrnehmungs- und der anschaulichen Darstellungsfunktion einschließt, die also irgendwie bereits ein symbolisches Bewußtsein ist (siehe Kap. IV). Anzunehmen ist außerdem, daß auch die mythische »Lebensform« als das subjektive Ichverständnis in diesem my156

PsF II: 9; ECW 12: 7. Ebd., 100; ECW 12: 94. 158 Ebd., 123; ECW 12: 117. 159 Ebd., 89; ECW 12: 85. 160 Cassirer unterscheidet auch beim Mythos »unmittelbares Gefühl« und »denkendes Bewußtsein«. – Ebd., 132; ECW 12: 126. 157

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thischen »Lebensgefühl« wurzelt. Auf alle Fälle scheinen beide Begriffe nicht ein und dasselbe zu meinen. Allerdings steht Lebensform manchmal für Lebensgefühl (neben Anschauung und Denken) und manchmal für Ich-Bewußtsein als dem Gegenstück zu den Gegenstandsformen der Welt (Natur). So kann für Cassirer die »mythische Denkform« nur als »etwas Vermitteltes und Abgeleitetes« gelten, bis es ihrer theoretischen Charakterisierung gelingt, von der »bloßen Denkform des Mythos zu seiner Anschauungsform und zu seiner eigentümlichen Lebensform zurückzudringen«. 161 Mit der Rückführung der objektivierenden Denkund Anschauungsformen auf die subjektive Lebensform (Ich-Pol) und auf das subjektive Lebensgefühl (Einheit alles Lebendigen) 162 geht Cassirer ganz offensichtlich, wie Krois bemerkt, auf die lebensphilosophische Terminologie zu, ohne sie 1:1 zu übernehmen. Der hier vorliegende Zusammenhang von Lebensform und Lebensgefühl ist weiter zu bedenken, auch wenn bei ihm ersteres offenbar in letzterem gründet. Mit anderen Worten, das alles bedingende Lebensgefühl, das auch in der subjektivierenden Lebensform aufzufinden ist, scheint als das mythische »Grundgefühl des Heiligen« der gesamten »mythischen Lebensform« als einer eigenen Lebensordnung zugrunde zu liegen. 163 Es ist also wechselseitig sowohl objektivierender als auch subjektivierender Formung und Prägung zugänglich, so wie es auch in der Anschauungs- und in der Denkform des Mythos nicht gänzlich entschwunden ist. Wenn Cassirer betont, daß die beiden Momente der »objektiven Anschauung und des subjektiven Selbst- und Lebensgefühls« im Mythos ebenso existieren wie im Weltbild »der theoretischen Erkenntnis« oder in der »rein empirischen Ordnung und Gliederung der Wahrnehmungswelt«,164 dann liegt hier nahe, daß beide Grundrichtungen des Geistes (d. h. Objektivation und Subjektivation) und das überindividuelle Lebensgefühl aus einer gemeinsamen letzten Quelle gespeist werden.

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Ebd., 90.; ECW 12: 85 f. Dieser Gedanke wird von Heidegger ausdrücklich gewürdigt, gleichzeitig ist er der Meinung, daß bei Cassirer die »Aufhellung des Ursprungs der Denk- und Anschauungsform aus der ›Lebensform‹ [ . . . ] gleichwohl nicht durchgeführt« ist. – Heidegger (1991a: 266). Siehe auch Hartung (2003: 235). 162 Da Cassirer, wenn er von der »letzten Grund- und Urschicht des mythischen Bewußtseins« spricht, die Ur-Teilung in alltäglich Profanes und besonderes Heiliges meint, scheint neben der Vorstellung einer Allbeseelung diese Urteilung das mythische Lebensgefühl zu bestimmen. – PsF II: 102 f., 106; ECW 12: 96, 105 f. 163 Ebd., 123; ECW 12: 117. 164 Ebd., 212; ECW 12: 208.

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4.2 ›Urquell alles Lebens‹ und mythisches Selbstgefühl Da Cassirer die »mythische Weltauffassung« nicht als eine nachträglich versubjektivierte objektive Weltsicht deutet, verfolgt er aufmerksam die »Entdeckung der subjektiven Wirklichkeit im Mythos«, d. h. die Ausbildung des Ichbegriffs im mythischen Bewußtsein. 165 Wie auch bei anderen symbolischen Formen geschehe das im Mythos durch die wechselseitige Bestimmung und Abgrenzung, deren Eigenheit durch die »Phänomenologie des mythischen Bewußtseins« aufgewiesen werden soll. Erst mit der schrittweisen Ausbildung des mythischen »Seelenbegriffs« in einem tätigen Prozeß nimmt die geistige Organisation der Wirklichkeit ihren Ausgang. Nun beginnen sich die »Kreise des Objektiven und Subjektiven« zu scheiden,166 wobei die Magie bereits die »Welt der subjektiven Affekte und Triebe in ein sinnlich-objektives Dasein« umsetzt. Hierbei sind der »Leib des Menschen« und die »Gesamtheit seiner Lebensfunktionen« jedoch weiterhin Eines, sind Leib und Seele nicht klar geschieden. Die »Seele ist nichts anderes als das Leben selbst, das dem Körper immanent und notwendig an ihn gebunden ist«. 167 Wie das Leben als »ungeteiltes Ganzes im Ganzen des Leibes« wohnt, so ist es auch in jedem seiner Teile gegenwärtig. Das heißt aber, daß das mythische Bewußtsein vor allem ein Bewußtsein des biologischen Lebens ist, zu dem der Tod als Phase oder »Daseinsform« des Lebens dazugehört. Somit sind alle Zustände der Seele in eine Form des biologischen Lebens eingebunden. 168 Und diese beseelte biologische Lebensform wird von dem »mythischen Lebensgefühl« getragen, das sich durch ein besonderes Phasengefühl auszeichnet. Dieses erlebt kein »Kontinuum des Lebens«, sondern selbständige »Lebensphasen«, in denen jeweils ein neues – weiterhin dunkles – »Selbst« auftritt. Immer noch »vollzieht sich hier ein Sieg des unmittelbaren konkreten Lebensgefühls über das abstrakte Ichund Selbstgefühl«. 169 Dieses uralte mythische Lebensphasengefühl sieht Cassirer bei »rein intuitiven künstlerischen Naturen« wie Dante und Goethe noch vorkommen und aufscheinen. Die »empirische Folge der Lebensereignisse« wird in diesem Lebensphasenbewußtsein, in dieser mythischen »Anschauung des Ich«, zunächst auf verschiedene Subjekte verteilt. 170 Die Seele wird hier als »bloßer Träger oder als Ursache der 165 166 167 168 169 170

Ebd., 185; ECW 12: 181. Ebd., 186 f.; ECW 12: 182 f. Ebd., 188; ECW 12: 186. Ebd., 191 f.; ECW 12: 186. Ebd., 196 f.; ECW 12: 192 f. Ebd., 198; ECW 12: 194.

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Lebenserscheinungen« verstanden und fällt somit weiterhin ganz in die biologische »Sphäre des Lebens«. Erst wenn sie als Subjekt eines sittlichen Tuns, als Subjekt der »ethischen Sphäre« erlebt und verstanden wird, bildet sich ein einheitliches und nichtbiologisches Ich-Gefühl (Ich-Verständnis) heraus, das ein Überschreiten des mythischen Denkens einleitet. Damit vollzieht sich aus dem ursprünglich »undifferenzierten Lebensgefühl« der Übergang zum Begriff und »Bewußtsein des ›Selbst‹«. 171 Und dieser Vorgang ist für Cassirer kein ursprünglich individueller, sondern ein sozialer, in dem sich das individuelle Selbst ebenfalls abgrenzen muß. Das mythische »Selbstgefühl« arbeitet sich grenzziehend und vermittelnd also auch gegenüber einem »ihm gleichartigen persönlichen Dasein und Leben« heraus, weshalb hier das »individuelle Selbstgefühl« ebenfalls erst am Ende des Prozesses steht, nachdem am Anfang ein »mythisch-religiöses Gemeinschaftsgefühl« vorgeherrscht hat. Folglich ist das personale Gefühl ursprünglich von den es »umfassenden Lebenskreisen« anderer Wesen noch nicht unabhängig. Der sich langsam differenzierende »Organismus des sozialen Lebens« findet sich zwar in der mythischen Götterwelt wieder, diese läßt sich jedoch aus ihm nicht ableiten. 172 Vielmehr müsse man in der mythisch-religiösen Welt des Göttlichen ein »Mittel der ›Krisis‹ selbst [ . . . ] erkennen, kraft dessen aus dem Chaos des ersten unbestimmten Lebensgefühls erst bestimmte Urformen des sozialen und des individuellen Bewußtseins entstehen«. 173 Die Überlegungen, die Cassirer über eine Differenzierung des zunächst allumfassenden mythischen »Lebensgefühls« in ein menschliches, gattungsmäßiges, gruppenspezifisches Lebensgefühl und Selbstbewußtsein anstellt, erweisen sich als ausgesprochen interessant. Erst die schritt weise Bewußtwerdung eines überindividuellen Selbstgefühls läßt die »allgemeinste Form des menschlichen Gattungsbewußtseins« hervortreten, durch welchen sich der Mensch gegenüber der »Gesamtheit der [biologischen – C. M.] Lebensformen« absondert. 174 In diesem Prozeß beginnt das »allgemeine Lebensgefühl« des in der mythischen Welt lebenden Menschen sich auf ein »spezifisch-menschliches Gemeinschaftsgefühl« zu konzentrieren und zu verengen. Bisher hatte dieses Lebensgefühl das »Lebendige« der Tier- und Pflanzenwelt eingeschlossen (Totems). Das als tiefste geistige Schicht fungierende mythische Lebens-

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Ebd., 209; ECW 12: 205. Ebd., 210 f.; ECW 12: 205 f. Ebd., 212; ECW 12: 208. Ebd., 213; ECW 12: 209.

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gefühl war zunächst ein Gemeinschaftsgefühl mit allem gewesen, wovon der Mensch Wirkungen empfängt und worauf er wirkt. Deshalb erstreckte es sich auf »ganz verschiedene Lebenskreise, auf verschiedene tierische Gattungen und Species«. Als Zwischenstufe weicht dieses Gefühl der Verbundenheit mit allem Lebendigen dem Gefühl der Verwandtschaft mit einem bestimmten Totemtier. Wobei sich in dessen Wahl »je eine spezifische Lebens- und Geisteshaltung« eines Clans darstellt und objektiviert. 175 Doch am Ende fühlt und weiß sich der mythische Mensch in einer eigenen »Lebensform und Lebensweise«. 176 Er beginnt sich nicht nur von den biologischen »Lebensformen« abzuheben, sondern unterteilt nun auch das Lebendige in »biologische ›Arten‹«. 177 Trotzdem bleibt in allen vollzogenen Sonderungen für das mythische Bewußtsein und für das mythische Gefühl die »Idee der Einheit des Lebens« noch immer erhalten. Die für diese Geisteshaltung typische »Dynamik und Rhythmik des Lebens«, die in der sich wiederholenden Phasenhaftigkeit des Lebens aufscheint, wird in allen Objektivierungen als ein und dieselbe empfunden. In dieser Idee der Einheit drückt sich für das Bewußtsein das »Wesen [ . . . ] des Lebens« aus, des eigenen Lebens wie des Lebens, das ins Gemeinschaftsgefühl fällt. 178 Letztlich wollen einige Vertreter der Lebensphilosophie an dieses »Grundgefühl« anschließen, um es erneut zu erwecken und es sowohl den immer weiter reichenden Objektivationen als auch der immer rationaleren individuellen Subjektivation entgegenzusetzen. Das romantisch verklärte Aufgehen des abgegrenzten Individuellen und der äußeren Objektivationen im Lebensgefühl, im unmittelbaren Erleben und im Einssein mit allem Lebendigen, gesteht Cassirer dem mythischen Grundgefühl als einem Streben nach »Identität mit dem Urquelle des Lebens«, d. h. mit allem Lebendigen, in der Tat noch zu. Den mythischen Menschen dränge es überall, die »Schranke, die ihn vom All des Lebendigen trennt, zu durchbrechen, die Intensität des Lebensgefühls in sich« zu steigern, und sich so aus jeglicher individuellen Besonderung zu befreien. 179 Da diese Besonderung mit dem Menschsein einsetzt, erfährt sich der der mythischen Lebensform Verhaftete bereits von solcherart romantischer Rückwärtsgewandtheit befallen. Das mythische Bewußtsein darf sich aber noch ungestraft an der »Totalität des Lebendigen« orientieren, da ihm alle späteren meta-

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Ebd., 222; ECW 12: 218. Ebd., 214; ECW 12: 209. Ebd., 219, 227; ECW 12: 215, 223. Ebd., 224 f.; ECW 12: 220. Ebd., 225; ECW 12: 221.

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physischen Dualismen fremd sind, ihm die Metamorphose des Seins als die »›natürliche‹ Form des Lebens selbst« gilt und alles Sein nur als Lebendiges erlebt wird. 180 Die in allem Lebendigen gefühlte identische »Lebenskraft«, »belebende und zeugende Kraft der Natur« wirkt im nachmythischen Bewußtsein weiter fort. 181 Doch gegen die an Dynamik zulegende Individualisierung des Menschen, seine Abgrenzung gegenüber der Gemeinschaft alles Lebendigen gibt es keine wirkliche Barriere. Die aus dem mythischen Quell schöpfende symbolische Form der Kunst (Plastiken, Epos, Tragödie) hilft dem mythischen Bewußtsein dabei, über seine Wesensart hinauszuschreiten. 182 Das neue individuelle Bewußtsein des Menschen wächst zwar aus dieser mythischen »Urschicht« heraus, löst sich dabei aber schließlich vom »Lebensgrund« des Mythos, d. h. vom »Urgrund des Lebens« ab. Die »gewaltsame Losreißung« des Ich von dem »allgemeinen Urgrund des Lebens« wird vom Menschen zuerst als wahre Tragödie empfunden, die zeitweise in kultischer Ekstase ins »Allleben« zurückgenommen wird. 183 Dem frühen Kulturmenschen dienen vielfache dionysische Kulte, die gattungsmäßige Besonderung des Lebens auf Zeit zu überwinden und die »Identität mit dem Urquell alles Lebens« wieder herzustellen. 184 Aufhalten oder gar rückgängig machen können sie den Weg in die emanzipatorische Individuation aber nicht.

5 Kritik des lebensphilosophischen Intuitionismus: Formen des Lebens und lebendige Formen Die aufmerksame Lektüre der ersten beiden Teile des Hauptwerkes PsF belegt, daß Cassirer nicht erst in den nachgelassenen Manuskripten von 1928 auf die moderne Lebensphilosophie und den von ihr thematisierten Grundgegensatz von Subjektivität (Leben) und Objektivität (Geist) zu sprechen kommt. Indem er unser Wirklichkeitsverhalten, so auch das wissenschaftliche Erkennen, als ein symbolisierendes Verhalten und damit als ein vermittelnd-vermitteltes Sich-der-Wirklichkeit-Nähern deutet, ist seine Opposition gegen jegliche philosophische Positionen (Descartes, Bergson, Husserl) unabdinglich, die das unmittelbare Er-

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Ebd., 232 f.; ECW 12: 229. Ebd., 227; ECW 12: 223. Ebd., 234 f.; ECW 12: 230 f. Ebd., 236; ECW 12: 232. Ebd., 225; ECW 12: 221.

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schauen und Erfassen des Gegebenen oder die unmittelbare Präsenz der Bewußtseinsgehalte als letzte, evidente Gewißheit annehmen. Cassirer versucht zumindest, so deutet dies Schwemmer, die Cartesisch-Husserlsche Position zu relativieren, wonach »nur die Unmittelbarkeit des sich selbst präsenten Bewußtseinslebens zweifelsfrei als unmittelbar und dadurch als gewiß anzuerkennen ist«. 185 Allerdings kehre Cassirer das herkömmliche Verhältnis von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit um, da es für ihn eben nicht gilt, »daß die Ereignisse das Unmittelbare und die Formen das Mittelbare« sind; bei ihm komme das Primat vielmehr eindeutig der Form zu. 186 In diesem Sinne sind alle drei Teile der PsF zu Recht als ein Gegenentwurf zur lebensphilosophischen Lösung des Problems der Unmittelbarkeit des Lebens zu lesen, zumal wenn, wie Cassirer glaubt erklären zu können, die intuitionistischen Gewißheiten auf einer Reihe von Selbsttäuschungen und falschen Alternativen beruhen. Die Texte von 1928/29 bieten im Vergleich zur PsF I-III allerdings eine stärkere Würdigung der Lebensphilosophie samt ihrer philosophischen Leistung und Grenze. Die in der PsF vielfach verwendeten Anführungsstriche deuten die Verwendung von typischen Termini dieser philosophischen Strömung an, machen aber auch auf die Distanz Cassirers zu dieser Terminologie aufmerksam. Das Gleiche gilt für häufig gebrauchte Wendung, es »scheine« so und so zu sein. Obwohl er es nicht erwähnt, ist es sehr wahrscheinlich, daß er Rickerts Buch über die moderne Lebensphilosophie kennt und sich seiner Argumente bedient, zudem es sein alter Berliner Kollege Frischeisen-Köhler 1921 in den Kant-Studien bespricht. 187 Rickerts Buch enthält eine Reihe von Passagen, die sich kritisch mit dem Intuitionismus Bergsons auseinandersetzen. 188 Die große Aufmerksamkeit, die Cassirer in diesen Jahren dem Lebensproblem und der es thematisierenden »modernen Philosophie« schenkt, wobei ihm deren Anfänge bis auf Descartes zurückzureichen scheinen, schlägt sich in PsF I u. a. in der Diskussion um »einen letzten fundamentalen Gegensatz« nieder, wie ihn kontinuierlicher Fluß und diskontinuierliches Fixieren, »Subjektivität und Objektivität« repräsentieren. Die moderne Philosophie wollte diesen Gegensatz durch ihre »›subjektive‹ Wendung« weg von der Einheit des Seinsbegriffs hin zum

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Schwemmer (1997: 207). Ebd., 210. Die »Formbezogenheit defi niert für Cassirer den Geist und also den Menschen und seine Kultur.« – Ebd., 216. 187 Frischeisen-Köhler (1921). 188 Rickert (1922: 3. und 4. Kapitel, 34–72). 186

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»Begriff des Lebens« lösen. 189 Bereits hier werden die Termini »moderne Philosophie« und »Begriff des Lebens« in einen offensichtlich selbstverständlichen Zusammenhang gesetzt. Man gewinnt den Eindruck, daß Cassirer, ganz wie Simmel,190 in der Orientierung am Begriff des Lebens und am Formproblem des Lebens ein Merkmal der Philosophie im 20. Jahrhundert erblickt. Doch der durch die Abwendung von der Ontologie scheinbar gelöste Gegensatz der Subjektivität und Objektivität trat im »Umkreis des Lebens« als ein um so radikalerer Gegensatz wieder hervor: als Dualismus zwischen der in der »reinen Unmittelbarkeit« des Lebens gegebenen, samt der in ihr beschlossenen »Wahrheit des Lebens«, und der Bedrohung bzw. Aufhebung eben dieser Unmittelbarkeit durch »alles Begreifen und Erfassen des Lebens«. 191 Bald wird klar, daß die PsF I eine grundsätzliche Kritik und Ablehnung der philosophischen Methode des Intuitionismus bietet, ohne freilich Bergson namentlich zu erwähnen. Die Polemik richtet sich vor allem gegen die Vorstellung von einer Unmittelbarkeit des Lebens bzw. Erlebens, die durch die Intuition unvermittelt, undistanziert zu fassen und begrifflich zu beschreiben sein soll. Aber auch gegenüber dem Positivismus (Mach) wirft Cassirer ein, er konstruiere sich seine unmittelbar gegebenen Empfindungstatsachen, die es so gar nicht wirklich gibt. 192 Hierbei darf nicht übersehen werden, daß Cassirer die Tatbestände der Unmittelbarkeit des Erlebens, der Unterbrechung des Flusses durch begriffliche Fixierung und der Vermittlung dieser Fixierungen durch symbolische Repräsentation als solche nicht in Abrede stellt. Er scheint aber zutiefst davon überzeugt zu sein, daß alle Deutungen dieser Tatbestände zwischen der Methode der mittelbaren Repräsentation durch symbolische Zeichen und der Methode der unmittelbaren Intuition der Gehalte zu wählen haben; eine dritte Möglichkeit, wie sie die Mystik für sich reklamiert, hat für ihn keine erkenntnistheoretische Relevanz. Dieser Problematik geht er in der »Einführung« in die PsF I ausführlich nach. Die Grundtendenz seiner Überlegungen besteht in der Unterscheidung der mittelbaren Rekonstruierbarkeit des unmittelbaren

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PsF I: 48; ECW 11: 46. Diese Formulierung macht deutlich, daß sich Cassirer weder mit einer ontologischen Seinsphilosophie noch mit der eines subjektiven Lebensbegriffs identifi ziert. Heidegger wird ihm in der Rezension von PsF II 1929 vorwerfen, anstatt der Seinsphilosophie eine neukantianisch orientierte Bewußtseinsphilosophie zu pflegen, was so nicht stimmt. – Heidegger (1991: 266 f.). Siehe dazu auch Hartung (2003: 235 f.). 190 Simmel (1996: GA 14, 385–416); Simmel (1999b: GA 16, 181–207). 191 PsF I: 48 f.; ECW 11: 46 f. 192 PSF II: 282; ECW 12: 276.

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Erlebens193 von der Unmöglichkeit, sich in dieses Erleben distanzlos hinein zu versetzen oder es begrifflich adäquat zu fassen. Das Verfahren, sich per Intuition der reinen Unmittelbarkeit und Wahrheit des fließenden Lebens bemächtigen zu können, gilt ihm als eine Scheinalternative zur Rekonstruktion, der jedoch selbst Denker wie Platon, Leibniz und Kant aufgesessen sind. 194 Allerdings scheint es beim rekonstruktiven Verfahren so zu sein, als trete die »reine Unmittelbarkeit des Lebens« in die »mittelbaren Darstellungen, die wir von ihr versuchen, nicht ein, sondern bleibt als ein prinzipiell Anderes [ . . . ] außerhalb ihrer stehen«. 195 Damit bleibt auch die mittelbare Rekonstruktion unbefriedigend, wenn man an sie gänzlich unrealistische Forderungen stellt. Vor diesem Hintergrund, daß die Rekonstruktion nicht alle Erwartungen zu erfüllen vermag, scheint mancher Philosoph (Bergson) zu glauben, es lasse sich »der ursprüngliche Gehalt des Lebens«, wenn schon »nicht in irgendeiner Form der Repräsentation«, so doch in der »reinen Intuition« erfassen. Diese Anmutung läßt den Schein entstehen, als müsse man sich entscheiden, mit welcher der beiden Auffassungen nun auch das sogenannte »Substantielle des Geistes« bestimmt und erfaßt werden soll. Die Intuition bietet hierbei die vorausliegende Ursprünglichkeit, den »echten Kern des Lebens«, die Repräsentation dagegen bloß die nachliegenden symbolischen Vermittlungen, d. h. ein »reflektiertes Abbild ohne selbständige Wahrheit«. Die Kluft, die sich hier zwischen den beiden möglichen Ergebnissen auftut, erweist sich für Cassirer in Wirklichkeit gar nicht als zwingend, weil er die ihr zugrundeliegende Alternative – Intuition oder Rekonstruktion – für eine falsche hält. Dem in dieser falschen Alternative aber verstrickten Philosophen erscheint diese Kluft jedoch als unüberbrückbar. Sie führt zur Konfrontation der Anhänger des intuitiven (Bergson, Husserl) und des rein symbolischen Erkennens (Cassirer): Allem Augenschein nach trennen wir uns, »je weiter wir in der Richtung auf das Symbolische« fortschreiten, um so mehr vom »Urgrund der reinen Intuition«.196 In Wirklichkeit, und das versucht Cassirer in der PsF aufzuzeigen, bleibt auch die symbolische Form dem Urgrund des Lebens verbunden und verpflichtet. Vor allem aber arbeitet er dem Anschein, wonach die Unmittelbarkeit des Lebens durch die Intuition adäquat zu fassen und sogar in wissen193

M. Ferrari verweist mit gutem Recht darauf, daß sich Cassirer bei seinen Überlegungen zur mittelbaren Rekonstruktion des unmittelbaren subjektiven Lebens an der Methode orientiert, die Natorps in seiner Allgemeinen Psychologie (1912) vertreten hatte. – Ferrari (1995: 815). 194 PSF I: 50; ECW 11: 47 f. 195 Ebd., 49; ECW 11: 47. 196 Ebd., 50; ECW 11: 47.

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schaftlichen Begriffen mitteilbar ist, mit einer eigenen Theorie hinsichtlich der Unmittelbarkeit des Lebens entgegen. Dabei polemisiert er weniger gegen das Faktum, daß menschliches Bewußtsein – als mythisches bzw. als ihm zugrundeliegendes reines Ausdruckswahrnehmen – in einer solchen Unmittelbarkeit lebt, sondern allein gegen die Verheißung der intuitionistischen Philosophie, sich dieser Unmittelbarkeit versichern zu können, ohne das theoretische (begriffliche) Bewußtsein wirklich hinter sich lassen zu müssen. Doch das scheint praktisch nur in pathologischer Abnormität möglich zu sein. Cassirers Argumentation ist als ein Votum zu verstehen, sich diesem unbestrittenen Urphänomen des Lebens auf symbolische und mittelbar rekonstruierende Weise zu nähern. Diese Annäherung decke dann auf, daß ihm bereits – zumindest als Potenz – eine Doppelrichtung bzw. eine Doppelbedeutung (Sinnliches-Sinn, IchDu, Innen-Außen, etc.) und deren praktische Vermittlung inhärent sind. Damit erweise es sich, daß Verabsolutierung und Dramatisierung dieser Differenz samt der aus ihr erwachsenden »Kluft« nicht alternativlos sind, obwohl an ihrem faktischen Bestehen kein Zweifel besteht. Stellt sich uns doch dieser »Gegensatz als ein Widerstreit und eine ständige Spannung zwischen ›Kultur‹ und ›Leben‹ dar.« Es scheint auf den ersten Blick so, als führte uns die geistige Kultur schicksalhaft von der »Ursprünglichkeit des Lebens« weg. In seinem Tun entfernt sich der bildende Geist scheinbar immer mehr von dem »Urquell seines eigenen Seins«. Auf den ersten Eindruck legen seine symbolischen Schöpfungen einen »Schleier um ihn«, die ihm, dem Geist, seinen eigentlichen Urquell, das Leben, verbergen. 197 In dieser Konstellation, die weitgehend auf Täuschungen und vermeintlichen Zwangsläufigkeiten beruht, scheint es nun die »tiefste Aufgabe einer Philosophie der Kultur« zu sein, »diesen Schleier aufzuheben – von der vermittelten Sphäre des bloßen Bedeutens [ . . . ] wieder in die ursprüngliche des intuitiven Schauens zurückzudringen.« Genau das will die Lebensphilosophie, insbesondere ihre intuitionistische Richtung, leisten. Doch die Philosophie ist und bleibt grundsätzlich auf das »›diskursive‹ Denken« und die »Schärfe des Begriffs« (Rickert) angewiesen. Deshalb blieb und bleibt ihr auf immer das »Paradies der reinen Unmittelbarkeit verschlossen«. 198 Aus diesem Grunde stellt sich die Lebensphilosophie eine illusionäre Aufgabe! Eine wahrhaft erfolgreiche Philosophie, als die Cassirer in erster Linie seine Philosophie der symbolischen Formen ansieht, macht sich dagegen die »geistigen Bildwelten« und die »symbolischen Formen« der Kultur 197 198

Ebd., 51; ECW 11: 48. Siehe dazu auch Ferrari (1995: 814).

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in ihren gestaltenden Grundprinzipen bewußt. Dabei wandelt und vollendet sich für sie das unmittelbare Leben zur »Form des ›Geistes‹«. Die »Negation der symbolischen Formen würde daher in der Tat, statt den Gehalt des Lebens zu erfassen, vielmehr die geistige Form zerstören, an welche dieser Gehalt sich für uns notwendig gebunden erweist«. 199 Der »Gehalt des Lebens« bedarf also der geistigen Formen, der symbolischen Medien, sonst bleibt er für uns schlechthin unergründlich, unfaßlich, nichtexistent. Dem aufmerksamen Leser der PsF I stellt sich bei diesen Passagen allerdings auch die Frage, inwieweit Cassirer in dem hier dokumentierten Problembewußtsein nicht doch durch Simmel und dessen Nachdenken über die ›Tragödie der Kultur‹ angeregt worden ist, ohne dessen Lösung des Grundproblems teilen zu müssen. Einen gewissen Aufschluß darüber bieten zwar die Texte von 1928, die im nachstehenden Kap. IV ausgewertet werden, aber auch sie belegen keine detaillierte Kenntnisnahme des Simmelschen Essays vor 1927/28. Neben dem Abweisen des lebensphilosophisch-intuitionistischen Bezugs auf den Urgrund des Lebens ist Cassirer, wie bereits aufgezeigt, sehr nachdrücklich um den Nachweis bemüht, daß selbst im modernen theoretischen Bewußtsein und in den symbolischen Formen der modernen Kultur das Urphänomen des Lebens – in Gestalt der emotionalen Ausdruckswahrnehmung und des mythischen Lebensgefühls – präsent ist und wirksam bleibt. Auch wenn er diese unaufhebbare Präsenz am Ende seines Lebens als Bedrohung der rationalen Gestaltung menschlicher Freiheit begreifen wird, ändert dies für ihn nichts an dem Tatbestand als solchem. 200 Eine dem Mythischen gegenüber kritische Haltung, die Zeitgenossen wie Heidegger oder Tillich nicht teilen, bekundet Cassirer bereits 1925 im Vorwort zu PsF II. Hier bezieht er klar Stellung gegen ein in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft gefordertes »Heimatund Bürgerrecht« des Mythos auf dem »Gebiet der reinen Methodenlehre«. Es ist heute nahezu vergessen, daß Cassirer bereits in diesem Werk davor warnt, die Geschichte oder die Geisteswissenschaften dem »Mythos anheimzugegeben«. Jegliche »Eingriffe des Mythos in den Kreis der Wissenschaft« müßten vielmehr »erfolgreich abgewehrt werden«. 201

199

PsF I: 51; ECW 11: 49. Jenseits der »Welt der Symbole« fi ndet der Mensch nicht die »›unsagbare Fülle des Lebens selbst‹, sondern ›nur wieder die Enge und Dumpfheit des sinnlichen Bewußtseins‹«. – Knoppe (1994: 466). 200 Am beunruhigendsten an der »Entwicklung des modernen politischen Denkens ist das Zutagetreten [ . . . ] der Macht des mythischen Denkens. Das Übergewicht mythischen Denkens über rationales Denken in einigen unserer modernen politischen Systeme ist augenfällig.« – MS: 7. 201 PsF II: XII; ECW 12: XIV.

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drittes k apitel

Trotz aller Verlockung, die von dem der »geistigen Urschicht« entstammenden Mythos ausgeht, und trotz des Tatbestandes, daß der »Mythos als Ganzes« offensichtlich eine »Einheit der Anschauung, eine intuitive Einheit« verkörpert, die »allen Auseinanderlegungen, die sie im ›diskursiven‹ Denken erfährt, voraus und zugrunde liegt«, 202 hat der Mythos seine Zeit gehabt. Im modernen Leben kommt ihm, davon ist Cassirer fest überzeugt, keinerlei emanzipatorische Funktion mehr zu. Der Argumentation in MS vorgreifend stellt er fest, daß es geschichtlich vielmehr einen erheblichen kulturellen Fortschritt, einen »inneren geistigen Befreiungsprozeß« bedeutet hat, als der Gedanke der »mythischen Schuld und des mythischen Verhängnisses« durch den Sokratischen Grundgedanken der »ethischen Selbstverantwortung« abgelöst wurde. 203 Denn nunmehr wurden in der griechischen Welt »Sinn und Kern des Lebens des Menschen« von seinem eigenen sittlichen Willen abhängig gesehen und gemacht. 204 Cassirer, der weitsichtige Philosoph der Freiheit und der Selbstbefreiung des Menschen aus der Unmittelbarkeit der Lebensbedürfnisse, fordert schon Mitte der 20er Jahre, daß diese Errungenschaft niemals wieder durch mythische Schicksalsbegriffe rückgängig gemacht werden dürfe. 1945 wird er feststellen müssen, daß die moderne Wissenschaft und Philosophie diese ihre Bewährungsprobe gegenüber den Anmutungen des Mythos nicht bestanden haben, da sie ihn unterschätzten. 205 Eine wohlverstandene Philosophie hat folglich nicht die Aufgabe, die geistigen Formen durch Intuition zu transzendieren und so ins unmittelbare Leben zu greifen, sondern von ihr muß erwartet werden, daß sie die geistigen Schöpfungen in ihrem gestaltenden Grundprinzip versteht und bewußt macht. 206 »In dieser Bewußtheit erst erhebt sich der Gehalt des Lebens zu seiner echten Form«. 207 Es ist demnach immer auch die Philosophie der symbolischen Formen, die den Gehalt des Lebens in Form des geistigen Lebens, in Form der dem Leben entspringenden und ihm weiter verhafteten geistigen Formen der Kultur verständlich macht. Ist doch die »Sphäre des bloß naturgegebenen Daseins«, der biologische Prozeß, nicht

202

Ebd., 89; ECW 12: 85. »Die Welt der menschlichen Kultur [ . . . ] konnte nicht entstehen, ehe die Finsternis des Mythus besiegt und überwunden war.« – MS: 390. 204 PsF II: 161; ECW 12: 157. 205 MS: 387 f. 206 Heidegger dagegen, Cassirers Widerpart in der Philosophie der 20er Jahre, besteht auf dem »philosophischen Problem der Transzendenz«, für ihn ist das Problem der Transzendenz ein »ursprüngliches Phänomen«. – Heidegger (1991: 268). 207 PSF I: 51; ECW 11: 49. 203

Denkformen und Lebensformen (1923–1925)

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die echte Form des Lebens, sondern erst die »Form des ›Geistes‹«, zu der es sich wandelt. Der Gehalt des Lebens ist an seine »geistige Form« als symbolische Form gebunden, zumindest für den Menschen. Die Philosophie der symbolischen Formen lehnt das »Ideal einer passiven Schau der geistigen Wirklichkeiten« ab, sie versetze sich vielmehr in die geistige Aktivität dieser symbolischen Formen bzw. Funktionen hinein und hebt vergleichend »gewisse gemeinsame und typische Grundzüge der Gestaltung« heraus. 208 Damit scheint diese wahre Aufgabe der »Philosophie der Kultur« bis zu einem gewissen Grade mit Spenglers Schau der analogen Formen des Lebens in den Kulturindividuen übereinzustimmen. Eine methodische Abgrenzung von Spenglers Organologie wird Cassirer wenig später vornehmen, sie wird ihn bis in den MS nicht mehr loslassen. 209 Anstelle des weit verbreiteten Auseinanderreißens von Leben und Form spürt Cassirer nicht nur der Formung des Lebens nach, sondern auch dem Leben der Formen. Versteht er doch die – qualitativ verschiedenen – Formen des Geistes als »dynamische« Formen, als lebendige Formen, die eine dem organischen und seelischen Leben (Goethe) abgeschaute »oszillierende Bewegung« zwischen relativen Gegensätzen vollziehen. 210 Außerdem konstituiert sich die je »eigene Form« des Geistes in der »lebendigen Oszillation« zwischen den Gegenpolen des Sinns und seines bildhaften Trägers. 211 Von Veränderungen und Verwandlungen in den geistigen Formen geht »eine Belebung« des Geistes aus. 212 Cassirer konstatiert mehrfach die »Lebendigkeit« von sprachlichen Grundformen als symbolischen Formen bzw. als Energien des Geistes. 213 Die geistig belebende Funktion oder Wirkung symbolischer Formen führt er auch im Fall der Sprachform darauf zurück, daß dem Bewußtsein ein »eigenes inneres Leben« zugeschrieben werden müsse, mit dem es u. a. die Gesamtheit der sinnlichen Eindrücke »durchdringt« und »erfüllt«. 214 Wenn also die Rede davon ist, daß z. B. in der Sprachform der »Prozeß der Belebung und der Prozeß der Bestimmung stetig ineinander übergehen« und zu einer geistigen Einheit zusammenwachsen, dann meint Belebung, daß durch das lebendige Bewußtsein Momente »des persönlichen

208

Ebd.; ECW 11: ebd. Zu Cassirers Überlegungen hinsichtlich des in der Romantik verbreiteten Begriffs des Organismus siehe Kap. III, Abschn. 3, 159 ff. 210 PsF I: 237; ECW 11: 238. 211 PSF II: 310; ECW 12: 304. 212 PsF I: 226; ECW 11: 226. 213 Ebd., 243; ECW 11: 243. 214 Ebd., 260; ECW 11: 260. Überhaupt wird dem Bewußtsein »Leben« zuge209

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drittes k apitel

Wirkens« auf die Begriffe übertragen werden, die in ihrer sprachlichen Form trotzdem der »bloßen Subjektivität des Empfindens und Fühlens« gegenübertreten. Dieses Beleben und Bestimmen vollzieht sich als »Doppelrichtung« der geistigen Leistung »vom Inneren zum Äußeren hin und von diesem wieder zu jenem zurück«. 215 Cassirer spricht auch weiterhin in dem ganz konventionellen Sinne vom Lebendigwerden einer Idee, einer Theorie etc., wenn sie aus zeitweiliger Vergessenheit oder Nichtbeachtung wieder in den wissenschaftlichen Diskurs zurückgeholt wird. Oder davon, daß bestimmte Vorstellungen eine große »Lebenskraft« haben und deshalb ihre unmittelbare Lebendigkeit im Bewußtsein des Menschen nicht verlieren. 216 So werde z. B. in den sprachphilosophischen Kritiken der Renaissance an der Aristotelischen Logik der ursprüngliche Platonische Begriff der Dialektik wieder »lebendig«. 217 Scheinbar überwunden und ausgeschieden geglaubte mythische Motive und Momente bleiben sogar noch im Positivismus des 19. Jahrhunderts »lebendig«. 218 Und bei dem Philosophen der Ideenschau, bei Platon, ist die »eigentümliche Gestaltungskraft des Mythischen noch unmittelbar lebendig und wirksam«. 219 Auch eine symbolische Form wie die Sprache besitzt die Funktion lebendiger Bewahrung von überwundenen Formen. So hat die Sprache die Spuren des Zusammenhanges zwischen mythisch-räumlicher Orientierung und rein gedanklicher Orientierung »noch vielfach lebendig bewahrt«. 220 Das unmittelbar Lebendige erfährt in den symbolischen Gestaltungen aber bereits eine bloß mittelbare Darstellung. So ist im Tun, in den Riten des Menschen und in seinem Affekt und Willen etwas »unmittelbar [ . . . ] lebendig«, was im bilderhaften Mythos »eine mittelbare Deutung« erfährt. 221

schrieben, das Bewußtsein »lebt« in seinen Gebilden, in bestimmten Sphären. (PsF II, Xf. ; ECW 12: XIII) Das trifft auch auf die symbolischen Formen als subjektiver und objektiver Geist zu: So »lebt und ist« der Mythos ursprünglich in »Bildgestalten«, in denen er »seine Wesensart unmittelbar und konkret verkörpert«. (Ebd., 233; ECW 12: 229) Das mythische Bewußtsein »lebt« anfänglich in den einzelnen Phasen des Lebensgeschehens. – Ebd., 137; ECW 12: 131. 215 PsF I: 261 f.; ECW 11: 261 f. 216 PsF II: 220; ECW 12: 216. 217 PsF I: 67; ECW 11: 63. 218 PsF II: XI; ECW 12: XIV. 219 Ebd., 4; ECW 12: 2. 220 Ebd., 125; ECW 12: 119. 221 Ebd., 51; ECW 12: 47.

viertes k a pitel

Paradies des Lebens und menschliche Freiheit (1927–1932)

1 Paradies des Lebens und kulturelles Symbol. Lebensphilosophie und Philosophie der symbolischen Formen Hatte Cassirer die Vertreter der modernen, zeitgenössischen Metaphysik des Lebens in früheren Schriften nur gelegentlich erwähnt und ihre Lehren eher sporadisch ausgewertet, so ändert sich das in den Jahren 1927– 1930 grundlegend. Insbesondere in der Phänomenologie der Erkenntnis (PsF III), dem vierten Davoser Vortrag, der Disputation mit Heidegger und den unveröffentlicht geblieben Texten Zur Metaphysik der symbolischen Formen (ECN 1) 1 werden Bergson, Scheler, Klages, Spengler, Heidegger und Simmel große Aufmerksamkeit und ausführliche Würdigung zuteil. Auch mit Nietzsche setzt er sich erstmals in einem Text ausführlich auseinander. Die »Philosophie des Lebens« ist für ihn nun ein »breiter Strom«, der außer der metaphysischen Richtung (Bergson, Husserl, Scheler, der späte Natorp) noch eine naturalistisch biologische (Darwin, Spencer) und eine geisteswissenschaftliche Richtung (Dilthey) umfaßt. 2 Die große Aufmerksamkeit für die moderne Philosophie des Lebens rechtfertigt Cassirer – ähnlich wie wenige Jahre zuvor Rickert 3 – damit, daß sie die wichtigste Repräsentantin der zeitgenössischen Metaphysik ist, 4 die mit ihren »Denkern von so durchaus verschiedener Geistesart und von so verschiedener geistiger Herkunft wie Nietzsche und Bergson, wie Dilthey und Simmel« exemplarisch die paradoxe Dialektik der »objektiven Gegensätzlichkeit der ›Formen‹« und der verlorenen »Einheit

1

Die ersten drei, im Frühjahr 1929 in Davos gehaltenen Vorträge Cassirers »hatten offenbar den Sinn, Anknüpfungs- sowie Differenzpunkte seiner Philosophie zu Heideggers phänomenologischer Existentialanalyse zu offerieren« (Paetzold [1995: 88]). Ihre Hauptthesen dürften in vielem mit denen der 1928 erarbeiteten Texte Zur Metaphysik des symbolischen Formen zusammenfallen (ebd., 88–91). Der vierte Vortrag beschäftigte sich mit ›Geist‹ und ›Leben‹ in Schelers philosophischer Anthropologie und wurde 1930 veröffentlicht (GL: 32–60; ECW 17: 185–205). 2 ECN 1: 238. 3 Rickert (1921: VII). 4 Etwa zur gleichen Zeit, 1929/30, beschreibt auch Husserl die aktuelle »Situation der deutschen Philosophie« mit dem Tatbestand »der in ihr um Vorherrschaft ringenden Lebensphilosophie«. – Husserl (1971: Hua V, 138).

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viertes k apitel

des ›Lebens‹« in den Mittelpunkt ihres Philosophierens stellt. Dabei erfahre diese Dialektik bei ihr die Gestalt des ungelösten »Gegensatzes von ›Leben‹ und ›Geist‹«. 5 Diesem Grundgegensatz werden alle anderen philosophischen Antinomien subsumiert. Die hierbei sichtbar werdenden Motive der Lebensphilosophen hält Cassirer keineswegs einfach für ausgedacht oder herbeigeredet, vielmehr wurzelten sie »in einer Grund- und Urschicht des modernen Lebensgefühls und des spezifisch-modernen Kulturgefühls«. In diesem sieht er auch eine durch die Zersplitterung und Entfremdung der geistigen Formen gespeiste »innere Spannung«, »polare Gegensätzlichkeit« zum Ausdruck drängen. 6 Deshalb stellt die Lebensphilosophie für ihn im Gegensatz zu Rickert, dessen Buch nunmehr explizit Erwähnung findet, 7 keineswegs eine »bloße ›Modeströmung‹« dar. Obwohl sich diese Auffassung von der hervorgehobenen Rolle der Lebensphilosophie in gewisser Hinsicht bereits 1923 in PsF I aufweisen läßt, 8 ist in Cassirers Texten der Hinweis, daß das moderne »Lebens- und Kulturgefühl« vor allem von der zeitgenössischen Lebensphilosophie aufgenommen und mit der Verheißung beantwortet wird, die in ihm zum Ausdruck gebrachte Zersplitterung und Entfremdung der kulturellen Formen im vorreflexiven Erleben hinterschreiten zu können, wiederholt erst seit 1927/28 anzutreffen. Der so bewußt gemachte »Grundgegensatz der modernen Philosophie« werde dafür in den »Schlagworten: rational – irrational; Leben und Denken[,] Intuition – Begriff; Existenz – Wert etc. ausgedrückt«. 9 Nicht zuletzt wegen dieser Schlagworte und der durch sie suggerierten Verheißung sieht er die »›modernen‹ und modernsten philosophischen Gedanken« der Lebensphilosophie »in der Romantik wurzeln« bzw. »von romantischen Vorbildern abhängig«. 10 Bekanntlich bewegt sich Cassirers eigene Betrachtung »ganz außerhalb dieses Gegensatzes«, stellt für ihn doch das Symbolische die »eigentliche Vermittlung dieses Scheingegensatzes« dar. 11 Gerade an ihm kann und muß sich die Philosophie der symbolischen Formen bewähren. Der Beitrag, den die anderen philosophischen Systeme zur Aufklärung des Gegensatzes leisten, entscheidet über das Verhältnis, in welchem die 5

ECN 1, 7 f. Ebd., 8, 238. 7 Cassirer spricht davon, daß es bei Rickert eine »Übersicht über die Formen der modernen Lebensphilosophie« gibt und daß Frischeisen-Köhlers »Besprechung des Rickertschen Buches in den ›Kant-Studien‹« heranzuziehen ist. – Ebd., 266. 8 PsF I: 48 f.; ECW 11: 46 f. Siehe dazu Kap. III, Abschn. 5 der vorliegenden Studie. 9 ECN 1: 266. 10 GL: 33; ECW 17: 186. 11 ECN 1: 266. 6

Paradies des Lebens und menschliche Freiheit (1927–1932)

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PsF zu ihnen steht. Deshalb prüft Cassirer ohne Voreingenommenheit, inwieweit die Philosophen des Lebens dieses Grundproblem der Philosophie erfassen, formulieren und inwieweit sie sich seiner Lösung durch die Theorie der Symbolismen als lebendig-geistigen Ausdrucksfunktionen annähern. Bei dieser Prüfung der Gemeinsamkeiten gelangt er zu unerwarteten, unorthodoxen Einschätzungen, u. a. hält er Simmel für den klarsten und ihm selbst am nächsten stehenden Lebensphilosophen. In den zwischen 1927 und 1929/30 niedergeschriebenen Texten12 – samt den in ECN 1 publizierten Aufzeichnungen und Notizen zu ihnen – kommt Cassirer mindestens in drei Bezügen auf die moderne »Metaphysik des Lebens« zu sprechen: Erstens benenne sie das philosophische Grundproblem der Zeit, ohne es jedoch zu lösen, zweitens komme sie seiner Lösung durch die Philosophie der symbolischen Formen teilweise sehr nahe, und drittens ergreife sie Partei in den philosophischen Kämpfen der Zeit. Die in den Ausarbeitungen angestellten Überlegungen zur zeitgenössischen Philosophie, zu dem von ihr thematisierten Problem der aus einem einheitlichen ursprünglichen Leben heraustretenden entfremdeten Formen des Geistes und zu der möglichen Lösung der ganzen Problematik in einem Konzept symbolischer Medien als einem Zwischenreich, hängen naturgemäß an der eigenen Deutung des Lebens als eines Urphänomens. Und gerade sein Verständnis erfährt mit der 1927 in PsF III niedergelegten phänomenologischen Theorie der emotionalen Ausdruckswahrnehmung einen ganz entscheidenden Fortschritt, da mit ihr die Quellschicht sowohl des Lebens als auch der symbolischen Formen entdeckt zu sein schien. 13 Wie bereits aufgewiesen und belegt wurde, konnte Cassirer dabei an frühere Thematisierungen des Lebensbegriffs anknüpfen, ohne den weder der Erkenntnistheoretiker, noch der Historiker wissenschaftlicher Denkstile, der Kulturphilosoph oder der Philosoph des subjektiven und objektiven Geistes korrekt beschreibbar ist. Schon deshalb kann von einer spektakulären, unergründlichen Hinwendung zum Lebensbegriff in jenen Jahren ebensowenig die Rede sein wie von einer solchen zur Lebensphilosophie. 14 Dessen ungeachtet war

12

Auch im Beitrag über »Form und Technik« (1930) wird diese Thematik mehrfach angesprochen. – STS: 39–41, 68 f., 76 f.; ECW 17: 139–141; 164 f. 13 Schwemmer wundert sich völlig zurecht, warum in der Cassirerforschung bislang dem ganz offensichtlichen Umstand so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, daß Cassirer die »Quelle der Kultur und damit aller symbolischen Formungen in dem Ausdrucksleben des Menschen« sieht. – Schwemmer (2002: 57). 14 Den Eindruck, den Renz in ihrer Untersuchung gewonnen hat, wonach dieser in den drei Teilen der PsF vom heftigen lebensphilosophischen »Sturmlauf gegen das Prinzip der Form« scheinbar unberührt bleibt und es den Anschein habe, als ob er

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viertes k apitel

sie für einige Zeit regelrecht in den Mittelpunkt seines Interesses an der zeitgenössischen Philosophie getreten. Die 1929 im Vorwort zu PsF III mitgeteilte Chronologie der Arbeitsschritte am dritten Teil spricht denn auch für die These einer kulminierenden Kontinuität im Thematisieren des Lebensproblems in der Zeit zwischen Mitte 1927 und dem Jahr 1929. Sie spart allerdings den philosophischen Durchbruch aus, den er im Ende 1927 fertig gestellten Haupttext mit der sogenannten Phänomenologie der Ausdruckswahrnehmung (Ausdrucksfunktion) im Rahmen seiner allgemeinen Ausdruckslehre dokumentiert. 15 Letztlich erklärt auch diese nunmehr ausgereifte, als Grundstein der Theorie der symbolischen Formen zu verstehende phänomenologische Lehre von den Ausdrucksphänomenen ein gutes Stück sein eminentes Interesse an der zeitgenössischen Lebensphilosophie, da von einigen ihrer Vertreter nicht nur das auch ihn beschäftigende Problem der scheinbar verlorenen Einheit der Kultur zum Thema erhoben wurde. Mit der in PsF III erstmals ausformulierten Theorie der emotionalen Ausdruckswahrnehmung bzw. dem physiognomischen Wahrnehmungserlebnis als unterster Stufe, als subjektiver Quelle des objektivierenden Bewußtseins hatte sich Cassirer nämlich einem wichtigen Ansatz solcher Lebensphilosophen wie Scheler, Klages oder Spengler angenähert. Bei aller kritischen Distanz zu diesen scheint er nun noch stärker bestimmte Momente des subjektiven Lebens als einem hinzunehmenden Urphänomen in seine eigene Philosophie zu integrieren, die eine Theorie der geistigen Ausdrucksfunktionen und der objektiven Gestaltungen des Geistes entwirft. Die Unmittelbarkeit der Ausdrucksphänomene, die diese Lebensphilosophen dem unmittelbaren, bildhaften Erleben zuschreiben, um es gegen die diskursive, vergegenständlichende Leistung des Geistes abzusetzen, entdeckt er nun als Quelle und unterste Schicht der symbolischen Leistungen selbst. Mit dieser Entdeckung gelingt ihm eine »emotionale und expressive Fundierung unserer geistigen Leistungen und unserer Kultur«. Mit ihr vermag er es zudem, die gesamte philosophische Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis in die »emotionalen und expressiven Schichten unserer Existenz« einzubeziehen. 16 Diese erst in den Texten von 1928 »eine neue Sensibilität für die Zerreißproben der zeitgenössischen Philosophie entwickelt«, hoffe ich mit der vorliegenden Studie korrigiert zu haben. – Renz (2002: 267 f.). 15 Wenn Paetzold meint, die »weitausholende Erörterung der Ausdrucks wahr nehmung [hätte] systematisch besser in den zweiten Band gehört« (Paetzold: 1995: 65), dann ist dem wohl durchaus zuzustimmen, dennoch scheint sich Cassirer vor 1925 über ihre weitreichende konzeptionelle Bedeutung noch nicht im Klaren gewesen zu sein. 16 Schwemmer (2002: 58).

Paradies des Lebens und menschliche Freiheit (1927–1932)

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Entdeckung und ihre philosophischen Konsequenzen sind bisher kaum bemerkt, geschweige denn gewürdigt worden. Doch mit der bis heute vielfach inkriminierten Lebensphilosophie hatte Cassirer auch schon vorher, ganz im Sinne seines ursprünglichen philosophischen Ansatzes, die Auflösung der Ding- und Substanzbegriffe in reine Funktionsbegriffe herauszustellen, die Abkehr von der Verdinglichung und Substantialisierung ein Stück weit verbunden. Das führte ihn zu der Einsicht, daß diese philosophische Strömung das Ende dieses Auflösungs- und Überwindungsprozesses innerhalb der Geschichte der Metaphysik bildet. Erfolge doch die Kritik der substantiellen Begriffe schließlich »von Seiten der Metaphysik des Lebens – des ›Prozesses‹ (Bergson)«, von Seiten des »Expressionismus = Lebensphilosophie, Ausdrucksphilosophie«. 17 Dennoch verabsolutiert sie, nach seiner Einschätzung, die negativen Aspekte der Verdinglichung (Objektivierung) und läßt deren positive und notwendige Folgen nicht gelten. Aus seiner Sicht bedeute der unvermeidliche »Abfall« der Erkenntnis vom »ursprünglichen Paradies des Lebens« nämlich zugleich den höchst wünschenswerten »Aufstieg« in das Geistesleben, weil er den Menschen in das Reich der Freiheit und des Selbstbewußtseins führt: »Dieser Bruch ist notwendig – das ›Böse‹, der Sündenfall ist aber auch Ursprung aller menschlichen Freiheit und alles menschlichen ›Selbst‹«. Beides, menschliche Freiheit und menschliches Selbstbewußtsein, »wird uns nur durch Aktivität, nicht durch das bloße pathos [Erleiden – C. M.] des unmittelbaren Lebensgefühls zu teil«. 18 Die im Kulturprozeß der Unmittelbarkeit des Lebens abgerungene Freiheit des Menschen bildet ohne Zweifel ein zentrales Motiv der Philosophie der symbolischen Formen, das diese ganz grundsätzlich an den »zentralen Problembegriff des Lebens«19 zurückbindet. Nicht nur, daß die symbolisierenden Kulturleistungen, durch die der Mensch sich gestalterische Freiräume erschließt, immer wieder gegen die rein praktisch orientierten Lebensleistungen abzusetzen und an ihnen zu messen sind, sie setzen letztere auch als ursprüngliche Gehalte voraus, an denen sich die Symbolisierungen entfalten. Und schließlich muß das Symbolvermögen im Urphänomen des Lebens einen Quell- oder Anfangspunkt haben – das Ausdrucksvermögen. Mit der Einsicht, daß Cassirer in der Philosophie des Lebens nicht nur ein verwandtes philosophisches Problembewußtsein vor sich hat, sondern einige ihrer Vertreter mit der Hinwendung zu den Ausdrucks17 18 19

ECN 1: 241. Ebd., 242. Ebd., 239.

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viertes k apitel

phänomenen, zum Symbolcharakter kultureller Phänomene und zur Formwerdung des Lebens ins Zentrum seines eigenen symbolischen Idealismus zielen, fällt auch ein neues Licht auf die Umstände der Entstehung des sogenannten vierten Teils der PsF. Die Arbeit am Manuskript der PsF III, deren Kapitel IV über die Mathematik schon vor dem Herbst 1927 vorlag, 20 wurde »zu Ende des Jahres 1927« abgeschlossen. 21 Im Juli 1929, als Cassirer dies mitteilt, ist er mit der »Korrektur des vorliegenden Bandes« PsF III befaßt. 22 Vorher hatte er sich im Jahr 1928 kritisch mit der »modernen Philosophie« bzw. der »Philosophie der Gegenwart« – Lebensphilosophie, philosophische Anthropologie, Organologie und Existenzphilosophie bzw. Ontologie 23 – auseinandergesetzt. An dieser interessiert ihn, wie sie das Problem der Einheit angesichts der ausgreifenden Differenzierung in der kulturellen Wirklichkeit thematisiert und inwieweit im Zusammenhang mit dem Themenkreis Leben und Kultur das Problem der Ausdrucksphänomene und die Frage des Symbolischen aufgeworfen werden. War diese Befragung der »modernen Philosophie« Ende 1927 noch als »Schlußabschnitt« der PsF III. geplant, gelingt es ihm offenbar nicht, die insbesondere in den Ferien (April) 192824 erarbeiteten Positionen zur Philosophie der Gegenwart – Simmel, Klages, Spengler, Bergson, Heidegger – zu einem druckfähigen Buchmanuskript auszuarbeiten. Deshalb folgt im Juli 1929 die Entscheidung, sie wegen ihres erreichten Umfanges in der PsF III wegzulassen und als »künftige Veröffentlichung« anzukündigen. 25 Daß dieser »Schlußabschnitt« auch eine Art Resümee der drei publizierten Teile der PsF bilden sollte, 26 ist den beiden nachgelassenen zwei Kapiteln ganz deutlich anzumerken. Die Tatsache, daß Cassirer sich bereits im Laufe des Jahres 1927 ernsthaft mit dem Gedanken trägt, die »moderne Philosophie« mit der neusten Fassung seiner Philosophie der symbolischen Formen ins Verhältnis zu setzen, ist insbesondere der Einleitung in die PsF III, die den Titel »Dialektik der Unmittelbarkeit« tragen könnte, zu entnehmen.

20

PsF III: 472 Anm. 1.; ECW 13: 466 Anm. 158. Ebd., IX; ECW13: XI. 22 Ebd., 473 Anm. 1; ECW 13: 466 Anm. 158. 23 Eine ähnliche Einteilung der aktuellen Philosophie in Deutschland nimmt Husserl 1930 in seinem »Nachwort zu meinen Ideen I« vor. Deren Situation sieht er gekennzeichnet durch die »in ihr um Vorherrschaft ringende Lebensphilosophie«, die »neue Anthropologie« und die »Philosophie der ›Existenz‹«, wobei diese sich in ihren »Vorwürfen des ›Intellektualismus‹ oder ›Rationalismus‹« an die Adresse der Phänomenologie einig seien. – Husserl (1971: Hua V, 138). 24 ECN 1, 298. 25 PsF III: VIIIf.; ECW 13: XI. 26 ECN 1: 3. 21

Paradies des Lebens und menschliche Freiheit (1927–1932)

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Sie ist zweifellos der Vorbereitung dieser Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie gewidmet. Nachdem er hier das Problem einer letzten, absoluten Urschicht der Wirklichkeit und die Möglichkeit, sie durch das Denken oder das äußere und innere Erleben scheinbar unmittelbar wissenschaftlich erfassen zu können, abschlägig diskutiert hat, bricht Cassirer die Diskussion, ob diese »letzte« Urschicht vielleicht auf vorwissenschaftliche Weise per reiner Intuition (Bergson) als das unmittelbare Leben erfaßt werden kann, 27 mit der Aussage ab, er könne »vorerst in den Kreis der Probleme [ . . . ], die sich hier von allen Seiten zudrängen«, nicht eintreten. Mit den Erörterungen wollte er aber zumindest andeuten, daß keines der philosophischen Systeme (bzw. keine der Richtungen) die Dialektik des Unmittelbaren wirklich beherrscht und löst. Trotzdem bleibt die Philosophie durch sie herausgefordert, denn das »Paradies der Unmittelbarkeit ist diesem Denken verschlossen«. 28 Damit weist Cassirer noch einmal auf die »künftige Veröffentlichung« einer Untersuchung zu dieser unabweisbaren Grundproblematik hin. Doch dieses Vorhaben bleibt bekanntlich lediglich ein Projekt; die Ausarbeitungen des Jahres 1928 wurden erst 1995 unter dem Titel »Zur Metaphysik der symbolischen Formen« von J.M. Krois zugänglich gemacht. 29 In ihnen faßt Cassirer, wie angekündigt, seine Philosophie der symbolischen Formen auf neuestem Wissensstand zusammen und vergleicht sie mit den Fragestellungen der zeitgenössischen Philosophie. Dabei sollen Leistungen und Annäherungen der Lebensphilosophie wie auch der Philosophischen Anthropologie (Plessner, Scheler) und des Existenzialismus (Heidegger) an die PsF gewürdigt und eingegrenzt werden. Gleichzeitig gibt Cassirer damit seiner Kulturphilosophie »eine Form, in der sie mit der Lebensphilosophie und Existenzphilosophie konkurrieren kann«. 30 Der Titel »›Leben‹ und ›Geist‹ – zur Kritik der Philosophie der Gegenwart«, den Cassirer für diese Darstellung geplant hatte, welche dem »Verhältnis der Grundgedanken der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zur Gesamtarbeit der Philosophie der Gegenwart« nachgehen sollte, 31 findet Verwendung in der Auseinandersetzung mit den lebensphilosophisch-anthropologischen Positionen Schelers. 32 Eigentümlich

27

Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Rickert (1921: 179, 190). PsF III: 48; ECW 13: 46. 29 Sie umfassen die beiden Kapitel »›Geist‹ und ›Leben‹« und »Das Symbolproblem als Grundlage der philosophischen Anthropologie« samt entsprechenden Vorarbeiten und Notizen. Siehe ECN 1: 3–31, 32–112, 199–260. 30 Paetzold (1995: 100). 31 PsF III: VIII; ECW 13: XI. 32 E. Cassirer, »Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart [1930], in: 28

192

viertes k apitel

ist, daß die Ausarbeitungen zu Simmel und Scheler nicht in ein Manuskript zusammengeführt werden.

2 Grundphänomen des Lebendigen überhaupt: das Ausdrucksphänomen Die erhöhte Aufmerksamkeit, die Cassirer der Lebensphilosophie widmet, kann, wie bereits erwähnt, nicht wirklich verstanden und erklärt werden, ohne sich seiner Theorie der reinen Ausdrucksphänomene zu vergewissern. Die unter Kap. III Abschn. 2 umrissene allgemeine Ausdruckstheorie hatte alle geistigen Formen pauschal als Ausdrucksformen gedeutet. An ihr hält Cassirer im weiteren ebenso fest, wie an der in PsF I dargetanen Idee einer dreifachen Stufenfolge der sprachlichen Ausdrucksform, wonach diese in Folge die Phasen des unmittelbaren sinnlichen, des anschaulich-darstellenden und des begrifflichen Ausdrucks durchlaufe. 33 Außerdem stützt er sich weiter auf die Goethe entlehnten drei Stadien des »mimetischen, analogischen und des symbolischen Ausdrucks«, die jede Form des Geistes einmal durchschreite. 34 In der Ende 1927 weitgehend fertig gestellten PsF III: Phänomenologie der Erkenntnis bringt Cassirer ein sich hieran anlehnendes systematisches Schema von drei ausdrückenden Grundfunktionen oder Grunddimensionen des Geistes (Ausdruck, Darstellung, Bedeutung) zur Anwendung, welche drei Weltauffassungen – Ausdruckswelt, Anschauungswelt, Welt der wissenschaftlichen Erkenntnis – konstituieren. 35 Gleichzeitig bilden sie die Strukturformen der Erkenntnis. In dieser »geistigen Trias« 36 ist der Terminus Ausdruck nunmehr der elementarsten, ursprünglichsten Funktion reserviert, an der sich menschliches von tierischem Leben zu scheiden beginnt und die er Ausdruckswahrnehmung nennt. In dem scheinbar geist- bzw. ideenlosen, bloßen sinnlich-emotionalen Leben blitzt bereits eine ideelle Formung auf, was den Begriff des Ausdrucks erst legitimiert. Wir haben es beim scheinbar rein sinnlichen Erleben also nicht mit einem »gestaltlosen Chaos« zu tun, sondern bereits mit einer

GL: 32–60; ECW 17: 185–205. Der vierte Davoser Vortrag wurde möglicherweise bereits am 3. Oktober 1928 in Frankfurt/Main gehalten. – ECN 1, 284. 33 PsF I: Xf.; ECW 11: Vf.. 34 WWS: 178 ff, 182; ECW 16: 82 ff., 86; PsF II: 284 f.; ECW 12: 277 f. 35 PsF III: Xf.; ECW 13: Vf. 36 Die systematische »geistige Trias der reinen Ausdrucksfunktion, der Darstellungs- und der Bedeutungsfunktion«, die uns die gegliederte Wirklichkeit aufbaut, nennt Cassirer auch »symbolische Funktionen«. – Ebd., 118; ECW 13: 114.

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»eigenen Weise der geistigen Formung«. 37 Die elementare Ausdrucksbewegung erweist sich aber als janusköpfig, da sie »noch völlig in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch andererseits über diese bereits hinausgeht«. 38

2.1 Ausdruckserleben und Ausdrucksphänomene Die elementare Ausdrucksbewegung, die ihre Gehalte in ungeschiedener, unmittelbar präsenter, sich keinerlei Repräsentation bewußter Weise erlebt, realisiert in ihren Ausdrucksphänomenen wie der Mitteilung, der Wahrnehmung oder der Geste die reale Einheit von Leben und Sinn (Bedeutung). Deshalb ist für Cassirer die Ausdruckswahrnehmung »in ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit« zugleich »ein Leben ›im‹ Sinn«. 39 Der »Ausdruckssinn« eines Ausdrucksphänomens wird grundsätzlich unmittelbar erfahren, muß also nicht nachträglich gedeutet oder erklärt werden. Schwemmer macht darauf aufmerksam, daß der Ausdruckssinn »die einzige Form der Unmittelbarkeit [ist], die Cassirer anerkennt«. 40 Das Aufweisen der sinnhaften Ausdrucksphänomene in der phänomenologischen Analyse führt uns, so Cassirer, auf das »Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹« zurück. 41 Damit rücken Ausdruck und Leben eng zueinander, sie bilden zwei Aspekte eines Sachverhaltes. Die Unmittelbarkeit des Sinnverstehens im elementaren Ausdruckserlebnis bindet dieses an das Leben als die Unmittelbarkeit par excellence. 42 Die Unmittelbarkeit des Lebens wiederum schließt das »Urphänomen des Ausdrucks« ein. 43 Der Terminus eines Grundphänomens des »Lebendigen überhaupt« meint bei Cassirer ganz prononciert diese beiden Aspekte und setzt sich somit gegen eine bestimmte lebensphilosophische Lesart ab, die das ideelle, geistige Moment als ein dem Leben äußerliches und feindliches Moment behauptet. Gleichzeitig gilt ihm Leben bzw. Lebendiges als »stetes Geschehen«, als »eine sich immer erneuernde Metamorphose« ohne »fertige Gestalt«,

37

PsF II: IX; ECW 12: XIf. PsF I: 127; ECW 11 125. 39 PsF III: 235; ECW 13: 231. 40 Schwemmer (1997: 71). 41 PsF III: 103; ECW 13: 99. 42 »Daß etwas einen Ausdruck besitzt, heißt somit, daß es uns unmittelbar, ohne den Zwischenschritt einer Deutung [ . . . ] anrührt oder bewegt.« – Schwemmer (1997: 73). 43 PsF III: 86; ECW 13: 82. 38

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aber gestalttragend, ganz wie dies das mythische Bewußtsein an seinen Gehalten erlebt. 44 Dadurch, daß dem Leben neben dem absatzlosen Fließen und der unmittelbaren Präsenz im Erleben noch ein Sinn eigen ist, der unmittelbar erfaßt werden kann, muß an ihm eine erste geistige, ideelle Dimension konstatiert werden, die eine spätere Distanzierung, Entgegensetzung der beiden Aspekte sinnlicher Präsenz und geistiger Repräsentation ermöglicht. Die dem Grundphänomen des Lebendigen zugeschriebene subjektiv-fließende Unmittelbarkeit des Erlebens ohne ein Transzendieren des Hier und Jetzt wird folglich bereits durch die der Ausdruckswahrnehmung eigene latente Differenz von unmittelbar verstehbarem Sinn und anschaulich Sinnlichem (Bildhaftem) unterlaufen. Von einem Wissen um den »Bruch« zwischen Bild und Sache, Zeichen und Bezeichnetem kann hier aber noch keine Rede sein, 45 denn im Augenblick oder Akt der Ausdruckswahrnehmung leben wir völlig in ihr, gehen wir in ihr auf. Diese Differenz ist nur reflexiv erfaßbar und wird folglich erst in einem späteren Stadium bewußt, gewußt und als Antinomie auseinandergelegt. Dennoch sieht Cassirer in der noch kaum erwacht-bewußten Ausdruckswahrnehmung als einer »primitiven Erscheinung des Bewußtseins« die potentielle Doppeltheit von Richtungen schon angelegt. 46 Lebendiges Bewußtsein vermittelt die Dynamik zweier Richtungen, Dimensionen, Pole beständig praktisch, während sich das theoretische oder logische Denken damit schwertut. In diesem Sinne setzt Cassirer die Goethesche Tradition, Leben zu begreifen, fort. Der damit verbundene Vorgang der Distanzierung, der sich im Bewußtsein als einem »Lebendigen, das sich in sich selber trennt«, ereignet, wenn es die Setzung der in ihm zunächst bloß latent bestehenden Differenz vollzieht, beschäftigt ihn ganz intensiv, weil es dabei »aus der Unmittelbarkeit des Lebens in die Form des Geistes und in die des spontanen geistigen Schaffens übergeht«. 47 Den Weg dieser Setzung hat das elementare, emotionale Ausdruckserlebnis unwiderruflich beschritten, weil es nämlich unabhängig von »jedem geistigen Bezug« gar nicht zu vollziehen ist. Obwohl sich noch kein Bewußtsein von der mittelbaren Darstellungsfunktion einstellt, die aber ansatzweise ebenfalls bereits vollzogen wird, stellt sich z. B. in den 44

Ebd., 191; ECW 13: 185. Ebd., 119; ECW 13: 114. 46 Denn niemals »treffen wir dieses Bewußtsein als ein schlechthin Gegensatzloses, als ein absolut-Einfaches, vor allen Scheidungen und Unterscheidungen an. Immer erscheint es als ein Lebendiges, das sich in sich selber trennt«. – Ebd., 109; ECW 13: 105. 47 Ebd. 109 f.; ECW 13: 105. 45

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physiognomischen Wahrnehmungsakten schon Etwas in einem Anderen dar, repräsentiert Etwas schon ein Anderes. So »repräsentiert« der Angstschrei ein Gefühl der Furcht und »ist« zugleich das ausgedrückte Furchtgefühl. Das »schlichte Ausdrucksphänomen« dieser Wahrnehmung besitzt damit schon einen »ursprünglichen ›Symbolcharakter‹«, der jedoch vom eigentlichen Symbol zu unterscheiden ist, das auf dem Wissen um diejenige Differenz beruht, von der jene noch nichts weiß: der »Differenz von ›Bild‹ und ›Sache‹, von ›Zeichen‹ und ›Bezeichnetem‹«. 48 Zunächst schien für Cassirer die Urstufe der elementaren Ausdrucksfunktion mit der symbolischen Form des Mythos, die sich des emotionalen Ausdrucksvermögen bedient, nahezu identisch zu sein. Das mythische Bewußtsein bildet sodann den »geistigen Urgrund und Mutterboden« für die anderen Grundformen des Geistes bzw. der Kultur. 49 Bald wurde aber klar, daß der Mythos selbst in einer Urschicht des Lebensgefühls wurzelt, daß er als symbolische Form aus einer »geistigen Urschicht«, d. h. aus der Schicht der Ausdrucksphänomene »stammt«. 50 Diese Einsicht beherrscht und durchzieht die ganze Konzeption der PsF III. Hier tritt uns die elementare Ausdrucksfunktion als eine der mythischen Geistesform vorhergehende Urenergie des Geistes entgegen, die dem Urphänomen des Lebens wesenseigen ist. Diese Präzisierung ergänzt sich mit der Wendung, die die allgemeine Ausdruckstheorie nunmehr erfährt. Die Stufenfolge von Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion, die als »qualitativ-verschiedene Arten der Sinngebung« angesehen werden, 51 hat in den Ausdrucksphänomenen ihr letztes Fundament erhalten, das eine »Phänomenologie der Wahrnehmung« im Einzelnen aufzuweisen hat. Die nunmehr in den Mittelpunkt gestellte »reine Ausdrucksfunktion als solche« liegt dem Auseinandertreten von Mythos und anderen Formen des Geistes ganz klar voraus. Die emotionale Ausdruckswahrnehmung bildet somit den »gemeinsamen Boden, dem alle jene [symbolischen – C. M.] Gestaltungen in irgend einer Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben«. 52 Ihre Wahrheit ist eine »noch vor-mythische, vorlogische«, sie bildet die Grenzscheide zwischen tierischem und menschlichem Dasein, zwischen purer Lebenszweckmäßigkeit und kulturellem Lebenssinn.

48 49 50 51 52

Ebd., 108 f.; ECW 13: 104. PsF II: 3; ECW 12: 1. Ebd., 89; ECW 12: 85. PsF III: 67; ECW 13: 62 f. Ebd., 95; ECW 13: 91.

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Dasjenige Ausdruckserleben, das noch der bloßen Lebenszweckmäßigkeit verpflichtet ist, teilen wir nach Cassirers Auffassung sogar mit dem tierischen Dasein. Am Anfang ist das »Erleben« nämlich noch mehr ein rezeptives »Erleiden« von Eindrücken durch die Umwelt bzw. den eigenen Körper. Weil das tierische Bewußtsein von solchen rezeptiven, erleidenden »Ausdruckserlebnissen« erfüllt ist, habe Klages völlig recht mit seiner Einsicht, daß das Tier noch keine bildhaften Darstellungsmomente in den Ausdruckserlebnissen kennt bzw. im Bild nichts Mittelbares erlebt, während der Mensch mit Bildern lebt, die ihm etwas abbilden. 53 Eine Forschung, die diese letzte Schicht des Ausdrucksbewußtseins der menschlichen Lebensform aufsuchen will, hat folglich die »Reihe der organischen Lebensformen« bis zum Tier zurückzuschreiten, da bereits hier die elementare Funktion einer Allbelebung der wahrgenommenen Wirklichkeit durch rezeptiv-erleidende Ausdruckserlebnisse obwaltet. 54 Obwohl bereits das tierische Bewußtsein (Primaten) ein »Gesamtbild des Lebens«, ein »Gesamtleben« in sich trägt, könne aber hier noch keine Rede von einem individuellen »Leben einzelner Subjekte« sein. Das spezifisch menschliche Ausdruckserleben, das bereits eine bestimmte symbolische Leistung vollbringt, formiert und entfaltet sich aber in der mythischen Form. So findet die »Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse« den »lebendigen Mittelpunkt dieses Gebiets« im Mythos als einer Form des objektiven Geistes, die gleichzeitig eine seiner subjektiven Quellen ist. Die Ausdrucksphänomene erfahren sich in dieser ersten kulturellen Form der Weltauffassung realisiert. Eine Welt der Ausdrucksphänomene jenseits jeglicher symbolisch-geistigen Auffassung gibt es für den Menschen nicht. Die sich in der Ausdruckswahrnehmung vollziehende »Art von Wirklichkeitserfahrung« erfaßt das gesamte Sein »in der Art des Daseins lebendiger Subjekte«, weshalb Cassirer von einer Wahrnehmung des Du bzw. des Lebens spricht, die noch nichts mit der »bloßen Dingwahrnehmung« zu tun hat. Ihr Vollzug »personifiziert« alles Wahrgenommene in dem Sinne, daß sie ihm, so in der Natur, ein lebendiges Wesen mit menschlichen Gefühlen und Zwecken sieht. Diese mythischen Ausdrucksphänomene tragen noch den »Charakter echter Präsenz« und treten als eine Fülle »ursprünglich ›physiognomischer‹ Charaktere« auf. 55 Das mythische Wahrnehmungsbewußtsein kennt zunächst weder eine Personenwelt noch eine Dingwelt als solche, weil die »verschiedenen Kreise des Lebens« nicht gegeneinander abge53 54 55

Ebd., 130 f.; ECW 13: 124 f. Ebd., 88 f.; ECW 13: 84. Ebd., 79 f.; ECW 13: 75.

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grenzt werden. Sein Grundmotiv ist vielmehr das der Metamorphose. 56 Die »Form des Lebens«, die das mythische Ausdrucksbewußtsein allen Bewußtseinsinhalten aufprägt, resultiert aus diesem Lebensgefühl. Es »erlebt« die Wirklichkeit anschaulich und von physiognomischen Charakteren allbelebt, und unmittelbar, ohne vermittelnden Umweg als Sinn ausdrückend oder mit Sinn besetzt. 57 Die erlebten »Ausdruckswerte und Ausdrucksphänomene«, die das Leben und die Lebendigkeit des Wirklichen verbürgen, haften den Inhalten des Bewußtseins unmittelbar an und entstehen nicht aus einem »sekundären Akt der Deutung«. 58 Im unmittelbaren, physiognomischen Ausdruckserlebnis erfassen wir die Wirklichkeit als die »Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit«. Aus Cassirers Sicht bestätigen z. B. Schelers Untersuchungen, daß das auf dem bloßen Ausdrucksbewußtsein fußende mythische Bewußtsein zunächst einen »›in Hinsicht auf Ich-Du indifferenten Strom der Erlebnisse‹« bildet. Aus dem geht erst allmählich die »Grund- und Urrelation« von unmittelbarem Ich- und Du-Erlebnis hervor, die eine »Intention auf andere Lebenszentren« vollzieht. Innerhalb dieser »Grund- und Urrelation«, die sich »aus dem Kontinuum des Lebensstromes herausgelöst« hat, erlangt das mythische Bewußtsein als »Bezugspunkt« dieser Relation Schritt für Schritt Wissen von sich selbst als Ich- oder Selbstbewußtsein. Die dem mythischen Ausdrucksbewußtsein nunmehr einwohnende Intentionalität, d. h. die »Intention auf andere Lebenszentren«, 59 steht für eine elementare geistige Leistung, die es bereits für dieses frühe Stadium verbiete, Leben und Geist als absolute Gegensätze zu deuten. Mit dieser Intention auf andere Lebenszentren wird die Welt des Ausdrucks bzw. die des ihr entspringenden Mythos als eine Lebensform verlassen, die nur ein »Ganzes des Lebens« kennt, und dies in einer »undifferenzierten Gesamtheit, die mit der Menschenwelt auch die Tier- und Pflanzenwelt enthält«. Aus dieser ursprünglichen Lebensform hebt sich im entfalteten mythischen Bewußtsein langsam »eine eigene Form des Menschlichen« ab. Dabei geht »die ›Wirklichkeit‹ der Gattung und der Art der des Individuums durchaus voran«. 60 Das einzelne »Ausdrucksphänomen« wird erst in den individuellen Lebenszentren »nicht nur erlebt«, sondern

56

Ebd., 83; ECW 13: 79. »Wo das Leben noch ganz im Phänomen des Ausdrucks verharrt, da befriedigt es sich auch in ihm«. – Ebd., 99 f.; ECW 13: 95. 58 Ebd., 85; ECW 13: 81. 59 Ebd., 100 f. Der Husserls Phänomenologie entlehnte Gedanke der Intentionalität meint bei Cassirer etwas Ähnliches wie sein eigener Begriff der Repräsentation. – Ebd., 227 f., 229 f.; ECW 13: 225, 227. 60 Ebd., 105 f.; ECW 13: 101. 57

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gleichsam »charakterologisch gewertet«. 61 An ihm werden jetzt »relativ gleichbleibende physiognomische Züge« an den lebenden Wesen erfaßt und erkannt. Die Umprägung des Allbelebten in spezifisch Menschliches läßt die individuellen Lebenszentren zur Bewußtheit erwachen. Gemeinsam mit der sich davon abhebenden Dinganschauung beginnen symbolische Leistungen immer kräftiger Raum zu greifen. Damit diese Individuation sich entfalten kann, muß der »einheitliche Lebensstrom«, wie er in den »Ausdrucks-Einheiten und Ausdrucks-Ganzheiten« erlebt wird, sich spürbar in Richtung des objektiven Gegenstandes und des »lebendigen Subjektes« gestaltet haben. 62 Die in der »geistigen Region« der »Darstellung« bzw. der räumlich-zeitlichen-dinghaften Anschauung durch die Sprache und die Sprachzeichen erbrachten Objektivierungsleistungen bilden eine notwendige Voraussetzung für Subjektivierung des Geistes, die zu einem Subjektbewußtsein führt. 63 Sobald die Ausdrucksfunktion in die sprachliche Darstellungsfunktion übergeht, ist der unmittelbare Augenblick, in dem das reine Ausdruckserlebnis »lebt«, verlassen. 64 Die dem Ausdruckserleben bzw. den reinen Ausdrucksphänomenen schon vorher innewohnende »Entzweiung«, die aber noch ungesetzt, noch nicht wahrgemacht und noch nicht bewußt war, und die allein die theoretisch-philosophische Reflexion freizulegen vermag, 65 hat sich nun als die Doppelaktrichtung »hin zum ›Du‹« und »hin zum ›Es‹« entfalten können. Wir haben es jetzt mit zwei gegenläufigen »Wahrnehmungsformen« – dem Verstehen von Ausdrücken und dem Wissen von Dingen – zu tun. Bei dieser Zerlegung und Vereinseitigung der Ausdrucksbewegung betont Cassirer, daß der »Wahrnehmung des Lebens« und ihrem »reinen Ausdruckscharakter« die Priorität, die Ursprünglichkeit zukomme. 66 Damit ruht das akut gewordene »eigentliche Leben« der Dingwahrnehmung samt der auf ihr fußenden sachlichen »Wahrnehmungswelt« des empirischen Weltbildes letztlich auf einer »starken und triebkräften Unterschicht«. Die einseitige, sekundäre Dingwahrnehmung »wurzelt« folglich in den »ursprünglichen und unmittelbaren Ausdruckscharakteren« (Lockendes, Drohendes, Vertrautes, Unheimliches, Besänftigendes, Furchterregendes). 67 Es sei 61 62 63 64 65 66 67

Ebd., 107; ECW 13: 102. Ebd., 101; ECW 13: 97. Ebd., 90; ECW 13: 86. Ebd., 134; ECW 13: 128. Ebd., 110; ECW 13: 105. Ebd., 73; ECW 13: 69. Ebd., 77 f.; ECW 13: 73 f.

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der Lebensphilosoph Klages gewesen, der die moderne wissenschaftliche Psychologie »zu dieser Tiefenschicht der reinen Ausdruckserlebnisse« habe allmählich wieder zurückfinden lassen. 68 Mit dem Begriff eines Ausdruckserlebens unabhängig und vor der sprachlich-darstellenden Dimension des geistigen Ausdrucks scheint etwas gefunden, was Cassirer mit den Lebensphilosophen Spengler und Klages teilt: Leben wird als ursprünglich emotionale, dann bildhafte Ausdrucksbewegung aufgefaßt, die der sprachlich-begrifflichen Zeichensysteme nicht bedarf, da ihre gestisch-mimischen und bildhaften Symbole den Sinn unmittelbar ausdrücken und erleben lassen. Mit Blick auf diese vorbegriffliche, nichtdiskursive Ausdrucksweise, die der begrifflichen Zergliederung und Zerreißung der anschaulichen Unmittelbarkeit vorher- und damit entgeht, weist Cassirer allerdings den Anspruch ab, das reflexive Wissen um diese tiefste Schicht könnte widerspruchslos zu haben sein. Außerdem hält er es für falsch, diese tiefste Schicht der Weltauffassung zu verabsolutieren oder zu romantisieren. Für die menschliche Kultur sind nämlich auch die anderen beiden Schichten des repräsentativ-darstellenden und des bedeutenden Ausdrucks unverzichtbar. Denn das »Darstellungsphänomen« ist ebenso ein Urphänomen des Geistes, ein »echtes Urphänomen«, 69 wie der als Formungsakt aufgefaßte »Akt ›symbolischer Ideation‹«. 70

2.2 Unzerstörbarkeit der Ausdrucksphänomene Obwohl die sprachlich-darstellende Dimension der Weltkonstitution das Ausdruckserlebnis unweigerlich zersetzt, ist doch der unmittelbar verstehende Zugang zur Wirklichkeit uns »allein im Urphänomen des Ausdrucks und des ausdrucksmäßigen ›Verstehens‹ gegeben«, 71 versetzt uns dennoch jedes ausdrucksmäßig verstandene Phänomen in etwas Lebendiges, in ein Erleben. In diesem Sinne behält die Lebensphilosophie also 68

Paetzold macht darauf aufmerksam, daß Cassirer, »gestützt auf Ludwig Klages, demzufolge der Zusammenhang von Leib und Seele nicht als eine dingliche Relation verstanden werden darf«, zu seiner These kommt, daß dieses Verhältnis das »›Vorbild‹« für eine rein »›symbolische Relation‹« (PsF III: 117; ECW 13: 113) darstellt. – Paetzold (1995: 63). 69 PsF III: 143 f.; ECW 13: 137 f. Auch die »Formen und Ordnungen der ›Repräsentation‹« besitzen für Cassirer »Ursprünglichkeit« und gehören nicht zu »einer Schicht der bloßen Mittelbarkeit«. Sie bilden vielmehr einen »originären Setzungs-Modus«. – Ebd., 147 f.; ECW 13: 141 f. 70 Ebd., 155; ECW 13: 150. 71 Ebd., 86; ECW 13: 82.

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Recht gegenüber der Begriffsphilosophie und dem Sensualismus. Keinerlei Abstraktion des Denkens vermag die im Ausdrucksphänomen präsente und erreichte »Grund- und Urschicht der Wahrnehmung« restlos »zu beseitigen und auszulöschen«. Das Absehen von ihr im theoretischen Denken »kann die Welt der Ausdrucksphänomene als solche nicht zum Verschwinden bringen«. Damit ist der in ihr realisierte Lebensbezug auch durch das reflektierende und abstrahierende Denken nicht völlig aufzuheben. Nicht nur, daß sich ohne die ausdrucksmäßigen Wahrnehmungserlebnisse keine »Sach-Wahrnehmung« der Wirklichkeit gestalten kann, da sie ihr zunächst als materiale Grundlage dienen. In der »AusdrucksWahrnehmung« manifestiert sich zudem »das Leben schlechthin«, nicht aber seine Sonderung in einzelne »Erscheinungen des Lebens« und nicht seine Bindung an individuelle Zentren. 72 Trägt doch ihre Lebendigkeit »noch den Charakter des ›Unpersönlichen‹«. Der Tiefenschicht der Ausdruckserlebnisse haben wir uns reflexiv, rekonstruierend zu nähern, sie selbst läßt sich nicht intuitiv-unmittelbar erfassen und aufklären. Eine dies leistende »Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse« hat die subjektiven Quellen von den Formen des objektiven Geistes (Natorp) her zu rekonstruieren. Es gibt für das theoretische Bewußtsein »keinen Rückweg mehr in die Welt der mythischen Schattenbilder« bzw. in die Welt der unmittelbaren Ausdruckserlebnisse, es sei denn als »bloßer Rückfall« in eine »überwundene Stufe des Geistes«. 73 Dennoch muß es sich um die mittelbare Rekonstruktion des mythischen und des Ausdrucksbewußtseins bemühen. Die Ausdruckswahrnehmung des Lebens läßt sich allerdings durch die Denkmittel der ihr einmal entsprungenen, sie gleichsam negierenden geistigen Formen (Logik, Erkenntnis) nicht wirklich adäquat fassen und bestimmen; eine Rekonstruktion bleibt immer ein indirektes Sichannähern. 74 Das wissen zwar auch die Lebensphilosophen, doch sehen sie in der unmittelbaren Intuition ein Mittel, diese Schranken der begrifflichen Erkenntnis zu überfliegen. Cassirer dagegen spricht allein im Sinne einer theoretisch mittelbar rekonstruierbaren unmittelbaren Welt des Ausdruckserlebens vom »Kontinuum des Lebensstromes«, vom »Ganzen des Lebens«, von »undifferenzierter Gesamtheit« etc. Dabei wehrt er, wie bereits festgestellt, jegliche Romantisierung dieses – noch tiernahen – Zustandes ebenso ab wie alle Versprechungen und Versuche, in diesen vorbegrifflichen, vorlogischen Zustand in der Tat zurückkehren zu können. 72 73 74

Ebd., 85 f.; ECW 13: 82. Ebd., 91; ECW 13: 87. Ebd., 95 f., 104; ECW 13: 90 f., 99.

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Die Ausdruckswahrnehmung gehört aber nicht nur unlösbar zur Welt des Lebens, sondern – als »dauernder Bestand« – ebenfalls in die Welt des Geistes. Obwohl das theoretische Bewußtsein schließlich und endlich von den reinen Ausdrucksphänomenen, die auch die »Grund- und Urschicht« aller empirischen Wahrnehmung bilden, absieht, bringt es sie bzw. das »›reine‹ Bild des Lebens« damit nicht völlig zum Verschwinden. 75 Aber ganz und gar kann die Ausdruckswahrnehmung »niemals in diese Form eingehen, noch in ihr untergehen«. 76 Dies würde nämlich bedeuteten, und hier spricht Cassirer eine ganz fundamentale Einsicht aus, die seine Affinität zum Begriff des Lebens ein Stück weit erklärt, daß auch das »Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹« erlischt. Indem also diese ursprüngliche Weise des Erlebens, »in einer Art von Metamorphose, weiterlebt und weiterwirkt«, lebt und wirkt sie als eine Quelle der Belebung in der Welt des Geistes, in den symbolischen Formen weiter. Auf die unauslöschliche Präsenz des Lebens, als eines Ausdruckserlebens physiognomischer Charaktere, auch in der sprachlich ausgedrückten Dingwahrnehmung habe Klages sehr zutreffend aufmerksam gemacht. Dieser »seelisch-geistige Grundbestand« lebt u. a. deshalb so hartnäckig in den Darstellungs- und Bedeutungsfunktionen fort, weil der »Quell« nicht plötzlich »zu fließen« aufhört, wenn er »in ein anderes [ . . . ] Strombett fortgeleitet« wird. 77 Deshalb ist es kein Wunder, daß das »Quellgebiet des Mythischen«, d. h. das Gebiet der »reinen Ausdruckserlebnisse«, auch heute noch nicht »verdorrt und versiegt« ist. Bricht aber das mittelbare theoretische, logische Denken selbstherrlich »alle Brücken zur reinen Ausdruckswelt ab«, dann wird aus dem einst unmittelbar gegebenen Phänomen plötzlich ein unlösbares Problem. 78 Auch diese Einsicht Cassirers bedeutet objektiv eine Anerkennung von Grundpositionen der Lebensphilosophen, selbst wenn diese in der Kritik des theoretisch-logischen Denkens oft eine sehr einseitige Position einnehmen. Zudem provoziert die bei ihnen vorherrschende metaphysische Sichtweise, welche die der Ausdruckswahrnehmung latent einwohnende Differenz der Richtungen zu absoluten Unterschieden (Leib/ Seele,

75

»Mehr und mehr wird, im Fortgang der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis, der reinen Ausdruckswahrnehmung an Boden abgewonnen – wird das ›reine‹ Bild des Lebens in die Form des dinglichen Daseins und dinglich-kausaler Zusammenhänge umgesetzt.« Das gilt bei Cassirer auch für die ästhetische Welt, in der die Ausdruckswahrnehmung »sehr erheblich modifi ziert und umgestaltet [wird]: aber sie wird hierbei schlechthin nicht abgetragen.« – Ebd., 103; ECW 13: 99. 76 Ebd.; ECW 13: ebd. 77 Ebd., 93 f., 103; ECW 13: 88, 90, 99. 78 Ebd., 100; ECW 13: 95.

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Leben/Geist) verklärt, ein weiteres theoretisches Problem. 79 So besteht für den Philosophen das Dilemma darin, daß er, um der metaphysischen Verabsolutierung solcher Gegensätze wie außen-innen, objektiv-subjektiv, unmittelbar-mittelbar etc. zu entgehen, »wieder zu ihrer eigentlichen Quelle«, d. h. zu den Ausdrucksphänomenen hinabsteigen muß. Er muß sich also wieder »in den Mittelpunkt jener symbolischen Relation zurückversetzen«, in der die Gegensätze aufeinander bezogen erscheinen. In den philosophischen Blick läßt sich diese »eigentliche Quelle« aber nur nehmen, »wenn man über sie hinausgeht«, wenn man die Ausdrucksfunktion »als Glied innerhalb eines übergreifenden geistigen Ganzen betrachtet«, 80 womit sie zerstört, überwunden, zerlegt ist und nur noch mittelbar rekonstruiert werden kann. Die Einsicht und die Gewißheit, daß »die ›Ausdrucksfunktion‹ ein echtes Urphänomen ist, das auch im Aufbau des theoretischen Bewußtseins« sich in »seiner Ursprünglichkeit und in seiner unvertauschbaren Eigenheit behauptet«, findet Cassirer auch in Schelers Untersuchung nachdrücklich bestätigt, was seine eigene Auffassung bestätigt. 81 Denn wenn er erklärt, daß die reine Ausdrucksfunktion ebenso wie das »Grundphänomen des ›Lebendigen überhaupt‹« niemals völlig in andere geistige Grundfunktionen »eingehen« oder gar in ihnen »untergehen«, »erlöschen« kann, dann beruft er sich dabei oft auf Scheler. 82 Mit der in allen geistigen Funktionen und Formen sich behauptenden Ausdrucksfunktion ist folglich auch das Urphänomen des Lebens präsent. Damit bleibt selbst in der objektiven Welt der Dinge ein Rest oder wenigstens eine Ahnung von der »ursprünglich allein gegebenen Sphäre des Lebens«. Das weiter wirksame, weiter lebendige »Urphänomen des Ausdrucks« stellt sich übrigens auch als intuitiv erfaßbare »Lebens-Ganzheit« bzw. »Lebens-Totalität« in den Biographien bedeutender Menschen dar. 83 Diese Besonderheit greifen die »Hermeneutik« und auch Spenglers Physiognomik der Kultur auf. Das Ausdrucksphänomen durchzieht zudem nicht allein das moderne Kulturleben des Menschen: »Es gibt auch eine Erfassung der ›Natur‹, die sich wie bei Goethe ganz in den Grenzen der Ausdrucks-Ganzheit und der anschaulichen Ganzheit hält«. 84 Für Cassirer bildet die Ausdruckswahrnehmung außerdem objektiv die Grundlage für »jene Form des Wissens, in der sich uns die Wirklich79 80 81 82 83 84

Ebd., 110 ff.; ECW 13: 106 ff. Ebd., 121; ECW 13: 116 f. Ebd., 102; ECW 13: 98. Ebd., 103; ECW 13: 99. ECN 1: 206. Ebd., 207.

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keit [ . . . ] von anderen ›Subjekten‹ erschließt«. Diese nunmehr entfaltete Form des Wissens behauptet parallel zur gegenständlichen Richtung der Wahrnehmung (Dingwahrnehmung) selbst in der wissenschaftlichen Welt ein »eigenes Gebiet«. 85 Dieses Wissen von fremden Subjekten bewährt sich als ein ursprüngliches, unmittelbares Gewißsein, das »keine Form der Reflexion, der mittelbaren Schlußfolgerung« in uns hervorrufen oder erschaffen kann. Die »Erlebnisschicht«, in der dieses evidente Wissen um den Anderen »wurzelt«, entschlüsselt er mit Scheler als »die Wirklichkeit des Lebens«, der eine »selbständige Lebenskraft innewohnt«, d. h., als das Urphänomen des unmittelbaren geistig-emotionalen Ausdruckslebens, das nicht weiter zu hintergehen, sondern nur ideell zu schauen und mittelbar rekonstruierend aufzuweisen ist. Mit der Annahme eines unmittelbaren Wissens vom Anderen in Analogie zum unmittelbaren Ausdruckserlebnis rehabilitiert Cassirer erneut einen bestimmten Begriff des Lebens bzw. eine gewisse Tendenz der Lebensphilosophie. Gleichzeitig erweitert er sein altes Konzept der Erzeugung, der Konstruktion unanschaulicher Allgemeinbegriffe in den mathematischen Wissenschaften um die Erkenntnis, daß auch in diesem Prozeß das unerreichbare Grundphänomen des Lebens als Ausdrucksphänomen am Wirken ist und einen Platz besetzt, den keinerlei mathematische Konstruktion ersetzen kann. Selbst der logische Positivist Carnap sieht 1928 in den »Ausdrucksbewegungen« die einzigen sicheren Kennzeichen, die uns fremdpsychische Vorgänge zugänglich machen. 86

3 Entfaltung der immanenten Differenz des Ausdruckslebens 3.1 Begriffliche Kontinuität zwischen Leben und Geist? Schicksal oder Freiheit Cassirer wirft u. a. die Frage auf, ob zwischen dem biologisch-vegetativen Leben und dem Leben des Geistes von einer Kontinuität auszugehen ist. Nur bei einer bejahenden Antwort wäre es gerechtfertigt, geistiges Leben in biologischen Kategorien zu deuten, wie dies z. B. Darwin, Nietzsche und auch Spengler tun. Damit ist zugleich die Frage gestellt, ob geisti85

PsF III: 93; ECW 13: 88. Die »Ausdrucksbewegungen« wie z. B. das Sprechen, einschließlich solcher Angaben der körperlichen Bewegung, die auf das Vorhandensein psychischer Vorgänge hinweist, »sind die einzigen Kennzeichen, an denen wir die psychischen Vorgänge in anderen Menschen, die ›fremdpsychischen‹ Vorgänge, erkennen können.« – Carnap (1998: 87). 86

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ge Lebensfunktionen letztlich aus organisch-vitalen Lebensfunktionen erwachsen bzw. ob die Vitalfunktionen in geistige umschlagen oder sie wenigstens vorbereiten, wie dies Simmel in seinem Essayband Lebensanschauung (1918) suggeriert. Es könnte sich aber auch erweisen, daß wir vielmehr das organisch-vitale Leben mit Hilfe von Analogien und Kategorien des Geistigen als unseren Erkenntnisgegenstand konstituieren. 87 Während Cassirer den Gedanken, daß »die Erscheinung des Ausdrucks« ein echtes »Urphänomen des Lebens« ist, das bis in seine untersten vitalen »Grade und Schichten herabreicht«, in den Manuskripten aus dem Jahr 1928 zustimmend diskutiert, bleibt er jedoch der durch Darwin vertretenen Annahme, wonach das geistige Ausdrucksphänomen, das den Boden der Kultur abgibt, quasi nur eine Verlängerung oder Sublimierung organisch-vitaler Ausdrucksvorgänge ist, skeptisch gegenüber. Demnach wäre nämlich der »Ausdrucksvorgang als reiner Lebensvorgang zu erfassen« und mit »rein biologischen Kategorien zu beschreiben«. 88 Ein Zutreffen dieser Annahme würde die Kontinuität zwischen dem rein natürlichen und dem geistigen Sein bzw. Leben erweisen. Läßt sich nämlich die Sprache auf »die reine Ausdrucksfunktion« zurückführen, und diese sich wiederum als »Produkt rein vitaler Prozesse« erweisen, dann wäre dies ein Beleg für eine solche Kontinuitätstheorie im Sinne Darwins. In diesem Falle hätte jede »Ausdruckshandlung« als der Rest einer ehemaligen vegetativen »Zweckhandlung« zu gelten. Der »mimische Ausdruck« wäre als eine »Sublimierung« bestimmter biologischer »Lebensakte« erkannt, die »rein unter dem Prinzip der Nützlichkeit stehen«, d. h. als eine Sublimierung des vegetativen Lebens. Damit hätte auch die Sprache als die »Sublimierung der Ausdrucksfunktion« zu gelten, was Wundt, den Cassirer als Student in Leipzig gehört hatte, noch immer vertritt. Die Konsequenz eines solchen Zusammenhanges ist dann, daß die »Welt der Kultur« in die Welt der Natur aufgenommen und »nach dem gleichen Prinzip wie diese erklärt« wird. 89 Cassirer jedoch beschränkt das »Urphänomen des Ausdrucks« auf das seelisch-vegetative Leben eines Organismus, in welchem der Geist zumindest gerade erwacht und somit bereits anwesend ist. Dies gilt auch dann, wenn er die Ausdruckswahrnehmung bzw. die reinen Ausdrucksphänomene auf ein tierisches Dasein erstreckt, das den ersten Schritt zur Loslösung aus der reinen Unmittelbarkeit des Lebens schon vollzogen hat. Die Frage nach der kausalen Entstehung des Geistes aus einem 87 88 89

Siehe dazu u. a. Frischeisen-Köhler (1921: 127). ECN 1: 37. Ebd., 38.

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Nichtgeistigen stellt sich ihm ebensowenig wie die nach der des Lebens aus einem Nichtlebendigen. Dafür ist aber das Verhältnis von zweckmäßig-vitalem und sinnorientiert-geistigem Leben auch für das geistige Leben und das reine, zeitlose Denken (Gelten) zu klären. In Anlehnung an Simmel bestimmt der Idealist Cassirer die in allen zeitlichen Erlebnissen des Ich erlebten Sachverhalte und Formen als ideelle und folglich als unzeitliche Gehalte, die von jeglicher »individuellen Lebensfülle« entblößt sind. Damit könne das »Gesetz des Werdens und Vergehens, unter dem alles Leben steht«, auch das geistige, »nicht mehr schlechthin dem Kreise des Lebens« zugehörig gedacht werden. 90 Denn der Geist, d. h. das reine Denken der Bedeutungsfunktion, bewegt sich auf höchster Stufe allein in der Welt der Geltung, in einer ideellen Welt bar jeglicher »individuellen Lebensfülle« und damit bar jeglicher Nützlichkeits- und Zweckerwägung, die nichtgeistiges Leben charakterisiert. 91 Damit tut sich aber das Dilemma auf, daß es für dieses unzeitliche Denken mit seinen ideellen Formen offenbar keine »Rückkehr« mehr »zur Fülle und zur Unmittelbarkeit des Lebens« gibt, die zeitlich erlebt wird. Den Ausweg scheint hier ein gewisses philosophisches Denken in einer »mittleren Richtung« (Spengler) zu weisen, das das Allgemeine »im Bilde des Besonderen« anschaut, was beide Gegenpole verschmelzen läßt. Auch bei der »Gestaltung der inneren, der ›geistigen‹ Welt« kommt es bei diesem Philosophieren der »mittleren Richtung« zu einer Verschmelzung der »Gebilde des ›objektiven Geistes‹« und der subjektiven Daten des »individuellen Bewußtseins«. Das Denken legt hier mit den »reinen SinnFormen« nämlich eine »andere Art von geistigen Subjekten« – die universellen Lebenszentren 92 – zugrunde, in denen sich »ein überindividuelles Geistiges« ausspricht. 93 Diese »Lösung«, die eine gewisse »selbständige

90

Ebd., 97 f. Ebd., 99 f. 92 Cassirer unterscheidet »individuelle Lebenszentren« (Scheler), die sich zu individuellem Selbstbewußtsein erheben, und »universelle Lebenszentren« (Spengler), die als überindividuelle biologische Subjekte – als Hochkulturen – auftreten. 93 »Wir brauchen, so beteuern uns die entsprechenden Philosophen, diese [reinen Sinn-]Formen, um ihrem objektiven allgemeingültigen Gehalt gerecht zu werden, keineswegs über alle Maße des Lebens und des zeitlichen Werdens hinauszurücken – wir können sie vielmehr dem Leben selbst angehörig und aus seiner eigenen Tiefe hervorquellend denken, sofern wir uns nur zu der Anschauung wahrhaft umfassender und universeller Lebenszentren erheben. Der Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen löst und versöhnt sich nunmehr innerhalb der Ebene des lebendigen Geschehens selbst: denn es ist zuletzt ein und derselbe Prozeß, aus dem die organischen Formen und die Kulturformen hervorgehen, aus dem die rein vitalen Gestalten wie die Gestalten der Sprache und der Religion, der Wissenschaft und der Kunst erstehen«. – ECN 1: 101. 91

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›Philosophie der Kultur‹« in Anspruch nimmt, »erscheint« auch Cassirer zunächst »bestechend und verlockend«, ist es in Wirklichkeit aber nicht. Bei ihr erweist sich nämlich die Annahme »überindividueller Lebenseinheiten« als unerläßlich, d. h. nur sie gewährt dem Denken den scheinbar »einzigen festen Halte- und Ruhepunkt«. Diese Annahme wiederum bildet eine der »Grundideen der organologischen Geschichtsphilosophie«, zu der Cassirer außer Spengler auch Vico und die Romantik zählt. 94 Trotz seiner Wertschätzung für diese Richtung, die er klar zum Ausdruck bringt, weist er sie und ihre Annahmen und damit auch ihre Lösung des Problems als uneinlösbar zurück. Die historischen Kulturen sind für ihn im Gegensatz zu Spengler eben nicht als biologische »Lebensformen, vegetative Formen« zu erklären, sondern vielmehr als reine »Sinnformen«, »Bedeutungsformen« bzw. »Funktionseinheiten« auszulegen. 95 Diese Gegenüberstellung hat für Cassirer ein außerordentliches Gewicht, weil sie den Blick auf die existentielle Alternative frei gibt, vor die sich der moderne Mensch gestellt sieht: die Alternative nämlich, ein freies, sich selbstbestimmendes oder ein schicksalhaft fremdbestimmtes Leben zu führen. Denn allein in den Sinn- und Bedeutungsformen »stehen wir auf dem Boden der Freiheit«, in den biologischen Lebensformen dagegen unterliegen wir der Naturnotwendigkeit, ohne uns von ihr distanzieren zu können. Kulturelle Phänomene sind für ihn also grundsätzlich »Bedeutungseinheiten« und nicht »bloß ›physiognomische‹ Einheiten« des vitalen Lebens, wie Spengler glaubt. 96 Bei allen kulturellen Phänomenen (Religion), die einen eigenen Sinn in sich tragen, »muß es zuletzt zu einer Lösung vom reinen Lebensgrund kommen«, wobei sich eine ideelle »reine ›Sinn‹-Ordnung« herauskristallisiert, die aber noch nicht alle Bezüge zum Leben und der Lebendigkeit gekappt hat. 97 Mit dem »reinen Lebensgrund« meint Cassirer ein rein zweckgerichtetes tierhaftes Leben, d. h., ein ausschließlich natürliches Ausdrucksleben, nicht aber das geistige Leben mit seinen symbolischdarstellenden und symbolisch-bedeutenden Vollzügen. Die symbolischen Formen des lebendigen Geistes gehen für ihn selbst nicht aus organisch-vegetativen Funktionen hervor und stellen auch keine Übertragungen dieser Funktionen auf das geistige Leben dar. Trotzdem sind sie zuerst in den »Kreis der bloßen ›Nützlichkeit‹«, d. h. in den Kreis des reinen Daseinskampfes eingeschlossen und müssen den ihnen eigentlich

94 95 96 97

Ebd. Ebd., 244. Ebd., 245. Ebd., 248.

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fremden Lebenszwecken dienen, auf die sie als Ausgangsstufe offenbar angewiesen sind. Irgendwann durchbricht aber die den Geistesfunktionen innewohnende negierende Kraft, die zur Richtungsumkehr drängt, diesen Kreis und stößt – als »Wendung zur Idee« (Simmel) – die reine ideelle »Anschauungswelt«, die Welt des unzeitlichen »eigenen Sinns« der jeweiligen Form auf. 98 Die entscheidende Einsicht, die Cassirer in seinen Überlegungen und Gedankenexperimenten glaubt begründet zu haben, ist die, daß sich uns als »Letztgegebenes« und »Letztgewisses« nicht eine chaotische oder ordnungslose Unmittelbarkeit des Lebens darbietet, sondern sich uns vielmehr jene geistigen symbolischen Formen offenbaren, die »die Demarkationslinie zwischen dem Menschen und der Gesamtheit der Welt des Lebendigen« ziehen. 99 Im Vorgriff auf die Lösung des Gegensatzes von Geist und Leben heißt dies, daß wir beide Pole bzw. Bedeutungen vom Medium der symbolischen Formen aus abstraktiv zu entwickeln haben. Ohne geistige, ideelle Formen der Symbolisierung vermögen wir weder unmittelbar wahrzunehmen noch mittelbar anzuschauen oder zu denken. Deshalb könne unsere rezeptive wie denkende Erkenntnis keine Genesis des Geistigen, Ideellen aus dem Leben selbst erfassen, weil bei allem Erfassen bereits das »Gesetz der Formung« wirkt. Die erkenntnistheoretische Konsequenz lautet, daß wir »niemals zu dem Punkte zurückdringen [können], an dem der erste Strahl des geistigen Bewußtseins aus der Welt des Lebens hervorbricht«. 100 Obwohl auch Cassirer, wie schon Darwin und Wundt, die »Erscheinung des Ausdrucks« als ein »echtes Urphänomen des Lebens« deutet, verbürgt ihm dieses Urphänomen keine Kontinuität zwischen der Welt des natürlichen Seins und der des geistigen. 101 Umgekehrt tragen wir beim Erkennen des Lebens bereits die Form des Geistes an es heran. Bei allem Unterschied im phänomenologischen »Bestand« des kontinuierlich-fließenden »Werdens der Naturformen« und des die Mutation einschließenden »geistigen Werdens« haben für ihn die Analysen der symbolischen Formen in den drei Teilen der PsF gezeigt, »wie unlöslich, insbesondere in den ›primitiveren‹ Gestaltungen, die rein ›geistigen‹ Gehalte mit ›vitalen‹ verwoben sind und wie sehr sie in ihrem Aufbau von vitalen Tendenzen beherrscht werden«.102 Er bezieht dies vor allem auf das Ineinander von »Denkform« und »Lebensform« im mythischen Welt98 99 100 101 102

Ebd., 27. Ebd., 36. Ebd. Ebd., 37. Ebd., 39.

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bild. Obwohl bei allem Ineinander und Heranrücken von unzeitlichen, ideellen »Formwelten« und »organischen« Naturformen der Abstand zwischen beiden »unaufheblich« bleibt, lassen sich die natürliche und die geistige Welt aber auch nicht jeweils allein aus sich selbst oder aus ihren jeweiligen Aufbauprinzipien verstehen. Scheinbar, so Cassirer, müssen wir sie vielmehr »gegeneinander halten«, müssen wir gleichsam »die eine in der anderen sich reflektieren lassen, um in solcher ›wiederholten Spiegelung‹ ein Bild von beiden zu gewinnen«. 103 Diese Aufgabe vermag die Philosophie der symbolischen Formen aber nur innerhalb der »Welt des Geistes« zu leisten, da ihr aus methodischen Gründen die Bergsonsche »Unmittelbarkeit der Intuition« und damit die unmittelbar erlebbare Welt des natürlichen Daseins versagt bleibt. 104 Das heißt aber nicht, daß die Welt der geistigen Formen sich von dem Reich der Naturformen abwenden soll oder muß. Durch die dem Geist möglichen Blickwendungen wandelt sich im sich umorientierenden Menschen der »Lebens-Zusammenhang« zwischen eigener organischer Struktur und äußerer Umwelt zu einem »Erkenntnis-Zusammenhang«, aus dem heraus die unterschiedlichen »Lebenskreise« – d. h. die »Lebensformen« wie der Mensch und die Tierarten – voneinander Wissen erlangen. Dabei gewinnt der Mensch »den Blick für die anderen Lebenskreise«, indem er von sich absehen lernt. Diesen Blick gewinnt er nicht, wenn er »in die Welt der anderen Lebewesen« seine eigenen und ihr grundsätzlich fremden Kategorien hineinlegt.105 Auf diesem Weg der Annäherung und des von sich absehenden Verstehens schlägt der »Lebensgrund« in die Idee, in den Geist um, wobei die bloße biologische »Lebensform«, der bloße Aktionskreis des Lebens, »der Augenblickscharakter« des »Lebensgrundes« endgültig überschritten wird. 106 Wenn Cassirer dies mit den Worten kommentiert, daß hierbei der Lebensgrund »zu Grunde« geht, dann meint dies, daß er »zu seinem eigenen geistigen Grunde zurückgeht«. 107

103

Ebd., 45. Ebd., 47, 245. 105 Ebd., 231. 106 Ebd., 249 f. 107 Ebd., 250. In einem nur auf den ersten Blick völlig anderem Sinne spricht Cassirer 1930 im Vortrag »Wandel der Staatstheorie und Staatsauffassung« vom »Lebensgrund«. Hier sieht er in einer »sicheren Staatsgesinnung« eine wichtige Voraussetzung für eine als notwendig erachtete aktive Teilhabe der Bürger am »Leben des Staates« und an der Bildung politischer Theorie. Eine solche sittliche »Staatsgesinnung« könne durch keine Philosophie einfach aus dem Nichts erzeugt werden, sie muß vielmehr »aus einem tiefen und unmittelbaren Lebensgrunde erwachsen und sich aus ihm ständig erneuern«. (Cassirer [1991a: 168]) Offenbar 104

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3.2 Lebensordnung: symbolische Form und ethische Ordnung Wenn wir Cassirers Nachdenken über das methodische Verhältnis derjenigen Termini und Kategorien verfolgen, durch die das vegetative und das geistige Leben mit Blick aufeinander erfaßt bzw. konstituiert werden, dann ist noch einmal die Rede auf den Begriff der »Lebensordnungen« zu bringen, den er ursprünglich auf historische Kultursysteme, später aber auch auf biologische Lebensformen anwendet. 108 Der Begriff der Lebensordnung, der in der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Literatur der Zeit vielfach gebräuchlich war, und der nach 1918 bei ihm zunächst nur noch einmal in PsF II (1925) auftaucht, findet 1932 erneut Eingang in zwei Arbeiten: in den Vortrag »Goethes Idee der Bildung und Erziehung«109 und in die Schrift Die Philosophie der Aufklärung. 110 Im Zusammenhang mit der Frage nach Cassirers Verhältnis zum Begriff des Lebens und zur Strömung der Lebensphilosophie hat insbesondere der Terminus im Goethevortrag Aufmerksamkeit gefunden. 111 Die letztlich rhetorisch gemeinte Frage, inwieweit bei Cassirer der Begriff der Lebensordnung den eher szientifisch anmutenden Begriff der symbolischen Form regelrecht ersetzt, oder eben bloß besser fundiert, hatte Orth in der von ihm 1993 unter dem Titel Geist und Leben herausgegebenen Sammlung kleinerer, nach 1927 entstandener Arbeiten Cassirers aufgeworfen. 112 Hierbei spricht er ganz grundsätzlich von den »Lebensordnungen«, behandelt aber kommentarlos den Begriff der Lebensform als synonymen Terminus. Einige Textstellen bei Cassirer, die den Terminus »Lebensform« benutzen bzw. erläutern, kommen in der Tat dem nahe, was er anderen Orts als symbolische Formen thematisiert. Von diesen spricht er auf alle Fälle auch in späteren Vorträgen und Arbeiten, zuletzt in dem 1945 veröffentlichten Beitrag über »Strukturalismus in der modernen Linguistik«. 113 In den uns bislang beschäftigenden Arbeiten der Jahre 1927 bis 1930, die den Positionen der Lebensphilosophie und dem Problem des Lebens speziell gewidmet sind, kommt der Termihat er mit dem »Lebensgrund« ein »Gemeinschaftsgefühl« im Auge, das als eine »Gesamtempfi ndung« alle politischen Gegensätze und Kämpfe (Parteien, Klassen, Konfessionen) überbrückt bzw. zurücktreten läßt. Dies ermöglicht es allen Bürgern und Politikern, »fest im Mittelpunkt« des staatlichen Seins zu stehen, um von hier aus nach verschiedenen Richtungen zu arbeiten. 108 Siehe dazu auch die Abschnitte I.1.3 und II.3.2 der vorliegenden Arbeit. 109 GL: 94–122, 100; ECW 18: 127–147, 132. 110 PA: 366; ECW 15: 286. 111 Orth (1993); Möckel (1998, 2001a, 2001b). 112 Orth (1993: 9). 113 GL: 338.

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nus »Lebensordnung« allerdings nicht vor, nur der Begriff der symbolischen Form114 und vielfach der mehrdeutige Terminus der Lebensform, bei dem er sowohl die symbolischen Formen als auch gesellschaftliche wie »organische Lebensformen« im Auge hat. 115 In dem 1932, im Weltgoethejahr, gehaltenen Vortrag über Goethes Bildungs- und Erziehungsidee schreibt Cassirer diesem Begriff eine Bedeutung zu, die er sonst mit den symbolischen Formen verbindet, wobei der Ausdruck »symbolische Form« im Vortrag nicht fällt. Der dabei erneut in Anspruch genommene Begriff der Ordnung, der bekanntlich häufig in seine Arbeiten Eingang findet und oft für eine rein funktionale, rein gedankliche, symbolische »Ordnung« bzw. »Ordnungsbeziehung« steht,116 so ist im Manuskript von 1928 von »reinen Sinn-Ordnungen« die Rede,117 legt hier das Augenmerk auch wieder auf die sich seit den Frühschriften an Goethe verdeutlichende Beziehung von Variation (Beweglichkeit) und Gesetz (Stabilität). Der Rückgriff auf und Dialog mit Goethe ist ja ein für Cassirer durchaus charakteristisches Verfahren. Bereits mit der allgemeinen »Frage nach Bedeutung und Stellung« von Goethes spezieller Erziehungslehre im Ganzen der ihm »eigenen Weltund Lebensansicht« verweist er auf ein Grundproblem seines eigenen Philosophierens. 118 Der gegebenen Antwort gemäß umgreift die tätige »Welt- und Lebensansicht« Goethes neben der individuellen »Lebensführung« noch den »Künstler« (ästhetischen »Bildner«), den »Naturforscher« und den »pädagogischen Denker«. 119 Alle diese Richtungen geistiger Energien, geistigen Tuns gründeten einheitlich in ein und demselben »inneren Prinzip«. Deshalb sucht Cassirer nach einem »geistigen Band«, das alle Richtungen geistigen Bildens innerlich miteinander verbindet. Das Eigentümliche an Goethes »Welt- und Lebensauffassung« sieht er hier nun vor allem darin, daß sie »natürliches und geistiges Sein« nicht abstrakt entgegensetzt, sondern einheitlich als von einer tiefen »Lebens-

114

ECN 1: u. a. 4, 10, 13, 18, 27, 36, 40, 46 f., 48, 53, 59, 60, 65, 78, 96 f., 103, 109. Ebd., u. a. 10 f., 15 f., 19, 41, 43, 48, 50, 52. 116 Cassirers Begriff dürfte u. a. auf den ideell-relationalen Ordnungsbegriff in der modernen Naturwissenschaft und im Kritizismus (Raum- und Zeitlehre) zurückgehen, sich dabei auf Leibniz’ Defi nition des Raumes als reinem Ordnungsbegriff berufen und um eine kulturelle Dimension erweitert worden sein. – Ferrari (1992: 168 ff., 176 f., 180); siehe dazu auch: LS/ECW 1: u. a. 42, 127, 214, 225 ff., 232; ECN 1: u. a. 91, 92, 94. 117 Die PsF habe die Aufgabe zu erfüllen, den »Weg der menschlichen Erkenntnis« vom »Schematismus der Anschauung zur symbolischen Erfassung [ . . . ] reiner SinnOrdnungen« darzustellen. – ECN 1: 109. 118 GL: 95; ECW 18: 128. 119 Ebd., 107; ECW 18: 137. 115

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und Werdelust erfüllt und durchströmt« deutet. So umfaßt sein Begriff der Bildung »ebensowohl das organische wie das geistige Werden«. 120 Als charakteristische Besonderheit dieser »Welt- und Lebensauffassung« zeichnet er aber die spannungsgeladene, bewegliche, sich gegenseitig bedingende Einheit von Offenheit und Gebundenheit (Gesetz) aus. Diese Einheit finde in Goethes Lehre von der Metamorphose der Pflanzen und Tiere seinen Niederschlag in den Begriffen des Maßes und der »›beweglichen Ordnung‹«, die beide sowohl auf das organische als auch auf das geistige Leben zielen. Der Begriff der Metamorphose eröffnet uns das Geheimnis der begrifflich undurchdringlichen »individuellen Form« des Leben und der Kultur. 121 Als konzentrierte sprachliche und gedankliche Fassung dieser in ihm erfaßten doppeltbestimmten »beweglichen Ordnung« gilt ihm Goethes Lehrgedicht »Die Metamorphose der Tiere«. In ihm beschreibt dieser die in der lebendigen Natur überall vorfindliche »zwiefache« Bestimmtheit als eine bewegliche, lebendige Spannung »von Macht und Schranken, von Willkür Und Gesetz, von Freiheit und Maß«. 122 Indem Cassirer diese Zeilen zitiert und aus ihnen den Schluß zieht, daß Goethes Begriff der »beweglichen Ordnung« als lebendiger individuellen Form es auf glückliche Weise erlaubt, unterschiedlichste Richtungen geistigen Gestaltens zu vereinen und zusammenzubinden, gesteht er ihm eine Art Urheberrecht an der Theorie symbolischer Formen und ihrer Begrifflichkeit zu. Vielleicht glaubt er auch, deren philosophische Legitimität auf diese Weise aufwerten zu können. Die Feststellung, Goethes »GrundSynthese« der beiden Seiten jeglicher Ordnung beschränke sich nicht auf die »Welt der organischen Formen«, sondern sei auch auf den »Aufbau der spezifisch-geistigen Bildungswelt« anzuwenden, 123 bezieht letztlich den Begriff der symbolischen Form auch auf das organische Leben zurück. In der entscheidenden Formulierung definiert Cassirer, von Goethe ausgehend, »feste und sichere«, d. h. »objektiv-bestimmte und geregelte Lebensordnungen« als diejenigen Felder, in die der zu erziehende Einzelne hineingestellt werden müsse. 124 Lebensordnungen werden somit als »bildsame Formen« beschrieben, innerhalb derer sich die geistigen Kräfte des Individuums bewähren können. Damit stellt er die Entwick-

120 121 122 123 124

Ebd., 98; ECW 18: 130. Ebd., 99; ECW 18: 131. Goethe (1998: HA 1, 203). GL: 100; ECW 18: 132. Ebd.; ECW 18: ebd.

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lungschancen des Einzelnen, des Individuums in den Mittelpunkt von Ordnungen oder symbolischen Formen der Kultur. Diese sollen ihm nicht von außen her vorgegeben werden, sondern »von innen gefordert sein.« Die Lebensordnungen beruhen auf der »Herrschaft des Gesetzes«, das »vom Ich aus selbsttätig ergriffen« und gestaltet wird. 125 Das Gesetzliche der »beweglichen Ordnungen« bzw. der »Lebensordnungen« erweist sich, wie in Goethes Worten vorgeben, als »fest und ewig, aber zugleich lebendig«. Die ursprünglich-bildende Kraft einer jeden echten geistigen Grundfunktion realisiert ein sie »bedingendes Gesetz ihres Aufbaus«, wobei dies über das Medium der ausdrückenden, Sinnliches und Ideelles, Bewegliches und Beharrendes verknüpfenden Symbole geschieht. Auf diese Weise gehen das »Moment der stetigen Veränderung und das Moment der Dauer« ineinander über und ineinander auf.126 Goethes dialektische Auffassung von Lebendigkeit und Gesetzlichkeit, wie sie der Begriff der »beweglichen Ordnung« zum Ausdruck bringt, bedeutet für Cassirer eine ganz entscheidende »Lockerung des Lebensbegriffs« und seiner naturhaften Ordnungen, allerdings zunächst lediglich auf das organische Leben in der Natur bezogen. Diese Lockerung schlage sich in einem neuartigen Begriff der »Toleranz« gegenüber Abweichungen von der Regel nieder. Dieses Moment der Toleranz in der Entfaltung naturhafter Organismen muß sich in den kulturellen Ordnungen als Freiheitsräume für das bildende Tun der Individuen offenbaren. Zeichnet doch die Fähigkeit des Menschen, sich für »das gesamte Gebiet seines geistigen Daseins« selbst Gesetze zu geben, denen er sich freiwillig unterwirft, die Bildungsvorgänge innerhalb derjenigen beweglicher Ordnungen aus, die wir als kulturelle Ordnungen (Kunst, Sitte, Religion) kennen. 127 Die »verschiedenen Formen menschlicher Gesetzgebung« prägen verschiedene »bewegliche Ordnungen«, »Lebensordnungen« oder symbolische Kulturformen aus, die eine wahre Erziehungskonzeption auf ein einheitliches Ziel hin alle zu thematisieren hat. Orths Schlußfolgerung, wonach es »fast scheint«, als »sollte das verständnisvolle Wort ›Lebensordnung‹ den szientifischen Begriff der ›symbolischen Form‹ ablösen«,128 findet im späten Textkörper Cassirers allerdings keine wortwörtliche Bestätigung. 129 Etwas anders sieht es aus, 125

Ebd., 101; ECW 18: ebd. PsF I: 9, 12, 18 f., 22, 47; ECW 11: 7, 10, 16 f., 20, 44. 127 GL: 106; ECW 18: 136. 128 Orth (1993: 9). 129 Abgesehen von dem Ausdruck einer »Ordnung des Lebens« (PA: 366; ECW 15: 286) fi ndet sich der Terminus »Lebensordnung« möglicherweise nur noch ein mal (VM: 340). 126

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wenn wir in Betracht ziehen, daß er den Terminus »Lebensform« gelegentlich im Sinne einer symbolischen Form verwendet. Das ist aber nicht unproblematisch, weil er ihn auch in der Bedeutung einer biologischen Gattung oder Art und einer Gesellschaftsform einsetzt. Orth hatte seine Schlußfolgerung allerdings mit den Worten »fast scheint es« dahingehend eingeschränkt, daß er Cassirers Hinwendung zum »Leben« bzw. zum Terminus »Lebensordnung« nicht als eine unerklärliche Wendung im Alterswerk verstanden wissen will. Schon in PsF I wechselt dieser nämlich zwischen szientifischen Termini und der Begrifflichkeit des Lebens hin und her. Unter Leben wird hier u. a. die »Mannigfaltigkeit und Fülle des geistigen Lebens« verstanden, dem selbst das »Gepräge der inneren Notwendigkeit und damit das Gepräge der Objektivität aufgedrückt ist«. 130 Mit der von Cassirer hier bezweckten »Synthese von Welt und Geist«, die den Weltbegriff in den Kulturbegriff transponiert und so jeglichen radikalen Gegensatz zwischen Geist und Leben aufhebt, ist genau »das charakterisiert, was nun mit ›symbolischen Formen‹ gemeint ist«. 131 Eine ganz andere Bedeutung scheint die »Ordnung des Lebens« zu haben, von der 1932 in der PA die Rede ist. Hier entwirft Cassirer das Bild einer geistig-kulturellen Epoche, deren »geistiges Gesamtleben« einen »Mittelpunkt«, einen »gemeinsamen Kraftmittelpunkt« besitzt und das eine soziale, politische und geistig-kulturelle Ordnung bildet, der auch die Philosophie der Aufklärung angehört. 132 Wir haben eine »tiefe Ordnung« vor uns, aus der »alles geistige Tun entspringt«. 133 Um die Eigenart des sich in der Philosophie aussprechenden »geistigen Lebens« zu fassen, untersucht Cassirer den Übergang »aller Gebiete des Geistes und des Lebens« vom 17. zum 18. Jahrhundert. 134 Er unterscheidet dabei sowohl die kulturelle Ordnung (»Geistesleben«) von der politischen Ordnung (»wirkliches politisches Leben«, »staatliches Leben«) 135 als auch den Begriff der »Gemeinschaftsform« menschlichen Lebens vom Begriff der »Sozialibilität« bzw. der »Geselligkeit«. 136 Das »gesellschaftliche Dasein als solches«, d. h. die Form der »Gesellschaft« (»Geselligkeit«), und die 130

PsF I: 48; ECW 11: 46. Orth (1993: 10). 132 PA: VIII, 4; ECW 15: IXf., 4. Die Aufklärungsphilosophie schreibe dem Denken »die Kraft und die Aufgabe der Lebensgestaltung zu«, in ihren Augen soll es die als notwendig begriffene »Ordnung« der Kultur und der Gesellschaft selbst heraufführen. Sie entfaltet einen besonderen »Pulsschlag des inneren gedanklichen Lebens«. – Ebd., XIIf.; ECW 15: XIIf. 133 Ebd., XI; ECW 15: XII. 134 Ebd., 29; ECW 15: 23. 135 Ebd., 314, 324, 335, 337, 346; ECW 15: 245 f., 253, 262, 264, 270. 136 Ebd., 342, 344; ECW 15: 267, 269. 131

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Form der »Gemeinschaft« (Sittlichkeit, Humanität), die normalerweise aufeinander abgestimmt sind, können real in einen Gegensatz geraten. 137 Die das 18. Jahrhundert in Frankreich prägende »Lebens- und Gedankenstimmung der Enzyklopädisten« sieht die gesamte »geistige Kultur« in harmonischer Entsprechung mit der »sozialen Ordnung«, wobei die Begriffe sittliche »Gemeinschaft« und geistig-kulturelle »Geselligkeit« für sie zusammenfallen. 138 Diese »Lebens- und Gedankenstimmung« schreibt Wissenschaft, Staat und Produktionstechniken per se eine soziale, gemeinschaftsbildende Funktion zu. Für Rousseau jedoch stünden »sittliche Triebkräfte« (»sittliches Bewußtsein«) und Wissenschaft samt Wirt schaft (»geistig-gesellige Kultur«) nicht per se in einem harmonischen Verhältnis. Die »Gesellschaftsform« der »bürgerlichen Gesellschaft«, d. h. die bestehende Ordnung, das ganze bestehende »politisch-soziale Gebäude« kann im schlimmsten Fall sogar die sittliche Gemeinschaft der Menschen zerstören. 139 Rousseau erhebe deshalb die Forderung, die Cassirer ganz offensichtlich teilt, daß die geistig-gesellige Kultur der sittlichen Gemeinschaft der Menschen, ihrem sittlichen »Leben«, ihren »ethischen Lebenszielen« zu dienen hat. Gehe doch vom Wissen, d. h. von der geistig-geselligen Kultur, nur dann keine Gefahr aus, »sofern es sich nicht schlechthin über das Leben erhebt und sich von ihm losreißt, sondern sofern es der Ordnung des Lebens selbst dienen will«.140 Hier ist die »Ordnung des Lebens« folglich als richtige »ethische Ordnung« zu verstehen, deren Gesetz sich in einer entsprechenden »Ordnung des staatlich-sozialen Kosmos« niederschlagen muß, was eine entsprechende Form der »gesellschaftlichen Ordnung« (Kultur, Staat, soziales Leben) ermöglicht und gleichzeitig voraussetzt. 141

3.3 Leben, Symbol, Geist: Distanzierung vom bloßen Lebenswillen durch Symbolisierung Obwohl Cassirer das Problem einer Kontinuität von vegetativem und geistigem Leben abschlägig bescheidet, ist für ihn das »Erwachen« des lebendigen Geistes im unmittelbar erlebenden tierischen Bewußtsein 137

Ebd., 357; ECW 15: 279. Ebd., 359 f.; ECW 15: 280 f. 139 Ebd., 362 f., 365; ECW 15: 282 f., 285. 140 Ebd., 366; ECW 15: 286. 141 »So muß denn auch in der Ordnung der menschlichen Gemeinschaft die sichere und klare Gestaltung des Willenswelt dem Aufbau der Welt des Wissens vorangehen.« – Ebd.; ECW 15: ebd. 138

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ein zentrales Motiv, an dem er seinen eigenen Begriff des Lebens erneut entwickelt und begründet. Er läßt keinen Zweifel daran, daß wir das Leben »als geistiges, nicht als bloß-biologisches Leben« zu verstehen haben, weil es sich formt, sich selbst begreift, um sich weiß. 142 Dabei ist das emotionale Ausdrucksvermögen auch im tierischen Organismus vorauszusetzen, ohne daß die kausal-genetische Entstehung dieser Funktion zu interessieren hat. Die findet sich als deskriptiver »Bestand« beim lebenden Organismus vor. Wenn Cassirer sich, in Anlehnung an Natorp, zur »Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse« als einer rekonstruktiven Methode bekennt,143 dann macht er klar, daß seine Untersuchung von den Werken, den Objektivationen, den Resultaten geistigen Gestaltens rückwärts zu ihren Ursprüngen, Voraussetzungen, Anfängen und schaffenden Energien schreitet. Keinesfalls soll das Ergebnis genetisch aus dem Anfang abgeleitet, entwickelt werden. 144 Tierisches, rein biologisches Leben faßt Cassirer als die »Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen«, die als »bloßer ›Wille zum Leben‹«, als »rein vitale Triebkräfte« zweckgerichtet agieren. Rein organisch-vitales Leben, das auf unbewußte Zwecke gerichtet ist,145 bewegt sich z. B. in einer sinnlichen Reaktionszeitordnung, deren Richtungsstruktur sich ihm entzieht, weil sie im tierischen Bewußtsein nicht »repräsentiert« ist. 146 Erst durch ein spezifisches symbolisches Zeitbewußtseins wird aus dem »bloßen ›Willen zum Leben‹« (Nietzsche), aus den »rein vitalen Triebkräften« der »geistige, geschichtliche Wille« des Menschen. 147 Dieser setzt in einem mittelbaren »rein symbolischen Akt« das Künftige und

142

PsF III: 221; ECW 13: 217. Ebd., 78 f.; ECW 13: 74 f. So, wie Natorp durch die Rekonstruktion des Subjektiven aus dem konstruierten Objektiven das wahrhaft universelle Programm »einer Phänomenologie des Bewußtseins« entwirft (ebd., 64; ECW 13: 59), will er eine »reine Phänomenologie der Wahrnehmung« (ebd., 35, 244; ECW 13: 33, 240) und eine »Phänomenologie des mythischen Bewußtseins« (ebd., 126; ECW 13: 120) betreiben. Wenn von der Beziehung zwischen der »Methodik der phänomenologischen Analyse und der Methodik einer rein objektiv gerichteten ›Philosophie des Geistes‹« die Rede ist, hat er ganz Natorps Methodiken der Rekonstruktion (Phänomenologie) und der Konstruktion (Wissenschaften) im Auge. – Ebd., 87, 99; ECW 13: 82, 95. 144 »Eine wahrhaft logische und phänomenologische Analyse des Begriffs« werde allerdings versuchen, »ihn in seiner Bedeutungstotalität« zu ergreifen, wofür sie das »Ende mit dem Anfang verknüpfen«, das »Ganze der mittleren und vermittelnden Stadien überblicken und durchmessen« muß. – Ebd., 346 f.; ECW 13: 341. 145 »Das Leben ist, lange ehe es in diese [symbolischen – C. M.] Formen übergeht, in sich selbst zweckvoll gestaltet, ist auf bestimmte Ziele gerichtet«. – Ebd., 322; ECW 13: 319. 146 Ebd., 213; ECW 13: 209. 147 Ebd., 212; ECW 13: 208. 143

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Mögliche, während der vitale Lebenswille über das »unmittelbare sinnliche Bedürfnis« allein aus dem Vergangenen dirigiert wird. Den ermöglichenden Grund für diese Transformation des reinen Lebenswillens zum geistigen Willen des Menschen sucht Cassirer in den sich entfaltenden symbolisch-repräsentierenden Geistesfunktionen, die ihre letzte Quelle in der unmittelbaren Ausdrucksfunktion haben. Das im unmittelbaren Erleben bei Mensch und Tier zumindest keimhaft zum Vollzug kommende gestisch-mimische, emotionale Ausdrucksvermögen ermöglicht, als Grund- bzw. Quellschicht allen geistigen Symbolvermögens, die schrittweise »Distanzierung«, Entfernung aus der Unmittelbarkeit des reinen Lebenswillens, die ihrem Wesen nach ungebrochen, unvermittelt ist. Warum und wann sich diese Möglichkeit bei unseren tierischen Vorfahren realisiert, steht hier nicht zur Debatte. Die beginnende Distanzierung, die bereits ein formendes, ideelles Moment einschließt, das als ein strukturierendes, sinngebendes Prinzip der Weltwahrnehmung fungiert,148 vollzieht sich sogar bereits in den Akten des unmittelbaren – emotionalen – Ausdruckserlebnisses, allerdings noch ohne als solche wahrgenommen, bewußt erfaßt zu werden. Deshalb erweist sie sich als eine Symbolisierung oder Medialisierung der »Unmittelbarkeit des Lebens«. Die in der emotionalen Ausdruckswahrnehmung bereits wirksame, tätige Geistigkeit trägt die dem symbolisierend-repräsentierenden Geist und seinen Funktionen innewohnende Polarität des sich Näherns und Entfernens in diese Wahrnehmungsweise hinein. 149 Das rein vitale Dasein, das wir theoretisch nur annähernd erfassen und rekonstruieren können, kennt dagegen diese vermittelnde Polarität nicht, es ist per se bloße Unmittelbarkeit, die jedoch »mit dem ersten Aufdämmern der geistigen Welt im Menschen« dahin ist. 150 Für Cassirer scheint dieser Distanzierungsprozeß, der grundsätzlich auf bestimmten »symbolischen Grundleistungen« beruht, aus dem »alltäglichen Leben« des bloßen Nutzeffekts, des bloß praktischen Lebenswillens und damit aus der unmittelbaren »Lebensnähe« herauszuführen. Lebensnähe ist für ihn ein zutreffender Ausdruck, »wenn man unter dem Begriff des Lebens die Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen zusammenfaßt und diese 148

Cassirer nennt dies »eine bestimmte Art der ›Sicht‹«, die als »geistige Antizipation, ein Vorblick ins Künftige, ins bloß-Mögliche« fungiert. – Ebd., 319; ECW 13: 316. 149 1930 hebt Cassirer einmal hervor, er habe die Richtungen des Wirkens, das sich Entfernen um sich zu Nähern, die beide zu einer Tätigkeit verschmelzen, insbesondere in PsF III dargestellt. – GL: 49; ECW 17: 198 f. 150 Ebd., 47 f.; ECW 17: 197.

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den spezifisch-geistigen Funktionen gegenüberstellt«. 151 Zwischen beiden Sphären stehen die symbolischen Formen. Das in sich selbst zweckvoll gestaltete, auf den vegetativen Lebensvollzug gerichtete »alltägliche« oder »lebensnahe« Leben weiß von diesen Zielen und Zwecken allerdings nichts. Dieses Wissen kann es nur durch das kulturschaffende Ausbilden von Symbolsystemen (Reflexion) erlangen. Hier tut sich die Frage auf, ob Cassirer, ebenso wie Simmel, die praktischen Lebenszwecke auf vielerlei Tätigkeiten (Zwecke) ausdehnt, die zwar dem bloßen Lebenswillen dienen, dabei aber bereits Sinndimensionen, unzeitliche Werte und ideelle Gehalte, welche die spezifisch-geistigen Funktionen zu ihrem Gegenstand haben, der Möglichkeit nach enthalten oder anvisieren, wobei eine »Achsendrehung« der Bewußtseinsaufmerksamkeit die Sphäre des reinen Lebenswillens zu überschreiten vermag. Denn das »Wissen um diese Ziele«, die jenseits der Lebenszwecke liegen, schließt stets einen »Bruch mit dieser Unmittelbarkeit des Lebens, mit dieser ›Immanenz‹ in sich«. 152 Während das Tier »in seiner Umwelt [lebt], ohne sie sich in dieser Weise gegenüberzustellen«, baut jede vom Menschen in Anspruch genommene symbolische Form »ein eigenes, ein intelligibles Reich innerer Bedeutsamkeit auf, das sich von allem bloß zweckhaften Verhalten innerhalb der biologischen Sphäre klar und scharf abhebt«. 153 Die die Reiche innerer Bedeutsamkeit aufbauenden Symbolformen ziehen deshalb »die Demarkationslinie zwischen dem Menschen und der Gesamtheit der Welt des Lebendigen«. 154 Als durchaus mißverständlich erweist sich allerdings der Ausdruck des »alltäglichen Lebens«,155 als etwas glücklicher der der bloßen »Lebensnähe«. Gelangt Cassirer doch auf Grund von Untersuchungen pathologischen Verhaltens zu dem Schluß, daß Kranke ohne die »repräsentativ-symbolischen Leistungen« sich wieder im ausschließlich biologisch zweckhaften Leben bewegen, weil bei ihnen der »Fortgang ins ›Ideelle‹« verlorengegangen ist. Der dieser Leistungen verlustig Gegangene ist in die unmittelbare »Lebensnähe« zurückgesunken. Ein Leben ohne sym-

151

PsF III: 322; ECW 13: 319. Ebd.; ECW 13: 319 f. Alle Erkenntnis der Welt und alles geistige Wirken auf sie erfordert, daß »das Ich die Welt von sich abrückt, daß es eine bestimmte ›Distanz‹ zu ihr gewinnt«. – Ebd.; ECW 13: 320. 153 Ebd., 322 f.; ECW 13: ebd. 154 ECN 1: 36. 155 Mißverständlich u. a. deshalb, weil es an anderer Stelle ohne diese Einschränkung auf die tierhafte Lebenszweckmäßigkeit heißt, der Mensch führt ein »alltägliches« bzw. »tägliches«, ein »praktisches Leben«. – PsF III: 271, 277; ECW 13: 268, 274. 152

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bolische Mittelbarkeiten, allein auf das »Hand-greifliche«, »direkt-Daseiende« beschränkt, dem der »geistige Fernblick« fehlt, ist lediglich ein rein organisch-vitales, tierisches Leben. Ihm mangelt es an dem »geistigen Impuls«, der den »Geist immer wieder über den Kreis des unmittelbar Wahrgenommenen« hinausdrängt. 156 Deshalb tut sich hier ein großer Abstand »zwischen der organischen Welt und der Welt der menschlichen Kultur, zwischen dem Gebiet des Lebens und dem des ›objektiven Geistes‹« auf. Letzteres zeichnet sich durch den »Prozeß der Vergeistigung, den Prozeß der ›Symbolisierung‹ der Welt« aus. 157 Dennoch wird der Mensch der Kultur bei Cassirer nicht zu einem Geistwesen, die kulturelle Welt wird nicht zu einer ausschließlich geistigen. Die Welt des Menschen umfaßt vielmehr sowohl das Gebiet des Lebens, »in dem der Mensch der rein biologischen Sphäre noch unmittelbar [ . . . ] verhaftet zu sein scheint«, als auch das geistig-kulturelle Gebiet, in dem er »alle Brücken mit der Welt des Organischen abgebrochen zu haben scheint«. 158 Diese eigenständige geistige Menschenwelt besitzt zudem eine »gemeinsame Mitte«, und das sind eben die »symbolischen Formen«, die Medien. Sie sind aber nicht nur »Brücken« (Simmel) vom Ich zum Nicht-Ich, sondern fungieren vielmehr als vielseitige »Mittel für die Schaffung dieser polaren Gegensätze«, fungieren als diejenigen »Medien, in denen und kraft derer sich erst die ›Auseinandersetzung von Ich und Welt‹ vollzieht«. 159 Die in den Ausdrucksphänomenen latenten Differenzen und Doppelrichtungen bedürfen also symbolischer Medien, um sich entfalten zu können. Dem aus bestimmten Passagen seiner Schriften entstehenden Eindruck, wonach das vegetativ-zweckmäßige Leben des Menschen als »alltägliches Leben« oder als »Lebensnähe« grundsätzlich ohne symbolische Leistungen des Geistes vonstatten geht, die dann quasi aus dem Nichts auftauchen müßten, tritt Cassirer in folgender Überlegung entgegen, die auch an die mehrfach erwähnte Simmelsche Essaysammlung Lebensanschauung erinnert. Sie beantwortet die oben aufgeworfene Frage: Wir dürfen nicht übersehen, daß alle symbolischen Formen des Geistes zunächst in den »Kreis der bloßen ›Nützlichkeit‹«, in den Kreis des Daseinskampfes und der bloßen »Wirk-Welt« eingeschlossen sind. In diesem Lebenskreis herrscht der bloße technische »Zweck-Mittel-Konnex«, der später »durchbrochen« wird, wodurch die reine ideelle »Anschauungs-

156 157 158 159

Ebd., 322, 324; ECW 13: 319, 321. Ebd., 325; ECW 13: 322. ECN 1: 58. Ebd., 59.

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welt«, die Welt des unzeitlichen »eigenen Sinns« der jeweiligen Form aufgestoßen wird. 160 Die mit dem Ausbruch aus der technischen Zweckmäßigkeit gewonnene reine kontemplative »Schau des Wirklichen«,161 die keinem unmittelbaren Zweck des Wirkens zu dienen hat, geht zwar »über den Urgrund des ›Lebens‹« hinaus, wobei der aber »weder zerstört, noch vergewaltigt« wird, wie dies die Philosophen des Lebens behaupten und bedauern. 162 Das meint u. a., daß die bloßen Nützlichkeitszwecke gewissermaßen in Geltung bleiben, aber »in dem Bereich der geistigen Bewußtheit, der jetzt entsteht, ist vielmehr das Leben sich selbst sichtbar« geworden. Das Individuum weiß nun um diese Zwecke und damit gewinnt es bei seiner Verfolgung einen Handlungsspielraum, den es vorher nicht besaß. Die »bloß ›vitale‹ Richtung« einer praktischen Leistung (Technik) nennt Cassirer hier ihren »anfänglichen Lebensgrund«, aus dem sie sich schrittweise löst. 163 Im Lebensgrund stehend ist die Leistung noch ausschließlich an ihrer unmittelbaren »bloßen Nutzbarkeit« (Wirksamkeit) interessiert. Das hierbei zum Einsatz kommende technische Werkzeug fungiert aber als ein erstes »brechendes Medium«, durch das der Mensch seine Zwecke nicht mehr unmittelbar naturhaft anstrebt, sondern mittelbar ansieht bzw. mittelbar seinem Willen aussetzt. In dieser Situation vollzieht sich schließlich eine Projektion ins Geistige und Ideelle. Das Medium der Technik erlaubt es uns, ebenso wie die symbolischen Formen des Mythos, der Sprache und der Kunst, die »spezifisch-mensch liche Welt gegen die Welt der Naturformen« abzugrenzen. 164 Die neue rein sachliche (ideelle) Ordnung des Geistes wird also gegenüber der praktischen, zweckmäßigen Wirkordnung des Lebens erst dann verständlich, wenn »das Zwischenreich der ›symbolischen Formen‹« Beachtung findet, wenn die »verschiedenen Bild-Welten«, die der Mensch »zwischen sich und die Wirklichkeit stellt«, seine ganze Aufmerksamkeit erregen. 165 Diese symbolisch-repräsentierenden Formen arbeiten so »an diesem Prozeß der geistigen Distanzierung mit«, der zum geistigen Horizont hinführt. Auch die damit einhergehende »Wendung zur ›Gegenständlichkeit‹«, die der nach zwei gegensätzlichen Richtungen sich schauend betätigende Geist am organisch-zweckmäßigen Leben vollzieht, trennt für Cassirer 160

Ebd., 27 f. Es handelt sich um ein ideelles Sehen ohne Einwirken (theoria), das Cassirer als eine »Energie des Tuns« deutet. 162 ECN 1: 28. 163 Ebd., 39. 164 Ebd., 40. 165 GL: 51; ECW 17: 200. 161

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– wie auch für die philosophische Anthropologie (Plessner, Scheler) – die »Welt des Menschen von der aller anderen organischen Wesenheiten«. Die äußere Dingwelt bleibt für das Tier nämlich eine »Welt von ›Zuständen‹«, für den Menschen ist sie dagegen eine »Ordnung von Gegenständen«, eine »Ordnung von Bedeutungen und Sachverhalten« geworden. Die tierischen »Lebensäußerungen« in Bezug auf die Umwelt haben mit denen des Menschen nur wenig gemein, ist ihnen im Grunde doch weder eine symbolische noch eine ideelle Dimension eigen. 166 Außerdem bedingen »gegenständliches Bewußtsein« und »Selbst-Bewußtsein« einander. Beide Bewußtseinsweisen markieren die menschliche Welt, in der symbolische Formen geistiges Bewußtsein und objektive Welt aufbauen. Die symbolischen Formen werden von Cassirer deshalb als »geistige Urpotenzen« aufgefaßt, die »an der Umgestaltung und Umstimmung, die das organische Leben erfährt, sobald es in die spezifisch-menschliche Sphäre eintritt,« auf unterschiedliche Weise beteiligt sind. 167 Das Eintreten des Lebens in die spezifisch-menschliche Sphäre lasse sich zwar feststellen und beschreiben, nicht aber in seiner historisch-sachlichen Kausalität nachweisen. Indem der Mensch aus dem engen Funktionskreis der »organischen Welt« bzw. des unmittelbaren vitalen Zwecks heraustritt und sich zusätzlich das »Gebiet des ›Betrachtens‹« erobert, vollzieht er einen tiefen Bruch mit der Welt des bloßen Lebenswillens: »Und mit diesem Bruch erscheint freilich der Mensch wie ausgestoßen aus jenem Paradies des organischen Daseins, das gerade die einfachen Lebensformen umschließt«. Er lebt zudem nicht nur in seiner neuen Umwelt, sondern er erbaut sie auch, indem er sie »in geistiger Formung vor sich hinstellt und aus sich heraus stellt«. 168 Die erschauten Gegenstände der Welt »leisten« nicht nur etwas für sein vitales Dasein, sondern »sind« in sich selbst und »bedeuten« etwas. Diese bereits von Simmel diagnostizierte »Wendung zur Form«, wie sie sich in der Kunst, in der Sprache, im Mythos, in der theoretischen Erkenntnis vollzieht, »ist stets eine Art Umstimmung, die das Subjekt in sich selbst, in der Gesamtheit seiner Lebensstimmung und Lebenshaltung, erfährt«. 169 Zur bloßen Existenz kommt damit das Wissen um diese Existenz hinzu. Mit anderen Worten, die ineinander greifenden speziellen »Aktionskreise des Lebendigen«, d. h. die »Lebenskreise«, die »jedes Lebendige« speziell für sich hat, sind genau aufeinander abgestimmt, was

166 167 168 169

ECN 1: 60 f. Ebd., 65. Ebd., 43. Ebd., 44.

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ein »Urphänomen der lebenden Natur« ausmacht. 170 Sie bilden einen »Lebens-Zusammenhang« von eigener organischer Struktur und fremder Umwelt, der »im Menschen zu einem Erkenntnis-Zusammenhang« wird. So wandelt sich für und durch den Menschen das »Stehen der Lebenskreise in einander« zu einem »Wissen der Lebenskreise voneinander«. 171 Zwei weitere wichtige Gedanken fügt Cassirer der ganzen Problematik von Leben, Symbol und Geist 1929 im Davoser Disput mit Heidegger noch hinzu. Durch »das Medium der Form« hat der endliche Mensch auf geistige Weise an der »immanenten Unendlichkeit« teil. Diese Teilhabe realisiert sich, indem er sein endliches rein zweckmäßiges Dasein in unzeitliche Form verwandelt, und dies tut er, »indem er alles, was Erlebnis in ihm ist, nun umsetzen muß in irgend eine objektive Gestalt, in der er sich so objektiviert«, so daß er der Endlichkeit entwächst. 172 Heidegger wiederum will den Menschen der Zufälligkeit und der »Endlichkeit des Daseins« und dem Verbleiben im zeitlichen Ereignis überantworten. 173 Schwemmer macht darauf aufmerksam, daß er sich mit diesem Denkmotiv, das sich als eine umfassende Kritik am Übergang vom Ereignis zur Form reformulieren läßt, in eine Tradition einfügt, »die im 20. Jahrhundert vor allem durch Henri Bergson lebendig erhalten« wurde. 174 Zunächst ist hier mit Heidegger nicht unberechtigt zu fragen, ob Cassirer der Welt der Formen nicht stärker die »Andersheit des Anderen« zur Seite hätte stellen müssen, der sich der in der symbolischen Formenwelt agierende Mensch ausgesetzt erfährt. 175 Während es für Heidegger selbstverständlich ist, daß eine Philosophie der Form eine Philosophie der Versteinerung und Selbstbestimmung bedeutet, die sich dem eigentlichen Seinkönnen verschließt, gewinnt Cassirers Philosophie in ihrer Auslegung der Form, die sie durch deren Einbeziehung »in die emotionalen und expressiven Schichten unserer Existenz« aufbricht, vielmehr gerade die Bedingung für ein Offensein für Veränderungen und ein Eingehen auf Andere. 176 Dies trennt sie von der modernen Lebensphilosophie Simmels und Heideggers, die die Form in den unüberwindbaren Gegensatz zum Leben, zum eigentlichen 170

Ebd., 230 f. Ebd., 231. 172 Der Mensch, so Cassirer, »kann und muß die Metabasis haben, die ihn von der Unmittelbarkeit seiner Existenz hineinführt in die Region der reinen Form. Und seine Unendlichkeit besitzt er lediglich in dieser Form«, d. h. in der »von ihm selbst geschaffenen geistigen Welt«. – Cassirer (1991b: 286). 173 Heidegger (1991b: 289 f.). 174 Schwemmer (2002: 49 f.). 175 Ebd., 54. 176 Ebd., 58 f. 171

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Seinkönnen bzw. zum »erlebenden Durchleben unseres Lebens« bringen. Cassirers Auffassung des Lebens des Geistes im Reich der Formen hat diese Gegenüberstellung überwunden bzw. vermieden und eröffnet so den Zugang »zur Freiheit einer verantworteten Selbstbestimmung«. 177 Außerdem bringt seine Überlegung, daß mit der »Objektivität der symbolischen Form« ein übersubjektives Medium gegeben ist, über das die einzelnen endlichen Daseine miteinander in verstehende Kommunikation treten, eine weitere Dimension ins Spiel: »Es gibt keinen anderen Weg von Dasein zu Dasein als durch diese Welt der Formen«. 178 Damit ist die Beziehung auf Andere und mit ihr die Dimension der Moral und des Rechts erschlossen. 179 In der ebenfalls 1929/30 geführten Auseinandersetzung mit der Lösung, die das Leben-und-Geist-Problem beim späten Scheler findet, macht Cassirer noch prononcierter als früher auf den Gedanken aufmerksam, daß der Weg, den der Mensch mit der ihn vom unmittelbaren Leben distanzierenden Symbolisierung schreitet, ihn letztlich indirekt, auf höherem – geistig-wissendem – Niveau, zu diesem Leben zurückführt. Erschließen doch die vermittelt-symbolischen Formen, die die verschiedenen praktisch-zweckmäßigen »Lebenskreise« zu kulturellen Kreisen haben werden lassen, mittelbar, rekonstruktiv auch die unmittelbaren Lebensgründe des Menschen: »Für den Menschen, der nun einmal aus dem Paradies der Unmittelbarkeit vertrieben ist, der vom Baum der Erkenntnis gegessen und damit die Schranken des bloß natürlichen Daseins, des seiner selbst unbewußten Lebens für immer hinter sich gelassen hat, ergibt sich hieraus die Folgerung, daß er den ihm bestimmten [geistig-symbolischen – C. M.] Kreis durchmessen muß, um am Ende seines Weges wieder zu dessen Anfang zurückzufinden«. 180 Wenn überhaupt die Rede vom Schicksal des Menschen angemessen erscheint, weil sie ihm dabei nicht die verantwortete Freiheit abspricht, dann hier: Diese Bewegung »weg um zurück« ist das Schicksal, unter dem die Welt des Menschen mit ihren »ringförmigen« Lebenskreisen steht. Der erste Schritt, der aus dem »Paradies der Unmittelbarkeit« herausführt, die erste primitive Weise distanzierender Akte wird sowohl im bloßen Ausdruckserleben als auch in der in ihm ruhenden mythischen Einstellung vollzogen. 181 Die »Unmittelbarkeit des Lebens« treibt zu-

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Ebd., 59. Cassirer (1991b: 293). Schwemmer (2002: 61). GL: 33; ECW 17: 185 f. PsF III: 79, 83; ECW 13: 74 f., 79.

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nächst in die Sichtweise des Mythischen als der primären symbolischen Form menschlicher Kultur. Cassirer macht hier eine feine Unterscheidung, wenn er von den »reinen Ausdrucksphänomenen auf der einen Seite« und den »mythischen Gestaltungen auf der anderen Seite« spricht. 182 Als auf der Ausdruckswahrnehmung beruhend ist dieser das mythische Bewußtsein ausmachende Strom des Werdens noch sehr dicht am unmittelbaren organisch-vitalen Leben und prägt aller wahrgenommenen Wirklichkeit – Pflanzen, Tieren, Mitmenschen, Naturphänomenen – die »Form des Lebens« auf. »In dieser Wandelbarkeit, in dieser Flüssigkeit« ihrer Inhalte scheint die »mythische Welt der Form des tierischen Erlebens [ . . . ] noch unmittelbar nahe zu stehen«. 183 Folglich stellt sich auch die »tierische Welt«, die keinen »objektiven Sach-Charakter«, wohl aber bereits physiognomische Charaktere besitzt, als »ein Ganzes von Ausdruckswerten dar«. Aber im Unterschied zur »mythischen Denkform« fehlt dem tierischen Bewußtsein die Fähigkeit einer »selbständigen geistigen Tathandlung«, die die unmittelbar »erlebten Unterschiede« des Ausdrucks umformt, d. h. die die »ursprünglichen Ausdruckserlebnisse« zu mannigfaltigen Gestalten verdichtet. 184 Deshalb vermag das mythische Bewußtsein die »Welt des Ausdrucks« zwar noch nicht zu überschreiten, wohl aber in ihr erste »Einheitspunkte« (Dämonen, Götter) auszubilden. Mit diesen Einheitspunkten vollzieht sich eine »Individualisierung der Wirklichkeit«; die »Welt des Lebens« um den mythischen Menschen herum beginnt sich zu strukturieren, verstehbar und wiedererkennbar zu werden. Dagegen überschreitet die symbolische Form der Sprache in der ihr typischen Darstellungsfunktion den unmittelbaren Augenblick, in dem das reine Ausdruckserlebnis »lebt«, wirklich und unwiderrufl ich. 185 Dieser Fortschritt in der Distanzierung, der auf dem Übergang von der Ausdrucks- zur Darstellungsfunktion beruht, setzt den »Unterschied zwischen einer ›unmittelbaren‹ und einer ›mittelbaren‹ Form des Handelns, zwischen ›präsentativer‹ und ›repräsentativer‹ Geisteshaltung«, zwischen einem »Haften am sinnlichen Eindruck« und einem »Verhalten, das sich von dieser Bindung loslöst und in eine andere, in eine symbolisch-ideelle Sphäre übergeht«. 186 Der »Standpunkt des unmittelbaren Erlebnisses« muß die damit einhergehende sprachliche Fixierung freilich als eine

182 183 184 185 186

Ebd., 87; ECW 13: 83. ECN 1: 66. Ebd., 67. PsF III: 134; ECW 13: 128. Ebd., 309; ECW 13: 306.

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»Vergewaltigung« des unmittelbaren Ausdruckserlebens empfinden. 187 Doch löst und erlöst sie das Bewußtsein mit Hilfe der Zeichen aus seiner zwanghaften Bindung an das Unmittelbare. Die Sprachfunktion, die ihre volle Leistung erst allmählich herausbildet, geht dabei aus der »Sphäre des Emotionalen« in die rein theoretische Sphäre über. In der emotionalen Sphäre baut sie eine Ordnung der Zwecke und Mittel – den »Aktionskreis« – auf, in der theoretischen Sphäre dagegen eine der Gegenstände und Eigenschaften – den »Gesichtskreis«. Diese beiden Ordnungen charakterisieren für Cassirer »am meisten« den Unterschied zwischen der »Bewußtseinswelt des Menschen und der Erlebniswelt des Tieres«. 188 Die »Erhebung zur Gegenständlichkeit« vollzieht sich neben der sprachlichen Benennung auch durch die Kraft der »bildnerischen Gestaltung« in der Kunst. Beide sind »Urformen« der Darstellung und vollziehen doch gleichzeitig auch weiterhin eine »lyrisch-expressive« Ausdrucksfunktion. Vorrangig entfaltet der Geist in ihnen aber die objektivierende Darstellungsfunktion bzw. die gegenständliche Anschauung am ursprünglich »bloß-Empfundenen«. 189 Mit der Form des geschichtlichen Bewußtseins schließt sich für Cassirer bereits 1928 der »Ring des spezifisch-menschlichen Daseins« und hebt sich nun markant vom tierischen Sein ab. Obwohl sich die »Welt der Geschichte« zuerst im Mythos als »geistiger Gesamtform« erschließt, konstituiert sich das historische Bewußtsein doch erst in der Trias von Mythos, Sprache und Kunst (Poesie, Epos). 190 Die »verschiedenen Formen des organischen Lebens«, d. h. die biologischen Lebensformen, kennen im Unterschied zur »Welt des Menschen« keinerlei »Gestaltungen des geschichtlichen Bewußtseins«. 191 Cassirer stellt nun der »bloßen Macht des Schicksals« im »Reich des organischen Werdens« immer wieder das »Gebiet der Freiheit« entgegen, das in den Akten »der Bewußt-Werdung und der Bewußt-Machung« innerhalb der reinen »Sinn-Ordnungen« aufscheint. 192 Nicht zuletzt wegen dieses unvermittelbaren Gegensatzes von naturhaftem Schicksal und kultureller Freiheit wendet er sich gegen alle Versuche, das kulturelle Leben des Einzelnen und der historischen Gesellschaft mit biologischen Begriffen erfassen und darstellen zu wollen.

187

ECN 1: 71. Ebd., 74. 189 Ebd., 75, 81. 190 Ebd., 86, 88. 191 Der zweckgerichtete Organismus hat kein »Leben in der Geschichte«, weil er trotz aller Lerneffekte letztlich im Aktionskreis verbleibt und nicht in den Gesichtskreis vorstößt. – Ebd., 83 f. 192 Ebd., 109. 188

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Die unausweichliche Konsequenz ist dabei nämlich immer zumindest die Beschädigung des Wissens um das »Gebiet der Freiheit«. Wenn schließlich die »Reflexion und die rekonstruktive Analyse« das bisherige Anschauungs- und Darstellungsgebiet der natürlichen Weltauffassung hinter sich läßt und zum wissenschaftlichen Begriff vorstößt, der die theoretische Weltsicht aufbaut, dann treten wir in den »Bereich der reinen Bedeutung«, in die reine »Bedeutungssphäre« ein, die den »endgültigen Bruch mit dem bloßen Dasein und seiner ›Unmittelbarkeit‹ vollzogen« hat. 193 Wobei hier »Bruch« geistige Befreiung, nicht materiales, körperliches Freisein von den realen Lebensumständen meint. Der wissenschaftliche Begriff, der seine eigene Ordnung und sein Maßsystem schafft, bedient sich universeller Zeichen, die »alles bloß-Ausdrucksmäßige, ja alles anschaulich-Repräsentative von sich abgestreift« haben und »zu reinen ›Bedeutungszeichen‹ geworden« sind. Doch auch in einem solchen theoretischen Begriff »lebt und herrscht« ein einheitlicher »Erkenntniswille«. 194 Alle Symbolsysteme durchlaufen eine aufbauende Bewegung bzw. Umbildung von der Dimension des Ausdrucks über die der Darstellung zu der der reinen Bedeutung und jegliche geistige Gestaltung kultureller Wirklichkeit geht durch diese »Medien« hindurch. 195 Sich an Hegels Phänomenologie des Geistes orientierend, in der dieser wie Herder um eine »große Gesamtintuition des geistigen Lebens« ringt,196 hat Cassirer diejenige »Totalität der geistigen Formen« im Auge, die »im Übergang von der einen zur anderen Form sichtbar« wird. 197 Denn diese »immanente Dynamik des Geistes« macht das »Leben des Geistes« bzw. das »geistige Leben« aus, von dem die Philosophie der symbolischen Formen gezeigt hat, daß es sich »nicht anders als in solchen Umbildungen, in derartigen intellektuellen Metamorphosen vollziehen kann«. 198

193

PsF III: 331 f.; ECW 13: 326. Ebd., 334; ECW 13: 328. 195 »Medien« meint hier die Mitte, das Zwischenreich zwischen gestaltendem Geist in den Subjekten und sachlicher, objektiver Wirklichkeit. Die Medien (Zeichensysteme) werden sowohl historisch als auch systematisch betrachtet: Sie werden einerseits sachlich miteinander verglichen, andererseits interessiert Cassirer, wie sie auseinander hergehen. 196 PsF III: 40; ECW 13: 38. 197 Ebd., VI; ECW 13: VIII. 198 Ebd., 19, 397, 482 f.; ECW 13: 17 f., 390 f., 476 f. 194

226

viertes k apitel 3.4 Ausdrucksphänomen und Lebensnähe. Subjektive Quelle und objektive Form

Da sich alle kulturellen Phänomene um ideelle Sach- und Kulturwerte formieren, die sich von den praktischen Lebenszwecken abheben, haben sie sich, so Cassirer, irgendwann vom »reinen Lebensgrund« loslösen müssen, weil, solange sie dem verhaftet sind, sie dessen praktischen, unmittelbar wirkorientierten Charakter tragen. 199 Es stellt sich nun die Frage, inwieweit die Termini »Lebensgrund«, »Lebensgefühl« und »Lebensform« ein und dasselbe meinen. Gibt es doch für jede symbolische Form und ihre »Sinn-Ordnung« je eine sie realisierende Lebens-, Anschauungs- und Denkform. Ein Phänomen wie die Sprache, in dem eine bestimmte geistige Energie, eine bestimmte symbolische Form zur Realisation und Geltung gelangt, darf nämlich »nicht lediglich als abstrakte Denkform gefaßt, sondern sie soll als konkrete Lebensform verstanden werden«. 200 Wobei Denkform die rationale Form der Erkenntnis und Lebensform die Form des subjektiven Gefühls, der subjektiven Stimmung und des unmittelbaren Ausdruckslebens bedeuten kann. Wir wissen, daß Cassirer mit dem Ausdruck »Denkform« aber auch die Richtung der gegenständlichen Objektivierung bezeichnet, und mit dem Begriff »Lebensform« die Richtung der Subjektivierung, Individualisierung, Ichbildung im Auge hat. Für ihn erklärt sich ein kulturelles Sinngefüge wie die Sprache grundsätzlich sowohl aus der Kraft des Ideellen 201 als auch aus der jeweiligen »›auffassenden Stimmung‹«, aus dem jeweiligen subjektiven Lebensgefühl. Wenn er die enge Verknüpfung von Denk- und Lebensform z. B. beim Mythos auf die Tatsache zurückführt, daß seine Gestaltungen noch impersonalen Charakter tragen, 202 dann wird der Begriff der Lebensform mit der Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit der Ausdrucksphänomene und ihrer Verlebendigung aller Wirklichkeit nahezu identifiziert. Es fällt außerdem auf, daß Cassirer erneut auf den in der PsF II entwikkelten Begriff des »allgemeinen Lebensgefühls« als tiefster subjektiven Schicht des mythischen Bewußtseins zurückgreift. 203 In der »Sphäre des allgemeinen mythischen Lebensgefühls« 204 bestimme die Eigenart der 199

ECN 1: 248. PsF III: 60; ECW 13: 56. Aber auch »die ›Denkform‹ des Mythos« zeigt sich »mit seiner ›Lebensform‹ aufs engste verknüpft«. – Ebd., 86; ECW 13: 82. 201 Ebd., 493; ECW 13: 487. 202 Ebd., 86; ECW 13: 82. 203 PsF II: 213; ECW 12: 209. 204 ECN 1: 90. 200

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sich hier vollziehenden unmittelbaren emotionalen Ausdruckswahrnehmung den Charakter der mythischen Bildwelt. 205 Die »›Lebensnähe‹ der mythischen Gestalten«, die in der »Urschicht des Mythischen« – d. h. in der Schicht der reinen Ausdrucksphänomene – noch zunehme, wird immer wieder hervorgehoben. 206 Dagegen formt die gegenständliche Anschauung der Sprache diese lebensnahen Bilder in feste darstellende Dingkomplexe um. Mit dem rein relationalen und symbolischen Denken in den mathematischen Wissenschaften schließlich »scheint die Wirklichkeit wieder etwas von jener [ . . . ] Flüssigkeit zurück erhalten zu haben, die ihr in den ersten ›lebensnäheren‹ Stadien der Betrachtung zukam«. 207 Hier tauchen nun einige Verständnisschwierigkeiten auf. Zum einen sieht Cassirer in der PsF II die »Lebensform« des Mythischen sich zudem von einem wenig differenzierendem, alles belebenden Gefühl zu individuellen Lebenszentren und festen Ich- bzw. Du-Vorstellungen modifizieren. Zum anderen kreuzen sich in der ganzen Begrifflichkeit mehrere Schemata, die Arten und Richtungen, Stufen und Ebenen der aufbauenden Energien beschreiben sollen. 208 Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß der Bereich des Geistigen als geformtes Leben bzw. lebendige Form gelegentlich so weit ausgedehnt wird, daß er Verfahren der Sinnlichkeit einschließt. Gelten doch nicht nur das »konstruktiv begriffliche Denken« als Grundrichtungen und Grundkräfte des Geistes, sondern auch »Empfindung und Anschauung, Gefühl und Phantasie, produktive Einbildungskraft«. 209 Gleichzeitig wird das Geistige mit dem Ideellen, dem Logos und dem Denken identifiziert, dem bei Cassirer Lebendigkeit eignet. Zu guter Letzt spricht er nicht nur vom theoretischen Denken, sondern auch vom »sprachlichen und mythischen Denken«. 210 Die »drei Formwelten« des Geistes – Mythos, Sprache und Wissenschaft 211 –, denen die drei Erkenntnisstadien bzw. Erkenntnisdimensionen Ausdruck, Darstellung und Bedeutung entsprechen, bleiben dabei direkt oder indirekt auf die Lebensform und den Lebensgrund bezogen. Ihnen geht die Ausdruckswelt des Lebens vorher, die auf spezifische

205

PsF III: 19; ECW 13: 17 f. ECN 1: 19. 207 Ebd., 94. 208 Dies meint 1. Lebens-, Anschauungs- und Denkform, 2. Ausdrucks-, Dar stellungs- und Bedeutungsdimension, 3. Ausdruckswahrnehmung, darstellende Anschauung, theoretische Erkenntnis (Begriff), 4. Mythos, Sprache, Wissenschaft und 5. Objektivation und Subjektivation. 209 PsF III: 495; ECW 13: 489. 210 Ebd., 493; ECW 13: 487. 211 Ebd., 525; ECW 13: 519. 206

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Weise ebenfalls als eine Form, nämlich als Form der Ausdruckswahrnehmung, aufzufassen ist. Hat doch ein »empfindendes und fühlendes Subjekt« (Lebensgefühl) die Welt zuerst in der Form einer »Mannigfaltigkeit von ›Ausdruckserlebnissen‹«. 212 Dieses Subjekt gibt »unmittelbar in seinem Dasein und in seinem So-Sein Kunde von einem inneren Leben«. An dieses »Urphänomen des Ausdrucks« knüpft die Formung, wie sie sich in der Sprache, in der Kunst, im Mythos vollzieht, überall an. Die symbolischen Formen Mythos und Kunst bleiben dabei »dauernd in dem Erdreich der primären, der ganz ›primitiven‹ Ausdruckserlebnisse verwurzelt«. 213 Die Sprach- und die wissenschaftliche Begriffsform dagegen vollziehen an ihnen jeweils Wendungen, die Cassirer als »scheinbare Selbstentäußerung« des Logos deutet. 214 Wenn es dann heißt, die zeitgenössische Philosophie wisse mit der Doppelform von Lebens- und Denkform nicht viel anzufangen, dann nimmt er davon allerdings die durch Natorp mit der Methode der Rekonstruktion vollzogene »spezifische Rückwendung und Innenwendung« aus, da sie uns von der Objektivierung weg- und zum »Urfaktum« des Bewußtseins hinführt. 215 In diesem subjektiven Urfaktum lassen sich nämlich die verschiedenen geistigen Energien bzw. Richtungen und Arten der Objektivation als »Bestand« phänomenologisch aufweisen. 216 Cassirer betont, daß die Subjektivität hier als rekonstruktive Arbeitsrichtung erscheint, die Objektivität dagegen als konstruktive. Die rekonstruktive Rückwendung zum Urfaktum des Bewußtseins legt die subjektiven Bewußtseinsleistungen bzw. Verhaltensweisen frei, die die Philosophie der symbolischen Formen – zusammen mit ihren objektiven (ideellen) Gehaltsstrukturen – in ihrer Totalität zu erfassen sucht. 217 Die

212

Ebd., 526; ECW 13: 520. Ebd.; ECW 13: 521. 214 Ebd., 528 f.; ECW 13: 523 ff. 215 PsF III: 60; ECW 13: 56 f. Siehe dazu auch Möckel (2003b: 149 ff.). 216 PsF III: 64; ECW 13: 59 f. Die »qualitativ-verschiedenen Arten der Sinngebung« umfassen die Ausdrucks- und Darstellungsform und die Bedeutungsfunktion. Die verschiedenen Richtungen der Sinngebung realisieren sich in den diversen symbolischen Formen, die einzelne Kulturgebiete objektivieren. Den drei Grundarten der Sinngebung kommt auch die Rede von der »Struktur des wahrnehmenden, des anschauenden und des erkennenden Bewußtseins« nahe. – Ebd., 67; ECW 13: 63. 217 Husserls subjektive, d. h. transzendentale Richtung der der logischen Arbeit im Unterschied zur objektiv gerichteten in der traditionellen formalen Logik meint wohl etwas ähnliches. Während er den einseitigen und »spezifischen Sinn der traditionellen Logik als wesentlich ›objektiven‹ bestimmt«, geht die transzendentale Logik »von den theoretischen Gebilden« und ihrem »objektiven Gehalt« aus und »versetzt sie zurück in die lebendige Intention der Logiker, aus der sie als Sinngebilde entsprangen.« – Husserl (1974: Hua XVII, 14). 213

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»ursprünglichen Verhaltensweisen und Gestaltungsweisen des Bewußtseins« erweisen sich so als die »primären subjektiven ›Quellen‹«. Das schließt aber auch ein, daß ihnen bereits die Tendenz der Objektivierung (Ausdrucksfunktion) und folglich der Objektivität innewohnt, wie umgekehrt jede Objektivation auf eine solche subjektive Quelle zurückweist. Die subjektiven Quellen machen die Lebendigkeit des Bewußtseins aus, besitzen aber keinen substantiellen Charakter. Um den subjektiven »Grund und Boden« rekonstruieren zu können, aus dem der Mythos als Objektivation »erwächst«, hat der Philosoph demnach in die »Schicht des Ausdrucks« zurückzudringen, in welchem sich die Welt als »reines Ausdrucksphänomen offenbart«. 218 Hier wird selbst terminologisch deutlich, daß Cassirer dies als Rekonstruktion der subjektiven Quellen, als Rückwendung von den objektiven Gebilden zu den subjektiven Quellen im Sinne Natorps versteht. 219 Dabei gelten ihm die »reinen Ausdrucksphänomene auf der einen Seite« als subjektive Quelle, die »mythischen Gestaltungen auf der anderen Seite« aber bereits als objektive Gestalten der Kultur, von denen aus sich zurückfragen läßt. 220 Die Rekonstruktion legt z. B. am primitiven Sprachlaut frei, daß er noch zur unmittelbaren Ausdrucksfunktion subjektiver Innerlichkeit (Tiersprache) und schon zur mittelbaren objektiven Darstellungsfunktion gehört. 221 Weil sich die unmittelbare Ausdrucksfunktion in der Sprache zurückbildet ohne je ganz zu verschwinden, haben wir es weiterhin mit einer »lebendigen Sprache« zu tun, was insbesondere der dichterischen Sprache zugute kommt. Der Begriff des lebendigen Geistes und des Lebens seiner Objektivationen erläutert Cassirer am Beispiel der Sprache als »Wechselbestimmung und Durchdringung« von Ausdrucksphänomen und ideeller Bedeutung. Das »›geistige‹ Moment der Bedeutung« und die »Art der ›sinnlichen‹ Ausdrucksmomente« machen nämlich erst in ihrer Wechselbestimmung und Durchdringung das »eigentliche Leben der Sprache« aus: »Dieses Leben ist so wenig jemals ein bloß-sinnliches, wie es ein rein-geistiges sein kann«. 222 Während die Sprachform als die sprachlich-

218

PsF III: 73; ECW 13: 69. Natorp (1912). 220 PsF III, 87; ECW 13: 83. 221 Ebd., 127 f.; ECW 13: 121 f. 222 Obwohl wir es hierbei mit einem irreduziblen »funktionellen Unterschied« zu tun haben (ebd., 130; ECW 13: 123 f.), knüpft Cassirer inhaltlich an die Überlegung von 1921/22 an, wonach für die Philosophie »Leben und Form eine untrennbare Einheit« bilden, weil erst »durch die Form« die »bloße Unmittelbarkeit des Lebens« die Gestalt des lebendigen Geistes annimmt. – WWS: 200; ECW 16: 104. 219

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anschauliche Darstellung einerseits immer auch durch die Lebensform, d. h. durch die Lebensstimmung, das Ausdruckserleben, die »emotionale Seite des Sprachlebens«, 223 mitbestimmt ist, beeinflußt sie andererseits dank ihrer »lebendigen ›Energie‹«, wie der Mensch die Welt »denkt«, wie er sie »anschaulich sieht« und »wie er in dieser Anschauung lebt«. 224 Die Belege liefere die Sprachpathologie. Die umgangssprachliche Rede als ein »lebendiges Strömen« bedarf eines sicheren Bandes sowohl zur unmittelbaren Wahrnehmung und ihren Emotionen als auch zur darstellenden Anschauung des Konkreten, denn »alle lebendige Rede schließt diese Doppelheit, diese Polarität von Subjekt und Objekt, in sich«. 225 Die Wissenschaftssprache allerdings hat mit ihren reinen Zeichen und Bedeutungen dieses Strömen und Oszillieren überwunden und fordert – als ein notwendiges »Opfer« – das Zerreißen dieses Bandes. Damit wird in ihr aber »alles ausgelöscht, was irgendwie bloßen Ausdruckswert besitzt«. 226 Doch selbst mit diesem Opfer haben die »reinen ›Begriffszeichen‹« ihren »Lebensfaden« nicht völlig eingebüßt. Denn auch der wissenschaftliche Begriff, der seine eigene Ordnung und sein Maßsystem schafft und sich universeller Zeichen bedient, die, weil sie »alles bloß-Ausdrucksmäßige, ja alles anschaulich-Repräsentative von sich abgestreift« haben, »zu reinen ›Bedeutungszeichen‹ geworden« sind, besitzt weiterhin einen »Lebensfaden«. 227 Zunächst einmal löst sich der Begriff wegen seines »spezifisch logischen Charakters« offensichtlich »vom Mutterboden der Anschauung los«. 228 Die scheinbar statische Herrschaft der logischen Form als einer reinen Denkform im theoretischen Bewußtsein erweist sich aber allein in einer abstrakten Betrachtung als losgelöst »von allen Verschlingungen der Welt des Werdens«. 229 Die Idee der Teilhabe des Empirischen am Logischen eröffne dagegen erneut die Perspektive einer lebendigen Dynamik korrelativer Momente. Damit erweist sich auch die theoretische Form als bildsam und beweglich, und folglich als lebendig. 230 Die Begriffsfunktion als Form der Repräsentation und Einheit bedeutet deshalb auch gar keinen Bruch im Ganzen der Erkenntnis, weil bereits eine

223

PsF III: 266; ECW 13: 263. Ebd., 240; ECW 13: 236. 225 Ebd., 393, 395; ECW 13: 386, 389. Gemeint ist damit auch die Polarität von Individualität und Allgemeingültigkeit. 226 Ebd., 396; ECW 13: 390. 227 Ebd., 334, 340; ECW 13: 328, 334. 228 Ebd., 372; ECW 13: 367. 229 ECN 1: 20. 230 Ebd., 21 f. 224

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Präsentation sinnlicher Gehalte »ohne ein abgestuftes und gegliedertes System rein repräsentativer Funktionen nicht möglich« ist. 231 Außerdem vermag die methodische Rekonstruktion die Bedeutungsfunktion als die subjektive Quelle des Begriffs im Bewußtsein freizulegen. Dennoch müsse für die Wissenschaft eine »ungeheure Verkümmerung« der lebendigen, sinnlichen Sprache in Kauf genommen werden. Was der zur bloßen Formel erstarrten Wissenschaftssprache »an Lebensnähe und an individueller Fülle mangelt – das ersetzt sie [ . . . ] durch ihre Universalität« und durch ihre »allgemeine Gültigkeit«. Sie wird so zur Sprache der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft und damit zu einer »prinzipiell-anderen Symbolform«. Von ihr wird nun das Mögliche, nicht mehr das Wirkliche, geordnet. 232 Und doch bedeutet diese »Austilgung« des Anschaulichen und rein Ausdrucksmäßigen aus der Wissenschaftssprache »im Leben des Geistes keinen Bruch, sondern gerade in ihr tritt [vielmehr – C. M.] die Einheit des Gesetzes, dem er in seiner Entwicklung folgt, zutage«. 233 In dieser Entwicklung muß das Denken zweimal einen »Abgrund« überspringen: das erste Mal, wenn es vom anschaulich-tierischen Denken, für das die ursprüngliche »Gebundenheit an das Hier und Jetzt« bezeichnend ist, zum menschlich-sprachlichen Denken mutiert, und das zweite Mal, wenn es vom sprachlichdarstellenden Denken und der anschaulichen Vermittelheit des Ganzen in der Wirklichkeit zum logisch-wissenschaftlichen Denken der bloßen Möglichkeit emporsteigt. 234 Für den zweiten Sprung gebraucht Cassirer Simmels Formulierung von der »›Wendung [des Lebens] zur Idee‹«. Der wissenschaftliche Mensch löst sich nicht nur vom »Mutterboden der Anschauung«, sondern auch vom Anschaulichen der Sprache ab. 235 Aus diesem Grunde verteidigt er auch nachdrücklich Kants Begriff des transzendentalen Subjektes, auf welches die Konstruktionsprinzipien und Gegenständlichkeiten der Mathematik zurückzubeziehen seien, gegen Oskar Beckers Versuch, »Gehalt und Bestand der Mathematik« auf eine »bestimmte Art und Richtung ›faktischer Lebensphänomene‹ zurückzuführen«, oder in »bestimmten ›Weisen des faktischen Lebens‹ gegründet« zu sehen, weil dies »eine bloße Daseins-Faktizität« als Fundament der Mathematik impliziert. 236 Cassirer findet demgegenüber in der

231 232 233 234 235 236

PsF III: 350 f.; ECW 13: 345. Ebd., 396; ECW 13: 390. Ebd., 397; ECW 13: 390. Ebd.; ECW 13: 391. Ebd., 398; ECW 13: 391. Ebd., 472 f. Anm. 1; ECW 13: 466 Anm. 158.

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Leistung der mathematischen Methode weder die »konkrete Subjektivität des Mathematikers« noch die »Daseins-Faktizität« des Menschen, seine existentielle Zeitform wieder, wie dies Becker und Heidegger behaupten. Zudem ist für ihn – wie schon für Goethe – jegliche Faktizität immer schon irgendwie theoretisch orientiert, und das heißt: auf ein bestimmtes Begriffssystem bezogen. 237

4 Erkenntnis- und seinstheoretische Implikationen 4.1 Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit der Wahrnehmung Auch die Problematik eines Erkenntniszugangs zur erlebten Unmittelbarkeit, die ihn seit Leibniz’ System nahezu ununterbrochen beschäftigt, verhandelt Cassirer in dieser Periode erneut ausführlich. Damit steht auch die Frage »Intuition oder Reflexion« wieder auf der Tagesordnung, deren Beantwortung sein Verhältnis zur Lebensphilosophie noch einmal deutlich hervortreten läßt. Die Unmittelbarkeit der »Lebensnähe«, des vegetativ-zweckgerichteten Lebens bzw. der reinen physiognomischen Ausdrucksphänomene als subjektiver Sachverhalte wird dabei überhaupt nicht bestritten, während gleichzeitig – nicht zuletzt im Anschluß an Hegels Phänomenologie des Geistes – herausgestellt wird, daß sich der lebendige Geist dadurch auszeichnet, daß er um sich weiß, um sein Dasein in bestimmten Formen. In dem Zusammenhang wiederholt Cassirer die grundsätzliche Auffassung, wonach die irrationale Problemlösung Bergsons, bei der der Wille die mittelbar analysierende Vernunft über sich hinaus in die »Unmittelbarkeit der Intuition« zu treiben vermag, der Philosophie der symbolischen Formen versagt bleiben muß, und dies wegen dem »Gesetz der Methode«, dem sie sich unterstellt. Diese Methode halte sie in den Schranken der »Gesamtheit der möglichen Form- und Sinngebungen«, d. h. in den Schranken der »Welt des Geistes« fest. 238 Wissen und Gewißheiten werden dem lebendigen und formend-geformten Geist eben »nicht durch unmittelbare Intuition zu Teil, sondern erfordern die Aufbietung [ . . . ] all seiner ›reflexiven‹ Kräfte«. Gemäß der festen Überzeugung Cassirers kann »das ›Unmittelbare‹ selbst [ . . . ], sofern es besteht, nie unmittelbar ergriffen und unmittelbar erfahren werden: der Weg zu ihm ist selbst ein durchaus mittelbarer,

237 238

Ebd.; ECW 13: ebd. ECN 1: 47.

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sofern er der Weg der reinen Reduktion ist«. 239 Zumindest sei es Philosophie und Wissenschaft bisher niemals wirklich gelungen, »eine Schicht der ›Erfahrung‹, des ›unmittelbaren‹ Erlebens, bloßzulegen, an der die verschiedenen formgebenden Kräfte, wie an einem stofflichen Substrat, angreifen«. 240 Das durch die Lebensphilosophie (Bergson) präsentierte Innere (Intuition, Zeiterlebnis), das sie als ein »schlechthin-ursprüngliches« Sein dem Äußeren (Raumwahrnehmung) als einem »mittelbaren und abgeleiteten« Sein gegenüberstellt, erkennt Cassirer nicht als eine solche unmittelbare Erlebnisschicht an. 241 Damit wird erneut klar, daß für ihn die reinen Ausdrucksphänomene als das Urphänomen des Lebendigen keine stoffliche Urschicht oder Quelle für die geistigen Energien darstellen, die vor aller geistig-vermittelnden, reflexiv-rekonstruierenden Anstrengung erfaßbar und aufklärbar wäre. In dem Abschnitt, der in der PsF III der verlebendigenden Ausdruckswahrnehmung als der tiefsten Schicht gewidmet ist, befaßt sich Cassirer ausführlich mit der Diskussion um die eigentliche Leistung der Wahrnehmung. Zum einen hält er die Erwartung, eine von aller Reflexion unabhängige »Urwahrnehmung« erfassen zu können, für einen großen Irrtum. Damit schließt er sich bewußt der kritischen Sprachphilosophie an, die der Behauptung der sensualistischen Psychologie widersprochen hatte, die »unmittelbare Gewißheit« und die »unmittelbare Wirklichkeit« der Wahrnehmung seien das letzte »schlechthin-Gegebene«, worauf sich Zeichen und Symbole des mittelbaren Denkens zu beziehen haben. 242 Sowohl für das natürliche, vorwissenschaftliche Bewußtsein als auch in Bezug auf das konstruktiv-wissenschaftliche dürfe die Wahrnehmung selber zwar als ein relativ-Unmittelbares angesehen werden, in einem anderen Problemzusammenhang ist sie aber »als etwas durchaus Vermitteltes und Bedingtes« zu erkennen, das mit »theoretischen Deutungen und Bedeutungen durchdrungen« ist. 243 Diesen Tatbestand bezeichnet Cassirer als »symbolische Prägnanz« der Wahrnehmung. 244 Damit offenbart sich nicht die Lebensunmittelbarkeit als »letzte Urschicht des Wirklichen«, sondern vielmehr die »Urschicht des Intel-

239

Ebd., 48. Ebd. 241 Ebd., 96. 242 PsF III: 239 f.; ECW 13: 235. 243 Ebd., 13 f.; ECW 13: 12. 244 Ebd., 222 ff., 235.; ECW 13: 218 ff., 231. Weil sich die Wahrnehmung als ein »ungeschiedenes Ganzes, als ein Gesamterlebnis« gibt, das in sich gegliedert ist, erweist sich jegliche »Form des Wahrnehmungserlebnisses« als bereits strukturiert. – Ebd., 33, 72; ECW 13: 31, 68. 240

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lekts«, der »geistigen Formung«, die auch in der Ausdrucks- oder Wahrnehmungswelt das »feste Fundament« bildet. 245 Diese Urschicht existiert als ein Akt der Prägung und Sinngebung, der ursprünglichen Formung, als ein »Akt ›symbolischer Ideation‹«. Bei diesem – geistigen – Akt haben wir es mit einer Art des Sehens, mit einer geistigen Sichtweise zu tun. 246 Das »symbolische Schauen« erfaßt die empirische Wirklichkeit nicht als Gewordene, sondern es wird selbst zu einem »Moment und Motiv ihres Werdens«. 247 Aus diesem Grunde steht Cassirer auch einer »reinen ›Deskription‹ der Phänomene« des wahrnehmenden Erlebens skeptisch gegenüber. Werden doch bei jeglicher Beschreibung bereits theoretische (geistige) Prägungen vollzogen, die Goethe mit seinem Spruch von der Faktizität, die immer schon Theorie sei, meinte. 248 An welcher Stelle wir »in den Strom des Bewußtseins eintauchen mögen: immer stehen wir alsbald in bestimmten lebendigen Strömungsmittelpunkten« wie Ding, Raum, Zahl, auf die alle Einzelbewegungen hinzielen. 249 Folglich steht auch die viel beschworene reine Deskription unter dem Gesetz der symbolischen Formung. 250 Als Untersuchungs- und Verstehensgegenstand darf deshalb die Lebensunmittelbarkeit der Wahrnehmung nicht als eine »letzte Urschicht des Wirklichen« aufgefaßt werden, die einer »unmittelbaren Selbstbezeugung« vor aller »symbolischen Deutung und Bedeutung« fähig wäre. 251 Wenn wir uns per Wahrnehmung, die eine »unmittelbare Gewißheit« in sich birgt, der Welt oder Wirklichkeit zuwenden, tun wir dies grundsätzlich vermittelt über Symbole. Daß es dazu kein Widerspruch ist, wenn wir beim Wahrnehmen selbst wähnen, mit dem »Gegenstand in direkter ›Berührung‹ zu stehen«, beweisen die Bildwelt des Mythos und die Lautgebilde der Sprache. 252

245

Ebd., 3, 16 f.; ECW 13: 1, 14. Ebd., 155 f.; ECW 13: 150. 247 Ebd., 212, 280 f.; ECW 13: 207, 209, 277 f. 248 Ebd., 251; ECW 13: 248. »Das Höchste wäre zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist.« – Goethe (1998: HA 13, 432, Maxime 488). 249 PsF III: 258; ECW 13: 255. 250 Ebd., 243; ECW 13: 238 f. 251 Ebd., 3, 5; ECW 13: 1 ff. 252 Ebd., 55 f.; ECW 13: 51 f. Auch dem tierischen Erleben der Wirklichkeit, das durch eine nahezu distanzlose Anpassung an seine Umwelt und durch ein Verharren in der »Unmittelbarkeit des Lebens« charakterisiert ist, können wir uns lediglich rekonstruierend und mittels Symbole, die dem Tier unbekannt sind, zuwenden und annähern. 246

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4.2 Intuition des Lebens oder Rekonstruktion Der Zwiespalt von vermuteter, zugestandener Lebensunmittelbarkeit und ihrer mühsam-annähernden Rekonstruktion erweist sich als ein Grundmotiv des Cassirerschen Philosophierens. Dieses Motiv wird bemüht, wenn er rhetorisch fragt, ob denn nicht wenigstens die »Betrachtung des Reiches der Naturformen«, d. h. der biologischen Lebensformen, uns die Unmittelbarkeit des Lebens zugänglich mache. Die Antwort lautet: vorausgesetzt, uns läge die »Erlebniswelt anderer organischer Wesenheiten offen«, dann »würden wir in ihr eine vor-mythische, eine vor-sprachliche« Welt finden. Und an dieser Welt, als dem »wahrhaft-Unmittelbaren«, könnten wir die »Art all dieser Vermittlungen erst vollständig ermessen«. Wäre dies realisierbar, dann stünden wir endlich »außerhalb all der brechenden Medien« dem »Leben selber in seiner Absolutheit« Auge in Auge gegenüber. 253 Weil aber all diese Voraussetzungen sich nicht einlösen lassen, liegt doch die fremde Erlebniswelt niemals offen vor uns, bleibt uns das Leben selber verschlossen. Folglich stehen wir beim Versuch, die »Gesamtheit des Lebendigen nach einem gemeinsamen Plan zu überschauen«, vor einem scheinbar unlösbaren Dilemma: Zum einen dringen die gewöhnlichen diskursiven Mittel oder Methoden (Analogieschluß, Induktion, Einfühlung) in die rein biologische »Erlebnis-Wirklichkeit« anderer Lebewesen überhaupt nicht vor. Zum anderen verspricht eine diese Mittel brüskierende unmittelbare, vorbegriffliche Intuition, wie sie der Lebensphilosoph Bergson propagiert, 254 lediglich ein hochproblematisches unbegriffliches Wissen von der Erlebnis-Wirklichkeit. Dennoch existiert, dessen ist sich Cassirer sicher, »noch ein anderer Weg, um die Mannigfaltigkeit der organischen Lebensformen« in den »Blickpunkt des Geistes« zu rücken, ohne dafür die »›diskursive‹ Art des Begreifens« der Intelligenz »durch eine unmittelbare Schau ersetzen« zu müssen. 255 Diesen alternativen Weg hatten Natorp und Husserl erfolgreich beschritten. Innerhalb der diskursiven, d. h. zerteilenden, abstrahierenden, fixierenden Begriffsform lasse sich nämlich die »Richtung der Bestimmung« umkehren, die ursprünglich als Konstruktion (Natorp) objektiv, gegenständlich gerichtet ist. Ein abstraktiver, reflexiver, negierender Einstellungs- oder Blickrichtungswechsel führt uns von der »Welt des ›objektiven Geistes‹« zurück in die Welt der subjektiven Leistungen, 253 254 255

ECN 1: 49. Siehe u. a. Bergson (1916). ECN 1: 50 f.

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in den »Ursprung« der Kategorien und Formen. Die damit gewonnene »systematische ›Rekonstruktion‹« läßt zumindest indirekt »die Welt des ›Unmittelbaren‹ [ . . . ] sichtbar werden«, die uns keinerlei »metaphysische Intuition« direkt geben kann. 256 Allein durch die sich umwendende Rekonstruktion erschließt sich uns »die Eigenart des ›Subjektiven‹«, d. h. die Eigenart des unmittelbaren Lebens. Dabei offenbart sich das subjektive Leben allerdings, wie bereits zur Sprache gebracht, als Quelle der diversen geistigen Energien oder symbolisch objektivierenden Funktionen. Im Gegensatz zu Husserls Phänomenologie schreibt Cassirer der methodischen Reflexion kein unmittelbares Erschauen und Erfassen 257 zu, da sie ihr Thema, die subjektiven Energien oder Funktionen, nur in deren Resultaten bzw. nur von den Resultaten her zurückdringend gewinnt. Die Umkehr und die Negation der ursprünglichen objektiv-gestaltenden Richtung (Funktion) des Geistes ist uns deshalb methodisch möglich, weil der Geist gleichzeitig in zwei gegeneinander laufenden Richtungen wirkt und lebt, die einander voraussetzen und bedingen. In der »unmittelbaren Lebendigkeit« des Geistes sind zunächst »alle seine Energien auf den Aufbau der einzelnen Formwelten gerichtet«. Erst der abstraktiv-reflexiv-negierende Richtungswechsel eröffnet ihm dann in rein methodischem Sinne eine Art Abbau derselben Formwelten. Für Cassirer ist es unstrittig, daß diese Kehre gegen sich selbst der Intelligenz zur Selbsterkenntnis verhilft. Sie bezieht in diesen Rückblick – wenngleich »stets nur in bedingtem und begrenztem Sinne« – das »Ganze nicht nur der Formen des Geistes, sondern auch der Formen des Lebens ein«. 258 Die Gegenüberstellung von Formen des Geistes und des Lebens zielt hier auf das Kultur- und Naturdasein. Die naturhafte, vegetativ-biologische Welt der »Formen des Lebens« eröffnet sich zwar in gewissem Sinne der reflexiv-rekonstruierenden Intelligenz, wenn diese von den Formbedingungen unserer gesamten Begriffs-, Anschauungs- und Wahrnehmungswelt abstrahiert. Doch können wir die fremde, tierische ungeformte Erlebniswelt weder konkret vergegenwärtigen noch »direkt nacherleben« oder gar beschreiben. Mit Zuversicht vermögen wir allein das »allgemeine Strukturprinzip« dieser biologischen »Erlebniswelten« zu erfassen und mit dem unserer »sinnlich-geistigen Welt« zu vergleichen. Dabei bewegen wir uns aber immer

256

Ebd., 51. »Reflexion ist [ . . . ] ein Titel für Akte, in denen der Erlebnisstrom mit all seinen mannigfachen Vorkommnissen [ . . . ] evident faßbar und analysierbar wird.« – Husserl (1976: Hua III/1, § 78, 165). 258 ECN 1: 52. 257

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»innerhalb des geistigen Seins«. 259 Cassirer spricht hier im biologischen Sinne von den »verschiedenen Welten der einzelnen Lebensformen«, die wir – laut Uexküll – nur dann verstehen, wenn wir ihren Bauplan, die »anatomische Struktur eines Lebewesens«, studieren. 260 Die Tatsache, daß wir auf Grund der Doppelrichtung geistigen Leistens und Aufmerkens den negierend-reflexiv-rekonstruierenden Blick ›zurück‹ ins Leben vollziehen können, bedeutet, daß sich das menschliche Leben nicht nur »selber durchsichtig«, sondern auch »selber gegenständlich« wird bzw. geworden ist. 261 Das Setzen auf Reflexion anstelle auf Intuition des Lebens bedeutet bei Cassirer, wie bereits klar geworden sein dürfte, keinen völligen Verzicht auf die Begrifflichkeit des Anschauens, auch wenn sie teilweise sehr nahe an die des vernünftigen Denkens herangerückt wird. Auch wenn uns die Ablösung des wissenschaftlichen Begriffs »vom unmittelbarWahrgenommenen und Angeschauten« wie eine Art »Sündenfall der Erkenntnis erschein[t], durch den sie aus dem Paradies des Konkreten und Individuellen vertrieben wird«, so ist dies aber nun einmal die »Arbeit des Geistes«, die ihren Höhepunkt mit der logischen Wissenschaftssprache erreicht, die Cassirer auch als die Selbstbefreiung des Logos deutet. 262 Dagegen steigt die Sprache als ästhetisches Gebilde ohne Zweifel »aus der Sphäre der reinen ›Intuition‹« empor und bleibt dieser »dauernd [ . . . ] verhaftet«. Von hier aus erscheint der »Unterschied zwischen sprachlichem und logischem Denken« als eine wahre Kluft. 263 Allerdings ist auch das Sprachwort selbst »niemals als ein bloßes Erzeugnis der Intuition zu denken, sondern schließt einen Akt der ›Reflexion‹ in sich«. 264 Dem auch philosophiegeschichtlich relevanten Begriff der Intuition wendet sich Cassirer noch einmal zu, wenn er den Gegensatz zwischen »Formalismus« und »Intuitionalismus« in der Begründung der Mathematik diskutiert. 265 Auf Leibniz sieht er die Einsicht zurückgehen, wonach der Mensch sich der »Urintuition der Vernunft« nur dann wirklich zu bemächtigen vermag, wenn er sie sich »in Bildern, in Symbolen faßbar macht«. 266 Diese seit dem Leibnizbuch (1902) beibehaltene Deutung rich259

Ebd., 53. Ebd., 40 f. 261 Ebd., 59. 262 PsF III: 386; ECW 13: 380. 263 Ebd., 390; ECW 13: 384. Ist doch die Sprache im Unterschied zum wissenschaftliche Begriff (Begriffszeichen) das »lebendige Strömen«. – Ebd., 393; ECW 13: 386. 264 Ebd., 391; ECW 13: 385. 265 Ebd., 417, 439; ECW 13: 411, 433 f. 266 Ebd., 421 f.; ECW 13: 415. 260

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tet sich u. a. gegen Bergsons Begriff der Intuition des Lebens, aber auch gegen Husserls Begriff der allgemeinen Intuition. Während bei Kant die Anschauung noch »fundierenden und legitimierenden Wert« erhalten hatte, gründe jedoch die »moderne Mathematik« den Wahrheitswert nicht mehr auf »inhaltliche anschauliche Aussagen«. 267 Grundverschiedene »anschauliche Gebiete« sind für sie isomorph. Dennoch stützt sich die Mathematik durchaus auf eine spezifische funktionale Intuition bzw. Urintuition. 268 Der moderne mathematische Intuitionismus müsse aber die objektiv-idealistischen Gedanken (d. h. Funktion statt Substanz) in sich aufnehmen. Dasjenige, »was in der reinen Intuition seiner Bedeutung nach erfaßt ist«, kann und muß allein auf symbolische Weise »festgehalten und aufbewahrt« werden. Die mathematische Erkenntnis ist somit auch eine »Form des intellektuellen Sehens«, das der Symbole (Zeichen) als Werkzeuge bedarf. 269

4.3 Natürliches Weltbild und Kultur Das Thema einer möglichen Erfahrung vor aller geistigen Formung wird bei Cassirer auch anhand des sogenannten natürlichen Weltbildes diskutiert. Wenn das »theoretische Verhalten zur Welt« drei dynamische Tendenzen oder Stadien (Sprache, Mythos, wissenschaftliches Erkenntnis) durchläuft, was sich auch als »sprachliches, mythisches, [ . . . ] wissenschaftliches Denken« wiederholt, dann liegt es nahe, sowohl nach dem Gemeinsamen der drei Stadien theoretischen Weltverhaltens als auch nach dem vortheoretischen Zustand zu fragen, in dem sie noch eine ungeschiedene Einheit bilden. In dem Zusammenhang wirft Cassirer rhetorisch die Frage auf, ob diese ungeschiedene Einheit denn nicht »in jener Schicht des Erlebens« auffindbar sein müsse, »die sich von den abstrakten Trennungen der Reflexion« noch relativ frei hält, und die sich »ihnen gegenüber auch weiterhin als eine ungeschiedene Einheit« behauptet. 270 In diesem Fall konstituierte das vorreflexive Erleben das natürliche Welt-

267

Ebd., 424 f.; ECW 13: 419. In der modernen Mathematik (reine Zahlenlehre), die auf der »›Urintuition‹ der Zahl« gründet, bedeutet diese Intuition »in keiner Weise mehr eine Anschauung konkreter Dinge, sondern sie wird als Anschauung eines reinen Verfahrens gefaßt«. Cassirer unterscheidet die Anerkennung der Anschauung als eine passive »Art der ›Gegebenheit‹« (Hilbert) und als eine aktive »Art des ›Gebens‹« (Intuitionisten). – Ebd., 432, 444; ECW 13: 426, 438. 269 Ebd., 450 f.; ECW 13: 445. 270 ECN 1: 5. 268

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bild. In diesem müßten sich nämlich rekonstruierend die unterschiedlichen Gestaltungsmotive bzw. Sinnfunktionen aufweisen lassen, ohne daß es selbst schon »zerlegt und gespalten« erscheint. Müßten wir damit nicht ein ungegliedertes, unabgeteiltes »lebendiges Gewebe des Geistes« vorfinden, das deshalb »lebendig« ist, weil »statt des Diskretums der Formen, die der Gedanke nachträglich unterscheidet«, hier ein »stetiger absatzloser Übergang von einem Extrem zum anderen« herrscht? 271 Ein solches unzerlegtes Leben des Geistes vollzöge sich dann ähnlich dem Naturleben. Dies hätte zum Resultat, daß wir die Inhalte des natürlichen Weltbildes nicht mittelbar folgern, sondern unmittelbar haben. 272 Was Cassirer in Reaktion auf die – erkenntnistheoretischen, metaphysischen und kulturphilosophischen – Versprechungen der Lebensphilosophen anhand des ›natürlichen Weltbildes‹ erneut beschäftigt, ist die Frage, ob »wir nur wieder auf diese ursprüngliche Grundeinheit, auf diese urtümliche Konkretion des Erlebens zurückgreifen [brauchen], damit all die ›künstlichen‹ Scheidungen der Reflexion sich wieder aufheben, – damit sich uns, über alle diese Scheidungen hinweg, die wesenhafte Einheit des Geistes« in einem unzerlegten Leben (Gewebe) erschließt. Die Scheidungen der geistigen Kulturgebiete bzw. der geistigen Schichten, die sich »zuletzt mehr und mehr zu entfremden drohen«, und die dadurch in eine tiefe »Zerklüftung und Entfremdung« geraten, betrachtet er nämlich als ein echtes Bewährungsproblem für die moderne Kultur. 273 Doch kann seiner Überzeugung nach die gesuchte Einheit nicht, wie von den Lebensphilosophen suggeriert, im subjektiven reinen Erleben gefunden werden. Einige von ihnen setzten voraus, daß sich »in der schöpferischen Subjektivität«, bei perspektivischer Betrachtung »unter dem Blickpunkt der Subjektivität«, eine »innere Gemeinsamkeit«, ein Zusammenrücken dieser auseinanderstrebenden Tendenzen, Formen vollzieht. Das meint, daß, wenn man die Kulturphänomene nicht als »fertige Produkte«, sondern als »Taten des menschlichen Geistes« in der »Art ihres Produzierens, ihres Hervorgehens«, als Akte »des Sich-Losreissens von dem einfachen Natur- und Lebensgrund« betrachtet, sich der Geist dann als »mit sich selbst identisches Sein« bezeuge. Doch diese Lösung ist für Cassirer nur eine scheinbare, da sie das alte Problem lediglich mit einem neuen Ausdruck versieht und die Dialektik von mannigfaltigen Formen und einheitlichem Leben nicht beseitigt. 274 Die verlustig

271 272 273 274

Ebd., 6. Siehe dazu auch PsF III: 143; ECW 13: 136 f. ECN 1: 6; Siehe dazu auch STS: 76 ff.; ECW 17: 172 ff. ECN 1: 7.

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gegangene Einheit der Kultur kann aber auch nicht in den reinen Ideen des Geistes gesucht werden. Beides, Leben und Ideen, sind vielmehr ursprünglich korrelative Momente an einem symbolischen Medium. Also läßt sich für Cassirer eine ermutigende Einheit dieser sich zersplitternden und entfremdenden symbolischen Gebilde nur in ihrer einheitlichen symbolischen Funktionalität suchen.

4.4 Lebendigkeit der Formen und ihre belebende Funktion Wie schon angeklungen ist, betont Cassirer konsequent die belebenden Momente bzw. Funktionen des Geistes. Exemplarische, beispielhafte Aussagen dafür lassen sich überall finden. So ist es für ihn ausgemacht, daß der Geist in den symbolischen Formen »lebt und ist«, d. h., daß er nicht nur in ihnen denkt, sondern auch empfindet, wahrnimmt, anschaut und bildet. 275 Gleichzeitig »leben« die symbolischen Formen des Geistes selbst in Sinnstrukturen, sind also in gewissem Sinne lebendig und »beleben« dadurch die von ihnen in Bedeutungszusammenhänge gebrachten Phänomene. 276 Weiter spricht er von der »lebendigen Funktion« der reinen theoretischen Denkmittel. 277 Überhaupt erweist der »Strom des Denkens« immer wieder seine »unmittelbar belebende [ . . . ] Kraft«. 278 Cassirer fragt sich sogar, ob im Rahmen der symbolischen Form der theoretischen Erkenntnis den mathematischen Zeichen nicht eine »Art von geistigem Leben eingehaucht werden« kann, indem man sie auf das Andere bezieht, das sie symbolisch darstellen. 279 Andererseits leben wir Menschen im Unterschied zu den bloß vegetativen Wesen eben auch im Geist, im Ideellen. In der Polemik mit Heideggers philosophischem Vordringen in die Sphäre des »persönlichen Daseins« erinnert er an das wichtigere »Leben in der Idee«, weil allein dieses die »Befreiung von der ontologischen Enge und Dumpfheit des Daseins« nachsichzieht. 280 Weil im mythischen Bewußtsein die Gestalten der Wahrnehmung subjektiv-konkret, anschaulich-unmittelbar »erlebt« werden, erfahren sie eine Art Verlebendigung oder Belebung. 281 Deshalb »leben« in ihm

275 276 277 278 279 280 281

Ebd., 48. PsF III: 18; ECW 13: 16. ECN 1: 20. PsF III: 37; ECW 13: 36. Ebd., 446; ECW 13: 440 f. ECN 1: 221. PsF III: 126; ECW 13: 119.

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die Gegenstände bzw. Gehalte in Bildern »fort«. 282 In dieser Bewußtseinsweise behält somit auch die Zeit »ihre volle Lebendigkeit und ihre volle Konkretion«. 283 Im Kult und Ritus wird das Mythische »noch gelebt, wird es in lebendiger Aktion umgesetzt«; in der Sage erst wird es ausgesprochen und gewinnt eine neue objektive Distanz. 284 Auch das vor- oder unwissenschaftliche natürliche Weltbild »lebt und webt« in den unterschiedlichsten Gestaltungsmotiven, »ohne sie jedoch bewußt voneinander zu trennen«. 285 Wir haben es hier mit einem ungegliederten, ungeteilten »lebendigen Gewebe des Geistes« zu tun, in dem noch ein absatzloses Fließen und Übergehen vorherrscht. Aber auch der strukturierte, getrennte und geordnete Geist, in welchem sich zwei gegeneinander laufende Richtungen entfalten, »lebt«. »Unmittelbare Lebendigkeit« kennzeichnet dabei jedoch nur die primäre Richtung des Aufbaus der Formwelten, nicht aber den abstraktiv-reflexiven Richtungswechsel. 286 Theoriegebilde wie die Metaphysik können »zu neuem Leben erweckt« werden. 287 Als eine entscheidende geistig-symbolische Form bzw. Energie, der das Moment der Belebung eigen ist, gilt Cassirer bekanntermaßen die Sprachform. So ist die in der »Sphäre der Sprache«, die in der Darstellungssphäre liegende Tendenz, über sich selbst hinauszuweisen, »von Anfang an in ihrer eigenen Entwicklung als lebendiges Motiv wirksam«. Und in der »lebendigen Dynamik« der Rede empfängt das Wort seinen eigentümlichen Gehalt. 288 Die Rede ist als ein Herüber und Hinüber wie ein »lebendiges Strömen«, das auch einmal das Flußbett wechselt, sich ein neues gräbt, sie ist also keineswegs ein ruhiges Dahinfließen. 289 Das bringt die Sprache in einen gewissen Gegensatz zu den Forderungen des Begriffs, die auf Eindeutigkeit und Festigkeit hinzielen. Der Akt der Belebung darf jedoch niemals als ein äußerlicher Vorgang, als ein Hinzutreten des Lebens, der Lebendigkeit zu etwas Unlebendigen oder Toten aufgefaßt werden. Deshalb wendet sich Cassirer gegen eine in der Psychologie anzutreffende Auffassung, die einen »toten ›Stoff‹ der Empfindungen durch den Einfühlungsakt aufs neue zu beleben« sucht. Ein solcher Belebungsakt ergäbe nur ein »Scheinleben«. Die auf diese Weise

282 283 284 285 286 287 288 289

Ebd., 82; ECW 13: 77. Ebd., 192; ECW 13: 189. ECN 1: 88 f. Ebd., 6. Ebd., 52. Cassirer (1931: 2); ECW 17: 222. PsF III: 384, 386; ECW 13: 378, 380. Ebd., 393; ECW 13: 386.

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angeblich aus toten stofflichen Empfindungen hervorgegangene Wahrnehmung »besitzt den Charakter der ›Lebendigkeit‹ nicht aus eigenem Recht, sondern sie trägt ihn nur von einer fremden Instanz zu Lehen«. 290 Zu den bloßen Empfindungen gelangen wir erst durch Absehen von einer »bestimmten Grund- und Urschicht der Wahrnehmung«, die selbst bereits lebendig ist. Selbstverständlich gilt Cassirer auch in den Schriften dieser Periode die Lebendigkeit einer Darstellung als ein wichtiges Qualitätskriterium für einen philosophischen Text.

5 Leben, Geist und Symbol – ein Klärungsversuch 5.1 Auflösung der Antinomie im Medium Da die Welt des Menschen sowohl das Gebiet des Lebens, »in dem der Mensch der rein biologischen Sphäre noch unmittelbar [ . . . ] verhaftet zu sein scheint«, als auch das geistige Gebiet umfaßt, in dem er »alle Brükken mit der Welt des Organischen abgebrochen zu haben scheint«, 291 stellt sich für Cassirer die Frage, in welchem Verhältnis beide Gebiete denn nun stehen. Bekanntlich entzünden sich an der Antwort auf diese Grundfrage eine ganze Reihe philosophischer Dispute. Als »Gegensatz von Geist und Leben« wird sie insbesondere von der »modernen Metaphysik« beantwortet, dabei allerdings nicht wirklich gelöst. 292 Cassirer wiederum teilt den bereits von Frischeisen-Köhler an Simmel gewürdigten Gedanken, daß sich das Leben in »seiner inneren und notwendigen Dualität« analog dem Geist erklärt. Das so verstandene Leben kann »nicht nur als das ursprüngliche Quellgebiet des Geistes, sondern auch als dessen Urbild und Prototyp« erscheinen. Ist es doch »dieselbe Doppeltheit«, die sich »im Sein des Geistes in einer neuen gesteigerten Gestalt darstellt«, indem der Geist von sich und um sich weiß. 293 Deshalb vermerkt Cassirer Simmels »Begriffsbestimmung des Geistes« als einem »schlechthin Lebendigen« mit Zustimmung. 294 290

Ebd., 85; ECW 13: 81. ECN 1: 58. 292 GL: 43; ECW 17: 194. 293 ECN 1: 9 f. 294 Allerdings lassen Darstellung und deutende Wiedergabe der Simmelschen Positionen im Essayband Lebensanschauung (1918) nicht in jedem Fall völlig deutlich werden, wie Cassirer im Einzelnen zu ihnen steht. Auf alle Fälle ist es sehr wahrscheinlich, daß er seine Philosophie der symbolischen Formen auch Anregungen Simmels, insbesondere den in dem erwähnten Essayband niedergelegten, verdankt. – Siehe dazu: Möckel (1996). 291

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An Simmel würdigt er zudem, daß dieser die traditionelle »Antithese von ›Leben‹ und ›Geist‹« durch die eine neue Sichtweise zum Ausdruck bringende »Antithese von ›Leben‹ und ›Idee‹ oder von ›Leben‹ und ›Form‹« ersetzt hat. Diese habe ihn ganz in die Richtung geführt, die auch die Philosophie der symbolischen Formen verfolgt. Bei der so modifizierten Problemformulierung werde nämlich klar, daß der »tiefe Widerspruch« zwischen dem Werden (Lebensprozeß) und dem Seins-Bestand (Idee, Form) nicht einmal logisch denkbar ist, wenn wir dem Leben nicht wenigsten die Fähigkeit einer ›Wendung zur Idee‹ zugestehen. 295 Mit dieser als unausweichlich verstandenen Annahme sieht Cassirer die eigenen Überlegungen erneut bestätigt. Erst mit ihr sei die »eigentliche Auflösung der begrifflichen Antinomie« gefunden, die für das logische, diskursive Denken als »unversöhnlicher Gegensatz« zwischen »Leben und Form, zwischen Kontinuität und Individualität« besteht, obwohl die Wirklichkeit ihn in jedem Augenblick praktisch überbrückt. Auch die bei Scheler anklingende These von der Machtlosigkeit des Geistes und der Richtungslosigkeit des Lebens setzt einen »kontradiktorischen Gegensatz«, der die behauptete »Sublimierung des Lebens« durch den Geist nicht verständlich werden läßt. Cassirer schlägt statt dessen vor, hier eine unmittelbare »Energie des Wirkens« und eine mittelbare »Energie des Bildens, des reinen Gestaltens« zu unterscheiden. 296 Die eine richtet sich unmittelbar auf die Wirklichkeit, die andere verbleibt in der mittelbaren Dimension der geistig-symbolischen Medien. Dafür wiederum ist die dahinströmende »Flut des Lebens« an bestimmten Punkten anzuhalten. Anstelle des sich aus sich selber Gebärens und Verzehrens nimmt sich das Leben in diesen Strömungspunkten zu »dauernden Gestalten zusammen«. Der Wechsel vom unmittelbaren Wirken zur mittelbaren Orientierung an Ideen und Werten bedeutet »keine bloß quantitative Steigerung« des Lebens, im Nietzsche-Simmelschen Sinne ›mehr-Leben‹, sondern einen »Wandel des ›Sinnes‹ und der Richtung«, wofür Simmel den Ausdruck ›mehr-als-Leben‹ geprägt hatte. Diese »Umkehr und Rückkehr« könnte das Leben aus sich heraus nicht vollziehen, wenn ihm der Geist nicht eine »Kraft entgegenzusetzen hätte, die er nicht dem Leben entlehnt, sondern die er aus seiner eigenen Tiefe hervorholt«: die mittelbare Energie »des Bildens«, die ebenfalls Tätigkeit, Selbstzeu-

295

ECN 1: 10. Weil Simmel versteht, daß die »Hinwendung zum Leben« ohne eine »Wendung zur Idee«, d. h. zu autonomen Gehalten, von denen die Lebensinhalte ihren Sinn erfahren, nicht zu vollziehen ist, vermag er das gedanklich antinomische Grundverhältnis zwischen Leben und Form klar zu durchschauen. – Ebd., 13. 296 GL: 44 f.; ECW 17: 195 f.

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gung ist. 297 Beide Richtungen des Wirkens, die unmittelbare und die mittelbar-uninteressierte, verschmelzen zu einer einzigen Tätigkeit. Das damit in Anspruch genommene Motiv der »eigentümlichen Umkehr«, die das Leben als ›Wendung zur Idee‹ in sich erfährt, scheint für Cassirer der Schlüssel zur Klärung des ganzes Problems zu sein, wird aber, wie bei Simmel, als doppelte Wendung verstanden. 298 Die mögliche Hinwendung des Lebensflusses zu »sachlichen eigenen Formen«, die seinen Inhalten erst Sinn verleihen, setzt nämlich den Rückblick auf sich selbst aus dem »Medium einer ›symbolischen Form‹« voraus. Nur von dieser aus, d. h. vom lebendigen, um sich wissenden Geist bzw. vom geistigen, um sich wissenden Leben aus, ist die gegenseitige Bedingtheit der antinomisch scheinenden Setzungen Leben und Form zu erklären. 299 Damit haben wir die symbolische Form als Mitte, als Vermittlung zwischen der unmittelbaren Lebenszweckmäßigkeit und den unzeitlichen Sachformen des Geistes zu verstehen. Folglich ist es allein ein Verständnis des Grundproblems von dieser methodisch vorgängigen Mitte aus, das uns erlaubt, »den Ausweg aus den theoretischen Antinomien« des Lebens und der Form zu finden. Die scheinbar in Leben (praktische Zwecke) und Geist (unzeitliche Sachformen) gespaltene Welt des Menschen besitzt demnach im Zwischenreich der symbolischen Formen eine »gemeinsame Mitte«, die aller – abstraktiven – Spaltung logisch vorhergeht. Die symbolischen Formen bilden dabei nicht nur die »Brücke« (Simmel) vom Ich zum Nicht-Ich (Werk) und vom Ich zum Du (Anderer), sondern geben zudem erst die notwendigen »Mittel für die Schaffung dieser polaren Gegensätze« zur Hand. Sie sind folglich diejenigen »Medien, in denen und kraft derer sich erst die ›Auseinandersetzung von Ich und Welt‹ vollzieht«. 300 Spezifischmenschliches Dasein finden wir immer eingehüllt in bestimmte symbolisch-geistige Gestaltungen, welche die polaren Differenzierungen wie Geist und Leben erst ermöglichen. Ein rein vitales Dasein kennt diese

297

Ebd., 46; ECW 17: 196. In der letzten Lebensschicht herrsche ein drittes Prinzip »jenseits von Zweiheit und Einheit«, das das Leben sich selbst zur Idee, zur Form überschreiten und dann »wieder in seinen Weiterfluß zurücktauchen« läßt. – Simmel (1918: 19). Die »praktisch-dynamischen Zusammenhänge« erzeugen ihnen dienende theoretische Wahrheiten, die wiederum – als »fertige Erkenntniswelt« – auf das praktische Leben zurückwirken. – Ebd., 56. 299 »Die ›Wendung zur Idee‹ erfordert überall diese Wendung zur ›symbolischen Form‹ als Vorbedingung und als notwendigen Durchgangspunkt«. – ECN 1: 13. 300 Ebd., 59. Die »Form des Mythos« bildet, ebenso wie die der Sprache, ein solches symbolisches Medium, das allen möglichen einseitigen Abstraktionen wie »Leben« und »Form« vorhergeht. – Ebd., 19. 298

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Polarität gar nicht, es ist schiere Unmittelbarkeit, die jedoch »mit dem ersten Aufdämmern der geistigen Welt im Menschen« unwiderruflich dahin ist. Die damit geschaffene »Welt des bildenden Gestaltens« schiebt sich in die ehemals unmittelbare Beziehung von Menschentier und Umwelt. Am Ende erweist sie sich aber als ein Umweg, der den Menschen wieder an die Umwelt heranbringt, nun aber um sie wissend. 301 Die vom symbolischen Medium aus als eine korrelative Beziehung zwischen »Leben und Idee« verstandenen Pole menschlichen Lebens haben ihren Primat in der Korrelation: Es ist »eben diese Korrelation das primär-Gewisse, und das primär-Gegebene«, nicht die Antinomie. 302 Das symbolische Medium der Sprache, des Mythos etc. ist dasjenige, aus dem bzw. an dem die »Sonderungen« von Leben und Form (Idee, Geist) erst durch das Denken gewonnen werden. Für das mythische Bewußtsein und die sie tragende Ausdruckswahrnehmung ist noch die »unmittelbare Lebensnähe« der korrelativen Polarität typisch. 303 Als korrelative Momente des Mediums gelangt in den symbolischen Formen weder »das Leben zur Form« noch »die Form zum Leben«, da beide nur aufeinander da sind. Weder im »Reich des organischen Werdens« noch im »Reich des geistigen Schaffens« treffen wir »sowenig auf ein schlechthin formloses Leben, wie wir auf eine schlechthin leblose Form treffen«. 304 Renz hat zu Recht darauf verwiesen, daß in diesem Konzept das Auftauchen des objektiven Sinns in Kultur und Geschichte mit Termini wie Wunder, Rätsel oder symbolische Prägnanz umschrieben werden muß, da kein kausales Verhältnis angenommen werden darf. 305 Ob es allerdings gerechtfertigt ist, Cassirer im gleichen Atemzug die »Beschreibung einer kulturellen Sinngenese aus dem Übergang vom Leben zum Geist« zu unterstellen, die er dann offensichtlich nicht bewältigt, 306 bleibt fraglich. Der Ansatz der Korrelation schließt den der Genese ja aus. Die beiden Welten, die des geformten Lebens und die des objektiven lebendigen Geistes, die Cassirer in der Tat als kategorial gleichursprüngliche Ordnungen behandelt, bleiben dabei aber – für das philosophische Verstehen – grundsätzlich ineinander verschränkt.

301

GL: 49; ECW 17: 198 f. ECN 1: 13 f. 303 Ebd., 19. 304 Ebd., 14 f. 305 Renz (2002: 268 f.). 306 Cassirer habe hier »keine Argumente gegen Heidegger« und Heideggers Daseinsanalytik vermöge das Sinnproblem kulturellen Lebens philosophisch überzeugender zu klären. – Ebd., 270 f. 302

246

viertes k apitel 5.2 Lebensnähe des Geistes und Geistigkeit des Lebens

Bei all diesen Überlegungen wurde die Perspektive des Philosophen, des Nachdenkenden eingenommen, nicht die des naiv erlebend Wahrnehmenden. Der Wahrnehmende wird sich seines unmittelbaren Erlebens nur reflexiv bewußt, wobei er es zersetzt. Die symbolische Form als das Medium, von dem wir beim Nachdenken auszugehen haben, trägt beide korrelativen Momente, »die wir im Fluß des Werdens setzen«, als zwei »Accente« an sich. Das Werden ist »seinem Wesen nach weder bloßes Leben, noch bloße Form, sondern es ist Werden zur Form«. 307 Das reflexive Denken trennt – in abstraktiver Manier – beide korrelativ existierenden Momente. Somit sind Leben und Form als Momente einer jeden »echtgeistigen Energie« zu begreifen, die »ist«, indem sie sich betätigt und dabei selbst umgestaltet. Und dies geschieht in unzähligen Einzelakten, wofür die Sprache im aktiven Gebrauch exemplarisch steht. Die symbolische, mediale Formwelt erweist sich folglich bei Cassirer gar nicht als die Fessel, als das Gefängnis für das lebendig gestaltende Subjekt, als die bzw. das sie von den Lebensphilosophen gedeutet und bekämpft wird, 308 wird sie doch durch die gestaltende Tat des Einzelnen beständig verändert, modifiziert. Außerdem sind Leben und Geist in keinem Fall »als einander entgegengesetzte substantielle Wesenheiten« (Dinge, Ergon) zu fassen, sondern ausschließlich »in ihrem reinen Vollzugssinn« (Energeia) zu nehmen. Damit verliert die Antithese von Leben und Geist, die den Geist »als ein allem Leben fremdes oder feindliches Prinzip« betrachtet, ihre Berechtigung, gilt er doch vielmehr als »eine Wendung und Umkehr des Lebens selbst«. 309 Diese erfährt das Leben in sich selbst, wenn es »aus dem Kreise des bloß organischen Bildens« in den Kreis der »ideellen Gestaltung« eintritt. Hier wird es in der Gestalt der symbolischen Formen zu einem »Formzeugenden« und »Formzerstörenden«. 310 Jeder der Formen wohnt eine solche Polarität des Zeugens und Zerstörens inne, die sie selbst aber nicht zerstört. Die Polarität bildet »vielmehr die Bedingung dafür, daß ihre Einheit sich aus dem Gegensatz herstellen und daß sie sich nach außen darstellen kann«. 311

307 308 309 310 311

ECN 1: 15. Siehe dazu: Simmel (1999: 200). GL: 52; ECW 17: 201. Ebd., 57; ECW 17: 205. Ebd., 58; ECW 17: ebd.

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Deshalb will Cassirer von einer tödlichen Antithese oder einer unüberbrückbaren Kluft »zwischen dem, was das ›Leben‹ und dem, was die ›Form‹ verlangt« nichts wissen. Leben und Form wirken vielmehr ineinander und klaffen nur »immer wieder auseinander, sobald man beide als Absoluta nimmt«. 312 Versetzt man sich aber in den »Mittelpunkt des konkreten Prozesses der Formwerdung«, dann schließt sich diese Kluft. Die beiden Momente erweisen sich so »als ein Gegeneinander« reiner Funktionen des geistigen Schaffens, die in »Korrelation und Ko-Operation« zueinander stehen. Damit stellen sich die Formen als »innerlich-beweglich«, als lebendig, das Leben aber für jeden einzelnen seiner Momente als geformt und gefestigt dar. 313 Dies mache den wahren »Pendelschlag des geistigen Lebens selbst« aus. 314 Durch diese Überlegungen glaubt Cassirer die Auflösung des von den Lebensphilosophen behaupteten antinomischen Gegensatzes von Leben und Geist in der Tat vollbracht zu haben. Als die crux gilt ihm dabei die Einsicht, daß nicht ein polarer Leben-Form-Gegensatz, sondern das symbolische Medium mit seinen korrelativen Momenten Leben und Form den Ausgangspunkt der philosophischen Erklärung bilden muß. 315 Sie darf weder allein mit dem Leben noch nur mit dem Geist anheben, weil sie dann bei dem einen Pol steckenbleibt und nicht mehr zum Gegenpol findet. Auch mit den herkömmlichen räumlichen und bildlichen Metaphern (Innen-Außen, Hüben-Drüben) lasse sich diese erzeugende Dynamik des symbolisch-repräsentierend fungierenden menschlichen Geistes nicht bezeichnen, wie dies Simmel 1917/18 noch versucht hatte. 316 Die Metaphern scheitern nämlich an der Dynamik, da sie dazu verleiten, die lediglich ein statisches Verhältnis ausdrückenden Termini »Inneres« (Intuition, Erlebnis) und »Äußeres« (räumliche Wahrnehmung) in das Verhältnis von »schlechthin-ursprünglichem Sein« und »mittelbarem und abgeleitetem Sein« zu bringen. 317 Mit den bei Simmel und Husserl gebräuchlichen Termini der Immanenz und Transzendenz sei die Beziehung der ideellen »Welt des Geistigen« und der zweckgerichteten »Welt des Lebens« ebenfalls nicht korrekt ausdrückbar. Sie ist allein in »dynamischen Gleichnissen« zu beschreiben. 318

312 313 314 315 316 317 318

ECN 1: 16. Ebd., 17. Ebd., 18. Ebd., 39. Ebd., 59. Ebd., 96. Ebd., 58 f.

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Weil nun dem Geist selbst die subjektiv-objektive Doppelrichtung einschließlich die notwendige Umwendung wesenseigen ist und weil das Menschsein sowohl unbewußt-zweckgerichtetes Leben als auch doppeltgerichtete Geistigkeit umgreift, ist am Kulturmenschen das Leben, »ohne von sich selbst abzufallen«, sich »selber durchsichtig, sich selber gegenständlich geworden«. An dieser von Hegel in der Phänomenologie des Geistes nachvollzogenen Wendung des Lebens zum Wissen um sich selbst arbeitet jede einzelne symbolische Form mit. 319 Diesen Vorgang beschreibt Cassirer als Prozeß der Distanzierung durch Symbolisierung. Damit aber das Leben sich selbst gewiß und durchsichtig werden kann, muß ihm die dies ermöglichende Fähigkeit bereits innewohnen, und dies kann nur eine geistige sein, die in den reinen Ausdrucksphänomenen ihren elementarsten, tiefsten, frühesten Grund und Ausdruck gefunden hat. Obwohl der Geist samt seiner Formen für Cassirer, wie bereits deutlich geworden ist, etwas eminent Lebendiges und nicht etwas Statisches, Totes, Eindimensionales darstellt, geht er dennoch nahezu auf in den unzeitlichen Sinnformen, »in denen er lebt und ist«. 320 Außerdem bleibt er immer bei sich, weil er weder einem geistfremden organischen Leben entstammt noch sich selbst in ein solches zu transformieren vermag. 321 Obwohl Cassirer der These Simmels und Schelers im Grunde zustimmt, daß wir es bei der Kulturwerdung mit einem »Weg vom ›Leben‹ zur ›Idee‹« zu tun haben, auf dem sich »Energien verschiedener Ordnung« gegenüberstehen, 322 legt er großen Wert darauf, daß dabei das Leben nicht zu einem Lebensfremden kommt. Die Intentionen auf das Ideelle liegen in Wirklichkeit »schon ursprünglich in ihm beschlossen«. 323 Deshalb kann und darf bei diesem Prozeß nicht von einer »Abkehr vom Leben« gesprochen werden, sondern es ist von einer inneren Wandlung und Umkehr, die das Lebens in sich selbst erfährt, auszugehen. Da einerseits eine reine, schlichte Lebensunmittelbarkeit diese Doppelrichtung ausschließt, bedeutet dies, daß das Leben als philosophischer Begriff für den sich ihm erkennend Nähernden grundsätzlich eine geistige, ideelle, formende Funktion – am elementarsten in Gestalt der Ausdrucksfunk-

319

Ebd., 59 f. Ebd., 48. 321 Cassirer drückt diesen Gedanken dergestalt aus, daß der Geist diese seine ideellen unzeitlichen Sinnformen »nicht gleich Schlangenhäuten von sich streifen« kann, »nicht, wie durch eine organische Metamorphose, in eine andere Wesens- und Lebensstufe, als der, in der er selbst steht, eingehen« kann. – Ebd. 322 GL: 51; ECW 17: 200. 323 ECN 1: 18. 320

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tion – einschließen muß. Andererseits kommt die reflexive, rekonstruierende Erklärung des Lebens ohne diese der Abstraktion geschuldeten Termini (Pole) nicht aus. So erweist sich auch das Sinngesetz, unter dem der unabschließbare Gestaltungsprozeß der Wirklichkeit mittels der Symbole steht, keineswegs als »lebensfeindlich«, da dieses Gesetz zu seiner Betätigung beständig »in die Welt des Lebendigen eingreift und gleichsam immer wieder in sie zurücktaucht« (Simmel). Wenn hier von der Welt des Lebendigen die Rede ist, dann haben wir an die unmittelbaren Ausdrucksphänomene der Ausdruckswahrnehmung, an das subjektive Erleben, aber auch an die unmittelbare praktische Lebenszweckmäßigkeit zu denken. Nur an diesen Lebensinhalten vermag das Sinngesetz seine Formen und Gestalten zu prägen, weshalb Cassirer von einem Wechselverhältnis spricht. 324

5.3 Leben und Geist als metaphysischer Bedeutungsunterschied Obwohl Leben und Form – anstelle von Leben und Geist – als korrelative Momente gedeutet worden sind, die nur in Bezug aufeinander begreifbar sind, hält Cassirer den Bedeutungsunterschied, der in den Termini Leben und Geist zum Ausdruck kommt, keinesfalls für gegenstandslos. Vielmehr betont er die konträren Wesenseigenschaften, die wir mit beiden Termini meinen und zum Ausdruck bringen. Da das Leben z. B. in seinem reinen An-Sich, »in seinem eigenen Schoße« keinerlei Bilder des Seienden enthält, »die das Ich sodann nur [ . . . ] rezeptiv aufzunehmen hätte«, vermag es für sich allein, ohne seinen Gegenpol auch weder »Urquell aller Wirklichkeit« noch »Quell der Symbole, in denen uns diese Wirklichkeit erst faßbar« wird, zu sein. Es sind letztlich die »reinen Energien des Geistes«, aus denen diese Symbole »stammen«. 325 Auch könne von uns eine »Seligsprechung des Lebens« schon deshalb nicht angestrebt werden, da selig nur der Geist sein kann, ist doch er allein sich seiner bewußt. Mit anderen Worten, der Geist vermag selig zu sein, weil er das schauende, sich seiner selbst bewußt gewordene Leben

324

»Immer wechselnd, fest sich haltend, nah und fern und fern und nah: so steht der Geist, im Ganzen seines Schaffens, dem Leben gegenüber, ohne sich doch gegen es zu kehren, ohne jemals mit ihm zu zerfallen. Ohne dieses Wechselverhältnis, wie es sich vor allem in jeder echten künstlerischen Schöpfung offenbart und wie es sich hier ständig von neuem bezeugt, würde die Welt der geistigen Formen nur eine Welt von Schemen sein, würden Sprache und Erkenntnis, Dichtung und bildende Kunst in leere Phantasmagorien aufgehen«. – Ebd., 30. 325 ECN 1: 29 f.

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ist. Das »nicht schauende, seiner selbst unbewußte Leben kann keine Seligkeit besitzen«. 326 Damit spricht eine Seligsprechung des Lebens in Wahrheit den Geist selig. Das Leben leidet nicht an sich selbst, denn »es hat ›sich selbst‹ nicht als ein Gegenüber, nur der Geist leidet an sich«. Die Negation des Geistes ist also nicht ein »Akt des Lebens«, ist keine »Rückkehr zum Leben«, sondern sie ist in Wirklichkeit die »stärkste Selbstbejahung des Geistes« selbst. »Alles wahrhafte Leiden« ist deshalb das »notwendige Schicksal und zugleich [ . . . ] der Adelsbrief, das Privileg des Geistes«, und eben nicht des Lebens. 327 Ähnlich verhalte sich dies mit der Erhöhung des Lebens als Antithese oder Alternative zur Kultur. Cassirer gesteht zu, daß »alle ›Kultur‹, alles Werden des ›Geistes‹« vom bloßen Leben fort in das »Reich symbolischer, also bloß signifikativer, nicht unmittelbar ›lebendiger‹ Formen« führt. In ihnen und durch sie wird das Leben zum »wachen, seiner selbst bewußten Leben«, wird es zu Geist. Die tötende Negation der symbolischen Formen, um der »Rückkehr [willen] zum bloßen Leben hin«, wäre daher zugleich »Aufhebung, Tötung des Geistes selbst«. Diese Tendenz einer erstrebten »Rückkehr zum bloßen Leben« erweise sich aber als eine »durchgehende Erscheinung der sich entwickelnden Kultur, gleichsam ihr negatives Vorzeichen«. 328 Die Lebensphilosophen agieren als die historischen Träger dieser kulturellen Tendenz. Eine derartige Auffassung von Leben und Geist nennt Cassirer in seinen Aufzeichnungen gelegentlich seine Metaphysik. Unter den Begriff »›Metaphysik des Symbolischen‹« stellt er sogar eine Reihe von Überlegungen und Gedanken. 329 Wenn er aber von »unserer Metaphysik« spricht, 330 scheint dies ironisch gemeint zu sein, da es auf die metaphysischen Lehren bei Klages, Bergson, Goethe und Hegel zielt, von denen sich Cassirer teilweise abgrenzt. So stehe Metaphysik für das »Gewahrwerden des Lebens« (Goethe), für das »Zurückgehen des Lebens in seinen ›Grund‹«, 331 wobei das In-den-Grund-Zurückgehen eben

326

Ebd., 247. Ebd., 258. 328 Ebd., 269. 329 Ebd., 261–274. Krois, der Herausgeber von ECN 1, bemerkt hierzu: »Cassirers Versuch in den Texten von Konvolut 184, bes. in 184c, dem Begriff der Metaphysik einen neuen, eigenen und positiven Sinn zu geben, unterscheidet sie von dem in den drei Bänden der PsF.« – Ebd., 300. 330 Ebd., 238. 331 Cassirer hält Kants Auffassung, wonach Metaphysik die »Lehre von ›den ersten Gründen der menschlichen Erkenntnis‹« ist, bei der der Begriff des Grundes auf deren letzte Prinzipien zielt, für eine unzulässige Einschränkung des Problems auf die eine »Energie der ›Erkenntnis‹«. (Ebd., 263) Heideggers Auslegung in Kant und 327

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auch bedeute, daß dadurch das »Leben freilich ›zu Grunde gehen‹« muß (Klages), aber gleichzeitig »in der Sphäre des Geistes aufgehoben« ist. Durch dieses Zurück- und Zugrundegehen sei die »Substanz des Lebens [ . . . ] zum Subjekt geworden, reine Sinn-Sphäre, über-dingliche und überpersonale« (Hegel). 332 Um den »Aufbau und Sinn der Kultur« zu verstehen, müssen wir uns, so erklärt Cassirer mit vollem Ernst, vielmehr um eine »Metaphysik des Prozesses« bemühen, die als ein Werden zur Form verstanden wird. Ein Prozeß vereine nämlich »schlechthin-Unvereinbares«, und die Vereinigung von Unvereinbarem ist eben das »Geheimnis des sich erzeugenden, sich in Gegensätzen entwickelnden Geistes selbst«. Die Metaphysik spricht das nur aus. 333 Die »›Metaphysik der symbolischen Formen‹«, die auch als die »Weltanschauung des ›symbolischen Idealismus‹« bezeichnet wird, bekämpft die Metaphysik des dogmatischen Realismus, die den »Kern des geistigen Lebens« irgendwie in der Abbildung eines »unabhängig gegebenen ›Wirklichen‹« sieht. 334 Aber ein solches unabhängig Gegebenes haben wir in keiner Erfahrung, in keinem Erlebnis »vor aller Aktivität des Geistes«. Ohne geistige Energie, d. h. ohne ein symbolisches Tun, gibt sich uns keine Art des Seins. Das »Leben als solches« wäre in seiner Verschlossenheit stumm, es hat nur die Sprache, »die der Geist ihm leiht«. 335 Deshalb können wir uns auch von den symbolischen Formen des Geistes nicht befreien, »obwohl uns der Drang dazu an- und eingeboren ist«. 336 Der »Zwang der Symbolik« bzw. der Zwang des begrifflichen Denkens, von dem wir uns nur ideell befreien können, indem wir die Symbolik bzw. das Denken einsehen und begreifen, läßt sich nicht überwinden, »indem wir die Hülle der Symbolformen von uns werfen und nun das ›Absolute‹ von Angesicht zu Angesicht schauen«. Obwohl wir in der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Begriff bzw. zum spezifischen Blickpunkt der Geltung vordringen müssen, der sein logisches Symbol im Begriff des Bestandes findet, können wir darum »nicht auf den Begriff des Lebens verzichten! Im Gegenteil: [der Lebensbegriff – C. M.] ist der letzte – ein Leben selbst, an dem wir in wandelba-

das Problem der Metaphysik (1929) wirft er jedoch vor, die Transzendenz zum »eigentlichen ›Bezirk der Frage nach dem Wesen des Grundes‹« erhoben zu haben. Freiheit und der ihr entspringende transzendente Grund erweisen sich so als »der Ab-grund des Daseins« des Menschen. – Cassirer (1931: 24); ECW 17: 247. 332 ECN 1: 238. 333 Ebd., 240. 334 Ebd., 261. 335 GL: 54; ECW 17: 202. 336 ECN 1: 265.

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ren Symbolen ›teilhaben‹!«. Geltung und Leben ergänzen sich korrelativ ebenso wie Leben und Geist. 337 Die von Cassirer umrissene Metaphysik geht denn auch nicht von der »Urtatsache des sogenannten ›Seins‹, sondern von der des ›Lebens‹ aus«. 338 Und diese Urtatsache erfährt ihre Deutung als tatsächlicher, lebendiger, tätig-bildender Geist. Neben dem Charakter des metamorphosischen Werdens des sich objektivierenden Geistes sind mit dieser Formulierung die unmittelbaren Ausdrucksphänomene gemeint, an denen sich bereits eine bestimmte ideell-funktionelle Gliederung (Formung) vollzieht. Mit der ursprünglichen Formung sind implizit auch die anderen geistigen Energien benannt. Ist doch der »Urtatsache des ›Lebens‹« das Auseinandergehen in eine Mannigfaltigkeit verschiedener Richtungen durchaus wesentlich. Das »Urphänomen des Lebens selbst« besteht in dem Sachverhalt, daß es sich in dieser Divergenz in seiner tiefen unerschütterlichen Einheit behauptet. Obwohl »die Philosophie des Symbolischen« versucht, dieses Urphänomen in seinem Bestand und in seiner vollständigen Entfaltung darzustellen, dringt sie »in sein ›Warum‹« dennoch nicht vor. Das Warum des Urphänomens des Lebens entzieht sich uns, die Metaphysik tut nur so, als wäre es ihr zugänglich. Da sich auch das lebendig-geistige Gestalten, das in den symbolischen Medien vollzogen wird, nicht hinterschreiten, nicht transzendieren läßt, löst sich uns »das ›Absolute‹, das ›Sein‹, soweit es für uns überhaupt faßbar ist«, in das »Urphänomen des Lebens« auf. 339 Wenn Cassirer aber über das Urphänomen des Lebens spricht und es als geistigen Leben auslegt, 340 dann fragt es sich schon, ob er damit nicht einen anderen Begriff des Lebens ins Auge faßt. 341 Die dem lebendigen Geist entgegengesetzten Bedeutungsnuancen scheinen hier völlig zu verschwinden, vom unmittelbaren Erleben bleibt wenig. Mit der Lebensbewegung der Monas (subjektives Ich) ist nämlich das Erschaffen und Vernichten von Gestalten gemeint, weshalb diesem »Urphänomen der Gestaltenzeugung und Gestaltenwandlung« das »Grundphänomen der symbolischen Funktion« entspricht. Diese Urbewegung des Lebens als eines Urphänomens der lebendigen Gestaltung gilt ihm als die »Eigenbewegung des ›Geistes‹«.

337

Ebd., 270 f. Ebd., 263. 339 Ebd., 264. 340 Wobei er Goethe zitierend festhält: »Das Höchste, was wir begreifen, ist das Leben – die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst«. – Ebd., 264. 341 Werle hatte, wie bereits erwähnt, darauf aufmerksam gemacht, daß Cassirer den »in der zeitgenössischen Philosophie prominenten ›Lebens‹-Begriff heranzieht und ihn ohne weitere Begründung zum Oberbegriff sowohl für die Introspektion 338

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6 Leistung, Grenze und Gefahr der Lebensphilosophie 6.1 Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit des Seins. Methodische Reflexion kontra Intuition des Lebens Mehrfach macht Cassirer deutlich, daß er die Auffassung nicht teilt, nach der das symbolische »Reich der bloßen Mittelbarkeit« diejenige absolute, letzte Wirklichkeit des Seins an sich selbst verhülle, die die Philosophie des Lebens »als Ganzes, als Lehre von der Totalität des Seins« unmittelbar – »nackt und hüllenlos« – erschauen und ergreifen zu können glaubt. 342 Dabei ist die ganze Frage, »ob für das Denken irgendeine Möglichkeit besteht, die Schicht des bloß Symbolischen und Signifikativen zu durchstoßen, um hinter ihr die ›unmittelbare‹, die entschleierte Wirklichkeit zu erfassen«, 343 als rein rhetorische zu verstehen. Eine bei bejahender Antwort geforderte »unmittelbare Selbstbezeugung der Wahrheit und der Wirklichkeit« kann es nicht geben bzw. ist für Cassirer philosophisch nicht relevant. 344 Sie bleibt ein alter Traum der metaphysisch eingestellten Philosophen, die dabei mal auf die äußere Sinnesempfindung und mal auf die »›innere‹ Erfahrung«, auf unsere »Erlebniswirklichkeit« setzen. 345 All denen, die vorgeben, eine »Urschicht der Wirklichkeit« bloßzulegen, in der sich diese selbst, »vor aller symbolischen Deutung und Bedeutung«, offenbart, erteilt er eine Absage. 346 Er bestreitet zudem, daß es eine »Welt der inneren Wahrnehmung«, der »reinen Erfahrung«, der »Urperzeption« (Berkeley) oder des »Urerlebnisses« (Mach) gibt, die sich uns »vor allen künstlichen abstrakten Umbildungen« zeigt. 347 Trägt doch bereits der Wahrnehmungsakt »ein ursprünglich-symbolisches Element in sich«. 348 Wenn schon in der wissenschaftlichen Einstellung von einem Sieg der »reinen Erfahrung« über die »bloße Konstruktion«, der Sinnlichkeit über den abstrakten Begriff keine Rede sein kann, 349 so fragt Cassirer erneut rein rhetorisch, ob denn diese schier unüberwindliche Bindung an die

und deren Bestände und Themata – das unmittelbare Erleben – als auch für die Gesamtheit der Lebensphänomene, insbesondere der [ . . . ] Phänomene des geistigen Lebens – eben der nach seiner Meinung fundamentalen ›symbolischen Formen‹ – avancieren läßt«. – Werle (1988: 277). 342 PsF III: 3; ECW 13: 1. 343 Ebd., 27; ECW 13: 25. 344 Ebd., 4; ECW 13: 2. 345 Ebd., 27; ECW 13: 26. 346 Ebd., 5; ECW 13: 3. 347 Ebd., 28.; ECW 13: 26. 348 Ebd., 270; ECW 13: 267. 349 Ebd., 41; ECW 13: 39 f.

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vermittelnden geistigen Formen (abstrakte Begriffe) nicht wenigstens für ein nichtwissenschaftliches Bewußtsein zu hintergehen sei, was die »eigentlichen und letzten Wurzeln des Seins« unmittelbar ergreifen ließe. Genau dies behauptet zumindest die metaphysische Lebensphilosophie Bergsons. Die alle geistige Formung über- bzw. hinterschreitende Leistung, die dem diskursiven Denken und der Erfahrung versagt bleiben muß, wird hier der »reinen Innenschau« bzw. dem »reinen Schauen« zuteil. Folglich leistet nach Bergson die reine Intuition genau dasjenige, »was der logisch-diskursive Gedanke niemals zu leisten« vermag. 350 Die von ihm vertretene »Metaphysik des Lebens« favorisiert also die Möglichkeit, uns »in eine Schicht des Daseins« zurückzuversetzen, die noch von allen intellektuellen symbolischen Formungen unberührt ist. Diese Daseinsschicht soll in der »Sphäre der reinen Intuition« noch »vor dem großen Umformungsprozeß« erfaßt und erklärt werden. 351 Das intuitive Erfassen deutet Cassirer als ein behauptetes Wissen, »das über jegliche Art von Mittelbarkeit, von bloßer ›Symbolik‹ hinausgeht«. 352 Deshalb stellt die Lehre Bergsons auch die »radikalste Absage gegen den Wert und das Recht aller symbolischen Formung« dar. 353 Doch gilt ihr jede symbolische Formung nicht nur als Vermittlung, sondern auch – und dies irrtümlich – als Dinganschauung bzw. als »Verdinglichung«, was dann die Fixierung und Klassifizierung des Geformten nachsichzieht. Das »Wesen des Lebens« erschließt sich für den Lebensphilosophen jedoch allein aus seinem »Fließen und Fluten«, dessen sich das vermittelnde, unterbrechende, klassifizierende räumliche Denken nicht bemächtigen könne. Allerdings steht Cassirer dem von Bergsons präferierten Verfahren der Intuition nicht ausschließlich negativ gegenüber. Dies zeigt sich u. a. in der kritischen Würdigung seiner metaphysischen Zeitanschauung. Der komme nämlich das Verdienst zu, das »einheitliche Bewußtsein der Zeit« bewahren zu wollen und energisch Einspruch gegen seine Zerlegung und »abstraktive Zerstückung« erhoben zu haben. 354 Jedoch mischen sich Prämissen und Vor-Gegebenheiten in die Beschreibung der rein geschau-

350

Ebd., 42 f.; ECW 13: 41. Intuition ist für Bergson das »intellektuelle Miterleben«. Philosophieren heiße, sich »durch eine Aufbietung der Intuition« in das Innere der konkreten Realität zu versetzen. – Bergson (1916: 43, 55). 352 ECN 1: 45. 353 PsF III: 43; ECW 13: 42. Die echte Metaphysik bedarf dank der Methode der Intuition keiner Symbole, die Wissenschaft dagegen sehr wohl, weil sie auf Anwendung des Wissens zielt. – Bergson (1916: 44). 354 PsF III: 214 f.; ECW 13: 210. 351

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ten »Urgegebenheit der Zeit« ein, die Bergson eigentlich ausschließen wollte. So werde, im Gegensatz zu dem – auf die Vergangenheit gerichteten – Erinnerungs-Gedächtnis, beim motorischen Gedächtnis, das bloß »den Zwecken der Lebenserhaltung« dient, indem es »auf das Erfassen des eigentlichen Lebensgrundes Verzicht leistet«, 355 der Standpunkt der Intuition verlassen. Um Zugang zum »›Wissen vom Leben‹« zu erlangen, müssen wir zur reinen Schau der Dauer, zur Intuition des Lebens, d. h. zum Erinnerungs-Gedächtnis zurückkehren. Dies aber erfordert ein sich Losreißen von der Wahrnehmung der praktische Dinge, der Nutzbarkeiten des praktischen Lebens. 356 In dieser Unterscheidung kehren zwar die beiden gegenläufigen Richtungen des Geistes – der Wirkwille des Lebens und die Ideenorientiertheit des Lebens – wieder, aber sie treten in einen antinomischen Gegensatz und nicht in eine Kooperation zueinander. Cassirer erhebt noch ein weiteres systematisches Bedenken: In Bergsons System, das die »Ausprägung und Entfaltung einer einheitlichen, in sich geschlossenen Grundanschauung« ist, erweise sich die Auffassung der reinen Anschauung der Zeitphänomene eben nicht als ein- bzw. ganzheitlich, nicht als die Trias der Zeitstufen in eins setzend. Bergson hebt nämlich das Erleben der Vergangenheit als einzig originärem Zeitbewußtsein heraus und zerreißt so die Einheit der Zeit. Die damit einhergehende Abstraktion von der gegenwärtigen gestaltenden Tätigkeit bringe trotz allen »›Lebensschwunges‹« einen »eigentümlichen romantisch-quietistischen Zug« in seine Metaphysik, da sie den Rückblick in die Vergangenheit regelrecht verkläre. 357 Der geistige Vorblick in die Zukunft jedoch, der das gestaltende praktische Tun begleitet und der Cassirer als die »Urform des geistigen Schauens« gilt, wird folglich ausgeblendet oder sogar bestritten. Doch sowohl in der Intuition des Vergangenen als auch in der Intention auf das Zukünftige bekundet sich für Cassirer ein und »dieselbe Urfunktion der [ . . . ] ›Repräsentation‹«. 358 Letztlich arbeite Bergson mit einem naturalistischen, »biologischen« Zeit- und Lebensbegriff und nicht mit geistigen, historischen Begriffen. 359 Die Kritik am nicht eingelösten Anspruch der intuitionistischen Le-

355

Ebd., 216; ECW 13: 212. Zu Bergsons Bild- und Wahrnehmungsbegriff siehe: Vrhunc (2002). 357 PsF III: 218; ECW 13: 213. 358 Ebd., 219; ECW 13: 214. 359 Die »echte Intuition der Zeit kann nicht in bloßer rückschauender Erinnerung gewonnen werden, sondern sie ist zugleich Erkenntnis und Tat. Denn der Prozeß, in dem das Leben – als geistiges, nicht als bloß-biologisches Leben verstanden – sich formt, und der, in dem es sich selbst begreift und weiß, muß schließlich eine Einheit bilden«. – Ebd., 221; ECW 13: 217. 356

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bensphilosophie schlägt sich auch in dieser Schaffensperiode Cassirers mehrfach nieder. In den Manuskripten von 1928 polemisiert er z. B. gegen Bergson, weil er Inneres vom Äußeren – und Zeit vom Raum – als ein »schlechthin-ursprüngliches Sein« von einem »durchaus mittelbaren und abgeleiteten« Sein unterscheidet. Die Raumform will er sprengen, weil sie ein nur mittelbares und abgeleitetes Sein erfaßt, die Zeit- und Ichform als die Form der »Intuition der reinen Dauer«, die das schlechthin-ursprüngliche Sein erschaut, dagegen nicht. 360 Damit werde die Zeit- und Ichform gegenüber der Raumform unzulässig privilegiert. Die Erlebniszeit gelte ihm im Gegensatz zur Raumanschauung als das »Letztgegebene« und »Letztgewisse«. Doch sei auch die scheinbar letztgegebene Erlebniszeit nicht frei von einer Spannung: in Wirklichkeit bleibt der Zeitform nur die »Reihe der Erlebnisse« verhaftet, während »das in ihnen Erlebte«, d. h. die Sachverhalte und ideellen Formen, ein »unzeitliches Sein« ohne jegliche »individuelle Lebensfülle« ausmachen. Einen speziellen Grund dafür, warum man in Philosophie und Psychologie des 19. und 20. Jahrhunderts den Standort der Betrachtung aus dem »Gebiet des Intellekts«, d. h. aus dem diskursiv Logischen, in das Gebiet der intuitiven Begründung verlegt hat, die in der »Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit des ›Gefühls‹«, im »Erleben« als dem unmittelbaren »Miterleben« des Anderen (Th. Lipps) schöpft, sieht Cassirer nicht zuletzt im fehlgeschlagenen Aufweisen eines sicheren, evidenten Wissens von fremden Subjekten. 361 Dieses Fehlschlagen selbst führt er auf die weit verbreitete Nichtbeachtung der unmittelbaren Ausdrucksfunktion zurück. Das – auch von einigen Lebensphilosophen bemühte – »reine Ausdrucksphänomen« kennt nämlich keine »Form der Ent-Zweiung«. In ihm ist eine Weise des Verstehens gegeben, »die nicht an die Bedingung der begrifflichen Interpretation geknüpft ist«. 362 Erst die – undialektisch gehandhabte – philosophische Reflexion treibt diese potentielle, noch nicht bewußte Differenz zu einer absoluten, metaphysischen »Verschiedenheit im Ursprung« (Seele oder Leib). Diese Tatsache bedeute aber kein Verdikt gegenüber der methodischen Reflexion als solcher. Deshalb thematisiert Cassirer den durch die Lebensphilosophen behaupteten Vorzug des unmittelbaren, konkreten Erlebens gegenüber der begrifflichen Reflexion grundsätzlich kritisch. So lassen sich die von ihnen zu Recht beklagten Scheidungen der Kul-

360 361 362

ECN 1: 96. PsF III: 97 f.; ECW 13: 93. Ebd., 110; ECW 13: 105 f.

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turgebiete bzw. Schichtungen, die sich »zuletzt mehr und mehr zu entfremden drohen«, nicht, wie behauptet, dadurch wieder aufheben, daß wir einfach nur wieder auf diese ursprüngliche Grundeinheit, auf diese »urtümliche Konkretion des Erlebens« zurückgreifen, weil all die künstlichen Scheidungen nur durch die Reflexion hervorgerufen seien. 363 Diese Behauptung bestreitet Cassirer ganz entschieden, zumal er das Problem oft falsch beschrieben bzw. diagnostiziert sieht. Der Dualismus, den z. B. Simmel zwischen Kultur und Leben aufbaut, existiere eben nicht als zwei sich fremd, äußerlich gegenüberstehende Pole, sondern die Polarität selbst ist das »eigentliche Urphänomen«, das von uns in der Reflexion künstlich gespalten wird. Alles »Leben und Schaffen« ist an diese Polarität gebunden. 364 Das »Leben als Leben« ist auf die Polarität, Spannung von individuellem Ausdruck und überindividueller Form angewiesen. Eine Quelle für das letztendliche Scheitern der Lebensphilosophie am Problem »Intuition oder Reflexion« erblickt Cassirer darin, daß sie für den wichtigen Unterschied zwischen dem ideellen Schauen als einem ideellen Tun und dem wirkmächtigen Verhalten zu den Gegenständen, d. h. für den Unterschied zwischen Tun und Wirken, keine »eigene Kategorie« besitzt: sie läßt Tun und Wirken ineinander aufgehen. 365 Das gelte für die »Metaphysik des Lebens« eines Klages ebenso wie für die eines Bergson. In ihr gelangt man vom Tun zum »reinen Leiden und Empfangen« des Ich durch das Leben. Dem setzt Cassirer seine Position entgegen: »Es gibt kein Schauen, das bloßes Leiden wäre, das nicht eine Funktion des Gestaltens«, d. h. eine Verwandlung, Umformung in ein Bild, in sich schlösse. Jegliches Bild aber, selbst das mythische, »verlangt den lebendigen Anteil, es erfordert die Mitwirkung der Energien des Ich, ›für‹ welches es Bild werden soll«. 366 Damit wird es Repräsentation in der Präsenz, und die Unmittelbarkeit vermittelt sich.

6.2 Ausdrucksfunktion und Symbolverhältnis Die gesamte zeitgenössische Philosophie, darunter versteht Cassirer bekanntlich vor allem Lebensphilosophie, philosophische Anthropologie und ontologische Systeme (Heidegger, Hartmann), wird von ihm nach Ansätzen durchforstet, die irgendwie auf das Ausdrucks- und das

363 364 365 366

ECN 1, 6. Ebd., 218. Ebd., 28. Ebd., 29.

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Symbolproblem Bezug nehmen. In der Regel interpretiert er dies dann als eine Nähe zur Philosophie der symbolischen Formen. Diese Nähe konstatiert er insbesondere für Simmel und Scheler, aber auch in bescheidenerem Maße für Klages und Spengler. Dagegen habe Bergson in seiner gegen die Symbole gerichteten Metaphysik des Lebens das entscheidende Ausdrucksproblem nicht positiv besetzt. 367 In der Entgegensetzung von Lebensstrom und Denkformen gingen dem Leben alle Ausdrucksmittel verloren. 368 Nach Cassirer muß jedoch eine jede innere Schau gleichzeitig eine Äußerung einschließen. So gewinne z. B. das künstlerische »innere Bild« seinen Gehalt erst dadurch, »daß es sich zum Werk zusammenfaßt und im Werk nach außen tritt«. Das Gleiche gilt von jenem Prozeß, »kraft dessen aus der ›unmittelbaren‹ Einheit des Lebens die Welt des Geistes, als eine Welt von Vermittlungen, hervorgeht«. 369 Obwohl in der »modernen Metaphysik« die »romantische These von der unüberbrückbaren Kluft zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹« am schärfsten von Klages betont worden ist, 370 hat gerade er sich im Unterschied zu Bergson als tiefblickender »Führer und Wegbereiter« der Bewegung erwiesen, die eine Zeitlang nahezu ausschließlich naturwissenschaftlich betriebene Psychologie zu dieser »Tiefenschicht der reinen Ausdruckserlebnisse« allmählich wieder zurückdringen zu lassen. 371 Außerdem hat er darauf aufmerksam gemacht, daß in der Form der Sprache deutlich wird, »wie alle Wahrnehmung eines ›Objektiven‹ ursprünglich von der Erfassung und Unterscheidung gewisser ›physiognomischer‹ Charaktere ausgeht, und wie sie mit diesen gleichsam gesättigt bleibt«. 372 Die »gesamte Metaphysik« von Klages wurzelt, so stellt Cassirer anerkennend fest, »im Ausdruckserlebnis«. Damit ist und bleibt sie der »Versuch einer Deutung des Urphänomens des Ausdruckes«. 373 Er faßt dabei das »Ausdruckserlebnis« reiner und tiefer als alle anderen vor ihm. Deshalb ist er in Cassirers Augen stark als »Seher« und »Künder von Ausdruckserlebnissen«,

367

Die Metaphysik will nach Bergson die absolute Realität per Intuition, d. h. per »intellektuellem Miterleben« absolut erfassen, »außerhalb jeden Ausdruckes [ . . . ] oder symbolischen Darstellung«, d. h. sie will »ohne Symbole auskommen«. – Bergson (1916: 5, 43). 368 PsF III: 46; ECW 13: 44 f. Cassirer bezieht sich u. a. auf Introduction à la Métaphysique [1900] und auf L’évolution créatrice [1907] von Bergson. 369 PsF III: 47; ECW 13: 45. 370 ECN 1: 23. 371 PsF III: 78; ECW 13: 74. Herangezogen werden Klages’ Schriften Vom kosmogonischen Eros [1922], Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft [1923] und Mensch und Erde [1920]. 372 PsF III: 94; ECW 13: 89. 373 ECN 1: 207.

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die Umbildung des »Sehens« zum »Gedanken« gerate ihm jedoch zu einem tragischen Schluß, weil das Resultat dogmatisch und lebensfeindlich ist. Indem Klages aber radikal von dem »reinen Ausdrucks-Erlebnis«, von der »reinen Funktion des Ausdrucks« als dem Urphänomen ausgeht, erweist sich seine Metaphysik des Lebens als diejenige, die am konsequentesten physiognomisch vorgeht und damit auf ein gegenständliches Sein als Ausgangspunkt verzichtet. Das eigentliche Sein ist für sie vielmehr das funktionale »Bild-Sein«, die »schauende Innerlichkeit«, nicht aber ein Wahrnehmungseindruck. 374 Weil ihm alle Wahrnehmung grundsätzlich als »›dinghaft‹ verdinglichend« gilt, bestreitet Klages jede »Möglichkeit der [sachlichen – C. M.] Wahrnehmung von Leben«, gehört Leben doch ausschließlich der reinen Ausdruckssphäre an. 375 Diese Position läßt ihn auch besser als andere den »eigentümlichen Sinn des Mythischen« verstehen, gleichzeitig hält sie seine Lehre aber auch wie »gebannt im Kreis der mythischen Anschauung«. 376 Seine Philosophie und deren Bildverständnis sei selbst Mythos, sei eine mythische Sichtweise. 377 Für die ist das mythische Bild, der mythische Ausdruck kein Zeichen oder Symbol für etwas, sondern die Wirklichkeit selbst. Damit hypostasiert sie die »Ausdruckswelt zur allein-wirklichen Welt«, was sie in der Konsequenz zur Metaphysik werden läßt. Die höherstufigen Funktionen bzw. Dimensionen der gegenständlichen Wahrnehmung, der Darstellung und der Bedeutung verfallen in Klages Philosophie grundsätzlich dem Verdikt der lebenstötenden Schematisierung, die die »lebendige Wirklichkeit« zerstört. 378 Cassirer setzt sich ausführlich mit Klages’ Identifikation von Ausdrucksphänomen, Leben und ungeistigem Bild auseinander. Die damit behauptete Schranke zwischen Leben und Geist falle schon deshalb, weil die philosophische Reflexion auch die ursprünglichen Ausdruckserlebnisse als ideell bedingt enthüllt, d. h. sie als immanentes »Tun, nicht als bloßes ›Leiden‹« hervortreten läßt. Die Deutung des im Eros erfaßten »reinen Erlebnisses der Ekstase« als einer »Ent-Selbstung und Ent-Geistung« eröffnet bei Klages den Weg ausschließlich in ein »bildloses Leben«. 379 Trotz der Betonung des Lebens als Ausdrucksverhalten fehlt in seiner Ausdrucks- und Bilderlehre das Verständnis der ideellen oder geistigen Form als Tat. Cassirer entgegnet, daß nicht das »Leben an 374 375 376 377 378 379

Ebd., 24. Ebd., 241 f. Ebd., 24. Ebd., 208. Ebd., 25. Ebd., 208.

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sich« aus seinem »Schoße auch schon ›Bilder‹« entläßt, die in das Subjekt eindringen, sondern daß es allein der Geist ist, der durch »Berührung mit dem Lebensgrund« Bilder formt. Allerdings ist diese Art der Gestaltung nicht möglich, »ohne daß er in den Urgrund des Lebens wieder eintaucht, zurücktaucht«, der Geist allein würde »leere Schemen erzeugen«. 380 Er entfernt sich also im Gestalten von dem »›Urgrund des Lebens‹«, taucht aber gleichzeitig wieder in ihn zurück. Diese Ursprünglichkeit und Eigenständigkeit der Ausdrucksfunktion, zu der auch das ursprüngliche »Wissen von ›fremden Subjekten‹« gehört, welches nicht durch Reflexion mittelbar dargetan werden kann, habe Dilthey 1894 in seinen Ideen einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie zunächst nicht erfaßt. 381 Er gründet dieses Wissen hier noch auf den mittelbaren Kausal- und Analogieschluß, der sich aber als paradox erweist. 382 Damit bleibt die Gewißheit, »daß die Wirklichkeit des Lebens nicht auf den Kreis des eigenen Daseins und der eigenen Bewußtseinsphänomene beschränkt ist«, zunächst bloß eine fragwürdig gesicherte diskursive Einsicht. Und wegen dieser Fragwürdigkeiten verlegte man den Standort der Betrachtung aus dem »Gebiet des Intellekts« in das der ›intuitiven‹ Begründung, d. h. in das »Erleben« als dem »Miterleben« des Anderen. 383 Doch auch für die intuitive Begründung (›Einfühlung‹) bleibt die intersubjektive Wirklichkeit eine »entlehnte«, keine unmittelbar selbst gegebene Tatsache. Deshalb kann Cassirer hierin keinen Gewinn einer größeren »Lebensnähe« finden. Das »Phänomen des Lebens« werde auf diese Weise nicht faßlicher und nicht sicherer. Allein der Rückgang auf die allem vorausliegende Ausdruckswahrnehmung biete eine befriedigende Erklärung. Nur der »unmittelbare, der schlichte Ausdrucks-Sinn« weist auf das Fremdpsychische. 384 Es sei das »Verdienst Schelers« gewesen, dies erkannt und mit der These der primären »Ausdrucks-Einheiten und Ausdrucks-Ganzheiten« gelöst zu haben. Mit der von Scheler385 behaupteten ursprünglichen Neutralität des in der Wahrnehmung erlebten »einheitlichen Lebensstromes«, an dem erst zwei verschiedene Aktrichtungen – die Auseinander- und die Ineinanderschau – die Zerlegung in Physisches und Psychisches symbolisierend vollziehen, hebt Cassirer nur das »eine Moment« heraus, das genau in der

380 381 382 383 384 385

Ebd., 209 f. Siehe dazu Dilthey (1924: GS V). PsF III: 95 f.; ECW 13: 92. Ebd., 97 f.; ECW 13: 93. Ebd., 99 f.; ECW 13: 96. Cassirer verweist u. a. auf Schelers Wesen und Formen der Sympathie [1923].

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Richtung seiner eigenen Problemstellung liege. 386 Bei Scheler würden zudem die späteren Differenzen von sachlicher und personaler Wahrnehmung in einer Verschiedenheit der »›symbolischen Funktion‹« ihren Anfang nehmen. »Aber noch in einer anderen Hinsicht ist das Ergebnis, zu dem Schelers Untersuchung gelangt, für uns bedeutsam. Denn wieder tritt jetzt in aller Schärfe hervor, daß die ›Ausdrucksfunktion‹ ein echtes Urphänomen ist, das auch im Aufbau des theoretischen Bewußtseins [ . . . ] sich in seiner Ursprünglichkeit und in seiner unvertauschbaren Eigenheit behauptet«. 387 Allerdings wird dieser Grundfunktion viel »an Boden abgewonnen«, wenn sich das »reine ›Bild‹ des Lebens in die Form des dinglichen Daseins« umsetzt. Bei Scheler bestätige sich die Einsicht, wonach höhere symbolische Funktionen ihre Wirksamkeit nur dann entfalten können, »sofern sie die Urschicht der Ausdruckserlebnisse in seiner schlechthin originären und originalen Form bereits voraussetzen«. 388 Als Phänomenologe ist Scheler methodisch den auf das Leben gerichteten »Weg der ›subjektiven‹ Analyse« gegangen und hat so den Gehalt des Ich- und des Fremdbewußtsein aufgewiesen. Dabei schreite auch er ganz im Sinne der Natorpschen Rekonstruktion vom voll entwickelten Erfahrungsbewußtsein rückwärts zu ›primitiveren‹ Bewußtseinsgestaltungen, wobei er auf die ursprüngliche Ausdruckswahrnehmung stößt. Cassirer selbst geht umgekehrt den Weg der ›objektiven‹ Analyse, der von den objektiven Gebilden der kulturellen Wirklichkeit seinen Ausgang nimmt und rekonstruierend rückwärts z. B. zu der ›primitiven‹ geistigen Energie des Mythos führt. Folglich sucht auch er »auf dem Wege der ›Rekonstruktion‹ die Bewußtseinsschicht zu erreichen, die diesem Gebilde entspricht«. 389 Erst beide Betrachtungsweisen zusammen lassen den »doppelten Blickpunkt« gewinnen, »in welchem sich die Tiefendimension des reinen Ausdruckserlebnisses für uns aufschließt«. 390 Die moderne Metaphysik, soweit sie sich als phänomenologische Ontologie versteht (N. Hartmann), 391 scheitere jedoch am Problem der ursprünglichen, nichtreflexiven Weise des Verstehens, d. h. am Ausdruck-

386

PsF III: 101 f.; ECW 13: 97. Ebd., 102; ECW 13: 98. 388 Ebd., 103; ECW 13: 98. 389 Ebd., 104; ECW 13: 99 f. 390 ›Objektive‹ und ›subjektive‹ Richtung meint hier – wie in PsF II ausgeführt –, die Richtung entweder auf die Welt der Werke oder die auf das Ich/Du hin. Zusätzlich wird für beide Richtungen jeweils die objektiv-konstruktive und die subjektiv-rekonstruktive Untersuchungsrichtung unterschieden. 391 Bei N. Hartmann bezieht sich Cassirer u. a. auf die Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis [1921]. 387

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verstehen, das nicht an die »Bedingung der begriffl ichen Interpretation« geknüpft ist und noch keine »Form der Ent-Zweiung« zwischen Seele und Leib kennt. 392 Der Hartmannschen Ontologie stellt Cassirer die Metaphysik eines Klages gegenüber, die das »Ausdrucksphänomen in seiner eigentümlichen Struktur beläßt und es in dieser Struktur anerkennt«. 393 Deshalb werde sie auch besser als die phänomenologische Ontologie mit dem Leib-Seele-Problem fertig. Für Klages bedeuten nämlich die reinen Ausdruckserlebnisse gewissermaßen den »Archimedischen Punkt«, womit die »Trennung des Seins in eine leibliche und seelische ›Hälfte‹« dahinfällt, ebenso die von Zeichen und Bezeichnetem. Cassirer bescheinigt Klages eine »prägnante Formulierung«, die eine rein »symbolische Relation« beschreibe. 394 Dagegen sieht er in Bergsons Metaphysik des Lebens, die den Anspruch erhebt, vollständig den Symbolen entraten zu können, die »radikalste Absage gegen den Wert und gegen das Recht aller symbolischen Formung« in der Geschichte der Metaphysik. 395 Dies schließt für ihn aber nicht aus, daß sich Bergsons Metaphysik in bestimmten Aspekten »in ihrem Ergebnis unmittelbar« mit Positionen der Philosophie der symbolischen Formen »zu berühren scheint«. 396 Auch Spenglers »organologische Metaphysik der Geschichte« bzw. der Kultur bleibt nicht ohne Relevanz für Cassirers »eigenes systematisches Problem, für das Problem der symbolischen Formung«. 397 Denn Spengler »scheint eben dieses Problem in seiner eigentlichen Tiefe und in seiner ganzen Weite, in seiner wahrhaften Universalität ergriffen zu haben«, ist doch für ihn die »gesamte Sprache der Kultur und die Sprache der Geschichte in Symbolen geschrieben«. 398 Der »Symbolbegriff als der eigentliche methodische Brennpunkt von Spenglers Philosophie« wird allerdings ebenfalls auf die Leistung »in der reinen Ausdrucksfunktion« beschränkt. Aller »Darstellungs- und Bedeutungs-Sinn [wird] in reinen Ausdrucks-Sinn verwandelt«, wie schon »Klages’ Ausdruckslehre« setzt seine Metaphysik allein auf die Physiognomik. Auf die Weise enthüllen sich zwar die »inneren Zuständlichkeiten« der überindividuellen ›Kulturseelen‹, nicht aber ihr »objektiver Sinn«. Der Anspruch des Denkens, allgemeine Wahrheiten zu erkennen, scheitere an der »Einmaligkeit und

392

PsF III: 110; ECW 13: 105. Ebd., 116 f.; ECW 13: 112. 394 Ebd., 117; ECW 13: 112 f. 395 Ebd., 43 f.; ECW 13: 42. 396 ECN1: 46. Siehe dazu auch den nachfolgenden Abschnitt 6.3.3. 397 Dies bezieht sich auf Spenglers Untergang des Abendlandes [1918]. Siehe dazu auch Möckel (2003a: 105 ff.). 398 ECN 1: 103. 393

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Einzigkeit« aller »echten Ausdrucksphänomene«. 399 Mit diesem Relativismus und Skeptizismus verschwindet der Gegenstandspol aller Formwelten, es bleibt allein »der reine Ichpol, der seelische Pol zurück«. Überhaupt führe diese Metaphysik der Geschichte in die Paradoxie, daß sie als Analogieschau und Morphologie die gerade überwundene überoder unzeitliche Objektivität und Sachhaltigkeit der Kulturphänomene in Gestalt der organischen Lebensformen wieder behauptet. Mit dem Bestehen auf überzeitlicher Objektivität wird aber der gewählte physiognomische Standpunkt reiner Ausdrucksphänomene verlassen. Während »geschichtliches Leben« als bloß strömende Bewegung angesehen werden kann, gilt dies nicht für seine Erkenntnis, die die analogen Formen vergleichend erschauen muß. Folglich tritt das »Ideal der ›Morphologie‹«, in dem Spengler selbst die »Erfüllung des Ideals der ›Physiognomik‹ sieht«, zu dieser Formenlehre »in einen nicht zu verkennenden und nicht zu schlichtenden Gegensatz«. 400 Trotz des Hervorhebens der physiognomischen Ausdrucksphänomene hypostasiert diese Geschichtsphilosophie die Kulturen zu Dingen, die »nur nachträglich in die Form des Wirkens übergehen«. 401 Deshalb steht für Cassirer die Organologie »immer im Banne jener Metaphysik der substantiellen Formen, welche die Physik fortschreitend überwunden hat«. Für ihn selbst stellen die historischen Kulturen und ihre Formen dagegen keine substantiellen Formen dar, sondern reine »Funktionseinheiten«, allerdings keine ausschließlich auf dem mythischen, bildhaft-anschaulichen Ausdruck beruhende. Vielmehr sind sie nur zu fassen, »wenn wir entschlossen in das Reich der reinen Bedeutungen übergehen« und damit zwangsläufig das »Reich des Lebens entschlossen verlassen«. Die Kultur als Relationsbegriff lasse sich nämlich nicht, wie Spengler es beansprucht, »ins anschauliche Gebiet hineinziehen«, lasse sich nicht in rein »anschauliche Dimensionen« der Ausdrucksphänomene bannen. 402 Wäre dies möglich, dann bestünden wirklich »statt Bedeutungseinheiten bloß ›physiognomische‹ Einheiten«. Dagegen bescheinigt Cassirer Plessner und Scheler, durch ihre Ansätze zu einer philosophischen Anthropologie, in der das Verhältnis von Leben und Geist eine zentrale Position einnimmt, das von ihm selbst aufgenommene Symbolproblem bzw. kulturelle Sinnproblem nachdrücklich gestellt zu haben. 403 Das ist insofern bedeutsam, weil allein von 399

Ebd., 104. Ebd., 196. 401 Ebd., 244. 402 Ebd., 245. 403 Cassirer hat hier Plessners Die Stufen des Organischen [1928] und Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos [1928] im Auge. Siehe dazu auch Orth (1991). 400

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diesem Problem aus die Frage nach dem Wesen des Menschen mit Erfolg zu stellen sei. 404 Im Bestehen auf dem Gedanken der geistig-kulturellen Vermittlung des ursprünglich unmittelbaren vitalen Daseins stimme die Philosophie der symbolischen Formen deshalb weitgehend mit Plessners und Schelers philosophischer Anthropologie überein. 405 Die geistigen symbolischen Formen ziehen bekanntlich die »Demarkationslinie zwischen dem Menschen und der Gesamtheit der Welt des Lebendigen«. 406

6.3 Grundgegensatz von Leben und Geist Die bereits erwähnte kulturphilosophische Fragestellung, ob die Scheidungen der geistigen Schichten, die sich »mehr und mehr zu entfremden drohen«, in der »urtümlichen Konkretion des Erlebens« noch einmal überwunden, zurückgenommen werden können, wie dies die intuitionistische Lebensphilosophie verspricht, stellt für Cassirer, der eine Wendung von der Kantischen »Kritik der Vernunft« zur »Kritik der Kultur« vollzogen hatte, 407 eine sehr wichtige Thematik dar. 408 Da diese Lösung dem alten Problem jedoch lediglich einen »neuen Ausdruck« gibt, beseitigt sie doch keineswegs die Dialektik von mannigfaltigen Formen und einheitlichem Leben, gilt sie ihm als eine nur scheinbare. Wenn wir die »objektive Gegensätzlichkeit der ›Formen‹ in der Einheit des ›Lebens‹ aufgehen lassen«, dann ist sie damit »nur in den Begriff des Lebens selbst zurückverlegt«. 409 Diese Dialektik stehe im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als der »Gegensatz von ›Leben‹ und ›Geist‹« ganz im Mittelpunkt der Metaphysik und subsumiere alle anderen Gegensätze unter sich. Nach Cassirers Überzeugung leistet seine Philosophie mit ihrem Zentralbegriff der Symbolisierung die »eigentliche Vermittlung dieses Scheingegensatzes«, den vor allem Lebensphilosophen als den »Grundgegensatz der modernen Philosophie« behandeln. Einige der von ihnen dargebotenen »modernen Theorien des ›Lebens‹« erscheinen ihm »völlig ungenügend, weil sie am Leben vielmehr nur das bloß Naturhafte, das biologische Element herauslösen«, und das geistige, ideelle, formende

404 405 406 407 408 409

ECN 1: 35 f. Ebd., 60, Anm. 1. Ebd., 36. PsF I: 11; ECW 11: 9. ECN 1: 6. Ebd., 7.

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Element vernachlässigen. 410 Das »eigentümliche Problem des ›Lebens‹« erschließe sich aber nicht als ein »bloß naturhaftes ›Dasein‹«, sondern als ein »geistiger Prozeß«. Zum Geistigen wiederum kommt es nicht »im bloßen Leben, sondern in der Form, die das Leben sich selbst gibt – und diese ›Form‹ erschließt sich eben nicht im bloß vegetativ-biologischen Dasein, noch in der biologischen Entwicklung – sondern im freien Tun – d. h. in der Schaffung der symbolischen Formen«. Den Tatbestand, daß allein in diesen Formen »das ›Leben‹ zur ›Form‹« gelangt, daß es sich allein in ihnen »mit der ›Form‹ versöhnt«, bezeichnet Cassirer als den »Sinn des ›Lebens‹«. Dieser bleibe den modernen Lebensphilosophen in der Regel verschlossen, während ihn Vertreter des deutschen Idealismus wie Fichte, Schelling und Hegel tiefer erkannt hatten. Deshalb vermochten sie es, die Antithese Leben-Denken »durch den neuen idealistischen Begriff des Geistes« zu überwinden. 411 Dieser Begriff verneint das »bloße ›Leben‹ (als Dasein) [ . . . ], um erst das voll entfaltete konkrete Leben zu ›setzen‹«, d. h., als lebendigen Geist. Der gewinnt die »Form des Lebens, indem er sich von seiner bloßen Unmittelbarkeit löst – dies am deutlichsten in den ›symbolischen Formen‹ in Sprache, Kunst, Erkenntnis«. Durch dieses Loslösen »weiß der Geist erst sich selbst« als unmittelbar und vermittelt, als »Synthese von Leben und Form«. Für Cassirer macht diese »Einheit (Synthese) von Leben und Form« den »eigentlichen Begriff des Geistes, sein ›Wesen‹ aus«. 412 Zu den Vertretern einer eher biologisch-vitalistischen Deutung des Lebens zählt Cassirer neben Schelling und Nietzsche vor allem Bergson, in gewissem Sinne auch Spengler. Simmel und Scheler gelten ihm dagegen als Philosophen des Lebens, die einem idealistischen Geistbegriff anhängen und sich deshalb dem Konzept des lebendigen Geistes nähern. In Bezug auf Nietzsche betont er die Unterwerfung der Vernunft unter den Lebenswillen, was keine Versöhnung oder Vermittlung zwischen Leben und Geist mehr zuläßt, wie sie auch bei Klages völlig ausgeschlossen ist. Die einen Vertreter der modernen Metaphysik des Lebens scheitern also grundsätzlich an der in der symbolischen Gestalt des lebendigen Geistes versöhnten Beziehung von Geist und Leben, andere dagegen kommen dieser Lösung unterschiedlich nahe. Beide Aspekte sucht Cassirer in den Texten von 1927 bis 1929/30 klar und prägnant aufzuweisen.

410 411 412

Ebd., 266. Ebd., 266. Ebd., 267.

266

viertes k apitel 6.3.1 Nietzsche und der ›Wille zur Macht‹

Zunächst fällt erst einmal auf, daß Cassirer, ganz im Unterschied zu Simmel, Scheler oder Rickert, 413 Nietzsches Lebensphilosophie und ihren Begriff des Lebens als Willen zur Macht explizit erst seit 1928 in den Blick nimmt und sich kritisch mit ihr auseinandersetzt, obwohl ihm gewiß auch früher schon klar war, daß z. B. Simmel und Klages Nietzschesche Ansätze samt Begrifflichkeiten aufnehmen und weiterführen. Noch das Hauptwerk PsF enthält keinerlei ausdrücklichen Hinweis auf Nietzsche. Und dies, obwohl Cassirer als Exponenten der philosophischen GoetheDeutung Nietzsches Verehrung für den Olympier gewiß nicht verborgen geblieben war. In seinen geistesgeschichtlichen Studien FF (1916) hatte er zwar den durch Romantik und moderne Lebensphilosophie vollzogenen Entgegensetzungen von Wille (Leben) und Geist (Denken) Aufmerksamkeit geschenkt, dabei aber Nietzsches Positionen nicht explizit einbezogen. Selbst das Schopenhauer-Kapitel in EP III (1920) enthält keinerlei Hinweis auf die Haltung zu Nietzsche. Implizit richtet sich die 1913 formulierte Kritik an der Unterordnung des Geistes unter den Willen aber wohl schon an Schopenhauer und Nietzsche. 414 Und im Aufsatz »Goethes Pandora« (1918) scheint der ungenannte Nietzsche implizit präsent zu sein, wenn es um den Gegensatz von »dionysischem Rausch« (Tat) und »apollinischer Klarheit« (Sehen) geht. 415 Bezeichnenderweise erfolgt die erste explizite Auseinandersetzung mit Nietzsches Lebensbegriff 1928 in dem Manuskript, das ebenfalls erstmals den Lebensbegriff beim reifen Simmel einer grundsätzlichen Betrachtung unterzieht. 416 Dennoch werden dessen gedankliche und terminologische Entlehnungen bei Nietzsche nicht diskutiert. 417 Cassirer setzt sich aber ausführlich mit Nietzsches metaphysischer Lösung des Verhältnisses von Leben, als dem Willen zur Macht, und Geist, als dem Intellekt, auseinander. Von nun an finden sich in vielen publizierten und unpublizierten Schriften zu unterschiedlichsten Anlässen kurze Hinweise oder Auseinandersetzungen mit Nietzsches Lebensphilosophie, die er in Klages‹ Lehre zum »folgerechten systematischen und historischen Abschluß« gebracht sieht. 418 »Jene Auffassung des Geistigen, jene Ansicht 413

Für Rickert hat Nietzsches »Dichtung ›Also sprach Zarathustra‹« ohne Zweifel »die Lebensstimmung der Zeit am meisten [ . . . ] angeregt«. – Rickert (1922: 20). 414 EBK: 27 f.; ECW 9: 159 f. 415 IG: 24 f.; ECW 9: 260. Siehe dazu auch Gerhardt (2000: 20). 416 Zum Verhältnis Cassirers zu Simmel siehe u. a. Geßner (1996). 417 Siehe ECN 1: 8, 10, 11, 18. 418 Ebd., 26.

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vom ›Intellekt‹, die ihn schlechthin zum Sklaven des Willens macht«, sei zuerst bei Schopenhauer und Nietzsche entstanden, die deshalb als Vorläufer der modernen Lebensphilosophie gelten. Dieser Auffassung widerspricht der »symbolische Idealist« selbstverständlich ganz energisch. Im Unterschied zu Simmel kann er dabei jedoch Schopenhauers Philosophie mehr abgewinnen als der Nietzsches. So lasse Schopenhauer den Intellekt und seine Taten, die dieser in Kunst, reiner Erkenntnis oder Religion vollbringt, sich letztlich doch noch aus der Verkettung mit dem Willen losreißen und gegen ihn kehren. Für Nietzsche dagegen hat diese Umkehr ihren Sinn verloren, weshalb bei ihm auch alle Taten des Intellekts »den Schein der Selbständigkeit, mit dem sie sich schmücken«, eingebüßt haben. 419 In diesen Taten sieht Nietzsche nur noch Verkleidungen und Masken, »mit denen der allgewaltige, der alleinherrschende ›Wille zur Macht‹ sich zudeckt«. Diese Äußerungen beziehen ganz offensichtlich auf die entsprechenden Aphorismen Nietzsches im 3. Kapitel »Die maskierten Arten des Willens zur Macht« (II. Buch) der posthumen Zusammenstellung Der Wille zur Macht (1901). 420 Dabei gesteht er Nietzsche allerdings eine folgerichtige, schlüssige Argumentation zu, die aber zur »völligen Entwertung und Verwerfung« des Geistes führt. Die Prämisse der ganzen Argumentation jedoch, d. h. der »Begriff vom ›Geist‹, der hier vorausgesetzt wird«, erscheint ihm äußerst frag- und einspruchwürdig. Die »Lebens- und Willens-Metaphysik«, zu der Nietzsche als wichtiger Ideengeber gehört, habe mit ihrem Geistbegriff letztlich ein »bloßes Idol, ein Trug- und Schreckbild« erschaffen, dem nichts Faktisches, dem keine »selbständige Macht« entspricht. Es sei nicht mehr als ein Spuk, wenn die Willens-Metaphysik im Geist lediglich eine »fremde und transzendente, eine dämonische Schicksalsmacht« sieht, die »in die Welt des Lebens einbricht«. 421 Diese dunklen Schatten verschwinden nämlich sofort, wenn der Geist nicht metaphysisch, nicht transzendent-substantiell gedeutet, sondern gezielt in seinen »reinen Phänomenen« verfolgt wird. Genau dies tue die Philosophie der symbolischen Formen, was sie auf einen Erkenntnisweg »durch die konkreten Gebilde des Geistes hindurchführt«. Und auf diesem Weg erscheint der Geist eben nicht »sowohl als ›Wille zur Macht‹, als vielmehr als Wille zur Gestaltung«, d. h. er erweist sich als das Bestreben, die Welt in unterschiedliche Formen von Bedeutung anzuschauen.

419 420 421

Ebd., 27. Nietzsche (1980: Bd. II, 206). ECN 1: 27.

268

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Diese symbolischen Gestaltungsformen stehen dabei am Anfang ihrer jeweiligen Entfaltung, d. h., auf ihrer primitiven magischen Stufe, sehr wohl unter der Leitung des Affekts, des Bedürfnisses und des Willens. Die auf dieser Stufe durch die Menschen eingebildete, wie ein Zauber agierende ›Allmacht des Willens‹ erweist sich aber als das früheste Stadium. Bald weicht die magische »Wirk-Welt« der reinen Anschauungswelt, der »reinen Schau der Wirklichkeit« und damit ist es mit der Allmacht des Willens ein für allemal vorbei. 422 Das das einstige magische Erwirken ablösende Schauen trägt bei Cassirer rein kontemplative, ideelle Züge. Es geht »über den Urgrund des ›Lebens‹ zwar hinaus – aber dieser wird damit weder zerstört, noch vergewaltigt«. Das sich dabei an den angeschauten Gegenständen vollziehende Tun hat mit dem Wirken im mythisch-magischen Sinne nichts mehr zu tun. Diesen Unterschied hält die moderne, sich auf Schopenhauer und Nietzsche stützende »Metaphysik des Lebens« nicht nur nicht auseinander, sondern läßt im Gegenteil beides ineinander aufgehen. Das strömende und strebende Leben bzw. der Lebenswille ist zwar als der »Urquell aller Wirklichkeit« zu verstehen, doch für sich allein vermag das Leben nicht als der »Quell der Symbole, in denen uns diese Wirklichkeit erst faßbar wird«, zu fungieren. 423 Die Symbole entstammen eben dem »Gegenpol« des Lebens – den »reinen Energien des Geistes«. Mit dieser Kritik, die sich nicht auf die Begriffe Leben und Wille als solche, sondern auf ihre Deutung durch die Lebensphilosophie richtet, endet 1928 Cassirers Nietzsche-Rezeption. Sie wird erst wieder gegen 1940 im EP IV aufgenommen, wo Nietzsche als scharfsinnigen Kritiker des Historismus gewürdigt wird. 424 Etwa zur gleichen Zeit setzt sich Cassirer auch im Manuskript »Über Basisphänomene« mit ihm auseinander. Nietzsches biologistische Auffassung von Geist und Willen wird hier mit denjenigen Erkenntnislehren in Zusammenhang gebracht, die den Erkenntnis- bzw. Wahrheitswert ausschließlich an die »radikale Außen-Wirkung« binden. 425 In den Schriften des letzten Lebensjahres 1944/45, die von der Sorge um die Zukunft der 422

Ebd., 27 f. Ebd., 30. 424 EP IV/ECW 5: 253, 321. 425 Diese zentrifugalen Erkenntnistheorien werden vom »Drang zur Expansion«, von der »Wendung zur Welt – [zur] Eroberung der Welt« getragen, weshalb ihnen der »Wille als bloßer blinder Lebenstrieb« zu Grunde liegt. (ECN 1: 180) Durch die Beunruhigungen des Jahres 1940 bewegt und getrieben notiert sich Cassirer, daß diese u. a. von Nietzsche vertretene »Reduktion der Wahrheit auf die Wirkung« alle diejenigen Theorien charakterisiert, »die den ›Willen zur Macht‹ zum obersten Prinzip erheben«. Und das sind für ihn »die faschistischen Theorien ebensowohl wie die marxistische Lehre vom Überbau«. – Ebd., 183. 423

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europäischen Kultur geprägt sind, kommt Cassirer erneut auf Nietzsches Philosophie des Lebenswillens als eines Machtwillens zurück. 426 Auch weitet er den Einwand, den er gegen Bergsons Kunsttheorie erhebt, auf die »psychologische Theorie Nietzsches« aus. 427 Außerdem gewinnt er nun der Forderung Nietzsches, die Historie habe zwar dem »Leben und Handeln« zu dienen, diesem aber keine Vorgaben zu machen, da sie sonst dem Leben schade, nichts Zustimmendes mehr ab. 428 Noch distanzierter wirken die knappen Äußerungen, die Cassirer im MS zu Nietzsche macht, wo er ihn mit dem Rassentheoretiker Gobineau in Zusammenhang bringt. 429 Außerdem polemisiert er hier gegen »Nietzsches ›Immoralismus‹«. 430 Zur gewachsenen Distanz mag während der Kriegsjahre nicht zuletzt der Mißbrauch beigetragen haben, der mit Schlagwörtern aus dessen Werken (›Übermensch‹, ›Wille zur Macht‹ etc.) getrieben wurde. 6.3.2 Klages und die Anklage wider den Geist Wenn die »Metaphysik des Lebens« bestreitet, daß die geistigen Formen der »reinen Lebensbewegung« gewachsen sind, dann bezieht sich dies auch auf den Übergang zur werdenden Form, auf die ›Wendung‹ des Lebens zur Idee. Diese gilt ihr nämlich nicht als »Steigerung dieser reinen Lebensbewegung«, sondern als deren »Erschlaffung und Verkümmerung«. Auch wenn diese ›Wendung‹ als die »Fortsetzung des Lebensprozesses« erscheint, bedeute sie in Wirklichkeit den »Abfall« von ihm. 431 Insbesondere die »romantische Philosophie« (Lord Byron) habe dies zum Ausdruck gebracht. In der modernen Metaphysik jedoch sei diese »romantische These von der unüberbrückbaren Kluft zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹« von niemandem so scharf betont worden, »als es von Klages geschehen ist«, und dies vor allem in dem Werk Vom kosmogonischen Eros. 432 Auch in Mensch und Erde hebe er ganz entschieden die »lebenszerstörende Bedeutung« des Geistes hervor. 433 Nur jenseits des

426

VM: 44. Ebd., 250. 428 Ebd., 274. 429 MS: 306. 430 Ebd., 349. Vgl. dazu auch Rickert (1922: 27). 431 ECN 1: 22 f. 432 Ebd., 23. 433 Klages sieht mit dem Geist, symbolisiert durch den von seinen Fesseln befreiten Prometheus, eine »außerweltliche Macht in die Sphäre des Lebens einbrechen.« – Klages (1929: 38). 427

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Geistes, in der Seele bzw. in der Ekstase, vermag das »Leben noch einen Rückgang zu sich selbst zu gewinnen«. Der Geist, dessen »Hang zum Abstrakten« Klages als ein »Entartungsmerkmal« auffaßt, 434 entreißt den Menschen dem ihn durchfließenden »›Rhythmus des kosmischen Lebens‹«. Die »Welt der geistigen Formen« erscheint deshalb dem »Urgrund des Lebens« gegenüber als das Transzendente und absolut Negative. 435 Bei Klages verfallen außer der emotionalen Ausdrucksfunktion alle höherstufigen Funktionen wie die gegenständliche Wahrnehmung oder die sprachlich-anschauliche Darstellung grundsätzlich dem Verdikt der lebenstötenden Schematisierung. Weil die, indem sie die »Wirklichkeit des Lebens« verfehlt, diese zerstört, erhebt er kraftvoll Anklage »von Seiten des Lebens gegen den ›Geist‹ und gegen die Welt der geistigen Formen«. 436 Doch mache er sich kaum die Mühe, diese Anklage für jede einzelne geistige Form zu beweisen, vielmehr reduziert er die Vielfältigkeit der Formen auf eine bestimmte Seite des Geistigen – auf das »technische Bewußtsein«, 437 das herrschen wolle und sich so von der »Fülle des Lebens« trennt. 438 Cassirer widerspricht dem Anspruch, daß mit der Argumentation gegen die technische Form des Geistes der eigentliche Sinn der Kultur bereits widerlegt sei. Vielmehr komme bei Klages eine falsche und fatale Deutung des Kultursinns zu konsequentem Abschluß. Diese führe auf eine »bestimmte Grundrichtung der Metaphysik des Lebens« zurück, die mit Schopenhauer und Nietzsche begonnen habe. Cassirer hat dabei »jene Auffassung des Geistigen« bzw. des Intellekts im Auge, »die ihn schlechthin zum Sklaven des Willens macht«. 439 Das gelte insbesondere für die Bestimmung, die in Nietzsches »alleinherrschendem ›Willen zur Macht‹« offenbar wird. Den hierbei zugrundegelegten »Begriff vom ›Geist‹« hält er, wie bereits erwähnt, für ein selbst erschaffenes »Trug- und Schreckbild«, das sich sofort verflüchtigt, sobald wir den Geist in »seinen ›Taten und Leiden‹« erfassen. 440 In der Konsequenz gelangt Cassirer zu einer grundsätzlich anderen Diagnose der objektivierten Kultur als diese »bestimmte Grundrichtung der Metaphysik des Lebens«. Die scheue in ihrer Geist- und Intellektfeindschaft nicht

434

Klages (1926: 199). ECN 1: 24. 436 Ebd., 25. 437 Technikbegriff und die lebensfeindlichen Folgen der technischen Kultur umreißt Klages in dem gleichnamigen Beitrag »Mensch und Erde«. – Klages (1929: 11–41). 438 ECN 1: 26. 439 Ebd. 440 Ebd., 27. 435

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vor der Konsequenz zurück, Sprache und Erkenntnis, Dichtung und bildende Kunst als geistige Formen in leeren schematischen Phantasmagorien aufgehen zu lassen. 441 Um aber die »Rechtsprechung des Geistes« vollends zu entwerten, muß sie sich dieser Formen bedienen und sie so »mittelbar anerkennen«. Auch indem die Metaphysik des Lebens sich wertend zur Wirklichkeit verhält, erkennt sie diese zumindest mittelbar an. Ihr Ziel ist es, die »Wert-Ordnung« des Geistes durch die des Lebens zu ersetzen: »Aber – so kann und muß jetzt gefragt werden -: ist der Wert des Lebens ein rein in ihm selbst liegendes, ein immanentes Moment – oder gehört er nicht von Anfang an einer anderen Dimension an? Liegt er im bloßen Sein des Lebens beschlossen, oder konstituiert er sich nicht erst dadurch, daß wir über diesem Sein eine Norm aufrichten und es an dieser Norm messen? Und der Sinn dieser Norm, das eigentlich wertsetzende Prinzip, kann zuletzt immer nur in der Welt des Geistes aufgewiesen werden«. 442 Die »Welt des Geistes« kennt zudem die Möglichkeit der Umkehr des richtunggebenden Prinzips, was jedoch »keinen Abfall des Geistes von sich selbst« bedeutet. 443 Diese Umkehrmöglichkeit ist vielmehr eine »Form der Bewährung und der Selbstbetätigung« des Geistes, dessen »eigentliches Schicksal« und dessen »eigentliche Leistung« eben das »Zwei-in-Einem-Sein« ist. Das Leben als solches kennt keine »derartige Rückwendung und keine solche Bestätigung«, weil es »in seiner ungebrochenen Einheit verharrt« bzw., ohne den Impuls des Geistes, verharren würde. Allein der Geist ist der »Selbstverneinung« als einem »Akt der Selbstbehauptung« fähig. Wohlgemerkt, der Geist als das zu sich gekommene Leben, nicht aber ein an sich lebensfremder Geist. In Cassirers Lesart versteht Klages all dies nicht, ja weist es sogar weit von sich. Indem er den Ausdrucksphänomenen jegliche ideelle, geistige Dimension abspricht, entwickelt er auch eine Bildtheorie, die genau dieselben, das Leben von aller Geistigkeit befreienden Defekte an sich trägt. Ganz offenbar in Anspielung auf Nietzsches Geburt der Tragödie aus der Musik stellt Cassirer in dem Zusammenhang fest, daß das Bild eben »nie rein ›dionysisch‹« ist, sondern auch ›apollinisch‹, »und das will heißen – Sokratisch«. 444 Alles Wertsetzende, alles Apollinische ist in diesem Verständnis aber schon Geist. Klages und die gesamte Romantik setzten im Grunde ein »bestimmtes Wertsystem voraus, vermöge dessen sie das

441 442 443 444

Ebd., 30. Ebd., 31. Ebd., 32. Ebd., 210.

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Leben dem Geist überordnen«. 445 Aber auch dieses Voraussetzen erweist sich als ein originäres »Werk des Geistes«. In der wertmäßigen Überordnung negiere der Geist nicht das Leben, sondern sich selbst, und dies, indem er gegen sich selbst fragt. Das Fragen deutet Cassirer als die »Urfunktion« des Geistes: während Leben »ist« und nichts fragt, entsteht aus dem Fragen des Geistes das »Problem des Wertes«. Und, so heißt es etwas aphoristisch bei ihm, nur »der aus dem Paradies des Lebens Verstoßene kennt den ›Wert‹ des Lebens«. Diese Argumentation läßt an Rickerts Überlegungen zum Thema Wert und Leben denken. 446 Wenn vom Dualismus Leben-Geist die Rede ist, werde in Wirklichkeit oft die Selbstnegation des Geistes thematisiert. Deshalb stellt Cassirer fest, daß es den »Dualismus Leben-Geist« gar nicht gibt, sondern daß wir es vielmehr mit einem Dualismus zu tun haben, der »im Wesen des Geistes selbst« ruht und eine seiner »notwendigen, immanenten Äußerungsformen« darstellt. 447 Den Unterschied zwischen Leben und Geist bestimmt er im Anschluß an seine Klageskritik wie folgt: Das bloße Leben ist »blind-gestaltend«, es sieht nicht, wohin es gestaltet. Der Geist dagegen ist das »Prinzip des Sehens selber« und dieses ›Sehen‹ entfernt sich zwar vom Leben, vernichtet es aber keineswegs. Das Sehen hat ihm gegenüber »Vorrang und Vorrecht« und bewahrt es dabei. 448 Sollte die Behauptung richtig sein, daß die »cogitatio, das Bewußtsein dem Leben schlechthin inadäquat bleibt«, dann, so Cassirer, könne dies aber ein zweifaches bedeuten. Zum einen, daß die cogitatio das »Leben vergewaltigt, verfälscht«, und zum anderen, daß sie den »›Lebensgrund‹ nicht erschöpfen kann«. 449 Während er die Behauptung selbst nicht bestreitet, votiert er klar für die zweite Bedeutung. Dies überträgt sich auch auf seine Abgrenzung von Klages: »Der Punkt, an dem wir uns von Klages trennen, liegt darin, daß er den ›Geist‹, den er im unversöhnlichen Gegensatz zum Leben sieht, nur als technisches Prinzip der Herrschaft, des Willens, des Machtbedürfnisses sieht, der das Leben, die Erde fortschreitend unterjocht und entseelt«. 450 Bloße Technik und bloßer MachtWille aber zerstören »ebenso das reine ›Schauen‹, wie sie das reine ›Leben‹

445

Ebd., 211. Rickert (1999); Rickert (1922: 117 ff., 156 ff.). 447 ECN 1, 212. 448 »Der Geist bekommt sich selbst nur in Sicht, sofern er ständig auf das Leben, auf den schöpferischen Urgrund ›Rücksicht‹ nimmt – er entfremdet sich dem Leben, aber noch in dieser Entfremdung vermag er es zu ehren und zu schonen«, denn das Sehen »zerstört keineswegs die Substantialität des Lebens«. – Ebd., 213. 449 Ebd., 214. 450 Ebd., 213. 446

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zerstören«. Damit ist für Cassirer die Grenze erreicht: Er verneint »mit Klages die Form einer bloß technischen Zivilisation«, aber diese ist ihm »nicht gleichbedeutend mit den reinen ›Formen‹ des Geistes«. Diese lassen sich als vielfältige Sinnordnungen nicht auf technisch-pragmatische Mittel reduzieren: »Hier bleiben wir gegen Klages reine ›Theoretiker‹«, denen es nicht um pragmatisch-technische Zwecke geht. In diesem Sinne liegt für den Philosophen der Symbolisierungen die »wahre Seligkeit [ . . . ] nicht in dem Eins-Sein mit dem schöpferischen Lebensgrund« als einem praktischen Grund, sondern »in der nóesis noéseos«. 451

6.3.3 Bergson und der irrationale Wille Wenn sich für Bergson, z. B. in Introduction à la métaphysique, das »Wesen des Lebens« allein als ein stetiges »Fließen und Fluten« erschließt, dessen Strom ein diskursives, fi xierendes Denken unterbricht, dann schreibt er dem »echten und ursprünglichen Prozeß des Lebens« in qualitativer Hinsicht eine »unendliche Heterogenität« zu. Ein derart verstandener »Lebensstrom« läßt sich freilich nicht durch vereinheitlichende Begriffe bzw. Formen einfangen. Jede geistige Form erweist sich hier als »Feind des Lebens« und seiner qualitativen »Grenzenlosigkeit«. 452 Cassirer, der Bergsons Lebensbegriff kritisch gegenübersteht, weil der auf einer »biologischen Ansicht der Wirklichkeit« beruht, spricht ihm allerdings auch nicht jegliche Wahrheit ab. Da seiner Meinung nach zwischen dem Biologismus Bergsons und dem Vitalismus Schellings eine Reihe von Gemeinsamkeiten bestehen, dürfte die 1919 im EP III an Schellings Lebensbegriff geübte Kritik auch teilweise Gültigkeit für den Bergsons beanspruchen (siehe hierzu II.4.2). Allerdings vollendet bei Schelling die »formende Tätigkeit des Geistes« im Grunde die bildende Tätigkeit der organischen Natur, während Bergson einen dualistischen Gegensatz beider Tätigkeiten behauptet. 453 Die »Arbeit des Geistes« und der »Strom des Lebens« stören hier einander, da erstere letzteren räumlich einschränkt. Bergsons geistfeindliche Bilder und Metaphern sind aus Cassirers Sicht der »Dynamik des Geistes« überhaupt nicht angemessen, sie treffen diese einfach nicht. Auch die beschriebene Absonderung des »Urphänomens des Ich«, des »Erlebnisses der reinen Dauer«, hält er nur

451 452 453

Ebd., 214. PsF III: 44; ECW 13: 42 f. Ebd., 45; ECW 13: 43.

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beim empirischen Bewußtsein für möglich, nicht aber beim Bewußtsein derjenigen Formen, »in denen sich uns ein objektiver Bedeutungsgehalt zu eigen gibt«. 454 Hier verliere das Ich nämlich seine »ursprüngliche Lebendigkeit« gerade deshalb nicht, weil die Formen des Geistes die »Vehikel seiner Selbstbewegung und Selbstentfaltung« sind. Außerdem sieht Cassirer in den Formen die Bedingung dafür, daß das Ich nicht nur »ist«, sondern auch von sich »weiß« (Hegel). Bergson dagegen beschränke sich auf das »reine Phänomen des Lebens«, das frei ist von allen »Formen des Wissens«, gleichzeitig verspricht er aber ein unmittelbares ›Wissen vom Leben‹ durch die keinerlei Symbole bedürfende Metaphysik. Auf Grund der vorbegrifflichen, unmittelbaren »intuitiven Schau« fehlen aber der »Selbsterfassung des Lebens« die notwendigen Ausdrucksmittel. Wenn sich das Leben nicht selbst Formen gibt, gewinnt es keine ›Andersheit‹ und damit keine ›Sichtigkeit‹, gewinnt es kein Wissen um sich selbst. 455 Folglich bedeutet die Form vielmehr die »Manifestation und Offenbarung« des Lebens anstelle seiner Knechtung und Zerstörung. Die »Energie der reinen Lebensbewegung« bedarf der »Welt der Formen« als einer ihrer Bedingungen, das Leben kann sich nur in Formen äußern, die ihm Widerstand entgegenbringen. Während einerseits »jeder Versuch scheitert, das Gebiet der Form schlechthin zu transzendieren« und in ein Leben vor allen Formen vorzustoßen, vermag andererseits der Geist dieses Gebiet der Form nur dann »vollständig zu durchmessen«, wenn er auch über das Leben in der Form etwas aussagt. 456 Im Weiteren bemerkt Cassirer an der in L’ évolution créatrice dargetanen Deutung des Verhältnisses von Geist (Intellekt) und Leben (Intuition) aber auch, daß in ihr die Scheidung bzw. die »grundsätzliche ›Diskretion‹ der Lebensbereiche« pflanzliches Leben, tierischer Instinkt und »Leben der Vernunft« ausdrücklich betont sind. 457 Diese Lebensbereiche bzw. -formen gehen bei Bergson nicht einfach genetisch auseinander hervor, sondern stellen jeweils neue »Gesamtrichtungen des ›Lebenswillens‹ dar«, bilden jeweils divergierende Richtungen an ihm. Das erinnert Cassirer nun wieder an die eigene Philosophie der symbolischen Formen, zumal auch von ihr der »Trennungsstrich zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹ [ . . . ]

454

Ebd., 46; ECW 13: 44. »Die Welt des Lebens von der der Form schlechthin abzulösen und beide entgegenzusetzen, heißt nichts anderes als seine ›Wirklichkeit‹ von seiner ›Sichtigkeit‹ trennen«. – Ebd., 46 f.; ECW 13: 45. 456 Ebd., 48; ECW 13: 47. 457 ECN 1: 46. 455

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in höchster Schärfe gezogen [wird]«. 458 Doch kann die »Philosophie des Lebens« nicht bei der Feststellung stehen bleiben, daß sich das Leben als absolutes Sein in drei Richtungen spaltet, sondern muß einer »neuen Einheitsforderung« genügen. Dem »Nebeneinander der drei Lebensbereiche« soll nämlich ein einheitliches »Wissen vom Sein« entsprechen, das nur auf der letzten Stufe, d. h. im »Leben der Vernunft«, um sich weiß. Dieses Wissen oder »›Begreifen‹ ihrer selbst und ihrer eigenen Bedingtheit« ist als ein gefordertes »Erblicken der Totalität des Lebens vom ›Standpunkt‹ der Intelligenz« zu verstehen. 459 Und diese Aufgabe der Intelligenz vermag Bergson innerhalb seiner philosophischen Annahmen nicht rational zu erklären, wessen er sich auch bewußt sei. So war es ihm nur durch eine »fortschreitende ›Reduktion‹« (Natorp) gelungen, »jenes Bild der Natur und des Lebens zu entwerfen, das er der ›Intelligenz‹ gleich einem Spiegel vorhält«. 460 Um die Aufgabe trotzdem zu lösen, wagt er den Sprung in das der Intelligenz bzw. Vernunft »selber dunkle und unzugängliche Gebiet« des puren »Irrationalismus«, d. h. in das der Intuition und des Willens. Dies mag für ihn eine akzeptable oder gar geniale Entscheidung darstellen, der »›Philosophie der symbolischen Formen‹ ist freilich, – so sehr auch sie den spezifischen Unterschied der Welt des ›Geistes‹ von der des ›Lebens‹ anerkennen und [ . . . ] betonen muß – diese Art der Lösung versagt«. 461 Dem steht vor allem ihr »Gesetz der Methode« entgegen, das die Immanenz der Formen festschreibt. In ihrer Kritik an der »theoretischen Formwelt« (Wissenschaft, Intellekt) schränkt die »Metaphysik des Lebens«, und dies gelte sowohl für Bergson als auch für Klages, diese Formen über Gebühr darauf ein, ihrem Ursprung nach gar keine Erkenntnisformen, sondern pragmatische »Organe des Handelns« und »Formen der Aktion« gewesen zu sein. 462 Deshalb sei die zu pragmatischen Zwecken ausgebildete »logische Form« des Denkens außerstande, die »wahre Natur des Lebens« als eine schöpferische, nichtpragmatische Natur zu erfassen. Intelligenz und Denken werden so als rein »technisches Werkzeug« (Mittel zum Zweck) gedeutet. Bei aller scheinbaren Übereinstimmung mit seinen eigenen Positionen

458

»Hier stehen wir somit an einem Punkte, an dem die Metaphysik des Lebens, wie sie von Bergson entwickelt worden war, sich in ihrem Ergebnis unmittelbar mit jener prinzipiellen Folgerung zu berühren scheint, die wir aus der Analyse der symbolischen Formen, also aus der reinen Philosophie des Geistes, gezogen haben.« – Ebd. 459 Ebd., 47. 460 Ebd., 48. 461 Ebd., 47. 462 Ebd., 56 f.

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betont Cassirer, daß für ihn der Werkzeugcharakter der Intelligenz nicht ihre Wesensschranke, sondern nur eines ihrer Momente ausmacht. Die auf Wirkung gerichtete Voraussicht des Werkzeugherstellens sei neben dem »ideellen Schauen« nur eine bestimmte »Art des Sehens«. Intelligenz und Denken zielen nie ausschließlich auf »bloße Wirkungen« und technische Bedürfnisse, wie dies der »moderne Irrationalismus« behauptet. 463 Die Intelligenz bildet vielmehr den zentralen »Einheitspunkt für alle Arten und Richtungen geistiger Formgebung«. Sie hat keinen privilegierten Bereich, sondern umfaßt die gesamte Welt des Menschen.

6.3.4 Spengler und die organischen Lebensformen der Kultur Ein bestimmtes Verhältnis von Leben und seinen organischen wie kulturellen Formen bringen auch die »Grundideen der organologischen Geschichtsphilosophie« zum Ausdruck, wie sie bei Vico, der Romantik, Hegel und vor allem bei Spengler formuliert wurden. Die in ihnen angebotene Lösung für das sich in der reinen Sinn-Formen-Welt unbehaglich fühlende Denken dünkt Cassirer zunächst »bestechend und verlokkend«. 464 Mit der scheinbar unerläßlichen »Annahme überindividueller Lebenseinheiten« – den individuellen Kulturen bzw. Kulturkreisen – scheint diese Lösung dem Denken den »einzigen festen Halte- und Ruhepunkt zu gewähren«. Ungeachtet ihrer »systematischen Schranke« würdigt er 1928 die Leistung dieser Geschichtsphilosophie, wenn er zugesteht, »daß sich in diesen Ideen die moderne ›Philosophie des Geistes‹ erst selbst gefunden« und abgegrenzt hat. Ihre Schranke liege jedoch darin, daß die organologische Grundanschauung bzw. Metaphysik der Geschichte den Versuch macht, die »Probleme der [überzeitlichen – C. M.] reinen ›Bedeutung‹ dadurch zu lösen, daß sie sie in die Ebene des [zeitlichen – C. M.] Geschehens zurückverlegt«. 465 Die reinen Sinngehalte werden in ihrer Geltung somit zu moment- und situationsbestimmten Gehalten, werden also letztlich relativiert und historiziert, was dem Skeptizismus die Tür öffnet. Der Grundmangel jeglicher Organologie besteht für Cassirer aber darin, »daß sie den Schritt von der ›Darstellungssphäre‹ (Lebenssphäre) zur Bedeutungssphäre (Sinn-Sphäre) nicht rein vollzieht«. 466

463 464 465 466

Ebd., 58. Ebd., 101. Ebd., 101 f. Ebd., 243.

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Mit Spengler und seinem Untergang des Abendlandes kommt die organologische Metaphysik der Geschichte zu ihrem logischen Abschluß. 467 Ihr gelten die »reinen Sinngebilde« wie Dichtung, Sprache, Religion und wissenschaftliche Erkenntnis als von den vitalen Kulturseelen geschichtlich erzeugt und folglich mit ihnen als vergänglich. Die Sinngebilde haben außerhalb des konkreten Kultur- und Lebensprozesses, in welchem sie sich entfalten, außerhalb des »Glanzes der unmittelbaren geschichtlichen Gegenwart«, keinerlei selbständigen und eigenmächtigen Bestand. Ist und bleibt doch »alles organische Dasein« an ein Hier- und Jetzt-Sein gebunden. Spenglers »Philosophie des Untergangs der Kultur«, die überzeitliche Sinngebilde in der unmittelbaren zeitlichen Gegenwart auflöst, erweist sich deshalb nur als die »methodische Gegenwendung zu der Philosophie der ›Geburt der Kultur‹«. 468 Gegen die Methode der Analogieschau gewandt, mit deren Hilfe kulturelle und historische Phänomene bestimmten organischen Lebensformen bzw. Typen zugeordnet werden, denen paradoxerweise keine Idealität und Unzeitlichkeit eignen soll, besteht Cassirer darauf, daß die historische Erkenntnis des Singularen in allgemeinen Sinn-Formen (Ideen) gründen muß. 469 Die produktiven Prinzipien der Gestaltung, d. h. die Formen der Kultur, erklärt und versteht man nicht, »wenn man sie aus den überindividuellen Lebenseinheiten der organologischen Metaphysik hervorgehend denkt«. 470 Denn dafür hat man sie vorher in diese Lebenseinheiten hineinlegen müssen. Der sich Goethes Lebensphilosophie, Morphologie und Physiognomik verpflichtet wähnende Spengler471 faßt die »Nationen, wie die Kulturen«, nicht als symbolische »Bedeutungs-Einheiten«, sondern als »quasi-anschauliche« und schematische »Lebens-Einheiten«, »Lebens-Dinge«. 467

»Erst Spenglers Geschichtsphilosophie hat dem Gebäude der Organologie einen eigentlichen Schlußstein hinzugefügt. Der skeptische Einschlag ist nicht erst durch Spengler in die organologische Lehre eingeführt worden – aber er hat vielleicht als Erster den vollen Mut zu dieser Skepsis besessen«. – Ebd., 102. 468 Ebd., 103. 469 »Geistige Phänomene«, »Phänomene der ›Kultur‹« müssen gemäß dieser Auffassung »ihrem ideellen Typus nach erkannt« sein, »ehe wir daran gehen können, sie als reine Lebenserscheinungen zu deuten und sie in diesem Sinne als organische Typen zu verstehen«. – Ebd., 107. 470 Ebd., 108. 471 So fi ndet sich im Vorwort zur 2. Aufl age (1922) des Untergangs das Bekenntnis, die Fragestellungen des Buches seien zwar alle durch Nietzsche angeregt worden, die das Werk tragende Methode des schauenden Analogievergleichens gehe jedoch allein auf Goethe zurück. (Spengler [1991: IX]) Die Einleitung in das Erste Buch wiederholt die Behauptung, er – Spengler – verdanke »die Philosophie dieses Buches [ . . . ] der Philosophie Goethes, der heute noch so gut wie unbekannten, und erst in viel geringerem Grade der Philosophie Nietzsches«. – Ebd., 68 Anm.1. Siehe dazu Möckel (2003a: Kap. 5, 105–130).

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Deshalb gelten sie ihm nicht als »Sinnbegriffe«, sondern als »biologische Begriffe«. In diesem Zusammenhang bringt Cassirer erneut seine Grundüberzeugung zum Ausdruck, wonach eine biologische Deutung der Begriffe des kulturellen Lebens unweigerlich den »Geist an das Leben, die Freiheit an die Notwendigkeit« verliert. 472 Diese fatale, äußerst bedenkliche Aufgabe der Freiheit zugunsten einer naturhaften Notwendigkeit zeige sich insbesondere an Spenglers »Schicksalsbegriff«, den man auch als den Gegenbegriff zu Cassirers Philosophie der Freiheit lesen kann. Für das Schicksal treten die Kulturen als bloße organische »Lebensformen, vegetative Formen«, nicht als Sinn- oder Bedeutungsformen auf: sie leben auf vegetative Weise »gemäß einem äußeren, schicksalhaften Zwang«. Doch allein in den Sinn- und Bedeutungsformen »stehen wir auf dem Boden der Freiheit«, 473 den die PsF beharrlich verteidigt. Außerdem hypostasiere Spenglers Geschichtsphilosophie die »›Kulturen‹ (die letzten Endes Aufgabenbegriffe sind) zu Dingen«, die erst »nachträglich in die Form des Wirkens übergehen«. Deshalb steht die Organologie noch »immer im Banne jener Metaphysik der substantiellen Formen«, welche die mathematische Physik der Neuzeit fortschreitend überwunden hat. 474 Mit dem so gesetzten Dingcharakter der Kulturen geht ihre »spezifische Eigenart« verloren. Sind sie doch für Cassirer reine »Funktionseinheiten« und keineswegs substantielle Formen. Deshalb sind sie auch »nur zu fassen, wenn wir entschlossen in das Reich der reinen Bedeutungen übergehen – das Reich des schematisierbaren Daseins und des Lebens entschlossen verlassen«. 475 Und genau dies tue Spengler nicht, im Gegenteil. Die Kultur als ein Relationsbegriff läßt sich eben nicht, wie er das anstrebt, ins »anschauliche Gebiet hineinziehen«, in rein »anschauliche Dimensionen bannen«. Denn dabei entstehen statt Bedeutungseinheiten »bloß ›physiognomische‹ Einheiten«, die sich aus dem unmittelbaren Lebensgeschehen nicht zu lösen vermögen. Philosophische Leistung und Schranke Spenglers liegen damit eng beieinander: in der Beschränkung auf die elementare Ausdrucksfunktion des Lebens.

472

ECN 1: 244. Ebd., 244. Hervorhebung durch den Autor. 474 Ebd., 245. Diesen Auflösungsprozeß beschreibt auch Dilthey im Zweiten Buch der Einleitung. – Dilthey (1922: GS I, 123 ff.). 475 ECN 1: 245. 473

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6.3.5 Simmel und die ›Wendung zur Idee‹ Bezüglich des Problems von Leben und Geist, unmittelbarem vitalen Dasein und symbolisch vermittelter Kultur findet Cassirer 1928 in Simmels Alterswerk Lebensanschauung (1918) den klarsten und innovativsten Standpunkt vor, der deshalb der eigenen Position am nächsten komme. 476 In ihm werde dieses philosophische Problem am stärksten empfunden und am klarsten zu Bewußtsein gebracht. Simmel vermochte es allerdings mit Hilfe der logischen Paradoxie ›Transzendenz des Lebens‹ nur zu bezeichnen und auszusprechen, nicht aber wirklich zu lösen. 477 Zunächst ist der von ihm gebrauchte »Lebensbegriff« kein substantieller Begriff mehr, sondern reklamiert immanente Aktualität für sich, die sich beständig hin zur Form, zur Idee transzendieren muß. Damit besteht die »eigentliche Bewegtheit des Lebens« im Oszillieren zwischen zwei extremen Phasen, was gekonnt mit ›immanenter Transzendenz‹ umschrieben wird. Auf diese Weise ist, wie Frischeisen-Köhler dies festgestellt hatte, bei Simmel das Leben in »seiner inneren und notwendigen Dualität« nicht nur »als das ursprüngliche Quellgebiet des Geistes, sondern auch als dessen Urbild und Prototyp« aufgefaßt. Denn es ist »dieselbe Doppeltheit«, die sich »im Sein des Geistes in einer neuen gesteigerten Gestalt darstellt«. 478 Der sich bei Simmel auftuende »unversöhnliche Gegensatz« zwischen »Leben und Form, zwischen Kontinuität und Individualität« wird zwar durch die Wirklichkeit in jedem Augenblick überbrückt, damit aber als »begriffliche Antinomie« noch lange nicht aufgelöst. Das »geistige Leben« selbst bleibt so von der begrifflichen Antinomie betroffen. Diese Antinomie bildet »eines der Zentralprobleme der modernen ›Philosophie des Lebens‹« und wird von Simmel »mit mustergültiger Prägnanz und Klarheit bezeichnet«. 479 Sein Lösungsversuch verbleibt jedoch letztlich im Rahmen der altbekannten metaphysischen Methode, die die für die Welt der endlichen Erfahrung beschriebenen Gegensätze ins Gebiet des irrationalen unendlichen Daseins projiziert und sich dort auflösen läßt. Doch nach Cassirer klaffen Leben und Form »immer wieder auseinander, sobald man beide als Absoluta nimmt«. 480 476

Von Simmel, dem ehemaligen Lehrer und Kollegen in Berlin, fi nden bei Cassirer u. a. auch das Buch Goethe (1913) und die Aufsätze »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« (1911) und »Der Konfl ikt der modernen Kultur« Erwähnung. 477 ECN 1, 8. 478 Ebd., 9.f. 479 Ebd., 10. 480 Ebd., 11.

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Simmel sucht diese Auflösung im Unendlichen mit dem Begriff der »Absolutheit des Lebens« zu erreichen. Als absolute gilt ihm die »Wirklichkeit des Lebens«, d. h. das ›unmittelbar gelebte Leben‹, als widerspruchsfrei. Nur »unser Denken dieser Wirklichkeit«, als ein begriffliches und reflektierendes Verfahren, setze unwillkürlich und unausweichlich die Antinomie von Leben und Form. Anstelle des Denkens soll aber der »Rückgang in die reine Unmittelbarkeit des Lebens [ . . . ] durch einen eigentümlichen Akt des ›Schauens‹, der ›Intuition‹ des Lebens«, möglich sein. Ein Weg, den Cassirer bekanntlich nicht gelten läßt, weil er einen grundsätzlich anderen Begriff von Intuition vertritt. Seiner Überzeugung nach kann die Intuition »nie hinter die Welt der Formen schlechthin zurückgehen, weil sie selbst nichts anderes als eine Weise der Formung ist«. 481 Der lebendige Geist vermag deshalb seine eigenen Formen nicht zu transzendieren und sich jenseits ihrer aufzuhalten. Dennoch habe Simmel, im Unterschied »von vielen Gestaltungen des modernen ›Irrationalismus‹«, das Grundverhältnis von Leben und Form »selbst aufs klarste durchschaut«. Die von der Lebensphilosophie geforderte »Hinwendung zum Leben« ist für ihn ohne die »Wendung zur Idee«, d. h. ohne die Hinwendung zu den autonomen Gehalten, von denen die unmittelbaren Lebensinhalte erst ihren Sinn erfahren, nicht zu vollziehen. Die »sachlich eigenen Formen« des Geistes erweisen sich als produktiv gegenüber dem »Lebensstoff«. An diesem Punkt berühre sich die »moderne Lebens-Metaphysik« mit der Problemstellung, wie sie die Philosophie der symbolischen Formen entwirft. Der Simmelsche Begriff einer »Achsendrehung des Lebens« ins Ideelle bedeute genau die »eigentümliche Umkehr, jene geistige Peripetie, die [das Leben – C. M.] in sich erfährt, sobald es sich in dem Medium einer ›symbolischen Form‹ erblickt. Die ›Wendung zur Idee‹ erfordert überall diese Wendung zur ›symbolischen Form‹ als Vorbedingung und als notwendigen Durchgangspunkt«. 482 Gemeint ist hier, daß das symbolische Medium als Zwischenreich zwischen der alltäglichen Lebenszweckmäßigkeit und ihrer Nützlichkeitsorientierung und den überzeitlichen, ideellen Sach- und Bedeutungsgehalten des geistigen Lebens aufzufassen ist. Logisch – bzw. phänomenologisch –, nicht aber genetisch, bilden die Medien den notwendigen Ausgangspunkt einer Aufklärung (siehe hierzu IV.5.1). Doch anstatt von dieser Mitte, von diesem symbolischen Medium auszugehen, vertiefe sich Simmel in das »reine Abstraktum der ›Form‹« und reißt damit den unüberbrückbaren Graben zur »Konkretion des Lebens481 482

Ebd., 12. Ebd., 13.

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281

prozesses« wieder auf. Nur weil er Leben und Idee als absolut getrennte Pole voraussetzt, muß sich das Leben bei seiner ›Wendung zur Idee‹ transzendieren, überschreiten. 483 Und dieses Transzendieren verführt ihn schließlich dazu, Zuflucht zu symbolisch gemeinten »räumlichen Analogien« zu nehmen. 484 Cassirer hält diese problematische, symbolisch gemeinte Verräumlichung nicht für eine Zwangsläufigkeit des Denkens, wie Simmel Glauben machen will. Es bestehe hier zudem die Gefahr, daß das, »was als Symbol gemeint ist, unvermerkt zur Metapher wird und als Metapher wirkt«. 485 Räumliche Metaphern aber machen die korrelative Beziehung zwischen »Leben und Idee« vollends unverständlich. Die Frage, »wie das Leben zur Form, wie die Form zum Leben ›gelangt‹«, bedeutet bereits eine unzulässige, einen inneren Widerspruch setzende »Hypostase der ›reinen‹ Form« und »des ›reinen‹ Lebens«. Licht und Schatten, Größe und Grenze des »Gedankens der Transzendenz des Lebens« trete am »deutlichsten an dem Charakter der symbolischen Formen zu Tage«. 486 Denn die symbolischen Formen »vermitteln und versöhnen jenen Konflikt, den Simmel als den Grundkonflikt, als die Tragödie der Kultur ansieht – und sie lösen auch den logisch-dialektischen Widerspruch, der in dieser ständigen Selbst-Transzendenz des Lebens zu liegen scheint. – Denn in ihnen gibt sich das Leben nicht an ein ihm fremdes ›Sein‹ hin – sondern in ihnen wird es sich selbst objektiv – sie sind sein ständiger Objektivationsprozeß«. 487 Mit anderen Wor ten, zum einen kehrt das Leben in den symbolischen Formen immer aufs Neue in sich selbst zurück, zum anderen vollzieht sich »aus eben diesem Urgrund des Lebens« ein »Gebären immer neuer Formen«. Hier finden wir Cassirers Fazit hinsichtlich des korrelativen Zusammenspiels von Leben und Form. Das Leben schreitet als »unendliche Formungsmöglichkeit, als Potenz zur Form über die jeweils gegebene Formung hinaus«. 488 Wir haben uns klar zu machen, daß Geschichte und Kultur nur aus dieser ständigen »Selbstverwandlung des ›Lebens‹ in ›Geist‹ möglich« werden. 489 Sozusagen als Resümee zu Simmels Thematisierung des Problems von Leben und Geist liest sich die Überlegung, wonach dieser »immer bewußter auf den zentralen Problembegriff des Lebens« zusteuere. Gleichzeitig sei er

483

Ebd., 13 f. »Die Region des Lebens und die der Form erscheinen [so] wie zwei Bezirke des Wirklichen«. – Ebd., 14. 485 Ebd. 486 Ebd., 215. 487 Ebd. 488 Ebd., 216. 489 Ebd., 217. 484

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sich »der Grenzen jeder bloßen Lebensphilosophie bewußt«, weshalb er aufs »schärfste die immanente Dialektik des Lebensbegriffs« entwickelt. Und der dabei gewählte Begriff der Transzendenz des Lebens gehe in den Begriff der symbolischen Formen ein. 490

6.3.6 Scheler und die geistige Leitung des Lebens Obwohl Lebensphilosophie und philosophische Anthropologie mit den von der Romantik geschaffenen Begriffsmitteln sowohl die erneut im »Mittelpunkt der philosophischen Betrachtung« stehende »große Antithese von ›Natur‹ und ›Geist‹« als auch die »Polarisation von ›Leben‹ und ›Erkenntnis‹« thematisieren, nehmen sie deren identitätsphilosophischen Lösungsansatz nicht mehr in Anspruch. Das habe diesen Gegensatz schärfer und unerbittlicher werden lassen, wie sich insbesondere bei Klages zeigt, der repräsentativ für die moderne Haltung ist, die »Kluft zwischen den beiden Welten in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen und vor uns aufzureißen«. 491 Dagegen wirke Schelers Anthropologie »fast wie eine Erlösung aus diesem magisch-mythischen Bannkreis, in den uns Klages’ Lehre vom Bewußtsein mehr und mehr zu verstricken droht«. 492 Das Paradoxe und Befremdliche daran, wie Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) den »Dualismus zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹« thematisiert, sieht Cassirer darin, daß hier der Dualismus als »ursprüngliche Entzweiung des Seins« nicht überwunden wird, auch wenn er in einem anderen Licht als in der traditionellen Metaphysik erscheint. Lehnt Scheler doch zum einen alle identitätsphilosophischen Lösungen ab, da von der »Lebensfunktion als solcher«, vom »bloßen Leben zum Geist« keinerlei Entwicklung hinführe. 493 Die »originellen und erkenntnistheoretisch wichtigen und fruchtbaren« Gedanken der »entschiedenen Umwendung« der Lebensfunktion und der Befreiung des Menschen – durch seine Geistigkeit – aus dem »Räder- und Triebwerk des rein vitalen Geschehens« teilt Cassirer. Ebenso schätzt er den Gedanken, daß sich die geistigen Funktionen der Erkenntnis nicht am »Bezugssystem des Lebens« messen lassen. Sie entwerfen vielmehr »reine Ordnungsformen«, die nicht nur auf das Wirkliche, sondern auch auf das Mögliche zielen.

490 491 492 493

Ebd., 239. GL: 33 f.; ECW 17: 186. Ebd., 34; ECW 17: 187. Ebd., 35 f.; ECW 17: 188.

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Folglich trennt den Menschen vom Tier, daß er der »freien Anschauung des Möglichen«, des Nichtunmittelbaren fähig ist. 494 Zum anderen kehrt Scheler bei schärfster Betonung des »Gegensatzes von ›Leben‹ und ›Geist‹« dessen Vorzeichen um und besteht – entgegen der sonstigen Metaphysik des Lebens – auf der »Superiorität«, auf der »Überordnung des Geistes in der metaphysischen Rang- und Werteordnung«. Dennoch könne sich dieser Geist »an Macht, an unmittelbarer Wirklichkeit und Wirksamkeit, mit dem Leben [ . . . ] in keiner Weise messen«. 495 Der geistgeleitete Mensch kann aber zum Leben, zur unmittelbaren Wirklichkeit ›nein‹ sagen. Der ursprünglich machtlose Geist ist zudem laut Scheler durch geübte ›Askese‹, d. h. durch Triebverdrängung gegen das wirkmächtige Leben und seine Triebe in der Lage, dem »Bereich des Lebens selber« diejenige Kraft abzugewinnen, die er im Kampfe mit ihm einsetzt. 496 Der Geist vermag so die »Kräfte des Lebens« auf ein ideelles, sinnhaftes Ziel hinzuleiten, ohne sie aber real dahin führen zu können. Die zu bewerkstelligende gegenseitige Durchdringung der beiden gegensätzlichen Welten des Lebens und des Geistes erweist sich als Ziel und Sinn der Entwicklung des Menschen. Cassirer erhebt allerdings Einspruch gegen Schelers Annahme von zwei gegensätzlichen Welten, die dennoch eine einheitliche Leistung vollziehen und ineinandergreifen. Außerdem erkläre Scheler nicht, wie und weshalb sich die »Kräfte des Lebens« zur Richtungsänderung drängen lassen, die der Geist in »symbolischer Funktion« vorgibt. Und weiterhin bleibe unklar, wie das ursprünglich »geist-blinde« Leben die Ideen des Geistes »zu sehen« vermag, um sich nach ihnen zu richten. 497 Allein der von Scheler bemühte metaphysische Einheitsgrund legt eine Verknüpfung des Heterogenen nahe. Das ist aber für Cassirer keine annehmbare philosophische Lösung des Problems, vor allem keine originelle. Der Geist könne keineswegs ›von außen her‹ in die »Welt des Lebens« eingehen und sie als lebensfremder Geist leiten. Im Gegensatz zu Simmel hat es Scheler nicht vermocht, die »Transzendenz der Idee mit der Immanenz des Lebens [zu] vereinen«. 498 Müsse doch im Leben selbst »ein immanenter ›Zug zur Idee‹« vorhanden sein, um dem ideellen Vorbild folgen zu können. Folglich ist das Leben doch mehr als bloßer geistloser Drang. Außerdem muß auch der Geist ein »Positiv-Wirksames«

494 495 496 497 498

Ebd., 37; ECW 17: 189. Ebd., 38; ECW 17: 190. Ebd., 39; ECW 17: ebd. Ebd., 40 f.; ECW 17: 191 f. Ebd., 42; ECW 17: 193.

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sein, um die »Lebenskräfte und Lebenstriebe« anhalten, hemmen, stauen zu können. Mit den alten, bei Scheler anklingenden Motiven, die die traditionelle Metaphysik bei der Thematisierung des Gegensatzes von Leib und Seele bewegten, lasse sich der »Gegensatz von Geist und Leben« nicht zufriedenstellend lösen. 499 Trotzdem hat Scheler »mit seiner außerordentlichen dialektischen Kraft und Meisterschaft« präzise »jene Spannung, jene unaufhebliche Differenz«, wie sie zwischen der »Region des ›Geistes‹ und der des ›Lebens‹ besteht«, herausgearbeitet und hat nicht versucht, sie irgendwie zu harmonisieren. 500 Allerdings gerät bei ihm unter der Hand der methodische Gegensatz von Funktionen zu einem metaphysischen Gegensatz von realen Seinspotenzen. Deshalb muß er dasjenige, was er auf der einen Seite dem Geiste »gibt«, auf der anderen dem Leben »entziehen«. 501 In der Konsequenz hat er es mit »einem lebensfremdem Geist und einem ideenblinden Leben« zu tun, die nur auf wundersame Weise zueinander kommen können. Zumal die Askese nicht als »Abkehr vom Leben« gedeutet werden dürfe, sondern vielmehr als »innere Wandlung und Umkehr, die das Lebens in sich selbst erfährt«. Verstehen wir die Askese als innere Umkehr des Lebens selbst, dann haben wir den »Weg vom ›Leben‹ zur ›Idee‹« vor uns. Im anderen Fall stehen sich »Energien verschiedener Ordnung« gegenüber. 502 In der Auffassung des Geistes als einer Umwendung des Lebens selbst behaupte die Grundansicht des objektiven Idealismus ihr volles Recht gegenüber der Lebensphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Werden doch – trotz aller gegenteiligen Behauptungen – selbst in Hegels logischem System die »Rechte des Lebens« nicht verkannt, wird keinesfalls die »vitale Sphäre der logischen aufgeopfert«. In seinen Frühschriften finde sich vielmehr ein »neuer, systematisch im höchsten Sinne fruchtbarer Begriff des Lebens«, der in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes vollendet wurde. Möglich wurde dies durch die Forderung, »daß die in sich verschlossene Substantialität des Lebens sich öffne, daß sie sich ausbreite und auslege«. 503 Die hohe Wertschätzung für Hegels Philosophie, die Cassirer seit FF (1916) öffentlich ausspricht, 504 bedeutet folglich auch eine Wertschätzung seines Lebens- und Geistbegriffs. Die

499 500 501 502 503 504

Ebd., 43; ECW 17: 194. Ebd., 49; ECW 17: 199. Ebd., 50; ECW 17: ebd. Ebd., 51; ECW 17: 200. Ebd., 53; ECW 17: 202. Siehe dazu u. a. Möckel (2004b).

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Realisierung dieses Prinzips der Öffnung, Ausbreitung und Auslegung des Lebens verlangt, daß beides, Geist und Leben, sich als Gegensätze wissen, daß sie sich aber zugleich suchen und fordern. 505 Die dem Anschein absoluter Entfremdung verfallenen Anklagen, »die die moderne Lebensphilosophie gegen die angemaßte Herrschaft des Geistes erhoben hat«, läßt Cassirer folglich nicht gelten, zumal alle diejenigen Ankläger, »die im Namen des Lebens die Idee vor Gericht ziehen«, gewollt oder ungewollt als »Geschäftsträger der Idee« fungieren. 506

6.4 Krisis des modernen Lebensgefühls und Diagnosen der Lebensphilosophie Wie wir bereits aufgezeigt haben, ist es für Cassirer ein unbezweifelbarer Tatbestand, daß die zeitgenössische Lebensphilosophie mit ihrem zentralen Thema, dem Gegensatz von Geist und Leben, das moderne »Lebensund Kulturgefühl« zum Ausdruck bringt. Ihre philosophischen Motive wurzeln demnach in der »Grund- und Urschicht des modernen Lebensgefühls und des spezifisch-modernen Kulturgefühls«. 507 Folglich geht es ihm keineswegs darum, die von den Lebensphilosophen artikulierten theoretischen und praktischen Konflikte abzustreiten und die sich daran anschließende Vernunft- und Kulturkritik als unzutreffend zurückzuweisen. Allein die mehrfach geäußerte Überzeugung, daß diese Probleme und Konflikte im realen Lebens- und Kulturgefühl der Zeit eine nicht zu übersehende Quelle oder Wurzel besitzen, verbietet ein solches bloßes Abweisen. Geist und moderne Kultur schließen vielmehr Paradoxa, Konflikte und Gefährdungen ihrem eigenen Wesen gemäß ein. Dennoch votiert Cassirer dafür, diese von bestimmten Lebensstimmungen beförderten Konflikte in einem anderen Sinne als von den Lebensphilosophen zu deuten und philosophisch zu lösen. Ihm geht es darum, daß sie sich in der Konsequenz als produktive Momente erweisen, die den kulturellen Prozeß nicht nur nicht beeinträchtigen, sondern ihn sogar noch voranbringen. Mit seiner Rezeption und Kritik der Lebensphilosophie arbeitet er an einer solchen Umwendung ihrer Vernunft- und Kulturkritik. Seine intensive Auseinandersetzung mit ihr speist sich folglich aus mindestens zwei, bereits angesprochenen Motiven. Zum einen zollt er

505

»Die Polarität zwischen ihnen bleibt bestehen, aber sie verliert den Schein der absoluten Entfremdung«. – GL: 53; ECW 17: 202 f. 506 Ebd., 53, 55; ECW 17: 202 f. 507 ECN 1: 8, 238.

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ihren Vertretern Simmel, Scheler, Bergson, Klages und Spengler Respekt, weil sie das philosophische Grundproblem der Gegenwart erfaßt, formuliert und auf neue, moderne Weise durchdacht haben. Und dies, obwohl sie dabei die Schranke des metaphysischen Substanz- und Seinsdenkens im Unterschied zur modernen Naturwissenschaft nicht wirklich oder nicht konsequent überschreiten. Zum anderen bekämpft er in der Lebensphilosophie die Haltung, die eine der Natur des Geistes einwohnende Selbstzersetzungskraft über die Einheit seiner beiden gegensätzlichen Richtungen hinauszutreiben trachtet, weil es ihr auf einen absoluten Gegensatz ankommt. Unabhängig von der persönlichen Absicht der einzelnen Akteure stelle sich damit objektiv das Resultat ein, daß die betriebene Rehabilitierung der Unmittelbarkeit des Lebens bzw. der Irrationalität des Gefühls dem modernen Menschen das Bewußtsein vom Wert der rationalen symbolischen Kulturwelten verdunkelt und ihm so ein entscheidendes Werkzeug seiner Selbstbefreiung aus der Hand schlägt. So zielt ein wichtiges Argument, das Cassirer gegen die vernunft- und geistfeindlichen Züge bei denjenigen Lebensphilosophen richtet, die die subjektive Unmittelbarkeit des Erlebens als Alternative zur modernen Geisteskultur favorisieren und romantisieren, darauf, daß die ganze Vernunftkritik selbst der vernünftigen Form nicht entbehren kann. Faßt man Verstand oder Geist als tragische ›Wendung‹ oder ›Umkehr‹ des beisichseienden Lebens auf, so laufe die Kritik an den sogenannten Anmaßungen des Geistes ins Leere, da es sich bei ihr genaugenommen um eine Selbstanklage des Geistes handelt. Und diese Selbstanklage zerstöre den Geist keineswegs, sondern dient seiner Selbstbejahung als ermöglichende Voraussetzung. 508 Überlegungen dieser Art richten sich in erster Linie gegen Tendenzen einer Mythologisierung und einer Dämonisierung des ›toten‹ Geistes, des ›abstrakten‹ Verstandes etc., wie sie u. a. bei Klages oder Spengler anzutreffen sind. Obwohl er mit dem Terminus einer Selbstanklage des Geistes die lebensphilosophische Kritik an Geist, Vernunft oder Sprache abzuschwächen scheint, klingt bei Cassirer sehr wohl ein Bewußtsein von der Gefahr bzw. Gefährdung des Rationalen als Ordnungsfunktion im sozialen und geistigen Leben an. Diese erblickt er aber nicht in der angemaßten ›Herrschaft‹ des Geistes über das unmittelbare Fühlen, Erleben oder Anschauen. Das »eigentliche Drama«, so heißt es 1929/30, spiele sich gar nicht zwischen Geist und Leben, sondern zwischen gegensätzlichen Richtungen innerhalb des »lebendigen Geistes« selbst ab. Die metaphy-

508

GL: 54 f.; ECW 17: 202 f.

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sische Behauptung eines absoluten Gegensatzes von Geist (Vermittlung) und Leben (Unmittelbarkeit) verkenne nämlich, daß wir es in Wirklichkeit mit zwei unverzichtbaren Richtungen der Sinn und Bedeutung aufbauenden geistigen Tätigkeit des Menschen zu tun haben, die beide zusammen erst den lebendigen Geist ausmachen. Deren »Widerstreit ist freilich sein eigentliches Schicksal«, dem er »nicht entgehen kann«. 509 Der Richtungsgegensatz dieser beiden aufbauenden Bewegungen dürfe allerdings nur als funktionale Differenz, nicht als absoluter Gegensatz aufgefaßt werden. Das erspare bestimmte Denkkonsequenzen, die eine geistfeindliche und nihilistische Grundhaltung bestärken und vertiefen. Die dem menschlichen Geist eigene Tendenz zur Selbstzerstörung und »Selbstzersetzung« erklärt Cassirer mit der Kraft der Negation bzw. des Protestes wider das Andere, wider das Erleben, und mit seiner bedrohlichen Kraft der Selbstnegation, d. h. mit der ihm eigenen Kraft, »wider sich selbst« zu streiten. Diese Tendenz, die den Menschen zu dem allein zur Frage fähigen Wesen, zum ewig problematischen, fragwürdigen Wesen macht, erfordere einen verantwortungsvolleren Umgang, als ihn viele der scharf kultur- und vernunftkritisch auftretenden Lebensphilosophen praktizieren. Die Argumentation macht deutlich, daß Cassirers hier das »praktische Problem der Verantwortlichkeit für die Kultur vor Augen hat«. 510 Die sich selbst infragestellende Kraft macht für ihn zwar keinen Defekt des Geistes, keinen dämonischen Einbruch in die Sphäre des Lebens aus, birgt aber durchaus die Gefahr, daß der Mensch sich in ihr selbst verliert. Eine mögliche Konsequenz dieser Gefährdung, so sie denn real wird, sieht er in der Abwendung des modernen Menschen vom Wert der rationalen Symbolwelten in Wissenschaft, Ethik, Geschichtsschreibung und Politik. Als Folge davon ist der zu schwache intellektuelle Widerstand gegen das in den 20er und 30er Jahren zu beobachtende Wiedererstarken der mythisch-magischen Bewußtseinsform, die auf unmittelbarer Anschauung fußt, zu verzeichnen. Dieser sich nach dem Ersten Weltkrieg abzeichnende »Wiedereinbruch« mythisch-magischer Erwartungen, Überzeugungs- und Verhaltensweisen in die europäischen Gesellschaften wird von Cassirer bereits Mitte der 20er Jahre mit war-

509

Ebd.; ECW 17: 203. Die Formulierung macht nebenbei deutlich, daß Cassirer den Begriff des Schicksals keineswegs grundsätzlich ablehnt, sondern ihn dort gebraucht, wo von freier Wahl oder Selbstbestimmung keine Rede sein kann. Das Ziel ist dabei immer, daß das Schicksal, wenn es auf den Geist oder den Menschen fällt, sich ihm »selbst wieder in Freiheit« aufhebt, d. h. daß Fremdbestimmung letztlich Selbstbestimmung weicht. – STS: 39; ECW 17: 139. 510 Recki (2002b: 280).

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nender Stimme beklagt 511 und insbesondere in der folgenden Kriegszeit zunehmend erforscht und thematisiert. 512 Dabei hat er vor allem das faschistische Deutschland und seine Verbündeten vor Augen. Einen wirklich »tragischen Einschlag aller Kulturentwicklung« sieht Cassirer 1930 in seinem Vortrag über »Form und Technik« in der von Simmel beschriebenen Situation, 513 in der die Bewegung des Ich sich »an seinen eigenen Schöpfungen« bricht, in der sein »ursprünglicher Lebensstrom verebbt, je größer der Umfang und je stärker die Macht dieser Schöpfungen wird«. 514 Dieser zunächst unauflösbar erscheinende Konflikt zwischen subjektivem Schöpfungsprozeß und sich verselbständigenden, ihn regelrecht erdrückenden Objektivationen des Lebens durchzieht alle symbolischen Formen des Geistes, kommt aber in der Form der Technik besonders prägnant zum Vorschein. In dem Zusammenhang zeigt sich Cassirer offen für die von Rathenau geäußerte These, daß die »Mängel und Schäden der modernen technischen Kultur« aus ihrer »Verbindung mit einer bestimmten Wirtschaftsform und Wirtschaftsordnung zu verstehen sind«. 515 Der ihr zugrundeliegende »Geist der kapitalistischen Wirtschaftsordnung« könne und müsse mit dem »Einsatz neuer Willenskräfte«, die durch eine »wahrhaft freie Willensgemeinschaft« zu mobilisieren sind, umgewandelt werden. 516 Die Gefährdung und Infragestellung von Geist und Vernunft sieht Cassirer aber auch aus der zunehmenden Verselbständigung der einzelnen geistig-kulturellen Objektivationen erwachsen, worauf Simmel ebenfalls aufmerksam gemacht hatte. Die den »Grundtypen des theoretischen Verhaltens zur Welt« korrelierenden Kulturwelten Sprache, Mythos, Kunst etc., die je eigene Bedeutungssphären konstituieren, geraten in immer tiefere Spaltungen und Entfremdungen, was ihre übergreifende Einheit zunehmend problematisch werden läßt. Die Welt der Kultur zerlegt sich, ihrem objektiven Sinn und Gehalt nach, »immer deutlicher

511

In der PsF II spricht er sich z. B. gegen ein »Heimat- und Bürgerrecht« des Mythos in der Methodologie der Geschichtswissenschaft aus und warnt davor, Geschichte und Geisteswissenschaft dem »Mythos anheimzugeben«. Vielmehr seien jegliche »Eingriffe des Mythos in den Kreis der Wissenschaft« konsequent abzuwehren. – PsF II: XII, 89; ECW 12: XIV. Siehe dazu auch oben den Abschnitt III.5. 512 So hält er 1944 das »Übergewicht mythischen Denkens über rationales Denken in einigen unserer politischen Systeme« für augenfällig. – MS: 7. 513 Er bezieht sich dabei auf Simmels Aufsätze »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« (1911) und »Der Konfl ikt der modernen Kultur« (1918). 514 STS: 76; ECW 17: 172. 515 Ebd., 88; ECW 17: 182. Er verweist u. a. auf die Schriften Rathenaus Zur Kritik der Zeit (1912), Zur Mechanik des Geistes (1913) und Von kommenden Dingen (1917). 516 STS: 88 f., 88 Anm. 34; ECW 17: 182 Anm. 46.

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in selbständige ›Schichten‹« und diese drohen »sich gegenseitig zuletzt mehr und mehr zu entfremden«. 517 Für die objektive Dynamik der Entfremdung der Kulturbereiche stellt aber die von den Lebensphilosophen beschworene metaphysische »ursprüngliche Grundeinheit« des Lebens, diese »ursprüngliche Konkretion des Erlebens«, keinen wirklichen Ausweg dar. Bietet sie doch nur scheinbar die Alternative des Rückganges aus der in selbständige Schichten zerlegten Welt der Kultur in ihre angeblich ursprüngliche Einheit. Die Zerlegung und Entfremdung der Objektivationen des Geistes erfährt ihre Ergänzung durch die »Fremdbestimmung« der einen Objektivation durch die andere. So setze z. B. die symbolische Form der Technik mit ihrer bloßen Zweck-Mittel-Orientierung ihre Norm, ihren eigentümlichen Sinn immer wieder absolut und zwingt ihn auf diese Weise anderen Sinngebieten auf. Vergleichbares vollziehe sich auch mit der Wirtschaft als einem Teilgebiet des Lebens. Durch diese Tendenz zur Fremdbestimmung der einen Kulturform durch die andere bricht, »im Kreise des geistigen Tuns und gewissermaßen in seinem eigenen Schoße, ein neuer Konflikt auf«. 518 Dieser Konflikt einer verlorengehenden Einheit von Zielsetzung und Zielrichtung der symbolischen Kulturformen als eines Ensembles lasse sich nur entschärfen, wenn eine »universelle Norm« gefunden wird, die ihre Einzelnormen zugleich befriedigt und beschränkt. Dies würde eine »Grenzsetzung innerhalb des Geistes selbst« zwischen den einzelnen symbolischen Formen ermöglichen. Cassirer ringt hier um eine philosophische Deutung des unausweichlichen Konfliktes des menschlichen Geistes, die letztlich ein neues Selbstbewußtsein des Menschen befördert. Dieses hat die Gefährdungen auszuhalten und zu meistern, nicht aber – auf illusionäre Weise – danach zu trachten, sie aufzuheben. Greifen wir in dieser wichtigen Frage einer notwendigen Kritik der Kultur für einen Moment zeitlich über die hier verhandelte Periode hinaus. Unter Rückgriff auf die Theorie der »Basisphänomene« der Wahrnehmung formuliert Cassirer Anfang der 40er Jahre den Gedanken, daß der kulturelle, von Simmel immer wieder thematisierte Subjekt-ObjektGegensatz nicht, wie fälschlich angenommen, den definitiven Endpunkt des geistig-kulturellen Schaffens ausmacht. Die von diesem aufgewiesenen Vorgänge der Objektivierung und Erstarrung lebendiger Subjektivität und Individualität als Grundmerkmal moderner Kultur werden zwar

517 518

ECN 1: 5 f. STS: 78; ECW 17: 173.

290

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in der Sache nicht bestritten. Dennoch bilde das Werk, die Es-Richtung der Objektivation, in Wahrheit gar nicht das Ende des schöpferischen Prozesses. Dieses sieht Cassirer vielmehr, und das in vermeintlicher Übereinstimmung mit Goethe, 519 im Anderen, in der Du-Richtung der Objektivation gegeben. Dieser findet – als Adressat – das Werk vor, rezipiert es, versteht es und führt damit seine Werk-Form in den lebendigen Prozeß des Schaffens zurück, zumindest teilweise. Erst mit dieser erneuten Verlebendigung der Werk-Form, der Werk-Idee schließt sich der Kreis. Folglich erscheint die philosophische Lösung der von Simmel konstatierten »Tragödie der Kultur« durchaus als möglich. 520 Das Werk als die Objektivation des subjektiven Ich, und die darin eingehende ideale Form, fungiert folglich nur als »Durchgangspunkt«, als »Brücke« zu den Anderen, 521 nicht aber als sich stetig entfremdender Endpunkt des Schaffens. Indem es zwischen seinem Schöpfer und dem Rezipienten vermittelt, verliert das Werk für Momente seine Starre, sein aus dem Leben Herausgerissensein, da der Vorgang des Rezeptierens, Nacherlebens schöpferisch an ihm umschafft. Somit wird das »Drama der Kultur nicht schlechthin zu einer ›Tragödie der Kultur‹«. Gibt es doch in ihm ebensowenig eine »endgültige Niederlage, wie es einen endgültigen Sieg« gibt. 522 Das heißt aber nicht, daß Cassirer eine Harmonisierung des kulturellen Lebens erwartet. Kultur zeige sich nämlich durch die »›dialektische Struktur des Kulturbewußtseins‹« als eine »Krise, die stets aufs neue bewältigt werden muß«. 523 Er setzt im Kulturleben auf die »Normalität von Auseinandersetzung, Konflikt, Krise« und insistiert auf der »Permanenz der Kultur als Krise mit ihrem impliziten Votum für die selbstverständliche Belastbarkeit des kulturellen Menschen«. Eine zur Auseinandersetzung zwingende Belastung geht für Cassirer auch von der Bildlichkeit und Anschaulichkeit unseres Gemütslebens aus. Zieht sich doch durch die verschiedenen Anläufe zu einer Philosophie der symbolischen Formen der Grundgedanke, wonach der Mensch niemals aufhören könne, in »Bildern und Anschauung zu denken oder 519

Goethe hatte übrigens in einer von Cassirer unbeachteten vierten Maxime zum Urphänomen des künstlerischen Lebensprozesses festgestellt, daß der »Wirkung nach außen [ . . . ] unmittelbar eine Rückwirkung« auf das geistige Leben des Schaffenden folgt, welches durch Liebe gefördert und durch Haß gehindert wird. – Goethe (1998: HA 12, Maxime 230). 520 LKW: 110. 521 Die Sprachform als Brücke vom Ich zum Anderen erläutert Cassirer auch 1929 im Davoser Disput mit Heidegger. – Cassirer (1991: 292 f.). 522 »Die beiden Gegenkräfte wachsen miteinander, statt sich wechselseitig zu zerstören«. – LKW: 123. 523 Recki (2002b: 286, 290 f.).

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emotional zu erleben«. 524 Diese Einsicht impliziert zum einen, daß die emotionale Ausdrucksfunktion als die Elementarfunktion lebendigen Geistes, die ursprünglich nicht geschieden ist von der sinnlich-sachlichen Funktion der Ausdruckswahrnehmung, zum anthropologischen Wesen des Menschen gehört. Da diese elementare Doppelenergie des geistigen Lebens in erster Linie den Mythos bzw. die mythische Weltsicht formt, führt diese Einsicht zum anderen auf eine weitere, wonach das Mythische sich immer wieder erheben und uns beherrschen kann. Rationale Kritik und Überwindung des Mythischen lassen die es tragende Ausdrucksfunktion nicht verstummen, 525 zumal diese auch als Unterboden anderer, höherstufiger symbolischer Kulturformen wie Sprache, Kunst, Religion fungiert. Cassirer stellt sich deshalb die Frage, inwieweit der moderne Mensch die Anschaulichkeit und Emotionalität bildlichen Weltverstehens durchlaufen und verarbeiten kann, ohne vom Mythos beherrscht zu werden, wie das infolge der modernen Technik politischer Mythenbildung in den 30er und 40er Jahren aber geschehen ist. Eine Antwort glaubt er in der Annahme zu finden, daß uns außer der rationalen Kritik auch die Kunst vom angstumwitterten mythischen Denken befreien kann, »weil für sie die Anschaulichkeit der Bilder ein Medium ist, um Distanz zur Realität zu gewinnen«. 526 So bewegen uns die Gestalten der Dichtung tief und nachhaltig, aber sie nehmen uns letztlich nicht gefangen, wie die politischen Mythen der Gegenwart. 527 Der anschauliche Charakter unseres Wissens, von dem wir Menschen, die wir in der modernen Kultur leben, uns niemals völlig freimachen können, selbst wenn wir es wollten, schließt demnach ein vernunftbestimmtes und sinnträchtiges Leben nicht aus, fordert uns aber permanent heraus.

524

Krois (1995: 314). MS: 388, 390. 526 Krois (1995: 314). 527 »Kunst kann sich deshalb dem Mythos entgegenstellen, weil sie aus derselben Quelle gespeist wird: aus der Ausdrucksfunktion des Symbols.« – Ebd., 318. 525

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Kulturelle Lebensformen und Basisphänomene (1935–1941)

Im Folgenden werden vier Texte ausgewertet, an denen Cassirer in den Jahren 1935–1941 zeitweise parallel gearbeitet hat, ohne daß sich derzeit die Arbeitsphasen bis ins Detail rekonstruieren ließen. Der thematische Zusammenhang, den das methodische und gegenständliche Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaften, einschließlich Logik, Mathematik und Geschichtsschreibung, sowie das sich jeweils modifiziert stellende Problem der Objektivität bilden, ist für das EP IV, das Manuskript »Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis« (ECN 2) und die fünf Studien zur LKW ganz offensichtlich. Wiederkehrende Themen, Hauptthesen, zitierte Autoren und Begrifflichkeiten belegen den sachlichen Bezug dieser Ausarbeitungen aufeinander. Der Text »Über Basisphänomene« (ECN 1) vertieft schließlich die Arbeit an den letzten, unhintergehbaren Quellen oder Modi der Wirklichkeitserfahrung und ihrer Wissensformen. Das Eigentümliche dieser Überlegungen über die Basisphänomene besteht u. a. darin, daß hier die Frage nach der philosophischen Absicherung der Objektivität der unterschiedlichen Weisen unserer Wirklichkeitserkenntnis mit dem lebensphilosophischen Grundgegensatz von Leben und Geist verbunden wird. Denn das Forschen danach, wie uns Wirklichkeit überhaupt gegeben ist, wie sie sich uns eröffnet, führt Cassirer auf drei ›letzte‹ Modi der Vermittlung von Wirklichkeit, des Aufschließens von Wirklichkeit, die unmittelbar fungieren, weshalb er sie ›Urphänomene‹ oder ›Basisphänomene‹ nennt. 1 Die Ursprünglichkeit und Lebensunmittelbarkeit dieser drei »Quellen der Wirklichkeitserkenntnis«, 2 die sich dem reflexiven Denken zu entziehen scheint, erweist sich aber dennoch auf eine mittelbare, indirekte, immer unvollständig bleibende Art und Weise der Reflexion und Rückschau des Geistes zugänglich. Dadurch löst sich der Grundgegensatz der Lebensphilosophie ein weiteres mal auf. Die ursprünglichen Vermittlungsweisen (Modi) von Wirk-

1

Orth hält den Terminus Basisphänomen für »ein typisch Cassirersches Aperçu«, das »sozusagen Wien mit Weimar, d. h. das neopositivistische Basisproblem [ . . . ] mit Goethes Urphänomen« verbindet. – Orth (2000: 127). 2 ECN 1: 132.

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lichkeit werden an den beiden Urrichtungen der Wahrnehmung, der sinnlichen Dingwahrnehmung und des Ausdruckserlebens (Ausdruckswahrnehmung), aufgewiesen. Auch in den Studien zur LKW kommt der Ausdruckswahrnehmung als einem Urphänomen des Lebens eine zentrale Stellung zu, was wiederum auf einen sachlichen Zusammenhang mit dem Manuskript »Über Basisphänomene« hinweist. 3 Gleichzeitig wird in dieser Schaffensperiode Cassirers der Lebensbegriff stärker als früher auf das Problem der Historizität sowohl des Organismus als auch des lebendigen Geistes und damit auf die Geschichtsschreibung bezogen. Der zeitliche Zusammenhang der vier Texte stellt sich derzeit in etwa wie folgt dar. Am EP IV hat Cassirer in Schweden zwischen 1935 und 1941 gearbeitet, 4 die Niederschrift des zum Druck fertiggestellten Bandes beginnt er im Juli 1940 und schließt sie im November des gleichen Jahres ab. 5 Kurz zuvor hatte er im Juni das ebenfalls zum Druck bestimmte und fertiggestellte Manuskript »Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis« zum Abschreiben weggegeben. 6 Es sollte das historisch angelegte EP IV systematisch ergänzen und war ebenfalls seit Mitte der 30er Jahre in Arbeit. Cassirer war mit beiden Texten, so eine Auskunft 1938, bereits in den Jahren 1936 und 1937 »ziemlich weit vorgeschritten«, und wollte sie in ca. 2–3 Jahren abschließen. 7 Im Manuskript »Über Basisphänomene«, das wahrscheinlich doch nicht erst 1940, sondern bereits Mitte der 30er Jahre entsteht, 8 werden die »drei Grundrichtungen der Wirklichkeitserkenntnis«, die in der Ausarbeitung über »Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis« an der Logik/Mathematik, der Natur wissenschaft und der Kulturwissenschaft expliziert werden,9 um das angesprochene ›metaphysische‹ Fundament vertieft. 10 Das definitive Ende der Arbeit an den drei Projekten fällt nicht nur mit der Her- und 3

Siehe dazu die Herausgeberinformationen in: ECN 1: 305. Siehe dazu die Herausgeberinformationen in: EP IV/ECW 5: 447. In ECN 2 ist die Rede davon, daß er am EP IV Ende der 30er gearbeitet und es 1940 fertiggestellt habe. – ECN 2: 186. 5 ECN 1: 301. 6 Ebd. 7 ECN 2: 186 f. 8 ECN 1: 300. Neuere Recherchen haben ergeben, so die Herausgeber von ECN 3, daß der Text »Über Basisphänomene« mit 1940 zu spät datiert wurde, er gehöre vielmehr in den zeitlichen und in sich geschlossenen theoretischen Zusammenhang der Manuskripte aus den Jahren 1936/37. – ECN 3: Vorwort der Herausgeber. 9 Eine andere Einteilung, die auch im EP IV vorliegt, geht von vier Richtungen aus, für die exemplarisch Logik/Mathematik, mathematische Physik, beschreibende Biologie und Geschichte stehen. – ECN 2: 187 f. 10 Die in ECN 2 »gleich zu Anfang angesprochenen drei Basisphänomene werden in Cassirers Text über Basisphänomene [ . . . ] systematisch erläutert.« – Ebd., 187. Auch das in ECN 3 veröffentlichte Manuskript zur Geschichte ist etwa Mitte der 30er Jahre 4

Kulturelle Lebensformen und Basisphänomene (1935–1941)

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Fertigstellung der 1942 erstmals in Göteborg erscheinenden Studien LKW zusammen – bzw. geht ihnen kurz voraus –, sondern auch mit Cassirers Überfahrt von Göteborg nach New York im Mai 1941. 11 Die Frage nach der Spezifik des historischen und kulturellen Lebens im Unterschied zum Naturleben ist für ihn eine wegen der sinnstiftenden und kulturbewahrenden Funktion der Wissenschaft ganz zentrale Angelegenheit, zumal deren Schicksal mit dem der Kultur eng verwandt erscheint. Haben sich doch die Philosophie und die Wissenschaft in »den letzten Hundert Jahren, in der Zeit seit Goethes und Hegels Tod«, in einer »inneren Krise« befunden«, die u. a. im ungeklärten Verhältnis von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft zum Ausdruck kam. 12 Analog zur Kultur als einem System von geistigen Sinnformen wurde die innere Einheit auch der wissenschaftlichen Forschung »immer fragwürdiger«, nachdem Hegel sie letztmalig hatte umfassen wollen, kam es nach ihm zu ihrer »wachsenden Zersplitterung«. Cassirer gibt sich überzeugt, daß die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer größer gewordene »Kluft« und der »Kampf« zwischen Natur-, Geschichts- und Kulturforschung nunmehr einen neuen, einen funktionalen Einigungsversuch erfordert – und ermöglicht. Die in der Periode zwischen 1935 und 1941 erarbeiteten wissenschaftstheoretischen Darstellungen und durchgeführten wissenschaftsgeschichtlichen Recherchen dienen wie die metaphysische Analyse der ursprünglichen Basisphänomene der Erfahrung, des Erlebens von Wirklichkeit dem Ziel, diese Krisenhaftigkeit zu überwinden, die sich nicht zuletzt in philosophischen Antinomien von Natur und Kultur, Leben und Geist, Ich und Welt etc. äußert.

1 Naturform und Kulturform des Lebens 1.1 Biologisches Grundphänomen des Lebens selbst Das in den Schriften und Texten der 20er Jahre intensiv diskutierte Problem der funktionalen Beziehung von tierischem und geistig-kulturellem Dasein, von vegetativem und geistigem Leben, kehrt Ende der 30er Jahre noch einmal wieder, wenn sich Cassirer im EP IV der Herausbildung der Biologie als beschreibender Naturwissenschaft zuwendet. Zunächst beschäftigt ihn das organisch-vegetative Leben, das er auch im Auge hat, entstanden und steht mit beiden Texten in einem systematischen Zusammenhang. – Ebd., 187. 11 ECN 1: 279. 12 LKW: 34.

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wenn er hier im Zusammenhang mit der Geschichte der Biologie vom »Rätsel des Lebens« oder vom »Mysterium des Lebens« spricht. 13 Das Gleiche gilt für die Stellen, an denen von »Lebensformen« und »Lebensphänomenen« die Rede ist. 14 Nahezu alle Umschreibungen des Lebensbegriffs, wie sie für die Periode 1927–1929/30 typisch waren, werden im EP IV zunächst auf das tierische, biologische Leben bezogen. Der Begriff eines »Kreises der Lebensforschung« meint jedoch einen weiter reichenden Oberbegriff, der die differenten »Lebenskreise« pflanzliches Leben, tierisches Leben und menschliches, kulturelles oder geistiges Leben umfaßt. 15 Unklar bleibt, ob Cassirer der Auffassung Goethes folgt, wonach das »Leben der Natur [ . . . ] nur vom Leben des Menschen aus gesehen werden« kann. 16 Den Begriff des Organischen wendet er – als Synonym für Leben und Lebendigkeit – gelegentlich auch auf Zusammenhänge an, die über das vegetative Leben hinausreichen. 17 Erneut wird die Bedeutung der in Kants Kritik der Urteilskraft geprägten Begrifflichkeit des zweckmäßigen »Organismus« gewürdigt, weil sie das wachsende Verständnis für die Autonomie des »Belebten« im Sinne der Biologie befördert habe. Weder dürfen die biologische »Lebensphänomene« beschreibenden Kategorien auf die Physik ausgedehnt werden (Aristoteles), noch können die Kategorien der Physik auf die Biologie angewandt werden (Descartes, Leibniz). 18 Das Lebendige gilt Cassirer als eigene »Ordnungsform der Erkenntnis«, die sich auf einen eigenen Problemkreis bezieht. 19 Diese Erkenntnisform orientiere sich an der zweckmäßigen Struktur der Organismen, die das »Sein der ›Naturformen‹« bilden. Diese biologische »Welt des Lebens« ist eine »systematische Ordnung«, die – im Großen wie im Kleinen – als ein einheitliches »Ganzes« existiert, das seine Teile bestimmt. Deshalb wird innerhalb des »Ganzen der Lebewesen« eine Klassifizierung nach Gattung und Art (Aristoteles) dieser Besonderheit kaum gerecht. 20 Die sich bei Kant, Goethe und Cuvier findende Methode der Morphologie sei dagegen der biologischen Forschung eher angemessen. 21 13

EP IV/ECW 5: 20, 204, 242. Ebd., 204. 15 Ebd., 214. 16 Ebd., 215. 17 So bringe der Leibnizsche Gedanke vom »Primat des Ordnungsbegriffs vor dem Maßbegriff« einen »organischen Zusammenhang« zwischen beiden Begriffen zum Ausdruck. – Ebd., 58. 18 Ebd., 135 f. 19 Ebd., 140. 20 Ebd., 144. 21 Ebd., 148. 14

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Die Frage nach dem »Wesen und Ursprung des Lebens« hält allerdings auch Cassirer für wenig sinnvoll; eine Erklärung für diese Haltung findet sich in LKW, in der Studie über das Kausal- und Formproblem. Der Kausalbegriff lasse sich demnach nur innerhalb einer Lebensform auf deren Erscheinungen anwenden, nicht aber auf den Übergang von einer Lebensform zur anderen. 22 Wenn Cuviers Auffassung zustimmend erwähnt wird, wonach die »gegebenen Lebensformen« (Besonderes) in eine systematische Ordnung, in ein Ganzes (Allgemeines) gebracht und in ihm zusammengeschaut werden müssen, da uns dies sie erst erschließt, 23 dann sind mit »Lebensformen« wohl nicht die konkreten Individuen, sondern Arten und Gattungen gemeint. Außerdem hält es Cassirer der biologischen »Welt des Lebendigen« für angemessen, einzelne »Gestalten des Lebens« mit Hilfe des »Typenbegriffs« aufzufinden, wie dies Cuvier und Uexküll praktizieren. Dabei erweist sich das Allgemeine der Biologie als Begriff für »reine Strukturverhältnisse«, die die einzelnen Organe – d. h. die Funktionen – bestimmen, zuordnen. 24 Das »Wissen von einer Einzelform« des Lebens setze daher das »Wissen von der Formwelt als Ganzes« voraus. 25 Ein solcher Typen- und Formbegriff meint ein strukturelles Sein, kein kausales Werden. Demnach sind die Tierformen einzelne, in sich ruhende »Lebensgestaltungen«, die keine genetische, d. h. keine kausalgesetzliche »Stufenfolge des Lebens« bilden. 26 Eine solche genetische Stufenfolge behaupte auch nicht Goethes Metamorphosenlehre, die »tief in die Entwicklung der Biologie eingegriffen« hat. 27 Goethe vertritt für die »Erkenntnis der Lebensformen« ebenfalls die Idee des Typus, jedoch nicht als statisches »konstantes Grundverhältnis«. 28 Das Typische ist bei ihm nicht ohne Maß, nicht ohne Gesetz oder Ordnung. Der Auffassung, wonach alle organischen Naturen »nach einem Urbilde«, d. h. nach einer Idee, einem Typus geformt sind, wobei die biologische typische Gestalt vom Urbild nur in den Teilen abweicht, sich letztlich aber auch im Ganzen um- und fortbildet, was wir einen Gestaltwandel nennen, stimmt Cassirer weitgehend zu. 29 Jede biologische Lebensform hat also ihr eigenes Strukturgesetz, das ihren Typus

22 23 24 25 26 27 28 29

LKW: 98 f. EP IV/ECW 5: 149. Ebd., 151 Ebd., 152. Ebd., 154 f. Ebd., 159. Ebd., 160 f. Ebd., 167.

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ausmacht, wobei dessen äußere Gestalt sich durchweg metamorphosisch verhält. Demnach macht die »biologische Gestalt« einer »Lebensform« sehr wohl eine Entwicklung in der Zeit durch, weshalb sie für Cassirer eine »Zeitgestalt« ist. 30 Die einzelne biologische Gestalt, das biologische Individuum spiegelt das Ganze des Typus, das Ganze des Urbildes seiner Lebensform wider. Diesen methodischen Gedanken sieht er aus der Geschichtsauffassung des 18. Jahrhunderts in die Biologie einfließen. 31 Eine erstrebenswert »naturgemäße, lebendige Ansicht der Pflanzenbildung« setze außerdem das Verständnis voraus, daß sich auch hier Allgemeines und Besonderes in einem »Verhältnis der ideellen oder ›symbolischen‹ Repräsentation« befinden. 32 Analoges gilt gewiß auch für eine »lebendige Ansicht« vom gesamten »Kreis des Lebens« und den ihn ausmachenden »Phänomenen des Lebens«. 33 Goethes Typus ist also als ein Sein zu nehmen, »das nur im Werden, ein Bleibendes, das nur im Geschehen aufweisbar ist«, das folglich Beharren und Veränderung vereint. Damit kommt die Bedeutung dieses Typenbegriffs dem Ordnungsbegriff Cassirers, z. B. dem einer Lebensordnung, sehr nahe, zumal auch der Begriff der Form diesem Doppelzug genügen muß. Goethes Lehre von der Metamorphose habe mit der Frage nach der »historischen Abfolge der Lebenserscheinungen« nichts zu tun, sie ziele allein auf eine »ideelle Genese«, wie sie die idealistische Morphologie auch formuliert. 34 Den Versuch von Anhängern einer experimentellen Morphologie, die Entwicklungsgeschichte der Systematik überzuordnen und die »Lebensformen« nicht nur zu betrachten, sondern auch zu erzeugen, wertet Cassirer als ein methodisches Mißverständnis. 35 In dem Zusammenhang gilt ihm die Vorstellung (Haeckel) von einer »Urpotenz des Lebens«, aus der sich physikalisch-chemische und organische Kräfte ableiten ließen, als ein Rückfall in den »Anthropomorphismus«. 36 Er konstatiert nicht ohne Interesse, daß sich später die Auffassung durchsetzt, wonach »nur auf Grund strenger morphologischer Untersuchungen die Fragen der Entwicklungsgeschichte überhaupt gestellt werden könnten«. 37

30

Ebd., 162, 171. So werde Herders Grundauffassung, wonach in der Geschichte das Einzelne das Ganze widerspiegelt, »von Goethe von der Geschichte auf die Welt des Lebens überhaupt übertragen.« – Ebd., 236. 32 Ebd., 169 f. 33 Ebd., 171. 34 Ebd., 172 f. 35 Ebd., 182 f. 36 Ebd., 188 f. 37 Ebd., 195. 31

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Die idealistische Morphologie in der Nachfolge Goethes, die die »Gestalt des Lebens und seinen Gestaltenwandel« intuitiv erfaßt, brauche selbst keinen Zweckbegriff des Lebens mehr, während Darwins Entwicklungslehre des Lebens noch einmal auf ihn zurückgreift. 38 Anstelle des alten Zweckbegriffs reichten auch Goethe bloße »Lebensbezüge« aus. Ebensowenig tauge der vom Vitalismus aufgenommene Begriff der »Lebenskraft«, um das Spezifische des Organischen gegenüber dem Unorganischen festzuhalten. 39 Allerdings stelle es einen Erkenntnisfortschritt dar, wenn das Leben (»Lebewesen«, Organismus) als Geschehen von deskriptiven »Selbstleistungen« wie »Selbsterhaltung«, »gestalteter Selbstregulation« etc. (Roux) erklärt und deshalb durch den »Inbegriff seiner Funktionen« als ein Gebilde für sich genommen wird. 40 An Uexkülls vitalistischem Lebensbegriff, auf den er in nahezu allen Texten dieser Periode Bezug nimmt, hebt Cassirer – nicht zum ersten Mal – hervor, daß der sich auf die seienden Strukturen, auf die Baupläne der »Lebewesen« bezieht und daraus deren »Lebensfunktionen« erklärt. 41 Nach dieser Lehre, die Organismus und Umwelt verbindet, sei das Verhältnis von ›Wirknetz‹ und ›Merknetz‹ im Organismus der »Ausdruck und das Grundphänomen des Lebens selbst«. 42 Die »Welt des Lebens« bilde hier im Ganzen ein »teleologisches Gefüge«, weshalb eine »nichtstoffliche Ordnung«, eine »Regel des Lebens« angenommen werden müsse, die dem Stoff erst sein Gefüge verleiht. 43 Das erinnert ihn sowohl an den Zweckbegriff bei Kant als auch an den Monadenbegriff bei Leibniz, gemäß derer auch das Einzelne das Ganze widerspiegelt. 44 Überhaupt erweise sich im 19. Jahrhundert der »Ganzheitsbegriff« für die Aufgabe der reinen Beschreibung des organischen Geschehens als geeigneter als der alte aristotelische Zweckbegriff. 45 Cassirer registriert mit Befriedigung, daß auch in der Biologie Bertalanffys der alte Zweckbegriff durch den »Ordnungsbegriff und Systembegriff« ersetzt wird. 46 Diese systematische Ordnung unterscheidet »Lebensvorgänge« klar von anorganischen Prozessen. Dennoch sei die »Frage nach dem ›Wesen des

38

Ebd., 192 f. Ebd., 218. 40 Ebd., 221, 224. 41 Ebd., 231 f. 42 LKW: 24. 43 EP IV/ECW 5: 234 f. 44 Ebd., 236. 45 Ebd., 248. 46 »Was wir ›Leben‹ nennen, ist ein in hierarchischer Ordnung gegliedertes System«. – Ebd., 250 f. 39

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Lebens‹« wissenschaftlich, d. h. durch die Biologie, noch nicht wirklich gelöst worden. Die schlichte Übertragung der Begrifflichkeit der physikalischen Natur auf das organische Lebens ebenso abweisend wie die des Organismus auf die geistigen Lebensformen hält es Cassirer für erwähnenswert, daß dem Positivisten Comte die irreduziblen Spezifiken der Biologie und Soziologie durchaus klar waren. Im Unterschied zur Naturerkenntnis werde bei ihm die »Erkenntnis des organischen Lebens« von der »vergleichenden Methode« und dem »Entwicklungsgedanken« beherrscht, und auch beim Übergang von den »tierischen Formen zur Form des Menschen« kämen neue Spezifika hinzu, wobei die den beiden Formen des Lebens gemeinsamen Merkmale des Biologischen aber weiter bestehen bleiben. 47 Leben überhaupt, also auch »organisches Leben«, ist Cassirers Auffassung nach durch die »Fähigkeit der Unterscheidung und Herauslösung«, durch die Fähigkeit, aus dem »Strom des Geschehens« bestimmte Gestaltungen herauszulösen, die in gleichartiger Weise wiederkehren, gekennzeichnet. 48 Leben ist somit diejenige Seinsart, die auf Reize der Umwelt richtig antwortet und dabei eine bestimmte Regel ausprägt. Bei höheren »Lebensformen« kommt noch die Bewußtheit hinzu, aus dem rein »praktischen Verhältnis« wird ein »theoretisches«. Bereits beim tierischen Organismus, soweit er über das Vermögen der unmittelbaren Wahrnehmung und der anschaulichen Vorstellung verfügt, finden wir die Ausdruckswahrnehmung in Vollzug.

1.2 Zusammenhang höherer und niederer Lebensformen An den in seinem Goethe-Vortrag 1932 entwickelten Ordnungsbegriff des Lebens knüpft Cassirer implizit an, wenn er das Verhältnis von Beharrung und Wandelbarkeit in Natur und Kultur vergleicht und diskutiert. Unterscheide sich doch die »Beziehung zwischen Bewegung und Ruhe«, die in der organischen Natur herrscht, in doppelter Hinsicht von dem Verhältnis, das uns in den »Gebilden der Kultur« begegnet. 49 Zum einen gehen in der Natur die durch Individuen bewirkten Veränderungen nicht ins »Leben der Gattung« ein, im geistigen Leben der Kultur dage-

47

Ebd., 286. Auf die in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts anzutreffende »organologische Metaphysik«, die in der Romantik und im Historismus fußt, gibt Cassirer bekanntlich keine allzu großen Stücke. – Ebd., 298 f. 48 Ebd., 83. 49 LKW: 125.

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gen sehr wohl. Deshalb habe in der Kultur der »›Geist‹ [ . . . ] geleistet, was dem ›Leben‹ versagt blieb«. 50 Denn das, was die Individuen »fühlen, wollen, denken«, 51 »objektiviert sich im Werk« und steht der Menschheit so dauerhaft zur Verfügung. Zum anderen hat sich die Menschheit auf diese Weise in allen ihren »Kulturformen« einen »neuen Körper« geschaffen, der allen gemeinsam zugehört: 52 die Kulturmenschen leben in ein und demselben vielgestaltigen Kulturkörper. Cassirer beschäftigt außerdem die Frage, ob die zeitgenössische philosophische Anthropologie (Scheler, Plessner) die Kulturform des Lebens im Unterschied zur Naturform »organischen Lebens« wirklich zu erfassen vermag. 53 Es müsse nämlich geklärt werden, ob und inwieweit die »höheren Lebensformen« über die elementaren organischen Lebensformen hinausragen. Außerdem sei zu zeigen, wie die höheren Lebensformen des Menschen aus der »Grund- und Urschichte des Lebens entsprungen« sind. Es ist folglich zu klären, wie sie aus der Grundschicht der Ausdrucksfunktion des Lebens überhaupt entsprungen sind. Vielleicht wird damit auch gefordert zu zeigen, wie sie aus der Grundstruktur des Lebendigen überhaupt entsprungen sind. Der Terminus »entsprungen« meint aber keineswegs ein Kausalverhältnis, sondern ein rein funktionales oder reines Strukturverhältnis. Die Tatsache, daß der Vitalismus im 19. Jahrhundert begonnen hatte, mit Hilfe des wiederauferstandenen Formbegriffs die »Autonomie des Lebens« gegenüber dem Mechanischen zu behaupten, gab darüber hinaus auch der Grundlegung der Kulturwissenschaften und der Frage nach ihrer »logischen Eigenart« einen starken Impuls. 54 Nunmehr war die Grenzziehung zwischen biologischer und kulturwissenschaftlicher Methode bzw. Begriffsbildung zur unabdingbaren Aufgabe herangereift. Uexkülls Unterscheidung von Wirkwelt und Merkwelt weist uns, so Cassirer, einen Weg, wie die »Grenzsetzung zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹, zwischen der Welt der organischen Formen und der der Kulturformen«, begründet und vollzogen werden kann. Bei dieser Grenze gehe es um eine »funktionelle Differenz«, um einen »eigentümlichen Funktionswandel« aller Bestimmungen, 55 ganz so wie beim Übergang eines symbolisch geformten Gehaltes zu einer anderen Form eben dieses 50

Ebd., 126. Hierbei greift Cassirer bewußt und unbewußt auf eine Unterscheidung Diltheys zurück. – Dilthey (1922: GS I, XVIII). 52 LKW: 127. 53 Ebd., 20 f. 54 Ebd., 22 f. 55 Ebd., 24. 51

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Gehaltes. Dem Menschen werden auf Grund dieses Funktionswandels nach und nach die ›Gefängnismauern‹ (Scheler) bewußt, die ihm sein biologischer Bauplan, sein Strukturgesetz zieht. Dieses Wissen um die biologisch-strukturellen Schranken erlauben ihm, davon ist Cassirer überzeugt, diesen letztlich zu entrinnen und geistige Freiheit (Hegel) zu gewinnen: »Die Bewußt-Werdung ist der Anfang und das Ende [ . . . ] der Freiheit, die dem Menschen vergönnt ist«. 56 Für diesen Prozeß bilden die einzelnen symbolischen Formen die »unentbehrlichen Vorbedingungen«, unterscheiden sie doch das auf das Zukünftige und Mögliche zielende Menschsein vom tierischen Lebewesen, das keine »Art der ›Mittelbarkeit‹«, wie sie z. B. der technische und geistige Werkzeuggebrauch impliziert, kennt. 57 Die symbolische Bildwelt, die dem Tier unbekannt ist und bleibt, gewinnt dagegen »fortschreitend eine immer größere Macht über den Menschen«. 58 Mehrfach stellt sich Cassirer der von den Lebensphilosophen aufgeworfenen Frage, ob das damit verbundene Sichlosreißen, Sichentfernen von der »Wirklichkeit und Unmittelbarkeit des natürlichen Daseins« in der Tat als ein das Leben des Menschen gefährdender »Irrweg« begriffen werden muß. Er selbst ist davon überzeugt, daß die Philosophie, als das »Gewissen der menschlichen Kultur«, dem Menschen hierauf eine klare Antwort schuldig ist. Daß diese aber weder naheliegend noch eine pure Selbstverständlichkeit sein kann, das mache allein schon die Tatsache bewußt, daß die Technik, die der Mensch erfand, »um sich die physische Welt zu unterwerfen«, sich inzwischen tausendfach »gegen ihn selbst gekehrt« hat. Es bleibt Cassirer nicht verborgen, daß die »Sehnsucht nach dem primitiven, ungebrochenen, unmittelbaren Dasein« daher immer wieder hervorbrechen muß, »je mehr Gebiete des Lebens die Technik sich erobert«. 59 Auch gegen die geistigen Werkzeuge, die der Mensch sich erschuf, kehrt sich inzwischen der Zweifel des aus seinen unbedingten, unmittelbaren Gewißheiten Vertriebenen. So sieht bereits mancher Philosoph in der Sprache bzw. im Begriff den eigentlichen »Widersacher der Vernunft«, weil die Wirklichkeit nicht durch logische Begriffe, Urteilsakte und theoretische Reflexion, sondern nur in unmittelbarer Wahrnehmung erreicht werde. 60 Cassirer, der keinerlei romantisierende Illusionen hegt, weiß, daß das »fraglose Dasein«, die »fraglose Gewiß-

56 57 58 59 60

Ebd., 25. Ebd., 25 f. Ebd., 27. Ebd., 27. Ebd., 28 f.

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heit« eines unmittelbaren Lebens unwiderruflich dahin sind und wir mit allen Fragwürdigkeiten unserer geistigen Existenz zu leben haben.

2 Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung Die phänomenologische Analyse der die »Grund- und Urschicht aller Bewußtseinsphänomene« abgebenden Wahrnehmung gewinnt nunmehr auch für die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Cassirers größere Bedeutung. Lasse sich doch weder die Frage nach den Objekten der Kulturwissenschaft samt ihrem Kulturcharakter noch die nach dem Eigentümlichen des Geschichtlichen und der Geschichtsschreibung durch eine bloße Analyse der entsprechenden Begriffsformen beantworten. Um Antworten finden zu können, hätten wir uns vielmehr der »Phänomenologie der Wahrnehmung« anzuvertrauen. 61 Mit ihrer Analyse gelinge es, kulturwissenschaftliche Begriffe und naturwissenschaftliche Gegenstandsformen bis zu ihrer »letzten Erkenntnisquelle zurückzuverfolgen«. 62 Diese Phänomenologie, die in der PsF III entworfen wurde, legt durch ihre Beschreibung des »phänomenalen Bestandes« der elementaren Wahrnehmung die Intentionalität in zweifacher Richtung offen, nämlich »auf das ›Es‹« und »auf das ›Du‹« hin. 63 Je nach Richtung der Intentionalität gewinne die Wahrnehmung eine »besondere Färbung und Tönung«, gewinnt das »Erleben« von Wirklichkeit die Bedeutung von Ding- bzw. Sachwahrnehmung oder von personaler Ausdruckswahrnehmung. 64 Beiden Richtungen des Wahrnehmens wohne zudem die Möglichkeit der Beziehung auf das Ich als ihren Träger und Ausgangspunkt ein. 65 Den Begriff der Wahrnehmung haben wir hier so zu verstehen, wie er in der PsF III eingeführt wurde, d. h. als ein elementares bildlich-anschaulichliches Vermögen des Welteröffnens, das ohne Differenzierung unmittelbar einen bestimmten Sinn ausdrückt, der die Gehalte als personifizierte, verlebendigte Phänomene auffaßt. An diesem leistenden Vermögen, Ausdruckswahrnehmung genannt, lassen sich beide intentionalen Richtungen auf etwas feststellen, die, jedoch erst, wenn sie als eigenständige, einseitige Vollzüge auseinander getreten sind, als Sachwahrnehmung oder als Wahrnehmung des Anderen fungieren. 66 In 61 62 63 64 65 66

Ebd., 39. Ebd., 56. Ebd., 39. Ebd., 40. ECN 1, 122. In gewissem Sinne erinnert das Problem der Wahrnehmung an Kants Rede von

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der mythischen Weltsicht, die durch den »Primat der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung« charakterisiert ist, werde dieser Zusammenhang deutlich. 67 In systematischer bzw. phänomenologischer Hinsicht bedeutet dies, daß der ausgebildeten Sinneswahrnehmung kein Vorrang vor der Ausdruckswahrnehmung zu geben ist. 68 Auf die elementare Ausdruckswahrnehmung vor aller Differenzierung, vor allem Auseinandertreten der beiden intentionalen Richtungen, was sie als das »Urphänomen des Lebendigen«, als die letzte »Grund- und Urschicht« aller geistigen Energien und somit als die »letzte Erkenntnisquelle« erscheinen läßt, kommt Cassirer in allen hier ausgewerteten Manuskripten zu sprechen. An ihr thematisiert er auch die Verwurzelung der verschiedenen Begriffstypen im Urphänomen des Lebens. Gleichzeitig ist ihm bewußt, daß nicht zuletzt wegen der Feindschaft der theoretischen Erkenntnis gegenüber dem Mythos deren Verständnis gerade für die Ausdruckswahrnehmung, in der dieser seine tiefste »Wurzel« hat, sehr belastet und erschwert wird. Philosophie in Gestalt des logischen Positivismus und Wissenschaft müssen gemäß ihrer eigenen Logik die »Quelle zu verstopfen suchen, aus der der Mythos sich ständig nährt, indem sie der Ausdruckswahrnehmung jegliches Eigenrecht bestreiten.« In der Folge werden »Ausdrucksqualitäten« durch »Sinnesqualitäten« ersetzt, und diese schließlich durch »rein-quantitative Bestimmungen«. 69 So hat die theoretische Naturauffassung, die selbst ein Ende, aber kein Anfang ist, »alles ›Personale‹« aus sich verdrängt und ausgeschaltet. 70 In der phänomenologisch aufweisbaren, noch ungeschiedenen Ausdruckswahrnehmung treten also schließlich Differenzierungen in eine Du-, Es- und Ich-Wahrnehmung hervor, wobei wir es mit den Polen Ich, Du und Es nicht mit eigenständigen, fertigen Gegebenheiten, sondern mit füreinander daseienden Mittelpunkten, die sich in einem funktionalen Verhältnis der Wechselbedingtheit bilden, zu tun haben. 71 Sie »kon-

der Sinnlichkeit und dem Verstand als den »zwei Grundquellen des Gemüts« bzw. den »zwei Stämmen« der Erkenntniskraft, die aus einer »gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen«. – Kant (1906: B 29, B 75, B 863). 67 LKW: 40. Das mythische Denken entsteht »genau an jenem charakteristischen Wendepunkt, an dem ›Ausdruckswelt‹ und ›Wahrnehmungswelt‹ noch ungeschieden in einander liegen, und es bildet anderseits den ersten Anfang und Ansatz für die Trennung, die sich künftig zwischen ihnen vollziehen wird. [ . . . ] Diese Doppeltheit ist es, die es so schwierig macht, die Welt des Mythos irgend einem bestehenden Begriffsschema einzuordnen.« – ECN 2: 87. 68 LKW: 45. 69 Ebd., 40 f. 70 Ebd., 47. 71 Ebd., 49.

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stituieren« sich selbst erst in und mit den »Formen der Kultur«. 72 Die subjektive, lebendige, persönliche Tönung, die die Ausdruckswahrnehmung allen Inhalten aufprägt, hat über den Mythos hinaus auch Anteil an der Bildung kultureller Objekte. Wenn Werke der Kultur der Analyse und Beschreibung unterzogen werden, dann offenbart sich nämlich, daß ihre ideellen Momente, die ihren jeweiligen eigentümlichen Sinn, ihre jeweilige Form als religiöses, ästhetisches oder wissenschaftliches Werk ausmachen, sich »sinnlich-stofflich« darstellen und verkörpern müssen, wobei dies in einer persönlichen Prägung geschieht. 73 Die Überzeugung Cassirers, wonach das Wesen oder Urphänomen des Lebens darin besteht, kein richtungs-, form- und strukturloses Erscheinen zu sein, wird hier erneut bekräftigt und an historischen Einsichten belegt. 74 Auf dieser Einsicht ruht die ideelle Gesamtschau in der Geschichtsschreibung, und da, wo diese fehlt, wo Kulturgeschichte des isolierten Details betrieben wird, verliere auch die damit erzielte »›Lebensnähe‹« sofort ihren Wert. 75 Die Geschichtsschreibung – als eine der Voraussetzungen von Kulturwissenschaft – könne sich den Ausdruckscharakter des subjektiven Lebens sehr wohl zu eigen machen. So »belebt« bei dem eher naturwissenschaftlich gesinnten Historiker Taine die »Freude am Individuellen« die Darstellung, da er methodisch eine »Art von ›Physiognomik‹«, eine »Art von ›Ausdruckskunde‹« betreibt. 76 Es ist eben die »Ausdrucks-Sprache« (Physiognomik), mit deren Hilfe sich die Eigenart des kulturellen, einschließlich des staatlichen »Lebens einer Epoche« erschließt. 77 Mit der notwendigen »Reflexion« geht allerdings alle unmittelbare Sicherheit und Gewißheit verloren und bleibt aller Philosophie von da an problematisch. 78 Die ungeschiedene, personifizierende Ausdruckswahrneh-

72

Ebd., 50. Für ein Kulturwerk sind drei Dimensionen bestimmend – die »des physischen Daseins, des Gegenständlich-Dargestellten, des Persönlich-Ausgedrückten«. (Ebd., 42 f.) An anderer Stelle heißt es, das Kulturobjekt baut sich seinem Begriff nach aus dem Physischen, dem Psychischen und dem Historischen auf. – Ebd., 57. 74 So hält er Humboldts Erkenntnis fest, daß jede sinnliche Erscheinung von eigenem Leben, »sei es ein menschlicher Charakter, ein Organismus, ein Kunstwerk«, auf die »Darstellung eines übersinnlichen Substrates« hinauslaufe. In diesem Gegensatz von Sinnlichem und Übersinnlichen wurzelt bei ihm »alles historische Leben«. (EP IV/ECW 5: 279) In vergleichbarem Sinne gehe Herder davon aus, daß in jedem einzelnen historischen Dasein »der Sinn des Ganzen lebendig« ist. – Ebd., 258. 75 Ebd., 312. 76 Ebd., 295. 77 LKW: 82. 78 Ebd., 45. 73

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mung selbst stellt für Cassirer, wie wir wissen, eine »Erkenntnisquelle von anderer und ursprünglicherer Art« dar, als es die Reflexion ist. Den radikalen Idealismus eines Descartes’ oder Husserls, für den die Außenwelt des Ich »der phänomenologischen Reduktion« verfällt und der, gestützt auf die Mathematik und die Logik, die Wirklichkeit auf das reine Denken des Ichs reduziert, lehnt der symbolische Idealist Cassirer u. a. deshalb ab, weil hier, wenn die »ganze Fülle der reinen Ausdruckserlebnisse« abgewiesen wird, das Leben außen vor bleibt. 79 Die jeglichem Leben eigentümliche Fähigkeit, aus dem »Strom des Geschehens« gleichbleibende Gestaltungen herauszulösen, was zunächst als »Gleichförmigkeit des Handelns«, später aber auch als Gleichförmigkeit im Erkennen zutagetritt, sieht er sich bereits in einer »ersten Grundschicht« vollziehen, die sich in der Ausdruckswahrnehmung findet. 80 Während für diese noch keine »darstellende Sprache« notwendig ist, vollzieht sich die Dingwahrnehmung insbesondere über die Sprache. Wir Menschen »erleben« die Welt nicht in »bloßen Eindrücken«, sondern geben diesem Erleben »sprachlichen Ausdruck«, was die »Kraft des gegenständlichen Vorstellens« schärft. 81 Auf Grund ihrer Metaphorik erweist sich die Sprache zudem als lebendige Form. 82 Die Wahrnehmungs- bzw. Vorstellungswelt der Tiere besteht dagegen aus emotionalen »Ausdruckswerten«. Das Tier wird durch seine Affekte gesteuert, die auf bestimmte Funktions- oder »Daseinskreise« hinzielen. Seine Welt teilt sich nicht – wie die menschliche – durch bestimmte »Unterschiede der ›Empfindung‹, ›Wahrnehmung‹ oder ›Vorstellung‹ ab«; gewisse »regelmäßig-wiederkehrende Formen« vermag das Tier nicht zu betrachten und herauszuheben. 83 In den Funktionskreisen weist aber auch die tierische Welt eine »eigentümliche Struktur« auf, die jedoch auf der Verschiedenheit der Umweltimpulse, nicht auf »anschaulichen oder theoretischen Unterscheidungen« basiert. 84 Da, wo sich die Ausdruckswahrnehmung aber als kulturelle symbolische Aktivität vollzieht, in der sich Ich und Du, Du und Es scheiden, haben wir es im Unterschied zu den tierischen »Gemütsbewegungen« mit »aktiven Ausdrucksformen« zu

79

ECN 2: 14, 16 f. Ebd., 83 f. 81 LKW: 45 f. 82 Die Funktion der Sprache lasse sich nicht auf die darstellende Funktion reduzieren, denn »aller sprachlicher Ausdruck« ist auch metaphorischer: »Im Organismus der Sprache bildet die Metapher ein unentbehrliches Element; ohne sie würde die Sprache ihr Leben verlieren und [ . . . ] erstarren.« – Ebd., 46. 83 ECN 2: 84. 84 Ebd., 85. 80

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tun, d. h. mit »spezifischen Energien«, durch die sich für uns die »Welt der Kultur« aufbaut. 85 Das zunächst unmittelbare »Ausdruckserlebnis«, das einen Symbolwert besitzt, gestaltet sich schließlich als »aktiver Austausch« von spezifischen Bedeutungen, d. h. als sprachliche Verständigung. Durch die »Teilhabe an einer gemeinsamen Sprachwelt« 86 ist es uns möglich, sinngeprägte Kulturwerke zu schaffen, in denen wir »leben« und dank derer wir »intuitiv« voneinander »wissen«, ohne dafür einer diskursiven Wissenschaft zu bedürfen. 87 Der Mensch tritt bekanntlich »nicht mit einem Schlag« in seine ihm »eigentümliche Gegenstands- und Formwelt« ein, er muß sie vielmehr einer anderen, mehr »elementaren Schicht des Daseins und des Verhaltens Schritt für Schritt abgewinnen«. 88 Insbesondere in der »Welt des Kindes und in der des ›Primitiven‹« sei der Primat der Ausdruckswahrnehmung sehr stark ausgeprägt. 89 Allerdings vollzieht sie hier bereits bestimmte Leistungen empirischer Vergegenständlichung. 90 Somit bilden die tiefsten »Urschichten menschlichen Daseins« schon eine »Lebensform«, die das »Wiedererkennen von Objekten« und auf Grund desselben einen bestimmt-geregelten Umgang mit Objekten voraussetzt. Die noch personifizierten Gegenstände des Ausdrucksbewußtseins fungieren dabei bereits als Konstanten bzw. als das »immer-Wiederkehrende« im Wirklichkeitserleben. Die »Richtung der ›Synthesis‹« geht in diesem Fall auf physiognomische »Gestalten« und nicht, wie in der empirischen Sachwahrnehmung, auf objektive »Gesetze«. 91 Die sich im »Kreise des Alltags« beim mythischen Menschen behauptende empirische Weltsicht bricht zudem sofort wieder zusammen, »sobald der Affekt in seiner unbeherrschbaren Gewalt gegen sie anstürmt«, was vor allem in ungewohnten Situationen, im Nichtalltäglichen, im Extremen geschieht. Die sich dann wieder stärker durchsetzende Ausdruckswahrnehmung verändert erneut den emotionalen Ton aller empirischen Dinge und Gegenstände. Die ursprüngliche Basis des Affektes und der Ausdruckswahrnehmung könne entweder gewandelt und geläutert (Religion) oder aber durch eine neue Basis ersetzt werden (wissenschaftliche Erkenntnis). 92 Daher strebt die theoretische Erkennt-

85 86 87 88 89 90 91 92

LKW: 51. Ebd., 53. Ebd., 75. ECN 2: 86. Ebd., 87 f. Ebd., 91. Ebd., 92 f. Ebd., 94.

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nis nach der völligen Vertreibung des emotionalen Affektes und folglich der »Subjektivität« des Lebens aus der objektiven Weltanschauung. Anfänglich ist selbst die »Sinneswahrnehmung« noch völlig von »reinen Ausdruckscharakteren« des Lebens angefüllt. 93 Für den Cassirer der 30er Jahre hat sich das »reine Ausdruckserlebnis« endgültig als unausrottbares Urphänomen auf einem »unerschütterlichen Grund« erwiesen, weil es zu den »Konstituentien eben dieser ›Welt‹« gehört. 94 Die Ausdrucksphänomene bilden ein »Basisphänomen«, einen Modus dessen, wie wir Wirklichkeit erleben, erfahren. Die »Ausdruckswelt« stellt zudem den »Ausgangspunkt für alle unsere Erkenntnis des ›Fremdpsychischen‹« dar und bleibt auch zukünftig die feste Basis dieser Erkenntnis. Sie ist ihrem Wesen nach der Subjektivität des Lebens verhaftet, in ihr und durch sie erfassen wir »subjektives Dasein und Leben«,95 sie besitzt in der Allbeseelung ihre elementare Struktur. Wie Scheler, so ist auch Cassirer davon überzeugt, daß die moderne Wissenschaft sich dieses Urphänomens versichern muß. 96 Gleichzeitig wendet er sich gegen Versuche, die Kategorie des Lebens unspezifisch auf alles mögliche anzuwenden, wie dies u. a. Fechner im Gegensatz zu Uexküll mit seinen Erklärungsversuchen der »Lebensphänomene« per Analogieschluß tut, wobei er alle Grenzen und Unterschiede zwischen vegetativem und geistigem Leben verwischt. 97 Entscheidend sei vielmehr, daß das »reine Ausdruckserlebnis«, das wir mit den Tieren teilen, an einer bestimmten Stelle strukturell in ein »Bedeutungserlebnis« übergeht. Das passiert nur beim Menschen und hat wesentlich mit dem Fremdpsychischen, d. h. mit dem Austausch zwischen mehreren Subjekten zu tun. 98 Wenn zwei Subjekte sich im Gespräch auf ein und denselben ideellen Sachverhalt beziehen, dann ist – für Cassirer – die Realität des Fremdpsychischen evident, hat sie bereits ihre objektive Form gewonnen. In einem gewissen Sinne scheint dies selbst in der vitalen, nichtgeistigen Sphäre des Lebens, in der das Ausdrucksphänomen schon Wirkung entfaltet, seine Erfüllung als ein Verstehen zu finden. 99 93

Ebd., 96. Ebd., 138 f. 95 Ebd., 141. 96 »Mit der Bestreitung oder Diskreditierung des Ausdrucksphänomens als solchem wäre eine der wesentlichsten Quellen nicht nur für die Erkenntnis des Lebens, sondern auch für alle Erkenntnis der ›geistigen‹ Wirklichkeit, der Wirklichkeit der Kultur versiegt. Diese Quelle muß rein erhalten, aber sie darf nicht verschüttet werden«. – Ebd., 142. 97 Ebd., 143 f. 98 Ebd., 145. 99 »Es gibt ein völlig unreflektiertes Wissen vom ›Du‹ – ein Wissen, das keine 94

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Weil im menschlichen Ausdruckserlebnis sinnliche und ideelle Momente ineinander wirken und es letztlich ohne Sprache (Zeichen und Bedeutungen) in ihm kein gemeinsames Verstehen gibt, »wiederholt sich im Gebiet der Ausdruckswahrnehmung derselbe Prozeß, den wir im Aufbau der objektivierenden Erkenntnis verfolgen können«. Selbst das Erfassen des Fremdpsychischen macht einen Prozeß durch, bei dem der scheinbar unmittelbar, gewiß gegebene Gegenstand bei reflexiver Vergegenwärtigung nach und nach in immer weitere, mittelbare Ferne rückt. 100 Doch auf dem »Wege zur spezifisch-menschlichen Welt, auf dem Wege zur Sprache, zur Kunst, zur theoretischen Erkenntnis« vermag die Ausdruckswahrnehmung nun erst »ihren eigentlichen Rechtsgrund« zu erweisen. Sie bedeutet jetzt eine »eigentümliche und selbständige Lichtquelle«, die wir nicht entbehren können, wenn wir uns die »Strukturen der ›Kulturwelt‹ durchsichtig machen« wollen. Hier beweist sie, daß sie zu den »Grundmitteln der Objektivierung selbst« gehört und somit »eine echte ›Objektivität‹« besitzt. 101 Deshalb ist die Ausdruckswahrnehmung der »natürliche Ausgangspunkt aller kulturwissenschaftlichen Forschung« und bildet deren »Basisphänomen«. Dadurch bietet sie die Grundlage dafür, daß der kulturwissenschaftliche Begriff ein Charakteristisches ausdrückt, was ihn an eine »›physiognomische‹ Erkenntnis« bindet. 102

3 Urphänomene des Lebens und Basisphänomene der Wirklichkeitserfahrung 3.1 Philosophie der Basisphänomene Für Cassirers Wissenschaftsphilosophie stellt sich die Frage, ob alle Arten von Wissenschaft auf ein eigenes Basisphänomen zurückgeführt werden können. Den Versuch einer solchen Rückführung unternimmt er jedenfalls mit seiner Theorie der Basisphänomene, die sich eng an Goethes Lehre von den Urphänomenen eines schöpferischen Lebens anlehnt. Im Grunde ist es ihm um die Objektivität der unterschiedlichen Wege wissenschaftlicher Wirklichkeitserkenntnis zu tun. Dabei

anderen als ein sinnliche Komponenten in sich zu schließen [ . . . ] scheint.« – Ebd., 148. 100 Ebd., 149 f. 101 Ebd., 151. 102 Ebd., 165, 168.

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teilt er die Überzeugung, daß sich die Wirklichkeit – als die Welt des Lebens, der Seele und des Geistes, uns am ursprünglichsten in der Wahrnehmung erschließt und offenbart. Bislang hatte Cassirer darauf bestanden, daß dieses dem Leben am nächsten kommende Vermögen sich der phänomenologischen Analyse als sinnliche Ding- und als emotionale Ausdruckswahrnehmung ausweist. Die reflexiv, rückschauend geführte Untersuchung, die er Mitte der 30er Jahre aufnimmt, führt ihn auf drei urphänomenale Modi oder Weisen des Konstituierens, die uns den »Zugang zur ›Wirklichkeit‹« eröffnen, in denen sich »all das, was wir ›Wirklichkeit‹ nennen«, erschließt. 103 Deshalb dürften diese Modi oder Basisphänomene die »eigentlichen Quellen der Wirklichkeit« genannt werden. Die neue Lehre umfaßt diese reflexiven Annäherungen an die metaphysischen Basisphänomene, die Erkundung ihrer uns die Wirklichkeitserfahrung erschließenden Leistungen (Icherleben, Erfahrung des Anderen, Dingerfahrung) und die Fundierung der Grundrichtungen wissenschaftlicher Begriffsbildung und Objektivierung durch sie. 104 Ein Argumentationsstrang beginnt mit dem Tatbestand, daß Wirklichkeit uns immer irgendwie erscheint. Die bereits von Hobbes angesprochene »Grund- und Urtatsache des ›Erscheinens selbst‹« fungiere als »gemeinsame Wurzel« der Wirklichkeitserfahrung. 105 Das meint die Tatsache, daß die Welt einem Teil der Welt, dem »Lebendigen«, erscheint, sich ihm als ein Bild vergegenwärtigt und »objektiviert«. Das Urphänomen des einem Lebendigen Erscheinens impliziere drei Grundrichtungen, die jeweils einen »Prozeß der Objektivierung«, d. h. der Wirklichkeitskonstitution, und folglich der Wirklichkeitserkenntnis tragen. 106 Zu einer nicht unproblematischen Deutung greifend gelangt er zu der Schlußfolgerung, daß sich diese drei Grundrichtungen bereits bei Goethe als Urphänomene geistigen Verhaltens des Künstlerlebens finden. 107 Goethe selbst spricht von »Leben«, »Erlebtem« und »Handlung und Tat«

103

ECN 1: 131. J.M. Krois vermutet bei Cassirers Theorie der Basisphänomene sogar noch mehr als nur eine metaphysische Auslegung der Wirklichkeitserfahrung: er hält es für wahrscheinlich, daß die drei Basisphänomene auch die »Stelle der drei Menschenrechte Lockes ein[nehmen]: des Rechtes auf Leben, Freiheit und Eigentum«. – Krois (1995: 320 Anm. 101). 105 ECN 2: 4. 106 Ebd., 6. 107 »Wir knüpfen noch einmal an Goethes Maximen 391–393 an, um eine Übersicht zu gewinnen über die Basisphänomene, von denen wir ausgehen müssen, um irgend einen Zugang zur ›Wirklichkeit‹ zu gewinnen – und in denen sich all das, was wir ›Wirklichkeit‹ nennen, ursprünglich aufschließt und erschließt«. – ECN 1: 131. 104

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bzw. »Wort und Schrift«. 108 Cassirer reformuliert diese drei Verhaltensweisen bzw. Richtungen des lebendigen Geistes dann als phänomenologisch aufweisbare Intentionen auf drei Pole – auf die »Monade« (Ich), auf das »Nicht-Ich« (Du) und auf das »Es« (objektiviertes Ich/Werk). Mit diesen Ur- oder Basisphänomenen, die keine kausal gemeinte Frage nach ihrem Warum zulassen, grenzen sich gleichzeitig »drei Kreise des Seins« gegen einander ab. 109 Die drei Wirklichkeit erschließenden Verhaltensweisen oder Urintentionen und die durch sie konstituierten »Kreise des Seins« sind allerdings nicht als »Stufen innerhalb einer absoluten Wirklichkeit« zu verstehen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um »Beziehungen«, die innerhalb der Erkenntnis der Wirklichkeit obwalten. 110 Die Basisphänomene sind nämlich nicht das, »was uns irgendwie vermittelt wird, sondern sie sind die Weisen, die Modi der Vermittlung selbst«. 111 Deshalb müsse die Philosophie, wenn sie Erkenntniskategorien erörtert, sich stets darüber klar sein, in welcher der drei Dimensionen des Ich, Du oder Es112 sie gerade steht. Die traditionellen Erkenntnistheorien explizierten nämlich unterschiedlich einseitige Auffassungen von Wirklichkeitserkenntnis, die sich jeweils auf eines der drei Basisphänomene als deren »Basis« zurückverweisen lassen. 113 Außerdem decke die Analyse auf, daß jeder möglichen Erkenntnis-Basis je eine bestimmte, charakteristische »Form der Erkenntnis« zugeordnet ist, nämlich die »Form der ›Intuition‹, der ›Aktion‹, der ›Kontemplation‹«.114 Von einer »gemeinsamen Wurzel« bzw. von der möglichen Reduktion auf eine letzte Einheitsbasis der Erkenntnis will Cassirer nicht sprechen. Vielmehr soll die Überschau der gegeneinander abzugrenzenden drei Urphänomene sie mittelbar als eine Ganzheit erfassen. 115 Unmittelbarkeit der Basisphänomene der Wirklichkeitswahrnehmung und mittelbare, diskursive

108

Goethe (1907: Maximen Nr. 391–393), Goethe (1998: Bd. 12, Maximen 227–229). An die Maximen Nr. 391 und 392 über das Urphänomen des geistigen Lebens hatte Cassirer bereits 1916 in FF angeknüpft. Merkwürdig ist, daß er die bei Goethe folgende vierte Maxime (Nr. 394), in der von der Rückwirkung der äußeren Menschenwelt auf die Monas und ihr Erleben die Rede ist, unberücksichtigt läßt. 109 ECN 2: 9 f. 110 Jede der »drei Grundrichtungen« konstituiert eine »selbständige Dimension der Erkenntnis; jede dieser Dimensionen besitzt einen eigenen Charakter«. – Ebd., 12 f. 111 Sie sind die »Fenster der Wirklichkeitserkenntnis«, sind der »Blick, den wir auf die Welt werfen«. – ECN 1: 132. 112 Die gegenständliche Welt des ›Es‹ gliedert sich bei Cassirer »in die Welt der Natur und in die der Kultur«. – ECN 2: 12. 113 ECN 1: 165. 114 Ebd., 166 f. 115 ECN 2: 14 f.

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Theorie läßt er allerdings nicht einfach als antinomischen Gegensatz stehen. Hier erwachse der Philosophie der symbolischen Formen eine wichtige Aufgabe, indem sie diese drei Grundintentionen des Wahrnehmens, die sich als »›Pole‹ der Wirklichkeitserkenntnis« erweisen, korrelativ aufeinander zu beziehen hat. 116 Das Problem besteht darin, daß wir uns dabei immer nur einem Urphänomen schauend und denkend zuzuwenden vermögen. Obwohl wir also uns nie aller drei gleichzeitig bewußt sind, nie alle drei gleichzeitig in den Blick nehmen können, lasse sich die ganzheitliche Wirklichkeitserfahrung, an der alle Basisphänomene konstitutiv beteiligt sind, dennoch, aber nur vermittelt, nur Schritt für Schritt freilegen und erfassen. Den Zugang zu solch einer ganzheitlichen Theorie eröffne die Geschichte der Philosophie bzw. der Metaphysik. 117 Einen zweiten Zugang erlauben die Wissenschaften, auch wenn wir in ihren Einstellungen zunächst einmal von den Urphänomenen, von den Grundintentionen der Wirklichkeitswahrnehmung absehen. Deshalb sei hier eine Blickwendung, eine Umkehrung des »Sehstrahles« notwendig, »um die bezeichneten ›Urphänomene‹ wieder zu sehen zu bekommen«. 118 Dieser Gedanke der notwendigen Blickwendung harmoniert mit Natorps Methode der psychologischen Rekonstruktion als Weg der Subjektivierung. 119 Dabei verhält es sich mit den Basisphänomenen ebenso wie mit der Unmittelbarkeit des subjektiven Lebens: keinerlei noch so »selbstherrliche ›geisteswissenschaftliche‹ ›Intuition‹« vermag das »›Unmittelbare‹ des Lebens« unmittelbar zu erfassen und mitzuteilen. Das Leben und die Basisphänomene der Wirklichkeitserfahrung sind immer nur indirekt sichtbar zu machen, und dies, »indem wir von den ›objektiven‹ Gebilden zurückfragen nach ihren ›subjektiven‹ Quellen und ›Ursprüngen‹«. 120

116

Ebd., 22, 24 f. Die Metaphysik deutet Cassirer als das Verfahren, jeweils immer nur ein Urphänomen herauszuheben, zu deuten und zum Grundprinzip zu erheben, die anderen dabei aber ausgeblendet zu lassen. Weil jede Klasse von Basisphänomenen philosophiegeschichtlich einmal metaphysisches Grundprinzip gewesen ist, ergeben die »Formen, die Typen der Metaphysik, wie sie tatsächlich in der Geschichte hervorgetreten sind, eine mittelbare Darstellung dieser Strukturverhältnisse« der Wirklichkeitserkenntnis bzw. der sie konstituierenden Basisphänomene. (ECN 1: 152 f.) Ein »systematischer Überblick über Haupt- und Grundrichtungen der neueren Philosophie« fi ndet in ihnen »jene ›Urphänomene‹ wieder, die Goethe gegen einander abzugrenzen versucht hat.« – ECN 2: 21. 118 ECN 1: 139. 119 Ebd., 145, Siehe dazu auch Möckel (2002a). 120 ECN 1: 145. 117

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Der Einwand, den Cassirer gegen Goethes Lehre von den Urphänomenen geistig-lebendigen Tuns erhebt, läuft darauf hinaus, daß ihre Forderung, es beim Anschauen der nur im Erscheinen faßlichen Urphänomene des »Lebens, des Handelns und des Tuns« zu belassen, also nicht reflexiv hinter sie zurückzustreben, nur von einem Künstler aufgestellt werden konnte. Einem Philosophen bleibe eine solche Position grundsätzlich versagt. Im »Ganzen des geistigen Lebens« sei eine sich dem diskursiven Denken enthaltende Position schon deshalb nicht möglich, weil die »›Verstandes‹-Funktion des Fragens« zu den »ursprünglichen und wesenhaften Funktionen des Geistes« gehört. 121 Dieser Einwand trifft Goethe gewissermaßen als Vorläufer der Lebensphilosophie. 122 Es sei aber eine Synthese der »Goethischen Forderung der ›Urphänomene‹ und der Cartesisch-Kantischen Forderung der ›Reflexion‹ im Aufbau der Erkenntnis und im Aufbau der Philosophie« sehr wohl möglich und nötig. 123 Zunächst einmal hätten wir es bei den drei Urphänomenen Goethes mit dem tätigen, gestaltenden Leben zu tun. Die hier entworfene »dreifache Gradabstufung« bilde den Versuch eines »Aufbaus des Lebens nach der Art seines Seins und nach der Art, wie es uns selbst und anderen erkennbar ist – nach der Art des Wissens, die wir von ihm gewinnen können«. 124 Dabei läßt sich das »Phänomen des Ich, der Monas, des ›Lebens‹ schlechthin« sowohl biologisch-vitalistisch (Bergson) als auch psychologisch (Descartes) und transzendental (Natorp) beschreiben. Cassirer wiederum deutet diese Urphänomen als »strömende Bewegtheit«, als Ich, das sich »als gegenwärtig, als gewesen und als sein-werdend« erlebt. 125 Alle Wahrnehmungsdata emotionaler oder sachlicher Richtung sind ja grundsätzlich »irgendwem« gegeben, weshalb alle intentionalen Erlebnisse den »Ich-Faktor« einschließen. 126 Erst aus der metaphysischen Vereinseitigung dieses Basisphänomens entstünden jene »verschiedenen Grundformen der Lebensphilosophie«, in denen die unmittelbare »Intuition des Lebens« gegen das mittelbare abstrakte Denken des Ich gesetzt wird. 127 In erkenntnistheoretischer Hinsicht ordnet Cassirer dem Ich-Basisphänomen aber die »Form der ›Intuition‹« zu, der er jegliche objektivierende, gegenstandsbezogene Leistung abspricht. Werde mit ihr doch ein unmittelbares Erschauen (Erleben) des strömenden Lebens 121 122 123 124 125 126 127

Ebd., 127. Siehe dazu Möckel (2003a, 13 ff., 57 ff.). ECN 1: 130. Ebd., 123. Ebd., 133 f. Ebd., 122. Ebd., 154.

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selbst behauptet, wobei das Erleben mit dem Leben identisch sei und so keine Differenz zulasse. 128 Das Ich wird hierbei folglich nie sich selbst bewußt zum Gegenstand und schon gar nicht zur »allgemeinen Wahrheit«. Deshalb führe die Intuition als eigentümliche »Erkenntnisquelle« immer nur zum erlebenden Ich, wie dies Bergson, Descartes und Husserl realisieren. 129 Dennoch bleibt festzuhalten, daß das Leben, die Monas, das erlebende Ich als ein Urphänomen der Wirklichkeitserfahrung auch als eine Erkenntnisquelle – neben anderen – anerkannt wird. Isoliert betrachtet erscheint das zweite Basisphänomen als ein »Bewußtsein des Wirkens«; es wird als ein Bewußtsein von Gegen-Stand, von Entgegen- bzw. Wider-Stehendem erfahren, das wir allerdings ursprünglich als ein in der Willenserfahrung gegebenes Du und nicht als ein sachliches Es erleben. 130 In erkenntnistheoretischer Hinsicht werde die Dimension des Aktions- und Willensmomentes (Expansion, Wendung zur Welt) durch bestimmte philosophische Systeme einseitig thematisiert. 131 So setze der amerikanische Pragmatismus auf den blinden Willen (Trieb), der den Intellekt aus sich heraus und von sich abhängend schafft, womit er ihn – ähnlich der Lebensphilosophie – dem Willen zum Leben unterordnet. Die isolierend-einseitige Behandlung des dritten Basisphänomens der Wirklichkeitserfahrung, so im Romantizismus und in der Mystik, laufe auf die Verabsolutierung des intendierten Werkes als dem »Ziel und Ende des ›Wirkens‹« hinaus. Dabei werde in das Werk oft nur deshalb voreilig ein »negativer Sinn hineingelegt«, weil in ihm eine »Entfernung vom Ich«, auch eine »Ent-Fremdung« von diesem gesetzt ist. Cassirer allerdings deutet diesen »Ausdruck der ›Fremdheit‹« vielmehr als den »Anfang zu einer ganz neuen Position – zu derjenigen ›Position‹, die uns erst zu dem eigentlichen [sachhaften – C. M.] Wirklichkeitsbewußtsein hinführt«. 132 Folglich ist im Es-Basisphänomen ein »›echtes‹ Wahrnehmen« be- und erschlossen, das eben nicht bloß »subjektives Empfinden ist, sondern einen Gegenstandsbezug in sich schließt«. 133 Verlebendigung der Wirklichkeit und Gewißheit von der Existenz des Anderen gilt zwar auch als eine Weise der gegenständlichen Intentionalität, aber eben nicht als sachlich-sinnliche, sondern als emotionale, ausdrucksphänomenale. 128

Ebd., 167 f. »Für Bergson verschmilzt die Intuition des Ich mit der universellen Intuition des ›Lebens‹«. – Ebd., 169. 130 Ebd., 134 f. 131 Ebd., 179 f. 132 Ebd., 136. 133 Ebd., 149. Hier ist vom Natur- als auch vom Kulturgegenstand die Rede. 129

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3.2 Kulturwerke und Kulturwissenschaft Allen Formen der Wirklichkeitserkenntnis ist das Ziel gemeinsam, aus dem »Strom des Geschehens«, der von einem Ich erlebt wird, »bestimmte Gestaltungen herauszulösen, die in gleichartiger Weise wiederkehren.« Diese Fähigkeit der Unterscheidung und Herauslösung, die das Leben überhaupt kennzeichne und die für Cassirer kein lebensfremdes oder lebensfeindliches Vermögen ist, vollziehe sich in der Wahrnehmung als der elementaren Weise von Wirklichkeitserfahrung in den zwei bekannten Richtungen: als »Dingwahrnehmung« mit sinnlich-sachlichen Konstanten oder Invarianten (Es) und als »Ausdruckswahrnehmung« (Du) mit ihren personalen Gestaltungen. 134 Die »Richtung der ›Synthesis‹« geht entweder auf physiognomische Gestalten oder auf objektive Gesetze,135 die jeweilige Konstanz bzw. Invarianz ruht also auf unterschiedlichen Gesichtspunkten. Die sich an die sachliche Dingwahrnehmung anschließende theoretische, wissenschaftliche Einstellung strebt nach der völligen Vertreibung des emotionalen Affektes und damit der Subjektivität (Du) aus der objektiven Weltanschauung (Es). Der Erkenntniswert der darstellenden, empirischen Wahrnehmung beruhe nämlich auf der ihr »innewohnenden ›symbolischen Prägnanz‹«, nicht jedoch auf der Unmittelbarkeit des Verstehens wie bei der Ausdruckswahrnehmung. 136 Das rein sachliche Erkenntnisziel der Naturwissenschaft erweist sich als besonders problematisch und wirklichkeitsverengend, wenn wir es mit der gestalteten Welt des Menschen zu tun haben, die sowohl als natürliche als auch als kulturelle Es-Objektivität verstanden werden muß, wobei die eigentlichen Kulturwerke beide Arten von Objektivität in sich vereinen. Außerdem tue sich mit den Begriffen »Seelisches« und »Fremdpsychisches« noch ein weiterer Begriff von Wirklichkeit auf, dem die Objektivierung auf der Grundlage des Du-Basisphänomens entspricht, das der Ausdruckswahrnehmung zugrundeliegt. 137 Hierbei handelt es sich nicht um das Deuten, sondern um das Erschließen seelischer Zustände. Das die unmittelbar gewisse Wirklichkeit von Fremdpsychischen bezeugende reine Ausdruckserlebnis erweist sich so als Urphänomen auf »unerschüt terlichem Grund«. Es läßt sich theoretisch nicht eliminieren, weil es – ebenso wie die anderen Basisphänomene – zu den »Konsti-

134 135 136 137

ECN 2: 83 f. Ebd., 92. Ebd., 97. Ebd., 135.

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tuentien eben dieser ›Welt‹« gehört. 138 Die reflexive Wissenschaft vom Fremdpsychischen vertreibt allerdings diese unmittelbare Anschauung fremden Lebens und fordert den mittelbaren theoretischen Beweis. Wird dabei das fremdseelische Leben zunächst als eine physische Realität behandelt, so erfolgt auf einer dritten Stufe die Wende zur Welt der Formen, die der Mensch aus sich heraus schafft, in der er »lebt« und »ist«, und in der Verstehen und Mitteilung des Verstandenen die Existenz des Fremdpsychischen verbürgen und evident werden lassen. Andererseits umfaßt die auf der sachlich-gegenständlichen Urintention der Wirklichkeitswahrnehmung gründende Art der Objektivität, die mit den Werken der Kultur einen »Kreis des Seins« konstituiert, der »ganz aus uns selbst stammt, ohne doch uns selbst anzugehören«, und an dem die »Welt des Menschen erst ihren festen Kristallisationspunkt und damit ihren sicheren Mittelpunkt« findet, alles, worin sich die »Grundfähigkeit des Geistes, die Fähigkeit zum Gestalten, zum Formen, zum produktiven Bilden bekundet«. In ihr und kraft ihrer erschließt sich uns die »spezifisch-menschliche Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Kultur«. 139 Diese umfaßt auch die Naturwissenschaft samt deren Erkenntnisgegenstände, anderseits unterscheidet sich in der Welt des Es die Welt der Kultur von der der Natur. Die Kulturwissenschaften verfolgen ein »eigentümliches Erkenntnisziel«, das weder mit dem der Naturerkenntnis, noch mit dem der historischen Erkenntnis zusammenfällt, das vielmehr eine »dritte selbständige Koordinaten-Achse darstellt und damit eine neue ›Dimension‹ des Wissens begründet«. 140 In LKW heißt es wenig später, das Ziel der Kulturwissenschaft sei es, die »Totalität der Formen, in denen sich menschliches Leben vollzieht«, zu erkennen. 141 Dagegen sucht die Geschichtswissenschaft »vergangenes Leben« zu verstehen, indem sie es deutet. 142 So bewahrt sie seine »Form«, weil der »Inhalt« nicht zu erneuern und wiederzubeleben ist. Damit fungiert die historische Betrachtung der kulturellen Formen des menschlichen Lebens als materiale Grundlage für die diese Formen erforschenden und 138

Ebd., 138 f. Ebd., 10 f. 140 Ebd., 153. Die Naturerkenntnis teilt sich in theoretische (Physik) und beschreibende (Biologie). Bei den Kulturwissenschaften, die sich an den symbolischen Formen orientieren, scheinen Soziologie und politische Wissenschaft einen Sonderstatus zu besitzen bzw. nicht dazuzugehören. Zudem bilden Geschichtswissenschaft und Mathematik eigenständige Erkenntniswege und -ziele. 141 LKW: 76. Diese besitzen trotz ihrer Differenziertheit eine »einheitliche Struktur« in Form oder Stil. 142 Ebd., 77. 139

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entfaltenden Kulturwissenschaften. Indem die mit Hilfe der »Fülle der Form- und Stilbegriffe« eine »Wiederbelebung« der Kultur der Vergangenheit vollbringen, werden die historischen Monumente, die von der Geschichte erforscht werden, von ihnen als »Symbole« aufgefaßt, die uns »bestimmte Lebensformen« erkennen und wiederherstellen lassen. 143 Die grundsätzliche Schwierigkeit sieht Cassirer darin, daß der produktive Prozeß des Erschaffens von kulturellen Symbolen und der reflexive Prozeß ihres Begreifens notwendig entgegengesetzte Richtungen geistiger Aktivität bilden, die nicht zugleich vollzogen werden können. Die Kulturwissenschaft vermag diese Symbole und das Leben, aus dem sie hervorgegangen sind, nur deshalb zu erklären, weil sie »Lehre von den Formen« ist, in denen sich das »geistige Leben der Menschheit« vollzieht. 144 Jegliche Form spricht den konkreten Charakter eines kulturellen Phänomens aus und fällt deshalb mit der symbolischen Form zusammen. Die einzelnen Kulturwissenschaften sind für Cassirer somit Theorien einer jeweiligen Form. Durch »universale Überschau« löse die eigentümliche Methode einer jeden kulturwissenschaftlichen Disziplin aus der »Fülle der Einzelphänomene ein ›Urbildliches‹ und Typisches«. Diese ›idealtypische‹ Betrachtung (Max Weber) stelle eine »eigene und legitime Art der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung« dar. 145 Es geht Cassirer also um die urbildlichen und typenhaften »Grundformen der Kultur«, deren mögliches Erfassen einen bestimmten ›Blickpunkt‹, eine bestimmte Art der Betrachtung voraussetzt. Dabei drückt der Begriff des Ganzen, der einer Epoche etc. etwas Charakteristisches aus, was uns auf eine »›physiognomische‹ Erkenntnis« (Goethe) zurückführt. 146 Die Ausdruckswahrnehmung, und mit ihr das Du-Basisphänomen, sei folglich der »natürliche Ausgangspunkt aller kulturwissenschaftlichen Forschung«. Selbstverständlich kann sich diese nicht auf den Ausgangspunkt beschränken. Aber es ist vor allem die »Ausdrucks-Sprache« (Physiognomik), der sich die Eigenart des kulturellen »Lebens einer Epoche« erschließt. 147 Gleichzeitig hat es die Kulturwissenschaft aber auch mit den kulturellen Werken zu tun, was Erkenntnismethoden erfordert, die das materiale und das Formmoment des Werkes zu erschließen vermögen. 143

»Die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen«. – Ebd., 86. 144 ECN 2: 160. 145 Ebd., 161 f. 146 Ebd., 168. 147 Ebd., 82.

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Bei den Begriffen, die die Kulturobjekte bzw. ihren ideellen ›Bestand‹148 aufklären sollen, erschließt sich ihre Spezifik aus der Weise, wie sie die »Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine vollziehen«. Dies erfordert nämlich eine andere »Art der ›Zusammenschau‹« als in der Naturwissenschaft,149 die eine andere Beziehung zwischen Individuellem und Allgemeinem freilegt. 150 Diese zum Wesen des Begriffs gehörende Beziehung nennt Cassirer den »Lebensfaden des Begriffs«, der niemals zerschnitten werde dürfe. 151 Daneben weist er bei dieser spezifischen Weise der Subsumtion auf den Bezug auf ein entsprechendes »Lebensgefühl« bzw. Weltgefühl der Menschen hin. Gemäß ihrer Spezifik zielt die kulturwissenschaftliche Betrachtung deshalb vor allem auf das Subjektive, hat sie doch »Tätigkeits-Pole« (ästhetischer, religiöser, rechtlicher etc.) zu unterscheiden. Außerdem bewegt sie sich in einer »Welt der Formen«, die nur im »funktionellen Vollzug« als Aufbaubewegung des Ich, des Subjektes erfaßt werden können. 152 Die hierbei sichtbar werdende eigene Weise der Objektivität bezeichnet Cassirer als »umfassende Totalität der Erscheinungen und der Formen des Geistes«. Zudem darf sich bei dieser Betrachtungsweise das Subjekt nicht selbst verlieren, da es mit sich als dem Organisator aller Formen auch alle Objekte bzw. Formen verlieren würde. Deshalb stehe für die Kulturwissenschaft auch nicht das fertige Werk, sondern die jeweilige formbildende Tätigkeit des Subjektes im Mittelpunkt des Interesses. Auf den beständigen »Fluß« einer Kulturform, der ihr geistiges Sein nicht zerstört, sondern vielmehr als seine Bedingung fungiert, wendet Cassirer – wie auch Spengler – den Goetheschen Begriff der Metamorphose als passenden Terminus an. 153 Die Problematik des über das Es-Basisphänomen aufzuschließenden Werkes, in dem der Mensch sich objektiviert und durch das er andern mittelbar kenntlich wird, sieht Cassirer sowohl in Simmels Theorie von der ›Tragödie‹ der Kultur als auch in Goethes Dichtwerk »Prometheus« 148

Dieser geht weder in den physischen Momenten der Objekte noch in den durch sie dargestellten Gehalten auf, und auch nicht in den psychischen Akten des Sprechens, Malens, Glaubens etc. 149 LKW: 72 f. 150 Kulturwissenschaftliche Begriffe sind nach Cassirer »Form- und Stilbegriffe«, die »Strukturprobleme« erfassen müssen, weshalb sie weder ›nomothetisch‹ (Naturwissenschaft) noch ›ideographisch‹ (Historie) sein können. (Ebd., 58 f.) Diese Strukturbegriffe gehören alle »zur selben logischen ›Familie‹«, jeder einzelne Stil-, Struktur- oder Formbegriff drückt eine »eigene ›Weltsicht‹« bzw. »Grundrichtung des Denkens und Vorstellens«, »Anschauens und Sehens« aus. – Ebd., 62. 151 Ebd., 69 f. 152 »So bleibt das Subjekt hier der dauernde und feste Mittelpunkt, von dem aus immer weitere Daseinskreise erobert werden.« – ECN 2: 170. 153 Ebd., 172 f.

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aufgeworfen. 154 Hier werde der »merkwürdige Umschwung« zum Thema gemacht, der in diesem Schaffensprozeß statthat und der das Werk seinem Schöpfer entfremdet. 155 Die durch Romantik und Hegel unternommenen dezidiert metaphysischen Erklärungsversuche des Es-Basisphänomens bzw. der kulturellen Werk-Sphäre als einer Sphäre von Formen wertet Cassirer als gescheitert. 156 Dagegen sei Kant seiner Erklärung weitaus näher gekommen, indem er bei der Unterscheidung von Werken der Naturwissenschaft, der Sittlichkeit und der Kunst grundsätzlich auf »Strukturfragen« gezielt habe, die wiederum auf »universelle Formen« in den jeweiligen kulturellen Lebenskreisen wiesen. 157 An diese Erklärung knüpfe auch die Philosophie der symbolischen Formen an, wenn sie »nach der ›Struktur‹ der Werke«, nach ihren Bedingungen fragt und sie in ihrer allgemeinen Form dargestellt. Vom geschichtlichen Material aus, das ihr die Historie bereitstellt,158 vollzieht diese Philosophie ihre »Wendung ins Allgemeine«, hin zu den Formen. Das sei dann die »echte Konstitution« der Welt der Formen, mit der sich erst der »wahrhafte Zugang« zu der Sphäre der Kulturwerke erschließt. Seiner Philosophie gehe es um die Erkenntnis jeder eigentümlichen Form der Kultur-Werke als spezifischer und universeller »Form der Sinngebung«. 159 Erkenntnistheoretisch bewege sich das interesselose Ringen um das Werk bzw. um seine jeweilige Form in der von Sokrates entdeckten Sphäre der Kontemplation.160 In ihr schafft der kontemplativ Schauende eine neues Reich, das weder bloß theoretisch (intuitiv) noch rein praktisch (aktiv) ist, schafft er die Sphäre des Werkes, in der durch die ›Wendung zur Idee‹ das »Reich der Form« entdeckt wird. 161 Die im abstraktlogischen Begriff und im technisch-praktischen Wirken wurzelnde Idee gehe »über beides hinaus; sie hat eine eigenartige ›Transzendenz‹«, sie richtet »ein ›drittes Reich‹ – das ›Reich der reinen Formen‹ auf, das sich

154

ECN 1: 125. »Das Werk gehört uns schon nicht mehr an – es ist die erste Stufe der ›Entfremdung‹; es steht in einer eigenen Ordnung, die objektiven Maßstäben gehorcht«. – Ebd. 156 Ebd., 155 f. 157 Ebd., 163. 158 »Diese ›Form‹ kann nur durch Versenkung in das empirische Material gefunden werden – und dieses ist uns nicht anders als in geschichtlicher Form zugänglich«. – Ebd., 163 f. 159 Ebd., 164 f. 160 Ebd., 187 f. 161 »Die Entdeckung dieses Imperativs des Werkes – seines autochthonen und autonomen Sinnes, seiner ›Bündigkeit‹ (Simmel, Freyer)« vollzieht jene »›Wendung zur Idee‹ (Simmel), die die Synthese von Theorie und Praxis enthält«. – Ebd., 191. 155

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uns in reiner Schau zu eigen gibt«. 162 Die Philosophie der symbolischen Formen vollbringe eine solche reine Kontemplation, nicht einer Einzelform, sondern des ganzen »Kosmos der reinen Formen«, und sie suche ihn auf die ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹ zurückzuführen. 163

4 Subjektives und objektives Kulturleben 4.1 Lebensgefühl und objektiver Sinn. Kulturgeschichtsschreibung und unzeitliche Form Wie bereits in PsF I-III für die symbolischen Formen Mythos, Sprache und Wissenschaft zeigt Cassirer nun für jegliche Kulturform, die ihre kulturwissenschaftliche Bewußtwerdung erlebt, daß sie im subjektiven Lebensgefühl der Individuen wurzelt, ihre letzte Quelle hat. Die Tatsache, daß er am Grundbegriff des subjektiven Lebensgefühls als der tiefsten Schicht rationalen Verhaltens festhält, wird u. a. dann manifest, wenn er auf das »spezifische« bzw. »dynamische Lebensgefühl« bei Goethe zu sprechen kommt, das als eine Art inneres Prinzip seiner gesamten Lebenstätigkeit eine bestimmte Richtung, Prägung, Sichtweise gebe. 164 Ideengeschichtlich werde das subjektive Gefühl bzw. Lebensgefühl in den Werken Herders – wie in der Bewegung des Sturm und Drang überhaupt – geradezu geadelt. Für diesen erschließt sich das Wesen des Menschen viel »unmittelbarer, ursprünglicher, unverfälschter« aus seinem Gefühl. Die objektivierenden Leistungen des Subjektes werden dabei als die »Außenseite« des »Fühlens« gedeutet. 165 Diese Auffassung einer sich äußernden Innerlichkeit sei dann zum »Quell eines neuen Lebens« für die damalige Geschichtsschreibung geworden. Indem in Herders Darstellungen die geschriebene Geschichte von einem äußerlichen Geschehen zum »großen innerlichen Drama des Menschentums selbst« wird, erscheint sie »mit einem Schlage [ . . . ] belebt«. 166 Diese Bemerkungen machen deutlich, daß Cassirer das Moment der Lebendigkeit in der Geschichtsschreibung sehr schätzt. So fordert er – mit Herder und Goethe – die »lebendige Anschauung früherer gei-

162

Ebd. Ebd., 194 f. 164 EP IV/ECW 5: 163, 166. Auch bei Haeckel sei außer seinem »Weltbild« noch sein »Lebensgefühl« zu beachten. – Ebd., 237. 165 Ebd., 256 f. 166 Ebd., 255. 163

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stiger und menschlicher Zustände«,167 und würdigt als die eigentliche »Lebensarbeit« Herders dessen »lebendiges Verstehen« der Geschichte. Auch für ihn ist und bleibt die »lebendige geschichtliche Forschung oder geschichtliche Darstellung« Ziel und Aufgabe der wissenschaftlichen Historie. 168 Selbst die historische Objektivität soll und kann sich aus der »Quelle der lebendigen Anschauung« nähren. 169 Parteilichkeit beim Historiker mißbilligend hat Cassirer nichts dagegen einzuwenden, daß die persönliche Eigenheit des Wissenschaftlers die Forschung »belebt und beseelt«. 170 Neben dem sich äußernden Gefühl ist für Herder, und auch dem stimmt Cassirer zu, in jedem einzelnen Dasein der »Sinn des Ganzen lebendig«; er stellt sich in der Totalität der Erscheinungen im historischen Nacheinander dar. 171 Sein Setzen auf die Subjektivität, auf das Lebensgefühl habe Herder eine »seelisch-geistige Interpretation der Geschichte« ermöglicht. 172 Bei ihm fungiert das Lebensgefühl gleichzeitig als Gegenstand und als Methode der Geschichtsschreibung. Dem wahren Geschichtsschreiber gehe es nämlich darum, die »Lebensfülle« des historischen Gegenstandes darzustellen. 173 Allerdings gewinnen wir eine freiere Haltung zu unserem »subjektiven Lebensgefühl« erst nach und nach. Nachdem der Mensch innerhalb der mythischen Lebensform dem »dumpfen Bann des Gefühls«, der ihn überwältigenden »subjektiven Leidenschaft« regelrecht ausgeliefert ist, erlaube es erstmals das religiöse Bewußtsein mit seiner Ahnung einer universellen objektiven Ordnung in der Natur und einer sittlichen Ordnung in der Menschenwelt, sich aus dieser Umklammerung »zu befreien«. 174 Gleichzeitig wird die äußere (objektive) und innere (subjektive) Erfahrungswelt des Menschen in den symbolischen Formen wechselseitig aufgebaut. Dieser Aufbau lockert die ursprünglich noch sehr enge Wechselbestimmung von »einmaliger, flüchtiger Stimmung« und ideeller, auf Dauer und Ewigkeit zielender

167

Ebd., 259. Ebd., 270. 169 Ebd., 276. 170 Ebd., 271. 171 Ebd., 258. 172 Diese Orientierung komme in »Herders subjektiver Art, die Geschichte zu erleben«, zum Durchbruch und trage die von ihm in dem Zusammenhang vollzogene »Einfühlung in fremdes Seelenleben«. (Ebd., 260 f.) Ende des 19. Jahrhunderts teile noch Lamprecht mit Herder den »gleichen Enthusiasmus für die Fülle des ›Seelentums‹«, die »sich im geschichtlichen Leben ausdrückt«. – Ebd., 327. 173 Ebd., 368. 174 LKW: 1. 168

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»Denkweise«, ohne sie allerdings ganz aufzulösen. In ihr entfaltet z. B. auch die Kunst das ihr »eigentümliche Leben«. 175 Cassirer ist der Überzeugung , daß die Gegenstände der Kulturwissenschaften historisch beschrieben und gedeutet werden, weshalb er sich intensiv mit den Methoden bzw. dem methodischen Selbstbewußtsein in der Kulturgeschichtsschreibung befaßt. Obwohl selbstverständlich auch die organische Naturform ein historisch – entwicklungsgeschichtlich – zu behandelnder Gegenstand ist, steht für ihn das System der Kultur, das System der symbolischen Kulturformen im Zentrum der Historie. Wenn von einzelnen Kulturgebieten die Rede ist, die jeweils ihre symbolische Form des Geistes realisieren, dann spricht Cassirer, wenn es um deren empirisch-beschreibbare Existenz geht, oft vom »staatlichen Leben«, vom »Leben der Wissenschaft« etc. 176 Gleichzeitig wird den einzelnen Lebenssphären der Kultur die gleiche subjektiv-objektive, sinnlich-sinnhafte Doppelrichtung oder Doppelnatur zugeschrieben, die auch den symbolischen Formen eignet. Weil eine kulturelle Gestalt wie die Religion ihrem »Wesen nach aus der Sphäre des ›Bildes‹, aus der Sphäre der Anschauung und der Phantasie, niemals heraustreten [kann]«, ist und bleibt sie dem Urphänomen des Lebens, »diesem Erdreich«, verbunden. 177 Dabei läßt sie das »Bild niemals bloß als Bild« der Wahrheit gelten, vielmehr hat es für sie immer auch eine Bedeutung als ideelle Wahrheit. Und genau das macht ihren Grundkonflikt als symbolische Form aus. Aus diesem Grunde interessiert sich Cassirer für das Unzeitliche im historischen Leben bzw. in seiner Beschreibung. 178 Schon die Biologie als Wissenschaft der organischen Lebensform entwickelt sich in einer diesen Konflikt austragenden Weise um die Begriffe des wandelbaren Typus und der wandelbaren Gestalt. Und in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts vollziehe sich die Suche nach dem Beständigen, nach dem sinnstiftenden Ganzen, nach den Formen, ohne die das Einzelne und Individuelle ohne Tiefe und Bedeutung bleibt. 179 Dieses Beständige, Ideelle, Ganzheitliche, Formhaltige macht aber, so will es

175

Ebd., 31. So verlautbart Lyrik, die »scheinbar ›subjektivste‹ Kunst«, nicht bloß eine »augenblickliche Stimmung« des Ich, sondern lehrt auch ein »neues Weltgefühl« und erfüllt somit ihre »objektiven Gestaltungen« mit »dem stärksten und intensivsten Leben«. – Ebd. 33. 176 EP IV/ECW 5: 292, 341. 177 Ebd., 343. 178 Ebd., 280. 179 Der Historiker hat »hinter dem Werden das Sein«, das »Beständige des geschichtlichen Lebens« zu suchen. – Ebd., 361, 363 f.

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die Philosophie der symbolischen Formen, selbst eine Metamorphose durch, allerdings immer nur innerhalb einer – symbolischen – Grundform des Leben. Auch hier verfährt Cassirer methodisch so, daß er systematische Gesichtspunkte in der Analyse historischer Theorien und Erklärungen des Problems aufzufinden sucht. Dies tue auch Burckhardt, wenn er in der Kulturgeschichte das »sich Wiederholende, Konstante, Typische« festhält und dabei Kontemplation und Intuition einsetzt, um die »wissenschaftliche Abstraktion« zu überwinden. 180 Nach ihm erlöst uns die Kunst aus der Fron an der Wirklichkeit, an der Nützlichkeit der Dinge. Allerdings werde Burckhardt an den plastischen Bildwelten der Kulturgestaltungen eine Metamorphose, ein »Werden im Sein«, einen »Gestaltwandel« gewahr, den die wahre Kulturgeschichtsschreibung mitzuteilen hat. Folglich muß die Weltgeschichte als »Geschichte von Lebensformen« erfaßt werden, wodurch sie dem Menschen auch Geistigkeit sichert. 181 Cassirer registriert aufmerksam, daß Burckhardt von der »Wandelbarkeit« des Geistes als dem Überzeitlichen spricht, ohne daß ihm »Vergänglichkeit« eignet. Der Geist bedeute hier vielmehr ein Schaffen von ständig neuen »Gestalten«, die Dauer besitzen. 182 Damit deutet sich eine gewisse Kompatibilität zur Auslegung der Kultur als eines geschichtlichen Komplexes symbolischer Formen an. Auch mit der Auffassung Voltaires, wonach die Geschichtsschreibung das »geistige Gesamtleben« darstellen soll, sympathisiert Cassirer. 183 Schon bei Burckhardt hatte er darauf aufmerksam gemacht, daß dieser die Geschichte als Kulturgeschichte verstehe und sie auf das gesamte »Geistesleben« anwende. Neben dem Staat kennt er weitere »gleichberechtigte und gleichursprüngliche Ideen, Potenzen und Grundkräfte des geschichtlichen Lebens«, die alle gemeinsam das »Geistesleben« als Ganzes ausmachen. 184 Cassirer hält es immer wieder für bemerkenswert, wenn ein Historiker die Gesamtheit des »politischen und sozialen Lebens«, das »gesamte Leben« des Menschen verständlich machen will, auch wenn er diese Einheit aus einer einzelnen »Grundform und Grundrichtung« des geistigen Lebens aufbaut oder ableitet. 185 Die einzelnen Gestalten kulturellen Lebens seien nur »in ihrem Ineinander, in ihrer lebendigen Konkretion gegeben«, sie existieren folglich in Korrelation. Der Historiker, der dem Kulturwissenschaftler und dem Philosophen 180 181 182 183 184 185

Ebd., 321 f. Ebd., 323 f. Ebd., 336. Ebd., 308. Ebd., 314. Ebd., 359, 362 f.

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für die symbolische Überschau das Material bereitstellt, eröffnet auf die Weise einen »Einblick in die Lebensformen der Vergangenheit«. 186 Hier meint der Terminus der Lebensformen sowohl die symbolischen Formen der Kultur als auch die eigentümliche Epochen- oder Zeitalterordnung. Weil alle Kulturen (Kulturwerke) in der Geschichte stehen, gehören Kultur- und Geschichtswissenschaft zusammen. Wobei für Cassirer der übergreifende »Sinn« der Geschichte und ihre einzelnen Augenblicke in einem prägnant symbolischen Verhältnis stehen. 187 Um dieses freizulegen, muß der »geschichtliche Blickpunkt« das »ewig-flutende Leben der Geschichte« mit einem systematischen Gesichtspunkt, mit eigenen Ordnungen in den kulturellen Kräften verbinden. Das läst sich am Gebiet der Sprache, der sprachlichen Weltbildung als einer spezifischen Sinneinheit illustrieren. Ist uns z. B. erst einmal das »Sprachverstehen« zum eigentlichen Ausdruck des »Weltverstehens« geworden,188 und ist das erwachte Sprachbewußtsein als ein Symbolbewußtsein begriffen, dann erschließe uns die »sprachliche Symbolik« eine völlig neue »Phase des seelisch-geistigen Lebens«. An Stelle des »bloß-triebhaften Lebens, des Aufgehens im unmittelbaren Eindruck und in den jeweiligen Bedürfnissen, tritt das Leben in ›Bedeutungen‹«. Diese werden in »unzähligen Lebensmomenten« als »Identisches gemeint und verstanden«. Die Sprache ist für Cassirer die »erste ›gemeinsame Welt‹«, in die die Individuen eintreten. Sobald wir in einer neuen Sprache »denken und leben«, hat sich uns ein »neuer Kreis des gegenständlichen Anschauens erschlossen«. 189 Kulturleben, wozu Sprache, Kunst, Religion, Staat bzw. das »staatliche Leben« zählen,190 schlägt sich in Kulturwerken nieder. Diese sind »physisch-materialer Art; die Individuen, die diese Werke schaffen, haben ihr psychisches Dasein und [soziales- C. M.] Eigenleben«. 191 Diese drei Aspekte des Werkes werden durch physikalische, psychologische und soziologische Begriffe separat erfaßt. Mit ihnen läßt sich aber der jeweilige religiöse, wissenschaftliche etc. Sinn der Kulturwerke, die spezifischen »Formen der Kultur«, die ihren kulturellen Sinn ausmachen, nicht erschließen, hier sind vielmehr kulturwissenschaftliche Begriffe gefragt. Diese bilden durch eine spezifische Synthese ein spezifisches Ganzes mit einer spezifischen Bedeutung, 192 wobei Cassirer eine rei186 187 188 189 190 191 192

Ebd., 361. LKW: 12. Ebd., 13 f. Ebd., 15. Ebd., 50. Ebd., 50. Ebd., 57.

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ne Struktur- bzw. Formenlehre idealer Bedeutungseinheiten im Auge hat. 193 Weil Kulturobjekte Dimensionen des physischen Seins, der symbolischen Darstellung und des persönlichen Ausdrucks vereinen, sind sie unterschiedlichen Aufklärungen zugänglich. So stehe in aller Betrachtung von Kulturgebilden die »Werdens-Analyse«, die sich auf die Kategorie von Ursache und Wirkung stützt,194 der »Werk-Analyse« und der »FormAnalyse« gegenüber. Die Werk-Analyse bilde hierbei die »eigentliche tragende Grundschicht«. 195 Damit der kulturelle Sinn eines vom Menschen geschaffenen Werkes entschlüsselt – hermeneutisch verstanden – werden kann, sei die Sinnform bzw. die Funktion der konkreten Kulturform zu erfassen. 196 Von der objektiven »Form-Analyse« werden wir zurückblikkend zur »Akt-Analyse« geführt, die nach den »seelischen Prozessen«, d. h. nach der Eigenart des Symbolbewußtsein, der »Art und Richtung des Vorstellens, des Fühlens, der Phantasie und des Glaubens« fragt, aus denen die Werke als Gebilde der Kultur hervorgegangen sind. Die den Strukturbegriffen korrespondierenden Funktionen der Kulturformen bleiben für Cassirer ein »›Urphänomen‹ im goetheschen Sinne«, d. h. sind auf keinen tieferen Grund zurückzuführen. 197 Es könne deshalb nur innerhalb eines Lebenskreises, z. B. im »Kreise des organischen Lebens«, sinnvoll nach der Entwicklung gefragt werden. Die Frage aber nach der Entstehung dieses Kreises aus einem anderen, mache keinen Sinn. Das gelte auch für den Kreis des kulturellen Lebens insgesamt und für seine einzelnen symbolischen Kulturformen. Deren genetischer Ursprung ist nicht aufklärbar, wohl aber die Entwicklung einzelner Gehalte innerhalb dieses Kreises der Kulturform. Deshalb müsse, so Cassirer, das Wesen des Menschen auch innerhalb der Kultur aufgewiesen werden, und nicht in einem Lebenskreis dahinter bzw. davor. 198

193

Ebd., 66. Die Kausalfrage (Werdens-Analyse) dürfe nur an Erscheinungen innerhalb einer Kulturform gerichtet werden. – Ebd., 98 f. 195 Ebd., 97 f. 196 »Hier gelangen wir zu einer ›Theorie‹ der Kultur, die [ . . . ] ihren Abschluß in einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ suchen muß«. – Ebd., 97. 197 Deshalb sei die »Frage nach der Entstehung der Symbolfunktion mit wissenschaftlichen Mitteln nicht lösbar«. – Ebd., 100. 198 Ebd., 101 f. 194

326

fünftes k apitel 4.2 Problematische Deutungen des Kulturlebens

Die Kulturformen sind, wie »alles Symbolische«, mit der »doppelten Funktion« der »Spaltung und Wiedervereinigung« ihres Gehaltes ausgestattet. Damit steht z. B. auch der Künstler, der das, »was in ihm lebt, in anderen zum Leben« erweckt, notwendigerweise in diesem Widerspruch, was ihn sich immer wieder aufs Neue einsam fühlen läßt. Kann er doch weder der Abwendung von der Welt noch der Hinwendung zu den Anderen entfliehen. Es ist eben das »Schicksal« und die »immanente Tragik jeder geistiger Form«, daß sie diese innere Spannung nicht zu überwinden vermag. 199 Indem sich die Kulturform vom unmittelbaren Leben entfernt, nähert sie sich ihm zugleich mittelbar wieder an, weil sie das Leben nunmehr besser versteht. Eine weitere Spannung, die Simmel 1911 ›tragisch‹ nannte und an der er schier verzweifelte, kommt darin zum Ausdruck, daß das Individuum in der Kultur weit mehr – durch andere Subjekte geschaffene – Güter (Werke) vorfindet, als es jemals »in seinen lebendigen Besitz verwandeln kann«. 200 Diese sich der subjektiven Verlebendigung im »seelischen Leben« des Individuums entziehenden Güter des »geistiges Lebens«, scheinen deshalb zu dinghaften Objekten zu werden, die am Ende das Ich regelrecht erdrücken. Doch für Cassirer bilden Scheidungen wie zwischen Ich und Welt bekanntlich nicht den »Anfangspunkt des geistigen Lebens«, sondern dessen »Zielpunkt«. Diese alternative Sichtweise lasse das ganze Problem in einem neuen Licht erscheinen. 201 Denn jene »Verfestigung, die das Leben in den verschiedenen Formen der Kultur« erfährt, bildet eine Voraussetzung dafür, daß sich ein prägnantes Selbstbewußtsein des Ich ausbilden kann. 202 Gemäß der Theorie der Basisphänomene kenne dieses ›Drama‹ von Leben und Kultur außer den beiden Rollen, die das subjektive Leben (Ich) und das objektive Reich ideeller Werte (Es) geben, noch eine entscheidende dritte Rolle, nämlich die des Rezeptienten (Du), der das kulturelle Werk wieder in sein subjektives Leben auflöst und es dabei modi fiziert, an ihm weiterwirkt. 203 In diesem erweiterten Kreislauf erweist sich das Werk nicht mehr als Bedrohung für das Ich, sondern – wie schon die Sprachform anläßlich des »Davoser Disputes« – als ein »Durchgangspunkt«, als eine »Brücke« vom Ich zum Du, zu den Mit199

»Mit der Auflösung der Spannung wäre auch das Leben des Geistes erloschen«. – Ebd., 55. 200 Ebd., 105. 201 Ebd., 107. 202 Ebd., 108. 203 Ebd., 109 f.

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menschen, zu einem sozialen Wechselspiel. Diese Vermittlung über die soziale Komponente macht für Cassirer 1942 den »Lebensprozeß der Kultur« erst wirklich aus. 204 In der unaufhörlichen Aneignung durch Andere gewinnen die »Werke der Kultur« Leben, Beweglichkeit, Wandel und Entwicklung. Als die sie ›gebrauchenden‹ Subjekte treten sowohl Individuen als auch ganze Epochen auf. Die Theorie dreier Basisphänomene der lebendigen Wirklichkeitswahrnehmung dient folglich auch in der LKW der Aufklärung, diesmal der der scheinbaren Tragödie der Kultur, die nach Simmel das Leben der Individuen unabdingbar entfremden. Wird das sich in Formen der Kultur vollziehende Schaffen kultureller Güter – und das per Rezeption an ihnen Weiterschaffen – jedoch als sozialer, unabschließbarer Vorgang verstanden, dann darf man völlig zu Recht sagen, daß das Geschaffene dem »schöpferischen Prozeß nicht einfach gegenüber oder entgegen [steht]: in die ›geprägte Form‹ strömt vielmehr immer neues Leben ein, das sie davor schützt, sich ›zum Starren zu waffnen‹«. 205 Die ›Tragödie‹ der Kultur und ihre ›Heilung‹ bilden demnach zwei Seiten einer Medaille: bildet doch eine gewisse Festigkeit die Voraussetzung neuer subjektiver Gestaltung. Dieser Prozeß knüpft an »Bleibendes und Bestehendes« an und wandelt gleichzeitig dieses Bestehende beständig um. 206 Kulturformen müssen eine gewisse innere Konsistenz besitzen, um mitteilbar zu sein, aber sie haben auch wandlungsfähig zu sein, um verschiedenen Individuen (Epochen) dienen zu können. Wenn Cassirer davon spricht, daß wir dabei in den »verschiedenen Kulturgebieten immer wieder demselben, in seiner Grundbeschaffenheit einheitlichen Prozeß« begegnen, nämlich dem »Wettstreit und Widerstreit« zwischen Erhaltung und Erneuerung, 207 dann knüpft er an die Überlegung über das Spannungsverhältnis von Maß (Gesetz, Ruhe) und Freiheit (Bewegung) an, mit der er 1932 den Begriff der Lebensordnungen bestimmt hat (siehe dazu IV.3.2). Zudem spricht er lieber von einem ›Drama‹ als von einer ›Tragödie‹ der Kultur, weil es unter den drei Rollen (Ich, Es, Du), in denen wir uns zur Wirklichkeit verhalten, weder einen endgültigen Sieger noch einen wirklichen Besiegten gebe. Über die soziale Vermittlung wachsen vielmehr die beiden Gegenkräfte – subjektiv-lebendiges Schaffen und objektiv Geschaffenes – »miteinander, statt sich wechselseitig zu zerstören«. Alle »geistigen Güter« entspringen so 204

Ebd., 110. Ebd., 113. 206 Ebd., 116. Davon zeugt auch der »lebendige Sprachgebrauch«. Sprache ist kein ausschließlich fester, nur weiterzugebender Kulturbesitz, sondern wird ebenso »zum Ausdruck eines neuen individuellen Lebensgefühls«, das in sie einströmt. – Ebd., 115. 207 Ebd., 123. 205

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dem »Lebensstrom«, werden dann zu etwas Festem, scheinbar Ewigem, doch, indem sie in das »Leben einzugreifen und es zu gestalten« suchen, unterliegen sie schließlich erneut dem »Auf und Ab, dem steten und unaufhaltsamen Rhythmus des Lebens [selbst]«. 208 Problematisch dagegen erscheint Cassirer die Auffassung der geschichtlichen Kultur als eines sich wandelnden Seelenlebens, zumal in der Variante, in der sie bei Spengler entfaltet wird. Lamprechts »Grundprinzip alles geschichtlichen Fortschritts«, wonach im »Verlaufe großer menschlicher Entwicklungen eine Steigerung der Intensität des ursprünglichen Seelenlebens in dem Sinne eintritt, daß immer weitere Seiten dieses Seelenlebens in das Bewußtsein gehoben werden«, nehme allerdings einen Grundgedanken aus Hegels Phänomenologie des Geistes auf, den er teilt. 209 Doch schon dessen Forderung, Geschichte müsse die »Fülle von Einzeltatsachen« zu einer »organischen Einheit« gestalten und dann in allen dermaßen gestalteten Kulturgebieten nach »dem inneren Gesetz« der Menschheitsgeschichte fragen, stimmt er nur noch sehr bedingt zu. 210 Dabei steuert Lamprecht mit seinem Begriff der »Seele eines Zeitalters« auf etwas zu, was Cassirer in seiner frühen Schaffensperiode – mit Blick auf Dilthey – die »Lebensordnung« einer Epoche oder eines Zeitalters genannt hatte. Wenn er konstatiert, daß Lamprecht den bei Burckhardt vorfindlichen Begriff einer »geistigen Struktur« der Epoche durch den »seelischen Gesamtzustand« ersetzt, der ein Zeitalter beherrsche und durchdringe, dann ist allerdings noch kein Stab über ihn gebrochen. 211 Führt Cassirer doch selbst das geistige Schaffensprinzip einer Epoche auf deren subjektives Lebensgefühl als tiefste Schicht zurück, dem ›höhere‹ Schichten der Anschauung und des Denkens korrelieren.

208

Ebd., 124 f. Dies kommt Cassirers eigenem Begriff des geistigen Lebens bzw. lebendigen Geistes entgegen. – EP IV/ECW 5: 326 f. 210 Ebd., 328. 211 Ebd., 335 f. 209

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5 Leistung und Schranke lebensphilosophischer Kulturgeschichtsschreibung Eine Eigenheit von Cassirers Philosophieverständnisses besteht zum einen darin, daß er wichtige Aspekte eines Problems in historischen und zeitgenössischen Systemen zum Ausdruck gebracht sieht, weshalb diesen zumindest ein Anteil an der Wahrheit zugestanden wird. Zum anderen legt er dabei das Hauptaugenmerk auf die Methode, die in den jeweiligen geschichtlichen und zeitgenössischen Theorien zur Anwendung kommt. Dies macht er anhand der kritischen Würdigung des Historikers Lamprecht noch einmal deutlich: »Will man Lamprechts Geschichtsauffassung gerecht werden, so muß man sich lediglich an das [methodische – C. M.] Prinzip halten, das sie verficht«. 212 Mit anderen Worten, man hat vor allem den Ausgangspunkt und den beschrittenen Weg in Betracht zu ziehen, nicht aber das Ergebnis, zu dem der Weg geführt hat. 213 Hängen die Ergebnisse doch weitgehend vom Ausgangspunkt und der Methode ab, auch wenn es Ausnahmen von dieser Regel gibt, wie das Beispiel Taine belegt. Diese hier auf den Punkt gebrachte Haltung findet ihre Bestätigung auch im Abwägen philosophischer Leistungen und methodischer Schranken der historistischen Kulturgeschichtsschreibung, der organologischen Geschichtsphilosophie oder der Metaphysik des Lebens. Cassirer beschäftigt zunächst die Frage nach dem wissenschaftlichen bzw. methodischen Wert der historistischen Richtung in der Geschichtsschreibung des Kulturlebens, weil seit »Nietzsches ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹ (1874)« die »philosophische Skepsis gegen den ›Historismus‹ immer stärker geworden« ist. 214 Diese undifferenzierte Skepsis wird von Cassirer nicht geteilt, im Gegenteil. 215 Dieser zeige nämlich in der »Gefahr der äußersten Zersplitterung« der historischen Inhalte seine »bindende und vereinigende Kraft«. Das Verschiedene, Mannigfaltige, Sich-Wandelnde erscheint ihm nämlich nicht zu allererst als Gegensatz, sondern als »Korrelat des Seins«, des Verbindenden, des Bleibenden. Als eine philosophisch-methodologische Richtung in der Kulturgeschichtsschreibung finde der Historismus das Sein nur noch im menschlichen 212

Ebd., 327. Ebd., 329. 214 Ebd., 253. 215 Als Hauptresultat seiner Untersuchung ergebe sich vielmehr, »daß man dem ›Historismus‹ Unrecht tut, wenn man in ihm lediglich die negative und auflösende Seite betont, wenn man in ihm den Vorboten des Skeptizismus und Relativismus sieht«. – Ebd., 378. 213

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Geiste und in der »Totalität des Menschentums«. 216 An dieser Aufgabe arbeiteten im 19. Jahrhundert aber letztlich alle konträren Richtungen der Geschichtswissenschaft. Die Tatsache, daß Nietzsche einer Geschichtsschreibung des isolierten Details und ihrer so erkauften ›Lebensnähe‹ im »Namen des Lebens den Krieg erklärte« und sie in den Unzeitgemäßen Betrachtungen einfach beiseite schob, scheint Cassirer hier allerdings – zumindest teilweise – zu würdigen. 217 Es dürfte wohl auch seine Überzeugung sein, daß eine solche sentimentale Kulturgeschichtsschreibung dem »Leben nicht dienen« kann, sondern »seine besten Kräfte« eher schwächt. Den durch die Romantiker vertretenen »Theorien vom Volksgeist, von der organischen Entwicklung« des geschichtlichen Lebens, auf denen die Lebensphilosophen oft aufbauen, steht er ebenfalls ablehnend gegenüber, auch wenn diese Ideen auf die »Ausbildung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert« einen großen Einfluß hatten. 218 Cassirer wendet sich jedoch nicht generell gegen den Begriff des Organischen, den er ja z. B. im Zusammenhang mit Leibniz im übertragenen Sinne auch auf ideelle Sachverhalte bezieht. Nicht ganz klar ist allerdings, ob Lamprechts Forderung, Geschichte müsse die »Fülle von Einzeltatsachen [ . . . ] zu einer organischen Einheit« gestalten, als romantischer Ansatz abgewiesen wird. 219 Die Tatsache, daß sogar ein romantischer Historiker wie Niebur nicht auf »intuitive Versenkung«, sondern auf »historische Vernunft« bzw. historische Kritik setzt, bewertet er eindeutig positiv, da dies den Irrationalismus zurückdränge. 220 Um das »wahrhafte historische Leben« der Kultur zu erfassen, seien nämlich keinerlei mystische oder irrationale Annahmen und Verfahren notwendig. 221 Vielmehr spreche gegen die Romantik, daß sie anstelle der Wissenschaft den Mythos verherrlicht und den »Menschen bei der mythisch-religiösen Ansicht der Dinge festzuhalten« sucht. 222 Auch die »›organologische‹ Geschichtsansicht der Romantik«, die mit Grundbegriffen wie dem ›Volksgeist‹

216

Ebd., 379. Ebd., 312, 321. Zumal Nietzsche nicht jegliche Historie ablehnt, sondern vielmehr, so in der Geburt der Tragödie, auf einer tragischen Geschichtsauffassung besteht. – Ebd., 313. 218 Ebd., 264. Die Romantik strebe zur Wiederbelebung vergangener Lebens verhältnisse, sie will mit ihrer historischen Einfühlung die Vergangenheit »aus Gefühl und Sympathie wiederbeleben«. Für sie ist das Vergangene kein völlig Fremdes, denn ein solches könnten wir »nicht mehr zum Leben erwecken«. – Ebd., 362. 219 Ebd., 328. 220 Ebd., 268. 221 Ebd., 269. 222 Ebd., 265. 217

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arbeitet, steht bei Cassirer grundsätzlich unter Mythologieverdacht. 223 Metaphysische Theorien, die zum Aufschließen der Formen der Kultur auf einen ›Volksgeist‹ oder eine ›Kulturseele‹ zurückgreifen, vollziehen grundsätzlich einen intolerablen »Rückfall in den Mythos«. 224 Allerdings erfasse insbesondere die Romantik – im Unterschied zur Aufklärung – die eigene irreduzible Wahrheit des Mythos als einer Bewußtseinsform. 225 Sieht sie doch im Mythos diejenige Kraft, die den Menschen hervorbringt, und nicht im Menschen die Kraft, die ihrerseits den Mythos erschafft. 226 Für sie ist der Mythos zutreffend vorreflexives Bewußtsein; eine Einsicht, die Cassirer besonders hervorhebt und würdigt. Auch bei Strauß findet er ein solches Verständnis der Eigenständigkeit des mythischen Bewußtseins und seiner Wahrheit. 227 An dieser Würdigung läßt sich erneut sein Verständnis des philosophischen Denkens exemplifizieren. Die unterschiedlichen historischen und zeitgenössischen Strömungen bzw. Systeme legen einzelne Seiten, einzelne Stufen der theoretisch zu erfassenden Kulturform frei, ohne die völlige Überschau weder der einzelnen Form noch der Kulturformen im Ganzen leisten zu können. Dies setzt den Standpunkt der Philosophie der symbolischen Formen voraus. Aber keine der repräsentativen Strömungen bleibt ohne eine Teilwahrheit, die in die Gesamtwahrheit eingehen muß, welche von Cassirer als Prozeß verstanden wird, der nie an ein definitives Ende gelangt. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, klar diejenigen Positionen zu benennen, die ihm als wirklichkeitsfremd erscheinen. So kann er sich der Auffassung Schopenhauers, wonach alles Geschehen vom »blinden Willen« des Lebendigen getragen ist und sich der Mensch allein in der Kulturform der Kunst von der »Fessel des Willens« loszureißen vermag, weil er in der Kunst »wahre ›Ideenschau‹« der »ewigen Ideen, des Wesentlichen und Bleibenden aller Erscheinung der Welt« betreibt, nicht anschließen, obwohl auch er für die Methode der Ideenschau wirbt. 228 Wurzeln in der Romantik und im romantischen Historismus habe auch die »organologische Metaphysik«, die in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zur Wirkung kommt und gewisse Berührungspunkte mit der »Hegelschen Dialektik« aufweist. 229 Ihre zeitgenössi223 224 225 226 227 228 229

Ebd., 326. LKW: 50. EP IV/ECW 5: 344. Ebd., 347. Ebd., 353. Ebd., 321. Ebd., 298 f.

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sche Variante bildet Spenglers Organologie der Weltgeschichte. Auf die nimmt Cassirer kritisch Bezug, wenn er darauf verweist, daß Lamprecht der »Enthusiasmus für die Fülle des ›Seelentums‹« rückwärts mit Herder verbinde, man vorwärts aber die »größte Verwandtschaft« mit Spengler finde, »dessen Begriff der ›Kulturseele‹ unmittelbar aus dem Gedankenkreis Lamprechts stammt«. 230 Das werde augenscheinlich, wenn Spengler die »wirtschaftlichen Verhältnisse« aus der »›Seele‹ eines Zeitalters« erklärt. 231 Cassirer steht vor allem dem Erklären aus der Seele des Zeitalters ablehnend gegenüber, weniger einer Erklärung, die auf eine Korrelation von wirtschaftlichen Verhältnissen und Geist des Zeitalters suggeriert, wie dies der Begriff der Lebensordnung einer kulturellen Epoche auch tut. Dem Verfahren Lamprechts, sich auf die Individualpsychologie und ihre »Stufenfolgen« im Leben einer Person von der Kindheit bis zum Greisenalter zu stützen und diese »Stufen der verschiedenen Lebensalter« sodann parallel sowohl in der Ontogenese der »Einzelseele« als auch in der Phylogenese der »Kulturzeitalter« nachzuweisen, verhält sich Cassirer allerdings reserviert gegenüber. Von einem derartigen Parallelismus, der biologische und individualpsychologische Begriffe auf einen ganz anderen Lebenskreis – die Kulturgeschichte – überträgt, könne nur in der Form eines »Analogieschlusses« gesprochen werden. Logische Analogieschlüsse wiederum – nicht zu verwechseln mit Spenglers Analogieschau – haben keinen großen Erkenntniswert. 232 Im Weiteren moniert Cassirer bei den Lebensphilosophen die metaphysische Umbiegung der sich auf die elementare Ausdrucksfunktion des Lebens stützenden »Theorie der unmittelbaren Erkenntnis«. Zwar habe sich Scheler, wie schon betont, unbestreitbare Verdienste bei der Ausarbeitung einer sich auf das Ausdruckserleben stützenden Theorie der Erfahrung des ›fremden Ichs‹ erworben, nicht zuletzt durch die Abwehr der unbefriedigenden Theorie des Analogieschlusses. Aber Cassirer weist den »Sprung in die Metaphysik der ›unmittelbaren Erkenntnis‹«, wie ihn der »metaphysische ›Intuitionismus‹« propagiert, der »in Bezug auf das Ausdrucksproblem [ . . . ] durch Scheler und Bergson«

230

Ebd., 327. Ebd., 332. Auch die von Lamprecht als exakte Typenbegriffe verwendeten Termini der ›Zeitalterfolge‹ wie ›Symbolismus‹, ›Typismus‹, ›Konventialismus‹, ›Individualismus‹ und ›Reizsamkeit‹, die sich in logischem Sinne lediglich als »deskriptive Begriffe« erweisen, tauchen in Spenglers Geschichtsmetaphysik wieder auf. (Ebd., 333) Merkwürdigerweise spielt diese scharfsinnige Rückführung auf Lamprecht in der Rezeptionsliteratur zu Spengler keine weitere Rolle. – Siehe Möckel (2003a: 105 ff.). 232 EP IV/ECW 5: 339. 231

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repräsentiert werde, grundsätzlich ab. 233 Erneut stehen Würdigung und Kritik der Lebensphilosophie eng beieinander: indem für ihre Vertreter das Leben, das sich in der Ausdrucksfunktion manifestiert, das »allein Reale, Gegebene, Wahrhafte« ist, hat der symbolische Idealist sowohl bestimmte Gemeinsamkeiten – das sich in der Ausdrucksfunktion manifestierende Leben – als auch grundsätzlich Trennendes – die behauptete metaphysische Realität des Lebens – zu konstatieren. Bei alledem sieht er sich in der Pflicht, eine »kritische Begrenzung und kritische Rechtfertigung« der Leistung der Ausdrucksfunktion beim »Aufbau der ›Kulturwelt‹« zu fi xieren. 234 Der zeitgenössischen metaphysisch orientierten Philosophie des Lebens wirft er außerdem vor, die »Goethische Forderung der ›Urphänomene‹ und [die] Cartesisch-Kantische Forderung der ›Reflexion‹ im Aufbau der Erkenntnis und im Aufbau der Philosophie« lediglich als »unversöhnlichen Widerstreit« behandelt und die Möglichkeit einer versöhnenden Synthese niemals ernsthaft geprüft zu haben. Gegen die »bloße Reflexion«, die »bloßen ›Vermittlungen‹ des Denkens« werde die Intuition aufgerufen, um dem »Drang zum ›Unmittelbaren‹« stattzugeben. 235 Damit spiele man »jene Form der Gewißheit, der ›Unmittelbarkeit‹, die Goethe den Urphänomenen zuerkennt«, und die Cassirer in der Ausdruckswahrnehmung bzw. in den reinen Ausdrucksphänomenen gewährleistet sieht, gegen »das unantastbare Recht« des vermittelnden Denkens aus und reiße beides grundlos auf immer auseinander. Die Behauptung des antinomischen Widerstreites drücke »insbesondere den philosophischen Kämpfen der Gegenwart« den Stempel auf. 236 Auch in dieser späten Periode teilt Cassirer mit Natorp die Ablehnung der »selbstherrlichen ›geisteswissenschaftlichen‹ Methode«, die auf »reiner ›Introspektion‹ oder ›Intuition‹« beruhen soll. Denn es sei einfach ein »Irrtum, daß das ›Unmittelbare‹ des Lebens im Sinne der ›Lebensphilosophie‹, des Intuitionismus u.s.f. auch unmittelbar erkannt werden kann«. Vielmehr ist das Leben, das Subjekt etc. immer nur »indirekt sichtbar zu machen – indem wir von den ›objektiven‹ Gebilden zurückfragen nach ihren ›subjektiven‹ Quellen und ›Ursprüngen‹«. 237 Demgegenüber sind seit der Renaissance und dem vitalistischen Dynamismus bis hin zu Schelling und seiner intellektuellen Anschauung

233 234 235 236 237

ECN 1: 120. Ebd., 121. Ebd., 131. Ebd., 130. Ebd., 145.

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des Lebens gerade aus der metaphysischen Verabsolutierung der Monas, des Ich, des Lebens die »verschiedenen Grundformen der Lebensphilosophie« entstanden. 238 Von diesen werde die unmittelbare »Intuition des Lebens« gegen das abstrakte Denken in Begriffen gestellt, wobei die »intellektuelle Anschauung des Lebens« über die tötenden Begriffe hinweggehe. 239 Wenn Cassirer dann feststellt, Bergsons »Begriff der Intuition und der ›schöpferischen Entwicklung‹« gehöre zu demselben »Grundtypus der Metaphysik«, dann ist hier das Abstellen auf das Ich-Basisphänomen der Monas gemeint. Denn für Bergson »verschmilzt die Intuition des Ich mit der universellen Intuition des ›Lebens‹«. 240 Auch seine »›monadische‹ Erkenntnistheorie« erreiche ihren Zielpunkt, die »reine ›Intuition‹ des Ich«, indem sie von etwas absieht, nämlich von den Basisphänomenen Du und Es. 241 Und gleichzeitig setzt sie dabei ungenannt etwas voraus, nämliches empirisches Material. Bergson nehme das Material biologischer Induktionen hin und gleichzeitig setzt er es außer Kraft, indem er ihm nur eine »symbolische Bedeutung« gibt. 242 Dieses Material hat für ihn die Funktion einer »Hindeutung« auf das Ich, auf das Leben. Auch hinsichtlich des Du-Basisphänomens stößt Cassirer in der Philosophiegeschichte auf einseitige Thematisierungen. In erkenntnistheoretischer Hinsicht setze z. B. der der Lebensphilosophie verwandte Pragmatismus (James, Dewey) ebenso wie Heideggers Daseinsanalyse einseitig auf das zweite Basisphänomen, und damit auf die Dimension des Aktions- und Willensmomentes, auf den blinden Willen (Trieb), der den Intellekt aus sich heraus und von sich abhängend schafft. 243 »Diese Reduktion der Wahrheit auf die Wirkung charakterisiert dann auch alle Theorien, die den ›Willen zur Macht‹ zum obersten Prinzip erheben – Die faschistischen Theorien ebensowohl wie die marxistische Lehre

238

Ebd., 153. An dieser Stelle faßt Cassirer im Manuskript die intellektuelle Anschauung so zusammen, daß sich für sie der Geist aus der »Einheit und Ursprünglichkeit des Lebensprozesses« erhebt, »nicht als Gegensatz zum Leben, sondern als seine Blüte und Vollendung«, weil die Natur hier nichts anderes als »die Odyssee des Geistes« ist. – Ebd., 154. 240 Ebd., 169. 241 Ebd., 173 f. In Husserls monadischer Phänomenologie liegen »alle Intentionen, die Intentionen auf das ›Du‹ wie auf das ›Es‹ [ . . . ], beschlossen in den ›Noesen‹, Sinngebungen, Sinnrichtungen des reinen Ich und [müssen] letzten Endes auf sie zurückgelenkt, aus ihnen verstanden werden – Das ist der ›transzendentale Idealismus‹, wie Husserl ihn versteht.« – Ebd., 179. 242 Ebd., 175. 243 Ebd., 179 f. 239

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vom Überbau«. 244 In der Folge werde z. B. bei Heidegger das reine Ich Husserls, das ›Für sich Sein‹, zu einem ›in der Welt Sein‹. 245 Andere Theorien reflektieren insbesondere das Es-Basisphänomen des Wahrnehmens und Weltbildens. So waren die objektiven kulturellen Werke als hervorgebrachte durch die Aufklärung inadäquat als eine Summe individueller Taten begriffen worden. Die Romantik und der Metaphysiker Hegel haben jedoch mit der Aufklärung auch deren Erklärungsprinzip des individuellen Tuns verworfen. Beide verlangen nach einer Lösung, die über die Sphäre des individuellen Bewußtseins und des ›subjektiven Geistes‹ hinausgeht. Den notwendigen »festen Halt« verlegen sowohl Romantik als auch Hegel jedoch auf eine nicht befriedigende Weise ins hypostasierte »Überempirische, Übersinnliche«, d. h. in den Mythos oder in die ursprüngliche Geisterwelt der ›Volksgeister‹, der ›absoluten Idee‹, des ›Weltgeistes‹. 246 Romantik und Hegels geschichtliche Kulturphilosophie überwindend führt der Lebensphilosoph Dilthey das Problem des kulturellen Werkes (Es) wieder auf das Erleben (Ich), auf das Verstehen zurück, er richtet die Aufmerksamkeit erneut auf den Zusammenhang von Werk und Erleben. 247 Seinen Verstehensbegriff deutet Cassirer jedoch als ein metaphysisch einseitiges Prinzip, das alle anderen Prinzipien entwertet. Das Grundproblem für Diltheys Geschichtsphilosophie sei aber das »Problem des schöpferischen Tuns – d. h. des Tuns, das aus sich das ›Werk‹ gebiert, sich im Werk niederschlägt, manifestiert, im Werk und nur in ihm, offenbar wird«. 248 Um das Schaffen zu verstehen bzw. sich selbst verstehen zu lassen untersucht er nicht nur das »bloße subjektive Erleben«, sondern auch die Struktur des Werkes. 249 Außerdem heißt Erleben für Dilthey nicht das »passive bloße Nacherleben«, sondern das »schöpferische Miterleben«. Der Überzeugung, daß das Phänomen historischen Verstehens nur auf diese Weise faßlich zu machen ist, stimmt Cassirer weitgehend zu, wenn wir nur an seine Lösung der Simmelschen ›Tragödie der Kultur‹ denken. 244

Ebd., 183. »Die Intuition (Wesens-Schau) versinkt, das ›Beharren in sich selbst‹ wird zum Getriebenwerden nach außen, nach vorwärts – Das Dasein verfällt der ›Sorge‹ u.s.f.«. – Ebd., 184. 246 Ebd., 157 f. 247 »Der Schritt vom unmittelbaren ›Erleben‹ zum Werk – das ist [ . . . ] das große allgemeine Thema der Diltheyschen Geschichtsphilosophie.« – Ebd., 159. 248 Ebd., 160. 249 Dilthey glaube das Dichtwerk nur aus der Persönlichkeit seines Schöpfers zu verstehen, was die Bedingungen des Schaffens einschließt, die sich aus den Strukturbedingungen des Geschaffenen verstehen lassen. »Dieser ›personalistischen‹ 245

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Und nicht zuletzt tritt er der bei den Lebensphilosophen üblichen Verurteilung von Sprache und Begrifflichkeit energisch entgegen, ohne aber das ihr zugrunde liegende philosophische Problem zu negieren. Der Vorwurf an die Begriffssprache zielt darauf ab, daß sie die Unmittelbarkeit der Ausdrucksphänomene und physiognomischen Einsichten, ihre unmittelbare Verstehbarkeit und Mittelteilbarkeit zerstöre. Für Cassirer beruht aber alle »Sehnsucht nach einer unmittelbaren Gedanken- und Gefühlsübertragung, die aller Symbolik, aller Vermittlung durch Wort und Bild, entraten könnte«, auf einer Selbsttäuschung. 250 Ein »lebendiges und sinnerfülltes Gespräch« teile nämlich nichts Fertiges mit, sondern läßt die Beteiligten im »Medium der Sprache« zu etwas gelangen, was sie in Rede und Gegenrede erst nach und nach in Besitz nehmen. Auch das Gespräch ist kein passives Nachbilden, sondern gestaltet sich als schöpferisches Miterleben. Die negativen Folgen des begrifflichen Ausdrucks und der sprachlichen Mitteilung müssen jedoch in Kauf genommen werden, zumal sie uns neue, tiefere Einsichten ins Leben erlauben. Die jeder symbolischen Form eigene doppelte Funktion der »Spaltung und Wiedervereinigung« 251 erlaube grundsätzlich keinen idyllischen Zustand, dies sei das »Schicksal«, die »immanente Tragik« der geistigen Formen. Darauf, daß Simmel aus Cassirers Sicht unter dem Schlagwort einer ›Tragödie der Kultur‹ ein wirkliches philosophisches Problem benennt, an seiner Aufklärung und Lösung aber scheitert, haben wir schon hingewiesen. Auch darauf, daß Cassirer seine kultur-pessimistischen Schlüsse nicht teilt. 252

Ansicht der Geschichte gehören z. B. die Analysen Gundolfs an [ . . . ], der im Gebiet der modernen Literaturwissenschaft das Diltheysche Programm am reinsten u. vollkommensten durchgeführt hat.« – Ebd., 161. 250 LKW: 53. 251 Ebd., 54 f. 252 Ebd., 115 ff.

sechstes k a pitel

Geistiges Leben in Kulturformen (1944/45)

Obwohl Cassirer darauf aufmerksam macht, daß seit dem Entwerfen seiner Philosophie der symbolischen Formen inzwischen neue Tatsachen, Probleme und Blicke auf ihre Fragestellungen zu konstatieren sind,1 knüpft er in VM und MS, den beiden letzten großen Schriften der Jahre 1944/45, was den Begriff des Lebens betrifft, in vielem an die Thematisierungen früherer Jahre an. Das zeigt sich u. a., wenn er die anthropologische Herangehensweise, die das biologisch-tierische Dasein in Beziehung zum geistig-menschlichen Leben in der Kultur setzt, gezielt aufnimmt. Dabei hebt er nachdrücklicher als früher hervor, daß der Kulturmensch immer zugleich ein Tiermensch, ein biologisches Wesen bleibt. Bei dieser Wiederaufnahme des Nachdenkens über das Leben ersetzt jedoch der Begriff der symbolisch geformten Kultur bzw. der Terminus des »kulturellen Lebens« weitgehend den früheren des »geistigen Lebens«, obwohl der gelegentlich noch verwendet wird. 2 Auch der Begriff des »objektiven Geistes« wird nunmehr mit den Termini »öffentliches« und »kulturelles Leben« wiedergegeben. Unter Umständen hat dies auch mit der amerikanischen Sprache und ihrer philosophischen Ausdrucksweise zu tun, derer sich der Emigrant Cassirer nun bedient. Der Begriff der »Lebensform« wird in der Regel in einem sehr weiten, biologischen Sinne verwendet, manchmal aber auch in der Bedeutung von »symbolischer Form« oder »Lebensordnung«. Allerdings schließt der biologische Begriff die menschliche Lebensform ein und wird auch für historischgesellschaftliche Ordnungen gebraucht. Bemerkenswert ist zudem, daß Cassirer erneut von »Lebensordnung« genau in dem Sinne spricht, den er dem Begriff in den frühen Schriften beigelegt hatte. 3 Gleichzeitig wurden die beiden Werke VM und MS in unterschiedlichem Ton verfaßt. Im VM wird die mittelbare, symbolbildende kulturelle Tätigkeit des Menschen umfassend dargestellt und dem tierischen Leben in seiner Unmittelbarkeit – als dem ursprünglichen Ausgangspunkt dieser Symbolisierungen – gegenübergestellt. In dem Zusammen1 2 3

VM: 10. Siehe z. B. MS: 7, 259. VM: 340.

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sechstes k apitel

hang versteht und behandelt Cassirer die mythische Form als erste, früheste Kulturform mit eigener Logik bzw. Rationalität. Als ihr Grundzug gilt ihm das Gefühl oder der Glaube an eine allumfassende Gemeinschaft alles Lebendigen. In MS entwirft er demgegenüber das Bild eines dramatischen Kampfes auf Leben und Tod, den die rationale Kultur bzw. die Kulturform Wissenschaft mit den gefährlichen, irrationalen und magischen Mächten des Mythos führt, wobei der Mythos nicht mehr als die Grundstufe der menschlichen Kultur fungiert, sondern als das rationale »soziale und kulturelle Leben« unterminierende und zersetzende Kraft. Überhaupt spielt die Fragilität und Bedrohtheit des Kulturlebens nun eine prägnantere Rolle in Cassirers Texten. Außerdem kommt es zu einer Modifikation in der Wertung der zeitgenössischen Philosophie, speziell der Lebensphilosophie, die trotzalledem nicht mit den totalitären politischen Bewegungen identifiziert wird. Es fällt auf, daß Cassirer hier kaum noch zwischen der mythischen Form und den elementareren Ausdrucksphänomenen unterscheidet. Allerdings spricht er im VM von der »physiognomischen Wahrnehmung« als der elementaren Ausdrucksfunktion, in bzw. auf der das mythische Bewußtsein gründe. Der Zusammenhang von »symbolischer Form« und »Urphänomen des Lebens« ist für ihn nunmehr kein zentrales Thema mehr, dennoch werden die Symbolisierungen weder von ihrem Lebensgrund abgelöst betrachtet noch wird ihre Lebendigkeit, ihr Eigenleben ausgeblendet. Mit anderen Worten, der Bezug des Geistes, der Kultur, der symbolischen Formen zum unmittelbaren Leben wird terminologisch weiterhin kenntlich gemacht. Die Unausrottbarkeit der mythischen Form und damit des tiefen Gefühls, mit allem Lebendigen in einem unmittelbaren magischen Zusammenhang zu existieren, führt Cassirer nun aber weniger auf die noch undifferenzierte physiognomische Ausdruckswahrnehmung als vielmehr auf die Unmittelbarkeit und Gewalt der Emotionalität zurück. Unter Umständen ist dies jedoch nur eine terminologische Variation, denn bei allem sinnausdrückenden Charakter steht die Ausdruckswahrnehmung natürlich für ihre Emotionalität, die die Unmittelbarkeit des Ausdruckserlebens erst ermöglicht. Dennoch erhebt sich hier nicht nur die Frage, inwieweit Cassirer am Ende den ›irrationalen‹ Mythos nicht doch aus dem kulturellen Leben auszuschließen sucht, wobei er aber auch auf eine »Strukturanalogie zwischen mythischen und politischen Bewußtsein« hinweist. 4 Es stellt sich zudem die Frage, ob der Staat, die Politik, die politische Theorie bei ihm zur symbolischen Kultur gehören, oder aber eine relative Eigenständig4

Gerhardt (1988: 234).

Geistiges Leben in Kulturformen (1944 / 45)

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keit gegenüber dem Kulturleben behaupten. So fällt zunächst auf, daß er »soziales« und »kulturelles« Leben offenbar unterschieden wissen will, gelegentlich auch »ethisches und kulturelles Leben«, 5 wobei kulturelles Leben grundsätzlich eine symbolisierende und objektivierende Tätigkeit bedeutet. Auch ist vom Leben zweier Völker in einem »gemeinsamen politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhang« die Rede. 6 Damit scheint das politische Leben nicht einfach als eine Form des kulturellen Lebens auf sozialer Basis zu gelten. Andererseits lassen einige Formulierungen den begründeten Eindruck aufkommen, daß auch die Politik, das »staatliche Leben« als symbolische Form der Kultur betrachtet und behandelt wird. Für Gerhardt, der bereits früh die Aufmerksamkeit auf Cassirers Beitrag zu einer Philosophie der Politik gelenkt hat, gibt es keinen Zweifel, daß bei diesem die »Zugehörigkeit der Politik zur Sphäre der menschlichen Kultur« deutlich wird und daß er sich »auch als politischer Denker nach wie vor im Gedankenkreis seiner Philosophie der symbolischen Formen bewegt«. 7 Aufschlußreich für Cassirers Philosophieverständnis ist zudem eine Überlegung zum historisches Bewußtsein, das er als Einheit von Gegensätzen, von gegensätzlichen Deutungen auffaßt. Der »Deutungsprozeß« z. B. der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens komme schon deshalb nie zum Stillstand, weil jede Epoche, jede Denkrichtung ihre eigene ›wahre‹ Deutung hat bzw. entwirft, wobei sich diese Deutungen als Teilaspekte des Ganzen letztlich ergänzen. Die wahre Deutung des Ganzen ist für ihn also methodisch gar nicht zu leisten. 8

1 Begrifflichkeiten der biologischen und der anthropologischen Lebensform Die anthropologische Frage nach der Spezifik der menschlichen Natur veranlaßt Cassirer zu der Feststellung, daß der Mensch zwar ein biologisches Leben führt, dies aber keineswegs seine Spezifik erklärt. Deshalb greife auch das biologische Denken zu kurz, wenn es glaubt, eine Antwort auf diese Frage geben zu können. Die Kritik bezieht sich hierbei insbesondere auf Aristoteles, der den Erkenntnis leistenden Menschen als biologisches Sinneswesen deute. Er spreche viel vom »Leben der Sinne« 5

VM: 45. Ebd., 80. 7 Gerhardt (1988: 228, 232). Folgerichtig ist für Gerhardt das Politische »sowohl Ausdruck wie auch Ursprung der Symbole schaffenden Kraft des Menschen«. – Ebd. 8 VM: 275 f. 6

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und stimme – im Unterschied zu Platon – geradezu ein Loblied auf das »Sinnesleben des Menschen« an. 9 Als Biologe sei Aristoteles bestrebt, die Welt der Ideen, der Erkenntnis in Begriffen des biologischen Lebens zu erklären. Ein derartiger Ansatz findet die Grundtätigkeit des Erkennens sowohl beim Menschen als auch bei den Tieren und »allen anderen Formen des organischen Lebens« ausgebildet. 10 Außerdem zielen diese »Anschauungen vom organischen Leben« bereits auf den Evolutionsgedanken ab und interpretieren, um die »Ursprünge des Lebens« zu verstehen, die »niederen Formen des Lebens im Lichte der höheren«. Damit begreift und deutet er »organisches Leben aus dem Blickwinkel des menschlichen«,11 dessen teleologischen Charakter auf alles Lebendige, und darüber hinaus auch auf alles Physische, zurückprojiziert wird. Dieser Aristotelischen Position scheint Cassirer ebenso fern zu stehen wie der Darwins, dessen moderne Evolutionstheorie umgekehrt das »Phänomen des Lebens«, den »Aufbau der organischen Natur« aus zufälligen materiellen Ursachen erklärt. Zudem genügen dieser Theorie zufällige Veränderungen im »Leben eines jedes Organismus«, um die Transformation von den einfachsten organischen »Lebensformen« bis zu den höchsten Formen, denen des menschlich-geistigen Lebens, zu erklären. Soweit die Evolutionstheorie die »willkürlichen Grenzen zwischen den verschiedenen Formen des organischen Lebens« getilgt hat, weil es für sie nur den »ununterbrochenen Lebensprozeß« gibt, vermag ihr Cassirer sogar bedingt zuzustimmen. 12 Doch erwartet er vom »biologischen Denken«, das die philosophische Anthropologie zu fundieren beansprucht, wenig Brauchbares über den Menschen und seine Spezifik. 13 So weist er die naturwissenschaftliche Erklärung der Kultur bzw. des Kulturlebens, wie sie der geschätzte Taine bejaht, rundweg ab. Wir könnten das Prinzip eines ununterbrochenen Lebensprozesses nämlich nicht auf das »menschliche Leben und die menschliche Kultur« anwenden. Cassirer beharrt vielmehr auf dem qualitativen Unterschied zwischen biologischer und menschlich-kultureller Lebensform. Um ihn auf den Punkt zu bringen, wendet er sich erneut J.v. Uexküll zu. Für Uexküll, der als »entschlossener Verfechter des Vitalismus« den »Grundsatz der Autonomie des Lebens« gegenüber dem physikalisch-chemischen Natursein verteidigt, ist organisches Leben eine »letzte, in sich selbst ruhende Wirklichkeit«, die sich nicht in chemischen etc. Kategorien darstellen 9 10 11 12 13

Ebd., 16 f. Ebd., 17. Ebd., 40. Ebd., 42. Ebd., 39.

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läßt. 14 Seine Wirklichkeit erschöpft sich allerdings nicht in dem Begriff »Lebewesen«, sondern besteht aus unzähligen »biologischen Spezies« (Fliege, Seeigel, etc.), die Cassirer jeweils nach dem Vorbild der Monade verstanden wissen will, da sie über ihre eigene Welt und Wirklichkeit verfügen, die auf andere Monaden bzw. Spezies nicht übertragbar erscheint. Uexküll findet bekanntlich den Schlüssel zum »tierischen Leben«, zu »allen Formen organischen Lebens« im anatomischen Bau des Organismus, der ihn ein spezielles ›Merknetz‹ zur Informationsaufnahme und ein ›Wirknetz‹ zur Reaktion auf diese Information ausbilden läßt. Wobei im »›Funktionskreis‹ des Lebewesens« beide Netze Glieder einer Kette bilden, weshalb sich jede organische Lebensform (Spezies) selbst genügt. 15 In diesem grundsätzlichen Bedeutungszusammenhang bezieht sich der häufig verwendete Begriff des Lebensform auf je eine biologische Spezies, zu der auch der Mensch als biologisches Wesen gehört.16 Cassirer seinerseits führt die Spezifik der menschlichen Welt, in der die biologischen Grundprinzipien aller Lebewesen weiter gelten, auf ein besonderes Merkmal zurück, das als das »Kennzeichnen menschlichen Lebens« zu gelten hat: zwischen die biologischen Merk- und Wirknetze schiebe sich beim Menschen ein »drittes Verbindungsglied« – das »›Symbolnetz‹ oder Symbolsystem«. Damit »lebt« der Mensch »in einer neuen Dimension der Wirklichkeit«: die eigentümliche Leistung der Symbolbildung »verwandelt sein gesamtes Dasein«, transformiert sein organisch-vegetatives Leben in eine kulturelle Lebensform. 17 Die Begriffe Merk- und Wirknetz bringen folglich als biologische Begriffe die Spezifik des menschlichen Seins nicht zum Ausdruck. Dies leiste erst der Terminus Symbolnetz, der die spezifische anthropologische Dimension eröffnet. Wenn das Symbolische mit seiner Unterscheidung von Wirklichem und Möglichem dasjenige Prinzip ist, das das spezifische Leben des Menschen als eines Kulturlebens bestimmt und charakterisiert, dann muß allerdings auch nach der möglichen Quelle dieses Prinzips im organischen Leben, d. h. in der biologischen Begrifflichkeit, gefragt werden. Dies bedenkend gelangt Cassirer zu dem Schluß, daß bereits das Tierreich eine »Art symbolischen Verhaltens« kennt, das sich aber von dem des Menschen im Kulturreich unterscheidet. 18 Der Sache nach greift er damit 14

Ebd., 47. Ebd., 48. 16 Ebd., 17, 40, 48, 83, 104, 131, 133, 141, 209, 221, 232 f., 255 f., 272, 281, 308, 338, 340; MS: 31, 35, 53, 56, 63, 68, 116, 135, 241, 242, 301 f. 358, 359, 364, 368. 17 VM: 49. 18 Ebd., 52 f. 15

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sechstes k apitel

auf die unmittelbare Ausdruckswahrnehmung zurück, die er in früheren Texten Tier und Mensch in elementar-natürlicher Funktionsweise gemeinsam zugeschrieben hatte, bevor sich beim Menschen die mythische Kulturform ausbildete. Nunmehr spricht Cassirer von der unmittelbaren Emotionalität, vom emotionalen Ausdruck, wenn er ausführt, daß in der Tierwelt eine Analogie zur »fundamentalsten Schicht« der Sprache, der »Sprache der Emotionen«, vorgefunden wird, die bereits eine bestimmte symbolische Leistung oder Vorleistung vollbringe. 19 Bei den Analogien, die man in der Tierwelt zur »emotionalen Sprache« findet, fehlen aber die eine objektive Bedeutung ausdrückenden Zeichen. 20 Das Tierleben kennt noch keine objektive »aussagende, propositionale Sprache«, sondern verfügt nur über eine subjektive »emotionale Sprache«, deren Unmittelbarkeit eng mit der Ausdruckswahrnehmung verbunden ist. Das Tierwesen ist also zwar der Zeichen- bzw. Signalsprache, nicht aber der eigentlichen Symbolsprache mächtig. 21 Es verfügt zudem lediglich über »praktische Phantasie und Intelligenz«, nicht aber, wie das Menschenwesen, über »symbolische Phantasie und symbolische Intelligenz«. Das biologische oder »organische Leben«, vor allem die »ganze beseelte Welt«, das »beseelte Leben« verfügt zwar über den »natürlichen Ausdruck«, bringt es aber nicht bis zum »symbolischen Ausdruck«. 22 Im Übrigen setzt Cassirer erneut, auf etwas problematische Weise, Leben – im Unterschied zum lebendigen Geist – mit unmittelbarem praktischen Interesse und damit sogar mit tierischem Dasein gleich. Simmel hatte 1918 den Begriff des praktischen Alltagslebens mit Keimformen des ideellen, symbolischen Lebens angereichert beschrieben. 23 Ein Leben 19

Ebd., 54 f. Ebd., 55. 21 Ebd., 56 f. Symbole (Funktionswerte) sind für Cassirer keine bloßen Signale (physischer Gehalte und Funktionswerte), sondern sind »Teil der menschlichen Bedeutungswelt«. Zeichen, Signale und Gesten drücken etwas einzelnes unmittelbar aus, Symbole drücken etwas dagegen in objektiver allgemeiner Bedeutung aus. Im Unterschied zum Zeichen (Signal) kann das Symbol eine Bedeutung mit unterschiedlichsten Zeichen (Sprachen) ausdrücken, es ist variabel. Die Tierwelt ihrerseits kennt keine Wandelbarkeit (Bedeutungswandel) der Zeichen. – Ebd., 58, 61 f, 64 f. 22 Ebd., 60 f. Tiere haben folglich natürliche Gefühle und »Gefühlsausdrücke«, weshalb ihr Verhalten von »gewissen ›Gefühlsqualitäten‹« bestimmt ist. 23 ›Mehr-Leben‹ (Wille zum Leben) orientiert sich bei ihm an Lebenszweckmäßigkeiten, ›Mehr-als-Leben‹ (Wendung zur Idee) hat dagegen die Bindung an die unmittelbaren Lebenszwecke verloren. Die alltägliche, praktisch-interessierte Welterfahrung erscheint als eine der »großen Funktionsweisen des Geistes«, die unsere Wirklichkeit konstituiert. Die Weltform des praktischen Lebenswissens transzendiert sich nicht nur beständig selbst in besondere Kulturwelten mit je eigenem Sinn, sondern trägt bereits Vorformen aller besonderen Weltformen in sich. Als Individuen der empirisch-praktischen Wirklichkeitsgestaltung sind wir demnach embryonale 20

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in den Grenzen der »biologischen Bedürfnisse und praktischen Interessen« bedarf dagegen nach Cassirer keiner Symbolsysteme. 24 Gelegentlich scheint er selbst das »Leben der Urvölker«, das Leben der »primitiven Stämme«, als ein Dasein »unmittelbar praktischer Bedürfnisse«, als ein Leben in reiner »Präsenz«, in der »Sphäre des konkreten praktischen Lebens« noch als ein vorkulturelles, vorsymbolisches Leben, und damit genau genommen als ein tierisches Leben zu deuten. 25 Damit käme das »Leben der Urvölker« den in PsF III (1929) dargestellten Zuständen des »Alltagslebens« bzw. der unmittelbaren »Lebensnähe« gleich. 26 Beim Leben in reiner Präsenz herrschen, wie im »organischen Leben insgesamt«, mit der vorsymbolischen Dimension der zukünftigen Zeit aber auch deren Momente der Planung und Vorwegnahme vor, und dies in Form von bestimmten, auf das »Leben der kommenden Generation« gerichteten Instinkten. 27 Der in der organischen Welt verbreitete emotionale Ausdruck28 ermöglicht, wie schon angeführt, zwar die »emotionale Sprache«, vermag jedoch die objektivierende »propositionale Sprache« des Menschen nicht zu tragen. 29 Zudem wird die generelle Struktur des tierischen Lebens, wie auch die Struktur der tierisch-biologischen »Formen gesellschaftlichen Lebens«, durch das biologische Gesetz bestimmt, weshalb individuell Erlerntes sich hier nicht auf das »Leben der Spezies« vererben kann. 30 Nicht zuletzt deshalb lehnt Cassirer die Anwendung von Darwins biologischer Entwicklungslehre auf die kulturelle Welt ebenso ab wie ein Verwischen der Unterschiede zwischen der organischen und der »Welt der menschlichen Zivilisation«. 31 Mit biologischen Begriffen allein ist dieser Sprung aus der biologischen Lebensform in die spezifisch menschliche Lebensform niemals zu erklären.

Künstler und Wissenschaftler. Innerhalb der Lebenszweckmäßigkeit führt der Mensch bei Simmel also kein distanzlos-tierisches Leben, sondern ein praktischinteressiertes, das alle Kulturformen im Ansatz, in Vorform bereits hat, nur eben noch nicht ausschließlich um ihretwillen. – Simmel (1918: 23 f., 33, 67). 24 VM: 71. 25 So fehle der »scharfen Raumwahrnehmung«, wie sie für Mitglieder »primitiver Stämme« bezeichnend ist, noch jegliche theoretische »Repräsentation oder Wiedergabe«, die erst die »Sphäre des konkreten praktischen Lebens transzendiert«. – Ebd., 76, 78. 26 PsF III: 271, 277, 283, 310, 322; ECW 13: 268, 274, 280, 307, 319. Alle diese Belege fi nden sich in dem Kapitel »Zur Pathologie des Symbolbewußtseins«. Siehe dazu auch die Abschnitte IV.3.3 und IV.3.4 in der vorliegenden Studie. 27 VM: 89. 28 Ebd., 172. 29 Ebd., 180 f. 30 Ebd., 339. 31 MS: 25.

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sechstes k apitel 2 Menschliches Dasein: Symbolisierung und kulturelle Lebensformen 2.1 Durch Symbolisierung zur Lebensform der Kultur

Cassirer setzt sich das Ziel, eine »Phänomenologie der menschlichen Kultur« 32 auszuarbeiten, die auf der Idee des ›Symbolnetzes‹ beruht. 33 Dieses eröffnet dem unmittelbare Zwecke verfolgenden Leben eine neue »Dimension der Wirklichkeit«, denn es ergänzt das organisch-vegetative Dasein durch kulturelles Leben in vielfachen Formen. 34 Sobald das Lebewesen Mensch in einem »symbolischen Universum« lebt, kann es der Wirklichkeit nicht mehr »unmittelbar gegenübertreten«. Vielmehr hat es nun statt mit physischen Dingen zunehmend »mit sich selbst« zu tun, d. h. mit selbstgeschaffenen »sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten«. Hat der Mensch erst einmal den Weg der Symbolisierung beschritten und wendet er sich der Wirklichkeit zu, so schiebt sich dieses »artifizielle Medium« sofort zwischen ihn und die Realität. Auch praktisch »lebt« er nun nicht mehr in der Welt unmittelbarer Bedürfnisse, sondern in der »imaginärer Emotionen, in Hoffnungen und Ängsten«. 35 Kultur erscheint so als Zustand (Resultat) menschlicher Tätigkeiten, die konkrete Symbolisierungsleistungen vollbringen und sich als die Symbolsysteme »Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte« niederschlagen. Als solche machen sie jeweils Sektoren der »Sphäre des ›Menschseins‹« aus. 36 Von Kultur kann folglich in Absehen vom Begriff des menschlichen Lebens gar nicht gesprochen werden, und dieses wiederum ist gegenüber dem tierhaften Leben ohne echte Symbolleistungen abzugrenzen. Bei dieser Abgrenzung leistet Cassirer zufolge die moderne philosophische Anthropologie einen wichtigen Dienst, zumal auch die Erklärung des Kulturmenschentums einer anthropologischen Basis bedarf. Anthropologisches Selbstbewußtsein bilde sich bereits im mythologischen und im religiösen Kulturbewußtsein aus, was er eine »nach innen gekehrte Lebensanschauung« (Anthropologie) nennt. 37

32

VM: 86 f. »Statt vom Menschen zu sagen, er besitze einen ›der Bilder bedürftigen Verstand‹, sollten wir eher sagen, sein Verstand bedürfe der Symbole«. – Ebd., 93. 34 Ebd., 49. 35 Ebd., 50. 36 Ebd., 110. In MS erklärt Cassirer außerdem noch »Moralität, Politik und Recht« zu Bestandteilen der »menschlichen Kultur«. – MS: 313. 37 VM: 18. 33

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Seit Sokrates und Platon mache die philosophische Selbsterforschung den »wahren Wert des menschlichen Lebens« in der Kultur aus, tierisches bzw. an rein praktischen Bedürfnissen orientiertes Leben ist dazu nicht fähig. Die Geschichte der philosophisch-anthropologischen Selbstbefragung deutet Cassirer zudem als eine heftig und leidenschaftlich für und wider die menschliche Vernunft geführte Bewegung. 38 Er sieht seine Aufgabe sowohl in der anthropologischen Grundlegung der Philosophie kultureller Symboliken als auch in der symbolphilosophischen Fundierung der modernen philosophischen Anthropologie. 39 Die symbolischen Kulturformen erweisen sich als die »Elemente und konstitutiven Bedingungen« von menschlicher Gesellschaft bzw. menschlicher Kultur, sogenannte »tierische Gesellschaften« existieren ohne diese Formen und folglich ohne Kultur. 40 Für Cassirer ist der Begriff der Kultur ganz eindeutig dem menschlichen Leben vorbehalten, der der Gesellschaft dagegen nicht. Diverse »Formen gesellschaftlichen Lebens« finden sich nämlich auch in der »organischen Natur«. Allerdings bedarf dieses Leben der Erweiterung durch kulturelle Elemente, d. h. durch Symbolisierungen, damit die völlig neue Stufe »des gesellschaftlichen Bewußtseins« hervortreten kann. Nur im Medium des bewußt gewordenen »gesellschaftlichen Lebens kann sich der Mensch finden, sich seiner Individualität bewußt werden.« Damit kommt Cassirer auf ein zentrales Moment seines Philosophierens zu sprechen: Der Mensch unterwirft sich zwar den vorgefundenen »gesellschaftlichen Lebensformen« und den auf ihnen ruhenden »Formen menschlicher Kultur«, er bringt aber auch beständig neue Formen hervor und verändert die bestehenden. Auf diese Weise entsteht ein im biologischen Leben unbekannter Modus der Weitergabe von individuellen und kollektiven Erfahrungen. Die verschiedenen Arten kulturellen Ausdrucks bilden beim Kulturmenschen nämlich eine ganz neue Sphäre, in der sie ein »Eigenleben, eine Art von Ewigkeit« besitzen und »die flüchtige Existenz des Einzelnen überdauern«. 41 In diversen Maßverhältnissen verfestigt die kulturelle Aktivität die Arten des Ausdrucks und löst gleichzeitig diese Verfestigung durch Veränderung wieder auf, was ihre »grundlegende Polarität« ausmacht. Wenn davon auszugehen ist, daß »symbolisches Denken und symbolisches Verhalten zu den charakteristischen Merkmalen menschlichen Lebens gehören und daß der gesamte Fortschritt der Kultur auf die-

38 39 40 41

Ebd., 26. Siehe dazu Hartung (2003: 240 ff.). VM: 338. Ebd., 339.

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sen Voraussetzungen beruht«, 42 dann ist das Besondere und Neue der menschlich-kulturellen »Art symbolischen Verhaltens« gegenüber der tierisch-praktischen Vorstufe herauszuarbeiten. Cassirer verweist darauf, daß bei der kulturellen Symbolisierung – z. B. in der Sprache – selbst in der »fundamentalsten Schicht« des Ausdrucks, in der der Emotionen, die Zeichen (Bilder) eine objektive Bedeutung ausdrücken. 43 Erst wenn diese mit all ihrer Universalität, allgemeinen Gültigkeit und Anwendbarkeit ins Leben tritt, eröffnet sich der entscheidende Schritt in die wahrhafte Symbolik, eröffnet sich der Zugang zur »Welt der menschlichen Kultur«. 44 Ohne Symbolik gliche das Leben des Menschen dem Gefangenen in der Höhle aus Platons berühmten Gleichnis: »Er wäre auf die Grenzen seiner biologischen Bedürfnisse und praktischen Interessen beschränkt«. 45 Mit anderen Worten, der Mensch wäre der Gefangene der Unmittelbarkeit seiner Gefühle, Instinkte, Bedürfnisse, äußerer Einflüsse etc. So wie jede biologische Lebensform (Spezies) ihre eigene Raum- und Zeitstruktur der Wirklichkeit hat, bildet auch die menschlich-kulturelle eine spezifische – symbolische – Raum- und Zeitstruktur aus. Im Einzelnen entspricht diese Struktur dabei den jeweils dominierenden »Formen der menschlichen Kultur« bzw. der konkreten »Form des menschlichen Lebens«. 46 Die so geschaffene symbolische Schicht des Lebens bildet mit ihrer Idee abstrakter Räume und Zeiten gleichzeitig die »Grenzlinie zwischen Menschen- und Tierwelt«, zwischen tierisch-biologischem und kulturellem Leben. 47 Dem »Leben der Urvölker« im bloßen »Handlungsraum« spricht Cassirer jedoch, wie erwähnt, die Teilhabe am symbolbildenden Kulturleben ab. 48 Andererseits geht die durch den Mythos bei allen Völkern ausgeprägte frühe »Lebensform« für ihn bereits über das ›primitive‹ Stadium des Lebens hinweg. 49 Offenbar vermag die mythische Anschauung schon eine »theoretische Idee der Zukunft« als Imperativ hervorzubringen, der, als eine »Bedingung der höheren kulturellen Tätigkeiten des Menschen« in allen Phasen des kulturellen Lebens, aus dem bloß anschaulichen Bild der Zukunft (rein praktisches Handeln) hervorgegangen ist. 50 Mit Hilfe des symbolischen Denkens vermag er Wirkliches und Mögliches zu unterscheiden, ins Mögliche, erst Gesollte 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Ebd., 52. Ebd., 55 f. Ebd., 61. Ebd., 71. Ebd., 72; MS: 135. VM: 74. Ebd., 76. MS: 35. VM: 95.

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vorzustoßen. Menschliches Leben ist nämlich niemals auf die Hinnahme des Gegebenen zu reduzieren. 51 Das mythische Bewußtsein scheint hier eine Übergangsstellung einzunehmen.

2.2 Kulturelle Lebensordnungen Den Hauptgegenstand seines philosophischen Interesses, das als symbolische Kultur gelebte Dasein des Menschen, 52 umschreibt Cassirer in den beiden letzten Werken häufig mit dem Terminus »kulturelles Leben«. 53 Die kulturelle Lebensform selbst realisiert sich wieder in unterschiedlichen Richtungen bzw. »Formen des kulturellen Lebens«. 54 Als Kulturleben gilt gelegentlich auch das »politische und gesellschaftliche Leben«, 55 obwohl zumindest »gesellschaftliches Leben« nicht per se menschliches Dasein bedeutet. Die Formulierung, die unsere »kulturelle Welt und unsere soziale Ordnung« in den Blick nimmt, legt nahe, daß die soziale Ordnung die Grundlage bildet, auf der sich die kulturelle Welt mit ihren verschiedenen Formen erhebt. 56 Damit dürften auch Kultur- und Sozialwissenschaften unterschiedliche Gegenstände aufzuklären haben. Vielfach ist an den Formulierungen aber nicht ganz klar, ob er verschiedene Formen kultureller Symbolisierung oder eher eine Struktur im Auge hat, die das Kulturleben und seine soziale Basis umgreift. Diese würde dem uns bekannten Modell einer epochalen Lebensordnung entsprechen, die von einem inneren Prinzip, und gelegentlich von einer einzelnen Kulturform, beherrscht wird. Der explizit in VM verwendete Begriff einer »Lebensordnung« bezieht sich denn auch auf die »bestehende Ordnung« des Mythos, 57 d. h. auf eine konkrete, allumfassende Ordnung des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, und damit auf eine bestimmte Stufe der Entfaltung der Kultur- und Lebensformen. In diesem Sinne spricht Cassirer auch mehrfach von der »sozialen und politischen Ordnung« einer historischen, kulturell prägnanten Epoche. 58 51

So war auch Rousseaus ›Naturzustand‹ des Menschen eine »symbolische Konstruktion«, die eine neue Zukunft für die Menschheit anzeigen sollte. – Ebd., 99 f. 52 Siehe MS: 47, 55, 68, 75, 116, 135, 136, 210, 241, 267, 291, 320; VM: 22, 40, 42, 49, 52, 63, 71, 72, 82, 83, 88, 129, 139, 212, 243, 256, 270, 273, 280, 336, 340. 53 Siehe MS: 8, 50, 208, 246, 287, 356, 384, 388, 390; VM: 45, 63, 74, 90, 128, 272, 285. 54 MS: 241, 242, 300, 302, 358, 359; VM: 72, 113, 114, 337, 338, 340, 55 VM: 103. 56 MS: 389. 57 VM: 340. 58 MS: 229, 235.

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Eine solche ist wohl auch gemeint, wenn vom »griechischen Leben« oder vom »römischen öffentlichen Leben« die Rede ist. 59 Außerdem treten bestimmte terminologische und gegenständliche Unklarheiten an den vielfachen Bestimmungen des kulturellen Lebens zutage, insbesondere bei der Zuordnung der Begriffe »Kultur«, »Soziales«, »Gesellschaft« und »Politik« innerhalb einer Lebensordnung. Wenn es z. B. heißt, daß bereits der mythische Mensch ein »religiöses und soziales Leben« führt, das noch vom mythischen »Lebensgefühl« beherrscht wird, 60 dann scheint hier eine einzelne Kulturform – die Religion – mit der sozialen Weise des Lebens auf einer kategorialen Ebene zu stehen. Ist dagegen die Rede davon, daß im mittelalterlichen Feudalsystem das hierarchische Prinzip der Existenz und des Wertes die »politische und soziale Welt« ebenso wie das »religiöse Leben« prägt, 61 dann werden Politisches, Soziales und Religiöses scheinbar als gleichberechtigte Formen oder Strukturebenen des Lebens behandelt. In der »mittelalterlichen Kultur« sieht Cassirer zudem »alle Formen des menschlichen Lebens – Wissenschaft, Religion, moralisches und politisches Leben – durchdrungen und gesättigt von demselben [religiös-christlichen – C. M.] Geist«, der alles Vorchristliche in seinem Sinne interpretiert. 62 In den beiden Schriften der Jahre 1944/45 handelt er mehrfach vom »politischen und sozialen Leben«, 63 was das Politische dem Sozialen gleichstellt, wobei soziales bzw. »gesellschaftliches Leben« 64 nichts spezifisch Menschliches ist. Ist aber die Rede von »geistigen und [ . . . ] sozialen Leben«, 65 dann wird die kulturelle und die soziale Dimension des Lebens zueinander in Beziehung gesetzt. Der Ausdruck einer »Ordnung unseres sittlichen Lebens« 66 erinnert an eine These samt begrifflicher Formulierung in der PA, wo die ethische, sittliche »Ordnung des Lebens« behandelt wird, der das kulturelle Leben zu dienen habe. 67 Dennoch bezeichnet Cassirer gewöhnlich weder Sitte noch Ethik als symbolische Form. 68 In einem anderen Kontext unterscheidet er das »individuelle und soziale Lebens der Menschen«. Die Feststellung, Platon wende in der Politeia die Sokratische Fragestellung nicht mehr auf das »individuelle Leben des 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

Ebd., 104, 135. MS: 48; VM: 132, 135. MS: 174 f. Ebd., 116. Ebd., 7, 95, 103, 136, 163. VM: 141. MS: 7. VM: 226. PA: 366; ECW 15: 286. Siehe dazu: Recki (2002b).

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Menschen«, sondern auf sein »politisches und soziales Leben« an, 69 läßt das Soziale zudem als eine Bedingung des Politischen erscheinen. 70 Neben das individuelle Leben, das auch als »ethisches Leben« verstanden wird, 71 tritt das »öffentliche Leben«, das bei Cassirer die »Vielheit und Mannigfaltigkeit des kulturellen, sozialen und politischen Lebens des Menschen« umfaßt. 72 Aufschlußreich erscheint hierbei die Zusammenstellung von Kultur, Sozialem und Politischem73 als gleichberechtigte Komponenten, Strukturelemente oder Richtungen des öffentlichen Lebens. Andererseits wird »öffentliches Leben« aber auch mit dem politischen Leben als Gegenstück zum individuell-ethischen Leben nahezu gleichgesetzt. 74 So habe Platon als erster erkannt, daß »privates und öffentliches Leben« in wechselseitiger Abhängigkeit stehen. 75 Hierbei geht es Cassirer um den Zusammenhang des »moralischen und politischen Lebens«. 76 Bei der Vielfalt der Formulierungen stellt sich schon die Frage nach der Stringenz der von Cassirer jeweils gemeinten Struktur menschlichen Daseins. Es bleibt letztlich doch unklar, welche der Adjektive des Lebens auf Strukturebenen hinweisen sollen – »kulturelles«, »soziales« und »politisches« Leben? – und welche Begriffe eher Gattungs- oder Artcharakter tragen – »kulturelles« Leben als Oberbegriff zu »mythischem«, »religiösem«, »künstlerischem« und »politischem« Leben? Insbesondere die Termini »kulturelles« und »soziales Leben« scheinen manchmal nahezu synonym gebraucht zu werden, andererseits legen gewisse Formulierungen die Aussage nahe, daß das soziale Leben das kulturelle erst ermöglicht, es trägt. 77 Vielleicht betont der Begriff »sozialen« Lebens stärker den zwischenmenschlichen Handlungs- und Praxisaspekt, der Begriff »kulturellen« Lebens mehr den Aspekt der Objektivation in Kulturgütern, was auch die Theoriebildung einschließt. Individuelles und öffentliches, politisches Lebens stellen zwei eigene Lebenskreise 69

MS: 81. Siehe dazu auch Gerhardt (1988: 231 f.). 71 MS: 81, 84. 72 Ebd., 75. 73 »Politisches Leben« gilt Cassirer u. a. als »Leben des Staates«. – Ebd., 84. 74 Ebd., 75, 82, 129, 135, 136, 161, 208, 376. 75 Ebd., 95. 76 Ebd., 97. 77 Die Termini »soziales Leben« und »Formen des sozialen Lebens« fi nden sich jedenfalls häufig in den beiden Texten, mehrfach betonen sie den Unterschied zum »individuellen Leben« des Menschen (ebd., 7, 8, 48, 71, 75, 95, 96, 103, 129, 136, 163, 216, 218, 219, 232, 234), »soziales und kulturelles Leben des Menschen« fi ndet ebenso Erwähnung (ebd., 246, 310, 339 f., 356, 358) wie »Formen sozialen und kulturellen Lebens« (ebd., 359, 364, 368, 377) und »kulturelles und soziales Leben des Menschen« (ebd., 388, 390). 70

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des Menschen dar, in denen »rationales Denken« jeweils die Führung übernehmen sollte. 78 Zudem unterscheidet Cassirer auch zwischen den wirklichen Lebensformen der Kultur und dem theoretischen Bewußtsein von ihnen. So ist ihm bewußt, daß Platons Idealstaatslehre wenig mit dem »wirklichen politischen Leben« seiner Zeit zutun gehabt hat. 79 Schließlich führt er den Terminus des »nationalen Lebens« ein, der in die Nähe des Begriffs vom »öffentlichen Leben« gerückt wird. 80 Dabei sieht er Denkformen und Gesellschaftsformen einander korrelieren, weshalb wir die »Form des primitiven mythischen Denkens« nicht verstehen können, ohne die »Formen primitiver Gesellschaften« zu berücksichtigen. 81 Eine analoge Korrelation kommt zur Sprache, wenn der Hinweis gegeben wird, daß wir, um die »Welt der mythischen Wahrnehmung« beschreiben zu können, eine »Deutung des mythischen Lebens« brauchen. 82 Diese Einsicht führt die Analyse zum einen auf die sozialen, kulturellen und politischen Lebensformen des vergesellschafteten Menschen, die eine Entwicklung durchmachen. In der damit gegebenen Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens tritt jeweils eine andere Kulturform bzw. eine der miteinander im Streit liegenden »verschiedenen Tätigkeiten, die die Welt der Kultur konstituieren«, als bestimmende in den Mittelpunkt des sich bewußt gewordenen Lebens. 83 Als zwei unterschiedlich bestimmte Phasen des Menschseins unterscheidet er die »frühen Stufen menschlicher Kultur« 84 vom kulturellen Leben im Staate als einem »späten Produkt der Zivilisation«, d. h. vom »Leben des zivilisierten Menschen«, der sich politisch organisiert hat. Außerdem präge auf jeder Entwicklungsstufe ein bestimmter Stil, ein ideelles Prinzip die jeweiligen Formen kulturellen und sozialen Lebens. Jeder Stufe dieser Korrelation entspricht zudem ein bestimmtes ›Stimmungsklima‹ in der Gesellschaft. 85 So wird, wie schon 1906 sinngemäß ausgeführt, das »mittelalterliche System« der Kultur (das »mittelalterliche Leben«) durch einen einheitlichen Stil des Fühlens und Denkens, durch eine neue Verstehens- und Deutungsrichtung zusammengehalten, die alle vorge78

Ebd., 101. Ebd., 129. 80 Ebd., 161. 81 VM: 111. 82 Ebd., 126. Für die Sprache gilt das Korrelationsverhältnis auch: Sprachform und Zivilisationsform entsprechen einander, denn die »menschliche Sprache entspricht stets ganz bestimmten Lebensformen und ist auf sie eingestellt.« – Ebd., 200, 210. 83 Ebd., 113. 84 Die Rede ist auch vom »Leben der Urvölker« bzw. der »primitiven Stämme«, vom Leben und der Kultur der »Naturvölker« und der »Primitiven«. 85 MS: 24. 79

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fundenen antiken Denkelemente umwandelt, um sie in neuer Bedeutung aufnehmen zu können. 86 Auf diese Weise haben sich alle Sphären des Lebens gewandelt, das Zentrum der Kultur bildet nunmehr das »religiöse Leben«. 87 Antike, Mittelalter und Renaissance bilden als »Zeitalter« der Kultur bzw. Zivilisation unterschiedliche Lebensordnungen aus. Aber, wie wir gesehen haben, auch die Epoche des ›primitiven‹ mythischen Lebens bildet gegenüber der des antiken griechischen und römischen Lebens bereits eine eigene kulturelle Lebensordnung. 88 Und die sich an das Leben in der Renaissance und der Neuzeit anschließenden Jahrhunderte werden ebenfalls als markante Epochen (Lebensordnungen) wahrgenommen, wobei das 18. Jahrhundert als Zeitalter der Aufklärung für Cassirer bekanntlich von besonderer Bedeutung ist. 89 Die Erklärung Gobineaus, wonach verschiedene Kulturepochen wie auch »verschiedene Formen der Kultur« (Kunst, Wissenschaft, etc.), die auf unterschiedlicher Höhe stehen, verschiedenen Rassen korrelieren, hält er allerdings für absurd, ohne damit jegliche Bedeutung der Rasse als »Faktor in der menschlichen Geschichte« zu bestreiten. 90 Doch eine ›Rassentheorie‹, gemäß der »alle Formen des kulturellen Lebens« ihr Recht und ihre Macht allein durch die Rasse hätten, gilt ihm als gefährlicher Mythos. 91

3 Formen kulturellen Lebens 3.1 Mythische Lebensform und religiöses Bewußtsein der Individualität Die für die mythische Kulturform typische »elementare Form des Erlebens«, die eine »konzeptuelle« und eine »perzeptive Struktur« hat, beruht nach Cassirer auf einer Wahrnehmungsweise, die an der als flüssig, wandelbar und belebt erfahrenen Welt »physiognomische Merkmale« erfaßt,

86

Ebd., 110, 113. In der »mittelalterlichen Kultur« sind grundsätzlich »alle Formen des menschlichen Lebens – Wissenschaft, Religion, moralisches und politisches Leben – durchdrungen und gesättigt von demselben Geist.« – Ebd., 116. 87 Ebd., 110. 88 Ebd., 135. 89 So bezeichne »Hegels politische Theorie« »den Wendepunkt zwischen zwei Zeitaltern, zwei Kulturen, zwei Ideologien« – nämlich den des 18. und den des 19. Jahrhunderts. – Ebd., 350 f. 90 Ebd., 300. 91 Ebd., 302.

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und dies auf emotional gefärbte Weise. 92 Was er früher Ausdruckswahrnehmung genannt hat, bezeichnet er jetzt als »physiognomische Wahrnehmung«. An deren Ursprünglichkeit gegenüber der sinnlichen wird weiter festgehalten. Gemeinsam mit dem Mythos hat auch die elementare, emotionale Sprache als ein physiognomisches Ausdrücken ihre Quelle (Wurzel) in dem in der ganzen »organischen Welt« verbreiteten emotionalen Ausdruck. Zumindest auf den »frühen Stufen menschlicher Kultur« seien deshalb Mythos und Sprache »nahe Verwandte«, ja »Zwillingsbrüder«. 93 Der in der mythischen Kulturform lebende ›Primitive‹ überträgt seine »soziale Grunderfahrung« auf die Natur und erlebt sie so als eine »Gesellschaft des Lebens«, in der die Magie des physischen Wortes wirkt. Deren Scheitern läßt ihn die »semantische« bzw. »symbolische Funktion« des Wortes und seiner Bedeutung entdecken. 94 Es sei unbedingt der Tatbestand zu beachten, daß die emotional-physiognomische Erlebnisform des ›Primitiven‹ auch im »Leben des zivilisierten Menschen« ihre »ursprüngliche Kraft keineswegs eingebüßt« hat. Sie erwacht vielmehr immer dann in uns, sobald wir von einer »heftigen Gefühlsregung heimgesucht werden«, und ändert dann schlagartig »Physiognomie« und emotionale »Tönung« des Wahrgenommenen. Wir haben es hier mit einer »ursprünglichen Tendenz unseres Erlebens« zu tun, die zu unserem anthropologischen Bestand gehört. 95 Trotz nachhaltiger Bemühungen gelingt es der Wissenschaft als rationaler Lebens- und Kulturform nicht wirklich, die »Eindrücke unserer physiognomischen Wahrnehmung als solche« zu tilgen oder zu vernichten. Vielmehr bleibt ihr »anthropologischer Wert« im Leben des Menschen erhalten. 96 Der »Welt der mythischen Wahrnehmung« entspricht bei Cassirer die Form des »mythischen Lebens« als der frühesten Gemeinschafts- oder Lebensform. 97 Dabei besteht dieses Leben vor allem aus Handlungen (Ritualen), nicht so sehr aus Bildern oder Dogmen. Deshalb gibt allein der Blick auf diese Handlungen das mythische »Lebensprinzip« frei. Nicht nur der »soziale Grundcharakter des Mythus« ist für Cassirer, wie auch für Durkheim oder Lévy-Bruhl, unbestritten, sondern auch die ihm eigene Art der inneren Logik und Rationalität (Ordnung). Das »Leben und die Kultur der Naturvölker«, das mythische »Leben der Primitiven« in ei92

VM: 123 f. Ebd., 171 f. 94 Ebd., 174 f. 95 Ebd., 123. 96 »Im gesellschaftlichen Leben, im alltäglichen Umgang mit Menschen können wir diese Eindrücke nicht auslöschen«. – Ebd., 124. 97 Ebd., 126. 93

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ner Welt der physiognomischen Wahrnehmung kennt in diesem Sinne bereits eine rationale, d. h. geordnete »Auffassung von der Natur und [vom] menschlichen Leben«, die an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist. 98 Dem widerspricht nicht, daß die sympathetische »Lebensauffassung« keine analytische Gliederung des Lebens in getrennte Bereiche (Pflanzen, Tiere, Menschen) und in Spezies, Familien und Klassen vornimmt, wie es die Wissenschaft tut, sondern das Leben als ein »ungebrochenes, kontinuierliches Ganzes« empfindet und deutet. 99 In der Rede von dem in dieser »Natur- und Lebensauffassung« vorherrschenden »tiefen Glauben an eine fundamentale und unauslöschliche Solidarität des Lebens«, an die »Blutsverwandtschaft zwischen den Lebensformen«,100 faßt Cassirer unter den Begriff der »Lebensformen« alle biologischen Spezies, zu denen auch die des Menschen gehört, die ja eines biologischen Unterbaus bedarf. Das sympathetische »allgemeine Lebensgefühl« ist aber – als der Glaube an die unzerstörbare »Einheit des Lebens« – ein ausschließlich menschliches Gefühl. Dieser Glaube läßt die gesamte Natur zu einer einzigen großen »Gesellschaft des Lebens«, zu einer »Gemeinschaft aller Lebewesen« werden. 101 Hier wird nicht nur alles Wahrgenommene verlebendigt, sondern das Verlebendigte wird zudem in einer solidarischen sozialen Ordnung erfahren. Dabei genießen alle Lebensformen im räumlichen Nebeneinander und alle »Lebensstufen« im zeitlichen Nacheinander dieselbe Würde, und dies über den Tod hinaus. Auf diese Weise kompensiert, so Cassirer, der ›primitive‹ Mensch seine Todesfurcht. 102 Der entscheidende Schritt zur Symbolisierung ist hier aber bereits getan, auch wenn die bildhaften Symbole zunächst nicht als bloße Symbole, sondern noch als die Wirklichkeit selbst erlebt werden. 103 Der Mythos bewährt sich so als die erste Kulturform eines spezifisch menschlichen sozialen Lebens. Deshalb muß seine wahre Funktion auch im sozialen, religiösen und kulturellen Leben des Menschen gesucht und aufgedeckt werden. 104 Im »psychischen und im kulturellen Leben«,105 d. h. in dem des Individuums und dem der Gemeinschaft, steht der frühe

98

Ebd., 178 f. Die mythische Lebensauffassung nimmt zwischen allen »Lebensbereichen« meta morphosische Übergänge und Verwandlungen an. – Ebd., 130, 164. 100 Ebd., 131. 101 Ebd., 132, 136, 139. 102 Ebd., 139. 103 MS: 66. 104 Ebd., 48, 50. 105 Ebd., 51. 99

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Mensch unter dem ihn beherrschenden Eindruck mythischer und magischer Motive, weil er ein »Leben von Affekten, nicht von Gedanken« lebt. 106 Obwohl der Mythos diese die Herrschaft über den Menschen ausübenden Gefühle vereinheitlicht (formt) und obwohl er aus Gefühlen und Emotionen »sproßt«, ist er selbst kein »bloßes Gefühl« mehr, sondern bildhafter »Ausdruck des Gefühls«. Als solcher ist er bereits ein »symbolischer Ausdruck« und nicht bloß ein »natürlicher«. 107 Der symbolische Ausdruck aber erweist sich als »gemeinsamer Nenner« all der kulturellen Tätigkeiten des Menschen, die dieselbe »Aufgabe der Objektivierung« erfüllen.108 In diesem Sinne objektiviert auch die mythische Symbolik die subjektiven Gefühle. Die gefühlsmäßige, sympathetisch-identifizierende »Funktion des Mythus« ist nach Cassirer die entscheidende im »sozialen Leben des Menschen«. 109 Als Tätigkeit, d. h. als rituelle Handlung, und als Form der Kultur erwirkt der Mythus eine »Einheit des Fühlens«, in deren Folge der Mensch der Universalität und grundsätzlichen Identität des Lebens gewahr wird. Dabei erfaßt er dieses »alles durchdringende Leben« noch nicht in einer »persönlichen Form«. Vielmehr offenbart sich der der Kultur- und Lebensform des Mythos eigentümliche primitive Glaube als eine »tiefe und brennende Sehnsucht der Individuen, sich selbst mit dem Leben der Gemeinschaft und mit dem Leben der Natur zu identifizieren«. Diese Sehnsucht wird durch die mythisch-magischen und religiösen Riten befriedigt, in denen die Individuen in eine »einzige Form geschmolzen« sind. 110 Die in dieser Kulturform erweckte »Gemeinschaft des Lebens« umfaßt und umschließt »alle beseelten und unbeseelten Wesen«, d. h., alles hat an diesem »großen System des Lebens« teil. Die Riten sichern als eminent »soziale Akte« die »Erneuerung« und damit die Bewahrung dieses Lebens in Gemeinschaft. 111 Menschliches und Naturleben durchlaufen einen »Zyklus des Lebens« und erreichen immer wieder eine »neue 106

Ebd., 36. Die Affekte äußern sich in praktischen Riten (Rituale), die »emotionalen Charakter« tragen. Diese magischen Riten versteht Cassirer als »motorische Manifestationen psychischen Lebens«, die »gewisse fundamentale Strebungen, Begierden« offenbaren. (Ebd., 41) Mythische Erzählungen sind Interpretationen der Riten. 107 Ebd., 60. 108 Ebd., 63 f. 109 Ebd., 52, 54. 110 Ebd., 53. »Durch einen ersten Akt der Identifi kation behauptet der Mensch seine fundamentale Einheit mit seinen menschlichen oder tierischen Vorfahren – durch einen zweiten Akt identifi ziert er sein Leben mit dem Leben der Natur.« – Ebd., 55. 111 Ebd., 56. Die »sehr klare und sehr strenge Organisation« der »primitivsten Formen des sozialen Lebens« wird durch »fundamentale mythische Vorstellungen« (Riten) gesichert, weil ihre »bindende Kraft [ . . . ] unwiderstehlich« ist. – Ebd., 364.

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und höhere Form«. Etappen dieses Lebenszyklus sind »Leben und Tod«, verbunden durch die beständige »Wiederauferstehung« des Lebens. 112 Das Eigentümliche am Mythos als einer Weise des Erlebens der Identität alles Lebendigen ist aber, daß von ihm Gewalt, »unwiderstehliche Macht« über das Denken und Handeln der Menschen ausgeht. 113 Unter dieser steht zwar das soziale, spontan mythenbildende Subjekt, nicht aber der zielgerichtet Mythen schaffende individuelle Philosoph oder Künstler (Platon). Das habe in erster Linie damit zu tun, daß für den echten Mythus die »Bilder, in denen er lebt, nicht bekannte Bilder [sind]. Sie werden nicht als Symbole, sondern als Realität betrachtet«. Dennoch werden hier »Gefühle nicht einfach gefühlt. Sie werden ›intuiert‹; sie werden ›in Bilder gewandelt‹«. 114 Der mythische Mensch verstehe diese Bilder aber sehr wohl, »weil sie ihm eine Interpretation des Lebens der Natur und seines eigenen inneren Lebens geben können.« Nicht die Rationalisierung der Bilder, sondern die völlig neue positive »Macht des Ethischen« vermag, davon ist Cassirer tief überzeugt, die faktische Macht des Mythos über den Menschen zu brechen und zu überwinden. 115 Allerdings führen bereits die mythischen Symbole den primitiven Menschen weit weg von seinem »unbewußten und instinktiven Leben«. Die symbolischen Ausdrücke von Gefühlen bieten – wie die natürlichen Gefühlsausdrücke auch – eine Art Entladung, eine mildernde Wirkung auf die emotionale Anspannung des Menschen in seiner Furcht vor dem Tode, gleichzeitig wird durch sie die Kraft der Gefühle aber auch gebunden. Der Mythos entfalte so eine kultivierende Funktion. 116 Durch die Transformation des »Mysteriums des Todes ›in ein Bild‹« höre der Tod auf, eine »harte und unerträgliche Naturtatsache zu sein; er wird verständlich und erträglich«. 117 Außerdem bedeutet ein symbolischer Ausdruck nicht Schwächung der Lebenskraft, sondern vielmehr Intensivierung, Kondensierung, Umwandlung der starken Gefühle in Werke. 118 Auch lehrt die auf dem mythischen Denken fußende Magie, die ihre 112

Ebd., 56 f. Der Mythos erklärt den Tod einfach als »Wechsel in der Lebensform« weg und hebt so die Grenze zwischen Leben und Tod auf. – Ebd., 68. 113 Ebd., 58. 114 Ebd., 66. 115 Ebd., 80. 116 Ebd., 64 f. Cassirer betont, daß die Antwort, die der Mythus auf die Frage nach dem Tod gibt, »keine rationale Antwort« ist. Trotzdem hat er die Frage erstmals für den Menschen verständlich gestellt und beantwortet. – Ebd., 68. 117 Ebd., 68 f. Die biologisch instinktive »Furcht« werde so beim Menschen zwar nicht überwunden, wechselt aber ihre Form, macht eine Metamorphose durch. Durch das symbolische Ausdrücken seiner Furcht – z. B. vor dem Tode – in Mythus und Religion lerne der Mensch, sie »zu organisieren«. – Ebd., 66. 118 Ebd., 65.

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»Quelle« in jenem »elementaren Gefühl der Solidarität des Lebens« hat, den Menschen das erste Mal Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten und Kräfte, die ihn nun den Naturkräften nicht mehr wehrlos ausliefern. 119 Dabei ist der Mythus eine »Objektivierung der sozialen Erfahrung des Menschen, nicht seiner individuellen Erfahrung«. 120 Es ist jedoch das entscheidende Moment bzw. Motiv des Individuellen, der Individualität, das das mythische »Gefühl für die Solidarität des Lebens« zu verdrängen oder einzuschränken beginnt. 121 Mit den »personalen Göttern« im mythischen Kulturbewußtsein verschwindet die allgemeine »Blutsverwandtschaft« des Menschen mit »allem Lebendigen«, was ein neues Selbstvertrauen zum Ausdruck bringt. 122 Die »religiöse Sympathie« mit ihren neuen Göttern schafft letztlich Raum für das »Gefühl der Individualität«. 123 In den monotheistischen Religionen trägt die »Form einer universalen ethischen Sympathie« schließlich den »Sieg über das primitive Gefühl für die natürliche oder magische Solidarität des Lebendigen« davon. 124 Wenn die religiöse Form des Kulturlebens, die »grundlegend sozialen Charakter« hat, die Menschen vom Tabu-System befreit und die religiöse Empfindung als Verpflichtung zu positiver Tat erklärt, 125 die mythische Gehalte neu deutet und versteht, dann wird die zugrundeliegende physiognomische Wahrnehmung aber nur sehr bedingt berührt und kaum außer Kraft gesetzt. Zumal die Entwicklung hin zu einem Bewußtsein der Individualität kein einfacher, kein ausschließlich gewollter oder begrüßter Prozeß ist. So drückt sich z. B. im »Kult des Dionysos«, der auf eine entwickelte Religion in Griechenland trifft, ein primitives »Urgefühl der Menschheit« aus, das den »primitiven Riten« und den vergeistigten mystischen Religionen gemeinsam ist. »Es ist die tiefe Sehnsucht des Individuums, von den Fesseln seiner Individualität befreit zu werden, sich in den Strom des universalen Lebens zu tauchen, [ . . . ] im Ganzen der Natur aufzugehen«. 126 Aus diesen »tiefen menschlichen Gefühlen« und Emotionen »sproßt« dann der erneuerte Mythus als Erzählung, als Erklärung des anschaulichen dionysischen Rituals hervor. 127

119 120 121 122 123 124 125 126 127

VM: 148, 146. MS: 66. VM: 144 f. Ebd., 157. Ebd., 150 f. Ebd., 159. Ebd., 160, 170. MS: 58. Ebd., 60.

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3.2 Politik und Historie als kulturelle Lebensformen Im Folgenden wird die Frage, ob bei Cassirer Politik und Geschichte als symbolische Formen bzw. als Formen kulturellen Lebens gedeutet werden, offen gelassen. Obwohl im VM die Geschichte – d. h. historisches Bewußtsein, Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft – in diese Kulturformen eingereiht wird, scheint es doch so zu sein, daß uns diese grundsätzlich nur als geschichtliche Formen und Gehalte zugänglich sind. Deshalb stellt die jeweilige Kulturgeschichte die Voraussetzung für eine Philosophie der Symbolisierungen dar. Andererseits ist es für Cassirer ganz unzweideutig, daß auch der Historiker mit Symbolen und Symbolisierungen arbeitet. 128 Das Politische wiederum behandelt er zwar in keiner seiner Schriften explizit als eine eigene symbolische Form, ja bezeichnet es nicht einmal als eine solche, scheint aber dennoch politisches Leben für eine Kulturform zu halten. 129 Und dies, obwohl er es, wie erwähnt, gelegentlich als Lebenssphäre terminologisch von der Kultur und dem Sozialen abhebt. Unstrittig ist aber, daß wir ein geschichtliches und ein politisches Leben führen. Deshalb werden »politisches Leben«130 und theoretisches Bewußtsein von ihm, d. h. politische Lehren, als wichtige Lebensform des ›zivilisierten‹ Menschen auf den nachmythischen Stufen der Kultur behandelt. Das »öffentliche Leben« umfaßt wohl beides: bestimmte, wechselnde theoretische »Auffassungen vom politischen Leben« und das wirkliche »Leben des Staates«131 bzw. die praktischen politischen Handlungen der Menschen. 132 Sein letztes großes Werk verfaßt Cassirer nicht zuletzt aus der ihn immer stärker umtreibenden Sorge um die beobachtete »ernste Krisis unseres politischen Lebens« und den damit verbundenen Wandel des »politischen Denkens«. 133 Dabei scheint der Terminus einer »Gemeinschaftsform«, auf den wir in der PA (1932) gestoßen waren und 128

Siehe dazu u. a. Rudolph (1999). Siehe dazu u. a. Gerhardt (1988). 130 Der Terminus des »politischen Lebens«, den Cassirer spätestens seit dem 6. Kapitel in FF (1916) vielfach verwendet, durchzieht insbesondere das gesamte Werk MS, fi ndet sich aber auch im VM. – MS: 7, 75, 81 f., 87, 95, 97, 101, 103, 116, 129, 136, 163, 177, 180, 204, 205, 207, 216, 232, 243, 241, 310, 322, 326, 346, 350, 356, 363, 371, 376, 377, 389); VM: 104, 278. 131 MS: 344. 132 Ebd., 135 f. Cassirer meint, im 18. Jahrhundert hätten sich die politischen Denker »viel mehr mit politischem Leben als mit politischer Lehre« beschäftigt. Außerdem habe Hegels rechtsphilosophisches System auf das »politische Leben« doppelt Einfluß genommen: als Teil der Welt der Ideen und als Teil der »›aktuellen‹ politischen Welt«. – Ebd., 332, 322. 133 Ebd., 7. 129

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worunter dort die sittliche Lebensordnung verstanden wird,134 so etwas zu meinen wie menschlich-gesellschaftliche »Lebensform«, die wiederum als ein bestimmter »Ordnungsmodus« zu verstehen ist. Sei doch das politische Leben keinesfalls die einzige Gemeinschaftsform des Menschen, sondern trete erst spät auf. Lange vor dem Aufkommen dieses »Organisationsmodus« in Form der »politischen Ordnung« hat der Mensch bereits andere kulturelle Ausdrucks- und Ordnungsformen seiner Subjektivität erprobt – nämlich »Sprache, Mythos, Religion und Kunst«. 135 Wenn es weiter heißt, daß die politische Gemeinschafts- oder Ordnungsform »nicht allen menschlichen Betätigungen Ausdruck geben kann«, dann sind damit die eigentlichen kulturellen Tätigkeiten gemeint, vielleicht auch ethisches (individuelles) und soziales Handeln. 136 Die politische Lebens- oder Kulturform kann u. a. deshalb nicht als Ausdrucksform dieser Tätigkeiten dienen, weil dies mit Nachdruck in den totalitären Staat führt. Cassirer scheint dabei Hegels Staatesbegriff, außerhalb dessen sich keine Kulturform realisiert, im Hinterkopf zu haben und gegen ihn zu polemisieren. Und dennoch würdigt er dessen Gedanken einer irreduziblen Eigenständigkeit der Kulturformen Kunst, Religion und Philosophie gegenüber dem Staat. 137 Die Rede von den »Formen des Politischen« verweist zudem auf die historische Entfaltung der politischen Lebensform, die sich jeweils konkret realisiert. 138 Das politische Leben ist neben dem kulturellen und sozialen Leben Teil des öffentlichen Lebens. 139 Bei Platon, der die mythische Staatsauffassung durch eine rationale politische Theorie ersetzt, stehe die Abhängigkeit zwischen politischem und individuell-ethischem Leben im Mittelpunkt des Interesses, das sich auf eine »rationale politische Ordnung« richtet. 140 In jeder nachmythischen Gemeinschaftsform der Menschen hält Cassirer eine Lehre vom Staat und vom politischen Handeln, die noch einmal den Regeln des Mythos folgt, für zutiefst zersetzend und zerstörend; sie

134

PA: 365 ff.; ECW 15: 285 f. MS: 84. 136 VM: 104. 137 MS: 357. 138 So sind das konkrete »Handeln und Tun der Menschen in der historischen Entwicklung« jeweils von den vorherrschenden »Formen des Politischen abhängig.« In dem hierauf folgenden Satz bleibt jedoch – in der deutschen Übersetzung – dunkel, ob die »Betätigungen« des Menschen, die »Formen des Politischen« oder die »Ordnungen« für Cassirer »kein eigenständiges historisches Leben« führen, wobei ihnen trotzdem ein »eigener Sinn und ein eigener Wert« zukommt. – VM: 104. 139 MS: 75. 140 Ebd., 81 ff., 147. In Platons Staatslehre habe »jedes Individuum« seinen »Anteil an dem Leben des Gemeinwesen«, wenn auch einen unterschiedlichen. – Ebd., 131. 135

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bedrohe das gesamte geistige und soziale Leben. 141 Dieses Leben bedarf nämlich einer rationalen Ordnung, die sich vom ›irrationalen‹ mythischmagischen Glauben freigemacht hat. 142 In der mythischen Lebens- und Gemeinschaftsform, d. h. in der vorpolitischen Lebensordnung erfüllt der mythisch-magische Glauben dagegen eine stabilisierende Funktion. Außerdem konstatiert Cassirer reale Einflüsse des philosophischen Denkens auf das öffentliche Leben und auf die Auffassungen von ihm. So seien z. B. sowohl das politische Denken als auch das »römische öffentliche Leben« durch die stoische Idee der Humanitas beeinflußt, gewandelt und geformt worden. Diese Idee habe sich im »privaten und öffentlichen Leben« niedergeschlagen als ein moralisch und ästhetisch »bestimmter Typ des Lebens«, der sich im »ganzen Leben des Menschen«, in allen seinen Objektivationsweisen zu erweisen hatte. 143 Die letztlich aber immer bestehende »Kluft zwischen politischem Denken und Leben« habe erst Hegel mit seiner Rechtsphilosophie (1818) wirklich überwinden können. 144 Durch sie und mit ihr bekam das politische Denken eine nachhaltig praktische Wirkung auf die »Kämpfe des politischen Lebens.« Das gelte vor allem für den aus dieser Staatsphilosophie erwachsenden Hegelianismus und noch mehr für den Neuhegelianismus im 20. Jahrhundert, der die Hegelsche Lehre oft regelrecht umkehrt.145 Damit habe sich die paradoxe Dialektik seines Systems im »modernen kulturellen Leben« letztlich an ihm selber durchgesetzt. 146 Für bedenklich an der späten politischen Philosophie Hegels hält Cassirer vor allem den Umstand, daß in ihr die traditionelle Sitte das »zugrundeliegende Element im politischen Leben« ist. Diese sei nämlich das Gegenteil von »individueller Verantwortung«, wie sie Sokrates und Platon ins philosophisch-politische Bewußtsein gehoben hatten. 147 141

Ebd., 7. Ebd., 103. 143 Ebd., 136. 144 Ebd., 322. 145 Im Neuhegelianismus habe Hegels »System des politischen Denkens« seine »Ein heitlichkeit und innere Harmonie« verloren. »Bolschewismus, Fascismus und Nationalsozialismus haben das Hegelsche System aufgelöst und in Stücke zerrissen.« Ihr theoretischer Kampf um die »Reste der Beute« hat »schreckliche politische Wirkungen«, er ist ein »Kampf auf Leben und Tod«. Hegel selbst »ist für diese Entwicklung nicht verantwortlich. Er würde sicher die meisten aus den Prämissen seiner politischen Theorie gezogenen Folgerungen zurückgewiesen haben.« – Ebd., 323, 326. 146 »Es war das tragische Schicksal Hegels, das er unbewußt die irrationalsten Mächte entfesselte, die jemals im politischen und sozialen Leben des Menschen erschienen. Kein anderes philosophisches System hat so viel zur Vorbereitung des Fascismus und Imperialismus getan, als Hegels Lehre vom Staat«. – Ebd., 356. 147 Ebd., 326. 142

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Deshalb suche Hegel, dessen Begriff einer Versöhnung von gegebener Wirklichkeit und substantieller Vernunft letztere sich jeweils historisch, etappenweise in der gegebenen Wirklichkeit »organisieren« und »leben« läßt, die Idee in der »Gegenwart des sozialen Lebens des Menschen und seiner politischen Kämpfe«. 148 Unklar bleibt, ob Cassirer die der Romantik verpflichtete Betrachtung des Staates als »›organischer‹ Einheit«, wie sie sich auch bei Hegel findet, völlig abweist oder partiell teilt. 149 Obwohl er dessen Rechtsphilosophie vorhält, die notwendige ethisch-moralische Norm aller Politik der faktischen Macht geopfert zu haben,150 fühlt er sich dennoch von dem antitotalitären Zug in seiner Lehre angezogen, wonach die anderen drei Hauptformen des »kulturellen Lebens« – nämlich Kunst, Religion und Philosophie – dem Staat als wichtigster Kulturform nicht lediglich als Mittel für eigene Zwecke dienen und folglich nicht unter eine »äußere Rechtsprechung gestellt werden« können. Und dies, obwohl sie »keine abgesonderte Existenz außerhalb des Staates« haben, weil der Mensch nur im Staate sein »soziales Leben organisieren« kann. 151 Hegels Philosophie sehe keineswegs vor, daß die politische Form »alle anderen Formen sozialen und kulturellen Lebens eliminiert und alle Unterschiede auslöscht«. Diesen Anspruch unterstelle erst der Neuhegelianismus, der für einen allmächtigen Staat eintritt, in dem weder »organische Einheit« noch wirkliche »Freiheit« möglich sind. 152 Auch im politischen Dasein kommt dem allgemeinen Lebens- oder »Volksgefühl«, in dem bestimmte Ideen zum Ausdruck gelangen, eine große Rolle zu. Das Lebensgefühl tritt neben die politisch-philosophische Lehre, die diese Ideen theoretisch begründet, und das praktische politisch-staatliche Leben, in das sie einfließen. 153 In diesem Dreierverhältnis ist eine »vollständige Harmonie zwischen Denken und Leben« dann möglich, wenn diese Ideen den Geist des Zeitalters wiedergeben 148

Ebd., 335, 339 f. Ebd., 345. 150 Hegels Worte, wonach die Wahrheit des Staates nicht moralischer Natur ist, sondern in der ›Macht‹ liegt, »geschrieben [ . . . ] im Jahre 1801«, enthalten für Cassirer nunmehr das »klarste und unbarmherzigste Programm des Fascismus, das jemals durch irgendeinen politischen [ . . . ] Schriftsteller vorgetragen wurde.« (Ebd., 347.) Auf diese Aussage Hegels hatte er bereits 1930 im Vortrag »Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte« hingewiesen, allerdings mit dem entschuldigendem Hinweis, daß für Hegel »mit unverbrüchlicher Sicherheit auch das umgekehrte Verhältnis feststand; weil alle echte substantielle Macht ihm das Organon der Wahrheit, der Vollstrecker der Vernunft und der absoluten Idee war.« – Cassirer (1930: Blatt 19). Siehe auch Hegel (1970: 64). 151 MS: 357 f. 152 Ebd., 359. 153 Ebd., 233 f. 149

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oder bestimmen. Die von Cassirer beschriebene »Technik der Politik« ist dagegen ausschließlich auf ein erfolgreiches politisches Handeln gerichtet, ohne jegliche ethische Implikation anzuerkennen. 154 Sie wird theoretisch und praktisch von bloßen »Technikern des politischen Leben« betrieben, die auf die sittliche »Gemeinschaft«, auf die gemeinsamen »sittlichen Lebensziele«, auf die ethische »Ordnung des Lebens« Verzicht tun. Gerade auf sie hatte Rousseau die Aufmerksamkeit gelenkt, da sie ihm als Voraussetzung für ein echtes geistig-kulturelles Leben galten. 155 Im 20. Jahrhundert wird die bloße Technik des Politischen um eine neue Technik des Mythos erweitert, die eine »katalytische Wirkung« ausübt und gewährleistet, daß die modernen politischen Mythen Denken und Handeln der Menschen ansprechen und fesseln. 156 Den Boden dafür hatten sowohl eine Reihe philosophischer Theorien des 19. Jahrhunderts (Hegel, Carlyle, Gobineau) als auch die tiefe wirtschaftliche und kulturelle Nachkriegskrise 1918/23 bereitet. Philosophie und Wissenschaft hatten dieser Wirkung wenig Widerstand entgegenzusetzen. Trotz dieser bitteren Erfahrung hält Cassirer an der Aufgabe fest, sowohl eine rationale Theorie des Politischen zu fundieren als auch auf ein quasi rationales Lebensgefühl der Menschen hinzuarbeiten, das ein rationales politisches Handeln wahrscheinlicher machen würde. Außer auf die Politik legt er, was sich u. a. bereits im 4. Band des EP niedergeschlagen hatte, große Aufmerksamkeit auf das historische Bewußtsein von den politischen, sozialen und kulturellen Objektivationen des menschlichen Lebens. Dieses Bewußtsein, das in der ›Zivilisation‹ ebenfalls erst spät zum Tragen kommt, entdeckt hinter der »Vielgestaltigkeit des Lebens« (Burckhardt) eine »identische Struktur« bzw. eine »Identität der Form«. 157 Als ein bedeutender Philosoph der Geschichtswissenschaft gilt Cassirer Dilthey. 158 Ein Historiker verfasse nicht einfach die Chronologie der Ereignisse vergangenen Lebens, sondern für ihn sind diese »nur eine Hülse, unter der er nach der lebendigen Kultur des Menschen sucht – nach einem Leben der Taten und Leidenschaften«.159 Dafür erfindet er keine neue Sprache, wohl aber ziehen in seine Begriffe »Gefühlsregungen ein und verleihen ihnen einen neuen Klang und die Farbe der Individualität.« Folglich deutet und beschreibt der Geschichtsschreiber das vergangene Geschehen durch den subjektiven Blick seines 154 155 156 157 158 159

Ebd., 201, 204 f. PA: 365 ff.; ECW 15: 285 ff. MS: 360. VM: 262 f. Ebd., 295 f. Ebd., 285.

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»persönlichen Lebens«. 160 Dabei ist seine Anteilnahme eine »intellektuelle und imaginative«, keineswegs eine undistanziert emotionale. 161 Diesen Sachverhalt teilt er mit dem Künstler, während der mythisch-magische Mensch unter der Herrschaft seiner Emotionen steht. Die Vergangenheit bzw. die »vergangenen Lebensverhältnisse« lassen sich durch den historischen Blick nicht in einem physikalischen, objektiven Sinne »wiederbeleben«, auch wenn der Mensch in einer Umgebung lebt, »die ihn ständig beeinflußt und seinen Lebensformen ihren Stempel aufdrückt«. 162 Allerdings kann die mittelbare ideale oder symbolische Rekonstruktion des Geschichtlichen, die ein »symbolisches Universum« hervorbringt, im übertragenden Sinne schon ein Wieder-zum-LebenErwecken genannt werden. 163 Insbesondere Herder habe es vermocht, die Vergangenheit aus Bruchstücken des kulturellen Lebens »lebendig werden zu lassen«. 164 Die wissenschaftlich betriebene Historie hat es mit dem »Zustand des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur« zu tun, nicht jedoch mit der »Naturgeschichte« biologischer Lebensformen. 165 Historische Dokumente fungieren für sie als Symbole einer vergangenen Kulturform, vergangenen Lebens,166 indem sie »lebendige Botschaften« mit »symbolischen Gehalt« darstellen, der an ihnen nicht »unmittelbar abgelesen« werden kann. 167 Der Historiker muß sie vielmehr »zum Sprechen bringen«, muß ihre »Symbolsprache« verstehen lernen. Beim Auslegen historischer Dokumente und Monumente entdeckt er in ihnen eine »lebendige Form«. Deshalb ist bei Cassirer vielfach vom »geschichtlichen Leben« die Rede. 168 Das historische Bewußtsein oder Denken führt uns auf eine vergangene Lebensform, die es zu verstehen gilt, ehe das vergangene Handeln, z. B. das Wirken von Personen im politische Leben, nacherlebbar aufgeklärt werden kann. »Eben dies, das menschliche Leben zu begreifen, ist Gegenstand und oberstes Ziel historischer Erkenntnis. In der Geschichte betrachten wir alle Werke des Menschen und alle seine Taten als Manifestationen seines Lebens, und wir wollen sie erneut zu diesem ursprünglichen Zustand zusammenfügen; wir wollen die Lebensform, aus der sie

160 161 162 163 164 165 166 167 168

Ebd., 286. Ebd., 290. Ebd., 308. Ebd., 267 f. Ebd., 272. Ebd., 270. Ebd., 268. Ebd., 271 f. MS: 249, 298, 304, 342.

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hervorgegangen sind, verstehen und ergründen«. 169 Deshalb gehört für Cassirer die Geschichte in das »Gebiet der Hermeneutik«. 170 Mit diesen Überlegungen nimmt er noch einmal Bezug auf die 1923 in der PsF I entworfene allgemeine Ausdruckstheorie geistigen Lebens. Vergangenes Leben war und gegenwärtiges ist Objektivation, Manifestation, Ausdruck des subjektiven Lebens in überindividuellen, übersubjektiven Formen. In den historischen Dokumenten erkennen wir ein »vergangenes Leben, das eine bestimmte Form angenommen hat. Der Mensch kann sein Leben nicht leben, ohne ständig bemüht zu sein, diesem Leben Ausdruck zu verleihen«. Dieses Bemühen gibt der anthropologisch-kulturellen Tendenz des Menschen, die »Fesseln seiner individuellen, flüchtigen Existenz zu sprengen« und in den unterschiedlichsten Werken der Kultur sein »Leben zu verewigen und unsterblich zu machen«, Ausdruck. 171 Das Verewigen und Unsterblichmachen des eigenen Lebens funktioniert nur, wenn die Werke bzw. Werkformen beständig rezipiert, gedeutet und umgedeutet werden. Diese Aufgabe erfüllt auch der Geschichtsschreiber, der die Werke menschlichen Ausdrucksverhaltens »lebendig erhält« und mit ihnen das Leben derer, die sie hervorgebracht, sich in ihnen objektiviert haben. So entstehen Religions- oder Kunstgeschichte. Außerdem vermag kein Politikwissenschaftler ohne die Geschichte des Politischen, kein Sprachphilosoph ohne die Geschichte der Sprachtheorien auszukommen. Mit anderen Worten, wir besitzen die vergangene Welt der Kultur, indem wir sie durch »historische Erinnerung immer wieder neu erobern«.172 Diese vom Historiker bzw. vom Kulturgeschichtler geweckte Erinnerung deckt an den Vergegenständlichungen des Geistes die »ursprünglichen dynamischen Impulse« und damit ein »Leben voller Leidenschaften und Gefühle« wieder auf. Die historischen Monumente zeigen sich uns »von Leben erfüllt«. 173 Resümierend läßt sich mit Cassirer sagen, daß es die Wissenschaft – als die »höchste und charakteristischste Errungenschaft menschlicher Kultur«, als der »letzte Schritt in der geistigen Entwicklung des Menschen« – ist, die uns die »Gewißheit gibt, in einer konstanten Welt zu leben«. 174 Allerdings habe der Mensch schon in einer objektiven Welt gelebt, »bevor er in einer wissenschaftlichen Welt lebte«, nämlich als Mythos, Sprache 169

VM, 280 f. Liefern doch die »Regeln der Semantik« die »allgemeinen Grundsätze für das historische Denken«. – Ebd., 297. 171 Ebd., 281 f. 172 Ebd., 283. 173 Ebd., 284. 174 Ebd., 315. 170

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und Kunst seine Objektivationsformen waren. 175 Es ist zudem noch einmal daran zu erinnern, daß auch die politische Lebensweise und das historische Bewußtsein relativ späte Lebensformen darstellen, die eine neue Phase des Menschentums einleiten. Mit der Kulturform Wissenschaft schließt sich für Cassirer jedoch das »Spektrum des menschlichen Lebens« als einer kulturellen, symbolbildenden Welt. 176 Zumal alle bisherigen Formen der Kultur mit ihrem Hervortreten selbst eine wissenschaftliche Form annehmen. In ihnen allen stellt sich eine gemeinsame funktionale Grundaufgabe, in der sich die spezifische »Gesellschaftlichkeit« menschlichen Handelns, Denkens und Fühlens bewährt. 177 Dabei sind die »beiden Kulturformen« Mythos und Religion die »konservativsten Kräfte im menschlichen Leben«, weshalb sie die festesten »Formen des Lebens« bilden und die »Lebensordnung in ihrer unwandelbaren Gestalt fortsetzen und erhalten.« Die undynamische Ordnung des Mythos erlangt in der Religion aber eine gewisse Dynamik, die dem »sittlichen und religiösen Leben« die neue Perspektive der Individualität eröffnet. 178 Und auch die Sprache ist eine »äußerst konservative Kraft in der Kultur.« Ihre Weitergabe an neue Generationen setzt aber eine gewisse Anpassung und Veränderbarkeit voraus. Die »Lebendigkeit der Sprache« als wichtiger Kultur- und Lebensform hängt an beiden Tendenzen, hängt an ihrem Gleichgewicht in einer symbolischen Ordnung. In der Kunst dagegen dominiert die Innovation, dennoch ist auch die Konstanz der Form wichtig, der auf individuelle Weise (Dichter) immer wieder »neues Leben« verliehen wird. 179 In der Naturwissenschaft schließlich ist das Verhältnis von Erhaltung und Veränderung, Subjektivität und Objektivität wieder ein anderes, das Individuelle hat kaum noch einen Wert. 180 »Im Ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der fortgeschrittenen Selbstbefreiung des Menschen beschreiben. Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft bilden unterschiedliche Phasen in diesem Prozeß.« Trotz aller »Spannungen und Reibungen«, Kontraste und Konflikte zwischen den einzelnen Kulturformen bzw. menschlichen Kräften »vervollständigen und ergänzen« alle diese Funktionen einander. »Jede von ihnen öffnet einen neuen Horizont und zeigt uns einen neuen Aspekt der Humanität.« Selbst das Dissonante steht in Einklang

175 176 177 178 179 180

Ebd., 316 f. Ebd., 336. Ebd., 337 f. Ebd., 341. Ebd., 342 f. Ebd., 345.

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mit sich selbst. 181 Mit anderen Worten, obwohl die Kultur durchaus von Dissonanzen durchzogen ist,182 sieht Cassirer in der immanenten Logik des Kulturlebens als eines Ensembles geistiger, lebendiger Formen selbst keinen wirklichen Grund für eine essentielle Gefährdung der Kultur.

3.3 Kunst: Leben der geistigen Formen und Leben in den Formen Cassirer betont immer wieder, wie dies schon Kant getan hat, den Zusammenhang von Vernunft und Leben. Während der Mensch in einem bestimmten Wirkungskreis »lebt« und dabei einer »individuellen Lebensweise« verpfl ichtet ist, »lebt« dagegen die Vernunft im Reich der überindividuellen Formen und versteht nur »Geformtes«, d. h. Objektives, Objektiviertes. 183 Alle Formen des Geistes bzw. der Kultur sind allerdings ursprünglich im »echten, konkreten Leben« des Menschen, in seinen unmittelbaren, rein praktischen, alltäglichen Kontexten verwurzelt und machen sich nur Schritt für Schritt davon frei. Die rationale Vernunftform, d. h. die »ideale Form« der Sprache, der Religion etc., ist dieser Auffassung gemäß die höchste Stufe der Metamorphose von Formgestalten, die noch unmittelbar im Leben stehen. Das sich im mythischen Denken äußernde »allgemeine Lebensgefühl« ist weder rein theoretisch, noch rein praktisch, sondern »sympathetisch«, es bildet die Schicht unter der Teilung in theoretische und praktische »Lebenssphäre«. 184 Die mythische Denkform wurzelt unmittelbar in diesem Lebensgefühl. Daneben erfüllt jede geistige Form eine belebende Funktion. So »belebt« die symbolische Funktion der Sprache die materiellen Zeichen, in denen sich der objektive Ausdruck des Gedachten entfaltet. 185 Deshalb sieht z. B. der Sprachwissenschaftler Max Müller die ursprüngliche Sprache »vor Leben« schlicht »beben« und die »lebenden Formen der Natur herausschleudern«. 186 Auch der Kunst ist eine »Kraft zur universalen 181

Ebd., 345 f. Für den religiös Gläubigen scheint alles im Leben einen religiösen Sinn zu haben, für den Wissenschaftler hat alles eine wissenschaftlich aufzuklärende Bedeutung, den Künstler interessiert vor allem die ästhetische Dimension alles Seins, der mythisch-magische Mensch erblickt alles in mythisch-magischem Licht. Nur die faktische Wirklichkeit hält sich nicht immer an die Ausschließlichkeit dieser Weltund Sinnbilder und bringt sich beständig in Beachtung. 183 VM: 34 f. 184 Ebd., 131. 185 Ebd., 64. 186 MS: 31. 182

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Belebung der Welt« eigen. 187 Dort, wo die Kunst als Form des Geistes den »dynamischen Prozeß des inneren Lebens selbst« ausdrückt, stellt sich folgerichtig der Zusammenhang von ideeller, übersubjektiver Form und unmittelbarem Leben (Erleben) her. 188 Das »dynamische Leben von Formen« im Geschehen außer uns läßt sich nach Cassirer ästhetisch nur durch einen entsprechenden dynamischen Prozeß in uns erfassen. Wenn wir die natürliche »organische Schönheit einer Landschaft« erfassen, haben wir es mit den unmittelbaren »lebendigen Dingen« zu tun, wenn sie dagegen der Landschaftsmaler als Schönheit darstellt, hat er es mit »›lebendigen Formen‹« und ihrer Dynamik zu tun. 189 Der Künstler versucht, dem statischen Material ein »dynamisches Formleben [zu] entlocken«, das er im Kunstwerk durch die »formenden Akte« der Kontemplation vergegenständlicht. 190 Dabei fließen Anschauung und Rationalität ineinander. Cassirer besteht auf der Formbestimmtheit des künstlerischen Schaffens; das Kunstwerk drückt eine »strukturelle Einheit« aus.191 Durch ihre Formbezogenheit gibt uns die Kunst eine »Art von Wahrheit – eine Wahrheit der reinen Formen«, denn sie verwandelt auf konstruktivem Weg den »Gegenstand in Form«. 192 Anerkennend erinnert Cassirer in dem Zusammenhang an Schillers ästhetische Theorie, in der dieser die »Schönheit als ›lebende Form‹« bestimmt. 193 Die ästhetischen ›lebenden Formen‹ werden nach Schiller bewußt wahrgenommen und eröffnen die »Erfahrung der Freiheit«. Das schließt ein bewußtes und reflexives Verhältnis zu den Formen ein. Kunst als ›lebende Form‹ das »menschliche Leben« und gleichzeitig die Distanz zu ihm, indem sie dieses als Leben im Reich der Formen auffaßt. Diese »Formen der Kunst« sind aber keine »leeren Formen«, keine lebensfremden Formen. Wir haben es nach Schiller bei der Kunst eben nicht mit »gestörten, desintegrierten Formen von Erfahrung« zu tun, vielmehr hat jedes Kunstwerk eine »intuitive Struktur, d. h. ein Element von Rationalität«. 194 Bestimmte Ideen der Vernunft, deren Lebenskraft und Wirksamkeit 187

VM: 237. Ebd., 230. 189 Ebd., 232 ff. 190 Ebd., 246. 191 »Man kann ein strukturelles Ganzes nicht aus amorphen Elementen zusammenfügen«. – Ebd., 250 f. 192 Ebd., 252 f. 193 Ebd., 254. Auch in der »Welt der Geschichte«, in ihren Monumenten, die als Symbole vergangenen kulturellen und politischen Lebens fungieren, entdeckt der Historiker die »lebendige Form«, wenn er ihre Symbolsprache versteht. – Ebd., 272. 194 Ebd., 256 f. 188

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zeitweilig erlöschen, vermögen unter neuen kulturellen und sozialen Umständen wieder aufzuleben. Cassirer beschreibt z. B. das »Wiederaufleben von stoischen Ideen« im 17. Jahrhundert bei Lipsius und Grotius. 195 Als ein wichtiger Kronzeugen für das Wissen um die Einheit von Leben und Vernunft gilt ihm Hegel. Es gehe diesem bei dem – im Begriff der Versöhnung von Wirklichkeit und Vernunft gefaßten – Gedanken, daß die substanzielle Vernunft sich jeweils historisch, etappenweise in der Wirklichkeit organisiert und so in ihr »lebt«, um das zeitliche »Leben« der dem Dasein immanenten ewigen substantiellen Vernunft. 196

4 Bedrohtheit des Kulturlebens und Entlastungsfunktion der Kunst Es gab schon mehrfach Anlaß und Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß Cassirer das kulturelle Leben keineswegs als ein einfaches harmonisches Fortschreiten auffaßt. Vielmehr stellt sich bei ihm am Lebensende die Überzeugung ein, daß zwischen den Kultur und spezifisches Wesen des Menschen erklärenden philosophisch-anthropologischen Ideen und dem angehäuften Tatsachenreichtum eine ganz offensichtliche Unversöhnlichkeit festzustellen ist. Diese werde in der Zukunft eine »innere Bedrohung für unser ethisches und kulturelles Leben insgesamt darstellen«, was auch einem Scheler nicht entgangen war. 197 Die Position des frühen Rousseau, wonach die Gefährdung des Menschseins, ja seine Degeneration, bereits dann einsetzt, wenn der Mensch die »Grenzen des organischen Lebens überschreitet« und sich ein kulturell-politisches Leben erschafft, weil dann geistig-kulturelle Geselligkeit und ethisches Gemeinschaftsleben unweigerlich auseinandertreten, teilt Cassirer allerdings nicht. 198 Ihm geht es in den letzten Schriften auch weniger um Gefahren, die aus der Gestaltung der symbolischen Kulturformen als solchen resultieren, wie er dies noch 1930 im Vortrag über »Form und Technik« thematisierte. 199 Unter dem Eindruck

195

MS: 218 f. Ebd., 335, 339. 197 VM: 45. Die Unterscheidung von »ethischem« und »kulturellem« Leben in dieser Formulierung zielt wohl darauf, daß wir ersteres vor allem als verantwortliche Einzelne, als moralische Individuen führen, während sich letzteres als objektivierende Tätigkeit in Symbolreichen entfaltet. Allerdings ist Cassirer auch die soziale, gemeinschaftliche Dimension »ethischer Lebensziele« nicht fremd. 198 VM: 49. 199 Hier befürchtete Cassirer ein Auseinandertriften der einzelnen Kulturformen 196

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der gesellschaftlichen Entwicklung in den 30er und 40er Jahren, die er bald als Emigrant aus der Ferne beobachten muß, richtet Cassirer seine Aufmerksamkeit vielmehr auf die vom modernen Menschen und seinem korrigierbaren Verhalten selbst ausgehenden bedrohlichen Folgen für die geistige Kultur und damit für die Humanität, für das Menschentum. Vor dem Hintergrund gewinnen insbesondere der überwunden geglaubte Mythos und die ihn tragenden Mechanismen der emotionalen Ausdruckswahrnehmung zentrale Aufmerksamkeit. 200 Weil wir in der modernen, zivilisierten Welt die emotional gefärbten »Eindrücke unserer physiognomischen Wahrnehmung«, auf denen das mythische Bewußtsein beruht, weder leugnen noch auf sie verzichten können, behalten sie auch in ihr »ihren Platz und ihre Bedeutung«. 201 Deshalb kann diese Anschauungsweise mit all ihren Implikationen nicht nur jederzeit wieder Gewalt über uns erlangen, sondern auch zweckgerichtet technisch erzeugt und genutzt werden. 202 An diesen Sachverhalt, der sich auch aus seiner Theorie der physiognomischen Ausdrucksfunktion ergibt, knüpft Cassirer 1945 Kritik und Warnung vor den modernen politischen Mythen. Der Ausgangspunkt ist dabei nicht eine allgemeine und notwendige Krisis der auf Symbolisierungen beruhenden Kultur des 20. Jahrhunderts, obwohl in ihr durchaus Spannungen und Widersprüche existieren. Ihn bildet vielmehr eine konkrete, speziell Deutschland und einige andere europäische Staaten zwischen 1914 und 1945 erfassende und betreffende »ernste Krise [des] politischen und sozialen Lebens«, die in den totalitären Staat gemündet war. 203 Als Symptom und Faktor dieser Krise erlebten die Zeitgenossen den »radikalen Wandel in den Formen des politischen Denkens«. Herrschten vorher Überzeugungen vor, die sich an den Ideen der Aufklärung und der individuellen Verantwortung orientierten, so waren es nunmehr Theorien, die totalitäre Systeme begünstigen, wie sie dann im Nationalsozialismus und Faschismus, aber auch im Bolschewismus Wirklichkeit geworden sind. Diese Entwicklung folgte jedoch nicht unausweichlich einer immanenten Logik des Kulturlebens, sondern resultierte aus konkreten historischen Konstellationen und allgemeinen Dispositionen, auf die es Cassirer ankommt. Dabei treffen wir bei ihm auch auf Momente und die Dominanz der Logik einzelner Formen über die der anderen. – Siehe dazu STS: 39 ff., 67 ff., 76 f., 78 ff.; ECW 17: 139 ff., 164 ff., 172 f., 174 ff. 200 Cassirer identifi ziert hierbei weitgehend Magie, Mystik, mystisches Denken, magischen Zauber, Mythus und mythisches Denken. – MS: 384 f. 201 VM: 124. 202 MS: 368. 203 Ebd., 7, 361.

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der Ent-Täuschung und Selbstkritik. Trotz der den einzelnen Formen der Kultur, einschließlich der des Mythos, zugeschriebenen eigenständigen Logik bzw. Form von Rationalität, postuliert er jetzt eine grundsätzliche Antinomie zwischen dem rationalen wissenschaftlichen Denken innerhalb der modernen Kultur- und Lebensformen und dem – daran gemessenen – irrationalen mythisch-magischen Denken, das inzwischen Macht insbesondere über das »moderne politische Denkens« erlangt hatte. Das aus dem »emotionalen Hintergrund«, in dem der Mythos seinen Ursprung hat, resultierende »›irrationale‹ Element« der mythischen Welt, das für ihre Struktur und »logischen Aufbau« verantwortlich ist, hält Cassirer grundsätzlich für nicht kompatibel mit den Formen der Technik und der Naturwissenschaft, die die mythisch-magische Kulturform historisch ablösten. Allerdings hat die mythisch-magische Kulturform lange Zeit den existentiellen »Wunsch der menschlichen Natur«, in einem »geordneten Universum zu leben«, befriedigt. 204 Das in der Politik zu beobachtende »Zutagetreten« der Macht des mythischen Denkens beunruhigt ihn fundamental. 205 Der auf einer Reihe von Gründen beruhende faktische Sieg des künstlich, technisch erzeugten bzw. in seiner Macht über den Menschen bestärkten politischen Mythos in einigen Gesellschaften hat für ihn »alle unsere früheren Ideen vom Charakter unseres geistigen und unseres sozialen Lebens« umgestoßen und damit die »ganze Form unseres sozialen Lebens geändert«. 206 Das bezieht sich auf die praktischen Lebensvollzüge und deren gefühlsmäßige, theoretische und weltanschauliche Absicherung. Damit tut sich im kulturellen Leben einiger »moderner politischer Systeme« der – letztlich bewußt herbeigeführte – Konflikt zwischen dem Rationalitätstyp »theoretischer Betätigungen« in der Naturwissenschaft und dem Irrationalitätstyp praktischer »politischer Handlungen«, die auf mythischen Regeln beruhen, auf. Im Gegensatz zum theoretischen Leben in den Naturwissenschaften scheint im »praktischen und sozialen Leben« des Menschen die »Niederlage des rationalen Denkens vollständig und unwiderruflich zu sein«. 207 Was macht den grundlegenden Unterschied des theoretischen und des praktisch-politischen Lebens beim modernen Menschen aus? Cassirer hält diese Niederlage des rationalen Denkens zwar weder für zwangsläufig noch für endgültig, dennoch ist sie in Europa faktisch 204

Ebd., 21, 23 f., 364. »Das Übergewicht mythischen Denkens über rationales Denken in einigen unserer modernen politischen Systeme ist augenfällig.« – Ebd., 7. 206 Ebd., 7, 368. 207 Ebd., 8. 205

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eingetreten. Der moderne Mensch hat, in den nachher totalitären politischen Systemen, faktisch alles Gelernte vergessen, nicht zuletzt deshalb, weil man ihn beständig ermahnt, »auf die ersten und primitivsten Stufen menschlicher Kultur zurückzugehen«. 208 Der nun wieder in den personifizierten kollektiven Wünschen aktivierte Glaube an die »›soziale‹ Magie« fordere von den sich in den Dienst dieses Glaubens stellenden Politikern ein Verbinden von irrationaler Magie und rationaler Technik ihrer Propagierung. 209 Die überwunden geglaubte »Finsternis des Mythus«, die »mythischen Ungeheuer« sind auf einmal wieder da, »sie lebten [demnach] noch fort in diesem neuen Universum« nachmythischer Kultur. Das ganze kulturelle und soziale Leben des Menschen wird in Zeiten des allgemeinen Chaos von ihnen wieder durchdrungen. 210 Gewiß ließen sich auch das Versinken des jugoslawischen Vielvölkerstaates im Chaos von Bürgerkriegen, ethnischen Säuberungen und vielfachen Phobien ebenso wie die Gemengelage des internationalen ›Krieges gegen den Terrorismus‹ mit diesem begrifflichen Apparat erfassen und aufklären. Die Vorherrschaft der modernen politischen Mythen, der sozialen Magie und ihrer Technik hat gemäß der Analyse Cassirers einige reale Veränderungen im politischen und kulturellen Leben der betroffenen Staaten nach sich gezogen: 1. Es ist ein »Wechsel in der Funktion der Sprache« vorsichgegangen, vom »semantischen Gebrauch« ist man zum »magischen Gebrauch« der Wörter zurückgekehrt. 211 Die »gefühlte«, fühlbare »emotionale Atmosphäre«, die die Worte umgibt, hat sich damit schlagartig verändert. 212 2. Die magische Wirkung der Worte wurde durch die Einführung neuer regelmäßiger, strenger und unerbittlicher Riten begleitet, die nun das »ganze Leben der Menschen« überschwemmen. Im Resultat besteht »im totalitären Staat keine private Sphäre unabhängig vom politischen Leben« mehr. 213 3. Die »modernen politischen Mythen« – bzw. die sie in Anspruch nehmenden Politiker – strebten das erste Mal erfolgreich danach, neben dem öffentlichen Handeln auch die

208

Ebd., 8. Ebd., 366 f. Dabei können diese Politiker an die Tatsache anknüpfen, daß Mythen (Götter und Dämonen) offenbar die »Personifi kationen kollektiver Wünsche« sind, was der »modernen Idee der Führerschaft« schärfsten Ausdruck verleihe. In Zeiten, in denen alle Hoffnungen, einen »kollektiven Wunsch« auf normale Weise zu erfüllen, fehlgeschlagen sind, »wird der Wunsch nicht nur lebhaft gefühlt, sondern auch personifi ziert.« Damit ist der Ruf nach Führerschaft geboren. 210 MS: 389 f. 211 Ebd., 368. 212 »Wenn wir diese neuen Worte hören, fühlen wir in ihnen die ganze Tonleiter menschlicher Affekte«. – Ebd., 370. 213 Ebd., 371. 209

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privaten »Gefühle, Urteile und Gedanken« der Menschen zu beherrschen, zu regulieren. Dadurch wird verhindert, daß die Menschen »ihr eigenes Leben [ . . . ] leben«. 214 Sie werden ihrer »ethischen Freiheit« und jeglicher persönlichen Verantwortung enthoben. 215 4. Im politischen Leben der totalitären Staaten Europas übernehmen die »politischen Führer alle jene Funktionen«, die in »primitiven Gesellschaften vom Zauberer ausgeübt wurden«: die Funktionen des Wahrsagens und der Prophetie. Das deutet Cassirer als die Rückkehr zu einem Zustand, wie er im »primitiven [d. h. staatenlosen – C. M.] sozialen Leben« und in einigen »hochentwickelten Stufen politischer Kultur« (Rom) geherrscht hat. 216 5. Damit im Zusammenhang steht die von diesen Politikern kundgetane Überzeugung, die »Macht des Schicksals« und nicht die Kausalität sei die »bewegende Kraft in der menschlichen Geschichte«. Die »Ratschlüsse des Schicksals« sind nicht rational, wissenschaftlich oder begrifflich zu durchdringen. 217 Für diesen Rückfall in eine mythisch-magisch funktionierende Ordnung politischen Handelns trägt Cassirer eine Reihe von Gründen zusammen, die hier nicht im Einzelnen erörtert werden können. Zusammengefaßt handelt es dabei sich um folgende Gedanken: Neben (a.) der unzerstörbaren physiognomisch-emotionalen Wahrnehmung, die das mythische Bewußtsein trägt und (b.) der objektiven Krisis und Zerrüttung der Ordnung des sozialen, kulturellen und politischen Lebens, 218 die (c.) durch das Unwirksamwerden bislang funktionierender rationaler Handlungsmuster die mythischen Stimmungen unter den verunsicherten Menschen und den Glauben an ›soziale‹ Magie reaktiviert, 219 hebt er (d.) die Absicht bestimmter Politiker hervor, diese Stimmung mit Hilfe einer speziellen Technik der Mythenpropagierung zu nutzen. Außerdem hat (e.) die Schwächung und Unterminierung der geistigen Widerstandskräfte durch die neuere deutsche Philosophie (Spengler, Heidegger) ebenso dazu beigetragen wie (f.) die immer noch ausstehende rationale Theorie des Politischen, 220 der insbesondere im 19. Jahrhundert durch die Theo-

214

Ebd., 374. »Die neuen politischen Parteien [ . . . ] unterdrücken und zerstören den Sinn für Freiheit selbst« und befreien damit gleichzeitig den »Menschen von jeder persönlichen Verantwortung.« – Ebd., 376. 216 Ebd., 376 f. »Selbst in dieser Hinsicht ist unser modernes Leben abrupt zu Formen zurückgekehrt, die vollständig vergessen zu sein schienen.« – Ebd., 377. 217 Ebd., 379. 218 Ebd., 361. 219 »In verzweifelten Lagen will der Mensch immer Zuflucht zu verzweifelten Mittel nehmen – und die politischen Mythen sind solche verzweifelte Mittel gewesen.« -Ebd., 363. 220 Ebd., 385 f. 215

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rien Carlyles und Gobineaus bereits heftige Konkurrenz erwachsen war, nachdem auch Hegels politische Philosophie eine unheilige Entwicklung angestoßen hatte. Und schließlich bringt er (g.) die Leichtfertigkeit und Sorglosigkeit vieler Intellektueller zur Sprache, zu denen er sich auch selbst zählt, mit der sie die mögliche Macht des mythischen Denkens unter modernen Bedingungen unterschätzt haben. 221 Anzumerken bleibt, daß Cassirers Erwartung an die Schutzwirkung der rationalen politischen Wissenschaft vor einem Wiedereinbruch des mythischen Denkens und Handelns heute überzogen erscheint, unabhängig davon, ob sich seine Überzeugung bewahrheitet, daß es »schließlich eine Logik der sozialen Welt« gibt, »wie es eine Logik der physischen Welt gibt«. 222 Cassirer sieht es am Ende des Lebens als seine vornehmste philosophische Aufgabe an, Überlegungen und Ansätze zu entwickeln, wie einem solchen Wiedereinbruch des Mythischen in Zukunft besser begegnet werden kann, denn er wird sich nicht per se verhindern lassen. Dasjenige, was die Philosophie dafür tun kann, ist, immer mehr als das gerade faktisch Gegebene und Gewesene in Gedanken zu fassen, grundsätzlich »über die Zeit hinaus und gegen sie« zu denken. Das bildet in seinen Augen sogar ihre eigentliche »Aufgabe im kulturellen und sozialen Leben«. Deshalb kann und muß sie den für ihre rationale Argumentation undurchdringlichen und unbeeinflußbaren Mythus aufklären, d. h. sie muß ihn uns »verstehen machen«, damit wir ihm in Zukunft nicht mehr so hilflos ausgeliefert sind. Als eine solche Aufklärung versteht er die Einsicht, daß die verschiedenen nachmythischen symbolischen Formen der Kultur eben »nur die obere Decke einer viel älteren Schicht« sind, die »in große Tiefe hinabreicht«. Deshalb müssen wir »immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Welt und unsere soziale Ordnung bis in ihre Grundlagen erschüttern können«. 223 Obwohl Cassirer hier die »Beziehung zwischen Mythus und den anderen großen kulturellen Mächten« im Auge hat, kann er mit Mythus eigentlich nur die Ausdruckswahrnehmung meinen, die die tiefste und letzte Schicht des geistigen Lebens überhaupt bildet und nicht versiegen kann, da mit ihr jegliches psychische und geistige Leben verlöschen würde. Nicht im MS, sondern im VM entwirft er ein Konzept der Befreiung 221

Ebd., 388. Ebd., 387. Vielleicht meinte er damit, daß allein eine rationale und empirische politische Wissenschaft die Gewähr für eine erfolgreiche, nach Gesetzen gestaltete praktische Politik bietet, was Krisen, Chaos und Erschütterungen insoweit ausschließt, als der bislang unüberwindbare Glaube an soziale Magie weniger Anlässe fi ndet, wieder aufzukommen. – Ebd., 386. 223 Ebd., 389. 222

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aus der Macht, der Gewalt der mythischen Gefühle und Affekte, ohne die mythische Weise der Weltwahrnehmung selbst angreifen und zerstören zu müssen. Er richtet die Aufmerksamkeit darauf, daß der Kunst, in der er in gewissem Sinne ein Muster des Lebens selbst sieht, da sie ihm als der »dynamische Prozeß des Lebens« mit den »ständigen Schwankungen zwischen einander entgegengesetzten Polen« gilt, 224 mehr als aller rationalen philosophisch-wissenschaftlichen Kritik des mythisch-magischen Glaubens eine Entlastungs- und Befreiungsfunktion zukommt, die den Menschen der Macht seiner Emotionen und damit der Gewalt der mythischen Bilder entzieht. Das »ästhetische Erleben« ist nämlich als Betrachtung und Kontemplation letztlich eine »geistige Haltung«. 225 Die in ihm geweckten Emotionen sind zwar ebenfalls »lebendig und unmittelbar«, wie die Affekte im mythischen Erleben, doch da diese Gefühle vom ästhetisch Schaffenden und Rezipierenden »gesehen« werden, wandeln sie sich zu darstellenden Bildern, und diese werden nun nicht mehr für die Wirklichkeit selbst genommen. Der Dichter, der eine unmittelbar erlebte Leidenschaft darstellt, »steckt uns mit ihr nicht an«. Wir sind der Gewalt dieser Gefühlsregungen »nicht ausgeliefert; wir durchschauen sie«. 226 Auf diese Weise erschließt z. B. die dramatische Kunst eine »neue Dimension des Lebens.« Weder im ästhetischen Schaffensprozeß noch im Rezeptionsprozeß stecken uns diese »Potentialitäten des Lebendigen« unweigerlich an, vielmehr erhellen sie sich uns. Das hatte bereits Aristoteles erkannt, wird doch bei ihm die in der tragischen Dichtung Mitleid und Furcht »erlebende« Seele von eben diesen dramatischen Gefühlen nicht verstört, sondern vielmehr ruhig und gelassen (Katharsis). Es stellt für Cassirer eine große emanzipatorische Tatsache dar, daß, sobald wir die Schwelle der Kunst überschritten haben, die »durchlebten Leidenschaften« ihren »lastenden Druck, das Zwanghafte unserer inneren Regungen« verlieren. Der tragische Dichter ist nämlich »Herr seiner Gefühle«, in seinem Werk werden wir von unseren Gefühlen nicht mehr überwältigt. Unser »Gefühlsleben« gewinnt hier vielmehr seine größte Kraft und wandelt in ihr sogar seine Form. Denn im dramatischen Werk »leben wir nicht mehr in der unmittelbaren dinglichen Wirklichkeit, sondern in einer Welt reiner Sinnesformen«. 227 224

VM: 229. »Kunst gibt uns eine Einheit der Intuition« in der Vielfalt, sie »öffnet uns das Universum der ›lebenden Formen‹«. – MS: 53. 225 VM: 226 f. 226 Ebd., 227. 227 »In dieser Welt erfahren unsere Gefühle ihrem Wesen und Charakter nach eine Art von Gestaltwandel. Den Leidenschaften selbst wird die dingliche Bürde genommen. Wir empfi nden ihre Form und ihr Leben, nicht ihre Last.« – Ebd., 229.

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Ähnlich wie im Werk des Geschichtsschreibers (siehe VI.3.2) ist im Werk des Künstlers die »Macht der Leidenschaften zu einer bildenden, formenden Kraft geworden.« Die im Drama »durchlebten« Gefühlsregungen, die wir im »wirklichen Leben« gar nicht aushalten würden, werden von diesem in ein »Mittel der Selbstbefreiung« verwandelt. Weil Kunst zudem ein dialogischer Prozeß ist, gilt diese produktive Wandlung der ehemals destruktiven Leidenschaften auch für den Rezeptienten, der keine bloß passive Rolle innehat. Wie schon das mythische Lebensgefühl, so besitzt auch die Kunst den »sympathetischen Blick«, durch den sich die Individuen in eine allumfassende Gemeinschaft des Lebens versetzen. 228 Die komische Kunst bzw. die Katharsis ermöglichen es uns demnach, »in dieser beschränkten Welt« zu leben, ohne weiterhin »an sie gefesselt« zu sein. 229 Sie leisten diese Entlastung nicht zuletzt dadurch, daß sie uns eine Wahrheit der Formen des Lebens aufschließen, was insbesondere Schiller erkannte. Obwohl im »Reich der Formen zu leben« nicht das gleiche ist, wie im »Reich der Dinge zu leben«, dürften die ästhetischen Formen keineswegs als leere, lebensfremde angesehen werden. Deshalb bedeutet »im Reich der Formen zu leben« nicht automatisch »Flucht vor den Problemen des Lebens; im Gegenteil, es bedeutet Verwirklichung einer der höchsten Kräfte des Lebens selbst«. 230 Damit will Cassirer gewiß nicht behaupten, daß wir modernen Menschen uns durch die Kunst einfach und nachhaltig von allen mythischen Gefahren befreien können. Das scheitert schon daran, daß nicht jeder den Zugang zur Kunst findet, erfordert der doch eine bestimmte Portion an geistigem Aufwand und gutem Willen. Aber sie bietet eine Möglichkeit, die Emotionen zu beherrschen und sich ihnen nicht willen los auszuliefern. Doch weder die faktischen Krisen der rationalen Ordnung des sozialen und politischen Lebens mit den ihnen nachfolgenden Enttäuschungen bei den Bürgern noch der Typ des Politikers, der damit Politik zumachen gedenkt, sind durch die Entlastungsfunktion der Kunst aus der Welt zu bringen. Dies könnte allein eine erfolgreiche, rational geführte, auf ethischen Werten fußende und ihnen dienende Politik bewerkstelligen, und genau diese für Cassirer so notwendige Einheit von praktischem Erfolg, Rationalität und Ethik ist das eigentliche Problem. Und die Zweifel, ob eine solche komplexe Politik sich verwirklichen läßt, entzünden sich an allen drei Forderungen.

228 229 230

Ebd., 231. Ebd., 232. Ebd., 256.

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5 Philosophien des Lebens und der Geschichte Seine Polemik richtet Cassirer zunächst ganz grundsätzlich gegen den »modernen Irrationalismus«. Der zeichne ein falsches Bild vom Menschen, weil er ihn nicht als ein animal rationale anerkennt. Allerdings hält er selbst den Begriff der Rationalität für zu eng gefaßt, um den Menschen auszuzeichnen, lasse er sich doch z. B. schwerlich auf die emotionale oder poetische Sprache anwenden. Da sich alle Formen der Kultur als symbolische erweisen, mit denen sich der Mensch umgibt, bezeichnet Cassirer ihn im VM kurzerhand als animal symbolicum. 231 In den beiden letzten Werken setzt er sich gezielt mit den Lebensphilosophen Bergson, Nietzsche und Carlyle auseinander. Auch die fatalistischen Geschichtsphilosophien Gobineaus, Spenglers und Heideggers werden kritisch betrachtet, wobei die letzten beiden Autoren für die zeitgenössische deutsche Philosophie stehen. Auf Bergsons Lebensphilosophie kommt er erneut anhand des Problems des philosophischen Zeitbegriffs und des mit ihm verbundenen Begriffs des Gedächtnisses (Erinnerung) zu sprechen. Ursprünglich sei von den meisten Philosophen die Zeit nicht als eine »spezifische Form des menschlichen Lebens, sondern als Grundbedingung organischen Lebens überhaupt gedacht« worden. 232 Bergson aber, der auf die Erklärung des spezifisch menschlichen Lebens biologische Begriffe überträgt, habe die mechanischen Gedächtnistheorien in der Psychologie, die darauf Bezug nehmen, daß die »gesamte belebte Natur« ein kontinuierlicher Fluß von Ereignissen ist, dem Gedächtnis und Vererbung eigen sind, durch eine eigene Theorie der Internalisierung und Intensivierung bekämpft. 233 Ist doch bei ihm das Gedächtnis mehr als ein mechanisches Vermögen, da es »Wiedererkennen und Identifizieren« und damit schöpferisches Vorstellen einschließt, wovon es im »Leben der höheren Tiere« lediglich Ansätze gibt. 234 Außerdem entwickle Bergson in seiner »biologischen Philosophie« bzw. »Philosophie des Lebens und der Natur« eine Idee von Moral und Religion, die über diesen Bereich weit hinausweist. 235 Zunächst schwingt in seiner Metaphysik das »Pendel des [organischen] Lebens« beständig vom Pol des Mechanismus der Materie zum ›élan vital‹ und wieder 231

Ebd., 50 f. Ebd., 83. 233 Ebd., 84 f. 234 »In Bergsons Werk wurde diese Theorie zu einem metaphysischen Ansatz, der sich als Eckpfeiler seiner Lebensphilosophie erwies«. – Ebd., 76. 235 Siehe Bergson (1992). 232

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zurück. 236 Dieses Muster übertrage er auf das »ethische Verhalten« des Menschen. In der Konsequenz wiederholt und spiegelt das »gesellschaftliche Leben den universellen Prozeß, den wir im organischen Leben finden«. Seine zwei gegensätzlichen Pole oder Kräfte erstreben die Erhaltung bzw. die Neuschaffung von »Lebensformen«. Die beiden polaren »Formen der Moral und der Religion« werden aus zwei eigenständigen Kräften (Quellen) abgeleitet, was den Gedanken eines stetigen Überganges von der einen zur anderen Form verbiete. Diesem dualistischen Ansatz hält Cassirer zugute, daß dieser bereits im Leben der »Wilden« und »Primitiven« – neben dem durch Gemeinschaft und Tradition erzeugten Druck – das individuelle Moment als aktive »Lebenskraft« herausstellt. 237 Im weiteren zeiht er Bergson des Irrationalismus in der Kunsttheorie. In Anlehnung an die romantische Auffassung zeuge für ihn die Kunst von der »Unvereinbarkeit von Intuition und Vernunft«. Und sie offenbare dies, obwohl der Künstler dem statischen Material ein »dynamisches Formleben« entlockt und es durch »formenden Akte« der Kontemplation vergegenständlicht. 238 Das »Schöpferische der Kunst« bezeugt nach Bergson jedoch allein das »Schöpferische des Lebens«. 239 Wenn Cassirer nun die ästhetische Intuition, so wie sie Bergson versteht, genauer betrachtet, dann stellt er fest, daß sie gar »kein wirklich aktives Prinzip« sei. 240 Das Problem eines solchen Prinzips habe die »platonische Konzeption« der Idee viel besser als Bergsons Kunstlehre gelöst. Der Einwand, der »gegen die Metaphysik Bergsons erhoben wurde«, gelte auch für die Kunsttheorie Nietzsches. In dessen »Theorie zum psychologischen Ursprung der Kunst«, die in der Geburt der Tragödie anhand der beiden Quellen des Dionysischen und Apollinschen entwikkelt wird, 241 gehe ebenfalls die Formbestimmtheit, d. h. die »strukturelle Einheit« des künstlerischen Schaffens, verloren. 242 Gegen Nietzsche gewandt hebt Cassirer hervor, daß man ein »strukturelles Ganzes nicht aus amorphen Elementen zusammenfügen« kann. Vielmehr gebe uns die Kunst eine eigene »Wahrheit der reinen Formen«, wenn sie konstruktiv den »Gegenstand in Form« verwandelt. 243 Nietzsche wird ebenfalls mit seiner Auffassung der Geschichte noch einmal kritisch gewürdigt.

236 237 238 239 240 241 242 243

VM: 140 f. Ebd., 142 f. Ebd., 247. Siehe Bergson (1994). VM: 248. Siehe Nietzsche (1999a: KSA 1: 25 ff.). VM: 250 f. Ebd., 252 f.

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Insbesondere in den Unzeitgemäßen Betrachtungen II244 habe für ihn die Historie »nur insofern einen Sinn, als sie dem Leben und Handeln dient«, sonst »lähmt sie die Kräfte des Lebens«. Daraus ziehe Nietzsche den Schluß: »Ein Übermaß an Historie ist dem Leben schädlich.« Erfolgreiches Handeln setzt demnach grundsätzlich ein befreiendes historisches Vergessen voraus. Als »Anhänger und Schüler Schopenhauers« trenne er jedoch Denken und Handeln künstlich und begreife das Leben als »Manifestation des blinden Willens«. 245 Damit wurde für Nietzsche Blindheit zur »Grundvoraussetzung des wirklich tätigen Lebens; Denken und Bewußtsein standen in einem Gegensatz zur Vitalität.« Diese Voraussetzungen weist Cassirer ab, ebenso die auf ihnen fußende Deutung der Historie als einer Kultur- und Lebensform. 246 Auch lasse sich schon nach Platon auf den »Willen zur Macht« weder der Staat noch die politische Theorie gründen, dieser Wille bleibe seinem Charakter nach unerschöpflich, unbefriedbar, genau so wie das in dieser »Leidenschaft« verbrachte »Leben«. 247 Außerdem kommt Cassirer noch einmal auf die im EP IV bereits kritisierten »psychologischen Typen« zu sprechen, mit deren Hilfe Lamprecht die Geschichte auf eine »unabänderliche Stufenfolge in der Entwicklung des Geistes« reduziert, die den »Werdegang der menschlichen Kultur« bestimme. 248 Er setzt dabei auf den »regelmäßigen Verlauf unseres sozialpsychologischen Lebens« als einem allgemeinen Schema, was unweigerlich in historischem Fatalismus ende. 249 In Wirklichkeit mache das »innere Leben der Menschen [ . . . ] die Realität der Geschichte aus. Dieses Leben läßt sich darstellen und deuten, nachdem es gelebt worden ist«, keineswegs aber vorweg in einem Schema. 250 Auf das Problem einer fatalistischen Geschichtsauffassung kommen wir noch einmal zurück. Als Lebensphilosophen gelten Cassirer nicht nur Nietzsche und Bergson; eine eigentümliche »Philosophie des Lebens« liege auch bei Carlyle vor. Der identifizierte das »Ganze des historischen Lebens mit dem Leben großer Männer« und leite daraus die Heldenverehrung als Vorbedingung des politischen Lebens ab. 251 Das wahre Verstehen des »heroischen 244

Siehe Nietzsche (1999b: KSA 1: 245, 253, 257, 325). An Schopenhauers Lehre vom »blinden Willen«, der die Vernunft ersetzt, lehne sich auch Freud an, der den »Schlüssel zur mythischen Welt im Gefühlsleben des Menschen« sucht, dies aber vom »bewußten Leben« unterscheidet. – MS: 44. 246 VM: 274. 247 MS: 99. 248 VM: 303 f. 249 Siehe Lamprecht (1988: 436 ff.). 250 VM: 306. 251 Siehe Carlyle (1898). 245

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Lebens« der Helden muß demgemäß als »mystischer Akt«, als »große Intuition« vollzogen werden, keineswegs jedoch durch den logischen Verstand. 252 Das Ganze, von dem Carlyle dabei spricht, sei ein »individuelles Ganzes«. Er fungiert deshalb in Cassirers Augen als ein »klassischer Zeuge für jene philosophische Haltung, die später Existenzphilosophie genannt wurde«. 253 Den »Terminus Lebensphilosophie« habe er »von deutschen romantischen Autoren«, speziell von Jacobi, entlehnt. 254 Carlyle predige in seinem »späteren Leben und Werk« trotz aller Macht des Zweifels eine unbedingte tatkräftige, auf das Handeln gerichtete Lebensbejahung, predigte also das »praktische Leben«. Was Cassirer dabei regelrecht anrührt, ist die Tatsache, daß er nie vergißt, den »Namen Goethes zu erwähnen«. Dieser gilt Carlyle als der »große Denker« und »große Lehrer« in ethischer Lebensführung. Damit werde er Goethe weitaus gerechter als viele der romantischen Zeitgenossen, die von ihm bald abfallen. 255 Obwohl er sowohl in seinen Ideen als auch in Stil und Ausdruck ein typischer Romantiker war, sei seine »Philosophie des Lebens [ . . . ] sehr verschieden von der aller romantischen Schriftsteller«. War doch sein Idealismus praktisch-ethischer und nicht magischer Natur, 256 wie der der typischen Romantiker. Dagegen werde Goethes Forderung, ein tätiges Lebens anstelle eines bloß theoretisch-spekulativen zu führen, bei Carlyle zur »Metaphysik des Lebens«, zum »Kern seiner Lebens-Philosophie«. 257 Damit vertritt er eine »aktive und energetische Auffassung vom Leben des Menschen«: jeder Mensch versteht sich entweder als toter Mechanismus oder als »lebendige Kraft«. 258 Diese hat sich in der Geschichte als Heldenleben noch zu bewähren. 259 In seiner originären »Geschichtsauffassung«, die auf der »Theorie der Heldenverehrung« fußt, orientiere sich Carlyle vor allem an Fichtes 252

MS: 252 f. Ebd., 257. 254 »Er versuchte niemals, mehr als eine ›Lebensphilosophie‹ zu geben, und er beabsichtigte niemals, diese Philosophie von seiner persönlichen Erfahrung zu trennen«. – Ebd., 258. 255 Ebd., 260 f., 264. Carlyle erfasse und verteidige auch Goethes moralische Liberalität gegen Herders Rigorismus. Obwohl es eigentlich »keine Übereinstimmung« zwischen den kulturell-religiösen Ideen von Goethe und Carlyle gibt, fi nde dieser im Wilhelm Meister den Schlüssel zum Verständnis von Goethes Intentionen und damit von seinem Leben. Er sah ganz richtig in dessen Werk Entsagung, »aber für ihn war diese Entsagung gleichzeitig die höchste ethische Bejahung.« (Ebd., 262 f.) Allerdings verstanden er und Goethe nicht immer dasselbe unter einem produktiven Leben, so in Bezug auf das 18. Jahrhundert der Aufklärung. – Ebd., 285 f. 256 Ebd., 264. 257 Ebd., 266 f. 258 Ebd., 267 f. 259 Ebd., 272. 253

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Philosophie, die sich auf »moralische Probleme« und auf die praktische Tat konzentriert. »War es möglich, die Lebens-Philosophien Goethes und Fichtes zu versöhnen«, fragt sich Cassirer deshalb. 260 Carlyle schien dies möglich, weil auch Fichte die »Realität unseres moralischen Lebens« als praktische Realität, d. h. als Selbstbewußtsein und seine Tathandlung, versteht. Der individuelle Wille wird bei ihm zu einem zentralen Begriff. 261 Bedeutung und Einfluß von Carlyles Theorie der Heldenverehrung bestehe letztlich darin, daß »vielleicht keine andere philosophische Theorie« so viel in der »Vorbereitung des Weges für die modernen Ideale politischer Führerschaft« getan hat, ohne allerdings für die Folgen in der faschistischen und nationalsozialistischen Ideologie unmittelbar verantwortlich gemacht werden zu können. 262 Ähnliches gelte auch für den einer fatalistischen Geschichtsauffassung anhängenden Gobineau und seine auf der angeblichen »Tatsache der moralischen und geistigen Verschiedenheit der Rassen« beruhende Rassenlehre, mit der er das »Geheimnis des menschlichen Lebens« gelüftet zu haben meinte. 263 Die »moderne Vorstellung des totalitären Staates« kannte er allerdings noch gar nicht und auch zu den »nationalistischen Ideen« bekannte er sich keineswegs. 264 Dennoch gehört Gobineau ganz klar zu denjenigen Schriftstellern, die »auf indirekte Weise das meiste getan haben, die Ideologie des totalitären Staates vorzubereiten. Es war der Totalitarismus der Rasse, der den Weg absteckte zu den späteren Auffassungen vom totalitären Staat.« Dabei sieht Cassirer das Problematische und Wirkungsreiche an dieser Theorie gar nicht in der »Glorifizierung der Rasse«, sondern darin, daß »alle anderen Werte zerstört« werden. 265 Gobineau, der im Stil der Lebensphilosophen »allgemeine ethische Maßstäbe und Werte« ablehnt, thematisiert ebenfalls den Gegensatz von Leben der Rasse und allgemeingeltender Abstraktion. So kritisiert er das für alle geltende Recht, auf dem allein das »römische Leben und 260

Ebd., 274 f. Ebd., 279. 262 »Die modernen Verteidiger des Fascismus verfehlten nicht, hier ihre Gelegenheit zu sehen, und sie konnten leicht Carlyles Worte in politische Waffen verwandeln. Aber Carlyle für alle Folgerungen, die aus seiner Theorie gezogen wurden, verantwortlich zu machen, wäre gegen alle Regeln der historischen Objektivität.« Carlyle und »unsere modernen Theorien des Fascismus« meinen nicht dasselbe. (Ebd., 281) In keinem Falle treffe ihn die Schuld, ein »Advokat der zeitgenössischen nationalsozialistischen Ideen und Ideale zu sein.« – Ebd., 289. 263 Siehe Gobineau (1902/03). 264 Gobineaus eigene Absichten seien diesen »späteren politischen Tendenzen«, die seine Rassenlehre aufgegriffen und benutzt haben, »ganz fremd«, zumal sie sich niemals auf die »politische und soziale Ordnung« richteten. – MS: 290 f. 265 Ebd., 301. 261

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die römische Zivilisation« fußten, als eine »leblose Abstraktion«. 266 Scheinbar hatte er mit seiner Theorie alle Kulturformen in die von der Rasse abhängige Deutung eingeschlossen und damit sein »systematisches Zerstörungswerk« an der Kultur vollendet. 267 Zudem in seiner Geschichtsvision das menschliche Leben mit der friedlichen Gleichheit und Demokratie zwischen den Völkern »alles verloren hat, was es lebenswert machte.« Weil aber die Rasse nicht Ewiges, Unveränderliches, sondern etwas Lebendiges und Vergängliches ist, werden dieser Theorie gemäß Erstarrung, Erschöpfung und Tod des allein über die Rasse definierten Menschen unausweichlich folgen. 268 Damit endet diese Auffassung in Pessimismus, Negativismus und Nihilismus; als sterblicher Gott reiße die Rasse die menschliche Zivilisation mit »in den eigenen Untergang«. Die Methode der von modernen Politikern in totalitären Staaten ausgeübten magischen Funktion der Weissagung und Prophetie, mit deren Hilfe große Massen gelenkt und bewegt werden, sei im 20. Jahrhundert von einigen Geschichtsphilosophen soweit verfeinert und ausgearbeitet worden, daß sie den Anspruch erheben konnte, »wissenschaftlich und philosophisch zu sein«. 269 Sonderbar genug für Cassirer trat diese »neue Kunst der Wahrsagung« mit Spenglers erfolgreichem Werk zuerst in der deutschen Philosophie auf. 270 In seiner Erinnerung hatten allerdings viele Menschen im Juli 1918, als der erste Band erschien, 271 erkannt, »daß etwas faul war im Staate unserer hochgepriesenen westlichen Zivilisation. Spenglers Buch drückte dieses allgemeine Unbehagen scharf und durchdringend aus«. 272 Die »wahre Bedeutung« dieses Werkes, das Cassirer unwissenschaftlich nennt, sei jedoch darin zu sehen, daß in ihm erstmals ein Autor, der die Geschichte als Dichter behandelt, die poetisch hervorgebrachte »Welt prophetischer Visionen« auf mythischmagische Weise für Realitäten nimmt und aus ihnen eine Geschichtsphilosophie macht. Behauptet er doch, das »Schicksal einer Kultur«, in dem Fall der abendländischen, und damit die Geschichte naturwissenschaftlich exakt »voraussagen« zu können. In dieser Behauptung erblickt Cassirer letztlich den »Schlüssel zu Spenglers Buch und seinem enormen 266

Ebd., 306, 312. Ebd., 317 f. 268 Ebd., 320 f. 269 Ebd., 377 f. 270 »1918 erschien Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Vielleicht niemals zuvor hatte ein philosophisches Buch einen so sensationellen Erfolg.« Doch ist für Cassirer der wahre »Grund für den Erfolg Spenglers eher im Titel seines Buches als in seinem Inhalt zu suchen.« – Ebd., 378. 271 Siehe Spengler (1991). Siehe dazu Möckel (2003a: 105 ff.). 272 Ebd., 378 f. 267

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Einfluß«. Bereits einige Jahre zuvor, in dem Beitrag »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939), hatte er die Voraussetzung einer solchen Vorausbestimmbarkeit im metaphysischen »historischen Determinismus« aufgezeigt, der in den »historischen Fatalismus« führe. 273 Demnach sei nicht die Kausalität, sondern die rational, wissenschaftlich und begrifflich nicht zu durchdringende »Macht des Schicksals« die eigentlich bewegende Kraft in der menschlichen Geschichte. 274 Die von Spengler in Anspruch genommene ›Kulturseele‹ ist für Cassirer, »trotz des romantisch-mystischen Schimmers, der sie umgibt, ein Mechanismus«, der ihren »Lebensgang« bis ins kleinste festlegt. Die Einzelnen sind in ihm wie in einem Räderwerk eingespannt und jegliche freie Entscheidung und Selbsttätigkeit bleibt ihnen vorenthalten. 275 In dieser »Idee eines unvermeidlichen, unerbittlichen und unwiderruflichen Schicksals« (Moira) finde sich zudem die »Wiedergeburt eines der ältesten mythischen Motive«. An dieser die Zukunft weissagenden Geschichtsphilosophie zeige sich, daß der Fatalismus »von mythischem Denken untrennbar« ist. Im Gegensatz zu Platon wird bei Spengler – und bei weiteren »modernen Philosophen« wie Heidegger – der »scharfe Unterschied zwischen mythischem und philosophischem Denken [ . . . ] vollständig verwischt. Sie geben uns eine Metaphysik der Geschichte, die alle charakteristischen Züge des Mythus zeigt«. 276 Cassirer konstatiert zudem eine »enge Analogie zwischen Spenglers Buch und einigen astrologischen Abhandlungen« der italienischen Renaissance. 277 Doch auch für Spengler gelte, daß er selbst trotz einer Reihe dies nahelegenden Aussagen in seinem Hauptwerk nicht zum theoretischen oder praktischen politischen Totalitarismus zu zählen ist. 278 Nichtsdestoweniger wurde Spenglers Werk eines der »Pionierwerke des Nationalsozialismus.« Votierte er doch angesichts des kulturellen Untergangs für 273

EBK: 242 f. MS: 379. 275 EBK: 253. 276 MS: 380. 277 »Spenglers Buch war tatsächlich eine Astrologie der Geschichte, das Werk eines Wahrsagers, der seine dunklen apokalyptischen Visionen enthüllte«. – Ebd., 381. 278 »Aber können wir wirklich das Werk Spenglers mit den politischen Prophezeiungen der späteren Zeit verbinden?« Auf die Frage gibt Cassirer eine abschlägige Antwort, und dies, obwohl sich die totalitäre Bewegung auf ihn stützte, denn »Spengler war ein Unglücksprophet; die neuen politischen Führer wünschten [ . . . ] die ausschweifendsten Hoffnungen zu wecken.« Aber dies mache ihn noch nicht zu einem Teil dieser Bewegung: »Auch war Spengler persönlich kein Anhänger der Nazibewegung. Er war ein Konservativer «. – Ebd., 381. 274

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die ›Technik statt der Lyrik‹, für die ›Politik statt der Erkenntnistheorie‹, d. h. für die neue imperialistische ›Zivilisation‹ statt der alten toten ›Kultur‹. 279 »Dieselbe Denkrichtung« erscheine im Werk eines weiteren »modernen deutschen Philosophen« – in Heideggers ebenfalls berühmten Buch Sein und Zeit (1927). Außer ihren anmaßenden wahrsagerisch-apokalyptischen Visionen und Prophezeiungen hält Cassirer der »neuen Philosophie«, wie Spengler und Heidegger sie vertreten und repräsentieren, vor allem vor, mit ihrem Irrationalismus und Fatalismus die »Kräfte, die den modernen politischen Mythen hätten Widerstand leisten können,« geschwächt und unterminiert zu haben. 280 Mit dem Verzicht auf »eigene grundsätzliche theoretische und ethische Ideale« wurden von diesen neueren deutschen Philosophen vielmehr »alle Hoffnungen auf einen aktiven Anteil am Aufbau und Wiederaufbau des Kulturlebens des Menschen aufgegeben«. 281 Damit verrieten sie die allgemeine Aufgabe der Philosophie, die verlangt, »zu einem Verständnis der universellen Prinzipien der ›Formgebung‹ überhaupt vorzustoßen«. 282 Gelte es doch, damit die »Kultur sein und fortschreiten wird«, die formbildenden Kräfte in uns selbst aufzubringen, nicht aber sie »versagen oder erlahmen« zu lassen. 283 Doch indem sich Philosophen wie Spengler und Heidegger von dieser verpflichtenden Aufgabe abwandten, konnte sich ihre Philosophie »als ein geschmeidiges Instrument in der Hand der politischen Führer« erweisen. 284 Was sie zwar nicht hinderte, auch weiterhin einzelne bedeutsame Wahrheiten zu erfassen und auszusprechen. Ihre eigentliche Sinnbestimmung, aufklärerisch und eine ethische Lebensführung befördernd zu wirken, die die humanistische Kultur sein und fortschreiten läßt, mußte die dem Lebensbegriff huldigende moderne deutsche Philosophie aber schmählich verfehlen.

279 280 281 282 283 284

Ebd., 382. Ebd., 383 f. Ebd., 384. EBK: 260. Ebd., 260. MS: 284.

Resümee: Leben, Form, Freiheit

1. Unsere Untersuchung, die aufklären sollte, welche Rolle der von Cassirer gebrauchte Begriff des Lebens in seinem philosophischen Werk spielt, hat zu einer Reihe wichtiger Einsichten geführt, die einen neuen Blick auf die Philosophie der symbolischen Formen erlauben und erfordern. Ihr Autor bezieht demnach das Philosophieren seit dem Leibnizbuch konsequent auf das Leben, auch wenn es in den historisch-systematischen Darstellungen der Erkenntnislehren aus Renaissance und Neuzeit mitunter schwer fällt, bei der extensiv eingesetzten Begrifflichkeit des Lebens darstellungsbedingte Wiedergabe und vorsichtige Identifizierung zu unterscheiden. Doch bringt es eine aufmerksame Lektüre schnell an den Tag, daß für ihn die geistige Tätigkeit, z. B. das Erkennen, ohne Lebensbezug ebenso ausgeschlossen ist wie ein Erleben ohne Formung, ohne Geistbezug. Bereits in den frühen Schriften spricht Cassirer ganz selbstverständlich vom ›Urphänomen‹ bzw. ›Grundphänomen des Lebens‹. Das macht schon terminologisch deutlich, daß für ihn Leben philosophisch nicht ableitbar, konstruktiv erzeugbar oder transzendent erklärbar ist. Die sich abzeichnende Philosophie der symbolischen Formen reagiert auch auf die Tatsache, daß die moderne Philosophie nach ihrer subjektiven Wendung die Gesamtheit ihrer Probleme im Begriff des Lebens zentriert. Sie versteht sich dabei als ein Gegenentwurf zur Lebensphilosophie, die den ungelösten Gegensatz von verlorener Einheit (Leben) und Zersplitterung der kulturellen Formen (Geist), wie ihn das moderne Lebens- und Kulturgefühl zum Ausdruck bringt, in den Mittelpunkt des Philosophierens stellt. Sie beansprucht nicht nur die Vermittlung und Erklärung dieses Gegensatzes, ohne dabei zu nihilistischen Folgerungen zu gelangen, sondern strebt auch danach, dem Problem des Lebens dadurch gerecht zu werden, daß sie es mit seinem Gegenstück, dem Geist, in Einheit faßt. Derjenige Lebensbegriff, den Cassirer so für die philosophische Theorie rehabilitiert bzw. als unverzichtbar ansieht, ist allerdings einer, der die reine Unmittelbarkeit hinter sich gelassen hat. Letztlich erschließt sich durch ihn ein Stück weit der in der Philosophie der Symbolisierungsweisen gelegentlich vermißte Grund und Träger dieser Prozesse und Zeichensysteme. 2. Der angebliche Gegensatz von Leben und Form, von Leben und Geist stellt letztlich nur zwei verabsolutierte Abstraktionen aus einem

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Resümee

ursprünglich Einheitlichen – der symbolischen Form als Zwischenreich – dar. Die scheinbare Antinomie erweist sich als funktionale Doppelrichtung, als funktionales Grundverhältnis, das sich im geistig-lebendigen Tun je in einem Akt realisiert und erst durch die Reflexion zerlegt und isoliert wird. Diese Doppelrichtung der Funktionen findet sich bereits im Leben selbst wieder, das Cassirer deshalb das ›Quellgebiet‹ oder das ›Urbild‹ des Geistes nennt. Allerdings wird die Wirkorientierung des Lebens zur Ideenorientierung des lebendigen Geistes erweitert. Dies erschließt sich aus dem Rückblick auf das Leben durch die symbolischen Medien – das Zwischenreich – hindurch. In diesem Sinne geht die symbolische Mitte sowohl dem Leben (Zweck) als auch dem Geist (Idee) vorher, die sich beide aus ihr erst abstrahieren und als korrelative Richtungen verstehen lassen. Rein vitales Leben kennt diesen Gegensatz ebensowenig wie rein geistiges Ideendenken. In den symbolischen Formen ist sich das Leben folglich selbst durchsichtig und gegenständlich geworden. Der lebendige Geist, der mit den ideellen Sinnformen bzw. -gehalten nicht identisch ist, lebt als symbolischer in ihnen, auf sie blickend. Dem Leben ist, als dem Quellgebiet des Geistes, die Intention auf die Ideen als eine seiner beiden Richtungen wesenseigen. Der Geist wiederum wendet die ideellen Sachverhalte auf Lebensinhalte an, er bedarf des Lebens. Von einer Lebensfeindschaft des Geistes kann deshalb aus Cassirers Sicht keine Rede sein. Dem Leben wiederum ist das Auseinandergehen in eine Mannigfaltigkeit und das Behaupten seiner ursprünglichen Einheit eigen. Als Monas ist es ein unhinterschreitbares Gestalten und somit ein Urphänomen. Der Geist darf auch nicht als bloßer Wille zur Beherrschung des Lebens, sondern muß vielmehr als Wille zu seiner Gestaltung (Formung) verstanden werden, was ihn mit diesem versöhnt. Die von den Lebensphilosophen favorisierte Überordnung des Lebens über den Geist vollzieht sich letztlich als Werk eben dieses lebendigen Geistes, nicht aber als Werk eines geistlosen Lebens. Auch kann nur der Geist nach dem Wert des Lebens fragen. Sich vom Leben entfernend muß der schauend tätige Geist beständig auf das Leben zurückblicken, wodurch er es aber nicht zerstört. Allerdings bestärkt das Behaupten eines antinomischen Gegensatzes zwischen Geist und Leben die latenten Selbstzerstörungstendenzen, die ihm innewohnen. 3. Die Doppeltheit des geformten Lebens und der lebendigen Form muß sich auch in der Erkenntnis aufweisen lassen. Deshalb polemisiert Cassirer von Beginn seiner philosophischen Wirksamkeit an gegen die Vorstellung oder das Versprechen, ein Gegebenes der Wahrnehmung unmittelbar, ohne strukturierende und symbolisch-distanzierende Leistung intuitiv erfassen zu können. Dies würde nämlich bedeuten,

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das Leben jenseits aller geistigen Formen der Wirklichkeitserfahrung erschauen und den Umweg über die Symbolisierung und Diskursivität des Denkens vermeiden zu können. Dieser Verlockung der intuitionistischen Lebensphilosophie setzt er konsequent die Methode der mittelbaren Reflexion und Rekonstruktion entgegen. Nur auf dem Weg des Aufbaus von Symbolsystemen (Kulturmedien) kommt der Mensch wirklich an die Lebensunmittelbarkeit, an die auf ihn wirkende Natur heran. Dieser Weg führt zunächst aber erst einmal von der gewohnten Lebensfülle und Lebenswärme weg, zu den lebensfernen, leblosen begrifflichen Abstraktionen hin. Dieser Konsequenz weicht Cassirer nicht aus, er ist sich bewußt, daß insbesondere die mathematisch-naturwissenschaftlichen Begriffe dem Menschen einen Verlust zumuten. Deshalb weist er entsprechende Anklagen, die in der Geschichte der Philosophie erhoben wurden und die die zeitgenössische Lebensphilosophie erhebt, nicht als grundlos ab. Dennoch gilt alles romantische Zurückstreben aus der Sphäre des Begriffs in die Unmittelbarkeit des Lebens als vergeblich und außerordentlich bedenklich. Das ›Paradies‹ der Unmittelbarkeit des Lebens ist und bleibt dem Kulturmenschen, der ein der Symbole und der Formen bedürfendes Wesen ist, verschlossen. Dabei bestreitet Cassirer gar nicht, daß wir die Unmittelbarkeit psychologisch als solche erleben, wenn wir diese Erlebnisse auch kaum adäquat mitzuteilen vermögen. Doch dem sich dabei einstellenden vorreflexiven (vortheoretischen) ›natürlichen Weltbild‹, das seinen noch unzerlegten Gehalt unmittelbar hat, fehlt das Wissen um sich; es ist ein nahezu tierisches Bewußtsein. Obwohl er die psychisch erlebte Unmittelbarkeit des Lebens als alternative Quelle wahrer Erkenntnis ausschließt, sieht Cassirer in ihr ein echtes Grundproblem der Philosophie, das jedoch reflexiv-begrifflich und symbolisch, nicht aber intuitiv aufzuklären ist. Die Strukturanalyse dieser Erlebnisse deckt die unbewußt ablaufenden ideellen, formenden, sinngebenden Leistungen auf. Der Widerstreit von unmittelbarer Gegebenheit und diese zerlegender Reflexion ist als ein dialektischer Prozeß unaufhebbar. Daß dieses Dilemma in einem umfassenden Ansatz aber wenigstens zum Ausgleich gebracht werden kann, zeigt Cassirer mit seiner Lehre von den drei korrelativen metaphysischen Basisphänomenen der Wirklichkeitserfahrung. Diese werden durch die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung zutagegefördert, ohne sie jemals alle gleichzeitig bzw. als ein Ganzes unmittelbar erschauen und beschreiben zu können. Die rekonstruierend-reflexive Erkenntnis, die von unterschiedlichen Gegenstandsformen aus rückwärts zu ihren Quellen (›Basen‹) schreitet, muß sich mit Einzelbeschreibungen begnügen, die aber das Ganze erahnen lassen. Auf diese drei Basisphänomene, die sich

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an Goethes Urphänomene des schöpferischen Lebens anlehnen und die außer den Phänomenen der personalen und der sachlichen Wahrnehmungsrichtung noch das Ich-Phänomen als ihren Träger umfassen, sucht Cassirer auf systematische Weise die Wege und Ziele der Objektivierung zu gründen, die die Grundrichtungen der Wissenschaften ausmachen. 4. Seit Anfang der 20er Jahre, und noch nachdrücklicher im Verlauf der aufmerksam registrierten unheilvollen weltanschaulich-philosophischen und politischen Entwicklung der folgenden zwei Jahrzehnte, verortet Cassirer sein Philosophieren in der für ihn entscheidenden Frage, ob der moderne Mensch fähig und willens sein wird, ein Leben in Freiheit und Selbstverantwortung für sein Tun zu führen, oder ob er – einem Naturorganismus gleich – sich einem übermächtigen Schicksal ausgeliefert sieht bzw. ihm ausliefert. In der zeitgenössischen Philosophie wird zudem die behauptete Schicksalhaftigkeit menschlicher Existenz mit dem unaufhaltsamen Verfall und Niedergang der Kultur verknüpft. In dieser ›Schicksalsfrage‹ des modernen Menschentums erfährt sich Cassirer in einem grundsätzlichen Dissens mit einer bestimmten Philosophie des Lebens bzw. der Existenz. Ohne diese mit einer politischen Partei zu verwechseln, vergißt er niemals, daß sie in den philosophischen Kämpfen der Zeit für die Seite Partei ergreift, deren Positionen ganz objektiv die auf Vernunft und individueller ethischer Verantwortung beruhende bürgerliche Kultur bedroht, unterminiert. Die Voraussetzung für das auch in scheinbar auswegloser Zeit für möglich erachtete Leben in Freiheit sieht er vor allem im formgebenden Charakter der kulturellgeistigen Tätigkeit, die dem Menschen grundsätzlich Einsicht, Teilhabe und Verantwortung für sein Tun erlaubt, ohne daß sie damit seiner subjektiven Willkür anheim gegeben wäre. Die Formungstätigkeit, die die Kultur als eine geistige und sinnbestimmte erschafft und am Leben erhält, befreit den Menschen Schritt für Schritt von einem unmittelbar praktischen Interessen folgenden Leben. Und das bedeutet, sie befreit ihn von einem nur tierischen bzw. sinnlichen Triebleben, ohne dabei allerdings das Band zu diesem endgültig abreißen zu lassen und ohne selbst innere Gesetzmäßigkeit und Ordnung einzubüßen. Hierbei unterscheidet Cassirer die Loslösung oder Befreiung aus dem ›Lebensgrund‹ als einem naturhaften, biologischen, der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit verpfl ichteten, von einer fortwährenden Verbindung, einem bleibenden Bezug der geistigen Formen zum Leben, da sie selbst lebendige Formen sind. Nur im Sinne dieses Losreißens kann von einem Dualismus des Lebens und der Kultur gesprochen werden. Die geistige, unsere Kultur hervorbringende Formgebung bleibt auf eine bestimmte Weise mit dem Lebensgrund verbunden, auf ihn bezogen, entfaltet sie sich

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doch in unterschiedlichen eigentümlichen Richtungen als ein geistiges Leben. 5. Geistiges Leben offenbart sich für Cassirer als ein unauflöslicher Zusammenhang von Lebensfluß oder Lebendigkeit und bestimmender, grenzsetzender Form. Jede Formgebung bleibt als ein lebendiger Vorgang dem Leben verbunden, besitzt noch ein Band zum emotionalen inneren Leben und Erleben. Geistiges Leben kann niemals als formlos gelten, keine geistige Form als leblos oder bar jeglichen Lebensbezuges. Es ist von geformtem Leben und lebendigen Formen auszugehen, und genau dafür stehen die symbolischen Formen als Zwischenreiche. Bei ihnen tritt das Lebendige zur Form nicht hinzu, sondern wohnt ihr ursprünglich ein und nur die Abstraktion vermag von ihm abzusehen. Dieser fundamentale Zusammenhang findet bereits 1921/22 im Vortrag über das Symbolproblem seine prinzipielle Aufklärung, an der Cassirer bis zum Lebensende festhalten wird. Die überzeugendste Erklärung der ursprünglichen Einheit von Leben und Form gibt er aber mit der Theorie der Ausdruckswahrnehmung, die auch bestimmte Einsichten einiger Lebensphilosophen bekräftigt. Mit der emotionalen, physiognomischen Ausdruckswahrnehmung ist die Quellschicht gefunden, aus der das Urphänomen des Lebens jederzeit schöpft bzw. in der es sich als solches manifestiert. Gleichzeitig wurzeln die symbolischen Formen des Geistes in ihr. Die reinen Ausdrucksphänomene, hinter die es keinen Rückgang gibt, bilden eine Sphäre, in der das unmittelbare Leben bereits den Keim der symbolischen Funktion in sich trägt. Obwohl sie selbst der Unmittelbarkeit des Lebens verhaftet sind, da an ihnen der Ausdruckssinn unmittelbar erfahren wird, tritt in ihnen eine erste ideelle Prägung (Formung) zutage, überschreitet in ihnen ein repräsentierender Zug die bloße sinnliche Präsenz. Davon fehlt der elementaren Ausdrucksbewegung aber noch jegliches Bewußtsein. Über die Ausdrucksphänomene, die noch keine Symbole sind, aber bereits einen gewissen Symbolcharakter besitzen, vollzieht sich der erwähnte Übergang aus der reinen Lebenszweckmäßigkeit zum kulturellen Lebenssinn. Sie bilden das Scharnier für die Wandlung der zweckmäßigen Lebensfunktionen zu allein einem Sinn verpflichteten symbolischen Formen. Eine prägnantere Darstellungsleistung im anschaulichen Weltaufbau läßt die in der Ausdrucksfunktion noch ungeschiedene sinnlich-sachliche und emotional-personale Wahrnehmung als zwei Grundrichtungen auseinandertreten. Mit Hilfe dieser Theorie erschließt Cassirer der Erkenntnislehre die scheinbar unmittelbare Wahrnehmung als einen geistige Funktionen vollziehenden Vorgang. Gleichzeitig legt sie der Kulturwissenschaft das metaphysische Du-Ba-

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sisphänomen ihres Wirklichkeitszugangs frei. Diese Funktion gibt dem unmittelbaren Wissen um die Wirklichkeit anderer Subjekte eine Gewißheit garantierende Grundlage. Daneben findet die Theorie des Mythos, der die Quellform aller anderen symbolischen Formen bildet, in der emotionalen Ausdruckswahrnehmung und ihrem Lebensgefühl die tiefste Schicht (Wurzel) des mythischen Weltaufbaus. Und schließlich macht sie den Schlußstein aus der Philosophie der symbolischen Formen als einer allgemeinen Ausdruckslehre des Geistes, die die Stufenfolge einer Welt kultureller Vermittlungen entwirft. Da alle symbolischen Formen diese Stufe des unmittelbaren Ausdrucks einmal durchlaufen, bleiben sie auch dem sich in ihm manifestierenden Urphänomen des Lebendigen ein Stück weit verbunden; am augenscheinlichsten gilt das für den Mythos und die emotionale subjektive Sprache. Obwohl die Welt des unmittelbaren Ausdruckserlebens für das reflexive Denken eine überwundene Stufe des Geistes ist, droht jeder Zeit ein Rückfall in sie und damit in die in ihr wurzelnde Welt des Mythos. Bildet sie doch die unverrückbare Elementarstufe unseres geistigen Lebens und folglich auch ein ›Konsistentum‹ der erfahrenen Welt. 6. Das auf Symbolisierungen beruhende geistige bzw. kulturelle Leben des Menschen, das als formgebende Tätigkeit sich aus der Macht des Lebensgrundes zwar loslöst, dem Urphänomen des Lebens aber verhaftet bleibt, vollbringt die Emanzipation vom tierisch-biologischen Leben, die Befreiung aus den ›Gefängnismauern‹ des biologischen Strukturgesetzes und führt in der Konsequenz ebenfalls aus dem rein zweckmäßig orientierten ›lebensnahen‹, ›alltäglichen‹ Dasein der ›Primitiven‹ heraus. Selbstverständlich besitzt auch das geistige Leben bei Cassirer eine biologisch-materiale Grundlage. Spezifisch menschliches Leben ist aber als geistig und praktisch-technisch vermittelte Existenz (Dasein) begriffen. Die Philosophie hat die Schritte dieser ›Distanzierung‹ von der Lebensunmittelbarkeit, die eine Medialisierung des Lebens bedeuten, freizulegen. Diese Konstellation regt Cassirer an, intensiv das Verhältnis von organischem und geistigem Leben aufzuklären, die Wurzeln der symbolbildenden, ausdrückenden Tätigkeit im tierischen Dasein aufzudecken und der Gebundenheit des geistig-kulturellen Lebens an das biologisch-zweckgerichtete Fundament nachzugehen. Er erkennt, daß die Anfänge des Symbolreiches, die sich im tierischen Dasein als natürlicher Ausdruck des Gefühlslebens finden, auf dem Weg zum menschlich-symbolischen Ausdruck einen Bedeutungswandel durchmachen, der sie zur objektivierenden Funktion werden läßt. Diese Fragestellungen führen Cassirer auch auf das Problem der methodischen Grundlegung der Biologie als Wissenschaft von den

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organischen Lebensformen, die mit einer eigenen Erkenntnisform Teil des Kreises der Lebensforschung ist. Auch in dem von der Biologie aufzudeckenden Zusammenhang von Strukturverhältnissen und Lebensfunktionen gewahrt er metamorphosisches Verhalten und symbolische Repräsentanz. Gleichzeitig beschäftigen ihn die Methodenprobleme der Wissenschaften von den zu theoretischem Selbstbewußtsein gelangen geistigen Kulturmächten, deren Gegenstände samt Erkenntnismethoden die Kulturwissenschaft gegenüber der Biologie Eigenständigkeit gewinnen lassen. Die Kulturwissenschaften deuten die aus objektivierend-formgebenden Tätigkeiten hervorgegangenen Werke als kulturelle Symbole vergangenen Lebens und lassen sie so als Quelle dieser Symbole wiedererstehen, wobei sie auf die Ausdrucksfunktion bzw. das Ausdruckserleben zurückgreifen. Die soziale Rezeption der Kulturwerke wiederum befördert ihre Verlebendigung durch das Einströmen eines neuen Lebensgefühls und löst ihre relative Verfestigung und Lebensferne wieder auf. In diesem Untersuchungsfeld von Biologie, Kulturwissenschaft und Philosophie entwickelt Cassirer eine eigene Lesart der philosophischen Anthropologie, die der weiteren Fundierung seiner symbolischen Kulturphilosophie dient und die gleichzeitig selbst symbol- und kulturphilosophisch unterbaut wird. Kultur bedeutet für ihn, daß der Mensch ein Leben in selbst geschaffenen Symbolsystemen führt, die ihm neue Sinn-Wirklichkeiten eröffnen. Die Fähigkeit der Symbolisierung erweist sich als anthropologisches Grundmerkmal menschlichen Lebens, finden sich doch Intelligenz oder bestimmte Gemeinschaftsformen auch im Tierreich. Die Symbolsysteme erlauben das Werden der Individualität inmitten des Gemeinschaftslebens und die Weitergabe (Bewahrung) individueller und kollektiver Erfahrungen. 7. Cassirer verwahrt sich dagegen, das Eigentümliche des biologischen Lebens durch die Begrifflichkeit des menschlichen Lebens zu erklären oder umgekehrt die biologischen Kategorien reduktionistisch auf das spezifisch menschliche Dasein anzuwenden. Die Kontinuität zwischen vitalem und geistigen Leben, zwischen Lebenszweckmäßigkeit und kulturellem Lebenssinn gilt ihm ebenso wenig begründet wie die Identität biologischer Lebensformen und kultureller Sinnformen. Trotzdem fließen in seinen Lebensbegriff eine Reihe von Wesensmerkmalen ein, die sich sowohl im Leben des biologischen Organismus als auch im Dasein des formgebenden Menschen aufweisen lassen. So hat der Organismus grundsätzlich etwas Vernünftiges, die Vernunft wiederum kann als lebender Organismus gedacht, verständlich gemacht werden. Die lebendige Vernunft weiß zusätzlich um sich, um ihre Formen und ihre organische Struktur. Zum Begriff des Lebens gehören das Ganze und seine

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Teile, wobei das Ganze mehr ist als seine Bestandteile und den Primat genießt. Die Teile (Vielheit) sind als Ausdrücke (Äußerungen) des Ganzen (Einheit) zu verstehen. Außerdem ist – organisches – Leben durch die Zweckidee als eigentümlicher Gesetzesform charakterisiert, die die Gesetzesform der – mechanischen – Kausalität ergänzt. Beim Leben stoßen wir auf ein identisches Subjekt, aus dem sich Bewußtsein und ein Selbst im Wandel der materialen Aspekte herausschälen. Leben bildet weiterhin die paradoxe Einheit von Fluß und Fixierung; dieser Widerspruch wird aber in der Praxis, in der schöpferischen Tat beständig aufgelöst. Im menschlichen Leben verbindet sich unmittelbares psychologisches Erleben mit dem Zwang, sprachlich-reflexiv zu erfassen und zu benennen. Leben besitzt die Fähigkeit, aus seinem Strömen bestimmte wiederkehrende Gestaltungen herauszulösen und zu separieren, weshalb es auf Umweltreize zu reagieren vermag. Schließlich ist dem Leben der Drang zur mitteilenden Äußerung eigen; psychisches Leben äußert Gefühle, geistiges Leben drückt sich sprachlich mit Hilfe von Symbolen aus. 8. Biologisches wie menschliches Leben, das ist Cassirer klar geworden, vollzieht sich grundsätzlich in individueller Form, besitzt individuellen Charakter und baut seine individuelle Existenz bis zum Selbstbewußtsein bzw. ethischen Bewußtsein der Individuen auf. Gleichzeitig steht die Individualität in einem permanenten Spannungsverhältnis zum Prinzip der Universalität und Allgemeinheit, die seine objektivierenden Leistungen beanspruchen. Das Individualitätsmerkmal des Lebens sieht er insbesondere in Leibniz’ Monadenbegriff sicher erfaßt und thematisiert. Ohne die Individualisierung ist kein ethisch orientiertes, sich selbst Verantwortung auferlegendes Leben möglich. Dennoch ist sich Cassirer bewußt, daß das Wissen um die eigene Individualität ein Auflösungsprodukt des ursprünglich mythischen Gefühls von der allumfassenden ›Gemeinschaft des Lebens‹ darstellt. Die mit ihm einhergehende Vereinzelung des Ich, selbst ein Ergebnis der Subjektivierungsleistung der geistigen Ausdrucksfunktion, provoziert nun ihrerseits den ›Grundkonflikt des Lebens‹, den er als die sich in die Zersplitterung verlierenden Einheit dechiffriert. Das sich einstellende Gefühl der Verzweiflung darüber nährt beim Menschen die Sehnsucht, in die unmittelbare Einheit des Lebens zurückzufinden, und dies in metaphysischem Denken oder in mystischen Gefühlen zu realisieren. Auch die Tatsache, daß Menschen gelegentlich von ihrer gesteigerten Emotionalität regelrecht in Bann geschlagen werden, bringt diese latente Sehnsucht der Individuen zum Ausdruck, in den ›Strom des universalen Lebens‹ zurückzutauchen und individuelle Verantwortung abzustreifen.

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9. Einen ausdrücklichen Versuch, sowohl Leben überhaupt zu charakterisieren als auch das Moment des Lebendigen unlösbar im Begriff der symbolischen Form zu verankern, unternimmt Cassirer mit dem Nachdenken über eine ›bewegliche Ordnung‹ in Natur und Kultur. Jede Ordnung der Dinge, Werte etc. ist durch das Moment der Festigkeit, des Gesetzes ebenso wie durch das der Variabilität, Freiheit, Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet, was ihr einen beweglichen Charakter sichert. Mit Blick auf Goethe spricht er wiederholt von einer Ordnung (Regel), die ›zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig‹ ist. Bei diesem Ordnungsbegriff, dem der Gedanke der Metamorphose korrespondiert, handelt es sich um eine individuelle Form bzw. ein individuelles Gesetz. Sie findet sich sowohl in den biologischen Lebensformen als auch in der spezifisch menschlichen Daseinsform, sie strukturiert nicht nur die jeweiligen symbolischen Formen bzw. ›Lebensordnungen‹, in die das menschliche Individuum gestellt ist, sondern auch das symbolisch geformte Ganze bzw. die ›Lebensordnung‹ der historischen Epoche. Diese übergreifende bewegliche Ordnung kommt u. a. in der Tatsache zum Ausdruck, daß bei großen Persönlichkeiten Lehrform und Lebensform, Tätigkeitsformen und Lebensform eine Einheit bilden. Cassirer faßt dies im Gedanken einer sich aus der ›inneren Form‹ erklärenden ideellen Einheit des biographischen Lebensganges eines Individuums, was Lebensgefühl, Lebensführung und geistig-kulturelle Objektivationen umgreift. Die einzelnen Lebensphasen und Lebenstätigkeiten symbolisieren, repräsentieren das ›Ganze des eigenen Lebens‹. Die innere Form des produktiven Lebens, die als lebendige Regel (Ordnung) verstanden wird, geht in einem Formprozeß auf. Das Individuelle in Form des biographischen Lebens einzelner Persönlichkeiten oder in Form sozialer und kultureller Individuen gestaltet die Geschichtsschreibung, die sich das Physiognomische bzw. das Ausdrucksverstehen zu Nutze macht. Die Historie muß in das subjektive Lebensgefühl der Individuen als der tiefsten Schicht rationalen Verhaltens eindringen, wenn sie das vergangene Leben verstehen will. Gleichzeitig muß sie das unzeitliche Ideelle, Sinnhafte im historischen Lebensgang freilegen, weshalb auch der Historiker mit Symbolen und symbolischen Ausdrucksweisen arbeitet. 10. Früh stellt Cassirer die Begriffe Leben, Kultur und Geschichte in einen engen Zusammenhang. Für die kulturelle Epoche und für das kulturschaffende Individuum läßt sich eine Schichtung aufweisen, die auf dem Lebensgefühl ruht, eine Welt- und Lebensauffassung einschließt und von einem entsprechenden theoretischen System beschlossen wird. Die Gesamtheit kulturellen Lebens wird ausgehend von einzelnen Lebenssphären umgestaltet, wenn sich in diesen eine neue autonome Lebensform

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entfaltet und auf das der gesamten Lebensordnung zugrundeliegende Lebensgefühl verändernd einwirkt. Die vielfältigen geistigen ›Lebensmächte‹, die Cassirer zuerst symbolische Formen und später Kulturformen nennt, durchlaufen allesamt eine Stufenfolge von der auf dem subjektiven Lebensgefühl ruhenden Lebensform über die empirische Anschauungsform zur theoretischen Denkform. Dabei ist erst auf der letzten Stufe die Loslösung vom rein zweckmäßig fungierenden ›Lebensgrund‹ vollzogen; die Sinnordnung wird nun durch keine praktischen Wirkinteressen mehr getrübt, was sie jedoch nicht zu lebensfremden oder lebensleeren Formen degradiert. Gemeinsam machen diese Formen das Ganze der geistigen Kultur aus und bilden das konkret-geschichtliche Leben. Sie führen zwar ein Eigenleben, unterliegen aber auch der sie modifizierenden symbolischen Tätigkeit des Kulturmenschen. Im Unterschied zu Hegel beharrt Cassirer auf der Autonomie und Eigentümlichkeit einer jeden einzelnen Form geistigen Lebens. Die einzelnen Kulturformen wirken nicht gleich stabilisierend-verändernd auf die jeweilige Lebensordnung, deren Lebendigkeit Konstanz und Innovation in einem bestimmten Maßverhältnis einfordert. Deshalb bilden sie unterschiedliche Schritte im kulturellen Prozeß der ›Selbstbefreiung des Menschen‹, die einander ergänzen und immer neue Aspekte der Humanität eröffnen. Obwohl die Dissonanzen zwischen den Kulturformen samt ihrer Zersplitterung und Entfremdung als bedrohlich erfahren werden, dienen sie, nach Cassirer, letztlich der ständigen Erneuerung des Kulturlebens als einer Emanzipationsbewegung, die den Menschen ins Reich der Freiheit und Selbstbestimmung führt. Allerdings steht er in der Moderne vor der Aufgabe, sich über die funktionale Einheit des geistigen Lebens Klarheit zu verschaffen. 11. Neben der allgemeinen kulturellen Lebensform betrachtet Cassirer die politische Lebensform als eine spezifisch menschliche ›Gemeinschaftsform‹, die die historisch frühere mythische Lebensordnung ablöst. Obwohl sich das kulturelle Leben nun innerhalb einer politischen Ordnung entfaltet, ist es mit ihr nicht identisch. Die politische Lebensform des gemeinschaftlichen Lebens ist im Gegensatz zur mythischen eine ›rationale‹ Form auch im Denken und Handeln. Mythische und rationale ›Logik‹ erscheinen am Ende von Cassirers Lebenswerk als die beiden alternativen historischen politisch-gesellschaftlichen Ordnungen praktischen Handelns, wobei beide zu ihrer Zeit die gemeinschaftliche Grundaufgabe der Stabilisierung kulturellen Lebens erfüllen. Die alte mythische Ordnung setzt dabei auf die Kraft der Tradition, die sie ablösende rationale auf die argumentative Rechtfertigung und individuelle ethische Verantwortung. Da wir in einer politischen Ordnung leben und diese den Rahmen dafür abgibt, wie wir formgebend und symbolbildend

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an der Kultur umschaffen, ist es nicht unerheblich, auf welche Weise wir Politik gestalten und das politische Leben orientieren. In dieser entscheidenden Frage verleiht Cassirer der gewachsenen Überzeugung Ausdruck, daß die Politik – wie auch jede andere Form der Kultur – einer ethischen ›Ordnung des Lebens‹ dienen muß. Eine bloße ›Technik der Politik‹ dagegen hat sich von den ethisch-sittlichen Lebenszielen politischen Handelns freigemacht. An sie knüpfen im 20. Jahrhundert verantwortungslose Politiker ohne wahre ethische Lebensziele an, die eine neue Technik des Mythos entwickeln, mit der sie die Menschen vom Boden der Freiheit weg- und in ein Sich-ins-Schicksal-Ergeben hinführen. Nicht nur wenn die Philosophie Irrationalismus und Fatalismus begünstigt, sondern auch wenn sie auf theoretische und ethische Ideale verzichtet, schwächt sie objektiv die Widerstandskräfte gegen neue politische Mythen, leistet sie einer bloßen Technik der Politik Vorschub, die sich keiner ethischen Ordnung des Lebens unterwirft. Die für uns lebensnotwendigen Hoffnungen auf einen aktiven Anteil am Aufbau und Wiederaufbau des Kulturlebens vermag die Philosophie nur dann aufrechtzuerhalten, wenn sie ihre eigentliche Aufgabe, nämlich aufklärerisch und eine ethische Lebensführung befördernd zu wirken, meistert. Ohne ethische Prämissen und Normative ist nicht nur ein politisches Leben im Sinne der Humanität undenkbar, sondern ist auch der kulturelle Emanzipationsprozeß des Menschen zum Scheitern verurteilt. 12. Diese Gefahr war in den 30er und 40er Jahren eingetreten, real geworden. Die wirkliche Bedrohung der Kultur und damit der Freiheit des modernen Menschen geht unter diesen Umständen nicht vom Grundkonflikt der Einheit und der Vielfalt aus, auch nicht von den unaufhebbaren Dissonanzen der einzelnen Kulturformen, sondern vom Wiederaufleben der mythischen Lebensform und dem damit einhergehenden Glauben an soziale Magie, was durch die tiefe Krise des sozialen und politischen Lebens ausgelöst wurde. Doch die Disposition für den Wiedereinbruch des Mythos hat die auf der Ausdrucksfunktion basierende Macht der Emotionalität über den Menschen geboten, die von Politikern, die nicht die Selbstbefreiung des Menschen, sondern seine Unmündigkeit und beliebige Lenkbarkeit bezwecken, instrumentalisiert wurde. Sobald der Mythos bzw. die ihn tragende emotionale Ausdrucksweise wieder das Fühlen, Anschauen und Denken des Menschen beherrschten, machte sich Irrationalität im alltäglichen und gesellschaftlichen Leben breit. Das bedeutete, daß sich das praktische politische Handeln wieder nach mythisch-magischen Regeln vollzog, daß ein magischer Sprachgebrauch vorherrschte, daß das öffentliche Leben in Ritualen erstarb, daß das private Leben seine Privatheit verlor und daß magischer Führerkult und

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Schicksalsglaube grassierten. Da nach Cassirers Erfahrung die rationale Philosophie und Wissenschaft nur sehr bedingt die mythisch-magische Lebensform zu erschüttern vermögen, muß zur Verhinderung solcher Situationen ihre emotionale Disposition entkräftet werden. Das vermag vor allem die Kulturform der Kunst, da sie durch die Symbolisierung und Verbildlichung der Emotionen diesen ihren bedrückenden Wirklichkeitscharakter entzieht, den sie für das gefühlsmäßig erregte Bewußtsein besitzen. Als künstlerisch geformtes Gefühlsleben wird es sogar zu einem Mittel der Selbstbefreiung, vollzieht sich diese symbolische Formung doch auf dialogische, d. h. soziale Weise. Weil die Freiheit nicht nur Wissen um die Formgebung, sondern immer auch Distanz zur Unmittelbarkeit der lebensnahen Emotionen voraussetzt und somit die Fähigkeit oder reale Möglichkeit, sich der Macht und Gewalt der eigenen Emotionalität, der affektiven Lebendigkeit zu entziehen, unterminiert in Cassirers Verständnis jede Philosophie oder Wissenschaft, die den Mythos und die unmittelbare emotionale Wahrnehmung oder Ausdrucksleistung, in der er fußt, der diskursiven Begrifflichkeit, der mittelbaren Rekonstruktion samt Reflexion oder der mittelbaren Symbolisierung vorzieht bzw. überordnet, gewollt oder ungewollt das Fundament menschlicher Freiheit, individueller ethischer Verantwortung, der Humanität. Den gleichen Effekt erzielt eine Auffassung, die den Staat und das politische Leben als ein organisches Gewächs deutet, weil sie ebenfalls die Option für Freiheit und selbstverantwortete Gestaltbarkeit dem Glauben an naturhafte Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit unterordnet. Diesen Glauben hat Cassirer Zeit seines Lebens als das ›Dunkel des Irrationalen‹ bekämpft. Seiner Überzeugung nach stehen wir in naturhaften Lebensformen grundsätzlich nicht auf dem ›Boden der Freiheit‹. Nur indem der Mensch sich auch als Gestalter seiner kulturellen symbolischen Sinnwelt begreift und annimmt, und in ihr als ein um sich wissendes ethisches Wesen aktiv lebt, entkommt er der Zufälligkeit und Endlichkeit seines vegetativen Daseins, dem ihn Heideggers Existenzphilosophie erneut überantwortet. Eine jede Rehabilitierung der Unmittelbarkeit des Lebens (Erlebens) begünstigt diese irrationalen Stimmungen und verdunkelt den Wert der rationalen symbolischen Kulturformen als dem entscheidenden Mittel, die Selbstbefreiung des Menschen aus dem schicksalhaften Naturdasein ins Werk zu setzen. Dies gilt um so mehr, als wir zur Kenntnis zu nehmen haben, daß Freiheit und Eigenverantwortung keineswegs ein durchweg bequemer und unproblematischer Zustand sind, sondern beim Menschen immer wieder die Sehnsucht nach dem ungebrochenen, unmittelbaren Leben nährt.

Sigelverzeichnis der zitierten Schriften Cassirers

ECW ECN

LS EP I–IV

SuF

FF KLL IG

PsF I PsF II

PsF III

GgW

PA LKW VM

Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von B. Recki, bisher erschienen Bde. 1–18, Hamburg 1998 ff. Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hrsg. von K. Ch. Köhnke, J. M. Krois und O. Schwemmer, bisher erschienen Bde. 1–3, Bd. 11, Hamburg 1995 ff. Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen [1902] (ECW 1 [1998]). Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 4 Bde. [1. Aufl. 1906, 1907, 1920 und 1957] (ECW 2–5 [1999–2000]). Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfrage der Erkenntniskritik [1910] 7. Aufl. 1994, Darmstadt (ECW 6 [2000]). Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte [1916] 3. Aufl. 1961, Darmstadt (ECW 7 [2001]). Kants Leben und Lehre [1918]. 2. Auf. 1921, Darmstadt 1994 (ECW 8 [2001]). Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist. Fünf Aufsätze, Berlin 1921 (ECW 9 [2001]: Aufsätze und kleine Schriften [1902–1921]). Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache [1923] 9. Aufl., Darmstadt 1988 (ECW 11 [2001]). Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925] 4. Aufl., Darmstadt 1964 (ECW 12 [2002]). Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929] 4. Aufl., Darmstadt 1964 (ECW 13 [2002]). Goethe und die geschichtliche Welt. Drei Aufsätze, Berlin 1932 (ECW 18 [2004]: Aufsätze und kleine Schriften [1932– 1935]: 355–434). Die Philosophie der Aufklärung [1932] Nachdruck der 3. Aufl. 1973, Hamburg 1998 (ECW 15 [2003]). Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien [1942] 5. Aufl., Darmstadt 1989. Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur [1944], Frankfurt/Main 1990.

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MS ECN 1 ECN 2 ECN 3 WWS

STS

GL

EBK

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Cuvier, G. 296, 297 Dante Alighieri 173 Darwin, Ch. 185, 203, 204, 207, 299, 340, 343 Descartes, R. 26, 28, 30, 45, 52–54, 58, 65, 67, 68, 94, 110, 176, 177, 296, 306, 313, 314, 333 Dewey, J. 43, 334 Dilthey, W. 5–9, 12, 15, 20, 21, 25, 33, 35–39, 41–44, 47, 51, 52, 60, 63, 68, 70, 72, 74, 103–105, 115, 125, 142–144, 146, 185, 260, 278, 301, 328, 335, 336, 361, 397, 398, 401, 402 Durkheim, E. 165, 352 Ebrecht, B. XII, 12, 398 Engels, F. 401 Eisler, R. 39, 398 Eucken, R. 7, 35, 39, 144, 398 Fechner, G. Th. 308 Fellmann, F. XII, 12, 13, 398 Ferrari, M. XI, XII, XIV, 14, 15, 39, 179, 180, 210, 398 Fichte, J. G. 78, 92, 93, 96, 100, 121, 133, 134, 137, 139, 265, 378, 379 Fischer, P. XI, 398 Frede, D. 401 Freud, S. 377 Freyer, H. 319 Fries, J. F. 133 Frischeisen-Köhler, M. 7, 25, 44, 51, 57, 143–146, 160, 177, 186, 204, 242, 279, 398 Fulda, H. F. 7, 398 Galilei, G. 27, 45, 102, 122 Gee, H. 1, 398

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Personenverzeichnis

Gerhardt, V. XII, XIV, 2, 7, 12, 13, 35, 74–76, 91, 107, 266, 338, 339, 349, 357, 398, 399 Geßner, W. XII, 266, 399 Gobineau, A. Graf 269, 351, 361, 372, 375, 379, 380, 399 Göller, Th. 399 Goethe, J. W. XII, XIII, 6, 10, 21, 29, 32, 41, 51, 56, 60–62, 64, 69, 74–86, 88–90, 93, 95–107, 110–117, 123–125, 127, 129–133, 135, 142, 157, 160, 165, 166, 173, 183, 192, 194, 202, 209–212, 232, 234, 250, 252, 266, 277, 279, 290, 293, 295–300, 309–313, 317, 318, 320, 333, 378, 379, 386, 391, 395, 397–404 Großheim, M. 12, 399 Grotius, H. 367 Gundolf, F. 74, 336, 399 Haeckel, E. 298, 320 Hamann, J. G. 118, 131 Hartmann, N. 14, 257, 261, 262, 399 Hartung, G. 166, 172, 178, 345, 399 Hecker, M. 399 Hegel, G. W. F. 3, 5, 21, 30, 74, 77, 78, 81, 89, 90, 93, 94, 97, 117, 121, 125–127, 136, 138, 145, 151, 152, 163, 164, 179, 225, 232, 248, 250, 251, 265, 274, 276, 282, 295, 301, 319, 328, 331, 335, 351, 357–361, 367, 372, 392, 398, 399, 402 Heidegger, M. 9, 10, 12, 15, 16, 153, 154, 165, 172, 178, 181, 182, 185, 190, 191, 221, 232, 240, 245, 250, 257, 290, 334, 335, 371, 375, 381, 382, 394, 396, 399, 401, 404 Herder, J. G. 68, 74, 100, 118, 120, 161, 225, 298, 305, 320, 321, 332, 362, 378 Hilbert, D. 238 Hobbes, Th. 53, 310 Hoffmeister, J. 399 Hölderlin, F. 395, 398

Hönigswald, R. 8, 15, 400 Holzhey, H. 398, 400, 404 Humboldt, W. v. XIV, 3, 121, 162, 305, 400 Hume, D. 50, 66 Husserl, E. 8, 12, 13, 15, 47, 50, 52, 54, 89, 140, 144, 151, 177, 179, 185, 190, 197, 228, 235, 236, 238, 247, 306, 314, 334, 335, 400, 401, 403 Irrlitz, G. 399 Jacobi, F. H. 4, 378 Jain, E. XII, 12, 397 James, W. 43, 334 Janssen, P. 400 Jaspers, K. 9 Jünger, E. 11, 400 Kaegi, D. 401, 404 Kant, I. XIII, 2, 3, 13, 14, 15, 21, 26, 32, 34, 35, 38, 54, 60, 67, 70, 71, 73–81, 83, 90, 91, 96, 99, 100, 101, 105–112, 114, 117, 119, 120, 122–124, 126, 130, 131, 136, 137, 143, 145, 165, 166, 170, 177, 179, 186, 231, 238, 250, 264, 296, 299, 303, 304, 313, 319, 333, 365, 395, 396, 398–403 Kepler, J. 27, 64, 102, 122 Kirchmann, J. H. v. 400 Klages, L. XII, 4–6, 9, 10, 13, 15, 16, 18, 34, 135, 143, 148, 185, 188, 190, 196, 199, 201, 250, 251, 257–259, 262, 265, 266, 269–273, 275, 282, 286, 399, 400 Kleist, H. v. 395 Klibansky, R. 399 Köhnke, K. Ch. XII, 395, 396, 400 Kopernikus, N. 27, 40, 71, 122, 145 Kopp-Oberstebring, H. 396 Knittermeyer, H. 402 Knoppe, Th. XI, XII, 15, 162, 181, 400 Kramme, R. 396, 399 Kravčenko, A. A. XII, 400 Krech, V. XII, 400

Personenverzeichnis

Krijnen, Ch. 398 Krois, J. M. XI, XII, XIV, 14, 75, 142, 143, 165, 172, 191, 250, 291, 310, 395, 396, 400, 401 Küppers, B.-O. 400, 401 Lamprecht, K. 321, 328–330, 332, 377, 401 Landshut, S. 400 Lask, E. 14 Lauschke, M. XIV Leibniz, G. W. XIII, 18, 21, 26, 28–30, 39, 45–46, 52–54, 56, 59, 67–69, 74, 78, 79, 87–90, 94, 97, 98, 100, 123, 135, 161, 179, 210, 232, 237, 296, 299, 330, 383, 390, 395 Leonardo da Vinci 27 Lessing, G. E. 68, 398 Lessing, Th. 13 Lévy-Bruhl, L. 352 Lévi-Strauss, C. 4, 401 Lipps, Th. 15, 256 Lipsius, J. 367 Litt, Th. 7, 8, 15, 47, 401 Locke, J. 44, 54, 89, 310 Lohse, G. 400 Lotze, H. 47, 401 Löwith, K. 10, 401 Lukács, G. 5, 10, 397, 401 Luther, M. 123 Mach, E. 47, 50, 178, 253 Maimon, S. 135 Makkreel, R. A. 76, 80, 401 Mandelkow, K. R. 104, 401 Marx, K. 40, 401 Mehring, R. 35, 134, 399, 401 Misch, G. 8, 146, 401, 402 Möckel, Ch. 6, 14, 15, 35, 50, 61, 62, 74, 77, 86, 126, 131, 147, 163, 209, 228, 242, 262, 277, 284, 312, 313, 332, 380, 401, 402 Montaigne, M. de 31–34, 40, 42, 63, 68, 87, 102 Müller, A. 137, 402

407

Müller, E. 402 Müller, M. 365 Natorp, P. 7, 14, 15, 25, 36, 47, 145, 165, 179, 185, 200, 215, 228, 229, 235, 261, 275, 312, 313, 333, 402, 403 Naumann, B. XII, 399, 402, 403 Nicolaysen, R. 400 Niebur, B. G. 330 Nietzsche, F. 5–7, 9, 10, 12, 69, 124, 135, 185, 203, 215, 243, 265–271, 277, 329, 330, 375–377, 397, 399, 402 Novalis 398 Ortega y Gasset, J. 13, 402 Orth, E. W. XI, XII, XIV, 15, 16, 36, 42, 141, 209, 212, 213, 263, 293, 396, 398, 400, 402, 404 Paetzold, H. XII, 185, 188, 191, 199, 403 Pätzold, D. 150, 398, 403 Paracelsius, A. P. Th. 27 Pascal, B. 32, 33, 40, 49 Petrarca, F. 110 Platon 45, 53, 65, 68, 75, 84, 92, 112–115, 179, 184, 340, 345, 346, 348–350, 355, 358, 359, 377, 381 Plessner, H. 8, 9, 151, 191, 220, 263, 264, 301, 402, 403 Plümacher, M. XI, 97, 403 Pflug, G. 5 Pothast, U. XII, 12, 403 Rathenau, W. 288 Recki, B. XII, XIV, 75–77, 91, 287, 290, 348, 395, 402, 403 Reif, A. 401 Renz, U. 14, 15, 22, 41, 55, 58, 161, 165, 187, 188, 245, 403 Reschke, R. 399 Rickert, H. 7, 8, 10, 13, 14, 15, 71, 74, 136, 143, 144, 146, 177, 180, 185, 186, 191, 266, 269, 272, 398, 403 Rindert, J. 35, 399 Ritter, J. 1, 2, 4, 5, 14, 403

408

Personenverzeichnis

Rosenberg, A. 9 Rousseau, J.-J. 11, 214, 347, 361, 367 Roux, W. 299 Rudolph, E. XIV, 150, 357, 400, 401, 403, 404 Sandkühler, H. J. 150, 403 Schadow, St. XIV Scheler, M. XI, XII, 6, 8, 12, 15, 16, 25, 34, 35, 39, 43, 44, 51, 142, 143, 146, 163, 185, 188, 191, 192, 197, 202, 203, 205, 220, 222, 243, 248, 258, 260, 261, 263–266, 282–284, 286, 301, 302, 308, 332, 367, 401, 403, 404 Schelling, F. W. J. 77, 78, 87, 88, 93, 133, 134, 136, 137, 140, 160, 265, 273, 333 Schiller, F. 101, 138, 366, 374, 395, 399 Schleier, H. 401 Schmücker, R. 401 Schopenhauer, A. 6, 69, 92, 130, 134, 135, 139, 140, 266–268, 270, 331, 377 Schmidt, H. 2, 6, 404 Schuhmann, K. 400 Schwemmer, O. XII, XIV, 18, 19, 25, 32, 33, 149–151, 157, 170, 176, 177, 187, 188, 193, 221, 222, 395, 404 Simmel, G. XII, 5–7, 9–12, 15, 21, 40, 56, 74, 88, 101, 104, 129, 135, 142–145, 153, 157, 163, 178, 181, 185, 187, 190, 192, 204, 205, 207, 217, 218, 220, 221, 231, 242–244, 246–249, 257, 258, 265–267,

279–281, 283, 286, 288–290, 318, 319, 326, 327, 335, 336, 342, 343, 399–402, 404 Simon-Gadhof, M. XIV Snell, B. 400 Sokrates 182, 271, 319, 345, 348, 359 Spengler, O. XII, 5, 6, 10, 15, 18, 21, 41, 74, 135, 143, 148, 152, 183, 185, 188, 190, 199, 202, 203, 205, 206, 258, 262, 263, 265, 276–278, 286, 318, 328, 332, 371, 375, 380– 382, 404 Spinoza, B. de 28, 54, 63, 135 Stahl, F. J. 39, 404 Strauß, F. 331 Taine, H. 305, 329, 340 Tillich, P. 181 Uexküll, J. v. 237, 297, 299, 301, 308, 340, 341 Valentiner, Th. 400 Vico, G. 206, 276 Vögele, W. 403 Vogel, Ch. XIV Voltaire, F. M. 323 Vorländer, K. 400 Vrhunc, M. 255, 404 Weber, M. 38, 317, 404 Werle, J. M. XI, 15, 141, 164, 252, 253, 404 Winckelmann, J. J. 100 Winkelmann, J. 404 Windelband, W. 38, 404 Wittgenstein, L. 12 Wundt, W. 204, 207