das unrecht des bürgers 9783161521898

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das unrecht des bürgers
 9783161521898

Table of contents :
Pawlik - Das Unrecht des Bürgers I
Pawlik - Das Unrecht des Bürgers II

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VIII

lnhaltsiibersicht

2. Kapitel:

Die Zustandigkeiten des Bürgers A. Das System der Zustandigkeiten .. .. .. . . .. . .. . . . .. .. . . .. . . . .. ..

158

I. Sondergut der Unterlassungsdelikte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 II. Zur Genealogie der Lehre von den Garantenstellungen . . . . . . . . . . 162 III. System der Zustandigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

B. Vorrangige Zustandigkeit des Verletzten...................... I. Vom corpus delicti zum materiellen Tatbestandsbegriff ......... II. Das Verhaltnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit .......... III. System der Verletzten-Zustandigkeiten ........................

192

. 192 . 195 . 215

Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................

VII

Inhaltsübersicht Einleitung ....................................

•• •• ••• • ••• • •· · · •• •· · · · · ·

3. Kapitel:

l. Kapitel:

Die Verletzung der strafrechtlichen Mitwirkungspflicht

Der Begriff des Verbrechens

A. Kriminalunrecht als zurechenbarzustandigkeitswidriges Verhalten .............................. I. Der Begriff des Kriminalunrechts und die Funktion der Zurechnungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unrecht und Schuld als tragende Systemkategorien? . . . . . . . . . . . . III. Das Verbrechen als ein Unrecht des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Voraussetzungen der Unrechtszurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Die Grenzen der Zurechenbarkeit .............................

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie . . . . . . . . . . 257

257 259

276 281 299

I. Die Grenzfrage als Zustandigkeitsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 II. ZurechnungsausschlieBender Verbotsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 III. Erhebliche Erschwerung der Motivierung zu verhaltensnormgemaBem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

C. Das Ausma:Gder Pflichtwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

362

I. Einheit und Vielfalt der Zurechnungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 II. Grundstruktur subjektiv-pflichtwidrigen Verhaltens . . . . . . . . . . . . 364 III. Die Konturen rechtsfeindlichen Kriminalunrechts . . . . . . . . . . . . . . 374 Literaturverzeichnis

V

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

I. Das Argernis des Strafzwanges ...........................

26

• . • • • • • 26

II. Praktische Philosophie und die Positivitat des Rechts . . . . . . . . . . . . 1. ,,Philosophie und Dogmatik stehen im Verhaltnis des Andersseins" ......................................... • •. . 2. Der Gerechtigkeitsanspruch des positiven Rechts . . . . . . . . . . . . . 3. Das Eigenrecht des Positiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 29

39 45

III. Rechtspolitik statt praktischer Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 IV. Straftheorie als Ausgangspunkt ............................. 1. Primat des Verbrechensbegriffs? .......................... 2. Grundmodelle der Strafbegründung ......................

• • • • 52 • • • • 52 • • • • 58

B. Strafe als Praventionsinstrument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Attraktivitat des Praventionsdenkens........................ II. Die negative Generalpravention ............................. III. Die Spezialpravention ...................................

61 61

• • • • 66 • .. • • • • •

72

IV. Die positive Generalpravention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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MichaelPawlik

Das Unrecht des Bürgers Grundliniender AllgemeinenVerbrechenslehre

Mohr Siebeck

Michael Pawlik, geboren 1965; Studium der Rechtswissenschaft in Bonn und Cambridge; 1992 Promotion; 1998 Habilitation; 2000 bis 2003 Professor an der Universitat Rostock; scit 2003 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, StrafprozeGrecht und Rechtsphilosophic an der Universitat Regensburg.

Vorwort Die Arbeit an diesem Buch habe ich im Jahre 2004 begonnen und im April 2012 beendet. Ohne die Hilfe meiner Mitarbeiter hatte ich es nicht schreiben ki:innen. Mein Dank gilt zunachst meinen Sekretarinnen, Frau Silvia Hutzler und Frau Gisela Schirmbeck. Sie haben das Literaturverzeichnis stets auf dem aktuellen Stand gehalten und zahllose organisatorische Einzelfragen mit Geschick und Tatkraft bewaltigt. Ebenso dankbar bin ich meinen wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeitern, allen voran Herrn Privatdozenten Dr. Michael Kubiciel. Von der Literaturbeschaffung über die Manuskript- und Fahnenkorrektur bis zur Erstellung der Register haben sie sich in vielfaltiger Weise um dieses Buch verdient gemacht. Ein ganz besonders herzlicher Dank gebührt meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Dr. h. c. mult. Günther J akobs. Er stand mir stets mit Rat und Ermutigung zur Seite. Darüber hinaus hat er das gesamte Manuskript gelesen und mich an einer Reihe von Stellen vor Unbedachtsamkeiten bewahrt. Dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich seinem Geschaftsführer, Herrn Dr. Franz-Peter Gillig, danke ich für die hervorragende Zusammenarbeit. Ich widme dieses Buch meiner Frau, meinen Kindern und dem Andenken meiner Mutter. Peiting, im Juli 2012 ISBN 978-3-16-152189-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2012 Mohr Siebeck Tübingen.

www.mohr.de

Das Werk einschliefüich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung auGerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgcsetzcs ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Stempel-Garamond gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbestandiges Wcrkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Michael Pawlik

Inhaltsübersicht Vorwort...............................................................

V

Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung ............................................................

IX

.

1. Kapitel:

Der Begriff des Verbrechens A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie . . . . . . . . . I. II. III. IV.

Das Argernis des Strafzwanges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Philosophie und die Positivitat des Rechts . . . . . . . . . . . Rechtspolitik statt praktischer Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Straftheorie als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Strafe als Praventionsinstrument? I. II. III. IV.

26 26 29 47 52

.............................

61

Die Attraktivitat des Praventionsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die negative Generalpravention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Spezialpravention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die positive Generalpravention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gefahren des Praventionsdenkens und Renaissance der Vergeltungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Legitimationsgrund der Mitwirkungspflicht: Aufrechterhaltung cines Zustandes der Freiheitlichkeit . . . . . . . . . . III. Vergeltungstheorie und Strafverhangung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bürger und Externe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Verbrechen als Rechtsgutverletzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Vom Verbrechensbegriff zur Allgemeinen Verbrechenslehre . . . . .

66 72

77

82

82 90 116 120 127 151

VIII

Inhaltsiibersicht

2. Kapitel:

Die Zustandigkeiten des Bürgers A. Das System der Zustandigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

I. Sondergut der Unterlassungsdelikte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur Genealogie der Lehre von den Garantenstellungen.......... III. System der Zustandigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

B. Vorrangige Zustandigkeit des Verletzten ...................... I. Vom corpus delicti zum materiellen Tatbestandsbegriff . . . . . . . . . . II. Das Verhaltnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . III. System der Verletzten-Zustandigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhaltsverzeichnis

162 174 192 192

•• •• •• •• •• •• • ••· · · · · · · · · · · ·

Inhaltsübersicht

• • • • • ... • • • • • • • • • • • • · · · · · · · VII

............................

195 215

Einleitung ...................................

••• •• •• • ••• • ••• • •• •• •• •• •·

3. Kapitel:

l. Kapitel:

Die Verletzung der strafrechtlichen Mitwirkungspflicht

Der Begriff des Verbrechens

A. Kriminalunrecht als zurechenbarzustandigkeitswidriges Verhalten.............................. I. Der Begriff des Kriminalunrechts und die Funktion der Zurechnungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unrecht und Schuld als tragende Systemkategorien? . . . . . . . . . . . . III. Das Verbrechen als ein Unrecht des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Voraussetzungen der Unrechtszurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Die Grenzen der Zurechenbarkeit .............................

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie . . . . . . . . . . I. Das Argernis des Strafzwanges ............................. 251

257 259 276 281

• •• • •

26

II. Praktische Philosophie und die Positivitat des Rechts . . . . . . . . . . . . 1. ,,Philosophie und Dogmatik stehen im Verhaltnis des Andersseins" ...................................... • •• •• • • 2. Der Gerechtigkeitsanspruch des positiven Rechts . . . . . . . . . . . . . 3. Das Eigenrecht des Positiven ............................ • •• • •

29

III. Rechtspolitik statt praktischer Philosophie? ................

29 39 45

•• • • •

47 52

302 345

B. Strafe als Praventionsinstrument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

I. Die Attraktivitat des Praventionsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

299

C. Das Ausma:Bder Pflichtwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

362

Literaturverzeichnis

26

IV. Straftheorie als Ausgangspunkt ....................... •• • •• •• •• • 1. Primat des Verbrechensbegriffs? .......................... •• • • 2. Grundmodelle der Strafbegründung ......................... •

299

I. Die Grenzfrage als Zustandigkeitsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. ZurechnungsausschlieBender Verbotsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erhebliche Erschwerung der Motivierung zu verhaltensnormgemaGem Verhalten............................................

I. Einheit und Vielfalt der Zurechnungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundstruktur subjektiv-pflichtwidrigen Verhaltens . . . . . . . . . . . . III. Die Konturen rechtsfeindlichen Kriminalunrechts . . . . . . . . . . . . . .

V

Vorwort ....................................

362

II. Die negative Generalpravention ...............................

364

III. Die Spezialpravention ............................

374

IV. Die positive Generalpravention .................................

...................................................

417

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

501

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

505

• ......

52 58

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• •• •• •• •

72



77

X

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer

XI

1. Die Aufgabe des Rechts und die Figuren der

Mitwirkungspflicht ............................................ I. Gefahren des Praventionsdenkens und Renaissance der Vergeltungstheorie ........................................... II. Legitimationsgrund der Mitwirkungspflicht: Aufrechterhaltung eines Zustandes der Freiheitlichkeit ......... 1. Strafrecht im Dienst der politischen Gemeinschaft? ......... 2. Freiheitsidee und Bürgerstatus ............................. 3. Der Verbrechensbegriff Hugo Halschners ..................

.

82

.

82

. 90 . 92 . 99 . 110 . 116

III. Vergeltungstheorie und Strafverhangung ...................... IV. Bürger und Externe ...........................................

. 120 V. Das Verbrechen als Rechtsgutverletzung? ...................... . 127 1. Der Rechtsgutbegriff als ,,reifste Frucht der Aufklarung"? ... . 127 2. Kritische Potenz des Rechtsgutbegriffs? .................... . 131 a) ,,Das Recht ist um der Menschen willen da" 131 6) Ausgrenzung 6loiler Moralwidrigkeiten? .. : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : 133 e) Unterscheidung zwischen Rechtsgut und Norm? ............... . 136

3. Vom Rechtsgut zur Rechtsperson ........................... a) Die Eindimensionalitat der Rechtsgutlehre .................... 6) Person6egriff und Zurechnungslehre ......................... e) Person als Einhcit von Rechtsform und Materie ................

. 137 . 137 . 141 . 145

VI. Vom Verbrechensbegriff zur Allgemeinen Verbrechenslehre .... . 151

Zustandigkeitsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Respektierung anderer Personen............................. 178 3. Gewahrleistung grundlegender Realbedingungen personaler Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

B. Vorrangige Zustandigkeit des Verletzten......................

192

I. Vom corpus delicti zum materiellen Tatbestandsbegriff . . . . . . . . . . 192 II. Das Verhaltnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . 1. Tatbestande als ,,Verbotstafeln"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Tatbestand: ,,rein deskriptive Gri:ii;e" oder ,,Unrechtstyp"? ........................................ 3. Rechtliche Strukturunterschiede zwischen Tatbestandslosigkeit und Rechtfertigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unterschiedlicher sozialer Sinngehalt von Tatbestandslosigkeit und Rechtfertigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195 195 199 205 209

III. System der Verletzten-Zustandigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Zustandigkeitsverteilung als einheitliches Wertungsproblem . . 215 2. Eigenverantwortliche Selbstverletzung und Einwilligung . . . . . 219 a) Inhalt und Reichweite des Autonomiegrundsatzes.. . . . . . . . . . . . . . 219 6) Ins6esondere: Zur Legitimation des§ 216 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 e) Relevanz von Willensmangeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

3. Notwehr und Defensivnotstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 a) Respektierungspflicht und A6wehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6) Umfang des A6wehrrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

2. Kapitel:

4. Aggressivnotstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Die Zustandigkeiten

des Bürgers

A. Das System der Zustandigkeiten . .. . . . . .. .. .. .. .. . .. .. . . .. .. . . . I. Sondergut der Unterlassungsdelikte?

159

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

II. Zur Genealogie der Lehre von den Garantenstellungen . . . . . . . . . . 162 1. Zustandigkeitslehre als Pflichtenlehre........................ 162 a) Die Auffassung Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6) Modifikationen der kantischen Position 6ei Schopenhauer und Hegel... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

2. Die Anfange der strafrechtlichen Garantendiskussion

. . . . . . . . 168

a) Die ,,6esonderen Rechtsgründe" 6ei Feuer6ach . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6) Kommissivdelikte durch Unterlassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

III. System der Zustandigkeiten ...........................

'

....... .

174

3. Kapitel:

Die Verletzung der strafrechtlichen Mitwirkungspflicht A. Kriminalunrecht als zurechenbarzustandigkeitswidriges Verhalten..............................

257

I. Der Begriff des Kriminalunrechts und die Funktion der Zurechnungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 II. Unrecht und Schuld als tragende Systemkategorien? . . . . . . . . . . . . 259 1. Sollen und K01111en. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Die Rechtsstellung des Unrechtleidenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

XII

3. Der Gegenstand des Verbotsirrtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4. Die Axiologik der Beteiligungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 III. Das Verbrechen als ein Unrecht des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 IV. Voraussetzungen der Unrechtszurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gründe und Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die klassische Zurechnungslehre und ihr Schicksal . . . . . . . . . . . 3. Die Aktualitat der klassischen Zurechnungslehre.............

281

B. Die Grenzen der Zurechenbarkeit .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. . . . .. .

299

I. Die Grenzfrage als Zustandigkeitsproblem

XIII

Inhaltsverzeichnis

I nhaltsverzeichnis

281 288 297

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

II. ZurechnungsausschlieBender Verbotsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 1. Die Obliegenheit zur Irrtumsvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 a) Keine Isolierung des Wissens gegenüber dem Wollen . . . . . . . . . . . . 303 b) ,,Prüfende Besonnenheit - die notwendige Voraus.setzung loyalen Handelns" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

2. Gleichwertigkeit aller Erscheinungsformen des Verbotsirrtums .............................................

311 a) Error juris criminalis nocet?.................................. 312 b) Strengere Entlastungskriterien beim Verbotsirrtum im engeren Sinne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

3. Verbotsirrtümer im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 ·a) Bezugsgegenstand des Verbotsirrtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 b) Die Grenzen der Rechtserkundungsobliegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . 329

4. Tatumstandsirrtümer

(Verbotsirrtümer im weiteren Sinne) . . . 333 a) Fahrlassigkeit als SorgfaltsverstoG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 b) Das erlaubte Risiko.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 e) Die Grenzen der Bemühensobliegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

III. Erhebliche Erschwerung der Motivierung zu verhaltensnormgemaBem Verhalten............................................ 1. Die Obliegenheit zur Selbstmotivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entlastung als Konzession anden ,,Selbsterhaltungstrieb" des Taters? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mitzustandigkeit des Eingriffsadressaten für die Bewaltigung der Konfliktlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestimmung der Obliegenheitsgrenze als Zustandigkeitsproblem . . 6) Vorrangige Zustandigkeit des Taters für die erschwerenden Umstande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der NotwehrexzeG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der zurechnungsausschlieGende Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345 345 346 353 353 355 358 360

C. Das AusmaE der Pflichtwidrigkeit ........................... I. Einheit und Vielfalt der Zurechnungsformen

..................



362

• 362

II. Grundstruktur subjcktiv-pflichtwidrigen Verhaltens . . . . . . . . . . . . 364 1. Vorsatz und Fahrlassigkeit als juristisch-technische Begriffe . . 364 2. Vcrmeidbarkeit als Oberbegriff ............................. • 367 III. Die Konturen rechtsfeindlichen Kriminalunrechts ............. . 1. Der Begriff der Rechtsfeindlichkeit ......................... . 2. Entbehrlichkeit einer Willenskomponente .................. . 3. Die MaBfigur des Zurechnungsurteils: der vernünftige Bürger

374 374 376

382 a) Vom dolus indirectus zum dolus eventualis .................... . 382 6) Individualisierende oder objektivierende Beurteilung der Tatsituation? ................ • • • • • • • • · · • · · · · · · · • · · · · · · · · 387

4. Der Gegenstand der Zurechnung: die verbotswidrige Handlung .................................. • • • • • • • • • • • • • • • • 397 a) b) e) d)

Das traditionelle Verstandnis des dolus malus .............. Die Schuldtheorie als KompromiGposition ................ Eine normativierende Konzeption von Rechtsfeindlichkeit .. Die Behandlung nicht-rechtsfeindlicher Ver6otsfahrlassigkeit

Sachregister ........................

397 400 404 408

417

Literaturverzeichnis Personenregister ...............................

• ... . •••. • • ... . .... .

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Einleitung Berühmt ist das Wort Moses Mendelssohns von dem ,,alles zermalmenden Kant", der der klassischen Metaphysik endgültig den Garaus gemacht habe 1. Weniger bekannt, wenngleich für die weitere Entwicklung der Rechtswissenschaft im allgemeinen und der Strafrechtswissenschaft im besonderen hochst bedeutsam, ist ein anderer Zug des kantischen Denkens: die Aufwertung des Systembegriffs 2 • Die diesem Vorgang zugrunde liegende ideengeschichtliche Konstellation ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet 3 . Zum einen spiegelt der Systemgedanke den Übergang von einer in sich ruhenden Ordnung des Seins - einem ardo - zu einer Ordnung in der Bewegung wider. So versteht die Astronomie, welcher der Systembegriff entstammt, unter einem System die Ordnung von bewegten Himmelskorpern, wobei das Ordnungsprinzip in der Gesetzmafügkeit ihrer Bewegung und der Bewegungsrelation besteht. Zum anderen steht der Systembegriff für die Abkehr von der Vorstellung einer unmittelbar einsichtigen Harmonie der Welt, wie sie dem ordo-Denken entspricht. Die Ordnung der Welt als System aufzufassen bedeutet demgegenüber, die Gesetzmafügkeit, die hinter der Vielfalt der ungeordnet erscheinenden Bewegungen steht, allererst zu entdecken. Abgelost von der bloBen Abbildung der Dinge verdankt sich das System der ordnenden Kraft menschlicher Vernunft. Mit der Formel, daB sich nicht unsere Erkenntnis nach den Gegenstanden, sondern ,,die Gegenstande [... ] sich nach unserer Erkenntnis richten" müssen4, hat Kant diese Neubestimmung des Verhaltnisses von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt auf den Begriff gebracht - mit weitreichenden Folgen für die Rechtslehre. Bis in die zweite Halfte des 18.Jahrhunderts hatte diese sich in aristotelischer Tradition als eine Kunstlehre (ars oder prudentia) verstanden; ,,System" bedeutete deshalb in der Jurisprudenz nichts anderes als ein Lehr1

Mendelssohn, Morgenstunden, S. 5. Allgemein zum kantischen Systembegriff Baum, Systemform, S. 25 ff.; Fulda!Stolzenberg, Einleitung, S. 11 H.;Haase, Grundnorm, S. 141ff.; Hoffe, Architektonik, S. 617 H.,627 ff.; Kambartel, System, S. 105 ff.; P. Konig, Selbsterkenntnis, S. 41 ff.; Riedel, Art. ,,System", S. 306 ff.; Somek, Rechtssystem, S. 32 ff.; Strub, Art. ,,System", Sp. 836 ff.; Zoller, Seele, S. 53 ff. 3 Die folgende Darstellung orientiert sich an Denzer, Moralphilosophie, S. 56 sowie Gerhardt, Selbstüberschreitung, S. 246 ff. 4 Kant, KrV, B XV, Wcrke Bd. 3, S. 25. 2

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buch, und der Ehrgeiz juristischer ,,Systematiker" richtete sich hauptsachlich auf die Hervorbringung neuer Ordnungs- und Darstellungsformen 5• Demgegenüber trat mit der kopernikanischen Wende Kants ein neuartiges, auf der Idee der schopferischen Kraft genuin wissenschaftlichen Denkens beruhendes Systemverstandnis in den Gesichtskreis der Juristen 6 • Kant zufolge ist namlich die menschliche Vernunft ,,ihrer Natur nach architektonisch, d.i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehorig zu einem moglichen System" 7 . Das System hat mithin die Aufgabe, den der Vernunft innewohnenden Anspruch auf geordneten Zusammenhang einzulosen. Dementsprechend wird es von Kant in der Kritik der reinen Vernunft definiert als ,,die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee" 8. In einem System seien alle Teile, da ,,von einem einigen obersten und inneren Zwecke abgeleitet" 9, miteinander verwandt; durch den leitenden Zweck werde ,,der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt" 1º. Das Ganze sei demnach ,,gegliedert [... ] und nicht gehauft"; sein Zweck und seine Form kongruierten 11 . Dasjenige, ,,was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft [... ] macht", ist in den Worten des Konigsberger Denkers ihre Einfügung in ein derart verstandenes

5 Schroder, Recht, S. 246; ders., Rechtswissenschaft, S. 17 f., 22 ff.; ders., Wissenschaftstheorie, S. 99 f., 113, 129. -Entsprechendes galt für die Philosophie und die Theologie: Kambartel, System, S. 104. 6 Grundlegend Schroder, Wissenschaftstheorie, S. 92 ff.; zusammenfassend Vesting, Rechtstheorie, Rn. 83. - Jakl (Recht, S. 146) sieht Kant demgegenüber dem Sprachgebrauch des 18.Jahrhunderts -System als Inhalt von Lehrinhalten-verhaftet. 7 Kant, KrV, B 502, Werke Bd. 4, S.449. 8 Kant, KrV, B 860, Werke Bd. 4, S. 696. 9 Kant, KrV, B 861, Werke Bd. 4, S. 696. 10 Kant, KrV, B 860, Werke Bd. 4, S. 696. 11 Kant, KrV, B 860 f., Werke Bd. 4, S. 696. - In der Terminologie Peines (Recht, S. 40 ff.) vertritt Kant einen zweibezüglichen Systembegriff. Kant sieht, daB Einheit nicht schon dann entsteht, wenn Elemente gleicher Art aus den verschiedenen Arten von Elementen ausgesondert werden (einbezüglicher Systembegriff), sondern daB darüber hinaus auch das Verhaltnis der einzelncn Teile untereinander der naheren Bestimmung bedarf. Wie wenig selbstverstandlich diese Einsicht ist, lafü sich anhand eines Vergleichs zwischen Coings Rektoratsrede über die Geschichte des Systemgedankens und Canaris' wenige Jahre spater erschienenem Werk ,,Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz" studieren. Coing steht mit seiner Systemdefinition - bei einem System handelc es sich um ,,die Ordnung von Erkenntnissen nach einem einheitlichen Gesichtspunkt" (Coing, Geschichte, S. 9) noch ganz in der Tradition Kants. Canaris hingegen entwickelt, obwohl er eingangs ,,die klassische Definition Kants" für maBgeblich erklart (Canaris, Systemdenken, S. 11), im weiteren Verlauf seines Buches ein Systemverstandnis, das weit hinter den kantischen Ansprüchen zurückbleibt. Ein System bestimmt er als ,,axiologische oder teleologischc Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien" (aaO, S. 47); diese Prinzipien galten allerdings nicht ohne Ausnahme und konnten zueinander auch in Gegensatz oder Widerspruch treten (aaO, S. 52). Ein solches System kann, wie Peine (aaO, S.49 f). zu Recht hervorhebt, nur ein einbezügliches sein, da Ordnungsgesichtspunkte fehlen, die nahere Aussagen über das Verhaltnis der Prinzipien zueinander ermiiglichen (ahnlich Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 162).

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System • Damit ist das System einer Wissenschaft ,,jetzt nicht mehr nur ihre zufallige lehrbuchmafüge Form, sondern auch ihre innere Struktur" 13. Hegel, der Kant das Verdienst zuspricht, überhaupt erst die ,,Idee einer Wissenschaft" aufgestellt zu haben 14, übernahm dessen Gleichsetzung von Wissenschaft und Systembildung 15. ,,Eine Philosophie ohne System kann nichts Wissenschaftliches sein" 16;deshalb führe ein bloBes Aggregat von Kenntnissen den Namen Wissenschaft nicht mit Recht 17. Auch bei Hegel sind zudem die Begriffe des Ganzen und der Einheit nicht nur vom Systembegriff unabtrennbar, sondern :'ielmehr seine p~sitiven Definitions- und Explikationsmomente 18 . Allerdings 1st ~as _Systembe1 Hegel anders als bei Kant nicht Produkt einer (wenngleich auf apnonsch gegebenen Voraussetzungen beruhenden) Eigenleistung des erkennenden Subjekts, sondern ,,objektive Totalitat" 19: ,,der Bau des Ganzen in seiner reinen Wesenheit aufgestellt" 2º.Deshalb stattet Hegel den Systemged:nken mit einem unüberbietbaren Inklusionsanspruch aus. Alle Inhalte wissenschaftlichen Erkennens -von der Natur über den subjektiven Geist bis hin zu den Gestalten des objektiven und des absoluten Geistes (Recht, Religion, Kunst und Philosophie) - seien nur Momente der Idee, deren allgemeine Struktur Hegel in der Logik begriffen zu haben beansprucht: ,,Das Absolute ist die allgemeine und eine Idee, welche als urteilend sich zum System der bestimmten Ideen besondert, die aber nur dies sind, in die eine Idee, in ihre Wahrheit zurückzugehen." 2 1 Schon bei Kants Schülern Fichte, Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt verband sich die Neubestimmung des Wissenschaftscharakters der traditionellen Fakultaten 22 mit der Frage nach dem Sinn der Universitaten 23 • Wenig verwunde~·lichist es da~er, daB die von Kant und Hegel übernommene Überzeugung, W1ssenschaft se1 nur als System denkbar, verbunden mit dem Ziel, selbst eine Wissenschaft in diesem Sinne zu werden, für das Selbstverstandnis der deutschen Strafrechtslehre des 19.Jahrhunderts pragend wurde. Feuerbach unternahm es die Vorgaben Kants auf den Bereich der Strafrechtslehre anzuwenden. Ein bloBe¡ ,,Aggregat von Kenntnissen", so betonte er, verdiene noch nicht den Namen einer Wissenschaft 24 • ,,Eine Wissenschaft muB [... ] systematisch verfahren" 2 5;ihre 12

Kant, KrV, B 860, Werke Bd. 4, S. 695. Schroder, Recht, S. 246. 14 Hegel, Wesen, Werke Bd. 4, S. 176. 15 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 83. 16 Hegel, Enzyklopadie I, § 14 A, Werke Bd. 8, S. 59 f. 17 Hegel, Phanomenologie, Werke Bd. 3, S. 11. 18 Edel, Systcmform, S. 45. 19 Hegel, Diffcrenz, Werke Bd. 2, S. 46. 20 Hegel, Phanomenologie, Wcrke Bd. 3, S. 47. 21 Hegel, Enz. I, § 213 A, Werke Bd. 8, S. 368. 22 Zusammenfassend Schroder, Wissenschaftstheorie, S. 146. 23 Wieacker, Wandlungen, S. 7 ff. 24 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 183. 25 Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 246. 13

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Aufgabe sei es, durch die ,,Richtigkeit, genaue Bestimmtheit, scharfe Prazision, lichtvolle Klarheit der rechtlichen Begriffe" den ,,innere[n] Zusammenhang der Rechtssdtze" sowie den ,,systematischen Zusammenhang der Rechtslehren" 26zu erhellen und so die ,,rohe Masse" des vorhandenen Rechtsstoffs ,,zu einem organisierten, mit sich selbst in allen seinen Teilen zusammenstimmenden Ganzen" zu bilden 27.Jede Verworrenheit und Disharmonie sei ,,Beleidigung der Vernunft, deren hochste Aufgabe für alles, für das Erkennen wie für das Handeln, Übereinstimmung und Einheit ist" 28. Bei aller sonstigen Kritik an Feuerbach schlossen sich die Hegelianer in diesem Punkt dessen Sicht der Dinge an. So war für Heinrich Luden die ,,Wissenschaft des teutschen Strafrechts [... ] nicht ein Inbegriff bloB zufallig zusammengeworfener Begriffe und Grundsatze, sondern ein System, in welchem das Eine durch das Andere bedingt ist und organisch mit ihm zusammenhangt" 29. Auf die Organismus-Metapher griff auch Albert Berner zurück. Die ,,systematische Behandlung des Criminalrechts" sei ,,die Darlegung des organischen Lebens, welches sich in einem bestimmten, geordneten Gliedbau kundgiebt". Als solche sei sie nichts Geringeres als ,,die Darlegung des Ganges, den die Sache kraft ihrer eigenen Nothwendigkeit und Wahrheit nimmt, also keine gemachte Wahrheit, sondern die ewige, objective Wahrheit" 3º.

ten" mitzureden, verdiene ,,eine so kurze Abfertigung [... ] wie im Drama der Poet, der sich zwischen die Feldherrn drangt" 34. Mit der Skepsis gegen eine Spekulation, die den Fortschritt in ihre freischwebend deduzierten Systemkategorien zwangen zu konnen glaube, gingen zunehmende politische Bedenken gegen eine Rechtswissenschaft einher, die infolge ihrer Fokussierung auf logisch-systematische Ableitungen die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen der von ihr behandelten Konflikte ausblende 35. Namentlich der als bedrohlich empfundene Anstieg der Kriminalitatsrate im Gefolge der rasch fortschreitenden Industrialisierung 36wurde als Indiz dafür gewertet, daB das herkommliche Verstandnis strafrechtswissenschaftlicher Tatigkeit unzureichend sei und durch eine zeitgemaBe - und das hieB: dem Wissenschaftsverstandnis der Naturwissenschaften genügende - Auffassung ersetzt werden müsse. Eine zweckmafüge, effektive Verbrechensbekampfung setze namlich die genaue Kenntnis der Verbrechensursachen sowie der Wirkungen der Strafe voraus; diese aber sei nur durch die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden zu erlangen 37. Dementsprechend beschrankte Liszt in seiner 1899 gehaltenen Berliner Antrittsvorlesung ,,mit der ganzen Wucht einer siegreich heraufkommenden Weltanschauung"38 und unter souveraner Beiseiteschiebung der Tradition die eigentlich ,,wissenschaftliche Aufgabe der Strafrechtswissenschaft" auf ,,die kausale Erklarung von Verbrechen und Strafe" 39; denn nur eine kausale Erklarung konne auf den Titel wissenschaftlicher Erkenntnis Anspruch erheben 40 • In der Folgezeit wurde Liszt zwar zugute gehalten, daB er ,,unsere Wissenschaft von dem dunklen Überbau einer meist miBverstandenen Dialektik befreit"41, ,,das Strafrecht [... ] dem Le ben der Gemeinschaft [... ] wieder verantwortlich gemacht" und die ,,Vollstrecker des Rechts" gezwungen habe, ,,für den Erfolg in der Wirklichkeit zu sorgen" 42. Liszts enges, am Vorbild der Naturwissenschaften orientiertes Verstandnis der Rechtswissenschaft 43 hingegen hat

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Auf der allgemeinphilosophischen Ebene hatte zu diesem Zeitpunkt allerdings schon jener ProzeB einer Abkehr von umfassenden Systementwürfen eingesetzt, für den sich der dramatisierende Titel ,,Zusammenbruch des Idealismus" eingebürgert hat 31. Wichtiger als die Erzielung einzelner Ergebnisse, die ohnehin bald überholt sein würden, war es aus der Sicht der aufstrebenden und zunehmend auch die philosophische Dislrnssion beeinflussenden Naturwissenschaften, den FluB der Neuerungen in Gang zu halten: ,,wertvoll ist das, was uns voranbringt, nicht das, was uns verweilen lafü" 32. Die ,,Komodie der speculativen Philosophie" sei ausgespielt, verkündete Ludwig Knapp im Jahre 185733. Ihr Verlangen, in den ,,reellen, d.h. wahrheitsstrebenden Wissenschaf-

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Feuerbach, Philosophie, S. 91. 27 Feuerbach, Philosophie, S. 104. Zustimmend jüngst Augsberg, Methodendiskussion, S.184. 28 Feuerbach, Philosophie, S. 103 f. - Ahnliche Bekundungen findcn sich im Bereich des Zivilrechts. In den Worten des jungen Savigny (Methodenlehre, S. 15) ware eine Behandlung des Rechtsstoffes, die ,,ein bloBes Fachwerk, ein bequemes Aggregat der Materien lieferte, [... ] bloBe Erleichterung des Gedachtnisses", im übrigen aber ,,von sehr geringem Werte". Solle sie wahres Verdienst haben, so müsse ihr innerer Zusammenhang eine Einheit produzieren. Sei aber eine solche systematische Bearbeitung der Jurisprudenz mi:iglich, ,,so grenzt Jurisprudenz unmittelbar an Philosophie, [... ] die Jurisprudenz ist also eine philosophische Wissenschaft". 29 Luden, Handbuch, S.141. 30 Berner, Grundlinien, S. 177. 31 Schnadelbach, Philosophie, S. 21 ff. 32 Schnadelbach, Philosophie, S. 114. 33 Knapp, System, S. 2.

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Knapp, System, S. 5. Zu diesem politischen Subtext der Kontroverse um den Wissenschaftsbegriff vgl. etwa Haverkate, Jurisprudenz, S. 293; Simon, RJ 11 (1992), 356; Wieacker, FS Gadamer, Bd. II, S. 315. - Das gleiche, wenngleich unter anderen politischen Vorzeichen artikulierte Unbehagen stand hinter der in den spaten 60er und den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts erhobenen Forderung, die Rechtswissenschaft zu einer Sozialwissenschaft umzugestalten (exemplarisch Rottleuthner, Rechtswissenschaft, S. 7 ff., 245 ff.; umfangreiche weitere N achweise bei R. Dreier, Rechtstheorie 2 [1971], 37 f. Fn. 3). 36 Zur zeitgeni:issischen \X!ahrnehmung und Diskussion dieses Befundes: Koch, Binding, S. 129 m.w.N. 37 Dazu v. Mayenburg, Rolle, S. 115 ff. 38 Georgalús, Studien, S. 10. 39 Liszt, Abhandlungen, Bd. II, S. 289 (Hervorhebung im Original). 40 Liszt, Abhandlungen, Bd. II, S. 289. 41 Georgakis, Studien, S. 6. 42 So etwa v. Wedel, SchwZStr 47 (1933),337. 43 Der prominenteste Vorlaufer Liszts in dieser Hinsicht war v. Kirchmann; dazu Her35

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sich, obwohl es bis heute Nachfolger gefunden hat 44, hierzulande nicht durchgesetzt45. Beginnend mit dem Neukantianismus und seiner Betonung der Gleichwertigkeit aller geistigen Manifestationen wird zutreffend hervorgehoben, daf; es sich bei der Frage, ob neben der empirischen Rechtsforschung auch die dogmatische Rechtslehre Wissenschaft sei, um ein rein definitorisches Problem handelt 46. Man kann der empiristischen Fokussierung der positivistischen Wissenschaftstheorie folgen, aber man mufles nicht 47. Vielmehr kann man mit der neueren Wissenschaftstheorie 48auch den Umstand genügen lassen, daf; die Jurisprudenz ,,eine bestimmte, in dieser Welt sinnvolle Erkenntnisaufgabe, namlich die Suche nach den benotigten konkreten Rechtsregeln, mit rationalen Mitteln verfolgt" 49. Der in der Rechtsdogmatik institutionalisierte Zwang zur

methodengerechten Begründung fungiert in dieser Perspektive als unter dem Gesichtspunkt der Nachprüfbarkeit hinreichendes Aquivalent zum empiristischen Sinnkriterium 50. Auch Liszt war freilich weit davon entfernt, das strafrechtsdogmatische Systemdenken in Bausch und Bogen zu verwerfen. Nur waren es keine genuin wissenschaftstheoretischen Gründe, die nach Liszts Überzeugung für die systematische Behandlung des Rechtsstoffs sprachen, sondern didaktische und rechtspolitische Erwagungen 51: Im System liege zum einen ,,die Bürgschaft für die sichere Beherrschung des von Tag zu Tag in seinen Einzelheiten umfangreicher anschwellenden Stoffes" 52; zum anderen lasse sich nur so dem im Interesse der personlichen Freiheit unverzichtbaren nullum crimen-Satz zur Geltung verhelfen 53. Vergleichbare Erwagungen finden sich bereits bei Feuerbach. Die Umformung der didaktisch orientierten Strafrechtslehre traditionellen Zuschnitts zu einer systematisch verfahrenden Disziplin war nach dessen Überzeugung keineswegs nur um ihrer wissenschaftlichen Dignitat willen erforderlich. Im Mittelpunkt von Feuerbachs Revision stand vielmehr ein praktisch-rechtsstaatliches Anliegen: Nur im Wege eines systematisch-rationalen Vorgehens konne es der Strafrechtswissenschaft gelingen, die unertragliche Unberechenbarkeit der bisherigen Strafrechtsanwendung zu überwinden und der Gerichtspraxis jenen ,,festen Gang" anzuweisen, der ,,um der Menschheit und um ihrer Rechte willen nothwendig" sei54. ,,Von der Theorie hangt die Praxis ab; um so sicherer und vollkommener ist diese, je bestimmter und vollendeter jene ist." 55

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berger, BerWissGesch 6 (1983), 84 ff.; Tripp, EinfluE, S. 210 f.; Simon, RJ 7 (1988), 143 ff.; aus der alteren Literatur: Binder, Kant-Studien 25 (1920), 322 ff. 44 Mit vergleichbaren Erwagungen spricht jüngst noch Schurz (Einführung, S. 36 f.) den Wert- und Normsatzen der Jurisprudenz den Wissenschaftscharakter ab. 45 Im anglo-amerikanischen Bereich wird das Selbstverstandnis der Rechtsdogmatik als Wissenschaft dagegen nicht selten für abwegig gehalten. Nach einer Bemerkung Dubbers wurde es den amerikanischen Juristen ,,so gründlich van den Legal Realists der 1920er und 1930er ausgetrieben, dass sich heute nur noch wenige amerikanische Rechtslehrer überhaupt daran erinnern konnen" (Dubber, Strafrechtsdogmatik, S. 248; naher Dedek,JZ 2009, 543 ff.). Dogmatik im deutschen Sinne wird dort für eine rhetorische Operation gehalten, die die eigentlich maEgebenden Faktoren van Entscheidungen nur verbrame; die Bezeichnung als legal scholarship wird im wesentlichen nur solchen Forschungen zugebilligt, die sich van der Warte einer anderen, nicht-juristischen Disziplin mit dem Recht beschaftigen (Dedek, aaO, 546 sowie v. Bogdandy, JZ 2011, 3). Über die wenig erfreulichen rechtspraktischen Folgen dieser Theorieabstinenz unterrichtet Dubber, ZStW 121 (2009), 977 ff. 46 Aarnio, Denkweisen, S. 37; Bydlinski, Methodenlehre, S. 77; Ernst, Recht, S. 22; Hilgendorf, FS Lampe, S. 289;Arthur Kaufmann, ARSP 72 (1986),426; Neumann, Wissenschaftstheorie, S. 386. 47 Ebenso Meyer-Cording, Jurist, S. 43; Weimar, FS Troller, S. 353. - Die Zirkelschlüssigkeit der genannten Wissenschaftsdefinition manieren auch Arthur Kaufmann, FS Bockelmann, S. 67 und Schünemann, GA 2011, 447. Schon Binder (Philosophie, S. 841) halt es für eine ,,gar nicht begründet[e]" Voraussetzung, wenn für die Rechtswissenschaft eine ,,naturwissenschaftliche Methode" gefordert werde. (Dem Geist der Zeit - 1925! - entsprechend sieht Binder [aaO, S. 846] darin ein perfides Attentat des ,,franzosische[n] Positivismus", der seinen ,,verheerenden Zug durch das deutsche Denken" angetreten habe, ,,überall das niederreiEend, was der deutsche Idealismus erbaut hatte und dessen tiefsinnige Spekulation ersetzend durch dem gemeinen Verstande zugangliche Schlagworte".) 48 Vgl. Kambartel, Art. ,,Wissenschaft", S. 719; Korner, Art. ,,Wissenschaft", S. 726 f.; Tetens, Art. ,,Wissenschaft", S. 1763. 49 So Bydlinski, Methodenlehre, S. 77. - Ebenso Emge, Einführung, S. 383 f.; ders., Philosophie, S. 60; Ernst, Recht, S. 22; Horn, Einführung, Rn. 50; Larenz, Unentbehrlichkeit, S. 11; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 8; Meyer-Cording, Jurist, S. 44 f.; Schünemann, GA 2011, 447; Tammelo, Aufsatze, S. 20 f.; Damas, ARSP 89 (2003), 186 (der allerdings nur das Falsifikationsverfahren des Kritischen Rationalismus als eine wissenschaftlichen Standards genügende Methode anerkennt: aaO, 199); Poscher, ARSP 89 (2003), 213. - Nahestehend (entscheidend für den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz sei das stete Mifürauen

Darüber hinaus stand zum Zeitpunkt von Liszts Intervention auch bei den Vertretern des herkommlichen disziplinaren Selbstverstandnisses der Strafrechtswissenschaft langst auf;er Streit, daf; als Gegenstand der Systematisierung nur das positive Recht in Betracht komme 56. Angesichts dieser Rahmenbedingungen sprachen Merkel und Binding für die grof;e Mehrzahl der Zunftgenossen, wenn sie an der Gleichsetzung einer wissenschaftlichen mit einer (anspruchsvoll verstandenen) systematischen Behandlungsweise des Rechts festhielten. Merkel zufolge ware es eine Tauschung, wenn man glaubte, das positive Recht einer gegebenen Zeit und Gesellschaft dadurch erfassen zu konnen, daf; man das Eingegen die VerlaElichkeit der eigenen Methoden und Leistungen) Bockelmann, Rechtswissenschaft, S. 29. 50 In diesem Sinne Larenz, Methodenlehre, S. 240 f.; Arthur Kaufmann, ARSP 72 (1986), 432 f.; Neumann, Wissenschaftstheorie, S. 389 ff. 51 Deshalb kann die Dogmatik für Liszt nur den Status einer Kunstlehrc bzw. einer technischen Fertigkeit beanspruchen; dazu Georgakis, Studien, S. 13 m.w.N.; kritisch Mittasch, Auswirkungen, S. 113. 52 Liszt, Abhandlungen, Bd. II, S. 286. 53 Liszt, Abhandlungen, Bd. II, S. 60 ff., 79 ff., 434 f. 54 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. XV. 55 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. XV. 56 Dazu naher unten S. 32 ff.

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zelne der bestehenden Gesetzgebung isoliert ins Auge fafüe und von den Prinzipien und dem in ihnen begründeten Zusammcnhang zwischcn den Einzelheiten abstrahicrte. ,,Wer etwa in einem Lehrbuch des Strafrechts nicht von einer bestimmten und im Wcsentlichen richtigen Auffassung von den Principien des Strafrechts ausginge, der konnte die Bcstimmung des allgemeinen Theils dcr Strafgesetzgebung nur entweder in einer blos augcrlichen und unwissenschaftlichen Nebeneinanderreihung oder in einer confusen und irreleitenden Verknüpfung darstellen. Weder im einen noch im anderen Falle würde er dem Inhalte des geltenden Rechts wirklich gerecht werden." Denn die rechtlichen Bcstimmungen standen in einem inneren Zusammenhang und wollten in diesem aufgefafü und aus ihm heraus erlautert sein 57 • Diesen Zusammenhang- das System - offenzulegen stellte für Merkel, insowcit nicht anders als für Feuerbach, die originare Leistung der Strafrechtswissenschaft dar. Ganz ahnlich klang es bei Binding. Bereits in seiner ersten grogen Veroffentlichung, einer Stellungnahme zum Entwurf eines Straf gesetzbuches für den Norddeutschen Bund, hattc dieser die Unabhangigkeit der Gesetzesauslegung vom Willen des historischen Gesetzgebers betont: Mit dem Moment der Gesetzespublikation ruhe das ganze Gesetz auf sich selbst, gehalten durch die eigene Kraft und Schwere, oft armer, oft aber auch reicher als die Gedanken des Gesetzgebers 58 . In seinem Eroffnungssaufsatz für die neugcgründete Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft sah Binding demzufolge die Wissenschaft vom Strafrecht dadurch charakterisiert, dafl sie nicht am einzelnen Satz einer Gesctzesbestimmung klebe. Ihre Leistung bestehe vielmehr darin, die groile Ordnung des gesamten Rechtsgebiets offenzulegen: ,,sie interpretirt den Zusammenhang der Teile untereinander; sie füllt die Lücken aus, indem sie latenten Rechtswillen sichtbar neben die greifbaren Gesetze stellt; sie geht pietatvoll ein auch auf das Kleine, den Satz, das Wort, - aber freilich sie betrachtet die Ecke nicht aus der Ecke, wenn sie ihr Mafl bestimmen will; sie sieht auch das Kleine vom Zentrum aus als Teil des Ganzen und bestimmt danach seine Gestalt und sein Verhaltnis, die der Betrachter aus nachster Nahe vielleicht anders sehen würde." 59 In der Nachfolge Merkels und Bindings versteht sich die deutsche Strafrechtsdogmatik bis heute als eine im Kcrn wissenschaftliche Disziplin und verweist zur Begründung auf den von ihr erhobenen Systemanspruch 60 • Bekenntnisse zum Systemdenken finden sich allerorten 61 , nicht selten sogar unter ausdrück-

lichcr Zitierung der kantischen Definition des Systembegriffs 62 . Die Frage, was es genau bedeute, systematische Strafrechtsdogmatik zu betreiben, wird allerdings nur vereinzelt zum Gegenstand vertiefter Überlegungen gemacht 63 • Zumeist verbleiben die betreffenden Ausführungen - wie jüngst im Hinblick auf Roxin nachgewiesen wurdc - auf der Ebene ciner ,,impliziten Systemvorstellung"64:Der Systembegriff wird dort über einige Allgcmeinplatze hinaus ,,nicht naher erlautert, Verweise auf dcnkbare Ansatze erfolgen sporadisch und werden nicht vertief t" 65 • Aus der Sicht eincr philosophischen Systemvorstellung - und gar einer solch anspruchsvollen wie der kantischen - handelt es sich ,,bei alldem eher um eine Zusammenstellung wichtiger Aspekte und Kennzeichen als um einen ordnungsstiftcnden Entwurf"6 6 • Was ein neuerer Autor 67 über die heutige Rechtsdogmatik insgesamt feststellt, gilt jedenfalls für die Dogmatik des Strafrechts: Der Systembegriff wird dort mit leichter Hand vergeben, haufig stillschweigend vorausgesetzt und regelmafüg nicht weiter hinterfragt. Diese unscharfe Begriffsbildung kommt freilich nicht von ungefahr. Sie spiegelt vielmehr die prekare Rolle der Rechtsdogmatik widcr, die zwar einerseits den Anspruch erhebt, zum Kreis der Textwissenschaften zu gchoren, aber andererseits auch groilen Wert darauf legt, Zutragerin und Gesprachspartnerin dcr Rechtspraxis 68 und - last but not least - Tragcrin des universitarcn Ausbil-

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Merkel, Grünhut's Zeitschrift 1 (1874),416. Binding, Entwurf, S. 1 f. 59 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 46. 60 Das englische und das franzosische Strafrechtsdenken kennen eine solche Hochschatzung des Systembegriffs nicht (dazu jüngst Helmert, Straftatbegriff, S. 203, 208). 61 Vgl. etwa Bleckmann, Strafrechtsdogmatik, S. 50 ff.; Burchard, Irren, S. 2 f.; Burkhardt, Strafrechtsdogmatik, S.112 f.; Frisch, Verhalten, S. 6; dens., Strafrechtsdogmatik, S. 161 f.; 58

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dens., Wesenszüge, S. 160 ff.; Gropp, AT, § 2 Rn. 61; Haft, AT, S. 12 f.; Herzberg, Unterlassung, S. 8 f.; Hirsch, ZStW 93 (1981), 833; dens., FS Koln, S. 402 f.; dens., FS Spendel, S. 46; dens., FS Trondle, S. 38; Hrnschka, GA 1981, 241 ff.; dens., JZ 1985, 1 ff.; Jakobs, AT, 4/38; Jescheck!Weigend, AT, §6 I 1 (S.42); Kiipper, FS Puppe, S.144ff.; Langer, GA 1990, 436ff.; Lippold, Rechtslehre, S. 34, 431; Neumann, Strafrechtsdogmatik, S. 119; Nitze, Bedeutung, S. 45 ff.; Puppe, Schule, S. 177, 181; Roxin, AT 1, § 7 Rn. 38 ff.; dens., FS Brito, S. 777 f.; Schild, Merkmale, S. 78 ff., 99 ff.; Schmidhduser, AT, 6/1; Schroeder, Beitrage, S. 106; Schiinemann, Grund, S. 26, 81; dens., Funktion, S. 1 ff.; dens., JA 1975, 511; dens., FS Schmitt, S. 117 ff.; dens., GA 2001, 216 ff.; dens., Abgrenzung, S. 154 f.; dens., 1. FS Roxin, S. 7 f., 12 f.; dens., GA 2006, 378 f.; Zabel, Schuldtypisierung, S. 136; Zaczyk, FS Dahs, S. 41. - Auch auslandische Wissenschaftler, die die (vergangene) Weltgeltung der deutschen Strafrechtswissenschaft beschworen, berufen sich zur Begründung primar auf deren Systematisierungsleistungen (so zuletzt Gimbernat-Ordeig, Grunderfordernisse, S. 165; Silva-Sánchez, GA 2004, 682; ders., FS Jakobs, S. 658, 661). - Wo Skepsis gegenüber dem herkommlichen Systemdenken artikuliert wird, bezieht sie sich zumeist nur auf die axiomatisch-logische Methode der sogenannten Begriffsjurisprudenz (vgl. etwa Otto, ARSP 55 [1969], 497 ff., 508 ff.; dens., lnt. Jb. f. int. F. 2 [1975], 120 ff., 126; dens., ZStW 87 [1975], 549 f.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 16 ff. sowie Maurach!Zipf, AT 1, § 3 Rn. 26). 62 So bei Mittasch, Auswirkungen, S. 1; Erik Wolj~Schuldlehre, S. 9; Gropp, AT, § 2 Rn. 61; Küpper, FS Puppe, S. 144; Roxin, AT 1, § 7 Rn. 3. 63 Zu nennen ist insbesondere Hruschka, GA 1981, 237 ff.; ders., JZ 1985, 1 ff. 64 Bumke, Rechtswidrigkeit, S. 31 Fn. 39. 65 Bumke, Rechtswidrigkeit, S. 31 f. 66 Bumke, Rechtswidrigkeit, S. 32. 67 Schroeder, Gemeinschaftsrechtssystem, S. 46. 68 Ob die von der universitaren Rechtsdogmatik angebotenen Gesprachsthemen für die (revisions-)gerichtliche Rechtsprechung von ernsthaftem lnteresse sind, wird allerdings ver-

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dungsbetriebs zu sein 69 • Diese Ansprüche sind nicht ohne Reibungen miteinander kompatibel: Wer praktisch verwertbare Rechtsanwendungstechniken liefern will, muB zu Abstrichen an Abstraktionshi:ihe, Reflexionsniveau und Theorieanspruch bereit sein, die einem ,,reinen" Textwissenschaftler nicht abverlangt werden 70 . Die Spannungen nehmen zu, je weiter sich die professionellen Milieus

- und mit ihnen auch Rezeptionsgewohnheiten und Karrierewege - voneinander entfernen 71 . So klagen auf der einen Seite die Praktiker i.iber eine standig wachsende Flut von Akten, die es ihnen unmi:iglich mache, die Entwicklung der Wissenschaft auch nur in den groBen Linien zu verfolgen. Auf der anderen Seite hat die starke Erweiterung der Zahl der Diskussionsteilnehmer und Publikationsorgane, einhergehend mit der Aufli:isung der fri.iher bestimmenden Schulen und Lehrhierarchien, zu einer ,,Atomisierung" 72 der Strafrechtsdogmatik gefi.ihrt: Es existiert eine Vielzahl fein ausziselierter wissenschaf tlicher Theorien, die nach einer Bemerkung Nauckes nicht einmal der wissenschaftlich gutwilligste Revisionssenat zur Kenntnis nehmen kann 73 und die im Ergebnis nahezu jede Ansicht und jede Entscheidung zulassen 74 . Wahrend allerdings Radbruch noch streng zwischen Erkenntniswert und bloBer Darstellungsform sowie der ihnen jeweils zugeordneten wissenschaftlichen bzw. didaktischen Systematik unterschied 75 , ist der Sinn fi.ir die Unter-

breitet bezweifelt. Zu den Standardvorwürfen gcgen die Strafrechtsdogmatik gehiirt es, daG sic ganze Rechtsbereiche von hoher praktischer Relcvanz nahezu unbearbeitet lasse (vgl. etwa Arzt, GS Armin Kaufmann, S. 846 f.; Erb, ZStW 113 [2001], 10 ff.; Naucke, ZStW 85 [1973], 404 ff.; dens., GA 1998, 266 ff.) und sich statt dessen auf Gcgenstande konzentricre, ,,für welche es schwer fallt, eine praktische Bedeutung zu postulieren" und welche der Praxis daher ,,weithin als überflüssiges spectaculum gelten" (Fischer,FS Hamm, S. 74, 81; ebenso Arzt, GS Armin Kaufmann, S. 874 f.; Rotsch, ZIS 2008, 2 ff.). 69 Die Doppelrolle der Rechtsdogmatik zwischen Theorie und Praxis betonen auch Bydlinski, Methodenlehre, S. 11; Harenburg, Rechtsdogmatik, S. 367; Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 147 f.;Jestaedt, Wissenschaft, S. 20; ders., FS Mayer, S. 169 H.;Lippold, Rechtslehre, S. 188 f.; v. Arnauld, Wissenschaft, S. 68 ff.;Engel, Rechtswissenschaft, S. 22 ff.; Eser, SchluGbetrachtungen, S. 444; Mastronardi, Denken, S. 33; Schmidhduser, AT, 1/3; Schmidt-Aflmann, JZ 1995, 2; Schulze-Fielitz, Staatslehre, S. 16; Weinberger, Wisscnschaftsbegriff, S. 114. - Die Bedeutung der dogmatischen Durchdringung des positiven Rechts als ,,Wissenschaftsideal" einerseits, ,,padagogisches Leitbild" andererseits hebt Dedek (JZ 2009, 543) hervor. 70 Harenburg, Rechtsdogmatik, S. 162, 367;Jestaedt, Wissenschaft, S. 20 f.; Schild, Merkmale, S. 81; Schuhr, Rechtsdogmatik, S. 148 f.; v. Arnauld, Wissenschaft, S. 85 ff.; Burkhardt, Strafrechtsdogmatik, S. 120; Trute, Staatsrcchtslehre, S. 121 f.; Vosgerau, Rechtswissenschaft, S. 210 f.; aus der ideologiekritischen Perspektive der frühen 70er Jahre Rottleuthner, Rechtswissenschaft, S. 8 ff. Nicht von ungefahr war in der sich seit dem Hochmittelalter herausbildenden Praxis der universitaren Fakultatsfarben die Robenfarbe der Juristen stets dunkelrot: ,,damit sollte jedenfalls ein vitales, d.h. auch letztlich ,theoriefeindliches' Element symbolisiert werden; ein Jurist sollte ,im Blut stehcn"' (Vosgerau aaü, S. 201). Ein GroGteil der Rcchtswissenschaft des 19.J ahrhunderts stellte das Spannungsvcrhaltnis zwischen ihrem Wissenschaftsanspruch und ihrer Praxisorientierung unter Aufbictung eines betrachtlichen Malles an normativer Emphase in Abrede. Kein Geringerer als Savigny proklamierte die ,,natürliche Einheit" zwischen Theoric und Praxis (Savigny, System, Bd. I, S. XXV). Der bedeutende iisterreichische Strafrechtler Glaser betonte, zwar sei die Strafrechtsdogmatik cine praktische Wissenschaft: ,,sie muG Anspruch darauf machen kiinncn, dass ihrc Resultate fürs Le ben, fürs Handeln, nicht blos fürs Wissen Bedeutung erhalten, dass sie aus der Welt der Bücher in die der Acten, aus dem Lehrsaal in den Gcrichtssaal übergehen". Dies dürfe aber nicht dazu führen, den Begriff der Wissenschaft ,,minder streng zu nehmen: ihren stolzen Namen bloGen Fertigkeiten beizulegen" (Glaser, Schriften, Bd. 1, S. 3 f.). Die ,,geistige Atmosphare, in welcher Theoretiker und Praktiker sich bewegen", sei vielmehr eine und dieselbe, und nur die Art, wie dies geschehe, unterscheide die einen von den anderen (aaü, S. 66). Noch Binding auGerte die Erwartung, daG die Dogmatik ihre institutionelle Schwache gegenüber Gesetzgebung und Rechtsprechung mit ihrer Wissenschaftlichkeit kompensieren kiinne. Deshalb stelle jede schlechte wissenschaftliche Leistung ,,eine Art literarischen Landesverrats gegen die Wissenschaft" dar, weil sic deren ,,GroGmachtstellung gegenüber der Praxis wie der Gesetzgebung" gefahrde (Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 59; ahnlich jüngst noch Kindhduser (ZStW 121 [2009], 954). GriiGeren Realitatssinn bewies Merkel. Er war sich darüber im ldaren, daG ,,die Kunst des praktischenJuristen, gegebene Gesetze mannigfaltigen Verhaltnissen gegenüber zur Anwendung zu bringen, oder auch bestimmten Ueberzeugungen oder Bedürfnissen oder Forderungen der Beviilkerung in gesetzlichen Bestimmungen zum Ausdruck und zur Befriedigung zu verhelfen, [... ] von Haus aus nur wenige Elemente einer wissenschaft-

lichen Thatigkeit in sich [schlieGt]" (Merkel, Grünhut's Zeitschrift 1 [1874], 405 f.). Daran hat sich seithcr nichts geandcrt (vgl. nur Naucke, ZStW 85 [1973], 404 ff.; Erb, ZStW 113 [2001], 1 ff. sowie allgemeinJestaedt, FS Mayer, S. 178 f.; Simon, RJ 7 [1988], 146 f.). Die Einbindung einer Liisung in ein groGes systematisches Konzept dürfte cntgegen der Hoffnung Schmidhdusers (AT, 5/30) von der Praxis weniger als Hilfe empfunden werden als vielmehr den sichersten Weg darstellen, sich deren Desinteresse zu sichern (in diesem Sinne Arzt, GS Armin Kaufmann, S. 862; Fischer, FS Hamm, S. 66; Laos, Grenzen, S. 265). In den Worten Nauckes (ZStW 85 [1973], 415) wird ,,der Strafrechtswissenschaftler [... ] in der revisionsrichterlichen Praxis das griiGte Ansehen genieGen, der die Schwierigkeiten, die die Praxis bedrangen oder bald bedrangen werden, [... ] auf praktisch akzepticrbare Begriffe bringt". 71 Bockenforde (Ethos, S. 34) erblickt das Verbindende der Tatigkeit der Juristen in einer spczifischen Art der Ausrichtung ihrer Arbeit an und mit dem geltenden Recht. ,,Diese Ausrichtung zielt zunachst auf das ius suum cuique tribuere und den Parteilichkeit abwehrenden Gedanken audiatur et altera pars; ferner auf das klare Erfassen [... ] der sozialen Wirklichkeit [... ]; schliefüich auf [... ] die Gegenseitigkeit des Rechts sowie den Sinn für die befriedende Kraft geordneter Verfahren." Es sei dahingestellt, ob diese aus der Selbstbeobachtung (oder Sclbststilisierung?) des Angehiirigen einer kleinenJuristenelite gewonnene These der Alltagspraxis cines um sein berufliches Überleben kampfenden Anwalts oder eines überlasteten Instanzrichters standhalt. 72 So für die Rechtsdogmatik insgesamt Würtenberger, Grundlagenforschung, S. 11. 73 Naucke, GA 1998, 264. 74 Arzt, GS Armin Kaufmann, S. 878; Burkhardt, Strafrechtsdogmatik, S. 136, 152; Rotsch, ZIS 2007, 265; ders., GS Eckert, S. 723; Schroeder, Beitrage, S. 122 f.; Schünemann, l. FS Roxin, S. 6. - Entsprechendes konstatiert für den Bereich des Verfassungsrechts SchitlzeFielitz, Staatslehre, S. 21. 75 Radbruch, FG Frank, Bd. I, S. 159; ahnlich Sauer, Grundlagen, S. 203. -Auch das Verfahren des zur ProzeGführung berufenen Richters folgt, wic vor allem Hall (Lehre, S. 145 ff.) herausgearbeitet hat, haufig nicht den Vorgaben einer wissenschaftlich-systematisch verfahrenden Allgemeinen Verbrechenslehre: Für den Richter ,,bedarf [es] nicht strafrechtstheoretischer Spekulation. Es bedarf des prozessualen Entschlusses, irgendwo anzufangen." (aaO, S. 149) Der Erfolg des Aufbauschemas ,,TatbestandsmaGigkeit/Rechtswidrigkeit/Schuld" erklart sich für Hall denn auch nicht daraus, daG es der Teleologie cines Systems des materiellen Strafrechts entsprechc, sondern daraus, da:Ges der Teleologie des Prozesses gemaG sei (aaO, S. 159).

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schiede zwischen einem wissenschaftlichen und einem didaktischen System und damit zusammenhangend zwischen einer genuin strafrechtswissenschaf tlichen Tatigkeit und bloJ3er Gesetzeskunde heute weithin verloren gegangen 76. Entweder es werden samtliche von Strafrechtsprofessoren verfaf3ten Schriften pauschal der Wissenschaft zugerechnet - auch wenn sie, wie die meisten sogenannten Lehrbücher, eher den ,,Charakter von Kochbüchern" aufweisen, ,,bei denen sich die Qualitat des Rezepts an der prasumtiven Kochkunst des Lesers orientiert"77. Oder aber es wird umgekehrt als das einzige erstrebenswerte Ziel der Dogmatik ausgegeben, ,,die Handhabbarkeit des Strafrechts für einen durchschnittlich intelligenten, durchschnittlich problembewussten, durchschnittlich pflichtbewussten, durchschnittlich routiniertenJuristen" zu gewahrleisten. Dieser Gruppe gegenüber habe die Dogmatik ihre Aufgabe erfüllt, wenn die routinemafüge Anwendung dogmatischer Formeln und systematischer Kategorien mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem akzeptablen Ergebnis führe 78. Dogmatik ist demnach Didaktik und nichts weiter 79. Es kommt hinzu, daJ3ein strenges Systemdenken nach kantischem Vorbild sich nur mühsam in die Selbstverstandigungsdiskurse heutiger westlicher Gesellschaften einfügt 80. Die ihm eigentümliche hierarchische Struktur muJ3 auf 76 An diesen Unterschied erinnern hingegen Frisch, Straftat, S. 187 f.; Jakobs, Strafrecht, S. 104 f., 134 f.; Lesch, Verbrechensbegriff, S. 224 f.; Lippold, Rechtslehre, S. 189 f.; Otto, ZStW 87 (1975), 571 f.; Puppe, FS Otto, S. 402; Schild, Merkmale, S. 80 f.; ders., GA 1999, 118; Stttckenberg, Vorstudien, S. 207; Stürner,JZ 2012, 11 f.; Würtenberger, Grundlagenforschung, S. 7; Zabel, Schuldtypisierung, S. 236 f., 241. Vgl. ferner Engisch, FS Welzel, S. 376. 77 Treffend Kindhduser, ZStW 121 (2009), 959. - Die ,,Simplifizierung und Vulgarisierung des Strafrechts in einem Teil der von den Studierenden bevorzugten Ausbildungsliteratur'' bekl_agtauch Weigend, Strafrecht, S. 63; ebenso Rotsch, ZIS 2008, 7; Zaczyk, FS Puppe, S. 316. W1e Burkhardt (Strafrechtsdogmatik, S. 151) treffend bemerkt, sind Publikations- und Vertriebsinteressen hier eine unheilige Allianz eingegangen. - Aus der Warte des óffentlichrechtlers ebenso Würtenberger, Grundlagenforschung, S. 12; aus der Perspektive des Zivilrechts Stiirner, JZ 2012, 15. 78 Schulz, Strafrcchtsdogmatik, S. 146 f. - So erblickt kein Geringerer alsjescheck (ZStW 98 [1986], 5) den Sinn des Verbrcchensbegriffs darin, ,,die strafbare Handlung [... ] mittels formaler Kategorien so aufzugliedern, daG der Richter den Einzelfall in die allgemeinen Merkmalc der Strafbarkeit einordnen und dadurch juristisch zuverlassig erfassen kann". 79 Für die Preisgabe des Wissenschaftsanspruchs der Dogmatik und die Rückkehr zu ihrem alten Selbstverstandnis als Kunstlehre Henke, JZ 1987, 686 ff.; Kiesow, JZ 2010, 591; Mastronardi, Theorie, S. 39; Simon, Es ist, S. 93 f.; tcndenziell auchHassemer, Selbstvcrstandnis, S. 7; Wieacker, FS Gadamer, Bd. II, S. 333. . 80 Gloy (Philosophie, S. 27)_konstatiert, noch niemals in der Geschichte der Philosophie se1 der Affront gegen Systemat1k so vehement gewesen wie in der Gegenwart. Wer heute einer philosophischen Systembildung das Wort redet, gibt sich nach der Einschatzung Edels (Systemform, S. 43) ,,in den Augen vieler, ja vielleicht sogar einer Mehrzahl der Fachvertreter der Lacherlichkeit preis". Nach dem heute vorherrschenden Selbstverstandnis ihrer professionellen Vertreter sei Philosophie ,,keine Sache mehr der zur Einheit zwingenden Vernunft, sondern der Details und der zwischen ihnen abwagenden Urteilskraft" (so das kritische Resümee Brandts, D'Artagnon, S. 249).

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ein im Glauben an die alleinige Heilswirksamkeit eines demokratischen Ega81 litarismus sozialisiertes Urteilsvermogen irritierend wirken . Vor allem aber scheint angesichts der enormen Vermehrung des Wissens sowie der Pluralisierung von Lebensfonnen und Weltentwürfen die der Systemidee zugrundeliegende Annahme der ,,Affinitat des Mannigfaltigen" 82- sei es auch nur auf einem kulturellen Teilgebiet - atavistisch und, mit Nietzsche gesprochen, geradezu ,,eine Form der Unmoralitat" 83geworden zu sein. Derartige Bedenken erhebt keineswegs nur die sich in steilen Alteritatsthesen ergehende postmoderne Philosophie 84. Auch von unverdachtiger juristischer Seite wird geltend gemacht, daJ3das Ideal logischer Systematik und Vollstandigkeit dem Zeitalter der groJ3en Kodifikationen verhaftet sei 85. Diese Epoche aber sei unwiederbringlich vorbei. Unter den Bedingungen moderner Gesetzgebung - auf die Bewaltigung punktueller Probleme zugeschnitten, unter dem Druck vielfaltiger politischer Kompromisse zustande gekommen und stets der Revision aufgrund veranderter Mehrheitsverhaltnisse gewartig 86- sei ein Systemdenken, welches ,,das Ganze der Gerechtigkeit im Hinblick auf eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Lebens in einer Summe rationaler Prinzipien zu erfassen" suche 87, ,,stets ein inhaltlich zu weit gehendes Unterfangen der ,Vernunft"'88 und jedenfalls nicht mehr gegenstandsadaquat 89. So entziehe sich das Óff entliche Recht schon wegen der Vielzahl der rechtserzeugenden Akteure, denen, zumal in einer foderalen Verfassungsordnung, eigenstandige Gestaltungsspielraume bleiben müfüen, einer inhaltlich gehaltvollen Systematisierung90. 8! Ahnlich Brandt, D'Artagnon, S. 243 f. - Vesting (Rechtstheorie, Rn. 96) sieht im Systemdenken denn auch prompt die Nachwirkung einer ,,alteuropaischen Semantik". Im amerikanischen Recht wird der Systembegriff gemieden, weil er - wie Lepsius (Staatsrechtslehre, S. 326 f.) ausführt - dort ,,untcr dem !atenten Verdacht [steht], anti-individualistischem, unfreiheitlichem Denken Vorschub zu leisten". 82 So P. Konig, Selbsterkenntnis, S. 45. 83 Nietzsche, Fragmente 1887-1889, KSA Bd. 13, S. 189. 84 Überzeugendc Kritik an diesen Positionen übt Gloy, Philosophie, S. 28 ff. 85 Baufeld, Rechtstheorie 37 (2006), 173 f. 86 Lepsius, Themen, S. 43; ders., Relationen, S. 29 f.; Baufeld, Rechtstheorie 37 (2006), 173 f.; Fiolka, Rechtsgut, S. 99; Grimm, Rechtswissenschaft, S. 10; Lippold, Rechtslehre, S. 34; Schmidt-Afimann, JZ 1995, 2. 87 Coing, Geschichte, S. 28. 88 So die vielzitierte Forme! von Emge, Einführung, S. 378 . 89 In dicsem Sinne etwa J. Braun, Rechtswissenschaft, S. 360 H. (bedauernd); Vesting, Rechtstheorie, Rn. 296; Kiesow, JZ 2010, 590 (affirmativ); Baufeld, Rechtstheorie 37 (2006), 173 f.; Grimm, Rechtswissenschaft, S.10; Weber-Grellet, Rcchtstheorie 34 (2003), 185 f. (de-

skriptiv). 90 Lepsius, Thcmen, S. 36 ff.; ders., Relationen, S. 26 f.; Poscher, Kathedrale, S. 110 ff.; in diesem Sinne bereits Lerche, VVDStRL 21 (1964), 92. - Dies gilt crst recht für das Volkerrecht: Hillgrnber, Volkerrecht, S. 125. -Die Rechtsprechung des Bundcsverfassungsgerichts, die sich nach der Analyse Schlinks (JZ 2007, 160 ff.) zusehends der Selbstbindung durch eine

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,,Das Kompromisshafte, der Pragmatismus, die inhaltliche Kontingenz und die Beladenheit mit politischen Konflikten übertragen sich zwangslaufig auch auf das Strafrecht" 91, was dort ebenfalls zu einer ,,Praxis punktueller Normierung"92 mit zahlreichen, interpretativ kaum mehr auflosbaren Ungereimtheiten führt. Es ware jedoch voreilig, aus diesem Befund zu schlieBen, daB damit im Bereich des Strafrechts ein ambitionierter Systembegriff insgesamt obsolet geworden ware. Es gehort zwar zu den Merkmalen eines philosophisch informierten Systemdenkens, die Grenzen seiner eigenen Begründungskraft mitzureflektieren93 und das Eigenrecht des Nur-Positiven anzuerkennen 94. Namentlich die Allgemeine Verbrechenslehre aber hat sich von jeher ,,nicht auf das in einem bestimmten Land gerade jetzt Anwendbare [beschrankt]" begriffen 95: Mit Fragen von ,,weltumspannende[r] Bedeutung" befaBt96, will sie nicht bloBe ,,Gesetzeskunde" 97sein, die ,,sich anden positiven Einzelheiten sattigt" 98. Ihr Anspruch geht nach einem Wort Berners vielmehr dahin, den Begriff der Sache namhaft zu machen 99• Die (ohnehin auBerst sparlichen) Regelungen des Gesetzes werden in diesem Bereich im wesentlichen als Festschreibung des von der Wissenschaft Erarbeiteten und kaum einmal als eigenstandiger Ausgangspunkt hermeneutischer Bemühungen angesehen 100 ; gerade deshalb gilt sie traditionell

als die ,,Seligkeit der Kriminalisten" 1º1. Radbruchs Bemerkung über das angemessene Verhaltnis von Rechtsetzung und Rechtswissenschaft - ,,daB zum mindesten ebensosehr wie das Gesetz die Rechtswissenschaft umgekehrt die Rechtswissenschaft das Gesetz bestimmt" 1º2 - gilt daher für die Allgemeine Verbrechenslehre in besonderem MaBe103. Nicht ob das Strafrecht, sondern ob die Allgemeine Verbrechenslehre einem anspruchsvollen Systemanspruch unterstellt werden soll, ist deshalb vorliegend die Frage. Der Preis, der für die Verabschiedung eines solchen Anspruches gezahlt werden müfüe, ist nicht gering. In den Worten des Münchener Philosophen Dieter Henrich begünstigt die Diskreditierung groBer Theorieentwürfe und synthetisierender Ausgriffe Tendenzen, die ,,zu einer Aufspaltung führen, und zwar zwischen hochprofessioneller Feinmechanik bei der Bearbeitung von abgespaltenen Problemzügen auf der einen Seite und zu gleichfalls regionalisierten essayistischen Versuchen zu Themen von offenkundiger Alltagsbedeutung auf der anderen" 1º4. Wie der Berliner Philosoph Volker Gerhardt dargelegt hat, sucht das System demgegenüber ,,nach einer disziplinierten Selbststeigerung der besten menschlichen Krafte" 105. Einerseits entfache und entfalte das systematische Denken die Antriebsenergien des menschlichen Wissens. ,,In der damit jeweils gesuchten Ordnung liegt die methodologische Herausforderung, weiterzugehen, tiefer anzusetzen und Lücken zu füllen - Lücken, die überhaupt erst im systematischen Vorgriff erkennbar werden." 1º6 Andererseits gebe die Dynamik systematischen Denkens diesem nicht nur die Ziele, sondern auch den Rhythmus vor: ,,Der bereits ihre Fragen antreibende Impuls hat in der Ordnung des Denkens seinen Takt und sein MaB. Das System motiviert und reguliert." 107Ein Modus des Denkens, der derartige Vorzüge aufweist, sollte nicht voreilig preisgegeben werden. Daher macht die vorliegende Neuvermessung der Allgemeinen Verbrechenslehre sich die in solcher Scharfe letztmalig von den Neukantianern formulierte Überzeugung zu eigen, daB in diesem Rechtsbereich erst ein einheitlicher Systemgedanke das juristische Denken zum

systematisch verfahrende Dogmatik entzieht und cinen kasuistischen Stil annimmt, tut das Ihrige zur Beschleunigung dieses Prozesses. Zahlrciche Vertreter des offentlichen Rechts versuchen deshalb seit einiger Zeit, ihre Wissenschaftlichkeit anders als durch die Berufung auf einen anspruchsvollen Systembegriff zu begründen; zum aktuellen Diskussionsstand v. Arnauld, Wissenschaft, S. 65 ff.; Augsberg, Methodendiskussion, S. 145 ff.; Funke, Óffentliches Recht, S. 1 ff.;Jestaedt, ,,Óffentliches Recht", S. 241 ff.; dens., Wissenschaft, S. 17 ff.; Lepsius, Themen, S. 1 ff.; Mollers, Vorüberlegungen, S. 151 ff. 91 Garditz, Staat 49 (2010), 356. 92 Baufeld, Rechtstheorie 37 (2006), 174. 93 Fulda!Stolzenberg, Einleitung, S. 1, 4.; v. Wolff-Metternich, System, S. 372. 94 Naher dazu unten S. 45 ff. 95 Paradigmatisch Abegg, Lehrbuch, S. 3 f. 96 Binding, Lehrbuch, S. l. - Der supranationale Charakter der Allgemeinen Verbrechenslehre wird auch im heutigen Schrifttum betont, und zwar von Anhangern des Finalismus ebenso wie von Vertretern zweckrationaler Strafrechtskonzeptionen (vgl. einerseits Hirsch, ZStW 116 [2004], 840 ff.; dens., FS Koln, S. 417;Armin Kaufmann, GS Tjong, S. l00f.; andererseits Roxin, Strafrechtswissenschaft, S. 380; mit Einschrankungen auch Helmert, Straftatbegriff, 5..279 f.; Silva-Sánchez, Expansion, S. 48 ff. sowie Kiihl, ZStW 109 [1997], 787, 805). Vor einer Uberschatzung der international vorhandenen Gemeinsamkeiten warnt demgegenüber Perron, ZStW 109 (1997), 300f. - Tiedemann (FS Lenckner, S.426) meint sogar, die Fragen des Allgemeinen Teils seien ,,weithin Gegenstand politischer Wertcntscheidungen [... ], die ein souveranes Parlament weitgehend unabhangig (auch: von der ,Natur der Sache') gestalten kann". 97 Diesen Ausdruck gebrauchen sowohl Berner, Lehrbuch 5 , S. 5 als auch Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 52. - Neuerdings verwendet ihn Stiibinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 58. 98 Berner, LehrbuchS, S. V. 99 Berner, Lehrbuch5, S. V. 100 Frisch, Wesenszüge, S. 162; ders., Bedeutung, S. 182; ders., FS Jung, S. 212; Armin Kauf-

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mann, GS Tjong, S. 103; Robles, ZIS 2010, 359 f.; ahnlich Schmidhauser, AT 1/3; Kühl, ZStW 109 (1997), 805. 101 Sauer, Grundlagen, S. 204. 102 Radbruch, Rechtsphilosophie II, S. 194.- Naher zur Bedeutung der Dogmatik für eine verantwortungsbewullte Gesetzgebung Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 36 f.; Maiwald, Dogmatik, S. 125 ff.; Meyer-Goflner, ZRP 2000, 345; Starck, Bedeutung, S. 376 H.; Vogel, l. FS Roxin, S. 115ff. 103 Ebenso -wenngleich mit kritischem Unterton -Naucke, Grundlinien, S. 13. 104 Henrich, Philosophie, S. 130 f. - Ebenso H.-D. Klein, Studien, S. 4. 105 Gerhardt, Selbstüberschreitung, S. 261. -Ahnlich Fulda!Stolzenberg, Einleitung, S. l. 106 Gerhardt, Selbstüberschreitung, S. 261. 107 Gerhardt, Selbstüberschreitung, S. 261.

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wissenschaftlichen, d.h. allgemeingültig begründeten mache 1º8 und insofern ,,unerlafüiche Bedingung wissenschaftlicher Arbeit" sci1º9 • Interesse für ein solches Untcrnehmen darf freilich nur erwarten, wer nachzuweisen vermag, dail es ihm nicht nur darum geht, ,,schnell berühmt und als ein ausgezeichneter Meister angestaunt [zu] werden" 11º, sondern dail die Allgemeine Verbrechcnslehre in ihrem gegenwartigen Zustand Mangel aufweist, die so gewichtig sind, dail sie sich nicht anders als durch einen Neubau des verbrechenstheoretischen Gebaudes - wenn auch zu groilen Teilen unter Verwendung des bereits vorhandenen Bauzeugs - behcbcn lassen 111.Dies ist in der Tat der Fa]!. Die Aufgabe der Allgemeinen Verbrechcnslehre besteht zum einen clarín, als ,,Rezeptionsreflexionsdisziplin" 112 über eine Art ,,Schnittstellcnmanagement"113die Beziehungen der Strafrcchtsdogmatik zu den Wissensbestanden, Argumentationsstandards und Legitimationsanforderungen der benachbarten Wissenschaften - insbesondere der Philosophic und den Gesellschaftswisscnschaften - zu regulieren 114. Zum anderen obliegt es der Allgemeinen Verbrechenslehre, die kategorialen Rahmenbedingungen zu reflektieren, von denen die dogmatische Alltagsarbeit, haufig unbewufü, Gebrauch macht, ohne sie begrifflich einholen zu konnen oder auch nur zu wollen 115 • Beide Aufgaben erfüllt die heute herrschende Version der Allgemeinen Verbrechenslehre nur unzureichend.

Erstens vermag sie zahlreiche bedeutsame Entwicklungen innerhalb der ncueren Dogmatik nicht angemessen zu erfassen. Einige der ihr daraus erwachsenden inneren Widersprüche werden in den folgenden Kapiteln dargelegt. Zweitens ist die heutc für mailgebend gehaltene Anordnung der verbrechcnstheoretischen Grundkategorien nicht mehr alpari mit dem mittlerweile erreichten Stand der Strafthcorie. Zu den zentralen Errungenschaften der jüngeren Strafrechtswissenschaft gehort die Einsicht, dail der Verbrechensbegriff strafzweckorientiert zu konzipieren ist 116. Auf das überkommene Verbrechensverstandnis hat diese Erkenntnis jedoch bislang nur marginale Auswirkungen gehabt 117. Unbeirrt halt die herrschende Strafrechtsdogmatik an Positionen fest, die im spaten 19. und frühen 20.Jahrhundert unter Pramissen entwickelt worden sind, die - ,,ausgediente Reliquien erloschener Theorien" 118- langst als obsolet gelten119.Seinem materiellcn Gehalt nach ist das Verbrcchen danach eine Rechtsgutverletzung, und in formeller Hinsicht gliedert es sich in die Kategorien der Tatbestandsmafügkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld. Zudem gehen die meisten Vertreter strafzweckorientierter Verbrechenslehren von einer priiventionstheoretischen Strafbegründung aus. Die Renaissance der Vergeltungstheorie ist in der Allgemeinen Vcrbrechenslehre noch nicht angemessen verarbeitet worden. Diese Befunde münden in ein einheitliches Fazit: Die Allgemeine Verbrechenslehre verfügt derzeit nicht über einen adaquaten Begriff ihres Gegenstandes. Eine Allgemeine Verbrechenslehre aber, die weder dem Orientierungsbedürfnis der Rechtsdogmatik noch den Begründungsstandards ihrer Nachbarwissenschaften gerecht wird, ist nach dem harten, aber treffenden Urteil Kohlrauschs ,,nicht nur ein wertloses Dckorationsstück geworden, sondern sie ist falsch " 120.

108 JJinder,Philosophie, S. 839 ff.; Mittasch, Auswirkungen, S. 1 f.; Stammler, Wesen, S. 34; Tesar, Uberwindung, S. 2, 4, 66; Erik Wolf, Schuldlehre, S. 1 f. 109 Erik Wolf, Schuldlehre, S. 1 f. - Ebenso jüngst Bock, Rechtstheorie 36 (2005), 461, 477. - Für Binder (Philosophie, S. 836) ist es sogar die einzige Aufgabe der Rechtsphilosophic, ,,Wissenschaftslehre des Rechts zu sein, zu zeigen, wie die Objektivitat des Rechts, wie cine Wissenschaft von ihm méiglich sei". 110 So der Vorwurf]ordans (NACrim 11 [1830], 213) gegen die Systembaumeister sciner Zeit. 111 Zutrcffend Greco, GA 2009, 647. 112 Der Begriff stammt von]estaedt, Wissenschaft, S. 26. 113 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 16 (dort bezogen auf die Aufgabe der Rechtstheorie). 114 In der Terminologie Jestaedts (Wissenschaft, S. 26) stcllt die Allgemeine Verbrechenslehre insofern eine endogene Rechtswissenschafts-Thcorie dar. 115 Im wesentlichen wie hier HK-GS-Rossner, Vorbem. zu § 1 Rn.44; Kindhauser, ZStW 121 (2009), 961; Zabel, Schuldtypisierung, S. 21, 25. - Da/) jeder Rechtsanwender bei seiner Tatigkeit einer Theorie folgt, mag diese auch rudimentar sein und oft unbewuGt bleiben, ist innerhalb der heutigen Methodenlehre weitgehend anerkannt (vgl. nur Canaris, JZ 1993, 390 f.; Drath, Rechtsdogmatik, S. 200 f.; Duttge, Einflüsse, S. 167;Greco, Lebendiges, S. 204 f.; Hornle, FS HU Berlín, S. 1269; ]estaedt, Perspektiven, S. 187; Marcic, Rechtsphilosophie, S.41; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S.209; Osterkamp, Gerechtigkeit, S.12; Stübinger, Idealisiertes Strafrccht, S. 45, 50; aus der alteren Literatur Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S. 5; Stammler, Theorie, S. 16). Aber auch in dogmatische Einzelanalysen gehen alle méiglichen weiter ausgreifenden Theoriesegmente ein. Ihnen gegenüber kommt der Allgemeinen Verbrechenslehre im Rahmen der intradisziplinaren Arbeitsteilung einerseits die Rolle des kritischen Aufklarers (dazu eindringlich Stammler, aaO) und andererseits die Aufgabe des Verséihners zu, der Einheit herstellt, wo die Spezialisten nur Besonderheiten wahrzunehmen vermogen.

116 Grundlegend Noll, ZStW 77 (1965), 2 f.; Schmidhauser, AT, 6/2; ders., GS Radbruch, S. 270, 276 ff.; ders., JuS 1987, 374;Jakobs, Schuld, S. 8 ff.; Roxin, FS Henkcl, S. 181 ff.; ders., FS Bockelmann, S. 279 ff. - Ebenso MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 27; Bloy, Beteiligungsform, S. 23 f., 27, 40, 42; Derksen, Handeln, S. 172 ff.; Frisch, Strafrechtsdogmatik, S. 162; Greco, ZStW 117 (2005), 535; Hornle, JZ 2006, 957; Hoerster, Strafe, S. 106; Lesch, Verbrechensbegriff, S. 15 f., 184 f.; Nitze, Bedcutung, S. 65 f.; Otto, ZStW 87 (1975), 539; Robles, ZIS 2010, 362 f.; Stuckenberg, Vorstudien, S. 485; Wolter, Zurechnung, S. 21.-Aus der alteren Literatur: Radbruch, FG Frank, Bd. I, S. 160; Exner, FS Kohlrausch, S. 24; Mittasch, Auswirkungen, S. 32 f. - A. A. LK-T Walter, Vor § 13 Rn. 7; Haas, Kausalitat, S. 45 f. 117 Treffend bemerkt Hornle, JZ 2006, 956 f.: ,,Überlegungen zur Straftheorie werden in Lehrbüchern meist als eine Art Besinnungsaufsatz an den Anfang gestellt. In den folgenden strafrechtsdogmatischen Kapiteln werden Verbindungen zur Strafthcorie übcrhaupt nicht oder nur selten hergestellt." - Ebenso Burkhardt, Strafrechtsdogmatik, S. 132 ff., 153; Lüderssen, l. FS Roxin, S. 480; Stübinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 289. 118 Stuckenberg, Vorstudien, S. 48. 119 Ebenso Naucke, Grundlinien, S. 29ff. 12º Kohlrausch, Sollen, S. 7. - Erschwerend kommt hinzu, daG ,,gerade im strafrechtlichen Grundlagenbereich eine auffallende Interesselosigkeit an einer vertieften Erforschung gegnerischer Konzepte" herrscht (Avrigeanu, Ambivalenz, S. 20).

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Einleitttng

Einleitung

Angesichts dieser Sachlage ist es der Strafrechtsdogmatik zwar nicht zu verargen, wenn sie ,,die Theorien satt bekommt" 121 und sich statt dessen, vorwiegend in Anlehnung anden jeweiligen Stand der Rechtsprechung 122, auf ,,eine zufriedene Bebauung lediglich spezieller Gebietsteile" 123 verlegt. Wie jede vermeintlich entlastende Magnahme hat jedoch auch diese ihre belastende Kehrseite: Eine solche hochsubtile ,,Nachzeichnungsdogmatik" 124 ist in ihrer ,,geradezu andachtige[n] Haltung gegenüber dem positiven Gesetz" 125 schlechter für den internationalen Wettbewerb der Strafrechtssysteme gerüstet, als viele der hiesigen Strafrechtswissenschaftler, erwarmt von der Abendsonne früherer Ruhmestage, einzugestehen bereit sind 126• Zweifelhaft ist auch, ob sie die konzeptionellen Ressourcen zu mobilisieren vermag, derer es bedarf, um sich eines Gesetzgebers zu erwehren, der sich an eine ,,fast demütigende Behandlung" der Strafrechtsdogmatik gewohnt hat 127 und in seinem ,,Übermut" 128 darangeht, das Strafrecht zu einem lnstrument der Gefahrenabwehr umzubauen 129 bzw. es - wie es auf europaischer Ebene zunehmend der Brauch ist - in theoriefreiem Expansions-

drang 130 als Mittel zur Forcierung seiner wirtschaftspolitischen Lenkungsziele einzusetzen 131• Wie soll es weitergehen? Der englische Rechtswissenschaftler Brian Cheffins hat vor einigen Jahren fünf mogliche Deutungsmuster rechtswissenschaftlicher Forschung in Augenschein genommen 132 . Deren Spannbreite reicht von dem Modell einer fortwahrenden Wiederkehr immergleicher Fragestellungen über die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschrittsprozesses bis hin zu der These der in unregelmafügen Abstanden erfolgenden Verwerfung eines Erklarungsmodells durch ein anderes, die man in den Naturwissenschaften als Paradigmenwechsel zu bezeichnen pflegt. Die deutsche Strafrechtsdogmatik kennt Beispiele für jedes dieser Deutungsmuster. So variiert die Strafzweckdiskussion stets aufs neue die bekannten Legitimationsmodelle; Beispiele einer kontinuierlichen Fortentwicklung und Verbesserung der Rechtsanwendung finden sich insbesondere auf der Ebene der vergleichsweise unspektakularen Alltagsfragen in groger Zahl; schliefüich lafü sich ein solch grundstürzender Kategorienwechsel, wie ihn der Übergang vom Hegelianismus zum Naturalismus nach sich zog, mit Fug und Recht als Paradigmenwechsel bezeichnen. Steht heute ein erneuter Paradigmenwechsel an? Nein. Dieser ist bereits vollzogen worden mit dem Übergang von einer ontologisierenden zu einer strafzweckorientierten Verbrechenslehre 133 • Es geht lediglich darum, dieses Paradigma vollstandig zu entfalten. Ob dieses Unternehmen der Mühe wert ist, mug die nachfolgende Untersuchung zeigen. Jedenfalls ist ihr Ziel ein durchaus beschranktes: Anlrnüpfend andas Wissenschafts- und Systemverstandnis Kants und Feuerbachs sucht sie die verlorengegangene Paritat zwischen Straftheorie und Allgemeiner Verbrechenslehre wiederherzustellen und damit entsprechend einem von Frisch bereits vor mehreren Jahrzehnten formulierten Desiderat ,,ein Bild von der

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121 Hardwig, ZStW 78 (1966), 29. - Zur Illustration sei auf die AuGerung eines japanischen Beobachters der deutschen Strafrechtsdogmatik verwiesen (Ida, Ergebnisse, S. 149): ,,Die Systemdiskussion, welche die intellektuellen Ressourcen reichlich verbraucht und trotzdem ohne Folgen bleibt, ahnelt den Luxusartikeln, die unsere Konsumgesellschaft in umwe!tbedrohcnder Weise unaufhorlich produziert. Die Verlagerung des Forschungsschwerpunktes durch Selbstdisziplin der Wissenschaftler ist dringend notig." 122 Autoritat fungiert hier als ,,funktionales Aquivalent für Methode" (so Schlink, Rechtstheorie 7 [1976],94 in bezug auf den Bundesverfassungsgerichtspositivismus der Verfassungsrechtslehre) - verstandlich für eine pragmatisch verfahrende ,,Entscheidungsvorbereitungswissenschaft" (v. Arnauld, Wissenschaft, S. 87), aber kein Ruhmesblatt für eine (wenn der Ausdruck gestattet ist) wissenschaftliche Wissenschaft. 123 Liepmann, Einleitung, S. 1. 124 Naucke, GA 1998, 271. 125 Stiibinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 57. 126 Reprasentativ für diese Haltung der Selbstzufriedenheit: Schünemann, 1. FS Roxin, S. 12. - Der hiesigen Skepsis nahestehend Fischer, FS Hamm, S. 80; Perron, FS Lenckner, S. 228 f.; Rotsch, ZIS 2008, 2; ders., GS Eckert, S. 717 ff.; Silva-Sánchez, Expansion, S. 40; Tiedemann, FS Lenckner, S. 433; Vogel,JZ 2012, 26 ff.; ahnlich mit Blick auf die deutsche Rechtsdogmatik insgesamt jüngst v. Bogdandy, JZ 2011, 4 ff. - DaG für den Bedeutungsverlust der deutschen Dogmatik daneben auch harte machtpolitische Fakten verantwortlich sind (ciaran erinnernArzt, ZStW 111 [1999], 768ff.; v. Bogdandy,JZ 2011, 3; Stübinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 151; Vogel, GA 2002, 521 f.), ist selbstvcrstandlich richtig, anden aber nichts daran, daG ein Teil der Ursachen hausgemacht ist. 127 Fischer, FS Hamm, S. 76. - Dies wird allenthalben beklagt (etwa von Arzt, ZStW 111 [1999], 758; Hassemer, Selbstverstandnis, S. 36; Naucke, GA 1998, 267; Stiibinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 52; dems., Strafrecht, S. 141, 152, 161; Vogel, 1. FS Roxin, S. 106 f.; Wrage, Grenzen, S. 217f.), abcr nur selten zum AnlaG einer grundsatzlichen Selbstkritik genommen (vgl. abcr Arzt aaO, 764 ff.; Fiolka, Rechtsgut, S. 88 ff.; Frisch, Bedeutung, S. 187; Naucke, aaO, 266 ff.; Stiibinger, aaO, S. 159 ff.). 128 Emge, Philosophie, S. 59. 129 Analysen dieses Prozesses finden sich etwa bei Hassemer, Selbstverstandnis, S. 244 ff. und Morguet, Feindstrafrecht, S. 93 ff. -Für ein aktuelles Beispiel: Pawlik, Terrorist, S. 25 ff.

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Dazu eindringlich Frisch, GA 2009, 403 ff.; pragnant auch Avrigeanu, Ambivalenz,

s.186 f. 131 Kritisch dazu etwa Achenbach, ZStW 119 (2007), 798; P.-A. Albrecht/Braum, KritV 2001, 347; Bramn, wistra, 2006, 125; Hefendehl, ZStW 119 (2007), 831 f.-Einen neuen Schub hat diese Tcndenz durch die Rechtsprechung des EuGH erhalten, die es der Europaischen Gemeinschaft gestattct, mittels einer Richtlinie die Mitgliedsstaaten zur Schaffung von Straftatbestanden anzuweisen, wenn dies als Mittel zur Erreichung wichtiger Gemeinschaftsziele dazu soll zum Beispiel auch die ,,Verbesserung der Sicherheit des Seeverkehrs" gehoren (vgl. EuGH JZ 2008, 248) - notwendig sein sollte (grundlegend EuGH JZ 2006, 307 ff.). An dieser Rechtsprechung wird zu Recht kritisiert, ihr lage ein rein instrumentelles Verstandnis des Strafrechts zugrunde, das einer starken Expansion Vorschub leiste (Kubiciel, NStZ 2007, 137 ff.; kritisch auch Schiinemann, ZIS 2007, 535 f. und Weigend, FS Sootak, S. 249 f.). Heger, JZ 2006, 313 wirft dem EuGH vor, er negiere die Eigenheiten des Kriminalstrafrechts als Ausdruck nationaler Rechtsüberzeugungen und -traditionen; vor daraus erwachsenden Akzeptanzproblemen warnt Frisch, GA 2007, 264 ff. 132 Cheffins, Cambridge L. J. 63 (2004), 458 ff. 133 Vgl. nur Jakobs' programmatische Bemerkungen im Vorwort zur crsten Auflage scines Lehrbuchs (Jakobs, AT 2 , S. VII).

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Einleit1mg

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Straftat zu entwerfen, in dem Stoff und Form nicht dauernd gegeneinanderlaufcn, sondern die Form das artikuliert, was Strafkonzept und Legitimation des Strafeinsatzes fordern" 134. Zwar ist der ,,sicherste Prüfstein für die Tauglichkeit einer Methode [... ] der Umstand, ob durch sie die Einzelforschung gefordert wird" 135. Ob eine strafrechtswissenschaftliche Innovation sich durchsetzt oder auch nur ernsthaft geprüft wird, hangt freilich nicht allein von ihrer Erklarungskraft und Richtigkeit ab. ,,Widerstand erwachst ihr auch aus purer Veranderungsunlust, und sie hat es regelmafüg um so schwerer, je mehr sie zum Umdenken auffordert." 136In der Tat wird ein neuartiger verbrechenstheoretischer Ansatz - man denke nur anden Finalismus oder den Funktionalismus- ,,nicht selten auch den Inhalt [des Allgemeinen Teils, M. P.] theils in neuem Lichte erscheinen lassen, theils zu Konsequenzen entwickeln, die hergebrachten Annahmen widersprechen mogen" 137. Ein ,,durch systematisches Denken gerechtfertigtes Resultar" ist nun einmal ,,ein wesentlich anderes [... ], als ein empirisch aufgenommenes oder aus hin- und herfahrenden Reflexionen abstrahirtes" 138.Dennoch sei versichert, daB die hiesige Konzeption, mag sie auf den ersten Blick auch in manchen Punkten ungewohnt und schon deshalb schwierig erscheinen 139,im Ergebnis einfacher ist als die herkommliche Sichtweise, weil sie die axiologischen Verknüpfungen zwischen den Teilinstituten der Allgemeinen Verbrechenslehre konsequenter herausarbeitet. Dabei bemüht sie sich nach Kraften, nicht der ,,Unsitte der wissenschaftlichen Parteiführer" zu erliegen, ,,sich eine Privatarmee von Wortungeheuern zu halten"140,sondern so weit wie moglich der vertrauten Terminologie ihr Recht zu lassen. Zudem sind haufig, und so auch im Falle der hiesigen Konzeption, die vermeintlich neuen Gedanken nichts anderes als die zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen alten. Wer mit v. Kirchmanns berühmter Rede die Vergangenheit für tot und allein die Gegenwart für berechtigt erklart 141 , beweist damit weniger seine verbrechenstheoretische Modernitat als vielmehr eine einigermaBen naive Selbstüberschatzung 142. Zwar muB sich das Strafrecht selbstverstandlich ,,den Bedürfnissen des Lebens, die sich mit dem Wechsel der Zeiten verandern, anpassen" 143.Weil jede Zeit ihren eigenen Verstandnishorizont hat,

benotigt jede Zeit auch ihre eigenen juristischen Theorien 144;es ist gerade Aufgabe und Kennzeichen der Wissenschaft, das Recht mit dem Geist ihrer Zeit zu verbinden und es aus diesem Geist zu legitimieren oder zu kritisieren 145.Nicht von ungefahr bietet das strafrechtliche Denken zahlreiche Beispiele dafür, wie ganze Traditionsstrange, ohne im strengen Sinne widerlegt worden zu sein, abbrachen und in die von Kersting beschworene ,,Vorholle der ErwahnungsfuBnoten"146 verbannt wurden, weil sie dem veranderten geistigen Klima nicht standhielten 147. Dessen ungeachtet ist der zu bearbeitende Stoff aber namentlich in seinen der Allgemeinen Verbrechenslehre unterfallenden Tiefenstrukturen in erheblichem Umfang von zurückliegenden Theoriebemühungen gepragt148. ,,Unser Überlegen geht nicht auf eigenes Überlegen, unser Wünschen nicht auf eigenes Wünschen, unser Wollen nicht auf eigenes Wollen zurück; es beginnt und endet mit einer Aneignung und Abwandlung dessen, worum es anderen zu einer anderen Zeit ging." 149Weil ,,alles Gewordene [... ] vollig nur aus der Geschichte seines Werdens erkannt werden" kann 150,gehort die Prasenz der Residuen früherer Dogmatik in dem Rechtsstoff, um dessen Reformulierung es geht, ,,zu dessen heutiger Realitat" 151. Zudem spricht gerade in einem

134 Frisch, Vorsatz, S. 505 f. - Allerdings sieht Frisch dieses Programm inzwischen als im wesentlichen verwirklicht an (Frisch, Strafrechtsdogmatik, S. 185). 135 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S. 15. 136 Herzberg, JZ 1988, 642 f. 137 Kostlin, Revision, S. 10. 138 Kostlin, Revision, S. 10. 139 Vgl. Welzel, Handlungslehre, S.29. 14º Kantorowicz, Tat, S. 3. 141 v. Kirchmann, Wertlosigkeit, S. 17 f. 142 Hardwig, Zurechnung, S. 240; Sánchez-Ostiz, 2. FS Roxin, S. 375. 143 Allfeld, Bedeutung, S. 5.

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Ernst, Recht, S. 42; Esser, Vorverstandnis, S. 90; Würtenberger, Grundlagenforschung, S. 15 f. - Klassisch Max Weber (Aufsatze, S. 214): ,,Aber irgendwann wcchse!t die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, dcr Weg verliert sich in der Dammerung. Das Licht der groGen Kulturprobleme ist weitergezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln. [... ] Sic zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermiigen." 145 Jakobs, Strafrecht, S. 106, ders., FS Amelung, S. 47. - Dies bedeutet freilich nicht, daG die (Straf-)Rechtswissenschaft jede intellektuelle Mode mitmachen müGte (ebenso Engel, Rechtswissenschaft, S.25; Mollers, Leviathan, S.111; Würtenberger, Grundlagenforschung, S. 21). Wahrend es den Politik- und Sozialwissenschaften obliegt, gesellschaftliche Entwicklungen engmaschig zu beobachten und sie gegebenenfalls thesenartig vorwegzunehmen, ist das Recht ein reaktives gesellschaftliches Medium, und darauf hat die Rechtswissenschaft Ri.icksicht zu nehmen. ,,Das kann es gegebenenfalls angemessen erscheinen lassen, einen bestimmten sozialwissenschaft!ichen Beobachtungstrend schlicht zu ignorieren oder gar in der verziigernden Funktion des Rechts selbst cine positive Funktion zu erkennen." (Mollers, aaO) Zudem weiG man nach dem Hegelschen Bild der Minerva, die erst in der Abenddammerung ihren Flug beginnt, nur mit erheblicher Zeitverziigerung, welche politischen, gcsellschaftlichcn und iikonomischen Veranderungen nachhaltige Wirklichkeitsmachtigkeit entfaltet haben (Würtenberger, Grundlagenforschung, S. 21; ahnlich Troje, Wissenschaftlichkeit, S. 63). Das bekannte Spottwort Kelsens, daG die Rechtswisscnschaft cine ,,dem Zentrum des Geistes entlegene Provinz [sei], die dem Fortschritt nur langsam nachzuhumpeln pflegt" (Kelsen, Reine Rechtslehre 1, S. 4), bringt deshalb zwar den !atenten Minderwertigkeitskomplex ihrer theoretisch interessierten Vertreter auf das Beste zum Ausdruck, ist aber sachlich allenfalls halbrichtig. 146 Kersting, Macht, S. 190. 147 Zu einem Beispiel (Finalismus): Hassemer, Strafrechtswissenschaft, S. 274. 148 Naucke, Grundlinicn, S. 34. 149 So Seel, Theorien, S. 117 mit Blick auf das philosophische Dcnken. 150 Loening, ZStW 3 (1883), 227. 151 Ernst, Recht, S. 42.

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Einleitung

Einleitung

Gebiet wie der Allgemeinen Verbrechenslehre mit seinem weitgehend zeitlosen Problembestand eine Ausgangsvermutung dafür, daB die ,,Denkkraft vergangener Geschlechter" und die ,,Erfahrung verflossener Jahrhundertc und Jahrtausende" dem ,,schwachen Verstande" und der ,,unbedeutende[n] Erfahrung"152 der gegenwartig Lebenden überlegen ist und deshalb, wenn auch nicht unbedingt Zustimmung, so doch jedenfalls Gehor beanspruchen darf 153. Respekt vor der innerfachlichen Überlieferung und Achtsamkeit gegenüber den Forderungen des Tages - dies sind mithin die Pole, zwischen denen sich eine Allgemeine Vcrbrechenslehre zu bewegen hat, die mchr als ,,sozusagen nur das Leben von Eintagsfliegen" 154haben will 155. Eine allgemeine Formel dafür, wie die Allgemeine Verbrechcnslehre die tendenziell gegenlaufigen Anforderungen beider Seiten zum Ausgleich bringen soll, gibt es nicht und kann es nicht geben. Hier endet das Gebiet der strengen Dcnkdisziplin und es beginnt dcr Herrschaftsbereich der Urteilskraft und des Taktes. Ohne gehorige Kenntnis des Überlieferungshintergrundes konnen diese ihr Werk freilich nicht ordnungsgemaB tun. Es ist deshalb bedauerlich, daB die moderne deutsche Strafrechtswissenschaft ,,nicht viel Sinn und Gefühl für (ihre) Geschichte [hat]"156. Um so wichtiger ist es, entgegen der heute verbreiteten Tendenz, die Dogmengeschichte des modernen Strafrechts erst mit Liszt beginnen zu lassen, auch die altere Literatur in den Blick zu nehmen. Einerseits ist namlich nach einer Bemerkung Lofflers nichts besser geeignet, uns von der ,,unheimlichen Macht des geschichtlich Gewordenen", das selbst dann noch fortwirkt, wenn seine Entstehungsvoraussetzungen langst obsolet geworden sind 157, ,,zu befreien, als das Studium der Geschichte selbst" 158. Andererseits hatte die strafrechtliche Diskussion in der ersten Halfte des 19.Jahrhunderts den Vorteil, vor einem weitgehend offenen legislatorischen Horizont operieren zu konnen. Sie nutzte dies, indem sie vielfal-

tige Theorieentwürfe mit einer Unbefangenheit und Rücksichtslosigkeit durchspielte, die spater kaum mehr erreicht wurde. Ungeachtct aller philosophischen und dogmengeschichtlichen Rückversicherungen ist es nicht nur moglich, sondern sogar wahrscheinlich, daB der hier vorgestellte Systementwurf das Niveau der groBen Systeme der Vergangenheit nicht einmal annahernd erreichen kann. Jedes Unternehmen dieser GroBenordnung hat etwas AnmaBendes. Es im Vorgefühl seiner Aussichtslosigkeit gleich sein zu lassen, ware hingegen defatistisch. Nicht als ein rudimentares Lehrbuch versteht sich deshalb die vorliegende Studie, sondern als ein ,,Beitrag zur Begründung eines wissenschaftlichen Systems des Criminal-Rechts" 159. Auch wer mit Berner davon überzeugt ist, daB eine systematische Behandlung der Allgemeinen Verbrechenslehre mit bloBer ,,Kapitelmacherei" nichts zu tun hat 160,kommt freilich, sobald er dieser Überzeugung eine diskursiv nachvollziehbare Gestalt zu verleihen sucht, nicht um die Notwendigkeit herum, Kapitel zu machen. So ist die vorliegende Arbeit denn in drei Kapitel gegliedert. Im 1. Kapitel wird der Zusammenhang von Straftheorie und Verbrechenslehre erlautert, eine freiheitstheoretisch reflektierte Strafbegründung skizziert und der ihr entsprechende Verbrechensbegriff vorgestellt. Ein Verbrechen zu begehen bedeutet danach, die Bürgerpflicht zu verletzen, an der Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes rechtlich verfaflter Freiheitlichleeit mitzuwirken, und die Strafe vergilt einen Bruch dieser Verpflichtung. Eine Allgemeine Verbrechenslehre, die sich der Entfaltung dieses Verbrechensbegriffs widmet, hat zwei groBe Themenkomplexe zu bewaltigen. Zum einen muB sie die Kriterien herausarbeiten, anhand deren sich der Inhalt der Mitwirkungspflicht in eincr konkreten Tatsituation ermitteln lafü. Zum anderen hat sie zu klaren, unter welchen Voraussetzungen das Verhalten des Taters diesem als Ausdruck seiner Pflichtverletzung zuzurechnen ist. Mit diesen Fragen befassen sich das 2. Kapitel und das 3. Kapitel.

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Alle Zitate ausjhering, Geist, Teil 2, Abt. 2, S. 319. Ebenso Hold v. Ferneck, Idee, S. 59 f. sowie jüngst allgemein Würtenberger, Grundlagenforschung, S. 7. -Treffend auch Greco (Lebendiges, S. 201): ,,Letztlich ist die Vernunft, die sich in der wissenschaftlichen Tatigkeit auBert, eine kollektive, die sich im Zusammenspiel der Argumente über Generationen hin langsam entfaltet." 154 So Giinther (Archivf. Krim.-Anthr. 28 [1907], 289) über ,,allzu kühne Reformen, durch die der Zusammenhang mit den geschichtlichen Wurzeln des heimischen Rechts ganz zerrissen wird ". 155 Ebenso Hassemer, Strafrechtswissenschaft, S. 309. 156 Volk, FS Arthur Kaufmann, S. 611. - Vom ,,Verlust der Klassiker" spricht Arzt, GS Armin Kaufmann, S. 863. Eser (SchluBbetrachtungen, S. 447) beklagt, daB man ,,heute oft schon nicht rnehr weiB, was erst vor 30 odcr 40 Jahren geschrieben worden ist". - Die Klage über die Geschichtsvergessenheit der Strafrechtsdogrnatik hat eine lange Tradition; vgl. etwa Loening, ZStW 3 (1883), 234. 157 Dazu treffend Kohlrausch (Irrtum, S. 85): ,,Die Regel bleibt, der Gedanke aber, der sie veranlasst hatte, gerat desto mehr in Vergessenheit, je weniger jenc Forrnulierung einen adaquaten Ausdruck für ihn bildete." 158 Loffler, Schuldforrnen, Vorrede. 153

159 160

Abegg, Systcm, S. XLIII. Berner, Grundlinien, S. 177.

l. Kapitel:

Der Begriff des Verbrechens Feuerbach eréiffnet seine Revision mit der Klage, ,,daE man sich über die letzten Gründe so vieler Lehren, entweder nur oberflachlich, oder, welches man mit mehr Wahrheit sagen kann, gar nicht erklart hat" 1 . Wer sich mit der Absicht tragt, ein System der Verbrechenslehre zu entwerfen, muE sich deshalb als erstes die Frage vorlegen: Wo beginnen? Welches ist der Ausgangspunkt, auf den der Rest des Systems bezogen werden muE? Wie finde ich - um an die kantische Systemdefinition anzuknüpfen - die leitende Idee, der die übrigen ,,mannigfaltigen Erkenntnisse" ihre Einheit verdanken? Diese Frage laEt sich nicht aus der Binnenperspektive der Strafrechtsdogmatik selbst beantworten 2, denn um die Erméiglichungsbedingungen von deren systematischer Einheit geht es ja gerade: ,,Wer ordnen will, muE [... ]den leitenden Gesichtspunkt, auf den hin er ordnet, schon mitbringen." 3 Das Kapitel setzt deshalb ein mit Überlegungen zum Ausgangspunkt strafrechtlicher Theoriebildung. Im ersten Abschnitt wird nachgewiesen, daE das Argernis des Strafzwanges dazu néitigt, zum einen die Strafrechtswissenschaft mit der praktischen Philosophie zu verknüpfen und zum anderen das System der Verbrechenslehre von der Straftheorie her zu entwickeln (A.). Damit ist freilich noch nicht ausgemacht, welche Straftheorie und welches Verbrechensverstandnis in concreto den Vorzug verdienen. Diesem Problem widmen sich die beiden folgenden Abschnitte. Wie dort gezeigt wird, ist die Strafe nicht ein Mittel des praventiven Güterschutzes (B.), sondern sie dient der Vergeltung eines Angriffs auf den bestehenden Zustand rechtlich verfaEter Freiheitlichkeit. Ein Delikt zu begehen heiEt demnach: die Bürgerpflicht zu verletzen, an der Aufrechterhaltung dieses Zustandes mitzuwirken (C.).

1

Feuerbach, Revision, Bd. I, S. XVII. Schuhr, Rechtsdogmatik, S. 78. 3 F. v. Hippel, Gesetzmafügkeit, S. 2. - Dies gilt für jede Einzelwissenschaft; dazu Buttermann, Fiktion, S. 11; Oberer, Praxisgeltung, S. 87. 2

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie l. Das Argernis des Strafzwanges Zu den berühmtesten Lehrstücken aus Kants praktischer Philosophie gehort seine Unterscheidung zwischen Rechtspflichten und Tugendpflichten. Wahrend Tugendpflichten ,,auf dem freien Selbstzwange allein" beruhen, ist im Bereich der Rechtspflichten ,,ein auBerer Zwang moralisch-moglich " 4. In der Eroffnung der Befugnis zur Anwendung physischen Zwanges liegt jene ,,Koalition mit der Macht"5, welche die spezifische Harte der sozialen Institution Recht 6 und zugleich auch die Provokation kennzeichnet, die das Recht für jedes an der Idee der Freiheit orientierte Denken darstellt: Wie sind Zwang und Freiheit auf einen Nenner zu bringen? Kann es freiheitstheoretisch jemals erlaubt, ja geboten sein, einem anderen Menschen Gewalt anzutun? 7 Es ist diese Frage, die nach Kants Auffassung zuvorderst einer überzeugenden Antwort bedarf. Deshalb steht die Erorterung der Voraussetzungen legitimer Zwangsausübung am Beginn der kantischen Rechtsphilosophie 8 • Cum grano salis gilt das Gleiche für die Strafrechtswissenschaft. Ihren Gegenstand bilden nach einer Bemerkung des Grafen v. Soden ,,die Leiden der Menschheit" 9• Die Irritation, derer sie mittels der Systembildung Herr zu werden versucht, besteht allerdings nicht in erster Linie darin, daB bose Taten geschehen; denn daB der Mensch verderbt ist von Jugend an, kann niemand bezweifeln, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Die zentrale Herausforderung für die Strafrechtswissenschaft besteht in den Worten Feuerbachs vielmehr in dem Umstand, daB die Strafe ,,eine Art des Zwangsmittels überhaupt" ist, ,,ein Zwang aber als eine Beschrankung [... ] gegen ein berechtigtes Subjekt nur dann angewendet werden [kann], wenn ein Rechtsgrund zu demselben vorhanden ist; denn sonst ist dieser Zwang widerrechtlich, mithin Beleidigung"10. Für den konservativen preufüschen Staatsdenker Friedrich Julius 4

Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 512. Kaulbach, Studien, S. 200. 6 Pragnant Binding (Normen, Bd. II/1, S. 224): ,,Kcine andere Gebundenheit, die sonst noch den stolzen Namen der Pflicht führt, hat solchcn Urheber und solche Macht." 7 Vgl. Byrd, FG Lampert, S. 142;Fleischacker, Theory, S. 191 f.; Greco, Lcbendiges, S. 191, 203;jakobs, Strafrecht, S. 118;Kohler, Begründung, S. 93; Lindner, RW 2011, 8; Mohr, Pcrson, S. 30; Müller, Willc, S. 61. 8 Grundlegend zu dieser Kant-Deutung: Kersting, Freiheit, S. 127 ff.; zuletzt ders., Kant, s.37 ff. 9 v. Soden, Geist, §4 (5.14). 1 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 31; sachlich übereinstimmend Luden, Handbuch, S. 7. Treffend Bumke (Ausgcstaltung, S. 38): ,,Gewalt ist nur in Form von Macht lcgitimierbar. Legitime Macht gibt es im Rechtsstaat nur nach Mallgabe des Rechts." - Hornle weist zu Recht darauf hin, daG die Existenz des Systems der Strafrechtspflege darübcr hinaus auch der Legitimation gegenüber der Gcmeinschaft der Staatsbürger bedarf, die durch ihre par5

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Stahl ist die Strafe wegen ihres Zwangscharakters überhaupt nur durch gottliche Einsetzung legitimierbar. Als menschliche Verbindung für menschliche Zwecke dürfte der Staat ,,nimmermehr Strafe üben, Güter nehmen, die er selbst nicht ertheilt hat" 11. ,,Nirgend manifestirt sich die Majestat des Staates so sehr als in der Strafe, aber nirgend manifestirt sich auch so sehr, daB seine Macht von oben ertheilt ist, und nicht von Menschen." 12 Die Antwort Stahls ist einer sakularen Strafrechtswissenschaft verschlossen13.Die Scharfe seines Problembewufüseins ist dagegen bis heute beispielhaft. Was berechtigt den Staat dazu, einzelnen seiner Bürger, gestützt auf den Vorwurf eines massiven Fehlverhaltens, zwangsweise fundamentale Güter zu entziehen; kurz: weshalb darf der Staat strafen? Diese Frage bildet nach wie vor einen schmerzlichen Stachel im Fleisch einer jeden freiheitlichen Rechtsordnung 14. Von ihr muB ein jeder Strafrechtswissenschaftler ausgehen, der seinen Gegenstand nicht einfach als gegeben hinnimmt (IV.). Eine angemessene Beantwortung kann das Problem der Strafbegründung- nochmals mit den Worten Feuerbachs gesprochen - nur in ,,philosophischen Principien" 15, einer Reflexion über ,,[die] Natur und die Rechte des Staats" 16finden 17. Streng genommen, konnte es ,,gar lamentarischen Reprasentanten die finanziellen Mittel zu seiner Untcrhaltung bereitstellt (Hornle, Straftheorien, S. 3 f., 55; dies., 2. FS Roxin, S. 7; dies., Strafbegründungstheorien, S. 29 f.). Hornle meint, diese Legitimation lasse sich nur in Erwagungen des kollektiven Nutzens in Gestalt der Pravention zukünftiger Straftaten finden (so insbesondere Hornle, 2. FS Roxin, S. 7). Dies ist einc in einer mallgeblichen Hinsicht unvollstandige Auskunft. In einer sakularen, auf die Leitidee dcr Freiheit zugeschnittenen Rechtsordnung ergibt sich die gesuchte Legitimation vielmehr daraus, daG die Institution der Strafrechtspflege unvcrzichtbar für den Bestand einer freiheitlichcn Lebensform ist. Da die Strafrechtspflege selbst Bestandteil dieser Lebensform ist, muG sic ihrerseits freiheitskonform ausgestaltet sein. Der axiologisch zweifelhafte Schritt Hornles, die Legitimation des einzelnen Bestrafungsaktes aus Gerechtigkeitsrücksichten einem anderen Begründungsmodell zu unterstellen als diejenige der Institution Strafe (so etwa Hornle, Strafthcorien, S. 6; dies., 2. FS Roxin, S. 10 f., 20), erweist sich demnach als unnotig: Die Begründung gegenüber der Rechtsgemeinschaft konvergicrt letztlich mit derjenigen gegenüber dem einer Bestrafung unterworfenen einzelnen Bürger (dazu unten S. 90 ff.). 11 Stahl, Philosophie, Bd. II/2, S. 682. 12 Stahl, Philosophie, Bd. II/2, S. 682. 13 Dies andert nichts daran, daG die Strafe bis heute religiose Assoziationcn aufweist; dazu Montenbruck (FS Weber, S. 198 ff.), der die Strafe geradezu als ,,sakrale Opferung" begrcift (aaO, S. 208); ferner Liiderssen, FS Hassemer, S. 479 f. 14 In dicsem Sinne auchDuttge, Brücke, S. 58; Gierhake, Rechtsphilosophie, Rn. 1; Greco, Lebendiges, S. 203, 287 ff.; Gimbernat-Ordeig, ZStW 82 (1970), 408; Hoerster, Strafe, S. 21 f.; Kindhauser, ZStW 121 (2009), 961; Kühl, Bedeutung, S. 9; Kunz, Strafe, S. 79 f.; Robles, ZIS 2010, 357,363; Schmidhauser, AT, 3/8; Zaczyk, FS Eser, S. 217. 15 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. XVIII. 16 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 24. 17 Nach der Überzeugung Hruschkas wird demgegenüber der Systemanspruch der Strafrechtsdogmatik vorwiegend durch strukturtheoretische Untersuchungen eingelost, die das ,,System der Kategorien" analysieren, welches den Regelungen des positiven Rechts zugrunde liege (Hruschka, GA 1981, 237 f., 241). Die Bedeutsamkeit derartiger Untcrsuchungen

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

kein positives Strafrecht geben, wenn nicht die Rechtsphilosophie das Recht zu strafen zu begründen vermochte" 18. Die ,,letzten Wurzeln" der Strafrechtswissenschaft reichen deshalb ,,bis zu den Grundbegriffen der praktischen Philosophie"19. Diese Sichtweise gewinnt in der neueren Literatur zwar zusehends an Zustimmung 20, von allgemeiner Anerkennung ist sie aber trotzdem noch weit entfernt 21. Herrschend ist vielmehr, wie Lepsius kürzlich feststellte, eine Arbeitsteilung zwischen einem dominanten dogmatischen Diskurs und davon ziemlich rigide getrennten rechtsphilosophischen Debatten. ,,Das geltende Recht wird [... ] weitgehend gereinigt von allen theoretischen Bezügen behandelt: unhistorisch, unpolitisch und eben auch unphilosophisch." 22Die Forderung, philosophische Erwagungen als integralen Bestandteil strafrechtswissenschaftlicher Begründungsmodelle anzuerkennen, bedarf deshalb der naheren Erlauterung. Dabei geht es zum einen um das Verhaltnis einer so verstandenen Strafrechtswissenschaft zum positiven Recht (II.) und zum anderen um die Abgrenzung gegenüber Konzeptionen, die die Kriminalpolitik an die Stelle der praktischen Philosophie zu setzen gedenken (III.).

steht auíler Zweifel. Losgeliist von straftheoretischen Erwagungen verbleiben sie aber auf der Ebene der allgemeinen Rechtstheorie, laGtsich ihre normative Relevanz also nicht hinlanglich begründen (ebenso Robles, ZIS 2010, 360). 18 Luden, Handbuch, S. 153. 19 Welzel, Strafrecht, S. l. -Ebenso H. Mayer, AT, S.27. 2 Kohler, AT, S. 8; Avrigeanu, Ambivalenz, S. 36 f.; Greco, Lebendiges, S. 203 f.; Kahlo, Handlungsform, S. 59; Mushoff, Strafe, S. 100; Stübinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 293; Zabel, Schuldtypisierung, S. 316; Duttge, Strafen, S. 11; Frisch, Bedeutung, S. 176 f.; Robles, ZIS 2010, 357, 360 f., 363 f.; Schünemann, GA 2011, 459 f.; Zaczyk, FS Eser, S. 211; ders., FS Küper, S. 729; ders., FS Maiwald, S. 896; ders., FS Dahs, S. 40; ders., FS Puppe, S. 310; ders., Staat 50 (2011), 298 ff. - Die konstitutive Bedeutung der (Rechts-)Philosophie für die Grundlagenfragen des Strafrechts betoncn auch Frisch GA 2007, 251 ff. und Seebafl, FS Mittelstraíl, S. 359. -Somek (Unbestimmtheit, S. 62) bezeichnet die juristische Begriffsbildung generell als ,,eine[n] der gesellschaftlich bedeutsamsten Orte, an denen die Philosophie praktisch wird". 21 Stübinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 46 ff. - Konstatiert wird im Gegenteil ein unübersehbarer Einfluílverlust der Philosophie auf das Strafrecht (so etwa Bung, Formen, S. 127 f.). Dies ist insofern wenig verwunderlich, als die heutige Philosophie an strafrechtlichen Fragen zumeist wenig interessiert ist; in den tonangebenden Groíltheorien spielen sie zumeist nur eine ganz untergeordnete Rolle (Stiibinger, aaü, S. 49). Wahrend die Fachphilosophen über lange Zeit maílgeblich an der geistigen Durchdringung und Entwicklung des Strafrechts beteiligt waren (darauf weist Frisch, Bedeutung, S. 177 f. hin), haben sie sich nach Hegels Tod weitgehend von der Rechtsphilosophie zurückgezogen und sie den Juristen überlassen (R. Dreier, FS Starck, S. 30; Lübbe, Verantwortung, S. 20, 34; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 209). Unter deren Handen verkümmcrte die Rechtsphilosophie in nicht wenigen Fallen ,,zu einer Art intellektuellem Hobby zwischen hemmungslos ausgelebtem Dilettantismus und Sonntagsrede" (Bung, aaO, S. 128). Es ist nicht zuletzt diese ,,Tcndenz zum immunisierten ~aientum" (Bung, aaO), die für die Marginalisierung der Rechtsphilosophie verantwortlich 1st. 22 Lepsius, Relationen, S.21.

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II. Praktische Philosophie und die Positivitat des Rechts l. ,,Philosophie und Dogmatik stehen im Verhdltnis des Andersseins"

Eine ,,fast unglaubliche Verkommenheit" habe die deutsche Strafrechtspflege im 23 18.Jahrhundert aufgewicsen, so stellt Binding mit der ihm eigenen Drastik fest . ,,Das Strafensystem des geschriebenen gemeinen Rechts war in seincr Harte unhaltbar geworden. Trotzdem verharrte die Gesetzgebung tatlos oder ging mit sinnloser Strenge vor." 24Angesichts der ,,vollige[n]Zersetzung der alten Grundlage"25griff die ,,vom objektiven Rechte verlassen[e]" Strafrechtspraxis 26zu dem Ausweg, entweder aus dem Gesctzesrecht das herauszulesen, was dem aufklarerischen Naturrecht entsprach, oder aber das Naturrecht unmittelbar zur Rechtsquelle zu erheben. ,,Die Philosophie ist also nicht die Magd, die der Rechtsanwendung den Weg beleuchtet, vielmchr ist sie die Herrin, die jener ihre Weisungen gibt." 27 Nicht erst der Positivist Binding erblickte in einer solchen ,,Inbesitznahme der Strafrcchtswisscnschaft durch die Philosophie" 28einen Akt ,,frivoler Willkür"29. AuBerhalb des Strafrechts traf die Auffassung, daB das Naturrecht als GültigkeitsmaBstab des positiven Rechts fungiere, bereits im 18.Jahrhundert auf massiven Widerstand, und zwar selbst in der naturrechtsfreundlichen Wolff-Schule 3º.Auch Kant stand ganz in dieser Tradition. Obwohl er in seiner Metaphysik der Sitten scharf zwischen ciner ,,bloB empirische[n] Rechtslehre" - einem ,,Kopf, der schon sein mag, nur schade! daB er kein Gehirn hat" - und einer philosophisch begründeten Rechtswissenschaft unterschieden hatte 31, stellte er einige Jahre spater im Streit der Fakultdten klar, der Rechtslehrer habe um der Autoritat der Regierung willen seine Lehre nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem Landrecht zu schopfen und dürfe sich nicht auf die ,,freien Vernünfteleien" der philosophischen Fakultat einlassen 32. Um die Wende vom 18. zum 19.Jahrhundert, also zu einer Zeit, als in der Philosophie die Systementwürfe ,,wie Pilze aus dem feuchten Boden schossen" 33 und ,,fast jedes Jahr

23 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 29. - Einen (ebcnfalls hiichst kritischen) knappen Überblick aus heutiger Sicht gibt Koch, ZStW 122 (2010), 744 f. 24 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 30. 25 Baumgarten, GS 81 (1913), 106. 26 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 30. 27 Eb. Schmidt, Einführung, S. 224. - Sachlich übereinstimmend Baumgarten, GS 81

(1913), 107. 28 29 30 31 32 33

Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S. 2. Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 30. Schroder, Rechtswissenschaft, S. 289 ff. Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 336. Kant, SF, Werke Bd. 9, S. 285. Fulda!Stolzenberg, Einleitung, S. 24.

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ein neues oberstes Princip des Strafrechts" brachte 34, erstreckte Feuerbach diese Position ausdrücklich auch auf den Bereich des Strafrechts. In seiner Revision polemisierte er heftig gegen die ,,AnmaBungen der Philosophie" und forderte dazu auf, ,,der Herrschaft jener launischen Tyrannin in dem positiven Rechte entgegen zu arbeiten" 35. Der ,,Rechtsgelehrte im Staat" sei ,,Diener des Positivgesetzes, und er schandet seinen Beruf, wenn er gegen die Heiligkeit dieses Gesetzes auch nur im mindesten sich vergiBt" 36. Mit dem Bekenntnis zur MaBgeblichkeit der positiven Gesetze für die Strafrechtspflege ging freilich allgemein, und so auch bei Feuerbach, ein wachsender Druck auf die Regierungen einher, sie mochten neuere, bessere Gesetzbücher schaffen. Ebenso wie in der Franzosischen Revolution wenigeJahre zuvor das Unerhorte geschehen war, ,,daB der Mensch sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut" 37, sollte auch das neu zu errichtendc Strafrechtsgebaudc auf den Gedanken, namlich das philosophisch ermittelte Vernunftrecht gestellt werden 38. Für seine Bauplane sollte deshalb die Rechtsphilosophie sorgen, die aus diesem Grund um die Jahrhundertwende für kurze Zeit zur strafrechtlichen Leitwissenschaft aufstieg 39. Auch aus den Darstellungen des positiv geltenden Strafrechts verschwand die Rechtsphilosophie keineswegs zur Ganze. So forderte der sachsische Oberkonsistorialrat Carl August Tittmann, das ,,geltende" positive Strafrecht an dem ,,allgemein gültigen" philosophischen Strafrecht zu messen, ,,weil das, was den Namen Recht führet, unabanderlich recht seyn muB, und dieB bei dem positiv-gesetzlichen nicht allemal der Fall ist"40. So weit ging Feuerbach eingedenk seines Bekenntnisses zur MaBgeblichkeit des positiven Rechts zwar nicht. Aber auch in seinem Lehrbuch trat die Philosophie in Erscheinung, und zwar sogar dreifach41: Die oberste, überpositive Ebene, das ,,allgemeine" Strafrecht ist nach 34

Glaser, Schriften, Bd. 1, S. 14. Feuerbach, Revision, Bd. I, S. X. 36 Feuerbach, Philosophie, S. 84. 37 Hegel, Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, S. 529. 38 Reprasentativ v. Almendingen, Darstellung, S. 25; Feuerbach, Philosophie, S. 82; Henke, Zustand, S. 5. - Eine materialreiche, allerdings sehr kritische Darstellung dieser Bewegung gibt Loening, ZStW 3 (1883), 248 ff., 273 ff. 39 Naher dazu Kesper-Biermann, Einheit, S.102ff., 411 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, S. 313 ff; Stübinger, Schuld, S. 155 ff.; ders., Idealisiertes Strafrecht, S. 204; ders., Strafrecht, S. 160 f.; Vormbaum, Einführung, S. 72 H. 40 _ Tittmann, Handbuch, § 5 (S. 9). - Allerdings blieb bei Tittmann, ebenso wie bei den me1sten anderen ahnlich argumentierenden Autoren seiner Zeit (dazu Schroder, Rechtswissenschaft, S. 295 f.), unklar, ob aus der Naturrechtswidrigkeit positiven Rechts wirklich dessen Nichtigkeit odcr lediglich dessen Rcformbedürftigkeit folgen sollte. 41 Zu einseitig ist daher die Behauptung Maier-Weigts (Verbrechensbegriff, S. 93), daíl Feuerbach einer strikten Trennung der Philosophie des Kriminalrechts und des positiven Rechts das Wort geredet habe. Zutreffend ist allerdings, daíl es Feuerbach entgegcn seinem programmati~c!1en Anspruch nicht gelang, das Spannungsverhaltnis zwischen philosophischer und pos1t1ver Rechtslehre un Sinne einer ,,harmonischen Vereinigung" aufzulosen (zu35

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

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Feuerbachs Überzeugung schlechthin (Teil der) Philosophie 42. Auf der Ebene des ,,positiven peinlichen Rechts" faBte Feuerbach die ,,allgemeinen Grundsatze über Bestrafung rechtswidriger Handlungen überhaupt" in einem ,,philosophische[n] (allgemeine[n]) Theil" zusammen 43. Für einen Teilbereich des positiven Strafrechts, namlich das ,,gemeine deutsche Criminalrecht", nannte er als die primare Rechtsquelle die ,,Philosophie des Strafrechts" 44. Seit den 1820er Jahren wurden diese Begründungsstrategien allerdings zunehmend kritischer gesehen 45. Die unter tatkraftiger Mithilfe philosophierender Rechtswissenschaftler, etwa Feuerbachs, ins Werk gesetzte und bis zur Jahrhundertmitte im wesentlichen abgeschlossene Verabschiedung neuer Strafrechtskodifikationen 46sowie ein Zeitgeist, der der Aufklarung und dem spekulativen Rationalismus der Jahrhundertwende nur noch wenig Sympathie entgegenbrachte, lieBen jene Auffassungen überholt und gefahrlich erscheinen. So erblickte der Erlanger Rechtsprofessor Jordan 1830 in Feuerbachs Allgemeinem Teil nur mehr ,,ein seltsames Gemisch von philosophischen Grundsatzen und positiven allgemeinen Lehren" 47. Die wachsende Emanzipation der strafrechtlichen Fachwissenschaft von der Philosophie mit ihrer - wie es nun hieB48,,Systemsucht", ihrem ,,Speculationskram" und ihrer ,,Eigenliebe" kam nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daB das positive Recht jetzt als wissenschaftsfahig anerkannt wurde. Tittmann hatte noch streng unterschieden zwischen Strafrechtswissenschaft, die bloB das Vernunftgesetz zur Quelle habe und der alles Positive durchaus fremd sei, und bloBer Strafgesetzkunde, die als Summe der Grundsatze, welche in den positiven Strafgesetzen enthalten seien, ,,nur das Aggregat einer Wissenschaft" bilde 49. Demgegenüber wurde Mitte der 1820er Jahre in der Auslegung der positiven Normen die ,,der achten Jurisprudenz allein würdige Methode" erblickt 50. Philosophisch sollte nur mehr die systematische Art und Weise der Verarbeitung des positiv-rechtlichen Materials sein. So forderte Jordan, das ,,allgemeine oder philosophische Strafrecht" durch die ,,philosophische oder wissenschaftlicheBehandlung des allgemeinen oder positiven Strafrechts"

treffend kritisch Bliihdorn, Kant-Studien 64 [1973], 378; aus der alteren Literatur ahnlich Loening, ZStW 3 [1883], 293 ff.). 42 Feuerbach, Lehrbuch, § 2 (S. 2). 43 Feuerbach, Lehrbuch, § 4 (S. 4). 44 Feuerbach, Lehrbuch, § 5 (S. 5). 45 Naher Loening, ZStW 3 (1883), 330 ff. sowie Stübinger, Schuld, S. 161ff. 46 Dazu Kesper-Biermann, Einheit, S. 119ff. 47 fardan, NACrim 11 (1830), 218. 48 Roflhirt, NACrim 9 (1827), 491. 49 Tittmann, Handbuch, § 2 (S. 5). 50 Gerstdker, NACrim 7 (1825), 364. - Dies sollte freilich nur für das Strafrecht ,,eines policirten Staats" gelten; ,,denn der türkisch beherrschten Staaten positives Criminalrecht ist einzig und allein die Tigerwuth der gro/len und kleinen Gewalthaber" (aaO, 382).

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

zu ersetzen; diese bestebe in der ,,wissenscbaftlicben (logiscben) Verbindung der einzelnen Theile zu einem geordneten Ganzen, d.i. im Systeme" 51. Die vielbescbworene, in ibren Auswirkungen aber vermutlicb überscbatzte 52 ,,Gewaltberrscbaft der Hegelianer" im Strafrecbt 53zwiscben den 1840er und den 1860er Jabren drangte diese gemafügt-positivistiscbe Ricbtung zwar zunacbst zurück. Für die Hegelianer war eine jede Spezialwissenscbaft vom ,,bocbsten Wissen (der Pbilosopbie)" abbangig 54. ,,Denn in der Pbilosopbie liegen die Gedankenwurzeln, die Fundamente der Specialwissenscbaften. Davon abseben, beifü in die Luft bauen und die darzustellende Wissenscbaft obne Grundlage anfangen, - beifü den Cbarakter der Wissenscbaft!icbkeit verleugnen." 55Jedocb verwabrten sicb die Hegelianer, insoweit kaum anders als ibre gemafügt-positivistiscben Kontrabenten, nacbdrücklicb gegen den ,,Uebermutb des Sollens", den sie in der kritiscben Pbilosopbie, aber aucb bei Feuerbacb am Werk saben 56 und der nicbts als ,,Hirngespinste" bervorbracbte 57. Wirklicbe Pbilosopbie, Gescbicbte und System des positiven Recbts befanden sicb ,,nicbt in einem gegenseitigen feindlicben Verbaltnisse und Kampf, sondern in einer wesentlicben Einbeit"58. Angesicbts einer Praxis, die auf einer ,,gelauterten pbilosopbiscben Bebandlung" berube, sei es ein Kennzeicben wabrer Pbilosopbie, daB sie ,,das positive Recbt als solcbes anerkennt und selbst in ibm existirt" 59. Dies fübrte zu Formulierungen, die in ibren Ergebnissen von positivistiscben Positionen kaum zu unterscbeiden waren. So konstatierte Berner imJabre 1871,mit dem ErlaB des Reicbsstrafgesetzbucbes befinde sicb die Wissenscbaft ,,so ziemlicb im Niveau mit dem Positiven", wesbalb sie ,,jetzt hauptsacblich die Aufgabe der affirmativen Verarbeitung des Gegebenen" babe6º. In den 1870er Jabren setzte sicb aucb im Strafrecht die Überzeugung durcb, daB ,,die Anregungen, welcbe die klassiscbe Zeit der deutscben Pbilosophie batte bieten konnen, verbraucbt" seien und einen ,,nebelbafte[n] Idealismus obne

Wirklicbkeitsverstandnis" zurückgelassen batten 61. In den ironiscben Worten des jungen Jellinek sind die strafrecbtlichen Grundbegriffe ,,nicbt von so glanzender Helle umstrablt, daB sie des Scbleiers einer dunkeln und verdunkelnden Pbilosopbie bedürfen" 62. Die Erschopfung des strafrecbtlicben Hegelianismus ermoglicbte eine offene Anlmüpfung an die positivistiscbe Traditionslinie. Moniert wurde nunmebr, daB die ,,Recbtspbilosopbie alten Styls" nicbt ,,aus einer voraussetzungslosen Bearbeitung der in System gebracbten Begriffe selbst" bervorgewacbsen sei, sondern daB sie lediglicb die individuellen pbilosopbiscben Überzeugungen des jeweiligen Autors spiegle63. ,,Aber das System, das so zu Stande gekommen ist, wird sicb stets als ein künstlicbes, wenn auch nocb so genial erdacbtes ausweisen, das nur den Wertb eines vorlaufigen Bebelfs in Ansprucb nehmen kann. Das natürlicbe und definitive System wird nur auf jenem anderen Wege, der die zu ordnenden Begriffe selbst und bezw. deren gescbicbtliches Substrat zum Ausgang nimmt, gewonnen werden." 64Für Merkel, den Verfasser dieser Zeilen, war abnlicb wie für Jordan Pbilosopbie nur nocb ein Name, der ,,ein allgemeines Element der wissenscbaft!icben Tbatigkeit" überbaupt bezeicbne65. Warum sollte dann eine sicb eines erstarkten disziplinaren SelbstbewuBtseins erfreuende Recbtswissenscbaft nicbt ganzlicb auf ibn verzicbten? Dafür pladierte Merkel. Mit begelianiscb anmutenden Wendungen beforderte er das Ende des Hegelianismus im Strafrecbt 66: Die Aufgabe der Philosopbie im allgemeinen und der Recbtspbilosopbie im besonderen sei ,,nicbt dabin zu bestimmen, dass sie der wirklicben Welt eine andere, von ibr construirte, gegenüber zu stellen babe. Vielmebr liegt ibr Ziel wie das der Wissenscbaft überbaupt nur darin, die Welt wie sie ist zu begreifen." 67Desbalb sei es an der Zeit, daB an die Stelle der berkommlicb so genannten Recbtspbilosopbie die ,,von der gescbicbtlicben und dogmatiscben Bearbeitung des gegebenen Recbtsstoffs ausgebende bisber

51]ardan, NACrim 11 (1830), 225. 52 In diesem Sinne insbesondere Frommel, Praventionsmodelle, S. 163 ff. 53 Das Schlagwort stammt von Stintzing/Landsberg, Gcschichte, Bd. III/2, S. 383. 54 So Berner, Lehrbuch 5 , S. 2. 55 Berner, Lehrbuch 5, S. 3. 56 Vgl. Kostlin, Revision, S. 13. 57 Berner, Grundlinien, S. 233. - Nahcr Stübinger, Idealisiertes Strafrccht, S. 167 f. 58

Abegg, Krit. Zeitschr. f. Rechtswiss. 2 (1827), 500. Abegg, System, S. XV; im gleichen Sinne ders., Strafrechtstheorien, S. 5 ff:, ders., Lehrbuch, S. 56 f.; Berner, ACrim (N.F.) 16 (1849), 447; Kostlin, Rcvision, S. 14 f.; Luden, Handbuch, S. 16 f., 141f. - Dieser Zug der hegelianischen Konzeptionen wird von seiten positivistischer bzw. historistischer Kritiker verbreitet unterschatzt (paradigmatisch insowcit Loening, ZStW 3 [1883], 330 ff.). 60 Berner, Lehrbuch 5 S. VIII. - Freilich hatte Berner leicht reden, war er doch der Überzeugung, daG das Reichsstrafgesetzbuch ,,zum groGen Tcil die in den crsten vicr Auflagen dieses Lehrbuches vcrtretenen Anschauungen wiedergegcben" habe (so noch Berner, Lehrbuch18, § 31 [S. 58]). 59

61 So Nagler, FS Binding, S. 277. 62 Jellinek, Schriften, Bd. I, S. 124. 63 Merkel, Grünhut's Zeitschrift 1 (1874),406. 64 Merkel, Grünhut's Zeitschrift 1 (1874),407. 65 Merkel, Grünhut's Zeitschrift 1 (1874), 6. - Allgemcin zu Merkels Schrittmacherrolle Ehret, Liszt, S. 98 f. sowic Tripp, EinfluG, S. 246 ff. 66 DaG Merkel die von ihm verwendcten ,,idealistischc[n] Vokabeln [... ] offensicht!ich nicht in idealistischer Bcdeutung [mcint]", konstatiert auch Tripp, EinfluG, S. 249. 67 Merkel, Grünhut's Zeitschrift 1 (1874), 418. - Ganz iihnlichjellinek (Schriften, Bd. I, S. 162 f.): ,,Wohl ist es das héichste Ziel des Menschengeistes, die reale Welt durch den Gedanken zu beherrschen. Aber diese Herrschaft kann nur crrungen werden, wenn der Gedankc selbst dem Boden der Realitat entsprossen ist. Dem aus den Lüften kommenden Fremdling weigert die rauhe Wirklichkeit den Gchorsam, aber dem eigenen Sohne beugt sie sich willig. Auch die Philosophic des Rechts wird zur Herrscherin im Kreise dcr juristischen Wissenschaften werden, wcnn sie nicht, wie bisher, aus dcm anscheinend Vcrnünftigen das Wirkliche wird ableiten wollen, sondern in der Wirklichkcit das Vernünftigc erfassen und festhalten wird."

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A. Strafrechtswissenschaft ttnd praktische Philosophie

so genannte positive Rechtswissenschaft in ihren allgemeinen Lehren" trete 68 . Es lasse sich für die Rechtsphilosophie ,,kein vernünftiger Inhalt und es lassen sich keine Probleme für sie erweisen, welche nicht diesem Kreise angehi:iren"69 • Vollzog sich die Hinausdrangung der Rechtsphilosophie aus dem Gebiet der Strafrechtswissenschaft bei Merkel noch in den üblichen Formen akademischer Etikette, nahm sie bei Binding geradezu exorzistische Züge an. Zwar wehrte auch dieser sich gegen einen Positivismus, der, das Gesetz mit dem Recht verwechselnd, statt Jurisprudenz bloBe Gesetzeskunde biete 70 ; Binding war eben Rechtspositivist, nicht Gesetzespositivist 71 . J edoch gebe es keine Jurisprudenz, die nicht Wissenschaft des positiven Rechts ware 72 . Nur als ,,sublimirte Jurisprudenz" - was in Bindings Fall im wesentlichen heifü: als Normentheorie dürfe man Rechtsphilosophie noch betreiben 73 • Philosophische und andere fremdwissenschaftliche Anschauungen stellten hingegen Kuckuckseier im Nest der Rechtswissenschaft dar, und nichts anderes ki:inne aus ihnen folgen als zunachst Falschung und Konfusion, schliefüich jedoch stets dieselbe groBe Enttauschung 74 • Im Ergebnis waren sich Merkel und Binding also einig: Wo Rechtsphilosophie war, soll Allgemeine Rechtslehre werden 75 • Zur Abschaffung der Rechtsphilosophie ist es zwar bislang nicht gekommen. Allerdings formuliert selbst ein naturrechtlichen Gedankengangen durchaus gewogener Autor wie Arthur Kaufmann apodiktisch, daB Philosophie und Dogmatik im ,,Verhaltnis des Andersseins" standen 76 • Dieses Diktum kann innerhalb der heutigen Rechtswissenschaft auf breite Zustimmung rechnen. Danach kann die Dogmatik ihre Aufgabe, die (vor allem gerichtliche) Entscheidungspraxis anzuleiten, nur dann sachgemaB erfüllen, wenn sie sich strikt auf den Standpunkt des positiven Rechts stellt 77 . ,,Der Gott des modernenJuristen ist der Gesetzgeber." 78 Für philosophische Erwagungen scheint angesichts dieser Aufgabenzuweisung jedenfalls innerhalb des durch die Dogmatik besetzten Kernbereichs rechtswissenschaftlicher Tatigkeit kein Raum zu sein 79 • Ansons-

ten drohe ein Einbruch subjektiver Eigenmachtigkeiten - cine Befürchtung, die, wie gesehen, bereits Kants Mahnung an rollenvergessene Rechtslehrer motiviert hat und der im Strafrecht wegen des nulla poena-Satzes besonderes Gewicht zukommt 80 • Der Rückgriff auf die Philosophie steht also unter dem Verdacht der Beliebigkeit: Er gerate ,,zum willkürlichen Zitat aus einer unübersichtlichen Fülle spekulativer Texte" 81 . Dem Juristen aber stehe es nicht zu, Recht kraft eigenen Raisonnements zu setzen 82 • Die Jurisprudenz überschreite ihren Kompetenzbereich, ,,sobald sie den Anspruch erhebt, einen Sachverhalt nicht nur anhand einschlagiger juristischer Tatbestande zu analysieren, wenn sie vielmehr juristische und auBerjuristische Tatbestande vermengt" 83 • Argumente, die einer philosophischen Richtung verpflichtet seien, seien entweder bloBe Verschi:inerungen allgemeiner Sachargumente oder letztlich schlechte Argumente ab auctoritate 84 . Auf den ersten Blick scheinen diese Bedenken schlagend zu sein. Naher betrachtet, gewinnen sie ihre vermeintliche Überzeugungskraft jedoch aus der Verknüpfung zweier von niemandem bezweifelter Selbstverstandlichkeiten mit einer Tautologie. Selbstverstandlich ist es, daB die Berufung auf groBe Philosophennamen nicht per se als juristisches Argument taugt 85 . Selbstverstandlich ist es auch, daB die Übernahme cines Begriffs oder einer Leitidee aus einer anderen (Sub-)Disziplin sich nach den MaBstaben der rezipierenden Disziplin und nicht nach denen der Herkunftsdisziplin vollzieht 86 . Rechtswissenschaftliche Diskussionen folgen ihren eigenen Gesetzmafügkeiten und haben keinen AnlaB,

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Merkel, Grünhut's Zeitschrift 1 (1874),408. Merkel, Grünhut's Zeitschrift 1 (1874),402 f. 70 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 51 f. 71 Jakobs, FS de Figueiredo Dias, S. 395. 72 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S.46. 73 Binding, Abhandlungen, Bd. 1, S. 72. 74 Binding, Normen, Bd. II, S.VIII. 75 Vormbaum, Einführung, S. 120. 76 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 3. - Im gleichen Sinne Engisch, Einführung, S. 262 f.; Naucke/Harzer, Grundbegriffe, Rn. 4; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 106; Maiwald, Dogmatik, S. 137; Starck, Bedeutung, S. 381. 77 Vgl. nur Bydlinski, Methodenlehre, S. 10; Henkel, Einführung, S. l; Horn, Einführung, Rn. 40; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 106; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, Rn. 311; R. Dreier, Standpunktproblemc, S. 331. 78 Nettmann, Recht, S. 319. 79 Somek, Wissen, S. 55. 69

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Vgl. ctwa Laos, Rechtsphilosophie, S. 156. Engel!Schon, Vorwort, S. X. - Weitere Gefahren, die mit der ,,Auslieferung an eine bestimmtc philosophische Richtung unweigerlich verbunden sind", benennen Schwinge und Zimmerl (Wesensschau, S. 8): ,,Verkettung der strafrechtlichcn Arbeitsergebnisse mit dem Schicksal dieser philosophischen Stromung, Belastung der juristischen Arbeit mit allen Einwendungen gcgen diese, Vcrnachlassigung der Einzelforschung, Entfremdung zwischen Theorie und Praxis." H. Mayer (Strafrecht, S. 14) zufolge haben deshalb die ,,Versuche, eine bestimmte philosophische Meinung in einer Einzelwissenschaft durchzuführen, [... ] alle mehr oder minder mit einem Fiasko geendet". 82 Bydlinski, Methodenlehre, S. 10, 34, 40; Ernst, Recht, S. 19; Haas, Kausalitat, S. 81. 83 Ernst, Recht, S. 17. 84 Greco, ZIS 2009, 815. 85 Duttge, Einflüsse, S. 168; Hirsch, ZStW 116 (2004), 850;jakl, Recht, S. 89; Zaczyk, FS E. A. Wolff, S. 520 f.; ausführlich jüngst Hornle, FS HU Berlin, S. 1270 ff. - Ebenso unbefriedigend ist es freilich, bestimmte philosophische Konzeptionen - in concreto diejenigen Kants und Hegels - nur deshalb für strafrechtstheoretisch unergiebig zu erklaren, weil sie vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes verfaflt worden sind (in diesem Sinne aber Hornle [2. FS Roxin, S. 4), die leider auch nicht auf die Behauptung verzichten zu konnen meint, diese Theorien liefen darauf hinaus, ,,die Willkür eines Monarchen anzuerkennen oder den Staat zu verherrlichen" [aaO). Über derart polemische Vorwürfe ist die ernsthafte Kant- und Hcgcl-Exegese seit geraumer Zcit hinaus.) 86 Funke, Recht, S. 9;]akobs, RW 2010, 287;Jestaedt, Wissenschaft, S. 46; ders., Disziplin, S. 279; Lüdemann, Rechtsetzung, S. 136; Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre, S. 129. 81

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

sich von seiten der Philosophie kolonialisieren zu lassen. Ihr Ausgangspunkt ,,ist nicht der allgemeine und freie Diskurs, sondern das institutionalisierte Recht" 87 . Deshalb dürfen rechtsdogmatische Fragen nicht durch einen vorschnellen Rückgriff auf philosophische Erwagungen beantwortet werden 88 . Tautologisch ist hingegen die Wendung gegen die Berücksichtigung ,,auGerjuristischer Tatbestande". Ihr positiver Aussagegehalt erschopft sich in der Forme!: Juristisch ist, was juristisch ist. Unbeantwortet bleibt hingegen die eigentlich entscheidende Frage: Wie weit reicht der Einzugsbereich genuin juristischer - im hiesigen Kontext: strafrechtswissenschaftlicher - Erwagungen? Darauf gibt es keine zugleich allgemeingültige und inhaltlich gehaltvolle Antwort; was Problemli:isung am MaGstab des Rechts bedeutet, ist vielmehr durchaus wandelbar 89 . ,,Jede Etappe neuartiger Verklammerung von typisierten Interessenwertungen mit entsprechenden Fachbegriffen, jede neue Gruppierung dieser Fachbegriffe im Rahmen eines bestimmten Ordnungsgebiets [... ] ist in ihrer ursprünglich inventorischen Bedeutung gleichsam ein Vorschlag, dessen praktische Anerkennung erst durch den Konsens über die darin liegende Wertung erfolgt."9º Zwar existiert ein Korpus von Methoden der Gesetzesinterpretation, die von allen Angehéirigen der Profession als genuin strafrechtlich anerkannt werden. Damit haben sich innovative Autoren aber niemals begnügt 91 • Ein Blick auf einige der bedeutsamsten strafrechtsdogmatischen N euerungen des vergangenen Jahrhunderts lehrt, daG sie nicht etwa auf die üblichen Auslegungsmethoden, sondern auf (rechts-)philosophische Erwagungen gestützt wurden. So verdankt Welzel seinen finalen Handlungsbegriff einer intensiven Rezeption klassischer und zeitgeni:issischer Handlungslehren, von Aristoteles über Pufendorf bis zu Nicolai Hartmann 92. Auch die Erwagungen über eine angemessene Freiheitsund Verantwortungsaufteilung innerhalb der Rechtsgemeinschaft, die der Lehre von der objektiven Zurechnung- etwa den Instituten des erlaubten Risikos oder des RegreGverbots - zugrunde liegen, sind der Sache nach rechtsphilosophischer Natur 93 • Ihre Herkunft hat allerdings ihren dogmatischen Erfolg nicht gehin-

dert. Weil sie der Mehrzahl der Strafrechtsdogmatiker inhaltlich überzeugend erschienen, sind sie als relevante Bestandteile des strafrechtswissenschaftlichen Diskurses anerkannt worden 94 • Die Kommunikationsroutine, die sich ihrer daraufhin bemachtigt hat, bewirkte, daG ihr ursprünglicher ideengeschichtlicher Bezugsrahmen im Laufe der Zeit in Vergessenheit geriet und sie zunehmend als gleichsam selbsttragende dogmatische Figuren behandelt wurden, die einer philosophischen Abstützung nicht mehr bedurften 95 • So unvermeidlich es ist, daG die erfolgreiche Implementierung neuer Begriffe und Figuren in die bestehende Dogmatik mit der Verkürzung von Begründungszusammenhangen einhergeht, so gefahrlich ist es, wenn dies unreflektiert geschieht. Es droht dann cinerseits die bereits in der Einleitung angesprochene unbemerkte ,,Mumifizicrung" des wissenschaftlichcn Begriffsgebaudes 96 und andererseits die pauschale Abweisung neuartiger Vorschlage als undogmatisch. Zu einer wissenschaftlichen Dogmatik gchéirt es deshalb, daG sie sich ihrer Einbettung in umfassende philosophisch-weltanschauliche Bezugssysteme bewufü bleibt 97 . Zwar besteht die Funktion dogmatischer Formeln wesentlich in ihrer Entlastungsfunktion 98 : Sie verwandeln nach einer eingangigen Forme! Essers Wertungsprobleme zu Denkproblemen 99 , indem sie der Praxis ein Muster zur Verfügung stellen, ,,das die einheitliche erkenntnismafüge Beantwortung der Normfrage ohne jeweilige Neudiskussion der grundlegenden Bewertungsfragen, die in die Forme! cingegangen sind, erlaubt" 100• Man muG aber- so betont ebenfalls Esser- ,,die Unvereinbarkeit sehen in dem Anspruch auf vol! abgedichtete Autoritat der Dogmatik und auf Bewaltigung je neuer Sozialkonflikte ohne je ncuen Konsens, nur aus dem Vorrat an Normen und dogmatischer Kunst" 1º 1 . Um die Dogmatik vor der Gefahr des Dogmatismus - der Erstarrung in selbstgenügsamcr Routine 102 - zu schützcn, muG unter ihrem Dach auch Raum für

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Osterkamp, Gerechtigkeit, S.112. Aichele, Rechtstheorie, S. 31; Bottke, Methodik, S. 10 f.; Duttge, Bestimmtheit, S. 228 f.; W Bock, Rechtstheorie 36 (2005), 472, 482. 89 v. Arnauld, Wissenschaft, S. 101 f. 90 Esser, FS Raiser, S. 534. - In der Strafrechtswissenschaft gilt insoweit nichts anderes als in den übrigen Teilbereichen der Jurisprudenz: ,,Dcr faktische Konsens dcr Profcssion wird zum Kriterium dogmatischer Legitimitat." (Rottleuthner, Rechtswissenschaft, S. 178 [in ideologiekritischer Absicht]) Letztlich ist es also ihr Erfolg bei den Fachkollegen, der cine Theorie bestatigt oder falsifiziert (Benedict, Rechtstheorie 40 [2009], 373). 91 Eindringlich jüngst Stübinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 51 sowie Frisch, Bedeutung, S. 172 ff.; ferner Haney, FS E. A. Wolff, S. 64. -Das Gleiche gilt nach Esser (FS Raiser, S. 532 f.) für den Bereich des Zivilrechts. 92 Naher dazu Sticht, Sachlogik, S. 261 ff. 93 Ebenso Frisch, Bedeutung, S. 174.-Die Art und Weise dieses Rückgriffs mag haufig den Standards der professionellen Philosophie nicht voll entsprechen. Verantwortlich dafür ist 88

aber nicht zuletzt das Desinteresse der Philosophen an strafrechtstheoretischen Fragen (oben S. 28 Fn. 21). Das harschc Urteil Rottlcuthners, Juristcnphilosophie habe mit echter Philosophie ,,so viel gemeinsam [... ] wie einc Fischgrate mit dem Forellenquintett" (Rottleuthner, Rechtswissenschaft, S. 210), miflachtet zudcm den gro/len Vorzug der Juristenphilosophie gegenüber rein philosophischen Erorterungen: ihren Sinn für die Vielfaltigkeit moglicher Fallkonstcllationen und ihre Lebensnahe. 94 In diesem Sinne auch Burchard, Irrcn, S. 429 f. 95 Allgcmein zu derartigen Prozessen Pocker, Rechtstheorie 37 (2006), 162 ff. 96 Tesar, Überwindung, S. VIII; vgl. auch Drath, Rechtsdogmatik, S. 207. 97 Ebenso W Bock, Rechtstheorie 36 (2005), 458,472; R. Dreier, Rechtstheorie 2 (1971), 52; Lindner, RW 2011, 20; Pocker, Rechtstheoric 37 (2006), 158 ff.; Stürner, JZ 2012, 12, 17. 98 Esser, Vorverstandnis, S. 88; Grimm, Rechtswissenschaft, S.14;Jestaedt, FS Mayer, S. 173; Stürner, JZ 2012, 11; Vesting, Rechtstheorie, Rn. 21; Würtenberger, Grundlagenforschung, S. 7. 99 Esser, AcP 172 (1972), 103, 113. 100 Esser, FS Raiser, S. 522. 1º1 Esser, AcP 172 (1972), 101. 102 Jestaedt, FS Mayer, S. 182. - Ebenso jüngstjakl, Recht, S. 5 f.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

eine (Sub-)Disziplin sein, die ihre Aufgabe darin erblickt, die Implikationen des bestehenden dogmatischen Systems zu überprüfen und gegebenenfalls Alternativen vorzuschlagen. Diese Funktion übernimmt im Bereich des Strafrechts die Allgemeine Verbrechenslehre. Die Aufgabe, der Strafrechtsdogmatik normativ wohlfundierte Rahmenbedingungen für ihre Tatigkeit zur Verfügung zu stellen, kann die Allgemeine Verbrechenslehre nur dann erfüllen, wenn sie das Gesprach mit der Philosophie sucht. ,,Philosophieren heifh übersetzen - altere Gedanken über die Gewasser der Zeit in eine neuere Sprache zu tragen." 1º3 Wer, wenn nicht die Philosophie, vermochte deshalb der Allgemeinen Verbrechenslehre die Ressourcen zuzuführen, die diese benotigt, um einerseits ihren Sinn für das Denkmogliche wachzuhalten und zu schulen und andererseits ihre Legitimationsdiskurse gleichsam al pari mit der intellektuellen Kultur ihrer Gesellschaft und Zeit führen zu konnen? 104 Selbst wenn man Henrichs stolzes Wort, die Philosophie sei ,,wie kein anderes Fach der Universitat sensibel [... ] für die Lebensverhaltnisse ºh Zert . "1os, mrt. emem . . hen versehen mag, liegt es deshalb im eigenen 1 rer Fragezerc Interesse der Allgemeinen Verbrechenslehre, sich- wie es Berner im Jahre 1871 formulierte - ,,bestandig im Flusse des gemeinsamen Werdens mit der Philosophie zu erhalten" 1º6. Eine Allgemeine Verbrechenslehre, die diesen Austausch vernachlassigt, nimmt statt eines geordneten Grenzverkehrs mit ihrer kulturellen Umwelt deren unkontrolliertes Einsickern in Kauf. Eine Allgemeine Verbrechenslehre, die ihn pflegt, befordert dagegen nicht nur die gesellschaftliche Vermittelbarkeit des bestehenden Strafrechtssystems und die interdisziplinare Anerkennung der ihm gewidmeten Wissenschaft. Indem sie sich vorbehalt, durch philosophisch fundierte Vorschlage zur Veranderung der bestehenden Modelle ,,ein jeweils überzeugenderes Verhaltnis zwischen positivem Recht und Gerechtigkeitsanforderungen herzustellen" 1º7, tragt sie vor allem einer Eigenheit des positiven Rechts Rechnung, dessen Relevanz sich nur um den Preis eines phanomenologisch und identitatstheoretisch unbekümmerten Dogmatismus in Abrede stellen lafü: seinem Gerechtigkeitsanspruch (2.).Diesem Anspruch Rechnung zu tragen, bedeutet freilich nicht, sich vom Deduktionsehrgeiz eines Christian Wolff anstecken zu lassen und aus einigen rechtsphilosophischen Grundannahmen ein komplettes Strafgesetzbuch herauszuspinnen. Eine systematisch reflektierte Verbrechenslehre erkennt vielmehr an, dag durch das ,,Hauptprincip" in vielen Fallen

,,dem Raisonnement nur die erste Richtung gegeben wird " 108 , und respektiert im übrigen das Eigenrecht des Nur-Positiven-nicht als ein notwendiges Übel, sondern als ein gleichberechtigtes Teilmoment einer komplexen Gesamtstruktur, die ebenso wie das Leben, das sie regeln soll, nicht ohne Kontingenz zu haben ist (3.).

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103Seel, Theorien, S.198. 104 Zu Recht bezeichnet Stübinger (Idealisiertes Strafrecht, S. 44) die Philosophie als ,,eine '.'rt ,Fe~ster' [.. _.],du'.·ch das der Dogmatik ein Blick zur übrigen Welt ermi:iglicht werden soll, m der s1emanmgfalt1ge Begründungsmomente für ihr eigenes Geschaft entdecken kann". 1º5 Henrich, Philosophie, S. 126. 106 Berner, Lehrbuch5, S. 3. 107Esser, FS Raiser, S. 522.

2. Der Gerechtigkeitsanspruch des positiven Rechts Nach einem Bonmot Bergbohms sind wir alle geborene Naturrechtler 109 • So hangt die Bereitschaft der Bürger zur freiwilligen Normbefolgung zu einem erheblichen Teil davon ab, dag sie eine Regelung ,,als gerechtes, vernünftiges, zumindest aber nicht ungerechtes Recht" anerkennen 110. Zwar konnen und sollen die Rechtsnormen ,,nicht positiv ethisch sein, aber sie sollen gegen die ethische Ordnung auch keinen Krieg führen" 111 . Eine von den meisten Rechtsunterworfenen als krag ungerecht wahrgenommene Rechtsordnung wird es - jedenfalls solange sie nicht offen terroristische Züge annimmt - auf die Dauer schwer haben, das zu ihrem Überleben notwendige Magan Befolgung sicherzustellen. Insofern steht der Staat ,,fort und fort unter der Kontrolle der [... ] praktischen Vernunft seiner Bürger" 112 und ,,hat noch keine wirkliche politische Ordnung sich selbst als bloges Machtverhaltnis offeriert und noch nie eine politische Theorie sich selbst als ideologisch definiert" 113 • Aber ist ihre Übereinstimmung mit den Gerechtigkeitsüberzeugungen der Bürger wirklich nur für die Stabilitat einer positiven Rechtsordnung von Bedeutung? Alexy bestreitet dies: Die Teilnehmer an einem Rechtssystem konnten gar nicht anders, als für ihre rechtlichen Augerungen einen Anspruch auf Richtigkeit zu erheben 114;dieser Anspruch schliege einen Anspruch auf moralische Richtigkeit ein 115 . Selbst der Richter, der das nationalsozialistische Rassen- und Führerprinzip anwende, gebe seine Entscheidung als (nicht nur positiv-rechtlich, sondern auch) moralisch begründbar aus116 . Wer - wie beispielsweise ein Verfassungsgeber, der in die Verfassung den Satz 108 Thibaut, Beytrage, S. 104. 1º9 Zitiert nach Braun, Rechtsphilosophie, S. 11. 11º Bockenforde, Staat, S. 216. - Ebenso Baumann/Weber! Mitsch, AT, § 3 Rn. 30; Frister, AT, § 2 Rn. 11; Gropp, AT, § 1 Rn. 75; Hassemer, Strafe, S. 20 ff.; Osterkamp, Gerechtigkeit, S. 137 f.; Pichler!Giese, Rechtsakzeptanz, S. 262; Raiser, Grundlagen, S. 258 f.; Rehbinder, Rechtssoziologie, Rn. 116; v. Arnauld, Verantwortung, S. 194; Burmeister, Dilemma, S. 355, 360 f.; Engel, Rcchtswissenschaft, S. 15; Frisch, GA 2007, 263; lsensee, NJW 1977, 548 ff.; Kindhduser, FS Schroeder, S. 85; Wiirtenberger, Akzeptanz, S. 381 ff. - Aus der alteren Literatur: Merkel, Encyklopadie, § 35 (S. 30); Hdlschner, GS 21 (1869), 88. 111Beling, Rechtswissenschaft, S. 31. 112 R. Schmidt, Strafrechtsreform, S. 42. - Dazu jüngst Schroder, JZ 2010, 874 f. 113 Welzel, Naturrecht, S. 248. 114 Alexy, Begriff, S. 69; ders., FS Aarnio, S. 4 ff. - Ebenso Osterkamp, Gerechtigkeit, S. 68 f. sowie aus dem strafrechtlichen Schrifttum jüngst Greco, Lebendiges, S. 128. 115 Alexy, Begriff, S. 132; ders., FS Aarnio, S. 13 ff. 116 Alexy, Begriff, S. 132.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

aufnimmt, der Staat X sei eine ,,ungerechte Republik" -, diesen Richtigkeitsanspruch off en aufkündige, verwickle sich in einen performativen Widerspruch: Der Inhalt seines verfassungsgebenden Aktes negiere den Richtigkeitsanspruch, welchen er mit dem Vollzug dieses Aktes erhebe 117. Diese These ist allerdings zirkular: Das Argument vom performativen Selbstwiderspruch funktioniert nur unter der Voraussetzung, daB ein Richtigkeitsanspruch erhoben wird, und vermag diesen Anspruch deshalb nicht zu begründen 118• Dennoch behalt Alexys Kritik einer sich einseitig positivistisch verstehenden Rechtspraxis ihre Berechtigung. Worum es tatsachlich geht, ist allerdings weniger ein Sprechaktproblem 119 als vielmehr ein Problem der praktischen Identitat der Sprechenden. Um ihrer moralischen lntegritat und ihrer Selbstachtung willen konnen Richter und Verfassungsgeber es sich buchstablich nicht leisten, sich zur Begründung ihres Handelns allein auf die faktische Wirkungsmachtigkeit ,,ihrer" Rechtsordnung zu stützen 12º; sie konnen vielmehr nicht umhin, diese als eine prinzipiell legitime Ordnung aufzufassen 121. Andernfalls würden sie namlich den Unterschied zwischen Recht und Gewalt einebnen und sich selbst den Status von Funktionaren eines bloBen Machtkartells zuschreiben. Damit würden sie sich der Moglichkeit berauben, ihren eigenen moralischen Status von demjenigen der Helfershelfer konkurrierender (von ihnen als ,,kriminell" gebrandmarkter) Machtkartelle abzuheben. Sofern sie sich dessen ungeachtet weiterhin als moralische Subjekte begreifen wollten, vermochten sie dies nur, indem sie ihrer beruflichen Tatigkeit jegliche Relevanz für ihre praktische Identitat absprachen, die Einheit ihrer Biographie also buchstablich aufsprengten. Eine solche Totalabspaltung ginge weit über die Selbstdistanzierung von einzelnen Aspekten der eigenen Berufsrolle hinaus, die zum alltaglichen Verhaltensrepertoire in modernen Gesellschaften gehort. Sie lieBe sich allerdings schon deshalb nicht durchhalten, weil die Übernahme und die weitere Ausübung der betreffenden Rolle auf einem freien EntschluB ihres Inhabers beruhen. Von seinem eigenen freiverantwortlichen Handeln kann sich das praktische Subjekt nicht vollstandig lossagen.

lm Unterschied zu der Argumentation Alexys erhebt diese Überlegung nicht den Anspruch, sprachanalytisch oder rechtsbegrifflich zwingend in dem Sinne zu sein, daB derjenige, der sich ihr verschliefü, nach allgemein anerkannten Vernunftstandards einen Fehler beginge. Niemand kann moralisch dazu genotigt werden, den moralischen Standpunkt einzunehmen. Der moralische Standpunkt - die Bereitschaft, sich von moralischen Argumenten beeindrucken zu lassen lafü sich namlich nicht aus auBermoralischen Gesichtspunkten deduzieren, sondern muB als fundamentale Ermoglichungsbedingung moralischer Diskussionen vorausgesetzt werden 122.Wer sich in einer zynischen Selbststilisierung als Handlanger der Gewalt eingerichtet hat, kann ebensowenig widerlegt werden wie jemand, der sich weigert, die MaBgeblichkeit der Menschenrechte anzuerkennen123.Der Betreffende stellt jenen Grundbestand an Gemeinsamkeit in Abrede, auf dessen Basis eine Widerlegung überhaupt erst denkbar ware. Die psychischen und sozialen Kosten eines solchen Schrittes sind indessen hoch. Daran zu erinnern war das Ziel des vorstehenden Gedankenganges. Zur Wahrung ihrer praktischen Identitat haben die Rechtsanwender somit allen Grund, an der Unterscheidung von Recht und Gewalt festzuhalten. Die Frage nach dem Begriff des Rechts aber ist der nach dem Gehalt einer Rechtsordnung logisch vorgelagert 124.Das Recht kann zwar beanspruchen, seinen Regelungsbereich durch den Rechtsakt der Gesetzgebung selbst festzulegen; nicht entscheiden kann es hingegen darüber, ob dieser Anspruch - etwa die von ihm reklamierte Befugnis, Bürger mit Strafe zu belegen -Anerkennung verdient oder nicht. Der Gesetzespositivist kann diese Frage, die immerhin über die Dignitat seines beruflichen Tuns entscheidet, nicht einmal formulieren, denn dazu müBte er aus der Gesetzesimmanenz heraustreten 125. Gestellt und beantwortet werden kann sie vielmehr nur auf der Ebene der Reflexion über das Recht, die das angestammte Territorium der Rechtsphilosophie bildet 126.Rechtsanwender, die

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Alexy, Begriff, S. 67 f.; ders., Kritik, S. 19 f.; ders., FS Aarnio, S. 7 H. Englander, Diskurs, S. 43 ff.; Gril, ARSP 83 (1997), 206 ff.; Neumann, Protosoziologie 6 (1994), 243; Wesche, Rechtstheorie 30 (1999), 83 ff.-Die Triftigkeit dieses Einwandes raumt Alexy (FS Aarnio, S. 10 f.) ausdrücklich ein. Performative Widersprüche versteht er deshalb jetzt nur mehr als ein Mittel, mit dem gezeigt werden konne, daG bestimmte Regeln notwendig gelten. ,,Das Zeigcn besteht in dem Hinweis auf eine unvermeidbare Absurditat, die nicht anders erklart werden kann als durch die notwendige Geltung einer Regel." (aaO, S. 11) 119 Berechtigte Kritik an dieser Lozierung des Problems bei Bulygin, FS Krawietz S. 22 ff. und Neumann, Protosoziologie 6 (1994), 244. 12 º Ebenso Braun, Rechtsphilosophie, S. 12. 121 Hoffe, Rechtsprinzipien, S. 72 ff.; Duttge, RW 2011, 449. 118

122 Dies ist in der neueren Moralphilosophie weitgehend unstreitig; vgl. nur Bayertz, Moralisch sein, S. 249 ff.; Hoffe, Lebenskunst, S. 307,357; Kersting, Macht, S. 156; Kliemt, Institutionen, S. 226, 252 f.; Pilot, Identitat, S. 291; Tugendhat, Vorlesungen, S. 89. 123 Treffend bemerken Menke/Pollmann (Philosophie, S. 63 f.): ,,In der Begründung der Menschenrechte ist die Einstellung der Anerkennung jedes anderen jener ,harte Felsen', an dcm sich- in Ludwig Wittgensteins Bild- der Spaten zurückbiegt; tiefer kann man nicht graben, denn dies ist der letzte Grund." Man muG deshalb bercits cine Haltung der Anerkennung cingenommen haben, um die spezifisch menschenrechtliche Form der Anerkennung anderer gutheiGen zu konnen. Eine Bestreitung der Menschenwürde impliziert insofern eine Aufhebung des moral point of view, auGerhalb dessen moralische Ansprüche weder formuliert noch in Abrede gcstcllt wcrden konnen (H onnefelder, Begriff, S. 60). 124 Marcic, Rechtsphilosophie, S. 41 ff., 55 f., 65; Stiibinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 50; Kohler, Recht, S. 61; Neumann, Theorie, S. 233. - Aus der alteren Literatur: Beling, Rechtswissenschaft, S. 12 f.; Binder, Grundlegung, S. 4; v. Gemmingen, Rechtswidrigkeit, S. 6 f.; Stammler, Theorie, S. 12, 15. 125 Bloy, Strafrechtsdogmatik, S. 37 Fn. 34. 126 Neumann, Theorie, S. 233. - Ebenso jakl, Recht, S. 86; Krawietz, Entscheidung, S. IX;

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A. Strafrechtswissenschaft 1mdpraktische Philosophie

für ihr berufliches Tunden Anspruch erheben, ,,nach dem Vorbilde der Justitia [... ] bei der Abwertung [sic!] entgegenliegender Interessen unparteiisch gewogen und schliefüich eine Ordnungswahl getroffen zu haben, die sich als ,Recht' darstellt und nicht als ,Willkür"'1 27 , haben sich damit von einem positivistischen Rechtsbegriff losgesagt. Sie haben die positivistische Charakterisierung des Rechts als zwangsbewehrte Ordnung sozialer Normen, deren Anwendung und Erzeugung einer entsprechenden Ermachtigung bedarf, stillschweigend um das Moment der metapositiven Legitimierbarkeit der von ihnen gesetzten Zwangsakte erganzt 128• Dies besagt freilich nicht, daG die Rechtsanwender um ihrer Integritat willen nur solche rechtlichen Regelungen anwenden dürften, die ihren hochstperséinlichen Gerechtigkeitsvorstellungen in bestméiglicher Weise entsprechen. Der Jurist ist sich bewuGt, ,,dass das Recht, wie eres mit schafft, handhabt und vollzieht, unter den Bedingungen der conditio humana keine Vollendungsordnung für das gute Leben aufrichtet, sondern sich - bescheidener - mit einer Erhaltungsordnung für das friedliche und geordnete Zusammenleben der Menschen, wie sie tatsachlich sind, begnügt" 129 • Es kommt hinzu, daG die politische Kultur einer demokratischen Gesellschaft durch eine ,,Vielfalt vernünftiger umfassender religiéiser, philosophischer und moralischer Lehren" gekennzeichnet ist 13º. ,,Sie resultieren nicht einfach aus Eigen- und Klasseninteressen oder aus der verstandlichen Neigung des Menschen, die politische Welt von einem begrenzten Standpunkt aus zu betrachten. Sie sind vielmehr das Ergebnis des freien praktischen Vernunftgebrauchs innerhalb eines Systems freier Institutionen." 131 Deshalb darf in einer demokratischen Ordnung der Wille der Mehrheit innerhalb der insbesondere durch die Grundrechte abgesteckten Grenzen auch der Minderheit gegenüber moralische Legitimitat beanspruchen. Ein jeder Wille bedarf zu seiner AuGerung eines Mediums. Im Fall des Strafrechts ist dies das Gesetz. Um auf konkrete Einzelfalle angewendet werden zu konnen, muG das Gesetz ausgelegt werden. Weil aber aus den soeben genannten Gründen dem Gesetz grundsatzlich ,,nichts Unvernünftiges und Ungerechtes angesonnen wird" 132, sind seine autoritativen Anwender dazu angehalten, ihre Auslegungstatigkeit - von den Grundbegriffen und Leitprinzipien der Rechtsordnung bis hin zu den rechtlichen Detailfragen des Alltags - an

der Maxime der nach metapositiven MaGstaben bestméiglichen Rechtf ertigung der positiv-rechtlichen Vorgaben auszurichten 133 • Für den Strafrechtswissenschaftler gilt diese Erwagungprima facie allerdings nicht in gleichem MaGe. Ihm fehlt jene Kompetenz zu autoritativen Entscheidungen, welche die Stellung der soeben betrachteten Amtstrager kennzeichnet. Weshalb sollte der Wissenschaftler sich nicht, so wie Jakobs dies für seinen Ansatz in Anspruch nimmt, auf eine ,,teilnahmslose Beschreibung" dessen, was ist, beschranken konnen, unter expliziter Absehung von der ,,Behauptung, dies solle so sein" 134 ? Weshalb sollte er mithin nicht - um einen von dem englischen Rechtstheoretiker H. L. A. Hart gepragten Terminus aufzugreifen - detached normative statements abgeben konnen 135 , in denen er aussagt, wie einer gegebenen Rechtsordnung zufolge (gegebenenfalls unter Berücksichtigung der ihr zugrundeliegenden Moralüberzeugungen) bestimmte Fallgruppen entschieden werden sollten, ohne dadurch seine eigene moralische Billigung dieser Rechtsordnung zum Ausdruck zu bringen? DaG die Existenz dieses AuGerungstyps nicht in Abrede gestellt werden kann, zeigt sich beispielhaft an der Tatigkeit des Rechtshistorikers und des Rechtsvergleichers, aber auch an den Erwagungen desjenigen, der im nachhinein zu rekonstruieren versucht, wie bestimmte Sachverhalte (etwa Fluchtversuche) nach dem Strafrecht der DDR zu beurteilen gewesen waren 136 • In diesen Fallen ist es freilich auch besonders einfach, den betreffenden Wissenschaftler von den moralischen Implikationen der von ihm ermittelten Rechtsinhalte zu distanzieren. Die praktischen Auswirkungen seines Tuns sind hier namlich erheblich geringer, als dies im Bereich der ,,normalen" Strafrechtsdogmatik der Fall ist. 1st die in Bezug genommene Rechtsordnung bereits untergegangen, kann der Rechtswissenschaftler lediglich ermitteln, wie zur Zeit ihrer Geltung, einer von seiner Auslegung nicht mehr beeinfluGbaren Vergangenheit, zu entscheiden gewesen ware; und wo das Moment des Vergleichs im Vordergrund steht, gilt das Interesse des Wissenschaftlers vorwiegend den Zügen, die eine bestimmte Rechtsordnung im Vergleich zu ihren Konkurrentinnen kennzeichnen, und vielleicht noch ihrer Problemléisungskapazitat, nicht aber - jedenfalls nicht in erster Linie - der Fortentwicklung ihrer jeweiligen normativen Binnenlogik. Anders verhalt es sich hingegen mit der gewéihnlichen rechtsdogmatischen Tatigkeit. Der selbstreferentielle Charakter des Rechts macht, anders als etwa in

W. Bock Rechtstheorie 36 (2005), 472. - Aus dem alteren Schrifttum: Beling, Rechtswissenschaft, S. 12; Binder, Grundlegung, S. 4. 127 F. v. Hippel, Gesetzmafügkeit, S. 2 f. 128 Ebenso Koller, Theorie, S. 43; ders., Begriff, S. 170 f., 177 f.; Kunzl Mona, Rechtsphilosophie, 5/9; Kirste, FS Fischer, S. 165, 170. 129 Bockenforde, Ethos, S. 35. 130 Rawls, Liberalismus, S.106. 131 Rawls, Liberalismus, S. 107. 132 Esser, FS Raiser, S. 522.

133 Bockenforde, Ethos, S. 24. -Ahnlich Dworkin, Law's Empire, S. 95 f.; Osterkamp, Gerechtigkeit, S. 34 ff., 145 ff.-Aus der alteren Literatur etwa v. Gemmingen, Rechtswidrigkeit, s.45. 134 Jakobs, ZStW 107 (1995), 867. Jestaedt versteht die Rolle der Rechtswissenschaft in der Tat in dicsem rein beschreibenden Sinn (Jestaedt, Perspektiven, S. 201; ders., Disziplin, S.264). 135 Vgl. Hart, Essays, S. 154 f.; dazu Pawlik, Rechtslehre, S. 178 ff. 136 Dazu grundlegendjakobs, GA 1994, 1 ff.; vgl. ferner Pawlik, Rechtstheorie 25 (1994), 109 ff.

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A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

der Geschichtswissenschaft, eine exakte Trennung zwischen der in den Quellen beobachteten Realitat und den aus deren wissenschaftlicher Bearbeitung resultierenden Fachtexten unmi:iglich137 . Vielmehr wird jeder neue Text über das geltende Recht mit seiner Publikation zum Teil des Stoffes, von dem er handelt, und deshalb modifiziert er schon durch seine bloge Existenz das Material, im Hinblick auf welches zukünftige Interpreten ihre Deutungen rechtfertigen müssen 138.Insofern ,,beschreibt Rechtswissenschaft ihren Gegenstand nicht nur, vielmehr verandert sie diesen auch, indem sie ihn beschreibt" 139 • Das gilt in besonderem Mage für ein der Systemidee verpflichtetes Rechtsdenken. Indem das System die einzelnen Rechtsinstitute von ihrem jeweiligen geschichtlichen Entstehungshintergrund abli:istund zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügt, formt es das Recht unweigerlich um 140. Weil die Rechtswissenschaft die Gestalt des geltenden Rechts mitpragt und weil, zumal in der deutschen Rechtskultur mit ihrer im internationalen Vergleich trotz aller Einschrankungen augergewi:ihnlich engen Wechselbezüglichkeit von Theorie und Praxis 141,die (Ober-) Gerichte gehalten sind, sich mit den Stellungnahmen der Wissenschaft auseinanderzusetzen142, übt auch sie Herrschaft aus143.Welcher Dogmatiker betrachtet es nicht als Erfolg, wenn die Praxis seine Entscheidungsvorschlage aufgreift? 144 Angesichts dieser mitbestimmenden Leistung der Strafrechtsdogmatik hat sie es mitzuverantworten, ,,dag es im Einzelfall zu einer Bejahung (oder auch Verneinung) von Strafe kommt" 145.Auch ein seiner Rolle voll bewufüer Strafrechtswissenschaftler kann deshalb nicht ausschliefüich Diener des positiven Rechts sein wollen 146. 137

Tendenziell wie hier Mollers, Leviathan, S. 120. Schon, Quellenforscher, S. 314. 139 Ernst, Recht, S. 10. - Ebenso Adomeit!Hahnchen, Rechtstheorie, Rn. 15; Braun, Rechtswissenschaft, S. 373; Larenz Mcthodenlehrc, S. 195; Schuhr, Rechtsdogmatik, S. 30 f.; R. Dreier, Rechtstheorie 2 (1971), 46; Esser, FS Raiser, S. 530 f.; Greco, GA 2006, 108; Arthur Kaufmann, ARSP 72 (1986), 432; Neumann, Theorie, S. 342; T. Walter, FS Schroeder, S.143. 14 Coing, Geschichte, S. 20 f.;Jestaedt, FS Maycr, S. 175 ff. 141 Dedek, JZ 2009, 541; Erb, ZStW 113 (2001), 5; Hirsch, FS Triindle, S.19;]estaedt, FS Mayer, S. 170 f.; ders., JZ 2012, 2 f.; Laos, Grenzen, S. 263 f.; Neumann, Wahrheit, S. 48 f.; Roxin, Strafrechtswissenschaft, S. 383; Schünemann, 1. FS Roxin, S. 5. 142 Dazu jüngst zusammenfassend Radtke, Wechselbezüge, S. 121 ff. 143 Ebenso Engel, Rechtswissenschaft, S. 31, 40; ders., Herrschaftsausübung, S. 233; Esser, FS Raiser, S. 531; Greco, GA 2006, 108; Harenburg, Rechtsdogmatik, S. 196 f.; Schmidhduser, AT, 1/3. - Verkannt wird dicser Zusammcnhang von Schünemann, FS Herzberg, S. 45. 144 Beispielc einer solchen Rczeption geben Radtke, Wechselbezüge, S. 125 und Roxin, Strafrechtswissenschaft, S. 383 f. 145 Zaczyk, FS Küper, S. 731. - Sachlich übcreinstimmend Ernst, Recht, S. 16 f.; ]escheck, ZStW 73 (1961),208; Mastronardi, Theoric, S. 59f.; Neumann, Recht, S. 331; in idcologiekritischer Wendung ferner Rottleuthner, Rechtswissenschaft, S. 209. 146 Treffend Mayer-Maly (Rechtswisscnschaft, S. 209): Sich die philosophische Tiefenstruktur eines juristischen Problems bewufü zu machen, sei ,,nicht bloE ein Gebot juristischer Kultur, sondern eine Frage der Bereitschaft zur Verantwortung". 138

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3. Das Eigenrecht des Positiven

Einer Bemerkung Radbruchs zufolge hat die Rechtswissenschaft ihre Stelle ,,zwischen den beiden Reichen, nach denen unsere Sehnsucht steht, zwischen dem Pathos des Unbedingten und dem Reichtum des Wirklichen" 147. Gerade eine ihrer Verwurzelung in der praktischen Philosophie bewufüe Strafrechtswissenschaft sucht nicht nur der grogen Denktradition, in der sie steht, gerecht zu werden. Sie erkennt auch die Begrenztheit der ihr zur Verfügung stehenden Begründungsressourcen an und weig deshalb, dag man die Ansprüche an eine im strengen Sinne wissenschaftlich-systematische Strafrechtsdogmatik nicht überziehen darf 148. Zu Recht hat Hegel sich gegen die Vorstellung gewandt, dag durch die systematische Entwicklung des philosophischen Rechtsbegriffs ,,ein positives Gesetzbuch, d.i. ein solches, wie der wirkliche Staat eines bedarf, herauskommen" ki:inne149.In den Worten Halschners, des letzten aus der Reihe der strafrechtlichen Hegelianer, ist für die Gesetzgebung ,,niemals nur das begriffliche Wesen der Dinge maBgebend, und ihre Gestaltung wird sich in allen Einzelheiten zwar erklaren, aber niemals in eine rationelle, doctrinare Forme! einzwingen lassen, dag nicht irgend ein irrationaler Rest übrig bliebe" 150.Deshalb hat, wie wiederum Hegel bemerkte, die Erkenntnis der ,,verstandigen Konsequenzen" von Bestimmungen des positiven Rechts, ,,die aus der Vergleichung derselben mit bereits vorhandenen Rechtsverhaltnissen hervorgeht, [... ] in ihrer eigenen Sphare ihr Verdienst und ihre Würdigung". Sie steht lediglich ,,auBer dem Verhaltnis mit der philosophischen Betrachtung" 151. Diese Einsicht kommt insbesondere bei der Auslegung der Einzeltatbestande des Besonderen Teils zum Tragen 152. Zwar kann nicht die Rede davon sein, dag sich der Besondere Teil einer wissenschaftlich-systematischen Behandlung vollstandig entzoge. ,,Verstehen wie Kritik der Buntheit des Besonderen Teils setzt eines voraus, die Entwicklung einer Farbenlehre im Allgemeinen Teil." 153Schon Erik Wolf hat es deshalb als das Ziel einer Dogmatik des Beson-

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147

Radbruch, Rechtsphilosophie II, S. 200. Zuletzt betont von Duttge, Bestimmtheit, S. 228 f.;Jestaedt, Theorie, S. 82 ff.; eindringlich ferner Obere1; Praxisgeltung, S. 108 f. sowie Zaczyk, FS E. A. Wolff, S. 516, 523. 149 Hegel, Grundlinien, § 3 A, Werke Bd. 7, S. 35. - Plastisch auch Hold v. Ferneck (Idee, S. 32): ,,Wir kiinnen nimmcrmehr erwarten, daE aus dem Kopf des Theoretikers fix und fertig ein Gesetzeskodex hervorgeht, wie Pallas Athene dem Haupte des Zeus entsprungen ist." 150 Hdlschner, Deutsches Strafrecht, S. 24 f. - In den Worten Fingers (Allg. iisterr. Gerichts-Z. N.F. 25 [1888], 147) ist jedes einzelne Strafgesetzbuch ,,ein CompromiE zahlreicher Principien"; Lask (Rechtsphilosophie, S. 284) spricht in dicsem Zusammenhang von dcm ,,dunklcn, vom \'Xlerteniemals durchleuchtbaren InhaltsüberschuE der unberechenbaren Faktizitat". 151 Hegel, Grundlinien, § 3 A, Werke Bd. 7, S. 35. 152 Ebcnso Frisch, Wesenszüge, S.157 f.; Hirsch, ZStW 116 (2004), 846 f.; Armin Kaufmann, GS Tjong, S. 110; Kühl, ZStW 109 (1997), 787. 153 jakobs, 1. FS Roxin, S. 810. 148

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

deren Teils bezeichnet, die Abhangigkeit der Tatbestande des Besonderen Teils von den allgemeinen Kategorien des Verbrechens nachzuweisen 154, und eine Reihe neuerer Arbeiten sind ihm darin gefolgt 155 . Dennoch lassen sich zahlreiche Streitfragen aus diesem Bereich nicht durch einen konkretisierenden Rückgriff auf die strafrechtlichen Basiskategorien beantworten, sondern nur durch eine verstandige Auslegung der vom positiven Gesetzgeber nun einmal so und nicht anders getroffenen Entscheidung. Dieser Tatigkeit kommt keineswegs eine geringere Dignitat zu als der Erorterung der verbrechenstheoretischen Grundfragen. In ihr hat seit jeher und weitgehend unberührt von den auf der Beletage der Grofüheorien verkündeten Systemansprüchen eine methodisch nur in MaBen disziplinierte Topik ihren legitimen Anwendungsbereich 156 : Die maBgeblichen Beurteilungskriterien müssen identifiziert, gegeneinander abgewogen und in das Geflecht der Prajudizien eingefügt werden. Auch im Bereich des Allgemeinen Teils ist ein sich als hyperwissenschaftlich gerierender Ableitungsfuror fehl am Platz 157 . Insbesondere der Unterscheidung zwischen systematisch zulassigen und systematisch gebotenen Folgerungen kommt hier ein erhebliches Gewicht zu. So steht es dem Gesetzgeber frei, den Rechtfertigungsgrund des Aggressivnotstands vorzusehen; zum zwingenden Kernbestand eines jeden Strafrechtssystems gehort dieses Rechtsinstitut, anders als das der Notwehr, hingegen nicht 158 . Umgekehrt mag in einer die Solidaritat stark akzentuierenden Gesellschaft das Notstandsrecht weiter ausgedehnt werden als in einer weniger solidarischen 159• Eine ihrer Verwurzelung in der praktischen Philosophie bewufüe Strafrechtswissenschaft vermag Aussagen zu treffen über den Begriff des Verbrechens und dessen grundlegende Systemkategorien, sie ist darüber hinaus dazu imstande, einen konzeptionellen Rahmen für die Interpretation der einzelnen Rechtsinstitute aufzuspannen - aber sie kann und will die Dogmatik im herkommlichen Sinne keineswegs vollstandig ersetzen.

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Erik Wolf, Typen, S. 3 f. Allgemein Kohlei; AT, S. 65; Robles, ZIS 2010, 360. - Neuere Versuche einer Anwendmtg der_Erkenntnisse der Allgemeinen Verbrechenslehre auf die Dogmatik des Besonderen Te1ls: Frzsch,_FS Herzberg, S. 729 ff.; ders., FS Jakobs, S. 97 ff.; Griinewald, Tiitungsdelikt; ]akobs, Begnff, S. 63 ff.; ders., Tiitung; ders., Urkundenfalschung; ders., FS Eser, S. 323 ff.; ders., FS Dahs, S. 49 ff.; ders., FS Schroeder, S. 507 ff.; Laufen, Wucher; Müssig, Mord; Pawlik, Ver~alten. -::A_.A. Tiedemann, FS Baumann, S. 20 (allerdings ausgehend von der hier nicht gete1lten Pram1sse, dail der Allgemeine Teil des Strafrechts im wesentlichen auf Zurechnungsregeln beschrankt sei). 155

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Zur Bede~tung der Topik für das juristischc Denken vgl. jüngst Schroder, Recht, S. 23 ff.; die klass1sche Darstellung ist: Viehweg, Topik. 157 Zutreffend Laos, Rechtsphilosophie, S. 161. 158 Pawlik, Notstand, S. 122 f.; ebenso Griinewald, Tiitungsdelikt, S. 282 f. 159 Frisch, FS Jung, S. 212.

A. Strafrechtswissenschaft imd praktische Philosophie

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Unter dem Dach der Strafrechtsdogmatik hat - in unterschiedlichen Mischungsverhaltnissen - demnach sowohl eine systematisch-grundlegende als auch eine theoretisch weniger ambitionierte, ihren Stolz in eine kunstgerechte Interpretation des positiven Gesetzes setzende Herangehensweise ihren Platz. Der alteren Literatur galt dies als geradezu selbstverstandlich, freilich verbunden mit der Tendenz, Bemühungen der letzteren Art als nicht voll satisfaktionsfahig anzusehen: Als bloBe ,,Strafgesetzkunde" seien sie keine echte Wissenschaft 160• Zu einem solchen Überlegenheitsgestus besteht jedoch kein AnlaK Eine Strafrechtsdogmatik, die nicht nur Textwissenschaft, sondern auch Mitgarantin einer rechtsstaatlich überzeugenden Entscheidungspraxis sein will, bedarf der kompetenten Versenkung in das kontingente Detail nicht weniger dringlich als der von seiten der Allgemeinen Verbrechenslehre offerierten Hohenflüge. Diese Einsicht erlaubt eine von den früheren Animositaten entlastete Anerkennung der sachlichen und methodischen Unterschiede, die zwischen den verschiedenen Tatigkeitsfeldern der Strafrechtsdogmatik bestehen. Sie im Namen eines diffusen Einheitspostulats in Abrede zu stellen ware die in jeder Hinsicht schlechtere Alternative: Das Schicksal aller um die Realitat unbekümmerten Einheitsformeln besteht darin, keiner Seite gerecht werden zu konnen und unbeachtet beiseite gelegt zu werden. Erst in Gestalt eines reflektierten Miteinanders von Verschiedenartigem ist die Strafrechtslehre ganz bei sich.

III. Rechtspolitik statt praktischer Philosophie? In einem Aufsatz aus dem Jahre 1961 vermerkte Maurach den ,,Eindruck einer sehr groBen Selbstandigkeit, um nicht zu sagen Zusammenhanglosigkeit der Diskussionen um Verbrechensstruktur und Kriminalpolitik" 161 . In Wahrheit bestehe zwischen beiden eine klare Arbeitsteilung: ,,Was das Verbrechen ist und welche Merkmale es enthalt, sagt uns die Dogmatik als Strukturlehre des Verbrechens." 162 Die Kriminalpolitik habe ,,den vorgeformten Verbrechensbegriff hinzunehmen und auf Mittel und Wege zu sinnen, diesem Verbrechen mit optimalem Erfolg entgegenzutreten" 163 . Die ,,Führungsrolle" liege also bei der Dogmatik, die Kriminalpolitik sei ,,akzessorisch" 164 • Als einen besonderen Vorzug der so verstandenen Dogmatik hob Welzel in der Festschrift für Maurach deren unpolitischen Charakter hervor. ,,DaB sie den politischen Sturm überstanden hat, daB die Wissenschaft nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches an sie praktisch unversehrt wieder anlrnüpfen und sie weiterführen 160 161 162 163 164

ObcnS.31. Maurach, FS Eb. Maurach, FS Eb. Maurach, FS Eb. Maurach, FS Eb.

Schmidt, Schmidt, Schmidt, Schmidt,

S. 301. S. 302. S. 316. S. 302.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

konnte, hat seinen Grund darin, daG sie einen ideologisch neutralen Raum geschaffen hatte." 165Diese Entpolitisierung der Strafrechtsdogmatik. 166entsprach der Neigung zur Konfliktverdrangung, die von zeitgenossischen Beobachtern als einer der charakteristischen Züge der deutschen (Nachkriegs-)Gesellschaft ausgemacht wurde 167. Der Text Welzels erschien im Jahre 1972. Wenige Jahre zuvor war bekanntlich ,,die Wiederentdeckung der Politik als Gegenstand [nicht nur, M. P.] wissenschaftlichen Interesses" erfolgt 168. Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik wurden zu ,,Feldzeichen, hinter denen sich die Gesinnungsgenossen sammeln"169- dort die traditionell orientierten Strafrechtswissenschaftler denen an einer behutsamen Fortentwicklung des überkommenen Systems ~elegen war, hier die Progressiven, die eine grundlegende Veranderung erstrebten. Die besonnenen unter den jüngeren Strafrechtlern waren sich freilich darüber im klaren, daG eine Ersetzung der Dogmatik durch Kriminalpolitik schon deshalb nicht in Betracht kam, weil dies die Funktionsunterschiede zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung einebnen und das strafrechtliche Analogieverbot aushebeln würde 170.Statt die Kriminalpolitik gegen die Dogmatik auszuspielen, müsse sie in diese einbezogen werden. So ist nach einer programmatischen Formel Tiedemanns von 1969 ,,fruchtbare Dogmatik [... ] nur moglich, wenn sie standig mit den Anforderungen der Kriminalpolitik [... ] konfrontiert wird " 171. Der einfluGreichste Versuch zur Umsetzung dieses Programms stammt ausgerechnet von Maurachs Nachfolger in München. ,,Das Strafrecht", so erklarte Roxin in einem vielzitierten Vortrag von 1970, sei ,,die Form, in der kriminalpolitische Zielsetzungen in den Modus des rechtlichen Geltens überführt 172 werden" . Die Kriminalpolitik ihrerseits sei ,,nur ein Teilbereich der allgemeinen Sozialpolitik" und müsse ,,im Kontext des gesamten Instrumentariums sozialpolitischer Regelungsmechanismen interpretiert werden" 173.DaG der Strafgesetzgeber sich wesentlich von kriminalpolitischen Zielsetzungen leiten lafü, ist freilich kaum mehr als eine Selbstverstandlichkeit; und daG eine auf die Verbesserung der Lebensverhaltnisse ,,ruhig, aber sicher abzielende Sozialpolitik

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

zugleich auch die beste und wirksamste Kriminalpolitik darstellt", ist bereits von Liszt erkannt worden 174.Roxins Anliegen war allerdings ehrgeiziger. Ihm ging es darum, Liszts Trennung zwischen Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik aufzubrechen 175und der Rechtspolitik EinlaG in die Auslegung des geltenden Rechts zu verschaffen; kriminalpolitische Probleme machten namlich ,,den eigentlichen Inhalt auch der allgemeinen Verbrechenslehre" aus 176. Wie aber steht es um den Verbindlichkeitsanspruch rechtspolitischer Argumente? Zwar sind auch im Bereich des Politischen Gründe unverzichtbar; denn anders als durch Gründe lassen sich selbstbewufüe Individuen nicht auf allgemeine Zwecke verpflichten 177• Auch die Politik bewegt sich also ,,in einem Klima wechselseitiger Rechtfertigung, die aus eigener Logik nach einer für alle verbindlichen Legitimation verlangt" 178.Demzufolge kann und wird zwar auch die Kriminalpolitik Gründe für den Einsatz des Strafrechts nennen. Aus der Logik des Politischen folgt indessen, daG diese Gründe mit der politischen Stimmung wechseln: ,,Kriminalpolitik ist kontingent" 179,wahrend es der Dogmatik, deren Aufgabe in der Standardisierung von EntscheidungsmaGstaben besteht, gerade umgekehrt auf Kontinuitat ankommt 180:Recht ist langsam 181.Aus gutem Grund unterstehen deshalb Gesetzgebungsakte anders als gerichtliche Entscheidungen dem Rückwirkungsverbot 182. Die Gerichte werden durch ihre Pflicht, Urteile in einer Weise zu begründen, die sie in die bisherige Judikatur einfügt und den Argumentationsstandards der Rechtswissenschaft ihrer Zeit Genüge tut, hinreichend diszipliniert. Demgegenüber ist die Rechtspolitik nicht zur systematisch-axiologischen Geschlossenheit verpflichtet und kann es auch nicht sein 183; das alles vermittelnde Element der Politik ist vielmehr der Kompromil3 184.,,Der Rückgriff von der Strafrechtsdogmatik auf die Kriminalpolitik bedeutet, so gesehen, entweder mit einer Fiktion zu arbeiten oder sich jeder kontingenten Gesetzesreform zu beugen und somit jede Rationalisierung preiszugeben." 185Wenn Roxin sich in seinem Lehrbuch einerseits auf den kantischen Systembegriff beruft186, andererseits aber - ganz im Geiste seines soeben erwahnten Vortrags 174

165

Welzel, FS Maurach, S. 5. Dazu Hassemer, Strafrechtswisscnschaft, S. 266 ff.; Amelung, JZ 1982, 617. - Muñoz Conde (FS Hassemer, S. 552) bezeichnet dieses Selbstverstandnis treffend als refugium peccatorum für diejenigen, die im Dritten Reich kriminalpolitische Sünden begangen hatten. - Ihren markantesten Ausdruck findet die genannte Tendcnz in den ,,sachlogischen Strukturen" Welzels; dazu Sticht, Sachlogik, S. 272 ff., 297 ff. 167 Exemplariscb Dahrendorf, Gesellschaft, S. 159 ff. 168 Amelung,JZ 1982, 617. 169 Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 12. 170 Dazu im einzelnen Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 166 ff. 171 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 22. 172 Roxin, Kriminalpolitik, S. 40. 173 Roxin, Kriminalpolitik, S. 47. 166

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Liszt, Abhandlungen, Bd. II, S. 246. Vgl. Roxin, Kriminalpolitik, S. 1 ff. 176 Roxin, Kriminalpolitik, S. 8. 177 Gerhardt, Partizipation, S. 303 f. 178 Gerhardt, Partizipation, S. 304. 179 Martins, Versuch, S. 85. 180 Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 178 f. 1s1 Treffend Lege, Juristen, S. 232. 182 Für eine Erstreckung des Rückwirkungsverbots auf die Verscharfung einer bestehenden Rechtsprechung pladiert demgegenüber Puppe, AT, § 19 Rn. 32 m.w.N. 183 Ahnlich]akobs, AT, 4/81 m.w.N. 184 Gerhardt, Partizipation, S. 426. 185 Martins, Versuch, S. 85; ahnlich Haas, Kausalitat, S. 44; Stiibinger, Idealisicrtes Strafrecht, S. 56; Moreno Hernández, 1. FS Roxin, S. 82 f. 186 Roxin, AT 1, § 7 Rn. 3. 175

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

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hervorhebt, daG die ,,leitenden Zwecksetzungen, die das Strafrechtssystem konstituieren, [... ] nur kriminalpolitischer Art sein" konnen 187, so sucht er Unvereinbares zusammenzuzwingen 188. Dank seines auGerordentlich weiten Verstandnisses von Kriminalpolitik 189 bewegt sich Roxins Denken allerdings zumeist in weitaus traditionelleren Bahnen, als es der Modernismus seiner terminologischen Fassade vermuten lafü 190. Auch Roxin geht es der Sache nach um die Durchführung gewisser rechtsphilosophischerGrundgedanken 191. Das gesellschaf tsvertragliche Denkmodell, aus dem er die Aufgabe des Strafrechts - subsidiarer, menschenrechtswahrender Rechtsgüterschutz - herleitet, ist, wie er ausdrücklich einraumt, ,,selbst eine philosophisch-staatstheoretische Konzeption" 192. Und sein Vorwurf an ein streng systemgebundenes Denken, es konne ,,zwar eindeutige und gleichmafüge, nicht aber sachgerechte Ergebnisse verbürgen" 193 , vielmehr konne ,,die Gerechtigkeit im je besonderen Einzelfall Schaden leiden" 194,beruht wie selbstverstandlich auf der Voraussetzung, daG die Aufgabe der Strafrechtsdogmatik in nichts Geringerem bestehe als darin, der klassischen Leitidee der Rechtsphilosophie, der Gerechtigkeit, zum Siege zu verhelfen. So begrüGenswert das Bekenntnis Roxins zur Rechtsphilosophie auch ist, so problematisch ist die Knappheit, mit der er nach wie vor die rechtsphilosophischen Grundlagen seiner Konzeption abhandelt. Welchen Anforderungen muG beispielsweise ein Losungsvorschlag genügen, um das Pradikat ,,(sach-)gerecht" zu verdienen? Roxin begnügt sich im wesentlichen damit, entweder ausdrücklich an das gleichsam vortheoretische Gerechtigkeitsempfinden seiner Leser zu appellieren 195oder sich stillschweigend auf die intuitive Plausibilitat seiner Wertungen zu verlassen. So verliert er kein Wort der Begründung zur Rechtfertigung seiner zentralen verbrechenstheoretischen These, wonach den überkommenen 187

Roxin, AT 1, § 7 Rn. 59. Ahnlich wie hier Haas, Kausalitat, S.44f.; Pattoello Mantovani, ZStW 109 (1997), 17 ff.; Zabel, Schuldtypisierung, S. 195; Zaczyk, FS Puppe, S. 312. 189 Kriminalpolitik sei ,,die Gesamtheit der für die Festlegung und Ausgestaltung der Strafbarkeitsvoraussetzungen wie der Sanktionen nach unserer Verfassung und Strafgesetzgebung maGgebenden Wertungsaspekte" (Roxin, Strafrechtsdogmatik, S. 22). 19 º Ebenso Naucke, ZStW 85 (1973),426 Fn. 54. 191 Bereits in der alteren Literatur wird die Auffassung vertreten, daG wir die ,,Rechtsphilosophie als [die] Lehre vom Rechtswert [... ], in die Sphare des praktischen Handelns erhoben, Rechtspolitik zu nennen berechtigt sind" (so Schwarzschild, v. Liszt, S. 6). 192 Roxin, FS Küper, S. 494. - Unklar ist freilich, wie dieses Bekenntnis zu dem ungefahr zeitgleich verfaGten Verdikt Roxins paGt, bei der Anlehnung des Strafrechts an Wissenschaften wie die Theologie, die Philosophie oder die Soziologie handele es sich um ,,Irrwege"; die Rechtsphilosophie sei ein Teilbereich der Philosophie, nicht der Jurisprudenz (Roxin, FS Mangakis, S. 237 f.). 193 Roxin, Kriminalpolitik, S. 4. 194 Roxin, AT 1, § 7 Rn. 44. 195 Vgl. Roxin, AT 1, § 7 Rn. 46.

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Deliktskategorien unterschiedliche ,,kriminalpolitische Funktionen" zuzuordnen sind 196:der Tatbestandsmafügkeit der Aspekt der Gesetzesbestimmtheit 197, der Rechtswidrigkeit derjenige der ,,sozial richtigen Regulierung von Interesse und Gegeninteresse" 198und der Schuld derjenige der ,,Strafzwecklehre" 199im engeren Sinne. Ein solcher, gleichsam freischwebender Intuitionismus muG sich nachgerade zwangslaufig in Probleme verstricken. Beispielhaft sei verwiesen auf die Lehre von den Strafzwecken. Wenn Roxin in seinem Lehrbuch die Darstellung seiner Straftheorie mit einem Bekenntnis zum ,,ausschliefüich praventive[n] Zweck der Strafe" 2ºº eroffnet, um nur wenige Seiten spater zu konstatieren, rein praventive Zwecke konnten die Strafe nicht legitimieren 201,so erscheinen zwar beide AuGerungen, in ihrem unmittelbaren Kontext betrachtet, jeweils plausibel begründet: Im ersten Fall beruft Roxin sich auf die Freiheitsschutzaufgabe des Strafrechts, im zweiten auf die strafbarkeitslimitierende Funktion des Schuldprinzips. Dennoch laGt sich der Widerspruch zwischen ihnen nicht hinwegdiskutieren2º2. Es kommt hier ein genereller Zug von Roxins Argumentations- und Darstellungsweise zum Vorschein: Seine Ausführungen sind auf die Erzeugung punktueller Evidenzerlebnisse zugeschnitten. Was ihnen indessen nicht selten fehlt, ist eine systematisch überzeugende Verzahnung ihrer einzelnen Teilkomponenten. Mit einer gewissen Überspitzung formuliert, scheint das Roxin eigentümliche Changieren zwischen den Bezugssystemen der Rechtsphilosophie und der Rechtspolitik vor allem die Funktion zu haben, ihm ein hoheres MaG an begründungstheoretischer Flexibilitat zu ermoglichen, als dies bei einer konsequenten Bezugnahme auf eine ausgearbeitete Konzeption der praktischen Philosophie der Fall ware. Der Preis dafür ist allerdings nicht gering: Er besteht in einem betrachtlichen Schwund an systematischer Geschlossenheit 203. Diesen Preis zu zahlen ist die hiesige Konzeption nicht bereit. Zwar wirken nach einem treffenden Befund Luhmanns Theoriezwange selektiv204, und es kann nicht von vorn-

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196 Grundlegend Roxin, Kriminalpolitik, S. 15 ff.; aus neuerer Zeit etwa ders., Strafrechtsdogrnatik, S. 31 ff. - Grundsatzlich zustirnrnend, wenngleich für eine flexiblere Zuordnung der kriminalpolitischen Funktionsbestirnrnungen zu den einzelnen Deliktskategorien pladierend Moccia, Funktion, S. 60 ff.-Kritisch zur Überzeugungskraft der von Roxin vorgeschlagenen Zweckbestimmungen dagegen Amelung, JZ 1982, 617ff. und Stratenwerth, MSchrKrirn 55 (1972), 197. 197 Roxin, Krirninalpolitik, S. 15. 198 Roxin, Krirninalpolitik, S. 15. 199 Roxin, Kriminalpolitik, S. 33. 200 Roxin, AT 1, § 3 Rn. 37. 201 Roxin, AT 1, § 3 Rn. 61 (Hervorhebung hinzugefügt). 202 Ebenso Lesch, Verbrechensbegriff, S. 167ff. - Naher zur Kritik an Roxins Straftheorie Pawlik, GA 2006, 345 ff.; zur Rolle des Schuldprinzips in der Roxin-Schule unten S. 85 Fn.448. 20 3 Vgl. Bumke, Rechtswidrigkeit, S. 31 f. 204 Luhmann, Gesellschaftsstruktur, Bd. 3, S. 153.

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A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

l. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

herein ausgeschlossen werden, daB dabei Bewahrenswertes verlorengeht. Hoher als diese Gefahr ist jedoch der Gewinn zu veranschlagen, den der Rückgriff auf einen philosophisch angeleiteten Systembegriff verspricht 205.Ein solcher Ansatz sorgt nicht zuletzt dafür, daB die Interaktion zwischen Strafrechtsdogmatik und Gerechtigkeits- bzw. Freiheitsidee sich in methodisch kontrollierter und inhaltlich anspruchsvoller Weise abspielt. Er tragt damit dem Anliegen Roxins letztlich besser Rechnung als das als Erbteil vergangener Zeiten mitgeschleppte Schlagwort von der ,,Kriminalpolitik".

IV. Straftheorie als Ausgangspunkt l. Primat des Verbrechensbegriffs?

Jede sachliche Definition der Strafe verweist ihrerseits auf den Begriff des Verbrechens. ,,Mag man sie als Vergeltung des Verbrechens oder als MaBnahme zu dessen Verhütung bestimmen: ohne Beziehung zum Verbrechensbegriff lafü die Strafe sich jedenfalls nicht definieren." 2º6 Mehr noch: Verbrechensbegriff und Strafbegründung müssen zueinander passen wie Aktion und Reaktion, Rede und Gegenrede 207. ,,Was Verbrechen ist, hangt davon ab, was Strafe bedeutet, und umgekehrt wird die Strafe durch das Wesen des Verbrechens bestimmt." 2º8 Eine axiologisch unpassende Reaktion ist sinnlos, und sinnlose Übelzufügungen sind unzulassig. Es bedarf kaum der Hervorhebung, daB dieses Adaquitatsprinzip nicht Produkt der strafrechtsdogmatischen Auslegung des positiven Rechtsstoffes ist, sondern zum Kreis jener metadogmatischen Vorgaben gehort, welche die Auslegung zugrunde zu legen hat, wenn sie ihrem Systemanspruch gerecht werden will. Die Erhellung des Zusammenhanges zwischen Strafbegründung und Verbrechensbegriff obliegt der Allgemeinen Verbrechenslehre. Der Klarung harrt freilich noch die Frage, von welchem Ausgangspunkt her sie diese Aufgabe in Angriff nehmen sol!. Gallas zufolge droht hier ein hoffnungsloser Zirkel: ,,Verbrechen ware, was Strafe fordert, und Strafe, was durch das Verbrechen gefordert wird." 2º9 Wo also beginnen? In den ersten dreiJahrzehnten des vorigenJahrhunderts entspann sich um dieses Problem eine lebhafte, heute aber weitgehend vergessene Kontroverse. Namhafte Autoren leugneten eine selbstandige Bestimmbar205

Dazu oben S.15f. Gallas, Gründe, S. 2. 207 MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 2; SK-H.-L. Giinther, Vor § 32 Rn. 2; Schmidhduser, AT, 2/6; Gdrditz, Staat 49 (2010), 348; Hassemer, Selbstverstandnis, S. 6, 45;jakobs, System, S. 13; ders., Bedingungen, S. 59; ders., ZStW 101 (1989), 519; Müssig, GA 1999, 122; Lesch, ZStW 105 (1993), 272 f.; Naucke, Wechselwirkung, S.175, 196; Perron, Rechtfertigung, S. 23, 26; Voflgdtter, Handlungslehren, S. 168. 208 Dahm, Recht, S. 418. 209 Gallas, Gründe, S. 2. -Ebcnso H.-L. Günther, Rechtfertigung, S. 373. 206

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keit des Verbrechens. Es sei nichts weiter als eine Unterart des Unrechts 21º. Deshalb konne seine nahere Bestimmung nur mit Hilfe der Strafzwecklehre erfolgen 211.In den Worten Eberhard Schmidts besteht die ,,Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Strafrechtssystems" darin, ,,dass die rechtsdogmatischen Begriffe, die als Strafvoraussetzungen aufgestellt werden, auf die wesentlichen Gesichtspunkte hinweisen, die für den Sinn und den Zweck und demgemass für die Ausgestaltung der Strafe in Betracht kommen" 212. Sauer zufolge entspricht diese Betrachtungsweise ,,durchaus der Natur der Sache und geht schnurstracks auf das Ziel los: das Strafrechtssystem wird aus seiner eigenen Idee heraus entworfen"213. Nicht weniger gewichtige Autoren standen auf der Gegenseite. Sie pladierten für einen Vorrang des Verbrechensbegriffs vor dem Strafbegriff 214. Programmatisch formulierte Liepmann: ,,Die Strafe ist eine Gegenwirkung gegen das Verbrechen: sie wird daher nach Begriff und Inhalt an die Eigentümlichkeiten des Verbrechens anzulrnüpfen haben." 215 Mittermaier erganzte: ,,Das, was wir Verbrechen nennen, bleibt, unsere Stellung ihm gegenüber anden sich, unsere Erkenntnis wird besser." 216Aus dem durch eine veranderte Verbrechensauffassung umgewandelten Schuldbegriff fli:issen sodann die kriminalpolitischen Forderungen nach einem neuen Strafbegriff; ,,aber nicht umgekehrt"217. Worin jedoch besteht das Proprium des Verbrechensbegriffs? Zu dieser Frage findet sich bei den Vertretern der letztgenannten Auffassung erstaunlicherweise kaum etwas. Um eine gehaltvolle Begründung zu finden, muB man bis ins frühe 19. J ahrhundert zurückgehen - genauer gesagt, bis zur Unrechtslehre Hegels, die nach Gallas' Urteil den bedeutendsten und konsequentesten Versuch darstellt, das Strafrecht von der Kategorie des Verbrechens her zu begreifen 218. In seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts eri:irtert Hegel zunachst den Begriff des Verbrechens 219, auf das er sodann die Strafe als dessen begriffsnotwendige Aufhebung bezieht 22º. Diesem Aufbau liegen Voraussetzungen zugrunde, die in das Zentrum von Hegels philosophischer Methode führen.

° Kohlrausch, Art. ,,Strafrecht",

S. 756. Ba11mgarten, Aufbau, S. 2 ff.; ders., SchwZStr 34 (1921), 59; F. Kaufmann, Grundprobleme, S. 59 ff.; Kohlrausch, Schuld, S. 183 f.; ders., Art. ,,Strafrecht", S. 756 f.; Kantorowicz, Tat, S. 9; Radbruch, Rcchtsphilosophie II, S. 190; Eb. Schmidt, SchwZStr 45 (1931), 204 ff.; Tesar, Übcrwindung, S. 100. 212 Eb. Schmidt, SchwZStr 45 (1931),225. 213 Sauer, Grundlagen, S. 203. 214 Liepmann, Einleitung, S. 3, 189; W. Mittermaier, ZStW 44 (1924), 3 f.; R. Schmidt, Rückkehr, S. 12; Erik Wolf, Schuldlehre, S. 32; Zimmerl, Aufbau, S. 5. 215 Liepmann, Einleitung, S. 189. 216 W. Mittermaier, ZStW 44 (1924), 4. 21 7 Erik Wolf, Schuldlehre, S. 32. 218 Gallas, Gründe, S. 2. 219 Hegel, Grundlinien, §§ 95 ff., Werke Bd. 7, S. 181 ff. 220 Hegel, Grundlinien, §§ 99 ff., Werke Bd. 7, S. 187 ff. 21

211

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

Die Methode, so schreibt Hegel in der Einleitung zur Wissenschaft der Logik, sei ,,von ihrem Gegenstande und Inhalte nichts Unterschiedenes [... ]; - denn es ist der Inhalt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt. Es ist klar, daB keine Darstellungen für wissenschaftlich gelten konnen, welche nicht den Gang dieser Methode gehen und ihrem einfachen Rhythmus gemaB sind, denn es ist der Gang der Sache selbst." 221 Deshalb ist es für Hegel eine Selbstverstandlichkeit, daB die Methode der Logik auch in den Grundlinien vorausgesetzt sei222 • Die sich aus der Anwendung der dialektischen Methode ergebenden Bestimmungen in der Entwicklung des Begriffs seien einerseits selbst Begriffe. Weil aber der Begriff wesentlich als Idee sei - unter einer Idee versteht Hegel den ,,realisierte[n] Begriff" 223 - nahmen jene Bestimmungen andererseits die ,,Form des Daseins" an, ,,und die Reihe der sich ergebenden Begriffe ist damit zugleich eine Reihe von Gestaltungen" 224 • Kurzum: In der Rechtsphilosophie kehren die Kategorien der Logik in institutioneller Umkleidung zurück und erweisen dadurch ihre Wirklichkeitsmachtigkeit. Dementsprechend ist auch die zentrale Begründungsfigur in Hegels Unrechtslehre logischer Herkunft: die Kategorie des Scheins. In der Logik definiert Hegel den Schein als ,,wesenloses Sein"225 , das deshalb ,,das in sich Nichtige" sei226 • Scheinhaft in diesem Sinne sei das Unrecht insofern, als es in der ,,Entgegensetzung des Rechts an sich und des besonderen Willens" bestehe 227 • Seine Wahrheit liege deshalb darin, daB es nichtig sei228 • Auch die verschiedenen Unrechtsformen bestimmt Hegel anhand logischer Kategorien. Das Verbrechen als die gravierendste Form des Unrechts entspricht danach einem negativunendlichen Urteil2 29 . In einem solchen ist sogar die ,,Form des Urteils aufgehoben", es ist daher ein ,,widersinniges Urteil "23 º.Beispiele von negativ-unendlichen Urteilen sind Hegel zufolge ,,leicht zu haben, indem Bestimmungen zu Subjekt und Pradikat negativ verbunden werden, deren eine nicht nur die Bestimmtheit der andern nicht, sondern auch ihre allgemeine Sphare nicht enthalt; also z.B. der Geist [ist] nicht rot, gelb usf., nicht sauer, nicht kalisch usf., die Rose ist kein Elephant, der Verstand ist kein Tisch und dergleichen" 231 . Ein ,,reelleres Beispiel" des negativ-unendlichen Urteils sei allerdings die ,,base

Handlung" 232 . Im bürgerlichen Rechtsstreit werde etwas nur als das Eigentum der anderen Partei negiert, so daB eingeraumt werde, es sollte das Ihrige sein, wenn sie das Recht dazu harte; die allgemeine Sphare, das Recht, werde also anerkannt und erhalten. Das Verbrechen aber sei ,,das unendliche Urteil, welches nicht nur das besondere Recht, sondern die allgemeine Sphare zugleich negiert, das Recht als Recht negiert" 233 . Indem der Verbrecher ,,das Dasein meiner Freiheit in einer auBerlichen Sache"234 attackiere, negiere er zugleich ,,das Allgemeine, Unendliche im Pradikate des Meinigen, die Rechtsfahigkeit" 235 als die das abstrakte Recht konstituierende Grundkategorie von Rechtlichkeit schlechthin 236 • Dialektik im Hegelschen Verstandnis bedeutet nichts anderes, als ,,das eigene Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen" nachzuweisen 237 • Dies gilt auch für das Recht. ,,Das was wir Wesen nannten ist das Recht an sich, dem gegenüber der besondre Wille als unwahr sich aufhebt." 238 ,,[Als] aus seiner Negation durch Negation dieser zurückkehrend, ist das Recht als wirkliches, geltendes, wahrend es als an sich früher nur unmittelbares Sein hatte." 239 Durch die Negation des Negativen wird dessen Macht gleichsam gebannt und dadurch eine groBere Stabilitat erreicht 240 . Ebenso wie eine jede Negation bestimmte N egation ist, also ,,die N egation der bestimmten Sache, die sich auflost" 241 , muB freilich auch die N egation der N egation bestimmt sein, d.h. sie muB di eser ihren kontradiktorischen Gegenbegriff gegenüberstellen. Wird im Verbrechen das Recht als Recht verletzt, so muB Hegel zufolge seine Nichtigkeit dergestalt manifestiert werden, daB das Recht durch einen gegen den Willen des Verbrechers gerichteten Zwang ,,seine Gültigkeit zeigt und sich als ein notwendiges vermitteltes Dasein bewahrt" 242 . Diesen Zwang nennt Hegel Strafe. Deshalb kann er sagen, daB ,,nichts anderes bei der Strafe hervor[kommt], als was im Verbrechen schon liegt" 243 • Übersetzt in das dem Juristen besser vertraute Kategoriensystem der Straftheorie besagt dies: Weil das Verbrechen der Aufhebung bedarf, ist Strafe erforderlich; oder, noch lmapper gefafü: Strafe darf verhangt werden, weil verbrochen worden ist. Sie ist ihrer logischen Struktur nach Vergeltung.

221 222 223

Hegel, Logik I, Werke Bd. 5, S. 50. Hegel, Grundlinien, § 31, Werke Bd. 7, S. 84. Hegel, Enzyklopadie I, § 242, Werke Bd. 8, S. 392; naher dazu Pawlik, Staat 41 (2002),

186 ff. 224 225 226 227 228 229 23

º

231

232 233 234 235

Hegel, Hegel, Hegel, Hegel, Hegel, Hegel, Hegel, Hegel,

Grundlinien, § 32, Werke Bd. 7, S. 85. Logik II, Werke Bd. 6, S. 17. Logik II, Werke Bd. 6, S. 21. Grundlinien, § 82, Werke Bd. 7, S. 172. Grundlinien, § 82, Werke Bd. 7, S. 172. Grundlinien, § 95, Werke Bd. 7, S. 181. Logik II, Werke Bd. 6, S. 324. Logik II, Werke Bd. 6, S. 324.

236 237 238 239 240 241 242 243

Hegel, Logik II, Werke Bd. 6, S. 324 f. Hegel, Logik II, Werke Bd. 6, S. 325. Hegel, Grundlinien, § 94, Werke Bd. 7, S. 180. Hegel, Grundlinien, § 95, Werke Bd. 7, S. 182. Treffend Ramb, Strafbegründung, S. 30. Hegel, Enzyklopadie I, Werke Bd. 8, S.172. Hegel, Vorlesungen, Bd. 3 (Nachschrift Hotho), S. 283. Hegel, Vorlesungen, Bd. 3 (Nachschrift Hotho), S. 283. Naher Hosle, System, Bd. I, S. 208 f. Hegel, Logik II, Werke Bd. 6, S. 49. Hegel, Grundlinien, § 97 Z, Werke Bd. 7, S. 186. Hegel, Vorlesungen, Bd. 3 (Nachschrift Hotho), S. 282.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

Wahrend die Frage nach dem Rechtsgrund der staatlichen Strafbefugnis herkommlich der praktischen, genauer: der politischen Philosophie zugewicsen wird, findet sie bci Hegel somit ihre Beantwortung bcreits auf einer gleichsam vorpolitischen Systemebcne, namlich in der Logik. Unter Zugrundelegung von Hegels dialektischcr Methode ist diese Art des Vorgchens durchaus überzeugend. Wie aber, wenn die Überzeugungskraft dieser Denkweise schwindet? In der allgemeinen Philosophie tritt dieser Fall bekanntlich schon bald nach Hegels Tod (1831) ein 244 . Mit bitterem Unterton konstatiert 1857 der - wenngleich kritische - Hegelianer Rudolf Haym, das groge Hegelsche Haus sei failliert, weil der ganze Gcschaf tszweig darniederliege. Es sei ein ,,groge[r] und fast allgemeine[r] Schiffbruch des Geistes und des Glaubcns an den Geist eingetreten" 245 . Auch unter den Rechtswissenschaftlern stogt Hegels Logik spatestens im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts auf nahezu einhellige Ablehnung. In seiner Festrede zu Hegels hundertstem Geburtstag spart Gustav Rümelin, der Kanzler der Universitat Tübingen, nicht an deutlichen Worten. Die dialektische Methode sei die ,,unerqicklichste und peinlichste Seite des Studiums der Hegel'schen Schriften und Lehren" 246 , eine ,,Vcrirrung", die ,,auger einem kleinen Hauflein von dem alten Stamm der Schule" niemand mehr crnstnehme 247 ; sie gleiche ,,einem schadlichen Stoff oder Aussaz, der den ganzen Korper bis in die innersten Poren durchzieht und durchdringt, und allen Theilen ein krankes Element beimischt" 248 . In der Strafrechtswissenschaft will man von der dialektischen Methode ebenfalls nichts mehr wissen. Selbst dem letzten aus der Reihe der Hegelianer, Hugo Halschner, erscheint in seinem Deutschen Strafrecht von 1881 der logische Gehalt der Hegelschen Straftheorie nur noch als ein zweifelhaftes ,,dialektische[s] Kunststück:" 249 ; Richard Schmidt will von der von ihm geforderten ,,Rückkehr zu Hegel" dessen Metaphysik ,,in ihrem ganzen derben Dogmatismus" ausdrücklich ausnehmen 250 ; und Liszt, der maggebliche Propagandist der neuen Zeit, hat ohnehin nur noch Spott für sie übrig 251 . Man mag diese

Entwicklung bedauern, aber man kann sie nicht ignoricren. Stilformen des Denkcns konnen auch kraftlos werden 252 . An Hegels Vcrbrechens- und Straftheorie anzuknüpfen, als ware nichts geschehen, ist somit schon wegen der betrachtlichen metaphysischcn Investitionen problematisch, zu dencn dieser Schritt notigt. Womoglich noch gewichtiger ist ein zweiter Gesichtspunkt. Wie soeben gezeigt wurde, ist Hegels Voranstellung des Verbrechens- vor dem Strafbegriff straftheoretisch keineswegs neutral. Dieselbe Logik, die Hegel zu diesem Aufbau notigt, legt ihn zugleich darauf fest, die Strafe als Aufhebung des Verbrechcns, mithin als Vergeltung der verbrecherischen Tat zu interpretieren. Noch prekarer ist freilich die Lage desjenigen, der, obschon er Hegels metaphysische Pramissen nicht teilt und deshalb darauf verzichtet, das Verbrechen als Objektivation einer allgemeinen logischen Kategorie zu deuten, am Hegelschen Primat des Vcrbrechensbegriffs festhaltcn mochte. Wie will er begründen, dag ein bestimmtes Verhalten verbrecherisch, also strafwürdig sei, und wie will er das verbrecherische Unrecht von anderen Unrechtsformen, etwa dem Zivilunrecht abgrenzen, ohne dabei auf cin zumindest intuitives Vorverstandnis der Bedeutung und des Zwecks von Strafe zurückzugreifen? Dag beispielsweise die (herkommlich so bezeichnete) strafrechtliche Schuld anspruchsvollere Voraussetzungen beinhaltet als das zivilrcchtliche Verschulden, lagt sich nur begreiflich machen, indem man auf die unterschiedlichen Ziele von Strafe einerseits und Schadensersatz andererseits abstellt. Ist dem aber so, dann verliert die Annahme Liepmanns und seiner Gesinnungsgenossen, dag es moglich sei, einen von der Diskussion um die Straflegitimation unbeeinflugten Verbrechensbegriff zu konzipieren, ihre Grundlage, und die Folgerung, dem begründungstheoretischen Primat der Rechtfertigungsproblematik off en Rechnung zu tragen, drangt sich geradezu auf. Die Frage, welche Zwecke mit der Strafe verfolgt werden dürfen, gehort demnach anden Beginn der Allgemeinen Verbrechenslehre, und der Verbrechensbegriff ist sodann an dieser Zweckbestimmung auszurichten. Die Strafrechtswissenschaft, die sich seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts zunehmend zu dieser Auffassung bekennt 253 , hat somit die erste und wichtigste Weiche auf dem Wcg zu einer normativ überzeugenden Allgemeinen Verbrechenslehre richtig gestellt.

244

O ben S. 4 f. Haym, Hegel, S. 5. 246 Riimelin, Reden, S. 47. 247 Riimelin, Reden, S. 50. 248 Riimelin, Reden, S. 54. 249 Halschner, Deutsches Strafrecht, S. 7. - Unter den heutigen hegelianisch gepragten Strafrechtlern herrscht die gleiche Einschatzung vor; so tut Seelmann (FS Jakobs, S. 637) Hegels SchluG von der Logik auf die Ethik knapp als ,,intellektualistischen Fehlschluss" ab. 250 R. Schmidt, Rückkehr, S. 10. 251 Vgl. Liszt, Aufsatze, Bd. II, S. 297. - Repriisentativ für den Zeitgeist auch Janka (Grundlagen, S. 46): Hegel unternehme es ,,in der ihm eigenen, im Fundamente unwahren und willkürlichen, um einen durch Hegel berühmt gewordenen Ausdruck zu gebrauchen, nichtigen Weise [... ],die Strafe dialektisch aus dem Rechtsbegriffe zu entwickeln". Er komme dabei aber ,,bloG bis zur Negation, der theoretischen Ungültigerklarung des Verbrechens [... ], 245

worauf dann die Strafe ohne jede innere Verbindung (hier hort die Dialektik des Begriffes auf), rein auGerlich und ohne alle Begründung aufgesetzt wird, lediglich weil ein undefinirtes Verlangen Hegel's dieselbe begehrt". 252 Dazu jüngst Henrich, Philosophic, S. 130. 253 Nachweise oben S. 17 Fn. 116.

A. Strafrechtswissenschaft und praktische Philosophie

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

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2. Grundmodelle der Strafbegriindung

Bereits Feuerbach begreift das Árgernis des Strafzwanges als den Ausgangspunkt strafrechtswissenschaftlicher Theoriebildung 254. Am Beginn seiner Revision steht deshalb die Frage, wie es dem Staat moglich sei, ,,zu strafen, um einer begangenen rechtswidrigen Handlung willen Übel zuzufügen" 255. Der ,,Begriff von biirgerlicher Strafe" sei ,,der Grundbegriff, von welchem das ganze Criminalrecht ausgeht und auf welchen alles zurücklauft" 256; aus ihm müsse die gesamte strafrechtliche Imputationslehre entwickelt werden 257.Von der Klarung des Begriffs der Strafe ist Feuerbach zufolge freilich die ,,ganz andere Frage" zu unterscheiden, ,,ob dieser Begriff eine rechtliche Realitat habe? ob es ein Recht, ein solches Uebel zuzufügen, gebe?" 258Der Begriff der Strafe ist das eine, ihre Legitimationsvoraussetzungen sind ein anderes 259. So wie es legitime Strafen gibt, gibt es auch illegitime Strafen. Illegitime Strafen sind aber nur denkbar, wenn das Fehlen einer Legitimationsbedingung nicht sogleich dazu führt, daB man der betreffenden sozialen Praxis die Bezeichnung als Strafe verweigert 260. Wie ist der Begriff der Strafe zu bestimmen? Wer dieser Frage nachgeht, operiert nicht im luftleeren Raum. Die Strafe ist keine Erfindung der Theorie261.,,Das Wort und die Sache waren" in den Worten Feuerbachs ,,lange vor der Wissenschaft, in welcher der darauf bezeichnete Begriff dargestellt werden soll, vorhanden." 262Um den Begriff der Strafe dingfest zu machen, ist deshalb, so Feuerbach weiter, ,,der Sprachgebrauch [... ) unser erster und einziger Führer, und die Analysis desselben das Fundamentalgeschaft in dieser Untersuchung"263. Dies heifü freilich dem Alltagssprachgebrauch ein MaB an analytischer Differenziertheit beizulegen, das diesen überfordern dürfte 264. Greco schlagt deshalb vor, stattdessen das ,,Prinzip des methodischen Pessimismus" zur Anwendung zu bringen. Danach ist unter mehreren moglichen Beschreibungen der Wirklichkeit diejenige zu wahlen, welche jene Züge des betreffenden Wirklichkeitssegments hervorhebt, die es als fragwürdig erscheinen las254

Den innovativen Charakter dieses Vorgehens unterstreichen Greco, Lebendiges, S. 59 und Maiwald, FS Sellert, S. 428,431. 255 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 24. 256 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. XIX. 257 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. XX. 258 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 4. 259 Hoerster, Strafe, S. 13; Neumann, Alternativen, S. 99; ders., FS Jakobs, S. 437 f.; ders., Anfragen, S. 160 f.; Papageorgiou, Schaden, S. 19. 260 Greco, Lebendiges, S. 276 ff. 261 Darauf hat zuletzt Mushoff (Strafe, S.101) hingewiesen. 262 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 3. 263 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 3. Ebenso cin Jahrhundert spater Baumgarten, Aufbau, S.12. 264 Greco, Lebendiges, S. 279.

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sen2c,5 _ Im Fall der Strafe ist dies ihr Charakter als (sowohl sinnliches wie auch kommunikatives) Übel266 . Im Ergebnis kommt Greco freilich weitgehend mit Feuerbach überein. Wir würden leicht gewahr, so resümiert dieser - ganz im Einklang mit der klassischen Definition des Grotius 267- seine Analyse des gewohnlichen Sprachgebrauchs, ,,daB Strafe überhaupt ein Uebel bedeute, welches um begangener gesetzwidriger Handlungen [... ] einem Subjecte zugefügt wird" 268. DaB das soziale Phanomen, welches wir Kriminalstrafe nennen, an eine vorangegangene, rechtlich miBbilligte Tat des Bestraften anknüpft, der ,,Realgrund" der Strafe 269also in der Vergangenheit liegt, wird auch heute allgemein anerkannt 27º. Worin aber liegt der ,,Rechtsgrund" der Strafe 271? . Kersting weist zu Recht darauf hin, daB die Strafethik keine Sondereth1k mit einem eigenstandigen, nur regional gültigen Prinzipienhimmel darstellt 272. Strafethische Argumente sind vielmehr ,,bereichsspezifische Anwendungen und Variationen von Argumentationsmustern und Rechtfertigungsformaten, die in umfassenderen, allgemeineren und darum systematisch übergeordneten normativen Diskursen entwickelt worden sind " 273. Daher ist es nicht verwunderlich daB sich in der strafethischen Spezialdiskussion dieselben Konfliktlinien ~eigen, die auch den grundsatzlichen moralphilosophischen Th~orienwettbewerb strukturieren. ,,Derselbe metaethische Dualismus, der die moralphilosophischen Bemühungen in deonto~ogisch ~undierte ~nd teleologisch ausgerichtete teilt, pragt auch die rechtsphilosoph1sche Ausemandersetzung um Legitimitat und Sinn der Strafe." 274 . Teleologische Theorien fassen die Straftat als _Gefahr auf- ~l~ e1~Ver~alten: das als solches gewissermaBen den Keim der W1ederholbarke1t m s1chtragt, se1 " durch denselben Tater, sei es aufgrund der Nachahmung durc h an d ere«21s • es Die Tat erscheint danach ,,bloB als auBerer AnlaB der Strafe, die aus einem jenGreco, Lebendiges, S. 287 ff. Greco, Lebendiges, S. 297. 26 7 Grotius, Recht, 20. Kap./I (S. 325). . . 268 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 5. - Sachlich übereinstimmend, aber genauer_1st d1~Begriffsbestimmung Pufendorfs (Pflicht II/13 § 4 [S. 190~):Die Strafe sei ,,ein erhebhches Ube!, das jemandem als Ausdruck der Staatsgewalt wegen emes vorher begangenen Vergehens m1t Zwang auferlegt wird ". . 269 Dieser Bcgriff wird hier verwendet in Anlehnung an Spendel, FS Rittler, S. 40. 270 Zuletzt Hoerster, Strafe, S. 11, 14; Mushoff, Strafe, S. 102; Androulakzs, FS Hassemer, s.278; Duttge, Strafen, S. 10 f.; ders., Brücke, S. 56; Hornle, Straftheonen, S. 6; dzes., 2. FS Roxin, s. 18; Kühl, FS Maiwald, S. 437 f.; ders., FS Stockel, S. 124 f.; Neum~nn, FS Jakobs, S. 438 f.; ders., Alternativen, s.98; T Walter, ZIS 2011, 637.-Aus der aheren L1teratur: Allfeld, Lehrbuch, S. 4; Kantorowicz, Tat, S. 10; H. Mayer, AT, S. 15; Schmzdhauser, AT, 2/7. 271 Schmitz, Legitimitat, S. 13. 272 Kersting, Macht, S. 212. 2 73 Kersting, Macht, S. 212. 2 74 Kersting, Macht, S. 212. 2 75 S. Walther, ZStW 111 (1999), 130. 26 5 26 6

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B. Strafe als Prdventionsinstrument?

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

seits dieser Tat lozierten Grund verhangt wird "276; die Strafe ist ,,lediglich ein Mittel, ein Instrument" 277.Deontologische Theorien interpretieren die Straftat hingegen als Verbrechen - als eine ,,das Recht verletzende WillensauBerung [...] , [dieJvon der Gemeinschaf t nicht hingenommen werden kann" und folglich nach MiBbilligung verlangt" 278; Strafe ist danach ,,eine rechtlich notwendige, intern normativ verfafüe Handlung" 279. Das Programm, nach dem sich die Wahl des Sanktionsinstrumentariums richtet, heifü im ersten Fall Pravention, im zweiten Fall Retribution 280. Die Prdventionstheorien der Strafe halten den Rückgriff auf die Vergangenheit unter Legitimationsgesichtspunkten für unergiebig und verweisen statt dessen auf die Zukunft. Diesen Auffassungen gemaB ist also zu strafen ne peccetur. Das Geschehene lafü sich nicht ungeschehen machen, aber mit Hilfe der Strafe lafü sich wenigstens das künftige gesellschaftliche Sicherheitsniveau günstig beeinflussen. Die vergeltungstheoretisch (retributiv) orientierten Konzeptionen erblicken dagegen nicht nur den Real-, sondern auch den Rechtsgrund der Strafe in der Vergangenheit. Zu strafen sei quia peccatum est. Welches dieser beiden Modelle vermag die Legitimitat der sozialen Institution Strafe überzeugender zu begründen? Dieser Frage gehen die Überlegungen der folgenden Abschnitte nach. Sie setzen sich zunachst mit den Praventionslehren (B.) und sodann mit der Vergeltungstheorie auseinander und münden in ein Pladoyer für letztere (C.). Freilich geben sie sich nicht der Illusion hin, im Bereich der Strafbegründung seien endgültige, apriorisch zwingende Befunde moglich. Bereits die Bedeutung, die dem Problem der Legitimation von Strafe als solchem jeweils zugesprochen wird, hangt maBgeblich von dem Wahrnehmungshorizont der betreffenden Interaktionsgemeinschaft ab: einem Konglomerat aus metaphysischen und normativen Hintergrundüberzeugungen, spezifischen Empfindlichkeiten und Angsten. Eine Gesellschaft, die ihrer selbst unsicher ist oder die sich von einer standig wachsenden Kriminalitatswelle in die Defensive gedrangt fühlt, wird der Legitimationsfrage mutmafüich ein geringeres Gewicht beimessen als eine Gesellschaf t, die, wie es heute in der Bundesrepublik der Fall ist 281, sensibler für das Leid geworden ist, das dem Tater mit der Verhangung der Strafe zugefügt wird, und in der die Strafe die Aura der selbstverstandlichen Folge einer Straftat bereits zu einem guten Teil eingebüfü hat 282.

276 277 278 279 28

º

281 282

Lesch, Verbrechensbegriff, S. 20. Kersting, Macht, S. 212. S. Walthet; ZStW 111 (1999), 129. Kersting, Macht, S. 212. S. Walther, ZStW 111 (1999), 129 f. Dazu Frisch, FS Jung, S. 200. Instruktives Zahlenmaterial bei Heinz, FS Jung, S. 273 ff., 281 ff.

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Cum grano salís gilt das Gleiche im Hinblick auf die einzelnen Straftheorien. Deren Vorzüge und Schwachen sind im groBen und ganzen bekannt. Wie sie jeweils gewichtet werden, wird ebenfalls wesentlich mitbestimmt von gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, auf die die einzelnen Diskursteilnehmer nur einen minimalen EinfluB haben. So war der Erfolg des Resozialisierungsideals untrennbar mit dem Siegeszug des Wohlfahrtsstaates verbunden283: Im Wirtschaftsboom der 1950er und 1960er Jahre - einer Zeit des bestandigen okonomischen Wachstums, der sich verringernden Ungleichheiten und der Ausweitung des sozialen Sicherungsnetzes - konnte es plausibel erscheinen, Kriminalitat nicht als Bedrohung der Gesellschaft zu betrachten, sondern als Überbleibsel früherer Deprivationen, die durch eine auf die spezifische Hilfsbedürftigkeit des unglücklichen Betroffenen zugeschnittene Behandlung beseitigt werden konnten. Mit dem Brüchigwerden dieser Rahmenbedingungen und dem Aufstieg des sogenannten Sicherheitsstrafrechts verlor das Resozialisierungsideal seine diskursive Dominanz 284- die seit langem bekannten straftheoretischen Argumente, die gegen die Spezialpravention sprechen, wurden mit einem Mal wieder ernster genommen. Das Schicksal des Resozialisierungsdiskurses beweist eines: Ein Straftheoretiker, der es, um eine Wendung Schillers aufzugreifen, unterlafü, ,,seine Tatigkeit andas groBe Ganze der Welt anzuschlieBen" 285,verzehrt sich in fruchtlosselbstbezüglicher Gedankenakrobatik. Eine Straftheorie und die ihr korrespondierende Verbrechenslehre müssen nicht nur argumentativ schlüssig, sie müssen auch an der Zeit sein 286.Dies ist die eine Seite. Nicht minder bedeutsam ist jedoch die andere: Wie viel von ihrer Tradition ist die Allgemeine Verbre287 chenslehre aufzugeben bereit, um den Kontakt mit ihrer Zeit zu halten? In der Beantwortung dieser Frage liegt, wie sich im folgenden zeigen wird, der Schlüssel zur Beurteilung der Straftheorien.

B. Strafe als Praventionsinstrument?

I. Die Attraktivitat des Praventionsdenkens In seiner berühmten Gettysburg address benennt Abraham Lincoln drei Prinzipien demokratischer Legitimitat: government by the people, far the people and of the people. Wahrend der erste Legitimationsmodus das Beteiligungsrecht der 283 284

Garland, Kultur, S. 108 ff.; Kunz, FS Kaiser, S. 861. Dazu M. Bock, ZStW 102 (1990), 505 ff.; Kindhduser, Universitas 3 (1992), 232; Kunz,

FS Kaiser, S. 862 f. 285 Schiller, Universalgeschichte, Werke Bd. IV, S. 752. 286 Kunz, FS Kaiser, S. 867. 287 Ebenso Hassemer, Strafrechtswissenschaft, S. 309.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Bürger an der politischen Willensbildung zum Gegenstand hat, bezieht sich der zweite Legitimationsmodus auf die Leistungen, deren Erbringung die Bürger vom politischen System erwarten dürfen 288. Staat bedeutet demnach ,,dienende Aufgabenerfüllung für seine Bürger" 289. Als die fundamentale staatliche Leistung gilt spatestens seit Hobbes 290die Gewahrung von Sicherheit 291. Dies ist zwar ein ,,bis zur Trivialitat gelaufige[r] Befund " 292. Der Umfang des staatlichen Sicherungsauftrags hat sich seither freilich in einem für Hobbes noch ganz unvorstellbarem MaBe ausgeweitet 293. ,,Der Staat hat sich vom Polizeistaat über den (demokratisch indifferenten) Rechtsstaat (Rechtssicherheit) zum demokratischen Sozialstaat (Versorgung) und zum heutigen Steuerungsstaat (Risikosicherung) entwickelt." 294 Die Gründe für diese Ausweitung sind vielfaltig 295. Der Bereich menschengemachter Risiken sowie die Komplexitat der Gesellschaft haben sich stark erweitert, mit der Folge, daB die Unversehrtheit der Rechtspositionen des einzelnen in einem immer gri:iBerenUmfang von der Fahigkeit und Bereitschaft Dritter zur Risikobeherrschung abhangt. Daraus erwachst ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit, das durch die zunehmende Anonymisierung von Sozialbeziehungen und die Erosion gemeinsamer kultureller Wertmuster und alltagsweltlicher Selbstverstandlichkeiten noch verstarkt wird. Der Umstand, daB das soziale Klima in heutigen Wohlfahrtsstaaten eher von passiven Gesellschaftssegmenten als von aktiv gestaltenden Bevi:ilkerungsgruppen gepragt wird, begünstigt ebenfalls die Neigung, die Befriedigung von Sicherheitsbedürfnissen hi:iher zu gewichten als die Offenhaltung von Handlungsspielraumen. In ihrem Zusammenwirken führen diese Faktoren dazu, daB dem Schutz- und dem Vorbeugegedanken ein hohes MaB an Überzeugungskraft zugebilligt wird 296und die Auffassung, daB praventive Strategien korrektiven und kurativen MaBnahmen grundsatzlich überlegen seien, sich in nahezu alle Lebensbereiche ausbreitet 297. 288

Zur Leistungsdirnension legitirner Herrschaftsausübung zusarnrnenfassend Fach, Le1stung, S. 11 ff.; Horeth, Union, S. 85. 289 Weber-Grellet, Rechtstheorie 34 (2003), 182. 290 Hobbes, Leviathan, 21. Kap. (S. 171). 291 Anter, Macht, S.118; Hesse, Schutzstaat, S.17ff.; Boehme-Nefller, Rechtstheorie 39 (2008), 541, 549 f.; Link, VVD?tRL 48 (1990), S. 27; Weber-Grellet, Rechtstheorie 34 (2003), 183; Wzllke, S.t~uerungsfunktion, S. 688; Zabel, ZStW 120 (2008), 81 ff.; ders., Konflikt, S. 225. Fre1hch war schon d~e vorhe~gehenden Stadien herrschaftlicher Organisation un Rorn1schen Reich und 1m chnstl1chen M1ttelalter eine Ausrichtung arn Schutzzweck charakteristisch (naher Bmgger, VVDStRL 63 [2003), S. 103 ff.). 292 Merkel, JZ 2007, 375. 293 Hesse, Schutzstaat, S. 21 ff.; Grimm, Wandel, S. 624 ff.; F.-X. Kaufmann, Diskurse, S. 16 ff.; Zabel, Konflikt, S. 233 ff. 294 Weber-Grellet, Rechtstheorie 34 (2003), 184. 295 Die nachfolgende Darstellung folgt weitgehend Silva-Sánchez, Expansion, S. 7 ff. 296 Brockling, Behernoth 1 (2008), 40; Zabel, Konflikt, S. 225. 297 Brockling, Behernoth 1 (2008), 40. .

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Der extensiv verstandene Schutzgedanke sichert den umfassenden Interventions- und Steuerungsanspruch des modernen Staates legitimationstheoretisch ab298. Auch das Strafrecht wird dem Bedürfnis nach Pravention dienstbar gemacht299. Über die Grenzen der Verwendung des Strafrechts als Praventionsinstrument wird zwar heftig gestritten. Im Grundsatz erfahrt der Satz, daB das Strafrecht der Pravention in Gestalt des Rechtsgüterschutzes zu dienen habe, in der heutigen Strafrechtslehre aber fast einhellige Anerkennung 300.Liest man in den gangigen Lehrdarstellungen des Allgemeinen Teils den Abschnitt über die Straftheorien, so gewinnt man haufig den Eindruck, die dort verhandelten Probleme seien allenfalls locker mit den Ausführungen über die Rechtsgüterschutzaufgabe des Strafrechts verbunden 301. Dem ist indessen nicht so; eine Festlegung an einer Stelle hat vielmehr gewichtige Konsequenzen auch in dem anderen Bereich 3º2. ,,Die Dinge haben ihre eigene Schwere", wie Welzel sagt 303.Eine Aufgabenbestimmung des Strafrechts darf vor des sen spezifischem Sanktionsinstrumentarium nicht Halt machen. DaB die Normen des Strafrechts zur Vermeidung von Rechtsgutverletzungen beitragen sollen, ist eine zwar weitverbreitete, aber wenig interessante Aussage. Seine eigentliche Harte, die clarín besteht, zur Verhangung einer hi:ichst einschneidenden Sanktion zu ermachtigen, auBert das Strafrecht namlich erst, nachdem eine Straftat geschehen, d.h. nachdem ein Rechtsgut verletzt oder gefahrdet worden ist. In bezug auf das konkret betroffene Rechtsgut hat die Erwartung, Rechtsgüterschutz schon durch die Aufstellung von Verhaltensnormen und deren Bewehrung mit Sanktionen erreichen zu ki:innen, sich mithin als

Zabel, Konflikt, S. 235. Pragnant Freund (AT, § 1 Rn. 2): ,,Strafrechtliche Reglernentierung ist von vornherein nur in dem Rahmen zulassig, der durch die staatlichen Aufgabcn abgesteckt wird. Zu diesen Aufgaben gehort zwar der Schutz der Daseins- und Entfaltungsbedingungen des Einzelnen, der Opfer einer Straftat werden kann. Schuldausgleich um seiner selbst willen nach bere1ts begangener Tat ist dagegen nicht die Aufgabe der staatlichen Strafe. Der Einsatz von Strafe muss vielmehr zweckrational legitimiert sein durch die prdventive Aufgabe des Staates, Rechtsgüter zu schützen." - Auch das Bundesverfassungsgericht begreift das Strafrecht vor allem als Sclrntzrecht (vgl. etwa BVerfGE 21, 391, 403 f.; 27, 18, 29; 39, 1, 45, 187, 253; 51, 60, 74 f.; 80, 244,255 f.; 88,203, 257; 90, 145, 175, 184). 30o MK-Joecks, Einl. Rn. 30 ff.; MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 35 ff., 135; ders., AT, § 1 Rn. 2; NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1 Rn. 110ff.; SK-Rttdolphi, Vor § 1 Rn. 2; S!S-Stree/Kinzig, Vorbem. §§ 38 ff. Rn. 1; Baumann/Weber!Mitsch, AT, § 3 Rn. 10 ff.; Bringewat, Grundbegriffe, Rn. 12; Ebert, AT, S. 1 f.; Frister, AT, § 3 Rn. 20; Gropp, AT, § 1 Rn. 122, § Rn. 26 ff.; Heinrich, AT 1, Rn. 3;]dger, AT, Rn. 4;Jescheck/Weigend, AT, § 1 III 1 (S. 7 f.); Kindhduser, AT, § 2 Rn. 6; Maurach!Zipf, AT 1, § 7 Rn. 4; Otto, AT, § 1 Rn. 22 ff.; Rengier, AT, § 3 Rn. 2; Roxin, AT 1, §2 Rn.1 ff.; Wessels/Beulke, AT, Rn. 6. 301 Ebenso Fiolka, Rechtsgut, S. 370. 302 Dies betonen zu Recht NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1 Rn. 108; Roxin, AT I, § 3 Rn. 1; Kudlich, Unterstützung, S. 190. 303 Welzel, Abhandlungen, S. 237. 293 299

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unbegründet erwiesen 304. Die Frage, die sich nunmehr in den Vordergrund drangt, ist diejenige nach der Legitimation des Zwangsakts Strafe: Weshalb darf gestraft werden? Wer die Aufgabe des Strafrechts im Schutz von Rechtsgütern, also einer praventiven Zwecksetzung erblickt, muG dieses Grundverstandnis konsequenterweise auch seinen Überlegungen zur Sanktionsverhangung zugrundelegen305:Was geschehen ist, das ist geschehen - aber das Strafrecht kann und soll als Medium einer ,,Pravention durch Repression" 3º6 immerhin dazu beitragen, künftige Straftaten, also weitere Rechtsgüterverletzungen zu verhindern; ahnlich dem Polizeirecht dient es ausschliefüich der Gefahrenabwehr307. Mit einer retributiven Straftheorie lafü eine praventionsorientierte Aufgabenbestimmung des Strafrechts sich hingegen nicht ohne Friktionen verbinden 308. Zwar würde kein Vertreter der Vergeltungstheorie bestreiten, daG die vergeltende Strafe gewisse praventive Wirkungen auGert 309. Von einer praventionsorientierten Zielvorgabe aus gesehen ist das AusmaG ihrer Aufgabenerfüllung indessen zufallig und entsprechend unzuverlassig. Die Pravention stellt für den Vergeltungstheoretiker eben bloG den - wenngleich durchaus erwünschten - Begleiteffekt eines nach einem anderen Programm funktionierenden Sanktionsmechanismus dar 310. Die optimale Erfüllung der straftheoretischen Legitimationsanforderungen droht in diesem Fall zu einer suboptimalen Aufgabenerfüllung zu führen und umgekehrt. Entweder muG ,,die von der Gerechtigkeit geforderte Strafe sich die Beschrankung gefallen lassen [... ], welche die Verfolgung der nützlichen Zwecke ihr auferlegt", oder

B. Strafe als Prdventionsinstrument?

aber ,,den nützlichen Zwecken [wird] eine Berücksichtigung nur insoweit zugestanden [... ], als es das gerechte [... ] MaG der Strafe gestattet" 311. Eine verbreitete Auffassung sieht die Legitimitat der Strafe denn auch darin gründen, daG sie zum praventiven Rechtsgüterschutz, der Verhinderung künftiger Straftaten, beitragt. Unter Konsistenzgesichtspunkten empfiehlt sich diese Position dadurch, daG es ihr gelingt, staatstheoretische Grundlegung, Aufgabenbestimmung des Strafrechts und Begründung der Strafsanktion nahtlos aufeinander abzustimmen. Es kommt hinzu, daG die Frage nach der genauen Ausgestaltung des Strafensystems sich der Logik des Praventionsdenkens zufolge als ein quasi technisches Optimierungsproblem darstellt; das AusmaG seiner Losung ist - jedenfalls im Prinzip - empirisch nachprüfbar 312. Eine szientistisch, von einem !Gima der nüchternen Zweckmafügkeit gepragte Kultur erkennt auch aus diesem Grund in den Praventionstheorien Geist von ihrem Geist und raumt ihnen deshalb typischerweise einen erheblichen PlausibilitatsvorschuG ein 313. Die klassischen Auspragungen des Praventionsgedankens stellen die negative Generalpravention und die Spezialpravention dar. ,,Sie führen zu den beiden Gefahrenherden, welche die Verbrechenspravention, will sie erfolgreich sein, mit jeweils demselben Nachdruck überwachen und beherrschen muss": der Gemeinschaft der potentiell deliktsgeneigten Bürger, die im Zaume der Legalitat gehalten werden sollen, und dem einzelnen Tater, der seine Bereit-

311

304

H. Mayer, Strafrecht, S. 97; ders., AT, S. 51; Welzel, Strafrccht, S. 3; ders., Abhandlungen, S. 263. -Aus der neueren Literatur: MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 63; ders., AT, § 1 Rn. 6; ders., Erfolgsdelikt, S. 80; Frister, AT, § 2 Rn. 1;]escheck/Weigend, AT, § 1 II (S. 4); Appel, Verfassung, S. 440; Frisch, Verhalten, S. 599; Gonzáles-Rivero, Zurechnung, S. 64; Kremer-Bax, Verhaltensunrecht, S. 23 f.; Lesch, Problem, S. 222,233; ders., Verbrcchensbegriff, S. 170, 181, 235; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 116; Wohlers, Deliktstypcn, S. 215. 305 Treffend Maurach/Zipf, AT 1, § 7 Rn. 6; Deiters, Legalitatsprinzip, S. 62 f.; Lagodny, Strafrecht, S. 291; Lesch, Verbrechensbegriff, S.182; Müssig, Schutz, 5.11; Sancinetti, FS Jakobs, S. 599; nahestehend Gdrditz, Staat 49 (2010), 334. - Aus dem alteren Schrifttum: Hdlschner, Deutsches Strafrecht, S.140; Schaffstein, ZStW 57 (1937), 297. 306 Bringewat, Grundbegriffe, Rn. 27;Jescheck/Weigend, AT, § 1 II (S. 4). 307 SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 1; ders., FS Honig, S. 159;H.-L. Giinther, Strafrechtswidrigkeit, S. 154 (affirmativ); Deiters, Legalitatsprinzip, S. 63 f.; Gonzáles-Rivero, Zurechnung, S. 72, 123; Lesch, Problem, S. 200 f.; ders., Verbrechensbegriff, S. 176; Miissig, Schutz, S. 152; Neumann, Feindstrafrecht, S. 308; Naucke, KritV 1993, 138, 147 (kritisch). - Die Befürchtung Schünemanns, da:Bdie Strafrechtsdogmatik sich als eigenstandige Wissenschaft verabschieden würde, wenn sie das Rechtsgüterschutzprinzip preisgabe (Schünemann, l. FS Roxin, S. 29), entbehrt aus diesem Grund nicht einer gewissen unfreiwilligen Ironie. 308 Prittwitz, Strafrecht, S. 234. 309 Vgl. nur Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 453. 310 Gallas, Kriminalpolitik, S. 11.

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Hdlschner, Deutsches Strafrecht, S. 564 f.; in dcr Sache ebenso schon Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 104. 312 Dazu zuletzt Rossner, FS Maiwald, S. 701 ff. -Allerdings sind die (insbesondere general-)praventivcn Wirkungen der Strafpraxis erfahrungswissenschaftlich nur schwer abzusichern (Mushoff, Strafe, S. 120 ff., 135 ff.; Prittwitz, Strafrecht, S. 218 f.; ders., StV 1991, 436 f.; Schneider, Einübung, S. 335; Stuckenberg, Vorstudien, S. 431; M. Bock, ZStW 103 [1991], 654 ff.; ders., JuS 1994, 96 ff.; Donini, Methode, S. 39 ff.; Dubber, ZStW 117 [2005], 491 ff.; van Hirsch, Strafsanktion, S. 48; Kindhduser, ZStW 121 [2009], 956 f.; Vormbaum, ZStW 107 [1995], 759; M. Walter, FS Hirsch, S. 899 f.; ders., ZIS 2011, 630; Weigend, Kommentar, S. 33 f.). In der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts hat dies zu der paradoxen Konsequenz geführt, da:B entgegen der Rede des Gerichts von der gesteigerten Bedeutung des Verhaltnisma:Bigkeitsgrundsatzes für die Prüfung einer Strafvorschrift (etwa BVerfGE 25, 269, 286; 88, 203, 258; 90, 145, 172) die Anforderungen, die insofern tatsachlich an Strafgesetze gestellt werden, deutlich geringer sind als jene Anforderungen, die an andere eingreifende Regelungen des Staates herangetragen werden (im einzelnen Roxin, AT 1, § 2 Rn. 87; Appel, Vcrfassung, S. 181 ff.). 3lJ Excmplarisch Müller-Dietz (FS R. Schmitt, S. 102 f.): ,,Die Entwicklung theoretischer Legitimationen des Strafrechts bedeutet- in ihrer Grobstruktur- einen Proze:B der Sakularisierung und Verwissenschaftlichung. Der Weg geht von einer transzendent verstandenen Vergeltung über eine immanent interpretierte und damit relativierte Vergeltung zur Folgcnorientierung und damit Folgenvermeidung, sprich Pravention." - Naher Bastelberger, Legitimitat, S. 52 ff.; Beck, Unrcchtsbegründung, S. 39; Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 58; Hasseme1; Strafziele, S. 51 f.; ders., JuS 1987, 263; Hoffmann, Verhaltnis, S. 114 ff.; Naucke, ZStW 94 (1982), 533 f.; Neumann/Schroth, Theorien, S. 10; Prittwitz, Strafrecht, S. 234.

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schaft zum Ausbruch aus der Legalitat bereits unter Beweis gestellt hat 314. Die negative Generalprdvention eines Feuerbach vertraut im Einklang mit der Psychologie seiner Zeit auf das Gesetz der Ideenassoziation 315: Sobald ein sinnliches Übel als die Bedingung der moglichen Begehung einer rechtswidrigen Tat festgesetzt worden sei, werde sich kraft dieses Gesetzes ,,mit der Vorstellung von dem Gegenstande der rechtswidrigen Handlung, zugleich die Vorstellung von dem Übel, das sie begleitet vereinigen" 316und den deliktsgeneigten Bürger von dem Vollzug der betreffenden Handlung abhalten. Die Spezialprdvention, die den Zweck der Strafe darin erblickt, den Tater von künftigen Taten abzuhalten, bedient sich demgegenüber eines Konglomerats aus einer quasi medizinischen Terminologie 317und einer martialischen Kriegsrhetorik; sie fordert die ,,Behandlung", auBerstenfalls aber auch die ,,Unschadlichmachung" der Straftater. Im Mittelpunkt der jüngeren straftheoretischen Diskussion steht indes ein dritter SproB aus der Familie der Praventionslehren: die Lehre von der positiven Generalprdvention, auch Integrationsprdvention genannt. Statt auf Abschreckung und Umerziehung setzt diese Auffassung auf die ,,pflichtbekraftigende, belehrende, warnende Funktion" der Strafe 318: Sie soll die Wertüberzeugungen der normtreuen Bürger bestatigen und starken. Diese Konzeptionen werden nachfolgend naher betrachtet (II.-IV).

II. Die negative Generalpravention Die Lehre von der negativen Generalpravention mutet den Adressaten der Strafnormen keinen überflüssigen Idealismus zu. Sie betrachtet die ,,Rücksicht auf den Nutzen" als ,,den Nerv und die Seele aller menschlichen Handlungen" 319. Die Gesellschaftsmitglieder erscheinen dementsprechend als Individuen, die zuallererst an ihrem eigenen Nutzen interessiert sind und diesen in rationaler Weise zu verfolgen wissen 320. ,,Ware jeder Staatsbürger ein verkorperter Teufel, 314 315 316 317

Hassemer, Strafe, S. 60. Dazu im einzelnen Greco, Lebendiges, S. 95 ff. Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 216. Hassemer, Selbstverstandnis, S. 66; Kersting, Macht, S. 219; Stübinger, Strafrecht,

S.163. 318

Oetker, ZStW 17 (1897), 532. Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, S. 268. 320 Vgl. Herzog, Pravention, S. 41; Maultzsch, Bemerkungen, S. 92 (kritisch); Schünemann, Stellenwert, S. 122 (affirmativ). - Der Ausgangspunkt beim horno calrnlans macht die Abschreckungslehre vor allem für die Vertreter der okonomischen Theorie des Rechts attraktiv (grundlegend Becker, Ansatz, S. 40 ff.; aus der deutschsprachigen Literatur ferner Adams/Shavell, GA 1990, 340ff.; Entorf, Theorie, S.1 H.; McKenzie/Tullock, Horno, S. 168 ff., 182 ff., 196 ff.; Schmidtchen, Strafrecht, S. 49 ff.; ders., FS Lampe, S. 245 ff., 266 ff.; ders., Wozu, S. 128 ff., 140 ff.; Vanberg, Verbrechen, S. 7 ff.). Die sozialwissenschaftliche Kritik an diesem spezifisch iikonomischen Denkmodell fafü Wittig zusammen (Wittig, Verbre319

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existirte in keinem einzigen auch nur das Bewufüseyn übersinnlicher Pflichten, leitete das Begehren der Sinnlichkeit und blos dieses Begehren jedes Mitglied der Gesellschaft, ohne daB auch nur eine einzige seiner Handlungen durch den auf die Achtung des Rechts gerichteten Willen bestimmt werden konnte - so würden dennoch alle Mitglieder dieser Gesellschaft zu coexistiren vermogen." 321 Wie soll diese Verlrnüpfung von Ordnungsdenken und anthropologischem Minimalismus funktionieren? Die Antwort der negativen Generalpravention ist denkbar simpel. Strafen müssen danach ,,so eingerichtet werden, daB sie in ihrer Harte schwerer wiegen als Gewinn und GenuB, den man aus der vom Gesetz verbotenen Tat ziehen konnte" 322. Dieses Strafverstandnis lafü sich auf ein prima facie durchaus beachtliches Zweck-Mittel-Argument stützen. Danach liegt eine Absenkung des Kriminalitatsniveaus innerhalb einer Gesellschaft 323im lnteresse (praktisch) aller Gesellschaftsmitglieder324. Selbst derjenige, der seinen Lebensunterhalt durch Straftacher, S. 126 ff.; dies., MschrKrim 76 [1993], 333 ff.). Die neuere Verhaltenséikonomik bemüht sich um eine realitatsnahere Modellierung menschlichen Entscheidungsverhaltens: Im Unterschied zu den Annahmen der neoklassischen Standardtheorie sei es gepragt durch begrenztes Eigeninteresse, begrenzte Rationalitat und begrenztc Sclbstkontrolle; naher Englerth, Verbrecher, S. 149 ff., 207 ff., 303 ff. - Weitere Anhanger einer negativ-generalpraventiven Strafkonzeption: Altenhain, AnschluJ3delikt, S. 326 ff.; Greco, Lebendiges, S. 356 ff.; Gauf, FS OLG Zweibrücken, S. 338 ff.; Hoerster, Strafe, S. 89 ff.; ders., GA 1970, 273 ff.; ders., Verteidigung, S.101 ff.; Kliemt!Kliemt, Analyse & Kritik 1981, 176ff., 181 ff.; Koriath, Streit, S. 65 ff.; Schmidhduser, AT, 3/4, 15 ff.; ders., FS E. A. Wolff, S. 455. 321 v. Almendingen (Darstellung, S. 48) im AnschluJ3 an die bekannte Sentenz Kants, daJ3 das Problem der Staatserrichtung ,,selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflosbar" sei (Kant, EF, Werke Bd. 9, S. 224; dazu Pawlik, JRE 14 [2006], 268 ff.). 322 Pufendorf, Pflicht, II/11 § 7 (S. 184). 323 Da es realistischerweise nur um eine Absenkung, nicht aber um eine Ausrottung der Kriminalitat gehen kann, stellt der Umstand, daJ3trotz der Existenz einer Strafrechtsordnung verbreitet delinquiert wird, keine Widerlegung der Lehre von der negativen Generalpravention dar. (Der betreffende Vorwurf ist so alt wie die Abschreckungstheorie selbst. Eine Stimme aus dem 19.Jahrhundert: Heinze, GS 13 [1861], 422; aus neuerer Zeit Maultzsch, Bemerkungen, S. 96.) Deren Vertreter konnen namlich darauf verweisen, ,,daJ3überhaupt der psychologische Strafzwang seiner Natur nach ein endlicher ist, und daJ3 er seinen Zweck nur approximativ erreichen kann" (v. Almendingen, Darstellung, S. 161). ,,Aber vermindert wenigstens wird die Zahl der Rechtsverletzungcn durch jenes Mittel; der schwankende, unentschlossene Wille wenigstens wird durch das Motiv der Furcht auf die Seite der Innehaltung der Grenzen des Rechtes gezogen" (so der jedcr inhaltlichen Sympathie für die Abschreckungsgeneralpravention unverdachtige Spathegelianer Lasson, System, S. 512; ebenso Oetker, ZStW 17 [1897], 504. - Aus dem heutigen Schrifttum: Frister, AT, § 2 Rn. 10; Schmidhduser, AT, 3/16; ders., Sinn, S. 58, 76; ders., FS E. A. Wolff, S. 446; Altenhain, AnschluJ3delikt, S. 329 f.; Frisch, FS Maiwald, S. 244; Greco, Lebendiges, S. 373; Gauf, FS OLG Zweibrücken, S. 339; Hornle, Straftheorien, S. 24; dies., 2. FS Roxin, S. 8; dies., Strafbegründungstheorien, S. 19;Hoerster, Strafe, S. 52; ders., GA 1970, 274; ders., Verteidigung, S. 105 f.; Kliemt/Kliemt, Analyse & Kritik 1981, 172; Schünemann, Pladoyer, S. 222; Vanberg, Verbrechen, S. 26 f). 324 Um eine interessentheoretische Fundierung der Praventionslehren bemühen sich Baurmann, Strafe, S.115ff.; Hoerster, FG Weinberger, S.226, 233; Vanberg, Verbrechen, S.11.-

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

ten bestreitet, will typischerweise deren Früchte in Ruhe und Frieden genieBen. Das Mittel der Abschreckung tragt nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht unerheblich zur Erreichung des Zieles der Kriminalitatsreduzierung bei. ,,Es wirkt dem letzten Grunde rechtswidriger Begehrungen unmittelbar entgegen und hebt durch Hervorbringung der Furcht das innere Princip selbst auf, aus welchem sie entspringen." 325Das Wissen darum, daB Straftaten mit hinreichend groBer Wahrscheinlichkeit bestraft werden, wirkt deshalb grosso modo auf tatgeneigte Individuen demotivierend; Straftaten, die ansonsten (d.h. im Falle der Abwesenheit eines funktionsfahigen Strafrechtssystems) begangen worden waren, werden auf diese Weise verhindert. MuB nun, wer den Zweck-die Kriminalitatsreduzierung - will, nicht auch das zu seiner Erreichung taugliche Mittel der (als Abschreckungsinstrument konzipierten) Strafe akzeptieren? Diese SchluBfolgerung ist jedoch vorschnell. In bezug auf ein Gesellschaftsmitglied, das eine strafrechtlich sanktionierte Norm gebrochen hat, gilt sie namlich nur mit einer bedeutsamen Einschrankung. Zwar entspricht es nach dem soeben Ausgeführten dem rationalen Interesse auch eines solchen Individuums, daB Strafen angedroht und mit hinreichender Regelmafligkeit verhangt werden326;ansonsten würden die Androhungen ihren BiB und damit ihre Glaubwürdigkeit einbüBen 327. Am günstigsten ware es für den Betreffenden freilich, wenn lediglich die Normbrüche der übrigen Gesellschaftsmitglieder bestraft würden, wahrend er selbst ungeschoren davonkame. Die Verhangung der Strafe im Einzelfall, also jener Akt, der tatsachlich weh tut und daher in hervorragendem MaBe legitimationsbedürftig ist, lafü sich dem Betroffenen gegenüber deshalb nicht mehr auf den Gesichtspunkt des klugen Eigeninteresses stützen 328. Dieser Befund konfrontiert die Vertreter der Lehre von der negativen Generalpravention mit einem Dilemma. Wollen sie an der begründungstheoretisch Pathologische Randexistenzen wie der überzeugte Anarchist oder der Berufsrevolutionar bleiben insofern ausgeklammert. 325 Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 213. 326 Hoerster, Strafe, S. 111. 327 Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 226. 328 Ebenso Hornle, Straftheorien, S. 49; dies., Strafbegründungstheorien, S. 14; Kersting, Macht, S. 236 f.; Kindhduser, FS Schroeder, S. 85 f.; ders., FS Hassemer, S. 766 f. - Auf den ersten Blick scheint man diesem Befund dadurch entgehen zu ki:innen, daG man den Gesellschaftsangehi:irigen die Fahigkeit zur Verfolgung komplexer Zweckreihen zubilligt. Die Gesellschaftsmitglieder seien sich der destruktiven Konsequenzen einer allgemeinen Praxis des ,,Trittbrettfahrens" bewuGt. Deshalb entspreche es ihrem reflektierten Eigeninteresse, einer Bestrafungskonzeption zuzustimmen, die sicherstelle, daG das ,,Trittbrettfahren" zu einer regelmafüg unattraktiven Verhaltensoption werde (in diesem Sinne zuletzt Schmidtchen [FS Lampe, S. 247) im AnschluG an Buchanan). Dieses Erklarungsmodell versagt aber jedenfalls dort, wo einem Gesellschaftsmitglied eine schwere Strafe droht, die seinen durch die Entmutigung einzelner ,,Trittbrettfahrer" bewirkten Sicherheitsgewinn übersteigt. Ferner ist die Annahme einer allgemeinen Praxis des ,,Trittbrettfahrens" von vornherein unrealistisch. Die meisten Straftaten werden nicht aus klugem Eigeninteresse unterlassen, sondern deshalb,

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attraktiven, da voraussetzungsarmcn Berufung auf den Topos des klugen Eigcnintcresses festhalten, so müssen sie sich auf die Interessenlage samtlicher deliktsgeneigten Gesellschaftsmitglieder mit Ausnahme des Verurteilten selbst beschranken. Diesen anderen Gesellschaftsmitgliedern wird mittels der Bestrafung des Taters vor Augen geführt, daB Kriminalitat sich nicht lohnt. Es wird also nicht mehr (auch) mit dem Verurteilten gesprochen, sondern nur noch vermittels seiner. Er wird - um eine Wendung Welckers aufzugreifen - verwendet ,,wie unbrauchbare Stoffe zur Vogelscheuche" 329. Dies aber bedeutet, daB der Tater zu einem ,,Souffre-douleur der Gewalt" 330, einem ,,sozialhygienischen Praventionsmittel" 331 degradiert und deshalb nur mehr ,,in der rechtlichen Form, nicht aber nach dem Inhalt der Regelung" als gleichberechtigtes Mitglied der Rechtsgemeinschaft behandelt wird 332. Auf diesem Wege lafü sich lediglich ein Akt der Exklusion begründen, aber keine Rechtsstrafe - denn zu dieser gehort in den Worten des Bundesverfassungsgerichts, daB der Tater ,,nicht zum bloBen Objekt der Verbrechensbekampfung gemacht werden" darf 333 und ,,nicht für vermutete kriminelle Neigungen Dritter büBen muB, sondern nach seiner Tat und seiner Schuld bestraft wird" 334.

weil das betreffende Individuum in einer Weise sozialisiert ist, die ihm ein legales Verhalten als selbstverstandlich erscheinen laGt. Aus diesem Grund schneidet sich ein zum ,,Trittbrettfahren" entschlossener Tater nicht notwendig in das eigene Fleisch. Angesichts dieser Sachlage aber hat er unter Klugheitsgesichtspunkten keinen hinreichenden AnlaG, seiner eigenen Bestrafung zuzustimmen. Kennzeichnerweise zieht der Abschreckungstheoretiker Koriath (Streit, S. 68) in seiner Begründung der Pflicht der Delinquenten zur Duldung der Strafe eine Erwagung heran, die mit klugem Eigeninteresse nichts zu tun hat, sondern auf dem FairneGgedanken beruht: Die Sanktionsnorm di ene der Aufrechterhaltung einer Ordnung, an der der Verbrecher parasitar partizipiere. Die Sanktion enthalte die Kosten, die ein Delinquent in dem MaGe zu zahlen habe, in dem er die Rechtsgüter seiner Mitbürgcr minimiert habe. 329 Welcker, Gründe, S. 214. - Diese Konsequenz ergibt sich im übrigen auch daraus, daG die Strafe zur Setzung eines effcktiven Gegenmotivs für den Tdter selbst zu spat kommt: Er hat sich nicht abschrecken lassen. Unter Praventionsgesichtspunkten kann die Strafe deshalb allenfalls noch zur Abschreckung anderer nutzbar gemacht werden. 33 Kohler, Lchrbuch, S. 266. 331 Kersting, Macht, S. 232. 3 32 E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 798. - Grundlegend für die neuere Diskussion Badura,JZ 1964, 343 f. - Zulctzt in diesem Sinne Mushoff, Strafe, S. 117ff. - Hoerster verteidigt sich gegen den Instrumcntalisierungsvorwurf mit cinem verblüffenden Argument. Der eincr Strafe unterworfenc Delinquent werde nicht instrumentalisiert; er sei ,,eher mit jemandem [zu] vergleichen, der als Teilnchmer einer Wohngemeinschaft im vergangenen Monat seinen Anteil an der gemeinsamen Miete schuldig geblieben ist und deshalb, wie zuvor vereinbart, eine Zcitlang die Toilettenreinigung übernehmen muss" (Hoerster, Strafe, S. 139). Sanktioniert wird demnach also - eine Mitwirkungspflichtverletzung! Dagegen ist vom hiesigcn Standpunkt aus nichts zu erinnern - abgesehen davon, daG diese Begründung mit dem praventionstheoretischen, auf die künftigen Effekte der Bestrafung gestützten Ansatz Hoersters unvereinbar ist. 333 BVerfGE 50,205,215. 334 BVerfGE 28, 386, 391.

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Feuerbach hat dieses Problem weitaus scharfer erkannt als viele der spateren Abschreckungstheoretiker. Deshalb unterscheidet er strikt zwischen der Androhung und der Anwendung des Strafi.ibels 335. Den Geltungsanspruch der Praventionslogik beschrankt Feuerbach auf den Bereich der Strafandrohung 336. Den Rechtsgrund fi.ir die Strafvollstreckung erblickt er dagegen in einer konkludenten Einwilligung des Delinquenten: Jeder, der das Recht habe, die Unterlassung bestimmter Handlungen zu fordern, habe auch das Recht, die Begehung dieser Handlungen unter eine ihm genehme Bedingung zu stellen 337; dies gelte auch fi.ir den Staat 338. Der Bi.irger mi.isse sich entweder der Bedingung unterwerfen oder die Handlung unterlassen. Begehe er gleichwohl die derart bedingte Tat, so berechtige er den Staat, die angedrohte Strafe zu vollziehen 339. Die Unhaltbarkeit dieser Konstruktion hat bereits Feuerbachs Freund und Kontrahent Grolman aufgezeigt. In dem ,,willki.ihrlichen Faktum des Androhens" sei keineswegs ein Rechtsgrund für den auszui.ibenden Zwang enthalten 340. Allein der Umstand, da6 der andere vorab um meine Entschlossenheit wei6, unter bestimmten Bedingungen Zwang anzuwenden, macht meine Reaktion, so sie denn erfolgt, noch nicht zu einer legitimen; entscheidend ist vielmehr die Legitimitat der von mir aufgestellten Bedingungen 341. Diese Bedingungen leitet Feuerbach wiederum aus den Vorgaben der Abschreckungslehre ab 342. Dies ist zwar konsequent; denn um ihrer Aufgabe, der Androhung zur Wirksamkeit zu verhelfen 343, in mi:iglichst effektiver Weise zu entsprechen, mi.issen die Regeln, die i.iber das 06 und das Wieviel der Strafe bestimmen, sich an die Wertungen des Abschreckungsdenkens anpassen. Androhung und Exekution von Strafe lassen sich nicht entkoppeln 344. Der Preis dafür ist allerdings hoch. So darf in einem Bestrafungssystem, das ausschliefüich auf die Neutralisierung der verbrecherischen Neigungen der Bi.irger zugeschnitten ist, das Ausma6 des jeweils drohenden Schadens keine Rolle spielen. ,,Eine Handlung sey daher noch so gemeinschadlich und verderblich, als sie wolle, wenn geringe Antriebe zu derselben reitzen, so ist sie nicht harter zu strafen, als ni:ithig ist um diesen Reitz zu heben. Wenn ein fader Mensch, in einer lappischen, tandelnden

La une sich an der Person des Regenten zu vergreifen N eigung hatte, und durch die Drohung, da6 er ein Paar Stockschlage haben solle, sicher abgehalten werden ki:innte, wozu denn das Androhen einer fürchterlichen Lebensstrafe? Man fi.ihrt doch gegen Fliegen nicht gern mit Elephanten Krieg! Umgekehrt, wenn eine gewaltsame Neigung Jemand zur Begehung eines kleinen Verbrechens fortreifü, wozu dann die Ri.icksicht auf das geringe Ma6 des Schadens, da doch das rechtswidrige Begehren nur durch ein empfindliches Uebel gedampft werden kann? Wenn z.B. Jemand heftige Neigung hatte, einen andern am Rock zu zupfen, so wi.irde es ja gar keinen Sinn haben, wenn man sagte: wir mi.issen zwar auf deinen subjectiven Zustand Ri.icksicht nehmen, aber weil der Schaden klein ist, so wollen wir dir ein Uebel drohen, welches deine Neigung nicht i.iberwiegen kann." 345Ebenso konsequent ist Feuerbachs Annahme, da6 ,,schlechte Erziehung"346 sowie ,,nati.irliche Schwache und Stumpfheit der hohern Geistes-

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Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 52 f. Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 49 ff. 337 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 53. 338 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 53. 339 Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 222 f.; ders., Revision, Bd. I, S. 54. 340 Grolman, Begründung, S. 10. 341 Grolman, Begründung, S. 12 ff. 342 Vgl. Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 39 f., 67. 343 Vgl. Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 52. 344 Ebenso Freund, AT, § 1 Rn. 6 Fn. 9; Kohler, AT, S. 38; ders., Zusammenhang, S. 28; ders., Begriff, S. 6, 13, 53, 72 ff.; Bielefeldt, GA 1990, 116; Gossel, Bedeutung, S. 247; ders., FS Pfeiffer, S. 21; Hill, ]RE 5 (1997), 308 f.; Hoerster, GA 1970, 276; Morselli, ARSP 87 (2001), 227 f.; Spendel, FS Rittler, S. 50; Streng, Kommentar, S. 129. 336

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345 So Thibattt (Beytrage, S. 76 f.), der daraus die Unhaltbarkeit von Feuerbachs Konzeption folgert. - Aus der alteren Literatur ebenso Allfeld, Lehrbuch, S. 8. - Aus dem heutigen Schrifttum: MK-]oecks, Einl. Rn. 67; Frister, AT, § 2 Rn. 13;Jakobs, AT, 1/29 f.; ders., Straftheorie, S. 31; Bleckmann, Strafrechtsdogmatik, S. 66; Hauschild, Generalpravention, S. 39; Mushoff, Strafe, S. 118f.; Lesch, JA 1994, S. 517; Maiwald, Vorstellung, S. 149; Maultzsch, Bemerkungen, S. 95; Momsen/Rackow, JA 2004, 337. - Kritisch Greco (Lebendiges, S. 392): Generalpravention solle auf der Makroebene wirken und sich überhaupt nicht auf einzelne Tater konzentrieren, sondern vielmehr die Folgen von Strafandrohungen für den gesamtgesellschaftlichen Rechtsgüterschutz berücksichtigcn. Dies ist jedoch ein Schein-Gegensatz: Die von Greco erhofftcn Wirkungen auf der Makroebene lassen sich nur durch die Beeinflussung vieler Einzeltater erreichen. Freilich ware niemand ernsthaft dazu bereit, die im obigen Text entwickelten Konsequenzen auch tatsachlich zu ziehen, weil sie dem Unrechtsgehalt beider Taten in keiner Weise gerecht würdcn. (Dies gilt auch für die Abschreckungstheoretiker selbst. So steht der Vorschlag, die Strafe allein von der zu erwartenden Praventionswirkung abhangig zu machen, Hoerster zufolge ,,in diametralem Gegensatz zu jenen Gerechtigkeitsvorstcllungen [... ],die jeder Bürger als selbstverstandlich mit der staat!ichen Strafe verbindet" [Hoerster, Strafe, S. 101]. Indessen: Seit wann gehéirt die Berufung auf die Gerechtigkcitsüberzeugungen der Bevéilkerung zum Argumentationsrepertoire der negativen Generalpravention?) Hat man aber erst einmal anerkannt, daG die Lehre von der negativen Generalpravention sich nicht als MaGstab der Verbrechenszurechnung und der Strafzumessung eignet, so kann man sie konscquenterweise auch nicht als taugliche Strafandrohungstheorie anerkenncn. - Die geschilderte Schwierigkeit lafü sich auch nicht dadurch ausraumen, daG man mit H. L. A. Hart zwar die Institution der Strafe unter Rückgriff auf den Abschreckungsgedanken, konkrete Strafakte aber anhand eines retributiven MaGstabs rechtfertigt (Hart, Recht, S. 66; ebenso Burkhardt, GA 1976, 341; Hornle, 2. FS Roxin, S. 20; Hoerster, aaO, S. 99 ff.; Koller, ZStW 91 [1979], 46 f.; Kuhlen, Anmerkungen, S. 59; Vanberg, Verbrechen, S. 8 f.; i.E. auch Patzig, Ethik, S. 29 f. sowie [ungeachtet seiner Betonung des in die ser Konzeption liegenden systematischen Bruchs] Weigend, Sanktionen, S. 200 f.). Ein konkreter Bestrafungsvorgang muG geduldet werden, weil und insofern die Strafe als solche eine legitime Institution ist. Die Legitimation einzelner Anwendungsakte einer Institution ist insofern cine gleichsam geborgte; sie ist abgeleitet von der Rechtfertigung, welche die Institution als ganze tragt. Wenn Abschreckungsstrafen sich im Einzelfall- also dort, wo die Institution ihre realen Wirkungen zeitigt - nicht rechtfertigen lassen, dann beweist dieser Umstand, daG auch die Institution als ganze andcrs verstanden werden muG. 346 Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 417.

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1. Kapitel: Der Begrzff des Verbrechens

krafte" 347die Strafbarkeit erhohen - denn derartige Defekte unterstützen ,,nothwendig die Wirksamkeit und die Herrschaft der sinnlichen Begierden" 348, steigern also die Gefahrlichkeit des mit ihnen behafteten Menschen 349und bedürfen daher zu ihrer Neutralisierung einer besonders nachdrücklichen ZwangsmaGnahme350. Eine solche Auffassung, die darauf hinauslauft, daG wir ,,die Zuchtruthe um so groGer [binden], je kleiner das Kind ist, welches gezüchtigt werden soll" 351, bedeutet jedoch nichts Geringeres als eine Abkehr von dem ehrwürdigen Grundsatz, daG die Strafe ,,in einem gerechten Verhaltnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Taters stehen [muG]"352. Es ist die Axiologik seines eigenen Systems, die sich hier gegen Feuerbach wendet 353. Hat er eingangs der Revision noch mit Nachdruck den Unterschied zwischen Strafen und SicherungsmaGnahmen betont 354, gelangt er an ihrem Ende zu einer Position, in der die Strafe zu einem bloGen ,,Sicherungsmittel " 355 gegen gefahrliche Individuen degeneriert ist - einer Position, die man nach einem harten aber treffenden Wort Kleins ,,füglich das System der thierischen Züchtigung oder das terroristische [...] nennen kann" 356.Feuerbachs straftheoretische Konzeption spricht sich insofern selbst das Urteil: Zwar ist die abschreckende Funktion der Strafe eine ,,unablosbare Begleiterscheinung" jeder Strafverhangung 357und als solche auch durchaus erwünscht; als Legitimationsgrund der Strafe eignet sich der Abschreckungsgedanke dagegen nicht.

III. Die Spezialpravention Nach einer Bemerkung Bockelmanns konnte das ,,Recht des Staates, denjenigen, der aus der Reihe tanzt, zu künftigem Wohlverhalten zu notigen", einer ,,Epoche, in der die bürgerliche Gesellschaft noch nicht ihr gutes Gewissen verloren hatte [... ], nicht zweifelhaft sein" 358. In der Reformeuphorie der 60er-

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und frühen 70er-Jahre gewann dagegen eine Haltung die Oberhand, die mit Foucault als ,,Scham vor dem Bestrafen" umschrieben werden kann 359.Deshalb wurde der Gedanke der Spezialpravention haufig auf den Gesichtspunkt der Resozialisierung verkürzt 360. Die Spezialpravention gewann ihr oben erwahntes quasi-medizinisches Aussehen 361;es schien allein oder doch vordringlich darum zu gehen, dem einzelnen Delinquenten zu helfen, ihn von seinen sozialen Defekten zu heilen. Indessen ist ,,Behandlung" im Strafvollzug etwas durchaus anderes als im Krankenhaus 362. 06 der einzelne eine Krankheit behandeln lafü, unterliegt grundsatzlich seiner freien Entscheidung. Eine Zwangsbehandlung laGt sich nur unter Berufung auf ein offentliches Interesse anordnen. Dieses offentliche Interesse liegt bei der Spezialpravention ebenso wie zuvor bei der negativen Generalpravention in der Verbesserung des gesellschaftlichen Sicherheitsniveaus; negativ gewendet: in der Verringerung der künftig zu erwartenden Kriminalitatsbelastung 363.Dieses identisch gebliebene Ziel sol! aber diesmal nicht durch die Beeinflussung Dritter, sondern durch die Einwirkung auf den Delinquenten selbst erreicht werden. In Liszts Marburger Programm stehen deshalb neben der Resozialisierung (,,Besserung der besserungsfahigen und besserungsbedürftigen Verbrecher") gleichrangig zwei weitere Strategien der Kriminalitatsbekampfung: die ,,Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher" und vor allem die ,,Unschadlichmachung der nicht besserungsfahigen Verbrecher" 364.Es ist nicht ,,schwachliche Humanitatsduselei", die bei Liszt dem Besserungsfahigen die Chance zur gesellschaftlichen Reintegration gewahrt, sondern der Wunsch, durch ,,eine kühle Anpassung der Verbrechensbekampfungsmittel an die kriminelle Eigenart des Taters" einen moglichst effektiven Interessenschutz zu ge359

Vgl. Foucault, Überwachen, S. 17.- Naher Hassemer, Strafrecht, S. 91 ff. Dazu P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 845; Stübinger, Strafrecht, S. 162. 361 Hassemer, Strafrecht, S. 94; ders., Selbstverstandnis, S. 66 f. - Über Vorlaufer dieses Vorstellungskomplexes im kriminalpolitischen Denken des 18. und 19.Jahrhunderts unterrichtet Stratenwerth, FS Bockelmann, S. 908 f. 362 Hassemer, Strafrechtswissenschaft, S. 290; von Hirsch, ZStW 94 (1982), 1077; Hornle, Strafbegründungstheorien, S.15; Kliemt!Kliemt, Analyse & Kritik 1981, 172. 363 Bei Feuerbach ist das Sicherheitsanliegen allerdings in eine kantisch gepragte Strafzwecklehre integriert, der zufolge der Zweck des Staates die ,,wechselseitige Freiheit aller Bürger" ist- ,,der Zustand, in welchem jeder seine Rechte vollig ausüben kann, und vor Beleidigungen sicher ist" (Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 39). Bei Liszt und seinen N achfolgern fehlt es dem Wandcl der Zeitlaufte entsprechend an einer vergleichbaren staatstheoretischen Einkleidung (Ehret, Liszt, S. 98 ff.; Naucke, ZStW 94 [1982], 536 ff.; ders., FS Hassemer, S. 564 ff.). Der Abschreckungsgedanke kann aufgrund seines instrumentellen Charakters jedoch ohne Probleme auch ganz anderen Staatswesen dienstbar gemacht werden als dem liberal en Modell Feuerbachs; im nationalsozialistischen Strafrecht spielte (neben dem Gedanken der Ausmerzung von ,,Volksschadlingen") das Moment der Abschreckung ebenfalls eine tragende Rolle (naher Kasseckert, Straftheorie, S. 109, 164 f., 197f.). 364 Liszt, ZStW 3 (1883), 36. 360

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Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 421. Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 421. 349 Vgl. Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 335. 35 Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 333 H. 351 Klein, ACrim 4 (1802), 46. 352 BVerfGE 50, 202, 214. - Von ,,grotesken Folgen" spricht zu Recht Mushoff, Strafe, S. 117;ablehnend auch Greco, Lebendiges, S. 391; Hardwig, Zurechnung, S. 49; Maiwald, Vorstellung, S. 147 ff.; Lesch, Verbrechensbegriff, S. 57 f. 353 Lesch, Verbrechensbegriff, S. 64. 354 Feuerbach, Revision, Bd. I, 5.19 ff.; ebenso bereits zuvor ders., Anti-Hobbes, S. 208. 355 Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 332. 356 Klein, ACrim 2 (1800), 60. -Ahnlich Bleckmann, Strafrechtsdogmatik, S. 67 (,,Mechanismen des Terrors"); Maurach, FS Eb. Schmidt, S. 307 (,,Diktat der Menschenvcrachtung"); Maiwald, Vorstcllung, S. 153 f. 357 R. Schmidt, Strafrechtsreform, S. 52. 358 Bockelmann, ZStW 81 (1969), 611. 348

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

wiihrleisten 365 • Dementsprechend ist der Verbrecher für Liszt weniger ein Mitbürger als ein Storfaktor 366 • Im Vordergrund seines Denkens steht deshalb weniger die Kritik an zweckloser Leidzufügung als vielmehr die Kritik an einer nicht zweckgerechten und daher ineffizienten Verbrechensbekampfung 367 . Dort, wo Liszt einen FriedensschluB zwischen der Gesellschaft und dem Verbrecher für unerreichbar hiilt, also im Falle der sogenannten ,,Unverbesserlichen", ist er ,,bestimmt nicht sentimental " 368 , sondern legt vielmehr eine groBe Harte an den Tag: ,,Gegen die Unverbesserlichen muB die Gesellschaft sich schützen; und da wir kopfen und hiingen nicht wollen und deportieren nicht konnen, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bezw. auf unbestimmte Zeit)." 369 Diese ,,hafüiche Seite der Spezialpriivention" 370 erinnert daran, daB die Resozialisierung innerhalb der Lehre von der Spezialpriivention keinen Selbstzweck darstellt 371 , sondern lediglich den Reflex einer gesellschaftspolitisch nützlichen Strategie bildet 372 • Über die Tauglichkeit des Spezialpriiventionsgedankens als Grundlage einer Straftheorie ist mit diesem Befund freilich noch nicht entschieden. Conditio sine qua non ist insofern, daB die Art und Weise des Umgangs mit abweichendem Verhalten, die sich dem spezialpriiventiven Denken empfiehlt, noch die charakteristischen Züge der Strafe aufweist. Sollte dies 365 Eb. Schmidt, ZStW 67 (1955), 181.- Nicht von ungefahr wurde dieser Zug von Liszts Denken in zwei Beitragen aus dem Jahre 1933 besonders hervorgehoben: v. Wedel, SchwZStr 47 (1933), 339 sowie Schwarzschild (v. Liszt, S. 30), die ausdrücklich hinzufügt: ,,Dieser soziale Gedankc verbindet ihn mit dem Strafrechtsdenken von heute." Vcrwiesen sei ferner auf Georgakis, Studien, S. 40 f., 56 (eine Arbeit aus dem Jahre 1940). Zwar hat Liszt im Unterschied zur nationalsozialistischen Tatertypologie kein biologisch fundiertes, bleibendes So-Sein des einzelnen Straftaters angenommen; verantwortlich für die Kriminalitatsentstehung waren aus seiner Sicht vielmehr in erster Linie die Umweltbedingungen (vgl. Liszt, Abhandlungen, Bd. 2, S. 1 ff., 230 ff.). Mit seincr soeben erwahnten extremen Zweckorientierung und der harten Ausgrenzung und Rechtlosstellung der ,,Unverbesserlichen" weist das kriminalpolitische Programm Liszts jedoch unübersehbare Verbindungslinien zum nationalsozialistischen Strafrecht auf (naher Lesch, Verbrechensbegriff, S. 158 ff.; Muñoz Conde, FS Hassemer, S. 556 ff.; Streng, MSchrKrim 76 [1993), 161). 366 Jakobs, Strafrecht, S. 123. 367 Vormbaum, ZStW 107 (1995), 736. - Klarstellend auch Ehret, Liszt, S. 207 ff.; Kubink, Strafen, S. 101; Frisch, ZStW 94 (1982), 576. 368 Georgakis, Studien, S. 41. 369 Liszt, ZStW 3 (1883), 38. - Eine eindrucksvolle Auflistung der Bezeichnungen, mit denen Liszt die Straftater, insbesondere die Mehrfachtater, belegt, findet sich bei Ehret, Liszt, S.208. 370 So M. Walter, FS Oehler, S. 695. 371 Wer Liszts ,,Mut zur sozialen Kalte" nicht aufbringt, muíl angcsichts der Frage nach dem Umgang mit ,,unheilbaren" Verbrechcrn ,,die mangelnde Reichweite der Resozialisierungstheorie eingestehen" (treffend Stiibinger, Strafrecht, S. 163). 372 Naucke (ZStW 94 [1982), 536 und Ehret (Liszt, S. 130 ff.) sehen in der Politisierung des Strafrechts, seiner Verfügbarmachung als Mittel in der Hand des die Gesellschaft organisierenden Staates geradezu das Ziel von Liszts Thcorie.

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nicht der Fall sein, so besiiGe die Lehre von der Spezialpriivention keinen Anspruch auf den Titel einer Straftheorie 373 • Sie würde dann niimlich nicht die Legitimitiit der tatsachlich praktizierten Institution ,,Strafe" begründen, sondern unter dem Anschein tenninologischer Kontinuitiit einer Ersetzung der 374 Strafe durch ein andersartiges Rechtsinstitut (,,soziales Interventionsrecht" ) 375 das Wort reden. Ein solcher ,,Wortschmuggel" aber würde nach einer ebenso ruppigen wic treffenden Bemerkung von Leibniz entweder von Albernheit oder von Tücke und Frechheit zeugen 376 . Wie eingangs ausgeführt, gehort zu den begriffsbildenden Merkmalen der Strafe deren reaktiv-miGbilligender Charakter: Die Strafe reagiert auf cine unrechtliche Handlung, deren Begehung sie dem Bestraften tadelnd vorhiilt 377 • Sie ist also, um diesen Sachverhalt in strafrechtsdogmatisch vertraute und im heutigen deutschen Rechtssystem darüber hinaus verfassungsrechtlich abgesicherte Termini zu kleiden, an das Tat- sowie das Schuldprinzip gebunden 378 • Ein Rechtsinstitut zum Umgang mit abweichendem Verhalten, dessen Zuliissigkeit nicht von der Beachtung dieser beiden Grundsiitze abhinge, lieBe sich nicht mehr als Strafe in dem uns geliiufigen Sinn bezeichnen. Es ist bereits haufig darauf hingewiesen worden, daB eine Spezialpriivention a la Liszt, konsequent durchgeführt, zur Preisgabe sowohl des Schuld- als auch des Tatprinzips tendiert. Die künftige Gefahrlichkeit des Delinquenten ist unabhiingig von dem Gewicht der sozialen Storung, die sich in der vergangenen Tat manifestiert hat 379 , insbesondere auch davon, ob diese Tat schuldhaft begangen worden ist oder nicht 380 . Im Hinblick auf einen Tiiter, der ein schweres Delikt begangen hat, von dem aber keine Wiederholungsgefahr droht, bestünde kein spezialpriiventives Behandlungsinteresse, ein ,,unverbesserlicher" Kleinkrimineller müBte 373 Eben dies ist die Auffassung Merkels, dcr der Spezialpraventionslehre eine ,,miílbrauchliche Anwendung" des Wortes Strafe vorwirft (Merkel, Lehre, S. 214). - Aus der neueren Literatur: Duttge, Brücke, S. 57; Neumann, Anfragen, S. 166. 3 74 Vgl. etwa Lüderssen, Abschaffen, S. 172. 375 Nagler, Strafe, S. 6. 3 76 Leibniz, Schriften, S. 225. 377 O ben S. 58 f. 378 Zum Verfassungsrang des Schuldprinzips vgl. BVerfGE 6,389,439; 9,167,169; 20,323, 331; 25,269,286; 28,386,391; 50,205,214 f.; 86,288,313; 91, 1, 17; 95, 96, 140; 109, 133, 173 ff.; 123, 267, 413. - Zur verfassungsrechtlichen Verankerung dieses Grundsatzes im einzelnen H. A. Wolff, AéiR 124 (1999), 55 ff. 379 Aus der zeitgenéissischen Literatur: Beling, Unschuld, S. 2; Dahm, Recht, S. 425; Georgakis, Studien, S. 53. - Aus dem heutigen Schrifttum: Jakobs, AT, 1/43 ff.; Frister, AT, § 2 Rn. 15; Maurach!Zipf, AT 1, § 5 Rdn. 5; Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 72; Koch, Binding, S.137; Lesch, Verbrechensbcgriff, S.157; ders., JA 1994, 593; Neubacher, Jura 2000,

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380 Auch dics ist bereits von den Zeitgenossen Liszts erkannt und hervorgehoben worden; vgl. nur Merkel, Abhandlungen, S. 706 f.; Liepmann, Einleitung, S. 205. - Aus der neucren Literatur: Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik, S. 271; Lesch, JA 1994, 594; Neubacher, Jura 2000, 517.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

B. Strafe als Préiventionsinstrument?

hingegen mit dauerhafter Unschadlichmachung rechnen 381. Um Kriminalitat besonders nachhaltig zu verhüten, empfiehlt es sich zudem, erst gar nicht auf die Begehung einer Straftat zu warten, sondern gefahrliche Individuen bereits im Vorfeld den geeigneten MaJ3nahmen zu unterziehen 382. Liszt sieht diese Gefahren durchaus, tut sich mit der Zurückweisung der betreffenden Einwande aber sicht!ich schwer 383. Ausdrücklich konzediert er, ,,daJ3 es vielleicht in der Konsequenz unserer Anschauung ware, nur auf die Gesinnung Rücksicht zu nehmen, und nicht erst die Tat abzuwarten; wie ja auch der Hausarzt nicht wartet, bis ein Leiden zum Ausbruche kommt, sondern demselben vorzubeugen trachtet" 384. DaJ3 diese Folgerung, obschon sie keineswegs absurd sei385,dennoch nicht gezogen werden solle, begründet Liszt mit dem Interesse des einzelnen Bürgers an der Wahrung seiner Freiheit; dieses Interesse verlange nach einer eindeutigen Begrenzung der staatlichen Strafgewalt386.Liszt selbst konkretisiert diesen Hinweis nicht naher. Im Ergebnis trifft es aber zu, daJ3 ein strikt spezialpraventiv konzipiertes Strafrecht die Handlungsfreiheit des einzelnen Bürgers in einer kaum mehr kalkulierbaren Weise bedrohen würde 387. So müfüe beispielsweise die Entscheidung darüber, ob jemand so gefahrlich sei, daJ3er einer vorbeugenden Behandlung bedürfe, entweder auf einer stark lückenhaften Tatsachengrundlage ergehen (und ware entsprechend schlecht prognostizierbar und fehleranfallig 388), oder aber sie würde eine auÍ5erst intensive Überwachung und Durchleuchtung der Bürger erfordern (und deren Freiheit aus diesem Grunde unterminieren). Für Individuen, die ne-

ben dem Bedürfnis nach Sicherung durch das Recht auch das Bedürfnis nach Sicherheit vor dem Recht haben, ist deshalb ein spezialpraventiv ausgerichtetes Strafrecht von vornherein allenfalls dann akzeptabel, wenn dieses Strafrecht als ausléisendes Moment der staatlichen Reaktion eine schuldhafte Tat verlangt. Dies lauft freilich auf einen unterschiedlichen Aufbau des Strafvoraussetzungsund des Strafbemessungsrechts hinaus: dort Tatprinzip, hier Taterorientierung389.Die Axiologik des einen Komplexes diskreditiert die des anderen. Eine überzeugende Straftheorie lafü sich aus zwei solchermaÍ5en widerstreitenden Halften nicht zusammenfügen.

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381 Aus der zeitgeni:issischen Literatur: Birkmeyer, GS 67 (1906), 414. Aus dem heutigen Schrifttum: Baumann/Weber/Mitsch, AT, §3 Rn.45f.; Frister, AT, §2 Rn. l5;Jakobs, AT, 1/45; Jescheck/Weigend, AT, § 8 IV 5 (S. 75); Kohler, AT, S. 41; Murmann, Grundkurs, § 8 Rn. 33; Rengier, AT, § 3 Rn. 20; Roxin, AT 1, § 3 Rn. 16, 19; Schmidhauser, AT, 3/17; Stratenwerth!Kuhlen, AT, § 1 Rn.19; Mushoff, Strafe, S.147, 155; Duttge, Brücke, S. 55; Hassemer, Selbstverstandnis, S. 65; Lenckner, Strafe, S. 16; Lesch,JA 1994, 593 f.; Maiwald, Entwicklungcn, S. 295; Momsen/Rackow,JA 2004, 338; de S011sa,FS Hassemer, S. 316. 382Aus dem alteren Schrifttum: Beling, Unschuld, S. 2; Birkmeyer, ZStW 16 (1896), 117; ders., GS 67 (1906), 415; Liepmann, Einleitung, S. 205; Merkel, Abhandlungen, S. 706 f.; R. Schmidt, Aufgaben, S. 139. - Neuere Stimmen: Baumann/Weber! Mitsch, AT, § 3 Rdn. 46;]escheck/Weigend, AT, § 8 IV 5 (S. 75); Maurach!Zipf, AT 1, § 5 Rdn. 5; Roxin, AT 1, § 3 Rn. 16; Hoerster, Strafe, S. 55 f.;]akobs, Strafrecht, S. l20;Kühl, Bedeutung, S. 29; Lesch,JA 1994, 594. 383 So auch die Einschatzung von Frisch, ZStW 94 (1982), 584 und Koch, Binding, S. 138 f. - Das Gleiche gilt für die (vom Verfasser auf Kant und Hegel zurückgeführte) Spezialpraventionslehre Merles (Merle, Strafen, S. 12 f., 48 ff., 59 ff.; dazu naher Pawlik, ZStW 120 [2008], 131 ff.). 384 Liszt, Aufsatze, Bd. II, S. 16. 385Vgl. Liszt, Aufsatze, Bd. II, S. 59. 386 Liszt, Aufsatze, Bd. II, S. 60, 80 f. - Sehr deutlich auch der Liszt-Schüler Heinemann, ZStW 13 (1883), 416 f. 387 Dies betonen bereits Birkmeyer, ZStW 16 (1896), 116 ff. und R. Schmidt, Aufgaben, S. 139 ff. - Ebenso Frisch, ZStW 94 (1982), 585 f. 388 Darauf stellt M. Walter (FS Oehler, S. 699) hauptsachlich ab.

IV. Die positive Generalpravention Die negative Generalpravention setzt darauf, die Gesellschaftsmitglieder in deren Eigenschaft als rationale Vertreter ihrer je individuellen Interessen von der Vorzugswürdigkeit einer Selbstdisziplinierung überzeugen zu kéinnen. Dieses Begründungsmodell erfordert es nicht, daJ3 die Gesellschaftsmitglieder in ihrer Rolle als Normunterworfene das Recht in dessen intrinsischem Sollenscharakter anerkennen 390. Es genügt, daJ3sie dem Blick auf die Normen und deren Anwendung die Information entnehmen, ein Rechtsbruch werde sich voraussichtlich nicht lohnen. Eine solche, rein instrumentelle Beziehung der Bürger zu ihrer Rechtsordnung ist indessen héichst instabil, denn die Erfüllung einer jeden Rechtspflicht steht hier unter dem Vorbehalt ihrer individuellen Nützlichkeit

389 Bekanntlich verfuhr Liszt in eben dieser Weise. Die Voraussetzungen der Strafbarkeit wollte er nach liberal-rechtsstaatlichen Grundsatzen bestimmen, ganz so, wie es die klassische Schule vertrat. Die Sanktion sollte hernach aber allein nach den sozialen Bedürfnissen bemesscn wcrden (exemplarisch Liszt, Aufsatze, Bd. II, S. 71). Nach der Binnenlogik von Liszts System bleiben die rechtsstaatlichen Einhegungen des Strafrechts jedoch stets in der Defensive. Sie sind, wie Neumann (Strafrechtsverstandnis, S. 64) hervorhebt, ,,dem therapeutischen Strafrecht auGerlich und aus seiner Sicht bedauerliche tlindernisse auf dem Weg zur gri:iÍ\tmi:iglichen Effizienz". Dcshalb stehen s1eunter dem bestand1gen ,,D'.·uck dcr nach rechtlichen Freiraumen verlangenden Kriminalpolitik" (aaO). - In diesem Smne bereits Radbrnch, Rechtsphilosophie, S.156; Birkmeyer, GS 67 (1906), 415. - Aus dem heutigen Schrifttum: Kaenel, Konzeption, S. 73 f.; Ehret, Liszt, S. 184 f.; Kubinle, Strafe1_1,S. 295; Muñoz Conde, FS Hassemer, S. 544; Naucke, ZStW 94 (1982), 541,544 ff.; ders., KntV 1993, 159; Roxin, ZStW 81 (1969), 640 f.; Vormbaum, ZStW 107 (1995), 736. - Im Bereich des Strafvollzugs spielen diese Limitierungen denn auch praktisch keine Rolle mehr. Georgakzs (Studien, S. 57) weist darauf hin, daG Liszt es im Gegensatz zu vicien anderen Vertretern der spezialpraventiven Richtung im Strafrecht ,,~urchaus abgelehnt hat, die _rechtlich~ Stellun_g des Straflings im Strafvollzug in dem Sinne irgendwel~her Garant1en semer P~rsonh~hke1t nach konstitutionell liberalistischen Grundsatzen zu s1chern". ,,Jeder Rechtss1cherhe1tsanspruch des erwiesenen Feindes der Rechtsordnung in der Strafzumessung und im Stra_fvollzug weicht bei Liszt ohne das geringstc Bedenken vor dem Anspruch der sozialen S,cherheit." (aaO) 390 Müller-Tnckfeld, Integrationspravention, S. 92.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens 391

für den Pflichtigen : ,,Von einem Gemeinwesen, dessen Untertanen nicht zu den Waffen greifen, weil sie durch Furcht eingeschüchtert sind ", trnt sich in den Worten Spinozas ,,eher sagen, daB es ohne Krieg ist, als daB es sich in einem Zustand des Friedens befindet" 392 • Die Gesetze, die die ,,Seele des Staates" seien, ki:innten nicht intakt bleiben, ,,wenn sie nicht [zugleich] in der Vernunft und in der den Menschen gemeinsamen Affektivitat ihre Stütze haben" 393 • Deshalb habe der die gri:ifüe Herrschaft, der über die Herzen der Untertanen gebiete 394 . Erstrebenswert ist es demnach, wenn die Bürger statt aufgrund von punktuellen, klugheitsbasierten Entscheidungen aufgrund von habituellen, in ihrem sonstigen Wertesystem affektiv verankerten Dispositionen handeln 395. Auch in der Sozialphilosophie 396 , Rechtssoziologie 397 und Kriminalpolitik 398 der Gegenwart wird die Bedeutung nicht-instrumenteller Faktoren für das Recht betont. ,,Mit Pflichtbegründungen, Strafdrohungen, Lohnversprechen allein kann d~r Staat sein~ Existenz nicht fristen." 399 Die soziale Geltung des Rechts hangt v1elmehr zu ernem guten Teil ab ,,von der Anerkennung seiner (ethisch-sittlichen) Verbindlichkeit, die ihrerseits nicht erzwingbar ist" 4ºº. Die Lehre von der positiven Generalpravention hat diesen Gedanken für den Bereich des Strafrechts fruchtbar gemacht 401 . Danach soll die Strafe - mit Ri391

Winkler, Freiheit, S. 231; Baurmann, GA 1994, 371; ders., Normativitat, S. 165;Kohler, FS Hll"sch. S. 6?. - _Treffend Bumke, Ausgestaltung, S. 25: ,,Der Nutzen bildet einen guten Grund, abcr kern h111re1chendstabiles Fundament für die Kooperation." 392 Spinoza, Politischer Traktat, S. 65. 393 Spinoza, Politischer Traktat, S. 217. 394 Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, S. 250. 395 Baurmann, GA 1994, 374. 396 Birnbacher'._ Tun, S_.307; Hildebrand, Rationalisierung, S. 105 H., 134 ff.; Kersting, Macht, S. 213; Krdft, Apnontat, S. 102; Mieth, Sozialethik, S. 74; Pawlowski, Bedeutung, S. 6 f.; Postema, Conformity, S. 56 ff. 397 Baurmann, Thesen, S. 411 f.; ders., FS Lüderssen, S. 17, 29. 398 Zipf, Kriminalpolitik, S. 40. 399 Oetker, ZStW 17 (1897), 507. 400 Bockenforde, Staat, S. 251 f. - Weitere Nachweise aben S. 39. 401 Aus der alteren Literatur: Allfeld, Lehrbuch, S. 10 ff.; H. Mayer, Strafrecht, S. 26 ff., 19_5f._;de~s., AT, S. 23 ff.; ders., DStR 1938, 106; Dahm, Recht, S. 418; v. Gemmingen, Rechtsw1dngke1t, S. 39 ff.; Nowakowski, FS Rittler, S. 85 ff.; Noll, FS H. Mayer, S. 223 ff.; Griinwald, ZStW 80 (1968), 92 ff. - Vertretcr dieser Position innerhalb der neueren Diskussion: HK-GSRossner, Vorbem. zu § 1 Rn. 7 ff., 22; MK-Frezmd, Vor §§ 13 ff. Rn. 68 f., 91; ders., AT, § 1 Rn. 10; ders., Erfolgsdehkt, S. 105 ff.; ders., Lcgitimationsfunktion, S. 48 f.; Baumann/Weberl Mztsch, AT, § 3 Rn. 30 H., 65; Frister, AT, § 2 Rn. 26 f.; Hassemer, Einführung, S. 324 H.; ders., Strafe, S. 96 ff.; ders., Strafz1ele, S. 64 f.; ders.,JuS 1987,264 f.; ders., Variationen, S. 34 ff.; ders., Strafrecht, S. 109 ff.; ders., Selbstverstandnis, S. 12, 78 H.;Jakobs, AT, 1/14 ff.; ders., Schuld, S. 31 ff.; Achenbach, Zurcchnung, S. 142 H.; Bleckmann, Strafrechtsdogmatik, S. 82, 124 ff.; Derksen, Handdn, S. 175 ff.; Ebert, Vergeltungsprinzip, S. 46 f., 52 f.; Garditz, Staat 49 (2010), 357 f.; Haffk_e, T1efenpsycholog1e, S. 62 ff., 79 ff., 162 ff.; Kriimpelmann, GA 1983, 343 f.; Maiwald,_ EntwJCklungen, S. 303; Mir Puig, ZStW 102 (1990), 922 f.; Moas, FS Pallin, S. 300 H.; Musszg, Schutz, S. 140 ff.; H.-]. Otto, Generalpravention, S. 264 H., 276 ff.; Reemtsma, Rccht, _

B. Strafe als Prdventionsinstrument?

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chard Schmidt gesprochen - als ,,Zucht zum Guten" 402 ,,das Rechts- und Staatsgefühl derer starken, die bei dem Konflikt zwischen Verbrechen und Staat auf seiten des Staats stehen, die das begangene und strafwürdige Unrecht miBbilligen"403.Strafe ist diesem Verstandnis zufolge ,,nur ein Verstarkungsmittel. Im Vordergrund steht die Überzeugungskraft der Norm sel?st." 404 Dies setzt freilich voraus, daB die ,,MachtauBerung" des Staates ,,in Ubereinstimmung mit den Anschauungen der Bürger über die Handlung und deren zu erwartende Folgen" steht 4º5 • Eine Strafe muB sozial als gerecht anerkannt sein, um eine der gesellschaftlichen Integration forderliche Wirkung entfalten zu ki:innen406 • Ansonsten trate - ebenso wie bei der negativen Generalpravention, jetzt aber nicht mehr beschrankt auf deliktsgeneigte Bürger, sondern als allgemeine Haltung Furcht an die Stelle des einsichtsvollen Lernens. Die Herausbildungvon Rechtsvertrauen würde sich auf eine rein auBerlich bleibende Anpassungsleistung reS. 20 ff.; Rethmann, Rechtstheorie 31 (2000), 133 ff.; Sternberg-Lieben, Schranken, S. 557 ff.; Streng, ZStW 92 (1980), 648 ff.; ders., ZStW 101 (1989), 287 ff.; Vogler, ZStW 90 (1978), 142 ff. 402 R. Schmidt, Aufgaben, S. 25. 403 R. Schmidt, Aufgaben, S. 52. 404 Kriimpelmann, GA 1983, 343. 405 R. Schmidt, Aufgaben, S. 62; vgl. auch Merkel, Abhandlungen, S. 721; dens., Lehre, S. 231 f.; Oetker, ZStW 17 (1897), 537 H.-Aus dem aktuellen Schrifttum: T. Walter, ZIS 2011, 636, 646. - Aus der Literatur des spatcn 18.Jahrhunderts: Klein, ACrim 2 (1800), 64 f., 91; pragnant ferner Thibaut (Beytragc, S. 101): ,,Die Geschichte hat uns wohl gezeigt, dalles dem Regenten gelingen kann, ausnahmsweise in einzelnen Fallen weiter_ zu gehcn, als das _Volk wünschte: aber sic hat uns noch kein Beyspiel geliefert, dall die Cnmrnalverfassung uberhaupt dem Volkscharakter widerstreiten kann, und dalles moglich ist, auch nur einJahrzehnd auf diese Art die Zuchtruthc zu führen." 406 Streng (Zweckstrafrecht, S. 231) spricht in diesem Zusammenhang deshalb von ~inem demokratischen Strafrechtsmodell". Allerdings war das genannte Theorem bere1ts 111der :ordemokratischcn Strafrechtswissenschaft des 19.Jahrhunderts wohlbekannt (naher Greco, Lebendiges, S. 235 ff. und Stiibinger, Strafrecht, S. 306 f.). Selbst in der Endphase des Dritten Rcichs (1944) wurde es von namhafter Seite vertreten (Dahm, FS Kohlrausch, S. 15). - Bc~eutsam für die Nachkriegsdiskussion: Eb. Schmidt, ZStW 67 (1955), 187;Nowakowskz, FS Rmler, S. 65 f., 85 ff.; Gallas, Gründe, S. 4; Noll, Begründung, S. 22; ders., FS H. Mayer, S. 223; Lackner,JZ 1967,515 f.;Jescheck, ZStW 80 (1968), 59;Horstkotte,JZ 1970, 125. -Gegenwartige Vertreter: HK-GS-Rossner, Vorbem. zu § 1 Rn. 9 f., 22; MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 69, 87; ders., Erfolgsdelikt, S. 107 f.; S/S-Stree/Kinzig, Vorbcm. §§ 38 H. Rn. 3; Baumann/Weber!Mitsch, AT, § 3 Rn. 65; ]escheck/Weigend, AT, § 8 II 4 (S. 69), IV 5 (S. 75), V 1 (S. 76); Schmidhauser, AT, 3/l9;Achenbach, Zurechnung, S. 143 ff.; Baurmann, GA 1994, 379 ff.; Bockelmann, FS R. Lange, S. 5 f.; Dolling, ZStW 102 (1990), 15 f.; Hart-Honig, Strafzumessung, S. 98 ff.; Henkel, Strafe, S. 40; Kalous, Generalpravention, S. 249 H.; Kargl, ARSP 82 (1996), 507; Kzndhauser, GA 1989, 503 ff.; Kiipper, Straftheorie, S. 211; Kunz, ZStW 98 (1986), 831 f.; Lenckner, Strafe, S. 23 f.; Maiwald, GA 1983, 54 f.; ders., Entwicklungen, S. 303; Miehe, Ende, S. 252; Moas, FS Pallin, S. 305; Morselli, ARSP 87 (2001), 230; Miiller-Dietz, FS Jescheck, S. 824 ff.; Neumann, Zurechnung, S. 21 f., 270 ff.; ders., ZStW 99 (1987), 589 ff.; ders., Strafrechts~erstiindnis, S. 67 f.; ders., Kritik, S. 148 H.;ders., Deutung, S. 400 ff.; H.-]. Otto, Generalpravent10n, S. 270 f., 276, 284 f.; Roxin, FS Müllcr-Dietz, S. 709; Sternberg-Lieben, Schranken, S. 558 f.; Streng, ZStW 92 (1980), 663; ders., ZStW 101 (1989), 292 ff., 332; ders., Sanktionen, S. 12; ders., JRE 13 (2005), 710 ff.; Tomforde, Zulassigkeit, S. 88.

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duzieren, und das allgemeine Rechtsbewufüsein würde nicht beruhigt, sondern einer dauernden Irritation ausgesetzt werden. Solange die Lehre von der positiven Generalpravention sich mit dem Anspruch begnügt, ein allgemeines rechtssoziologisches Theorem für das Verstandnis des Strafrechts nutzbar zu machen, solange sie sich also lediglich als eine Strafrechtstheorie versteht, welche von einem systemexternen Standpunkt aus die Funktion des Strafrechts und seiner Sanktionen in der Gesellschaf t erklart 4º7 - solange ist gegen diese Konzeption nichts Grundsatzliches einzuwenden 4 º8 . Weitaus problematischer wird die Sachlage, sobald die Lehre von der positiven Generalpravention als eine genuine Straftheorie ausgegeben wird, sobald ihr also der Anspruch zugeschrieben wird, eine Antwort auf die Frage zu bieten, weshalb es überhaupt Strafe geben dürfe. Die soeben angesprochene rechtssoziologisch-externe Perspektive ist notwendig mit einer distanzierten Haltung des betreffenden Beobachters gegenüber den von ihm festgestellten sozialen Wertüberzeugungen verbunden: Wer beobachtet, der affirmiert nicht. Aber auch die als Straftheorie im eigentlichen Sinne verstandene, also auf den internen Standpunkt des Rechtsanwenders bezogene Variante der positiven Generalpravention sinnt - jedenfalls auf den ersten Blick - dem Rechtsanwender nicht an, sich mit den Vorstellungen der Bevi:ilkerung über den Sinn der Strafe zu identifizieren. Der Rechtsanwender scheint sich vielmehr darauf beschranken zu ki:innen, die Existenz (und den etwaigen Wandel) dieser Vorstellungen als soziale Tatsachen zu konstatieren 4 º9 • Beachtung verdienen sie nicht wegen ihrer inhaltlichen Richtigkeit, sondern nur deshalb, weil angenommen wird, dais die Bestatigung des Rechtsbewufüseins der Gesellschaftsmitglieder zu einer inneren Festigung der betreffenden Gesellschaf t führt. Lafü diese Distanz sich unter dem Blickwinkel der spezifisch straftheoretischen Legitimationsfrage aber wirklich durchhalten? 41 º Die Probleme werden sichtbar, sobald die Bevi:ilkerung die Strafe aus Gründen befürwortet, die der betreffende Straftheoretiker von seiner Warte aus als ,,falsch" bewerten muis. So nimmt die Mehrzahl der Vertreter der These von der ,,Pravention durch gerechte Vergeltung" an, dais in der Bevi:ilkerung eine starke Praferenz für eine

. 407.Exemplarisch für dieses Verstandnis der positiven Generalpravention ist J akobs' Funktionahsmus \zusammenfassendJakobs, ZStW 107 [1995], 843 ff.; zur deskriptiven Anlage dieser Konzept10n aaO, 867). - Naher Pawlik, Verhalten, S. 62 ff.; Kalous, Generalpravention, S. 108 f.; Neumann/Schroth, Theorien, S. 34; Neumann, Kritik, S. 149; ders., Alternativen,

s.104 f.

B. Strafe als Prdventionsinstrument?

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

408 Ebenso Greco, Lebendiges, S. 418; Haas, Strafbegriff, S. 274. - A. A. Schneider, Einübung, S. 328 ff. (,,rechtssoziologisch unterkomplex")· Kahlo Handlungsform S. 100. 409 I n d'1esem Smne · · Nowakowski, FS Rittler, ' S. 85 'ff. ' bereits 410 Kritisch Frister, Struktur, S. 79 ff; Neumann, Deutung, S. 404; Sacher, ZStW 118 (2006), 598 ff.

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retributive Strafbegründung bestehe 411 . In diesem Fall kann nur ein im wesentlichen nach Vergeltungsgrundsatzen operierendes Strafrecht die optimale Integrationswirkung entfalten. Von dem eigenen praventionstheoretischen Ausgangspunkt der betreffenden Autoren her betrachtet ist ein solches Begründungsmodell indessen irrational. Da sie es aber dennoch nicht ignorieren ki:innen, lauft ihre Position einer ,,relativierte[n] Vergeltung" 412 auf das Ansinnen anden Verurteilten hinaus, sich um des gesellschaftlichen Friedens willen einem unvernünftig motivierten Zwang zu unterwerfen 413• Eine Pflicht, die Unaufgeklartheit der eigenen gesellschaftlichen Umwelt duldend hinzuneh414 men, lieise sich freilich eher als Aufopferung denn als Strafe charakterisieren • Die Begründung dementiert hier das Begründungsziel. Angesichts dieser prekaren Situation scheint den Befürwortern der positiven Generalpravention nichts anderes übrig zu bleiben, als ihre legitimationstheoretischen Überlegungen zu verheimlichen bzw. den Mitgliedern des Rechtsstabes zu empfehlen, im Rahmen ihrer beruflichen Tatigkeit gleichsam mit gespaltener Zunge zu sprechen 415 • Um dem eigentlichen Interesse der Bevi:ilkerung, der Befestigung des sozialen Friedens, zu dienen, sollten sieso tun, als teilten sie deren -wie ihnen bewuist ist: in Wahrheit unvernünftiges - Interesse an Vergeltung. ,,Der Praventionstheoretiker schlüpft in die Rolle des platonischen Philosophenherrschers, dem in bestimmten Situationen der Griff zur medizinischen Lüge erlaubt ist. Er gleicht der Figur des betrügenden Priesters, die wir aus dem ideologiekritischen Fundus der Aufklarung kennen: dem Volk erzahlt er Geschichten, deren Wahrheit er selbst nicht glaubt." 416 Der Preis, der für diese 411Vgl. etwa Dolling, ZStW 102 (1990), 15 f.; Kalous, Generalpravention, S. 249 ff.; Miehe, Ende, S. 252; Morselli, ARSP 87 (2001), 230; Miiller-Dietz, FS Jescheck, S. 824; Streng, ZStW 92 (1980), 663; T Walter, ZIS 2011, 636 ff.- In jüngerer Zeit wird dagegen nicht selten eine zunehmende Distanzierung der Beviilkerung von einem einseitig retributiven Verstandnis der Strafe angenommen (vgl. Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 104; Liiderssen, Abschaffen, S. 93,414; Stratenwerth, Zukunft, S. 47). 412 Maiwald, Bedeutung, S. 71. 413 So ausdrücklich Ebert, Vcrgeltungsprinzip, S. 52 f. und Haffke, Tiefcnpsychologie,

s.85.

4H An dieser kategorialen Unangemessenheit würde auch die von Ellscheid/Hassemer (Strafe, S. 287) zur Bandigung des ,,irrationalen Vergeltungsbedürfnis[ses] der Gesellschaft" vorgeschlagene Heranziehung des Verhaltnismafügkeitsprinzips oder die von S_traten_werth (FS Bockelmann, S. 918) eingeforderte Verknüpfung der strafrechthchen Sanktion m1t dem Angebot von Hilfc nichts andern. . . 415 Die diesbezi.igliche Problematik ist erstmals von M. Bock themat1S1ert worden; vgl. M. Bock, ZStW 103 (1991), 649 ff.; dens., JuS 1994, 97 f. - Ebenso Frister, Struktur, S. 81 f., 97; Griffel, GA 1996, 465; Haas, Strafbegriff, S. 273; Hornle, Strafzumessung, S. 118; _Hornlel van Hirsch, Generalpravention, S. 89 f.; Kersting, Macht, S. 242; Koch, Entknm111ahs1erung, S. 147; Mushoff, Strafe, S. 134; Pielsticker, Revisionsfalle, S. 63; Prittwitz, Strafrecht, S. 235; Puppe, FS Gri.inwald, S. 480; Schneider, Eini.ibung, S. 324, 337; Wezgend, Kommentar, S. 33; E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 803. 416Kersting, Macht, S. 242.

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l. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Strategie gezahlt werden müfüe, ist jedoch inakzeptabel hoch: Es würdc nicht nur (wie bei der negativen Generalpravention) dem Verurteilten, sondern der gesamten ,,unaufgeklarten" Bevolkerung die kommunikative Gleichheit abgesprochen417. Statt die legitimationstheoretischen Defizite der negativen Generalpravention abzubauen und - wie Hassemer meint - die Menschen ernst zu 418 nehmen , würde die Lehre von der positiven Generalpravention diese Defizite sogar noch vergroBern.

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

I. Gefahren des Praventionsdenkens und Renaissance der Vergeltungstheorie ,,Das zentrale normative Problem des Praventionsparadigmas [... ] ist seine MaBlosigkeit." 419Alle Praventionsbemühungen nehmen ihren Ausgang bei dem Bedürfnis nach Sicherheit. Sicherheit aber ist ein unerreichbares Ziel, denn jedes Sicherheitsniveau laBt sich immer noch weiter verbessern. Umgekehrt gibt es nichts, was nicht als Bedrohung wahrgenommen und entsprechend deklariert werden konnte. Dies verleiht der Pravention den ,,Charakter des UnabschlieBbaren: Vorbeugen kann man nie genug und nie früh genug." 420In den Handen eines aktivistischen nationalen und europaischen Gesetzgcbers dient der Praventionsgedanke denn auch als eine Art Generalschlüssel zur Strafbarkeitsausdehnung421: ,,Wo man auch hingeht, stets hort man das Strafrecht- mal lauter, mal leiser - rufen: Sei beruhigt, ich bin schon da." 422Mit guten Gründen wird befürchtet, daB das Praventionsparadigma kraf t der ihm innewohnenden Expansionslogik das Strafrecht (und nicht zuletzt auch das Strafverfahrensrecht) seiner disziplinaren Identitat zu berauben und es in ein umfassendes Regime der Gefahrenbekampfung und Verhaltenslenkung einzugliedern droht 423. Es wachst die Besorgnis, daB das Strafrecht gleichsam mit Haut und Haaren an

C. Strafe als Antwort auf die Verletztmg einer Mitwirkungspflicht

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die Politik ausgeliefert werden 424und damit auf den Status zurückfallen konnte, den es im spatabsolutistischen Wohlfahrtsstaat innehatte 425. Auch wer diese Befürchtung für übertrieben halt, kann nicht in Abrede stellen, daB tragende Elemente des bisherigcn Verbrechensverstandnisses sich nur mühsam in einen praventionstheoretischen Rahmen einfügen. Dies gilt etwa für das vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Schuldprinzip 426.Schuld ist Vorwerfbarkeit, so lautet die heute gelaufige Kurzformel 427; Gegenstand des so verstandenen Schuldvorwurfs ist nach herkommlicher Diktion das vom Tatcr verübte Unrecht 428. Die so verstandene Schuld hat ihren Bezugspunkt mithin in der Vergangcnheit: Dem Beschuldigten wird bescheinigt, für die von ihm begangenen Taten im strafrechtlichen Sinne verantwortlich zu sein. Die ,,allein zukunftsgewandte Pravention" leidet indes an einer ,,strukturbedingten Blindheit [... ] für die vergangene Tat" 429.Einem konsequenten Pravcntionsdcnken ist, wie gesehen, der Blick zurück fremd; ihm geht es allein darum, künftige Gefahren zu bannen. An die Stelle der im herkommlichcn Sinne verstandenen Schuld tritt deshalb die Kategorie der Gefdhrlichkeit. Wozu dies führt, lieB sich exemplarisch an der Lehre Feuerbachs studieren. Defektc, selbst wenn sie unverschuldet sind, ziehen danach haufig eine Erhohung der Strafbarkeit nach sich: Bei Individuen, die von schlechter Erziehung odcr natürlicher Stumpfheit belastet sind, ist die Gefahr besonders groB, daE sie sich in Konfliktfallen nicht rechtskonform motivieren werden; deshalb bedarf es in diesen Fallen einer besonders massiven Strafandrohung 430. Auch im übrigen schrumpft Schuldfahigkeit unter den Pramissen der negativcn Generalpravention zur bloBen Dressicrbarkeit zusammen. Um sich von einer Strafdrohung wirksam abschrecken zu lassen, muE jemand Hoerster zufolgc nur über drei Arten von Fahigkeiten verfügen: ,,Er muss intelligent genug sein, um von der drohenden Strafe zu wissen; er muss urteilsfahig genug sein, um die drohende Strafe gegen die Vorteile der Tat abwagen zu konnen; und er muss psychisch gesund genug sein, um die Losung, die er für rational halt, auch wirklich in die Tat umsetzen zu konnen." 431Von diesen Fahigkeiten keinen angemessenen Gebrauch zu machen bedeutet aber nur, unklug, also dem eigenen Interesse zuwider zu handeln. Ein Schuldvorwurf setzt dagegen voraus,

4 7

_ '. Haas, Strafbegriff, S. 273; Kersting, Macht, S. 242; M. Bock, JuS 1994, 97; Neumann, Knt1k, S. 147. 418 Vgl. Hassemer, Variationen, S. 37. 419 Hassemer, Selbstverstandnis, S. 50. 420 Brockling, Behemoth 1 (2008), 42. - Naher Frankenberg, KJ 2005, 375 f.; Grimm, KritV 19~6, 38 ff.; Kahlo, Handlungsform, S. 92 f.; Lepsius, Leviathan 32 (2004), 87 f.; Neumann, Femdstrafrecht, S. 307 f.; M. Walter, FS Hirsch, S. 901, 914 f.; Zabel, Konflikt, S. 238 ff. 421 Oben S. 18 f. 422 Kindhauser, Universitas 3 (1992), 229. - Von ,,Ubiquitatspravention" spricht treffend M. Walter, FS Hirsch, S. 901. 23

Ffscher, Einl. Rn. 12a; Gropp, AT, § 1 Rn. 85; Hassemer, WestEnd 2006, 75; Kindhduser, Umvers1tas 3 (1992), 228 ff.; Miiller-Dietz, FS R. Schmitt, S. 101 f. ~

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Streng, Zweckstrafrecht, S. 237. Dazu Reulecke, Gleichheit, S. 143 ff.; Zabel, ZStW 120 (2008), 83 ff. 426 Nachweise oben S. 75 Fn. 378. 427 ]escheck!Weigend, AT, Vor § 37 (S. 404); Lackner!Kühl, Vor § 13 Rn. 23; SK-Rudolphi, Vor § 19 Rn. 1; Maurach!Zipf, AT 1, § 35 Rn. l; Stratenwerth!Kuhlen, AT, § 10 Rn. 4; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 18 Rn.1; Wessels/Beulke, AT, Rn. 394. 428 Gropp, AT, § 7 Rn. 26; Heinrich, AT 1, Rn. 528; Wessels/Beulke, AT, Rn. 402. -Zur hiesigen Kritik an der Kategorie eines schuldunabhangigen Unrechts unten S. 259 ff. 429 Mosbacher, ]RE 14 (2006), 487. 430 Oben S. 71 f. 431 Hoerster, Strafe, S. 110. 425

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

daB der Tater in seinem Handeln der normativen Gleichheit seines Gegenüber Rechnung zu tragen vermag. Ahnlich sehen die Dinge bei Liszt und seinen Schülern aus. Einem konsequent durchgeführten System der Spezialpravention zufolge werden Art und AusmaB der Strafe durch die in der Personlichkeit des Taters begründete Gefahr künftiger Deliktsbegehung bestimmt. Je nach der Motivationsbedürftigkeit und Motivationsfahigkeit des Betreffenden auBert sich die Strafbedürftigkeit als Abschreckungs-, Besserungs- oder Isolierungsbedürftigkeit 432. Für die Kategorie d~r ~chu!d, verstanden als Verantwortlichkeit für das begangene Verbrechen, ist 111 diesem System kein Raum 433. Dies lafü sich am besten anhand derje~igen_ Anhanger einer spezialpraventiven Strafbegründung demonstrieren, die, wie etwa Eberhard Schmidt, an der überkommenen Rede vom ,,Schuldvorwurf" festhalten. Entsprechend seiner Überzeugung, daG die Verbrechenslehre von der Straftheorie abhangig sei434, betont Eberhard Schmidt, der Geg_enst~nddes Schuldvorwurfs sei ,,nicht a priori eindeutig gegeben"; er bestimme sich vielmehr nach den Aufgaben, die der Bestrafung gestellt würden 435.Wo die S:rafe im Urteil und Vollzug generalpraventiv gedacht werde, komme nur die Emzeltatschuld als Voraussetzung der Bestrafungsmoglichkeit in Frage. Von einem spezialpraventiven Ausgangspunkt wahle man hingegen ,,als Objekt des Schuldvorwurfs den Charakter des Taters, man gelangt zur ,Charakterschuld' und nimmt die ,Gefahrlichkeit' unter die ,Schuldmomente' auf" 436. Ob die Charakterdefizite ihrerseits verschuldet sind oder nicht, spielt nach dieser Begründungslogik indes ebensowenig eine Rolle, wie dies bei Feuerbach der Fall war. Der einzelne haftet für sein faktisches So-sein; eine ,,Trennung von schuldhafter Taterperson und pathisch belastetem Individuum" - nach Welzel ,,eine ~er Grundvoraussetzungen für die richtige Erfassung des Taterstrafrechts"4 37ist de_rLehre von der Spezialpravention aus kategorialen Gründen unmoglich. _Wiesteht es schliefüich um die Lehre von der positiven Generalpravention? Wie alle Abkommlinge des Praventionsmodells ist auch sie nicht auf den Ausg_~eic~vergangenen U~rechts, sondern auf die Erzielung positiver Wirkungen fur die Zukunft ausgenchtet. Sie erblickt den Zweck des Strafrechts nur nicht in ~er unmittelbaren Bekampfung gefahrlicher Tater 438oder der Überredung rat10naler Nutzenkalkulierer 439,sondern- in den WortenJakobs' - in der ,,Erhaltung der bestehenden Ordnung" 440 , genauer: in der ,,Stabilisierung des durch 432

Vgl. Liszt, Abhandlungen, Bd. I, S. 166. Treffend Gallas, Kriminalpolitik, S. 18 f. 434 Dazu o ben S. 52 f. 435 Eb. Schmidt, SchwZStr 45 (1931), 209. 436 Eb. Schmidt, SchwZStr 45 (1931), 209 f. 437 Welzel, Abhandlungen, S. 215. 438 ]akobs, Schuld, S. 6. 439 Dazu o ben S. 66 ff. 440 Jakobs, Schuld, S. 7. 433

C. Strafe als Antwort attf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

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das deliktische Verhalten gestorten Ordnungsvertrauens" 441. Da die konsequent angewendete positive Generalpravention - auch i~soweit nicht anders ~Is die negative Generalpravention und die Spezialpravent10n - den _Schuldbegr_1H (,,Derivat der Generalpravention" 442) vom Strafzweck her bestimmt, b~m1fü sich ihr zufolge das Schuldurteil nach dem zur Erhaltung des gesellschafthchen Vertrauens in die Orientierungsleistung der Norm Notwendigen 443. Auch für die Lehre von der positiven Generalpravention ist der herkommliche S~huldbegriff deshalb allenfalls eine Hilfskategorie, die nicht u:11ihre~ selbst wille~ Anerkennung verdient, sondern lediglich als Ausdruck emes bei der Mehrhe1t der Bevolkerung ver mu teten Zurechnungsmusters Berücksichtigung bean~pruchen kann 444. Eine derartige Begründung des Schuldprinzips ware ,,anfalhg gegenüber jedem ihr widersprechenden Zweckmafügkeitsk~lk~l " 445; zude_m ~au~t Rücksichtnahme auf fremde Unvernunft von vornherem mcht als Basis fur einen Vorwurf 446. Im Rahmen eines den Güterschutzgedanken konsequent umsetzenden Praventionsmodells hat der Gedanke eines Schuldvorwurfs somit keinen Platz 447; Schuld kann hier ,,allenfalls formale Voraussetzung der Verhangung staatlicher Strafe sein, liefert aber theorieimmanent weder Begründung noch Begrenzung"448. Die am Beispiel des Schuldprinzips durchgeführte Analyse der verJakobs, Schuld, S. 31. Jakobs, Schuld, S. 32. 443 jakobs, Schuld, S. 33. . . . 444 Ebenso Roxin, AT 1, § 19 Rn. 34; van Hirsch, Ex1stenz, S. 64 f.; ders., Strafsankt1on, S. 48 f.; Mushoff, Strafe, S. 128 f.; Papageorgiou, Schaden, S. 41 ff.; de Sottsa, FS Hassemer, S. 316 f.; E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 802. 445 Puppe, FS Grünwald, S. 481. 441

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Oben S. 81. Zutreffend bereits Schaffstein, Verbrechen, S. 135 f. - Aus dem neueren Schrifttum: Duttge, Strafen, S. 12; Gonzáles-Rivero, Zurechnung, S. 72; Haas, Strafbegnff, ~- 260; Has: semer Selbstverstandnis, S. 262; ders., WestEnd 2006, 79; Lesch, Problem, S. 234, deis., Ver brech~nsbegriff, S. 170; Naucke, Wechselwirkung, S. 28 f. . . 448 Kindhausei; FS Schroeder, S. 82. - Greco erblickt den Ausweg aus d1esem_Dilemma in einer materiellen Zweiteilung der Straftheorie (zustimmend Hornle: 2. ~S R~xm: S. 10 f.; dies., Strafbegründungstheorien, S. 20 f.; Milton Peralta, ZIS 2008, 516; 1.E._ubere111st1m1:1e:1d Hoerster, Strafe, S. 78 f., 90 ff., 99 ff.). Der Zweck der Strafandrohung se1_konsequent1ahstisch, namlich unter Rückgriff auf den Abschreckungsgedanken zu bcstJm_m~n. Der Abschreckungszweck bedürfe allerdings der Begrenzung durch 111cht-~wecki1:afügk_e1tsbezogene Erwagungen. Schlechterdings verboten ~e_1es dem Staat zum emen, seme Bmger z.B. durch Todesstrafe oder Folter zu instrumentahs1eren (Greco, Lebend1ges, S. 177 ff.), und zum anderen sich durch einc Vernachlassigung des von Greco auGerordenthch stnkt verstandenen Gesetzlichkeitsprinzips für die Wahrnehmung seiner Aufgabe un:'ürdig ~u machen (aaO, S. 265 ff.). Diese beiden Gruppen deontologischer Erwagungen h111g1erenbe1 Greco aber eben nur als Schranken, als side constraints. Sic setzten dem Staat 111 semer Zweckverfolgung Grenzen seien aber nicht selbst Zweck des Unternehmens Strafverfolgung und deshalb auGersta~de, ihm einen ,,Sinn" zu verleihen (aaO, S. 249). Zur Begrün~u1:g der Berecht_1gung staatlicher Machtausübung sei deshalb die Heranziehung konsequent1ahst1scher Erwagungen un447

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

brechenstheoretischen Implikationen des Praventionsparadigmas weist somit in die gleiche Richtung wie der kriminalpolitische Befund: Das Strafrecht ist um seiner disziplinaren Identitat willen gut beraten, wenn es auf Distanz zu diesem Denkmuster geht. Es darf nicht um jeden Preis modern sein wollen. verzichtbar (aaO, S. 474). Eine vollwertige Legitimation zur Androhung und Verhangung von Strafen erwachst dem Staat demnach erst aus dem Zusammenwirken konsequentialistischer und deontologischer Begründungselemente. ,,Strafzwecke sind also Zustande, deren Fi:irderung einen guten Grund zum Strafen liefert. Deontologische Schranken der Strafe sind unbedingte ausnahmslose Regeln, an deren Respektierung jedes legitime Strafen gebunden ist." (aaO, S.252) Diese Konzeption, die ihr Vorbild in Roxins Überlegungen zum Verhaltnis von Schuld und Pravention findet (aaO, S. 247 f.), ist auf den ersten Blick nicht ohne Eleganz. Der Preis, den sie von ihren Anhangern fordert, ist allerdings ebenfalls nicht gering. Er besteht in der Preisgabe des Anspruchs auf axiologische Geschlossenheit. Greco sucht dieses Bedenken als Ausdruck eines deplazierten Schi:inheitsideals abzutun: Asthetische Erwagungen eines pyramidalen Aufbaus eigneten sich nicht als MaGstabe der Richtigkeit einer Theorie, ,,denn entsprechend aufgebaute Theorien zahlen für ihre Schi:inheit den allzu teueren Preis, alle relevanten Erwagungen auf einen gemeinsamen Nenner reduzieren zu müssen" (aaO, S. 252, in diesem Sinne auch Hornle, 2. FS Roxin, S. 12; dies., Strafbegründungstheorien, S. 29). So einfach ist es aber nicht. Die Forderung nach begründungstheoretischer Konsistenz einer Straftheorie entspringt nicht den asthetischen Luxusbedürfnissen weltflüchtiger Theoretiker, sondern dem Respekt gegenüber den von der Verhangung einer Strafe betroffenen Delinquenten. Begründungen stellen eine spezifische Form kommunikativer Selbstbindung dar: Indem jemand die Gründe nennt, die, wie er geltend macht, eine bestimmte von ihm eingenommene Position tragen, erklart er, sofern seine Rede mehr sein soll als folgenloses Geschwatz, zugleich seine Bereitschaft, die betreffende Position entweder aufzugeben oder sie doch jedenfalls auf eine neue Basis zu stellen, sofern es seinen Kontrahenten gelingen sollte, jene Gründe zu erschüttern. Das Gleiche muG für den Fall gelten, daG der Argumentierende selber in einem anderen Segment seiner Theorie der von ihm vorgetragenen Begründung das Wasser abgrabt. Wer dies tut und trotzdem, gleichsam als ware nichts geschehen, an seiner ursprünglichen Position festhalt, dispensiert sich einseitig von seinen kommunikativen Verbindlichkeiten und reklamiert dadurch für sich eine Freiheit, die mit der kommunikativen Gleichheit seines Gegenübers unvereinbar ist. Eine solche Vorgehensweise ist um so weniger akzeptabel, je griiGer die Zumutungen sind, denen der so Verfahrende andere Personen aussetzt. Wer einen der empfindlichsten Eingriffe dulden soll, die unsere Rechtsordnung kennt - die Strafe -, darf deshalb verlangen, daG ihm dafür eine Begründung gegeben wird, deren einer Teil nicht die Pramisse des anderen Teils dementiert. E ben darauf lauft Grecos Vorschlag jedoch hinaus. Wie der Autor selbst in seiner Konsequentialismus-Kritik herausarbeitet, beruhen konsequentialistische und deontologische Konzeptionen auf einander ausschlieGenden Pramissen. Die Axiologik der deontologischen Bestrafungsschranken widerstreitet derjenigen der konsequentialistischen Bestrafungszwecke und umgekehrt. Wie abcr sollen praventiv-konsequentialistische Erwagungen als ,,gute Gründe" zum Strafen fungieren ki:innen, wenn ihre zentrale Aussage - daG namlich Straftater nach ZweckmaGigkeitsgesichtspunkten zu behandeln seien - andernorts (aaO, S. 168) als potentiell zersti:irerisch für die Legitimitat staatlichen Strafens bewertet wird? Und wie sollen umgekehrt retributive Erwagungen vermittels ihrer strafbegrenzenden Wirkung legitimitatsbegründend wirken ki:innen, obwohl sie gerade wegen ihres Verzichts auf zweckrationale Erwagungen als ,,hi:ichst problematisch" (aaO, S.233) bezeichnet werden? lnnerhalb eines einheitlichen Legitimationsunternehmens kann ein Begründungsmodell nur entweder insgesamt ,,gut" oder insgesamt ,,problematisch" sein, nicht aber mitunter das eine und mitunter das andere. - Im Ergebnis wie hier Lesch, Verbrechensbegriff, S. 168; Pttppe, FS Grünwald, S. 480 f.; Zabel, Schuldtypisierung, S. 269.

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Vor diesem Hintergrund ist es weniger überraschend, als es zunachst erscheinen mag, daG die jüngere straftheoretische Diskussion die von Hassemer beschworene ,,Weisheit" der Lehren von der Tatvergeltung wiederentdeckt hat 449. Zu verzeichnen ist nichts Geringeres als eine Renaissance des Vergeltungsdenkens450. Die massiven Vorbehalte, die Armin Kaufmann 1979 zu der Feststellung veranlaGten, mit dem Wort Vergeltung werde eine Position weniger markiert als vielmehr gebrandmarkt 451, sind zwar noch nicht verschwunden452.Zahlreiche Autoren gelangen aber mittlerweile von unterschiedlichen konzeptionellen Ausgangspunkten her zu dem Ergebnis, daG retributiven Überlegungen eine zentrale Rolle innerhalb der Strafbegründung zukomme 453. Auch das Bundesverfassungsgericht rückt in seiner neueren Rechtsprechung den Vergeltungsaspekt wieder starker in den Vordergrund 454. Zwar hat das 449

Hassemer, Einführung, S. 323 f. So auch (jeweils mit kritischem Unterton) Laos, Rechtsphilosophie, S. 155; Schiinemann, FS Lüderssen, S. 327; mit positiver Konnotation Dttttge, Brücke, S. 56; Mttshoff, Strafe, S. 181; zwiespaltig Hornle, Strafbegründungstheorien, S. 16; Weigend, Kommentar, S. 39. Dies gilt keineswegs nur für den deutschsprachigcn, sondern vor allem auch für den angloamerikanischen Raum. Der Retributivismus wird dort als die führende Straftheorie bezeichnet (vgl. Kalotts, Generalpravention, S. 173). Darstellungen des Meinungsspektrums bei Kaiser, Widerspruch, S. 134 ff. und Kalous, Generalpravention, S. 173 ff. 451 Armin Kattfmann, Strafrechtsdogmatik, S. 265. 452 Ein jüngeres Beispiel fi.ir diese Vorbehalte bildet das lrnappe Urteil Liiderssens (StV 2004, 100), nach den Prinzipien des Grundgesetzes sei Pravention das oberste Ziel des Strafrechts. ,,Absolute, also nur retrospektiv angelegte Straftheorien sind von ihrer religii:ismetaphysischen Grundlage [... ] nicht zu trennen, haben also in modernen, den Menschen hier und jetzt dienenden Verfassungsstaaten nichts zu suchen." 453 Das Spektrum der Begründungen reicht über zeichen- bzw. kommunikationstheoretische Eri:irterungen (Schmitz, Legitimitat, S. 127 f., 173 ff.;Jakobs, Norm, S. 98 ff.; ders., Straftheorie, S. 31 ff.; ders., Selbstverstandnis, S. 49 ff.; ders., Zurechnung, S. 59 f.; ders., System, S. 13 ff. [dort unter der Bezeichnung ,,geltungserhaltende Generalpravention"]; Gómez-]ara Díez, Rechtstheorie 36 [2005], 330; ders., ZStW 119 [2007], 332; GonzálesRivero, Zurechnung, S. 111 ff.; Lesch, Verbrechensbegriff, S. 206; ders., ZStW 105 [1993], 273 f.; ders.,JA 1994, 598 f.; Miissig, Mord, S. 143;nahestehend Weigend, Kommentar, S. 36 ff.) bis hin zum Ri.ickgriff auf die Straftheorien Kants (Hoffe, Rechtsprinzipien, S. 215 ff.; ders., Proto-Strafrecht, S. 312 ff.; Kühl, Bedeutung, S. 30 H.;Mushoff, Strafe, S. 181 ff.; Noltenitts, HRRS 2009, 504f.; Oberer, Begri.indungsaspekte, S.413, 418; E. A. Wolff, ZStW 97 [1985], 806 ff.; ders., Abgrenzung, S. 166 ff.; Kohler, Begriff, S. 44 ff.; ders., Zusammenhang, S. 33 ff.; Kahlo, Problem, S. 272 ff.; ders., Handlungsform, S. 176 f.; ders., FS Hassemer, S. 417 ff.; Zaczyk, Staat, S. 73 ff.; ders. FS Eser, S. 217 f.; ders., Begründung, S. 216 ff.; ders., Staat 50 [2011], 300 f.) und Hegels (Herzog, Pravention, S. 63 ff.; Kersting, Macht, S. 247 ff.; Klesczewski, Rolle, S. 369 ff.; Sinn, Straffreistellung, S. 280 ff.; ders., Funktion, S. 127 ff.; Stiibinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 288 ff.; Schi:ld,SchwZStrR 99 [1982], 364 ff.; ders., Notwendigkeit, S. 102 ff.; ders., FS Lenckner, S. 297 ff.) sowie auf allgemeine gerechtigkeitstheoretische Überlegungen (Lampe, Strafphilosophie, S. 47, 55, 62, 167;Rhonheime1; Perspektive, S. 308 f.; Duttge, Strafen, S.11 f.; Kiihl, FS Maiwald, S.437ff., 444;].-C. Wolf,JRE 11 [2003], S.199ff.; für schwere Straftaten auch Nattcke, Wechselwirkung, S. 16, 36 f.) und rechtsstaatliche Erwagungen (Frisch, GA 2009, 391). 45 4 Insgesamt spielt die Strafzweckfrage innerhalb der Judikatur des Bundesverfas450

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C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

Gericht dem Strafzweck der Vergeltung niemals die Bcrechtigung abgesprochen455. In seinem Urteil von 1977 über die Verfassungsmafügkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mord hat es aber eindeutig die praventiven Strafzwecke in den Mittelpunkt seiner Erorterungen gestellt 456. Deutlich anders ist die Akzentsetzung dagegen in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit der Mauerschützen 457und zur Sicherungsverwahrung: ,,Strafe" - so heifü es in der letztgenannten, 2004 ergangenen Entscheidung - ,,gilt als Ausdruck vergeltender Gerechtigkeit und ist damit Reaktion auf ein normwidriges Verhalten." 458Die Strafe sei ,,eine repressive Übelzufügung als Reaktion auf schuldhaftes Verhalten, die dem Schuldausgleich dient" 459. Kurzum: Vergeltung wird wieder als ernstzunehmender, ja womoglich tragender Strafzweck anerkannt.

Wenn Hegel und Stahl sich trotzdem zum Retributionsgedanken bekennen, setzen sie offenbar voraus, daB es eine Version der Vergeltungstheorie gibt, die sich nicht in der Aneinanderreihung zwcier Übel erschopf t465. Die Gerechtigkeit, so faBt Stahl diese Überlegung zusammen, bestehe ,,nicht darin, daB U ebel in die Welt komme, sondern darin, daB die Herrschaft der sittlichen Macht im sittlichen Rciche unverbrüchlich erhalten werde" 466. Handele der Mensch gegen das Gesetz, so nehme er sich eine Herrschaftsmacht (,,Herrlichkeit") heraus, die der sittlichen Macht, der er gehorchen solle, widerspreche. Indem die vom Delinquenten usurpierte Handlungsmacht sich an der ,,hohere[n] Herrlichkeit der sittlichen Macht" 467breche, wcrde auf reale Weise bekundet, daB die sittliche Ordnung der Herr sei. ,,So muB das Bose selbst, indem es zu Boden gedrückt wird, zur Verherrlichung der sittlichen Macht dienen." 468 Entkleidet man diese Konzeption ihres Pathos, so wird auf ihrem Grund der Gedanke sichtbar, daB jemand, der den von ihm geschuldeten Beitrag zu einem gemeinsamen Unternehmen nicht freiwillig erbringt, dazu zwangsweise angehalten werden kann. Indem die Rechtsgemeinschaft den Straftater für die Verletzung seiner Verpflichtung, sich an der Aufrechterhaltung eines Zustandes der Rechtlichkeit zu beteiligen, bestraft, bekraftigt sie ihren Willen, dem Grundsatz von der Gleichheit aller Rechtsunterworfenen auch weiterhin zu realer Wirksamkeit zu verhelfen. Weit davon entfernt, sich in dem ,,Atavismus" 469einer negativen Sequenz zwcier Übel zu erschopfen, erweist sich die vergeltende Strafe in dieser Lesart als ein positiv-normbestatigender Akt 470.

Dennoch überrascht es nicht, daB Vergeltungslehren über geraume Zeit auf dem Markt der Meinungen einen schweren Stand gchabt haben. Sie sind von ernstem und rauhem Aussehen; ihnen geht die funktionale Glatte ab, mit der die Praventionslehren für sich einzunehmen wissen 460. ,,Die Strafe kann keinen bloB zukünftigen Zweck haben (daB künftig keine Verbrechen geschehen), und kein bloB faktisches mechanisches Mittel seyn; sondern die vollbrachte That selbst und schlechthin fordert aus ethischem Grunde die Strafe." 461Die Bedeutung der Strafe kann deshalb ,,keine andere seyn [... ], als die, daB sie die nothwendige Folge des Verbrechens ist nach der Gerechtigkeit." 462Stahl, der sich so nachdrücklich zur Vergeltungstheorie bekennt, weiB freilich sehr wohl um die zentrale Schwierigkeit dieses Modells der Strafbegründung; ,,wie kann eine Wiederherstellung der verletzten Ordnung darin liegen, daB dem Verletzer ein Uebel zugefügt wird, was die Strafe unlaugbar ist? Dadurch, daB ein zweites Uebel in die Welt kommt, ist nicht der Widerspruch, den das erste enthalt, aufgehoben." 463Stahl greift hier auf cine Erwagung zurück, der einige Jahrzehnte zuvor Hegel beredten Ausdruck verliehen hat: Es sei unvernünftig, ein Übel bloB deshalb zu wollen, weil schon ein anderes Übel vorhanden sei464. sungsgerichts allerdings nur eine sehr beschrankte Rolle; dazu Appel, Verfassung, S. 73 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 310 ff.; Roxin, Ai:iR 59 (2011), 10 ff. 455 Vgl. BVerfGE 21, 391, 403 f.; 22, 125, 132; 27, 36, 42; 28, 264, 278; 45, 187, 253 ff.; 64, 261,271;95,96, 140; 109,133,168. 456 Vgl. BVerfGE 45, 187,253 ff. 457 BVerfGE 99, 96, 140 f. 458 BVerfGE 109, 133, 168. 459BVerfGE 109, 133, 173 ff. 460Naucke, Wechselwirkung, S. 36. 461 Stahl, Philosophie, Bd. II/1, S. 167. 462 Stahl, Philosophie, Bd. II/2, S. 683. 463Stahl, Philosophie, Bd. II/1, S. 165 f. 464 Hegel, Grundlinien, § 99 A, Werke Bd. 7, S. 187. Sarhan bestreitet die Abwertung der Vergeltungsbedürfnisse des Opfers als ,,irrational" mit dem Hinweis darauf, daG ,,sie

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doch einem natürlichen menschlichen Empfinden infolge einer personalen Verletzung entsprechcn" (Sarhan, Wicdergutmachung, S. 213). Selbst wenn dem so sein sollte, lieGe sich auf diesem Weg allenfalls ein Sanktionensystem legitimieren, das paGgenau auf die Befriedigung jener Vergeltungs- (oder weniger verfanglich: der Genugtuungs-)Bedürfnisse zugeschnitten ist. Sarhan geht tatsachlich einige Schritte in diese Richtung. So pladiert er dafür, von Strafe abzusehen, wenn und soweit sie mit den Interessen des Opfers im Widerstreit stehen würde (aaO, S. 225). Darüber hinaus fordert er, daG die Geldstrafe dem Opfer zu einem gewissen Anteil als Genugtuungsentschadigung unmittelbar zugute kommen solle (aaü, S.263). Damit würde freilich die Grenze zwischen Straf- und Zivilrecht erheblich ins Schwimmen geraten, was konsequenterweise auch auf die Ausgestaltung des Strafverfahrens durchschlagen müfüe: hin zu einem adversatorischen Verfahren mit voller Parteirolle des Opfers. Den Freiheitsrechten des Beschuldigten tate man damit aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Gefallen (naher unten S. 91 Fn. 479). 465 Eine cindringliche Darstellung von Hegels Straftheorie gibt Ramb, Strafbcgründung, S. 16 ff. 466 Stahl, Philosophie, Bd. II/1, S. 166. 467 Stahl, Philosophie, Bd. II/1, S. 166. 468 Stahl, Philosophie, Bd. II/1, S. 167. 469 So dcr Vorwurf von Seebafi (JRE 2 [1994], 402) gegenüber den Vergeltungslehren. 470 Diese Auffassung steht der im 19.Jahrhundert zeitweise recht popularcn (naher Sarhan, Wiedcrgutmachung, S. 162 ff.; Miiller-Dietz, GA 1983, 481 ff.), in den erstenJahrzehnten des 20. Jahrhunderts nur vereinzelt vertretenen (Frank, FG Heck/Rümelin, S. 47 ff.; v. Gemmingen, Rechtswidrigkeit, S. 37 ff.), aber seit ciniger Zeit wiederentdedcten Ansicht n~he, die in der Strafe eine Art von Schadenersatz sieht, welcher den vom Delmquenten herbe1ge-

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspf/icht

Die folgenden Ausführungen beginnen mit einer naheren Erlauterung dieser Konzeption (II.). Danach gehen sie auf die Konsequenzen der hiesigen Auffassung für die Strafverhangung ein (III.). Sodann behandeln sie die Unterscheidung zwischen Bürgern und Externen nebst ihren Konsequenzen für den Geltungsumfang einer Strafrechtsordnung (IV.). Daraufhin erortert der Text das Verhaltnis der hiesigen Konzeption zum herkommlichen Verstandnis des Verbrechens als einer Rechtsgutverletzung (V.). Die Forme! vom Verbrechen als einer Mitwirkungspflichtverletzung ist freilich noch bei weitem zu allgemein, um daraus konkrete dogmatische SchluGfolgerungen herzuleiten. Wie jeder komplexe Begriff, so muG auch die hiesige Begriffsbestimmung verbrecherischen Unrechts gleichsam kleingearbeitet, also auf die Ebene ihrer einzelnen Teilmomente heruntergebrochen werden. Damit dabei der bislang erzielte Gewinn an systematischer Geschlossenheit nicht sogleich wieder aufs Spiel gesetzt wird, bedarf di~~er Vorgang der methodologischen Reflexion. Ihr gelten die abschlieGenden Uberlegungen (VI.).

die spezifische Rationalitat des neuzeitlichen Straf- und Strafverfahrensrechts 478 und scharfte den Blick für die Schutzbedürfnisse des Beschuldigten 479 • Die Deutung des Verbrechens als Verletzung einer Mitwirkungspflicht gegenüber der Rechtsgemeinschaft beinhaltet allerdings keineswegs die Behauptung, daG die Belange, um derentwillen dem Tater jene Pflicht auferlegt wird, ibrerseits ebenfalls durchgangig solche der Allgemeinheit seien. Die Frage nach dem Legitimationsgrund der Mitwirkungspflicht ist von derjenigen nach der pflichtentheoretischen Struktur des Verbrechensbegriffs unabhangig; die Konstruktion des Verbrechensbegriffs prajudiziert nicht die legitimationstheoretische Problematik 480 .

II. Legitimationsgrund der Mitwirkungspflicht: Aufrechterhaltung eines Zustandes der Freiheitlichkeit Das hiesige Verstandnis von Verbrechen und Strafe ,,entprivatisiert" den Konflikt zwischen dem Tater und dem Verletzten 471 . Stel!t ein Verbrechen die Verletzung einer Mitwirkungspflicht des Taters gegenüber der Rechtsgemeinschaft dar, so kann die auf dieses Verbrechen antwortende Strafe nicht ein Opfer sein, das der Tater ,,dem Verletzten bringt" 472 • Straftat und Strafe dürfen sich nicht innerhalb unterschiedlicher Rechtsverhaltnisse vollziehen 473 . Diese Hintanstellung der spezifischen Opferinteressen ist das Ergebnis einer mehrere Jahrhunderte wahrenden Entwicklung 474 . Als ,,Entmachtung der emotionalen Gewalt des verletzten Gemüts" 475 ermoglichte die ,,Neutralisierung 476 des Opfers" zugunsten der ,,wagende[n] Vernunft des Ganzen" 477 allererst führten (zumeist allerdings unangemessen psychologisierend verstandenen) ,,intellektuellen Verbrcchensschaden" (Welcker, Gründe, S. 249 ff.) bzw. ,,Normgeltungsschaden" auszugleichen habe (D1tttge, Brücke, S. 56;Jakobs, System, S. 15; ders., Nonn, S. 114; ders., Strafe, S 32; ders., Rechtszwang, S. 34; Kindhduser, Gefahrdung, S. 156 f.; ders., Logik, S. 85 f.; ders., Strafe, S.,32ff.; ders., FS Schroeder, S. 84; Lesch, Problem, S. 248 f.; Mañalich, Notigung, S. 28; Feijoo Sanchez, FS Jakobs, S. 85 ff., 92 ff.; Otto, ZStW 87 [1975], 562, 587; Pawlik Strafanspruch, S. 81 f.; Weigend, Kommentar, S. 36). 471 Appel, Verfassung, S. 448, 461. 472 So aber Lampe, Recht, S. 311. 473 Ebenso Haas, Kausalitat, S. 80; Kleinert, Betroffenheit, S. 215 f.; Renzikowski, GA 2007, 564. 474

475 476 477

Naher dazu Weigend, Deliktsopfer, S. 79 ff.· Welke Repersonalisierung ' ' Welke, Repersonalisierung, S. 259. Albrecht, Kriminologie, § 45 A (S. 361), B (S. 362). Binding, Entstehung, S. 29.

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S. 256 ff

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Weigend, Deliktsopfer, S. 215 ff. Kleinert, Betroffenheit, S. 184 f.; Welke, Repersonalisierung, S. 259 f., 284. - Im Gefolgc eincs gcsellschaftlichen Groíhrends, der die Identifizierun? als ,,Opfer" zum ':ichtigsten Ansatzpunkt für das Erreichen von Aufmerksamkeit,_ sozialer und auch mateneller Zuwendung hat werden lassen (zu den Hintergründen Safferling: ZStW 122 [2010], 88; W~igend, RW 2010, 40), droht die rechtskulturelle Errungenschaft, die _111 dieser ,,Entdramatisierungstendenz" (Seelmann, JZ 1989, 671) liegt, zunehmend aufgeweicht zu werden. Zwar verdient die vielbeschworcne ,,Repersonalisierung des strafrechtlichen Denkens" (von ihr spricht etwajung, ZRP 2000, 159) insoweit Zustimmung, wie sic das BewuGts_ein dafor gesch:irft hat daG cine Straftat statt schlicht als Rechtsgutverlctzung als Interakt10n zwischen (m111des~ens) zwei Personen begriffen werden muG (naher dazu unten S. 137 ff.)- i:nit_w~itrei':henden Folgen für die strafrechtliche Zurechnungslehre. D_erZustand der Freihe:thchken, zu dessen Wahrung das Strafrecht berufen ist, ist namlich rncht ohne e111d1fferen~iertes Syste'.n der Verantwortungsvcrteilung denkbar (unten S. 138 ff., 144 f.). Problematisch 1st dagegen die mittlerweile erreichte und noch immer wachsendc Starke der Position des Opfers im Strafverfahrensrecht und im Sanktionenrecht (kritisch auch Blirchard, Irren, S. 224 f.; Kleinert, aaO, S. 268 f., 350 ff.; Bung, StV 2009, 430 ff.; Liiderssen, FS Hirsch, S. 887 f.; Naucke, KritV '.993, 141 f.; Neumann, Stellung S. 241 ff.; Noltenius, GA 2007, 522 ff.; Safferlzng, aaO, 100; pnnzipicll befürwortend dagegcn Sarhan, Wiedergutmachung, S. 224 ff.; Baumann, FS ?tree/Wessels, S. 42 ff.; Hornle, ZStW 112 [2000], 362; dies.,JZ 2006, 952 ff.; dies., Straftheonen, S. 39 f.; dies., Strafbegründungstheorien, S. 28 H.;dies., 2. FS Roxin, S. 16; Kilching, NStZ 2002, 58 ff.; Reemtsma, Recht, S. 26; Walther, GA 2007, 615 ff.; vermittelnd Weigend, aaO, 50 ff.). Zwar stcht auGer Frage, daG es die staatliche Fürsorgcpflicht für das Opfer gcbietct, dessen gesdlschaftlicher Marginalisierung entgegcnzuwirken und ihm bci Bedarf Schutz und sonsti~e (materielle wie immaterielle) Hilfe zuteil werdcn zu lasscn (treffend Safferlzng, aaO, 89). Die Zuweisung eincr (Quasi-)Parteistellung für das Opfer geht jcdoch w~it darüber hinaus. __ Die darin liegendc ,,Teilprivatisierung des Strafrechts" (]ung, aaO, _162,) leistet dem MiG".erstandnis Vorschub daG es im Strafrecht und Strafverfahrensrecht pnmar um die Aufarbe1tung des Tater-Opfer:Konflikts und nicht wie es tatsachlich der Fall ist - um eine Auseinandersetzung zwischen der Rechtsgemeinschaft und dem Tatverdachtigen gehe. . . 48D Im wesentlichen wie hier Kleinert, Betroffenheit, S. 207 ff.; Renzzkoswskz, GA 2007, 568. - Diese Unterscheidung wird nicht selten verkannt. So blendet nach Hornle die von ihr sogenannte ,,normorienticrte cxpressive Straftheori~", zu der sie die hier vertreten_e Konzeption rechnet, den Umstand aus, ,,dass Straftatcn mcht nur abstrakt als Rechtsm1ssachtung zu qualifizieren sind, sondern dahinter eine Kollision_mit Opferrechtcn oder Interessen der Allgemeinhcit steht" (Hornle, Strafbegründungstheonen, S. 24; zust1m~1end Wezgend, ~(ommentar, S. 35 f.; nahestehend Eser, FS Mestmacker, S. 1023; Laos, FS Ma1wald, S. 479; Luderssen, Nutzen, S. 51). In die gleiche Richtung weist die Kritik Sarhans. ,,Warum", so fragt dieser (Sarhan, Wiedergutmachung, S. 194), ,,fordert cin als vernünftig und souveran gedachtes Ali478 4

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C. Strafe als Antwort auf die Vcrletzung einer Mitwirkungspflicht

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Legitimationsfragen bilden, wie gesehen, die Domane der praktischen, und zwar, weil es um die Legitimation von Zwangsakten geht, der politischen Philosophie481.Spinoza hat deren neuzcit!iche Leitidee in die lakonische Forme! gekleidet, der Zweck des Staates sei ,,in Wahrheit die Freiheit" 482.Rousseau, Kant und dessen Nachfolger haben diesen Gedanken sodann naher entfaltet 483. Das Diktum Berners über die Rechtsphilosophic, es sei die ,,grandiose Architektonik dcr Freiheit, nach welcher diese [...] Wissenschaft erbaut wird" 484, ist auch heute noch unverandert gültig: Nach wie vor ist die Freiheitsidee der unhintergehbare Fixpunkt aller philosophisch satisfaktionsfahigen Auseinandersctzungen mit praktischen Fragen. Deshalb wird der im alteren deutschen Rechtsdenken wurzelnden Tradition, der zufolge das Strafrecht ausschliefüich im Dienst der politischen Gemeinschaft steht (1.),vorliegend cinc freiheitstheoretisch abgestützte Auffassung entgegengesetzt. Tragender Grund der strafrechtlichen Mitwirkungspflicht ist danach der Umstand, da{; nur auf diese Weise ein Zustand der Freiheit!ichkeit aufrechterhalten werden kann. Die Verknüpfung des Mitwirkungspflichtgedankens mit dem Gedanken der Wahrung bürgerlicher Freiheit485rechtfertigt den Geltungsanspruch des Strafrechts und begrenzt ihn zugleich (2.). Ihr dogmengeschichtliches Vorbild findct die hiesige Auffassung in der Verbrechenslehre Halschners. Am Leitfaden von dessen Ausführungen werden anhand einigcr markanter Beispiele die tiefgreifenden dogmatischen Unterschiede zwischen einem kollektivistischen und einem freiheitstheoretisch reflektierten Begründungsmodell verdeut!icht (3.).

1. Strafrecht im Dienst der politischen Gemeinschaft? In seinen Grundsatzen der Gesetzgebung über Verbrechen und Strafen von 1785 unterschied der Tübinger Rechtslehrer Christian Gottlieb Gmelin zwischen zwei Gruppen von Verbrechen: solchen, die den Staat unmittelbar beleidigten, indem seine Grundverfassung angegriffen, etwas zu seinem Verderben untergemeines [... ] die Zufügung von Leid allein deshalb, weil es angegriffen wird, wenn es unzweifelhaft andere ernsthafte Formen der Anerkennung des Allgemeinen gibt?" Hange, so Sarhan weitcr (a.aO, S. 202), ,,die aus dem Allgemeinen abgeleitete Gerechtigkeitsvorstellung, dem Tater ein Ubel zufügen zu müssen, nicht vielmehr gerade auch davon ab, dass im Diesseits einer Person tatsachlich ein Leid zugefügt wird, und daraus ein Bedürfnis nach Gcnugtuung cntspringt?" Diese Einwande verfehlen jedoch ihr Ziel. Zwar ist es selbstverstandlich richtig, daG die Strafrechtsordnung kein Gefüerhut ist, den zu grüGen den Bürger allein um der Autoritat der hohen Obrigkeit willen abverlangt wird. Damit ist jedoch nur bewiesen, daG Verbrechen und Strafe einer freiheitstheoretisch akzeptablen Legitimation bedürfen, nicht iedoch, daG sie begrifflich als primar interpersonale Geschehnisse gefafü werden müfüen. 481 O ben S. 26 ff. 482 Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, S. 301. 483Vgl. nur Hegel, Geschichte der Philosophie III, Werke Bd. 20, S. 308,331,365,413. 484 Berner, Grundlinien, S. 4. 485 Sie wird zu Recht eingefordert von Poscher, Kathedrale, S. 110.

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nommcn oder ihm die zu scinen Ausgaben bestimmten Güter entzogen würden; und solchcn, die den Staat mittelbar durch Storung der Wohlfahrt und Sicherhcit seiner Bürger beleidigten 486.Wenn etwa einem Staatsbürger das Leben gcnommen oder er an seinem Leib verletzt werde, so belcidige dies auf zweierlei Weise den Staat: ,,einmal weil dem Staat ein Mitglied entzogen, oder unbrauchbar gemacht wird; und zum andern, weil kein Bürger mehr seines Lcibs und Le487 bens sichcr ist, folglich die Sicherheit des Staats sehr verletzt wird." Es war das staatsfixiert-instrumentalistische Denken der deutschen Spataufklarung, welches sich hier auf;ertc. Deren philosophischcr Kronzeuge war Christian Wolff: Weil jede Gesellschaft, auch das politische Gemeinwesen, der ,,Beforderung des gemeinen Besten" dienc 488, seien die einzelncn Gesellschaftsmitglieder ,,nicht anders anzusehcn als cine Person und haben demnach cin gemeinschaftliches Interesse" 489.Konsequenterweise bcgriffen Wolff und Gmelin die Bürger nicht, wie es die im gleichen Jahr wie Gmelins Buch crschienene Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kants fordert, als ,,Zwccke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht blof; als Mittel gcbraucht werden darf" 490, sondern sic schützten diese 491 lediglich in ihrer Rolle als Glieder des Staatsganzen . Feuerbachs Straftheorie setzte demgegenüber kantianisch-liberal an. Auf die Frage nach dem ,,allgemeine[n] Rechtsgrund, aus welchcm der Staat seine Glieder zwingcn kann", antwortete Feuerbach, der Staat sei ,,cine Gesellschaft zum Schutz der Rechte, und allc Rechte, die er besitzt, hat er nur um dieses Zwccks willen" 492.Er habe deshalb ,,zu keiner einzigen Handlung ein Recht, als welche sich auf diesen Zwcck bezieht, durch welche die Sicherheit der Rcchte moglich oder befordert wird" 493.Di eser Ausgangspunkt lieB cine der Konzcption Gmelins entgegcngesetzte, strikt individualistische Verbrechenslehre erwarten: Verbrechen als Verletzung cines subjektiven Rechts des Betroffenen bzw. (nach der berühmten Formulierung aus Feuerbachs Lehrbuch) als ,,cine durch ein Straf494 gesetz bedrohte, dem Rechte cines Anderen widersprechende Handlung" . Bemerkenswerterweise hiclt Feuerbach diesen Ansatz jedoch nicht durch. Er wuf;te namlich schr gut um den kategorialen U nterschied zwischen Schadener486 Gmelin, Grundsatze, § 12 (S. 22). 487 Gmelin, Grundsatze, § 66 (S. 135). 488 Ch. Wolff, Gedanken, §§ 3 (S. 68), 213 (S. 172). 489 Ch. Wolff, Gedanken, §§ 6 (S. 69), 220 (S.174). 49 Kant, GMS, BA 66, Werke Bd. 6, S. 60. . . 491 Ein weiteres von zahlreichen zeitgeniissischen Beispielen für diese Haltung bildet die als fonschrittlich gerühmte Schrift des Grafen Soden von 1792 über den ,,Geist der peinlichen Gesetzgebung": Der Zwcck der Gesetze bestehe in der ~rbltung des Wohls der GcseHschaft (Soden, Geist, S. 16); der allgemeinc MaGstab zur Klass1fiz1crung aller Verbrechen se1 daher der ,,Nachtheil der einzelnen Handlung für das Wohl des Staats" (aaO, S. 10). 492 Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 31. 493Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 31. 494 Feuerbach, Lehrbuch, § 21 (S. 45).

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

satz, durch den ,,der Beleidigte ein Aequivalent für das, was ihm durch die Beleidigung entzogen worden ist, erhalten solle" 495, und Strafe, durch die bewirkt werden solle, ,,daB keine Beleidigung existiere" 496. Deshalb suchte er den Allgemeinheitsbezug von Strafe und Verbrechen zu retten, und zwar so rigoros, daB er im zweiten Band seiner Revision buchstablich das Kind mit dem Bade ausschüttete. Wenn der Staat straft, so tut er dies den dortigen Ausführungen Feuerbachs z~folge nicht um der beeintrachtigten Rechtsposition des betroff enen Bürgers w11len, sondern zur Erhaltung seiner eigenen Existenzbedingungen 497. Dies führte Feuerbach zu einer staatsutilitaristischen Deutung der privaten Rechte der Bürger, die sich besser in das Denken des deutschen Absolutismus als in das einer kantisch inspirierten Aufklarung einfügt 498. Weshalb ist etwa die Verletzung von fremdem Eigentum strafbar? Feuerbachs Antwort lautet daG durch die Verletzung dieser Rechte [... ]den Bürgern die Hülfsmittel zu dem G:brauche ihrer Krafte für de~ Zweck des Staats entzogen" würden, was zur Folge habe, daG ,,dem Staate die Moglichkeit der Erzielung seiner Zwecke gefahrdet" 499 ':.erde . Nichts anderes gilt für das Recht auf korperliche Integritat 500,ja selbst fur das Recht _auf Leben: ,,Denn eine Verletzung dieses Rechts als allgemeine Handlungswe1se der Bürger gedacht, würde geradezu den Staat aufheben. Denn ein Staat kann ohne Glieder des Staats nicht gedacht werden." 5º1 Selbst der Su_izidist in dies~r Perspektive eine rechtlich miBbilligenswerte Handlung: ,,Wer m den Staat emtritt, verpflichtet dem Staat seine Krafte und handelt rechtswidrig, wenn er ihm diese durch Selbstmord eigenmachtig raubt."502 Der ursprün~lich als_Mittel zur Sicherung der Rechte seiner Bürger legitimierte Staat genet so be1 Feuerbach nicht anders als bei Gmelin zum Selbstzweck, und der S~hut~ der Bürger schlug um in deren Indienststellung zugunsten der Allgememhe1t. Mit der Zurückdrangung des frühliberal-individualistischen Denkens büBte Feuerbachs kantischer Ansatz an Zustimmung ein; die vorliberale Tradition einer Ausrichtung des Strafrechts an kollektiven Belange behauptete das Feld. So befand etwa Stahl, die Verbrechen, welche gegen andere Menschen verübt würden, seien nicht deswegen und dadurch Verbrechen, daB sie das Recht dieser Menschen, sondern dadurch, daB sie in ihm die Rechtsordnung verletzten 503. Objekt des Verbrechens - so erganzte Trummer - sei ausschliefüich ,,die verletzte, oder 495 496 497 498 499 50

Fe11erbach,Revision, Bd. I, S. 68. Feuerbach, Revision, Bd. I, S. 68. Vgl. Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 216. Treffend Kubiciel, JA 2011, 88. Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 238. Feuerbach, Revision, Bd. II, S. 237. Frnerbach, Revision, Bd. II, S. 236. Feuerbach, Lehrbuch, § 241 (S. 404). Stahl, Philosophie, Bd. II/2, S. 693.

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C. Strafe als Antwort auf die Verletwng einer Mitwirle11ngspflicht

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bedrohte, gefahrdete Existenz des Staats, die Gemeingefahrlichkeit" 504. Die individualistische Gegenauffassung sei nicht nur ,,so verfehlt, daB sie unmoglich zu irgendeiner lehrreichen oder gar richtigen Definition führen" konne, sondern sie sei auch rechtspolitisch gefahrlich, weil sie ungeeignet sei, ,,die schwachen Lebenspulse der Staats [... ] wieder anzuregen und den erstorbenen Gemeingeis~ [... ] neu zu beleben" 5º 5. Einer biologistischen Metaphorik bediente sich auch Hemze: ,,Der Staat straft, um seinen eigenen Interessen, Lebens- und Entwicklungsbedingungen, den Gesetzen seines eigenen Organismus Genüge zu tun." 506Bindings Leistung bestand darin, diese obrigkeitsstaatliche Position in die bis heu:e vertraute Rechtsgutterminologie zu übersetzen. Das Recht, so betonte er, sehe m seiner Eigenschaft als Ordnung des Gemeinlebens Personen, Sachen und Gegenstande nur als Teile des Rechtsgemeinschaftslebens, und alles, dem der Gesetzgeber Rechtswert zuschreibe, habe solchen nur für das Ganze 507. Nichts sei falscher als hier eine individualistische Betrachtungsart anwenden und etwa Güter des einzelnen von denen der Gesellschaft und des Staates scharf trennen zu wollen5º8. ,,Das Rechtsgut ist stets Rechtsgut der Gesamtheit, mag es scheinbar auch noch so individuell sein. Im Gesamt-,lnteresse' wird das Gefühl der Einzelnen, deren Leben, deren Ehre geschützt." 509 Die Auffassung Bindings traf auf breite Zustimmung. Auch zahlreiche andere Autoren betonten, daG jeder einzelne mit seinem Tun der Allgemeinheit gehore510und daB Subjekt des durch eine strafbare Handlung verletzten Interesses letztlich stets der Staat bzw. die Gemeinschaft sei 511.Zwar wurde die These, daB 504 Trummer, Criminalistische Beytriige Bd. III/2, 145. - In der Sache ebenso Gerstdker, NACrim 7 (1825), 379. 505 Trnmmer, Criminalistische Beytrage, Bd. III/2, 135 f. 506 Heinze, GS 13 (1861), 437. 507 Binding, Normen, Bd. I, S. 358. 508 Binding, Normen, Bd. I, S. 341. 509 Binding, Normen, Bd. I, S. 358. 510 Finger, Lehrbuch, S. 411 Fn. 535. 511 Dohna, Rechtswidrigkeit, S. 146 ff.; Finger, GS 40 (1888), 148; F_rank,Strafgesetzbuch, S. 6; ders., Vollendung, S. 171; Hegler, Prinzipien, S. 38; Honzg: E111w11hgung,S. 93; Oetker, ZStW 17 (1897), 508,565; Wachenfeld, Lehrbuch, S. 70. -Auch un neueren Sch:1fttum fin_den sich bisweilen noch ahnliche Wendungen. So sind Arthur Kaufmann zufolge d.1eRe~htsguter nur solche der Gemeinschaft; es sind soziale Güter, und deren Summe erg1bt die soz1ale Ord~ung" (Arthur Kaufmann, UnrechtsbewuÍ\tsein, S. 124). Nach ~ch1:1idhausers Auffassung zeigt die Gesellschaft durch die Anerkennung von Rechtsgütern 1hr e1genes.lnteresse an ~em Bestand der als Rechtsgut bezeichneten wertvollen Sachverhalte; ,,und s.o g1bt es Rechtsguter nur als solche der Gesamtheit" (Schmidhduser, AT, 2/33). Auch Langer s1eht durch eme Straftat ,,stets die Rechtsgemeinschaft in den von ihr für besonders wertvoll erachteten Gütern" verletzt (Langer, Sonderstraftat, S. 39, sachlich übereinst1mmend. aaO, S. 54). Das Rechtsgut versteht Langer dementsprechend als ,,eine[n] für die Rechtsgememschaft besonders wert~olle[n] Zustand" (aaO, S. 40). Weigend (ZStW 98 [1986], 57) betont ebenfalls,_,,daB Rechtsguter als notwendige soziale Funktionseinheiten grundsatzlich 111chtdem .Indw1duum, sondern der Gemeinschaft [... ] zustehen". Allerdings nimmt er diesem kollekt1v1st1schen Ausgangspunkt dadurch die Spitze, daB er zu den strafrechtlich schutzwürd1gen ,,unabdmgbare[n]

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Totungen und Korperverletzungen primar deshalb strafbar seien, weil sie eine ,,Verminderung des brauchbaren Bürgerthums" nach sich ziehen konnten, nur . 1t vertreten s12 . D.1eD.1s1rnss10n . um den rechtfertigenden Notstand noc h veremze illustrierte jedoch auf das Anschaulichste, mit welcher Selbstverstandlichkeit der einzelne als Funktionar der Gesamtheit behande!t wurde 513 : Es entspreche den staatlichen Interessen, wenn jemand ein wertvolleres Gut auf Kosten eines weniger wertvollen rette - so wurde die Rechtmafügkeit eines solchen Verhaltens 514 begründet • Von einem Sinn für das Eigenrecht personaler Freiheit ist bei dieser kollektivistisch-konsequentialistischen Verwendung des Rechtsgutbegriffs nichts zu spüren. Der Übergang vom monarchischen Obrigkeitsstaat zur Demokratie anderte an dieser Betrachtungsweise kaum etwas. Finger suchte aus dem Wandel der politischen Verhaltnisse sogar ein zusatzliches Argument für sie zu schmieden: ,,Die Klasse, die abseits stand, bildet heute den einflufaeichsten Faktor bei der Staatswillensbildung, und es ist Zeit, den HaG gegen den Staat und seine Autoritat aufzugeben, ja es ist ein Gebot politischer Klugheit, die Autoritat dieses neuen Staates anzuerkennen und zu starken. Eingliederung in den staatlichen Organismus, Staatserhaltung und Staatsbejahung müfüe heute oberstes Ziel aller Politiker sein. Notwendig ist es aber auch, sich von individualistischer Einstellung loszulosen, zu erkennen, daG der einzelne nur Wert hat als Glied eines Ganzen, dem er sich vollig einordnet." 515 Im Nationalsozialismus erreichte diese Enteignung des einzelnen zugunsten des Kollektivs ihren Hohepunkt 516 -nur daG dieses Kollektiv jetzt nicht mehr, wie es dem herkommlichen konservativen Denken entsprach, mit dem Staat gleich517 gesetzt wurde , sondern mit der weitaus diffuseren Volksgemeinschaft, die seit der Machtergreifung ,,unmittelbares Erlebnis und konkrete Wirklichkeit" 518 geVoraussetzung[en]_ de_sZus_ammenlebens in Freiheit" die individuelle Dispositionsfreiheit zah!t (aaO, 59). D1es 1st keme sonderl1ch klare Konzeption. Beruht sie womoglich auf der Verm~ngung der Frage nach der Struktur des Verbrechensbegriffs mit derjenigen nach dem Leg1t1mat1onsgrund der strafbewehrten Verhaltenspflichten? 512 So etwa von Breithaupt, Volenti, S. 42 (dort das Zitat), 55. 513 Naher Kiihnbach, Solidaritatspflichten, S. 38 ff.; Pawlik, Notstand, S. 34 ff. 514 Exemplarisch Stammler, Darstellung, S. 75 f.; Binding, Handbuch, S. 760; v. Tuhr, Nothstand, S. 79; Rudolf Merkel, Kollision, S. 41 f. 515 Finger, GS 95 (1927), 114. 516 Einzelheiten bei Cheng, Ausnahme, S. 61 ff.; Fiolka, Rechtsgut, S. 520 ff.; Hartl, Willensstrafrecht, S. 47 ff.; Marx en, Kampf, S. 60 H., 183 f.; Vogel, Einflüsse, S. 73 f.; Winge, Grenzen, S. 190 ff. 517

In diesem Sinne beispielsweise noch Erik Wolf in seiner 1933 veroffentlichten Schrift über ,)Crisis und N eubau der Strafrechtsreform": Der Staat als ,,realer Willensverband der Nation" und ,,organisches Ganzes geistigen Lebens" salle zur ,,sinngebenden Grundidee des gesamten Rechtsgütersystems" werden, weshalb jeder Angriff auf die Rechtsordnung als Angnff auf das Ganze gelten müsse (Erik Wolf, Krisis, S. 33). 518 Dahm, FS Gleispach, S. 21.

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

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worden sei. Nicht als Inhaber subjektiver Rechte, sondern als ,,Glied des Ganzen" müsse der einzelne betrachtet werden, proklamierte Freisler im Jahre 1934. ,,Seine Belange sind nur soweit berechtigt, als sie, mindestens mittelbar, Belange des Volksganzen sind." 519 Deshalb gebe es im Grunde nur ein strafrechtliches Schutzgut: ,,Das Leben des Volkes." 520 Der Schutz aller anderen ,,sogenannte[n] Rechtsgüter" erfolge nur deshalb, ,,weil diese Rechtsgüter Erscheinungsformen des einzigen schutzwürdigen Gutes, des Volkslebens, sind" 521 • Die kollektivistische Auffassung Freislers fand im Schrifttum breiten Widerhall, und zwar keineswegs nur bei Vertretern der bis heute als genuin nationalsozialistisch geltenden Pflichtdeliktslehre 522, die das Rechtsgutdenken 519

Freisler, DStR 1934, 3. Freisler, DStR 1934, 6. Freisler, DStR 1934, 6. - Naher zu Freislers Strafrechtsdenken Kasseckert, Straftheorie, S. 18 ff. 522 Vgl. etwa Berges, DStR 1934, 242; Gallas, FS Gleispach, S.62f., 67; ders., ZStW 60 (1940), 379; Schaffstein, Verbrechen, S. 118, 123, 132. - Die Verknüpfung von Pflichtdehktsdenken und Nationalsozialismus (in letzter Zeit wurde sie etwa hergestellt von Bung, Wissen, S. 113; Gkountis, Autonomie, S. 195; Hefendehl, Rechtsgüter, S. 49 ff.; dems., JA 2011, 403; K. Giinther, Schuld, S. 225 ff.; Kriiger, Entmaterialisierungstendenz, S. 16; Wrage, Grenzen, S. 195 f.) entspricht zwar der Selbstdarstellung der meisten Propagandisten eines nationalsozialistischen Strafrechts (vgl. etwa Berges, DStR 1934, 242; Braun, Bedeutung, S. 31 f.; Gallas, FS Gleispach, S. 53, 68; Gleispach, Willensstrafrecht, S. 1069; Schaffstein, Verbrechen, S. 110; naher dazu Cheng, Ausnahme, S. 69 ff.; Feldmiiller-Bauerle, Schule, S. 128 ff.; Hartl, Willensstrafrecht, S. 106 ff.). An sich ist das Verstandnis des Delikts als Pflichtverletzung jedoch keineswegs ein spezifisch nationalsozialistisches (treffend Fiolka, Rechtsgut, S. 511 ff.; Kahlo, Handlungsform, S. 172 Fn. 655). Auf ein Verstandnis des Verbrechens als Pflichtverletzung ]ief etwa die Position jener Autoren hinaus, die im AnschluG an Adolf Merkel die Mi:iglichkeit eines schuldlosen Unrechts mit der Begründung in Abrede stellten, daG nur zurechnungsfahige Personen zur Verneinung des im Recht verkorperten Gemeinwillens imstande seien (treffend Heinitz, Problem, S. 6; naher zu dieser Auffassung unten S. 266 ff.). Kein Geringerer als Hold v. Ferneck sah in einer solchen Auffassung noch _1922~icht etwa einen Kollektivismus, sondern - gerade umgekehrt - den ,,allgememen Sub¡ekt1v1smus und Individualismus" am Werk (Hold v. Ferneck, Versuch, S. 25), welcher, der Aufklarung entstammend, den Philosophen seit jeher als Sprengmittel gedient habe, wenn es gegolt~n habe, die bestehende Ordnung zu stürzen (aaü, S. 25 f.). Erst die radikalen Wortführer emer nationalsozialistischen U mgestaltung des Strafrechts benutzten das - wie Klee (DStR 1936, 5) monierte - an sich ,,farblos[ e]" - Verstandnis des Verbrechens als Pflichtverletzung gezielt als Vehikel, um jene Schranken staatlicher Strafgewalt abzubauen, die die Strafrechtslehre seit dem Ende des 18.Jahrhunderts für selbstverstandlich gehalten hatte. So machten sie sich die Vorstellung einer diffusen staatsbürgerlichen Loyalitat und die aus dieser abgele_itetetotale Inpflichtnahme des einzelnen zugunsten der Volksgememschaft zunutze, um die Bmdung der Strafgewalt an konkrete, gesetzlich umschriebene Straftatbestande in Frage zu stellen: ,,Ob ein gemeinschaftswidriges Verhalten vorliegt, ist mit der formalen Erfüllung oder_Nichterfüllung von Tatbestanden nicht feststellbar." (Hohn, DR 1935, 267) Zudem redeten s1eeiner weitreichenden Vorverlagerung der ,,Verteidigung" ge gen den ,,verbrecherischen Volksfeind" (Freisler, DStR 1934, 6) das Wort (eindringlich dazu Spendel, FS Weber, S.4ff.). Wahrend Binding die Vorstellung, daG die gesetzlichen Verbote und Gebote nur zu dem Zweck erlassen waren, ,,den Gesetzesuntertanen Exercitien zur Betatigung ihrer loyalen oder illoyalen Gesinnung zu gewahren", noch als ,,grotesk" abgetan hatte (Binding, Normen, Bd. II/1, 520 521

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

pauschal als ,,rationalistisch und lctztlich matcrialistisch" schmahtcn 523, sondcrn auch bci den Anhangcrn des herkommlichen Rechtsgutdogmas 524. So betonten die Vertreter der Marburger Schule, Schwinge und Zimmerl, die den Rechtsgutbegriff ,,auch heute noch [fü1Jgrundlegend und unentbehrlich" hiclten525,das ,,Rechtsgutdenken der Zeit vor dem Umbruch" sei ,,nicht auch das Rechtsgutdenken unserer Zeit" 526. Habe das bisherige Rechtsgutdenken gelegentlich die Neigung erkennen lassen, die Einzelinteressen zu stark in den Vordergrund zu rücken 527, müsse nunmehr ,,letzte Zuflucht und oberster Richtpunkt [...] immer der Gedanke der Gemeinschaftsschddlichkeit [sein], dessen Inhalt aus der nationalsozialistischen Weltanschauung bestimmt werden muW' 528. ,,Die Blutsgemeinschaft des Deutschen Volkes ist die Grundlage und zugleich der hochste und letzte Wert, von dem alles deutsche Rechtsdenken ausgehen muss." 529,,Und diese groGe Errungenschaft des Nationalsozialismus", dessen war Klee als weiterer prominenter Anhanger des Rechtsgutbegriff s sich sicher, ,,wird im Denken der Volker nicht wieder verloren gehen" 530.Mit gutem Grund bescheinigte Engisch daher Schwinge und Zimmerl, sie dürften das ,,gute Gewissen" haben, ,,nicht minder für die Erneuerung unseres Rechtes im Geiste des N ationalsozialismus zu kampf en" als ihre Kieler Gegner 531. Selbst Schaffstein hatte gegen einen derart verstandenen Rechtsgutbegriff nichts einzuwenden: Beziehe man ihn statt auf den einzelnen auf die Volksgemeinschaft, so sei er unschadlich 532. S. 2_32),setzte Schaffstein in seiner programmatischen Abhandlung über das Verbrechen als Pfüchtverletzung ausdrücklich Pflichtenstrafrecht und Gesinnungsstrafrecht gleich (Schaffste_zn,Verbrechen, S. 110), und Dahm erklarte mit Blick auf den Typus des ,,Verrats", der im Jl!-ittelpunl? des ~atim1ahozialistischen Strafrechts stehen müsse, kurz und bündig: ,,Die Gesmnung, 111chtdie obJektive Tat, begründet das Unrecht." (Dahm, ZStW 95 [1935], 291; abschwachend spater ders., Recht, S. 426 f.) Vor der Gefahr einer derartigen rechtskulturellen Konterrevolution aber bietet auch die Rechtsgutverletzungslehre keinen Schutz: ,,Rechtsgutsverletzung, Pflichtverletzung und Tatprinzip sind dreierlei." (Jakobs, AT, 2/18 Fn. 32) 523 So etwa Dahm, Verbrechen, S. 79. 524 Naher dazu M. Bock, ZNR 6 (1984), 144 f. 525 Schwinge!Zimmerl, Wesensschau, S. 72 (Hervorhebungen im Original). 526 Schwinge!Zimmerl, Wesensschau, S. 72. 527 Schwinge!Zimmerl, Wesensschau, S. 72. 528 Schwinge!Zimmerl, Wesensschau, S. 74. 529 Schwinge!Zimmerl, Wesensschau, S. 58. 53 Klee, DStR 1936, 13.- Nichtweniger deutlich auGerte sich Klees Schüler Schmidt-Leichner, spater ei~e: der Starveneidiger der jungen Bundesrepublik: ,,Von einer Trennung von Staat und Ind1v1duum darf die neue Rechtsordnung nichts aufrechterhalten. Das Individuum verdient nicht Schu~z um seiner selbst willen, sondern nur zum Zwecke der Erha!tung der Volksgememschaft. (Schmzdt-Lezchner, Unrechtsbewusstsein, S. 5) 531 Engisch, MSchrKrim 29 (1938), 134. 532 Schaffstein, DStR 1937, 338. - Vereinzelt gab es allerdings auch gemafügtere Stimmen. So erklarte H. Mayer in seinem ,,Strafrecht des deutschen Volkes" (1936) es zwar für selbstverstandlich, daG er ,,für die Rechte der Gemeinschaft gegen die Zuchtlosigkeit des Individuums" eintrete. Jedoch warnte er nicht minder nachdrücklich vor dem ,,Fehlweg des Kollek-

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Jener Zug des kollektivistischen Rechtsgutdenkens, der es vor Schaffsteins Augen Gnade finden lieG, stellt in Wahrheit jedoch seine zentrale Schwache dar: Für den Gedanken personlicher Integritat und Freiheit gibt es in ihm keinen Platz. Unter den Bedingungen der Moderne aber lafü sich, wie im folgenden gezeigt wird, ohne die Freiheitsidee cine philosophisch sowie gesellschaftstheoretisch befriedigende Strafrechtstheorie nicht formulieren.

2. Freiheitsidee und Bürgerstatus ,,Der Mensch ist das handelnde Wesen. Er ist [... ] nicht ,festgestellt', d.h. er ist sich selbst noch Aufgabe [... ], und gerade insofern er sich selbst noch Auf533 gabe ist, nimmt er auch zu sich selbst Stellung und ,macht sich zu etwas'." Der Mensch hat also sein Leben nicht einfach, sondern er führt es im Lichte seiner eigenen Vorstellungen von einem guten und gelingenden Dasein. ,,Wer wir sind, ist unabhangig von unseren Interessen, Wünschen und Wertungen, ist unabhangig von dem, was wir sein mochten, was für uns wichtig ist, was für ein Leben wir führen und in welcher Gesellschaft wir leben mochten, nicht zu ermitteln." 534Diese Vorstellungen bringt der einzelne freilich nicht selbsttatig aus seinem Inneren hervor, sondern er entwickelt sie ,,aus einem immer schon bereitgestellten Vorrat an Auslegungsmustern, Wertorientierungen, Beurteilungsperspektiven"535. Dies gilt auch für die Hochschatzung von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, wie sie die heutigen westlichen Gesellschaften kennzeichnet. Über jemanden zu bestimmen bedeutet, ihm die Inhalte seines Handelns vorzuschreiben und dadurch Herrschaft über ihn auszuüben 536. Die Besonderheit der Selbstbestimmung besteht darin, daG Herrschender und Beherrschter identisch sind 537:W er selbstbestimmt lebt, lafü sich seine Handlungsinhalte nicht von anderen vorgeben, sondern setzt sie nach MaGgabe seiner Wertüberzeugungen tivismus". ,,Das Buch tritt daher, wo ein miGverstandener Gemeinschaftsgedanke zu irrigen Vorstellungen und Forderungen gelangt, für das Recht der Personlichkeit ein und versteckt dies Anliegen nicht hinter andersartigen Argumenten." (H. Mayer, Strafrecht, S. 11) Gerade da wo ein Individualinteresse geschützt sei, sei der Begriff des Rechtsguts von besonderem W~rt (aaO, S. 96). Ob Mayer tatsachlich-wie eres sich nach dem Krieg (1953) selbst bescheinigte ,,auf ganzer Linie den Kampf für die Freiheit der Person auf[genommen]" hat (so H. M ayer, AT, S. XII), mag dahinstehen; immerhin hat er sich einer Totalfunktionalisierung der Person entgegengestemmt. 533 Gehlen, Mensch, S. 32. 534 Kersting, Politik, S. 133. 535 Kersting, Politik, S. 133. 536 Fisch, Selbstbestimmungsrecht, S. 26. - Nicht von ungefahr ist der ursprüngliche Ort des Autonomiebegriffs die Staatslehre (naher Pohlmann, Art. ,,Autonom1e", Sp. 701 f.; v. Ungern-Sternberg, Autonomie, S. 9 ff.). 537 Fisch, Selbstbestimmungsrecht, S. 26; Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 6; Hollerbach, Selbstbestimmung, S. 16; Stratenwerth, Autonomie, S. 39.

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und Ziele eigenstiindig fest 538. Freilich hat die ,,lebensweltlich geglattete Normalautonomie" mit einer den Schopfergott imitierenden, absolut anfangenden Selbstbestimmung nichts gemein 539.Sie ist von vielfaltigen inneren und auf;eren Bedingungen abhangig, die nicht Teil des je individuellen Verfügungsrahmens sind, sondern ihn i.iberhaupt erst definieren 540.Zudem bezeugt das moderne Individuum in seinem Bemühen um Selbstbestimmung und Authentizitat in gleicher Weise die Macht und Wirklichkeit des Allgemeinen wie die Menschen früherer Zeiten. Gerade ,,in seinem Streben nach authentischem Selbstsein, in seiner Haltung der reflexiven Distanzierung des Herkommlichen und Üblichen" ist ein solches Individuum ,,nicht minder ein aufgehobenes Element des allgemeinen Selbst, nicht minder Selbstbewufüsein vorgefundener und unabhangiger Sittlichkeit als die Mitglieder früherer wertintegrierter und hochkoharenter Kulturen" 541. Das Selbstbestimmungsideal ist untrennbar mit der Struktur moderner Gesellschaften verkni.ipft, die sich zwischen dem 17. und dem 19.Jahrhundert herausbildet: dem Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung542.In stratifizierten Gesellschaften -Adelsgesellschaften - wird ,,die Gesellschaft als Rangordnung reprasentiert" 543. Die Schichtzugehorigkeit wirkt hier multifunktional: Sie bündelt Vorteile bzw. Benachteiligungen in so gut wie allen Funktionsbereichen der Gesellschaft 544.In funktional differenzierten Gesellschaften verzichtet das Gesamtsystem demgegeni.iber auf jede Vorgabe einer Ordnung der Beziehung zwischen den Funktionssystemen 545. Die Rolle, die ein Individuum in einem Funktionssystem spielt, ist deshalb grundsatzlich entkoppelt von den Rollen, die es in anderen Funktionssystemen einnimmt. Dem teilbar gewordenen Individuum verbleibt in dieser Situation das Problem seiner 546 Identitat und damit eine hochst anspruchsvolle Koordinations- und Integrationsaufgabe. Vom einzelnen wird erwartet, ,,daf; er imstande sei, sein Handeln auf mehrere soziale Systeme zu beziehen und deren unausgeglichene Anforderungen in einer personlichen Verhaltenssynthese zu vereinen" 547. Er muf; sich also in einer vorneuzeitlich ganzlich undenkbaren Weise als Subjekt seines Lebens verstehen 548. 538

Exemplarisch Hoffe, Art. ,,Freiheit", S. 70 ff. Kersting, Einleitung, S. 79. 540 Vossenktihl, Moglichkeit, S. 169. 541 Kersting, Macht, S. 182. 542 Ltihmann, Gesellschaftsstruktur, Bd. 1, S. 72 ff. 543 Ltihmann, Gesellschaft, S. 679. 544 L1thmann, Gesellschaft, S. 679. 545 Ltihmann, Gesellschaft, S. 746. 546 Luhmann, Gesellschaftsstruktur, Bd. 3, S. 223. 547 L1thmann, Grundrechte, S. 53; vgl. auch dens., Gesellschaftsstruktur, Bd. 3, S. 235; K.raus,Selbst, S. 183. 548 Luhmann (Gesellschaft, S. 1027) bezeichnet das Subjekt deshalb geradezu ,,als Er539

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Ein solches Subjekt - ,,die Welt, gesehen von einem Punkte aus, in sich realisiert und dadurch anderen zuganglich gemacht" - kann sich, wie Luhmann hervorhebt, ,,nur im Reiche der Freiheit realisieren; sonst ware es weder selbstandig dargestellt noch einzigartig" 549. Die Grund- und Menschenrechte garantieren deshalb, daf; kein soziales System den Menschen als Ganzes vereinnahmt. Indem sie den Menschen in Differenz zu allen Funktionssystemen setzen, ermoglichen sie es ihm, eine individuelle Personlichkeit zu entwickeln und seine einzelnen Selbstdarstellungen bewufü zu wahlen und zu koordinieren 550. Die Menschenwi.irde bi.indelt diese Einzelgewahrleistungen zu der allgemeinen Aussage, daf; jeder Mensch es verdient (oder eben: wi.irdig ist), als ein zur freiverantwortlichen Lebensführung berufenes Subjekt geachtet zu werden 551. Das Recht, zumal das Strafrecht, hat seine Hauptaufgabe demnach darin, das Anliegen, jedermann solle sein Leben nach eigener Einsicht führen konnen, abzusichern. Zwar konnen der Staat und sein Strafrecht dem einzelnen kein erfülltes Leben garantieren 552. ,,Ob die Verwirklichung von Autonomie gelingt, dies ist etwas, das nur jeden Menschen für sich betrifft." 553Was das Strafrecht aber vermag, ist dies: dem einzelnen, selbstverstandlich unter der Bedingung strikter Reziprozitat, eine von lahmender Furcht und erdrückender Fremdbestimmung freie Gestaltung des eigenen Daseins zu ermoglichen 554. losungsformel für die Umstellung des Inklusionsmodus auf moderne, funktionssystemspezifische Bedingungen". 549 Luhmann, Gesellschaftsstruktur, Bd. 3, S. 214. 550 Lindemann, Grenzregime, S. 151. 551 Menke/Pollmann, Philosophie, S. 160. 552 Hildebrand, Rationalisierung, S. 270. 553 Konig, Begründung, S. 282. 554 Eine klassische Fonnulierung hat diescr Gedanke bei Spinoza gefunden. Der letzte Zweck des Staates besteht demnach nicht clarín, ,,zu hcrrschen oder die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern viclmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als moglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann" (Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, S. 31). - Mit der hiesigen Aufgabenbestimmung des Strafrechts übereinstimmend Kohler, AT, S. 28 f.; ders., Begriff, S. 67 ff.; ders., ZStW 104 (1992), 15 ff.; E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 818 ff. - Im Unterschied zu dem hier in Übereinstimmung mit dem liberalen Standardmodell gewahlten Ausgang vom Begriff des subjektiven Rechts (dazu K. Günther, Pflichtverletzung, S. 445 H.;Renzikowski, GA 2007, 565) ging die altere naturrechtliche Tradition, wie sie exemplarisch von Pufendorf verkorpert wird, vom Primat der Pflicht aus (naher Denzer, Moralphilosophie, S. 86 ff.; Ikadatsu, Paradigmenwechsel, S. 1 ff.; Auer, AcP 208 [2008], 592 f., 601 ff.): Nicht dem Recht, sondern der ,,Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur" - so der Tite! von Pufendorfs berühmtem Einführungswerk- galt das vorrangige Interesse der naturrechtlichen Autoren. Diese Konstruktion ermoglichte es ihnen, die jedem Recht innewohnende Gemeinwohlbindung besonders hervorzuheben. So muG nach Pufendorf der Reiche demjenigen, der sich ohne eigene Schuld in Not und Elend befindet, aufgrund der allgemeinen Verpflichtung zu menschlichem Verhalten zur Hilfe kommen-eine Verpflichtung, die auGerstenfalls sogar einen Mundraub rechtfertige (Pufendorf, Pflicht, I/5, § 23 [S. 70]). Gegenüber dem Staat habe der Bi.irger die Pflicht, ,,nichts

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Der Selbstbestimmung einfordernde Bürger tritt freilich nicht nur in der Rolle einer vor dem Recht verantwortlichen Privatperson auf, die an einem effektiven Schutz ihrer Integritat vor Schadigungen interessiert ist, sondern auch in der Rolle eines für das Recht verantwortlichen Staatsbürgers 555 ; der Begriff rechtlicher Freiheit besitzt nicht lediglich eine liberale, sondern auch eine demokratische Bedeutungskomponente 556 • Zur Identitat des Staatsbürgers gehort es, vermittelt durch die von ihm gewahlten Reprasentanten im Rahmen der grundrechtlichen Ordnung auch solche politischen Anliegen umzusetzen, die sich nicht auf das Interesse an einer Optimierung individueller Lebensgestaltungsoptionen zurückführen lassen. Der institutionelle Bezug eines freiheitlichen Strafrechts zum demokratischen System wird von der Strafrechtswissenschaft notorisch unterschatzt 557 • So neigt die Rechtsgutlehre auch dort, wo sie nominell den AnschluG an die geltende Verfassungsordnung sucht 558 , dazu, den hoher zu veranschlagen als dessen Sicherheit und Wohl, Leben, Hab und Gut und alle Mittel zu seiner Entfaltung bereitwillig zur Verfügung zu stellen, sowie alle Krafte des Geistes und des Korpers auf die Vermehrung seines Glanzes und die Forderung seiner Wohlfahrt auszuri_chten'.'(P_ufend~rf,Pflicht, II/18, § 4 [S. 211]). Kant band den Rechtsbegriff demgegenüber an die Fre1he1t des emzelnen und ersetzte folgerichtig den Pflichtbegriff durch die neue Fundamentalkategorie des subjektiven Rechts (dazu Auer, aaO, 618 ff.; Hruschka, JZ 2004, 1085 ff.; Ikadatsu, aaü, S. 76 ff.; Konig, Begründung, S. 101, 139; Wieacker, Formalismus, S. 143 f.). Auch wenn es rein analytisch auch in einer freiheitlichen Rechtsordnung moglich ist, den Begriff der Pflicht für den grundlegenderen zu erklaren (so etwa Horn, Untersuchungen, S. 55 f. und jüngstjakobs, Norm, S. 36 f. sowie v. d. Pfordten, Differenzierung, S. 44) und subjektive Rechte mit v. d. Pfordten (aaO) als ein ,,Instrument der Zuordnung von Pflichtquellen" zu begreifen, würde eine solche Darstellung doch den legitimationstheoretischen Zusammenhang verzerren (ebenso aus verfassungstheoretischer Perspektive Gotz, VVDStRL 41 [1983],S. 13 f. und f!ofmann, VVDStRL 41 [1983], S. 54 f.). Insofern gehort die von Kant vorgenommene Begnffsumstellung nach dem treffenden Urteil Auers (aaO, 634) ,,zum nicht mehr zurücknehmbaren Grundbestand des philosophischen Diskurses der Moderne". 555 Vgl. Forst, Kontexte, S. 395 ff.; Pocock, Bürgergesellschaft, S. 141ff.; Richter, Politik, S. 19 ff., 156 ff.; Walzer, Gesellschaft, S. 171 ff. 556 Exemplarisch Pocock, Bürgergesellschaft, S. 143ff.; Sandel, Liberalismus, S. 55 ff. 557 Von einem ,,MiGtrauen" der herrschenden Strafrechtslehre gegenüber dcm Gesetzgeber sprechen zu Recht Appel, KritV 1999, 286; Amelung, Begriff, S. 163; Stuckenberg, GA 201~, _659._Ein ,,Unbehagen" der Strafrechtswissenschaft gegenüber einer rein prozeduralen Leg1t1mat10n der Gesetzgebung konstatiert ferner Fiolka, Rechtsgut, S. 75 f. - Zur Illustration sei nur auf eine neuere AuGerung eines der berühmtesten deutschen Strafrechtslehrer verwiesen. In Roxins Worten ,,spricht [vieles] dafür, dass ein moderner Gesetzgeber, auch wenn er demokratisch legitimiert ist, etwas nicht schon deshalb mit Strafe bedrohen darf weil es ihm nicht gefallt". Nach dem ,,heute erreichten Standard unserer westlichen Zivilisa;ion" bedürfe die Ponalisierung eines Verha!tens namlich ,,einer anderen Legitimation, als sie das bloGe Beheben des Gesetzgebers liefert" (Roxin, Rechtsgüterschutz, S. 135). Gibt es irgend jemanden, der dies bestreitet? 558 DaG das Straftaterfordernis der Rechtsgutverletzung ohne Einbindung in eine Theorie verfassungsrechtlicher Anforderungen ,,wenig mehr als Tradition für sich habe" (so Bottke, FS Lampe, S. 488), wird immerhin zunehmend anerkannt (so etwa jüngst von Kiihl, Puppe, _S.~66)._Wie eine solche verfassungsrechtlich reflektierte Rechtsgutlehre aussehen konnte, sk1zz1ert m emdrucksvoller Weise Hefendehl (JA 2011, 403 ff.). Die Identifizierung

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Kreis legitimer Strafrechtsgüter auf jene ,,Gegebenheiten oder Zwecksetzungen" zu beschranken, ,,die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Entfaltung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind" 559 . Kein Raum ist in 560 derartigen Begriffsbestimmungen für die politische Freiheit der Bürger , die sich clarín auGert, daG sie (in Gestalt ihrer parlamentarischen Reprasentanten) nicht auf jene Liste von (moglichst personlichkeitsnahen) ,,Gütern" festgelegt sind, die die strafrechtstheoretischen Philosophenkonige für sie erdacht haben. Der Gesetzgeber wird vielmehr in geradezu vorkonstitutioneller Manier fast ausschliefüich als jene Instanz wahrgenommen, die es zu bandigen gilt. ,,DaG der Gesetzgeber als einzige staatliche Instanz unmittelbar demokratisch legitimiert ist, daG der Gesetzgeber ein verfassungsrechtlich gebundener ist und im demokratischen Rechtsstaat überhaupt nicht ohne seine verfassungsrechtlichen

eincs schutzwürdigen Rechtsguts bildet danach lediglich die Eingangsvoraussetzung der verfassungsrechtlichen Prüfung. Deren Schwerpunkt liege bei dcr nachfolgenden Verha!tnismaGigkeitsprüfung. . . _ _. . 559 So Roxin, AT 1, § 2 Rn. 7. - Noch deutlicher w1rd diese emse1t1ge Fokuss1erung auf den ,,in einem ursprünglichen Sinn: herrliche[n] Einzelne[n]" (Jakobs, FS Amelung, S. 41) be1 Frister (AT, § 3 Rn. 32), dcr den Rechtsgutbegriff unter ausdrückbcher Bctonu;1g d~s U_mstandes daG es sich um eine Definition vom Verfassungsrecht her handele, als ,,eme empragsame K~rzformel für die vom Recht zu gewahrenden Bedingungen gleichberechtigter Personlichkeitsentfa!tung" verstanden wissen will.- Bcsonders ausgepragt ist die Neigung, sich um den Preis zunehmender Wirklichkeitsverweigerung (dazu HK-GS-Rossner, Vorbem. zu § 1 Rn. 18; Fiolka, Rechtsgut, S. 88; Frisch, Rechtsgut, S. 221; Schii~emann, GA 1995, 207 f.; eindringlich bereits Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 119) mnerhalb emer selbstgebauten kriminalpolitischen Kuschelecke einzurichten,_ bei d~n Vertrete'.·n der sogenan_nten personalen Rechtsgutlehre. Diese behauptet einen leg1t11nauonstheoret1schen Pnm~t md1vidueller Interessen gegenüber kollektiven Belangen sow1c eme k_ategonsche Beschrankung des Schutzes von Institutionen auf die ,,Bedingung[en] der Moghchke1t des Personenschutzes" (NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1 Rn. 133ff.; Hassemer, Gr~ndlii:1i~1;-,_S. 91 f. [grundlegend]; ferner Marx, Definition, S. 62 ff., 79 ff.; Chatzzkostas, D1spo111b1!1tat,S. 134; Herzog, Unsicherheit, S. 73; ders., Pravention, S. 57 ff.; Hohmann, Rechtsgut, S. 66 ff., 117f.; ders., GA 1992, 77 ff.; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 242; Stachelin, Strafgesetzgebung, S. 77 Sternberg-Lieben, Schranken, S. 377 ff.; ders., Rechtsgut, S._67ff.; Kar?l, JA 2003, 609; Mzr Puig, Grenzen, S. 90 f.; Prittwitz, Rechtsgutslehre, S. 100 ff.; 11nErgebms auch Kahlo, Handlungsform, S. 171; Roxin, Rechtsgüterschutz, S. 139 f.; Wrage, Grenzen, S. 279, 376 f.). - Hefendehl (Rechtsgüter, S. 113 ff.) betont demgegenüber zu ~echt, d~Gd!e Bede~tun~ kollekt1ver Rechtsgüter sich nicht darin crschopft, Freiraume für die Verwirkbchung 1_nd1v1duellerLebensplane zu schaffen, sondern daG der Staat mittel: d~s Strafrechts auch seme e1gene Funktionsfahigkeit muG gewahrleisten konnen. Nach h1es1ger Auffassung muG man_aus ~emokratietheoretischcn Gründen jedoch noch einen Schritt weitergehen und - auch ¡ense1ts der von Hefendehl anerkannten engen Grenzen - im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulassigen selbst solche Strafnormen als grundsatzlich berechtigt anerkennen, ,,für die es keine andere Begründung gibt, als dass wir in einer Gesellschaft leben wollen, die diese Regeln r.espekticrt" (Stratenwerth, FS Amelung, S. 363; ebenso berelts ders., FS Lenckner, S. 390 f.; ahnbch Volk, 2. FS Roxin, S. 224). 560 Der Begriff wird hier verstanden im Sinne von Aron, Freiheiten, S. 97.

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Bindungen gedacht werden kann, gerat demgegenüber in den Hintergrund."561 Der ,,nachgerade verstorende[n] Demokratieferne" 562 der herkommlichen Rechtsgutlehre, die, in ,,eine[r] Art normative[r] Parallelwelt" befangen 563, ,,den Anschluss an die verfassungsrechtlichen Diskurse vielerorts verloren hat" 564 tritt eine freiheitstheoretisch reflektierte Verbrechenslehre entgegen. Der ver~ fassungsrechtlich vorgegebene Gestaltungsspielraum des Strafgesetzgebers ist ihr nicht etwa ein unvermeidliches Übel, sondern vielmehr genuiner und schatzenswerter Ausdruck bürgerlicher Freiheit 565. Der Aufgabe der Freiheitssicherung vermag die Rechtsordnung nur gerecht zu werden, wenn sie -wie Welzel es formuliert- ,,wirklichkeitsgestaltende Kraft 566 besitzt" . Ebenso wie Hobbes erblickt auch Welzel die erste und wichtigste A~fgabe des Rechts darin, ,,den off en oder immerfort latent drohenden Bürgerkneg aller gegen alle zu überwinden oder niederzuhalten und durch eine das Leben aller sichernde Ordnung zu ersetzen" 567.Nur wenn der einzelne Bürger von dem Zwang entlastet ist, bestandig die existentiellen Risiken seines Verhaltens zu kalkulieren, vermag er sich anderen, ,,hoheren" Aufgaben zuzuwenden56S_,,Es ist die wesentliche Bestimmung personaler Existenz, dag Personen fahig sind, ihre Gegenwart in die Vergangenheit und Zukunft zu erweitern und im Verstandnis dieser Erweiterungen ihr Leben praktisch auszugestalten. Auf diese Weise überführen sie die Kontingenz der Existenz in Kontinuitat ihres personalen Lebens."~69Im ~irn~nftigen Lebenspla~ findet die~e Kontinuitat ihre sinnfallige 5 Auspragung . Die Erwartung, dag die ,,symbobsche Hülle", die das Recht um 561

Appel, Verfassung, S. 330; ders., KritV 1999, 287. Stuckenberg, GA 2011, 658. Stuckenberg, GA 2011, 655. 564 Gdrditz, Staat 49 (2010), 332; vgl. auch Fiolka, Rechtsgut, S. 295, 343 f., 422; Gaede, Kraft, S. 183. 5~ I E b . . 1. f m rge UJsw1e uer BVer GE 120,224,240 ff.; LK-Weigend, Einl. Rn. 3, 6 f.; LK-Walter, Vor § 13 Rn. ~; NK-~aeffgen, Vor §§ 32 H. Rn. 11 f.; Stratenwerth!Kuhlen, AT, § 2 Rn. 8; Stratenwerth, Knmrnahs1erung, S. 256 ff.; ders., FS Amelung, S. 362 f.; Appel, Vcrfassung, S. 362 f.; ders., KntV 1999, 286 f., 299 f., 306, 309 f.; Fiolka, Rechtsgut, S. 76, 87, 144, 340 f., 390 f.; Lagodny, Strafrecht, S. 144, 147, 153, 162 f.; Amelung, Begriff, S. 162 f.; Androulakis, FS Hassemer,_S. 278; Baczgalupo, FS Jakobs, 5.14; Frisch, Rechtsgut, 221 f.; Gdrditz, Staat 49 (2010), 342; Hzlgendorf, NK 2010, 128;F. Meyer, ZStW 123 (2011), 10 f.; Stuckenberg, GA 2011, 658 ff.; Vogel, GA 2002, 529 f. 566 Welzel, Abhandlungen, S. 282. 567 Welzel, Abhandlungen, S. 282. 568 . ]akobs, FS Amelung, S. 48; Boehme-Nefller, Rechtstheorie 39 (2008), 549; Winkler, Feihen, ~- 30. - Aus gutem Gr~nd b~zei~lmet deshalb Windscheid das Rccht als die ,,Grundlage d~, smhchen Weltordnung : ,,W1e die Erde auf granttenem Gefüge ruht, und ohne dasselbe rnchts sern würde, was auf ihr grünt und blüht: so ruht die sittliche Weltordnung auf dem Gefuge des Rechts, und Jede Blüthe derselben verdankt erst ihm ihr Dasein." (Windscheid, Recht, S. 4) 569 Sturma, Philosophie, S. 352. 570 Sturma, Philosophie, S. 352. 562

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jeden einzelnen Bürger aufspannt, von anderen nicht nennenswert Lidiert wird, ist insofern die ,,Vorbedingung der Personalitat" 571und damit auch der Legitimitat eines jeden der Idee personaler Freiheit verpflichteten Staates 572.Auf eine kurze Formel gebracht: Die rechtliche Ordnung hat die ,,Herrschaft der Normalitat" durchzusetzen 573.,,Normalitat ist der Biotop des Normativen." 574Normalitat aber herrscht dann, wenn ,,die Voraussetzungen für menschliches Glück und Handlungserfolg, für personale Selbstentwicklung und ethische Selbstverwirklichung zur unauffalligen Selbstverstandlichkeit geworden sind, wenn Gewalt aus dem zwischenmenschlichen Raum verbannt ist, Zukunftsvertrauen besteht, Erwartungen handlungsleitende Stabilitat gewinnen und wechselseitige Verlafüichkeit herrscht." 575 Ein Zustand rechtlicher Normalitat erfordert somit mehr als das Vorhandensein einer abstrakten Normenordnung: Der einzelne Bürger mug in ihm ,,seines Rechts teilhaftig werden" 576,sich also der Achtung seiner Rechtsstellung durch seine Mitbürger weitgehend sicher sein konnen; die Rechtsnormen bedürfen der kognitiven Untermauerung 577. ,,Denn wenn sich die Rechtsgesetze des Staates, d.h. die offentliche Freiheit, nur auf Vorschriften ohne Kraft stützen, dann wird den Bürgern nicht nur die Sicherheit fehlen, dag diese Gesetze eingehalten werden, [... ] sondern es wird auch der Untergang der Freiheit sein." 578Von einer Summe einzelner Rechtserfahrungen unterscheidet sich ein Zustand konkretrealer Freiheitlichkeit deshalb vor allem durch seine Stabilitat, seine Dauerhaftigkeit579. Gleichsam den canttts firmus der neuzeitlichen politischen Philosophie bildet die Überzeugung, dag es zur Herstellung und Aufrechterhaltung eines Zustandes gesicherter Freiheitlichkeit der Institutionen, vor allem des Staates, bedarf580. Unentbehrlichkeit ist freilich nicht mit Exklusivitat zu verwechseln. Der Glaube, die Aufrechterhaltung der augeren Ordnung konne ausschliefllich durch ein effizientes Netz staatlicher Behorden bewerkstelligt werden - eine Ansicht, die sich bereits bei Kant findet 581 und zeitweise geradezu zum Credo der ,,Hochmoderne" avancierte 582-, ist indessen irrig. Keine Rechtsgemein571

Kargl, Rcchtsgüterschutz, S. 60. Frankenberg, KJ 2005, 376. 573 Kersting, Politik, S. 128; ders., Macht, S. 76. -Treffend bemerkt Bleckmann (Strafrechtsdogmatik, S. 61): ,,Das Gewaltverbot verhindert nicht primar Gewalt, es ist die Bedingung der Moglichkeit von Handlungen, die so tun konncn, als ob die Welt nicht gewalttatig ware." 574 Kersting, Politik, S. 128 . 575 Kersting, Politik, S. 128; ders., Macht, S. 76. 576 Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 423. 577 Zuletztjakobs, Rechtszwang, S. 33. 578 Spinoza, Politischer Traktat, S. 97. 579 Pawlik, Person, S. 81. 580 Exemplarisch Kersting, FAZ v. 7.6.2008, 15. 581 Dazu Pawlik, ]RE 14 (2006), 269 ff. 582 Vgl. Garland, Kultur, S. 92. 572

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schaft kann ausschliefüich auf die Macht der Institutionen setzen, schon deshalb nicht, weil deren Handlungskapazitaten sehr begrenzt sind 583. Eine Mitverantwortung für die Aufrechterhaltung eines Zustandes der Freiheitlichkeit trifft deshalb auch jeden einzelnen Bürger 584. Diese Mitverantwortung anzuerkennen ist letztlich ein Gebot der FairneK ,,Wer die Freiheiten einer rechtsstaatlichen Ordnung in Anspruch nehmen will, ist aufgefordert, auch das Seine zur Bewahrung und Verteidigung dieser Freiheiten beizutragen." 585 Zwar geht die Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat nie auf das Ganze des Gemeinwesens: Den Bürger trifft keine unmittelbare Verantwortlichkeit für das staatliche Gemeinwohl 586; da eine solche Verantwortlichkeit angesichts der Komplexitat moderner Gesellschaften buchstablich unermefüich ware, konnte der einzelne Bürger ihr schlechterdings nicht genügen587.Wohl aber tragt der Bürger für die konkreten Aufgaben seiner gesellschaftlichen Rollen Verantwortung 588.Wie Gerhardt zu Recht hervorhebt, besitzen deshalb nicht nur Gesetzgebung und Rechtsprechung reprasentativen Charakter, sondern auch die alltagliche Rechtsbefolgung: ,,Das Gesetz reprasentiert die Verhaltenserwartung einer institutionellen Gemeinschaft, der Richter reprasentiert das Gesetz und der legal handelnde Bürger stellt exemplarisch die Geltung der Gesetze vor." 589,,Denn" - so erlautert Robert Spaemann - ,,alle Handlungen, die in einem vorgegebenen normativen Rahmen vollzogen werden, reproduzieren die Geltung dieses Rahmens." 590 Ein Angriff auf den Zustand der Freiheitlichkeit auGert sich folglich darin, daG der Tater, indem er der strafrechtlichen Verhaltensordnung zuwiderhan583

Naher Pawlik, JRE 14 (2006), 279 ff. Dies bestrcitcn Bustos Ramírez (FS Tiedcmann, S. 348) und Saliger (JZ 2006, 762) m1t d~r_Behauptung, cine s_olc_he Position sei autoritar bzw. totalitar. Der Vorwurf geht fehl: Totahtar ware 1m Gegente1l em Staat, der Ernst damit machte, Normkonformitat allein mit Hilfc seines Zwangsapparates zu sichern (Pawlik, JRE 14 [2006], 280 f.; ebenso Baurmann, Normativitat, S. 173; jakobs, Norm, S. 78; ders., Rechtszwang, S. 39; ders, Theorie, S. 180; Krdft, Aprioritat, S. 102). - Im wesentlichen wie hier Link, VVDStRL 48 (1990), S. 31; Noll, Bcgründung, S. 14 f. Saladin, Verantwortung, S. 70; Ziekow, FS v. Arnim, S. 203; im Ansatz auch Mttrmann, GA 2004, 70. 585 Huber, FAZ v. 22.1.2011, 8. 586 Depenheuer, VVDStRL 55 (1996), S. 96 f.; Weber-Grellet, Rcchtstheoric 34 (2003), 182. 587 Depenheuer, VVDStRL 55 (1996), S. 107. 588 Depenheuer, VVDStRL 55 (1996), S. 111, 123; Gdrditz, Staat 49 (2010), 356. 589 . Gerhardt, Partizipation, S. 343. - Die Feststellung, daB die Rechtsgemeinschaft von 1h:·enAngehi.irigen legales Handeln verlangen darf, hat eine nicht weniger bedeutsame Kehrseite: Mehr ~Is ~uBerlic~e Re~lmkonformitat_sch1:1ldendie Bürger nicht; die Beweggründe, von denen s1e s1ch dabe1 mot1V1erenlassen, smd 1hre Sache (klarstellend Gdrditz Staat 49 [2010], 356; miBverstandlich Weber-Grellet, Rechtstheorie 34 [2003], 190). ' 590 Spaemann, Kritik, S. 180. - Inhaltlich übereinstimmend Haas (Kausalitat, S. 78 f.): ,,Wer die Vcrhaltensnormen beachtet, führt, sich dem Willen der Allgemeinheit unterwerfend, stellvertretend ihr Geschaft. Der einzelne handelt als Glied der Gemeinschaft und nicht als Individuum." . 584

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

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delt, seine Rolle als Reprasentant der Rechtsgemeinschaft - kurz: als Bürger bricht. Er verletzt seine Pflicht, an der Aufrechterhaltung des bestehenden Rechtszustandes mitzuwirken 591. Insofern stellt ein Verbrechen begrifflich ein Unrecht gegenüber der Rechtsgemeinschaft als ganzer dar 592; in den Worten 593 Kants gefahrdet es ,,das gemeine Wesen und nicht bloG eine einzelne Person" . Ihren Legitimationsgrund aber findet die strafbewehrte Mitwirkungspflicht in der Freiheit der Bürger, die nur im Rahmen einer durchsetzungsfahigen Rechts594 ordnung zu realer Werthaltigkeit erstarkt . 591 Ahnlich Kohler, AT, S. 48 f.; Appel, Verfassung, S. 467 H.; Kersting, Macht, S. 252 ff.; Kleinert, Betroffenheit, S. 127 ff., 218; Müssig, Mord, S. 142; Otto, ZStW 87 (1975), 563; Zabel, Schuldtypisicrung, S. 119; Frisch, FS Müller-Dietz, S. 254; Kindhduser, ZStW 107 (1995), 722; Renzikowski, GA 2007, 564, 566; Roxin, JuS 1966, 385; Schild, FS Lenckner, S. 305 f.; Zaczyk,

Staat, S. 80 ff. 592 Die Vcrpflichtung, sich an der Erhaltung der bestehenden Freiheitsordnung zu beteiligen, pragt nicht nur die materiell-strafrecht'.ichc, sondern auch die v_erfahrensrechtliche Stellung des cinzelnen Bürgers. Aus ihr ergibt s1ch, daB die Rechtsgememschaft grundsatzlich von jedem ihrer Angehi.irigen verlangen darf, sich an der Aufklarung von Straftaten zu beteiligen (ebenso Kohler, ZStW 107 [1995], 20; Lesch, GA 2000_, 364). ,,Der Staat, dem der Einzelne die gedeihliche Existenz als Bürger, als freier, berecht1gter Mensch verdankt, hat einen begründeten Anspruch darauf, Jeden, auch den Beschuldigten selbst, zur Auffindung und Tilgung von Angriffen auf die Rechtsordnung verpflichtet zu erklaren." (Sundelin, G:' 6 [1858], 628) Zwar hat der strafverfolgende Staat bei der Ausgestaltung der betreffenden Pfücht die Grundrechtc der seiner Gewalt unterworfenen Personen zu achten; ansonsten würde er seinen Anspruch konterkarieren, als Wahrer der Freiheit aufzutreten. Das Verha~tnis zwischcn Bürgerpflicht und Individualgrundrecht wird jedoch verzeichnet, wenn man Jede Inanspruchnahme des Bürgers im Rahmcn cines Straf_verfa_hrens _unter den Generalverdac~t emer Instrumentalisicrung des Betroffenen zu emem 1hm auBerhchen Zweck stcllt. D1es hefe auf die ir rige Vorstellung hinaus, ,,den Beschuldigten im Strafverfahren [... ] als auBerhalb der G_emeinschaft, ihr feindsclig als berechtigten Gegner gegenübergestellt" zu denken (Sundelz~, aaO). Der Status des einzelnen als Grundrechtssubjekt ist vielmehr gleichursprün_glich m1t seiner Rechtsrolle als gemeinschaftsgebundener Bürger. Deshalb darf _derB~schuld1_gtenvar nicht unter Androhung von Sanktionen dazu gcni.itigt werden, an semer e1genen Uberfuhrung mitzuwirken; dem strafverfolgenden Staat ist es untersagt, ihn in eine Lage_zu bnngen, die einem Aussagezwang nahekommt. Die nema tenetur-Regel hindert den Staat ¡edoch mcht daran, sich für die verweigerte Kooperation Ersatz zu beschaffen (Volk, FG BGH,_S. 740). Einen Schutz vor jedweder staatlich veranlaBten Sclbstbclastung kann der Beschuld1gte dabei nicht beanspruchen. (Naher Pawlik, GA 1998, 380ff.; zusammenfassend Erb, FS Otto, S. 874 ff.; Verrel, FS Puppe, S. 1638 ff.) 593 Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 452. - Dazu jüngst Hruschka, FS Sti.ickel, S. 88 ff. 594 Mituntcr wird das Recht zur Teilhabe an der demokratischen Willensbildung zur Grundlage strafrechtlicher Verpflichtungen erklart (K. Günther, Schuld, S. 245 ff.; ders.:_Personenbegriff, s.93 ff. [grundlegend]; Gómez-]ara Díez, ZStW 119 [2007], 327 f.; Kmdhauser, FS Schroeder, S. 89 ff.; ders., FS Hassemer, S. 770 ff.; Mañalich, Ni.ingung, S. 34; Milton Peralta, ZIS 2008, 509 ff.; Müssig, Mord, S. 234 H.; ders., FS Jakobs, S. 427 ff.; Rath, Rechtfertigungsclement, S. 124 f., 131 f.): Die Verpflichtung, trotz Ablehnung der Nmm Un_recht ~u vermeiden, sei nur legitim, ,,wenn die Rechtsperson das Rech: und die_Moghchke'.: hat, 111 die Rolle des Staatsbürgers zu wechseln und als solcher von 1hren dehberanven Fah1gke1ten in der Weise Gebrauch zu machen, daB sie i.iffentlich gegen die Norm Stellung nimmt" (K. Günther, Personenbegriff, S. 95). ,,Ohne solche Verfahren keine Normbefolgungspflicht

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l. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Wie jede Straftheorie, so hat auch die hier vorgestellte Konzeption spezifische Begründungsgrenzen. Über die Legitimitat der Tatbestande, deren Verletzung als ein dem Tater in seiner Bürgerrolle zurechenbares Unrecht gilt, sagt sie nur (aber immerhin) so viel, daB das in ihnen fixierte Unrecht von erheblichem Gewicht sein muB. ,,Solange man die Strafe als eine besonders gewichtige negative Folge begreift, kann mit der Strafe auch nur auf qualifiziertes Unrecht reagiert werden." 595 Damit geht die hiesige Auffassung zwar über die Praventionslehren hinaus, die ihrer instrumentalistischen Ausrichtung entsprechend keinerlei Kriterien dafür bereitstellen, ob eine Strafrechtsordnung es verdient, daB sie mit Hilfe von Abschreckung, der Einübung in Normtreue oder der Umerziehung von Delinquenten stabilisiert wird 596 . Dennoch will die hiesige Konzeption nicht als Beitrag zur Diskussion um den sogenannten materiellen Verbrechensbegriff verstanden werden. Die Grenzen zulassiger Kriminalisierung naher zu bestimmen ist eine bedeutsame verfassungsrechtliche Aufgabe, aber sie wirft überwiegend andere Fragen auf als die unter dem Tite! der Straftheorie zu erorternde Problematik 597 • Noch in einer weiteren Hinsicht übt die vorliegende Theorie sich in der Tugend der Selbstbescheidung. Ihr ist es lediglich um den Nachweis zu tun, daB und auch keine Schuld im Falle einer Normverletzung." (K. Günther, Schuld, S. 256) Diese Auffassung taugt allerdings weitaus besser zur Delegitimierung als zur Legitimiemng real bestehcnder Rechtsordnungen: Vom ri:imischen Recht bis zum preufüschen StGB von 1851 - alles illegitim (ebenso Kersting, Macht, S. 253 Fn. 72; kritisch zu Günthers Position bereits Pawlik, FAZ v. 14.3.2005, 40). Derlei gerechtigkeitstheoretische Exaltationen haben die unselige Neigung, die grundlegcnden ordnungspolitischen Voraussetzungen menschlicher Existenz allzu gering zu schatzen. ,,Die Ermi:iglichung geht der Optimierung, die Sicherung des esse_de_rBefi:irderung des bene esse voran." (Kersting, Politik, S. 129) Von ungleich gri:iGerer Fre1he1tsrelevanz als das Recht auf demokratische Mitwirkung ist für den einzelnen die Aussicht, im Alltag zwischen den Wahlterminen sicher und in Frieden leben zu ki:innen. Die freiheitstheoretisch primare Alternative lautet deshalb nicht: Demokratie oder Nicht-Demokratie, sie lautet vielmehr: bürgerlicher Zustand oder Naturzustand. Auch ein demokratischer _StaatmuG zunachst einmal Staat sein. Er muG mithin die Leistungen erbringen, welche von emem Staat erwartet werden in erster Linie die Garantie des Friedens. An dieser Aufgabe wird er scheitern, solange die Gehorsamspflicht seiner Bürger im Zweifel steht. Die Gehorsamspflicht der Bürger muG deshalb an die Staatlichkeit des Staates anknüpfen, nicht erst an dessen demokratische VerfaGtheit. - Wie hier Keller, FS Lüderssen, S. 427 f.; nahestchend ]a~obs, ~StW 118 (2006), 845. - Grundlegend zum staatsphilosophischen Primat des Sichcrhe1tsanhegens Isensee, Grundrecht, S. 3 ff. (historisch), 17 ff. (systematisch). 595 Frisch, Straftat, S. 145. 596 Treffend Neumann, Feindstrafrecht, S. 307 f.; Stübinger, Idealisiertes Strafrecht, S. 308 f. 597 Ebenso Jakobs, AT, 1/18; ders., FS Amelung, S. 47; jescheck/Weigend, AT, § 8 II 3 (S. 68); Appel, Vedassung, S. 44~; Beck, Unrechtsbegründung, S. 39 ff.; Greco, Lebendiges, S. 304; Haffke'. T1efenpsycholog1e, S. 82; Kalous, Generalpravention, S. 117; Müssig, Schutz, S.142f.; Garditz, Staat 49 (2010), 353; Kindhduser, GA 1989, 493; Perron, Rechtfertigung, S. 24, 30; Vogler, ZStW 90 (1978), 141. - Aus dem alteren Schrifttum: Liepmann, Einleitung, S.199; Saloman, ZStW 33 (1912), 16.

C. Strafe als Antwort attf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

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keine prinzipiellen Bedenken dagegen bestehen, auf eine Tat, die sich na~~1den einschlagigen Regeln des materiellen Strafrechts als ein Unrecht des Burgers deuten laBt, mit Strafe zu reagieren. Dies besagt aber keineswegs, daB ¡edes Unrecht des Bürgers mit einer Strafe geahndet werden muB598 ; ,,nicht die Straf599 pflicht, sondern nur das Strafrecht [ist] notwendige Folge des Deliktes" . Eine gefestigte Gesellschaft wird nicht nur zu einer erheblichen Milderung der Strafen tendieren. Sie kann es sich auch leisten, die Reaktionsform der Strafe schwerwiegenden Beeintrachtigungen der Daseinsb~dingungen von Freihei~ vorzubehalten, weniger gewichtige Unrechtstaten hmgegen auf andere We1se - etwa durch die Verpflichtung des Taters zur Wiedergutmachung - zu beantworten. In einem Wort: Die hiesige Konzeption erhebt lediglich den Anspruch einer Strafermoglichungs-, aber weder denjenigen einer Kriminalisierungs- noch den0 jenigen einer Straferzwingungstheorie6° • • . • . Damit sind die Grundzüge einer Vergeltungstheone der Strafe skizz1ert, die den herkommlichen Einwanden gegen dieses Begründungsmodell nicht ausgesetzt ist. Die hiesige Konzeption ist weit davon entfernt, ,,in zweckgeli:ister Ma601 jestat in den Grundrechten der Menschen herum[zufu?rwerken]" • Darübe~, daB eine in diesem Sinne absolute, ,,also von menschhchen und gesellschafthchen Zielsetzungen losgeli:iste,Straftheorie verfassungsrechtlich und alltagsmoralisch unertraglich" ware6º 2, sollte kein Streit bestehen. Nicht anders als den Praventionslehren geht es vielmehr auch der hiesigen Konzeption um die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung 603 . Unterschie_dlich sin~ jedoch die Begründungsmodelle, mit denen beide Auffassu~gen d1ese_sAn~1egenauf den Beriff zu bringen suchen. Aus Sicht der Praventionstheonen d1ent das Strafrecht g «604 • · I - mit Hassemer gesprochen - der ,,Verbesserung d er Wet1 ; es 1st em nstrument des gesellschaftlichen Interessenschutzes un~ soll_dazu b~itrag~n, ~us der durch die Straftat herbeigeführten suboptimalen S1tuat1ondas 1m Hmbhck auf 598 Dem Einwand gegen cine als ,,absolute" Theorie im traditionelle_n Sinne verstandrne Vergeltungslehre, ihr zufolge müsse die Strafe dem Normbruch kategonsch folgen (be1sp_1elhaft Henkel, Einführung, S. 411 f.; ders., Strafe, S. 8; Hoerster, Strafe, S. 49; Papageorgw~, Schaden, S. 47 ff.; Hassemer, Selbstverstandnis, S. 52; jakobs, Norm, S. 107),_1st dam1t die Grundlage cntzogen. Bereits Nagler (Strafe, S. 723! geiGcltc die Behaupt~ng emer absoluten Strafpflichtigkeit von Verbrechen (zuletzt wurde s1evon Greco, Lebend1ges, S. 42_3f. erneuert) als einen starren ,,Doktrinarismus", der das Vorrecl:t ,,des Unfehlbarke1tsdunkels der Studierstube" bleibe und in der Praxis nie eine Rolle gesp1elt habe. 599 Binding, Grundriss, S. 230. 600 Im wesentlichcn wie hier bereits Nagler, Strafe, S. 585 ff., 721 ff. 601 So der Vorwurf Hassemers, WestEnd 2006, 77 gegen die Vergeltungslehren. (Hassemer

spielt darin an auf Maurach, AT4, S. 77.) .. . 602Hassemer, Selbstverstandnis, S. 47. -Ebenso BVerfGE 72, 105, 114;Hornle, St1aftheorien, S. 16; dies., Strafbegründungstheorien, S. 30; Gdrditz, Staat 49 (2010), 351,359 f.; Roxzn, Schlussbericht, S. 178; ders., Ai:iR 59 (2011), 13; Weigend, Kommentar, S. 31 f. 603 Insoweit zustimmend Stuckenberg, Vorstudien, S. 487. 604 Hassemer, WestEnd 2006, 75.

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das weitere soziale Leben Beste zu machen. Nach hiesigem Verstandnis hingegen ist der Rechtsgrund der Strafe ,,allein das Verbrechen selbst" 6º5, allerdings unter dem Blickwinkel seiner Bedeutung nicht nur für das konkrete Opfer, sondern für die betroffene Rechtsgemeinschaft als ganze. Das hier vorgeschlagene Begründungsmodell mythologisiert die Strafe nicht, aber es verfallt auch nicht dem gegenteiligen Irrglauben, die Aufgabe der Straflegitimation lasse sich auf den Status eines technischen Optimierungsproblems herunterrechnen. Sein Grundgedanke ist von grofüer Einfachheit: Den Tater trifft eine rechtliche Mitverantwortung für den Fortbestand des freiheitlichen Zustandes, in dem er lebt. An dieser Mitverantwortung wird er in der Strafe festgehalten, indem auf seine Kosten die Wechselbezüglichkeit von Mitwirkungspflichterfüllung und Freiheitsgenufl bestatigt wird 606. Legitimes Strafrecht ist definitionsgemafl Bürgerstrafrecht; es gibt kein anderes 6º7 . 3. Der Verbrechensbegriff Hugo Halschners Die hier entwickelte Konzeption ist keineswegs so neuartig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Spathegelianer Halschner hat sie vielmehr in wesentlichen Zügen vorweggenommen. ,,Nicht die Verletzung dieses oder jenen rechtlichen Gutes, sondern die in ihm sich kund gebende gewaltthatige Auflehnung wider die Macht des Rechts" bildet in den Worten Halschners ,,das Moment im Wesen des Verbrechens, das die Strafe als seine rechtliche Folge fordert"6° 8 • Der Staat, und nur er, sei ,,das Rechtssubjekt, an welchem in Wahrheit das Verbrechen begangen wird" 6º9• Damit scheint Halschner den einzelnen Bürger und sein Recht einseitig den Stabilitatsinteressen der Allgemeinheit unterzuordnen 610. Dem ist aber nicht so, denn es widerspricht hegelianischem 605

Hdlschner, Deutsches Strafrecht, S. 31. Insofern ka~n ~an mit Hegel (Grundlinien, § 100 A, Werke Bd. 7, S. 191) sagen, der Ve:·urte1lte -:rer~c 111 semer Bestrafung als Vernünftiges geehrt. Wenn Merkel (Willensfreiheit, S. 133) 111 d,escr Wendung lediglich das ,,ranzige Pathos verjahrtcr Kitschformeln" zu schmecken vcrmeint, so vcrkcnnt er den mit ihr verbundenen Anspruch: auch den Straftater als Bürger anzuerkcnnen. I? ~iner Zeit blühenden Praventionsdenkens ist dieses Anliegen von unvermmderter Aktuahtat. - Eme Ehrenrettung der Hegelschen Forme! unternimmt Sinn, Funktion, S. 127 f. 607 Zur hiesigen Kritik an der Kategorie eines Feindstrafrechts: Pawlik, Tcrrorist, S. 38 ff. 608 Hdlschner, Deutsches Strafrecht, S. 562. 609 Hdlschner, Preufüsches Strafrecht, S. 216. - Inhaltlich übereinstimmend Abegg, Lehrbuch, S. 158 f.; Kostlin, Revision, S. 40; ders., System, S. 3. 610 In diesem Sinne wurden Hegel und scine Schüler bereits im spaten 19.J ahrhundcrt vcrstanden; so l~btR._ Schmidt (Rückkehr, S. 17), daB in Hegels Vcrbrechenslehre ,,die Unrechtshandlung 111,tBez,ehu_ng auf das Interesse der Gattung und von deren lnteressenstandpunkt aus v01~ Staat_unterdruckt, dem Strafzwang unterworfen wird ". Die politischen Praferenzcn haben sich seither diametral gewandelt; an der (nunmehr zum AnlaB dcr Kritik genommenen) kollekt1v1st1schcn Hegel-Interprctation durch viele Strafrechtlcr hat sich jedoch nichts gcandert; reprasentativ N eubacher, Jura 2000, 515 f. 606

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

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Denken, sich mit einer abstrakten Entgegensetzung der Kategorien des Allgemeinen und des Besonderen zufriedenzugeben. Das Allgemeine, das Recht an sich, sei, so betont Halschner, für das Verbrechen unerreichbar 611.Aber, so fügt er hinzu, es sei eine ,,wesenlose Abstraktion, wenn ich mich dessen getrosten soll, dafl mein Recht niemals durch Unrecht, Verbrechen verletzt, aufgehoben werden kann"6 12. Dies gelte um so mehr, als ,,das Recht [... ] nicht selbst Zweck [ist], sondern Mittel für das sittliche Le ben des Menschen" und ,,darum einen Werth für dasselbe nur [gewinnt], indem es den Menschen den Genufl der Güter, welche nothwendige Bedingung ihrer sittlichen Existenz sind, wirklich gewahrt und sichert" 613. ,,Nur in seinem endlichen, concreten Dasein, in den von ihm geordneten Zustanden des socialen Lebens" ist Halschner zufolge ,,das Recht dem Verbrechen überhaupt zuganglich, und es ist Rechtsverletzung, indem es sich gegen eine concrete Berechtigung, ein concretes rechtliches Gut als sein Object wendet" 614.Deshalb setze das Verbrechen ,,in allen Fallen die Beschadigung eines solchen rechtlichen Gutes voraus"615.Damit gelingt dem Hegelianer Halschner jene Vermittlungsleistung, an der der kantisch gepragte Dualist Feuerbach gescheitert ist. Verbrechen und Strafe ereignen sich zwar in der Sphare des Allgemeinen; dieses Allgemeine gewinnt seine Wirklichkeit und, was entscheidend ist, seine strafrechtliche Erhaltungswürdigkeit aber erst vermittelt durch das Besondere - die von Halschner . genannten kon 1ueten Berec h tigungen o d er e·· uter 616. Der Niedergang des Hegelianismus verhinderte, dafl Halschners komplexes Verbrechensverstandnis sich durchsetzte6 17. Unter den Verlusten, die die deutHdlschner, Deutsches Strafrecht, S. 561. Hdlschner, Deutsches Strafrecht, S. 561. 613 Hdlschner, Deutsches Strafrecht, S. 561. 614 Hdlschner, Deutsches Strafrecht, S. 561. - Ganz ahnlich formuliert der Neuhegelianer H. Mayer im Jabre 1936: Zwar sei jedes Verbrechen ,,ein Angriff gegen den Rechtsfrieden der Nation überhaupt, gegen die volkische Sittenordnung als solche". Je?och lebe das Ganze ,,nicht als cinc leere Abstraktion in der Nacht, in der allc Kühe schwarz smd, sondern ebcn als die Einheit in der Vielheit in der Fülle der Einzelcrscheinungen" (H. Mayer, Strafrecht, S. 96). 615 Hdlschner, Preufüsches Strafrecht, S. 214. 616 Wer in der Verbrechenskonzeption Halschners trotzdem einen politisch gefahdichen Kollektivismus am Wcrk sieht, der sei auf einen ganzlich unvcrdachtigcn Vorlauferverw:esen: John Locl,e, den Stammvater des Liberalisnms. Locl,e zufolge erklart der Sri:aftater 1:1'tse'.ner Missetat, nach einer anderen Vorschrift als der der Vernunft und allgememen Gle1chhe1t zu leben. Deshalb begehe der Verbrecher, der einem einzelnen seiner Mitmenschen em Unrecht zufüge, dadurch zuglcich ein ,,Verbrechen gegen_das ganze Menschengeschlecht"; _denn er lockere und zerreiBe jenes Band, das die Menschhe1t vor Unrecht und Gewalttat schutzcn salle (Locke, Abhandlungen, S. 204). Ist die Position Halschners totalitarismusverdacht,g, so ist es die Auffassung Lockcs nicht minder. (Sie wird denn auch von Eser [FS Mestmacker, S. 1007 f.] als Schritt zur Marginalisierung des Opfers zugunsten der ,,hoheren Gemeinschaft" 6l l

612

kritisiert.) . . 617 Gewisse Nachwirkungen zcitigte es in der frühen Diskussion über d,e Untersch_e,dung zwischen dem Objekt des Vcrbrechens und dem Objekt der Handlung. Heute w1rd

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C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

sche Strafrechtswissenschaft um die Wendc vom 19. zum 20.Jahrhundert billigend in Kauf nahm, ist dies eincr der bedauerlichsten. Fern davon, ,,lediglich vom Standpunkt einer metaphysischen Idee aus das Recht meistern zu wollen"618,nimmt ein an Halschner orientiertes Verbrechensmodell dank sciner Verknüpfung des Mitwirkungspflicht- und des Freiheitsschutzgedankens den Allgemeinheitsbezug von Straftaten ernst, ohne dadurch jedoch das Gewicht des Eigenrechts der Bürger nur im geringsten zu schmalern. Der Blick auf einigc heikle dogmatische Fragen bestatigt die Überlegenheit dieser Konzeption gegenüber einem einseitig kollektivistischen Strafrechtsverstandnis. So hat die von den kollektivistischen Auffassungen betriebene Beschrankung des Strafrechtsverhaltnisses auf die Beziehung zwischen Bürger und Allgemeinheit zur Folge, dag sie der Unrechtsrelevanz des Erfolgseintritts nicht Rechnung zu tragen vermag. Seinen Abfall von den Forderungen der Rechtsgemeinschaft hat der Tater mit dem Absch)ug der pflichtwidrigen Handlung vollstandig manifestiert. Erschopft sich das materielle Verbrechensunrecht in diesem Abfall, mug konsequenterweise für die Gleichbehandlung von (beendetem) Versuch und Vollendung pladiert werden, weil Tatsache und Grad der Pflichtverletzung nicht durch den Eintritt eines durch sie verursachten Erfolges berührt werde 619 • ~icse lJntersc_heidung _zumeist als eine solche zwisc~en ,,Rechtsgut" und ,,Tatobjekt" disku~1ert (Ub~rbhck be1 Fzolka, _Rec~tsgut, S. 187 ff.). Die ihr zugrunde liegende Idee ist jedoch alter als 11e Rechtsguttheonen B111dingsund Liszts; als ihr Urheber gilt Schütze (Amelung, Rechtsguterschutz, S. 102). Dessen Ausführungen decken sich über weite Strecken mit der Position Halschners. ,,Der von jeglichem Verbrechen mittelbar aber wesentlich betroffene Gegenstand" i~t auchnach S_chütze ,,stets ein und derselbe: die Rechtsordnung, gegen welche der ver~rechen_sche _E111zelw11le ha1:delnd sich auflehnt; das juristische Objekt". Dieses werde aber ,,111emals111semem Wesen, 111emalsals Ganzes getroffen, sondern immer nur als aussere Ersche111ung, immer nur in einem seiner Bestandtheile". So stelle ,,als unmittelbares so zu sagen praktisches Object eines Delicts sich dar: ein individuelles Rechtsverhaltnis al~ con~reter_Bestandtheil der Rechtsordnung, oder genaucr: die Rechtsordnung, individualisirt 111em_em:hrer strafr~chtlich geschützten Rechtsverhaltnisse" (Schiitze, Theilnahme, S. 64). Dabe1 ble1bt Schutze mdessen 111ch:stehen. Von dem normativ, als Rechtsverhaltnis gefafüen Ob¡ekt des V~rbrechens untersche1det er das naturalistisch verstandene Objekt der Handlung: ,,d~n Le1_bdes erschlagenen: verletzten, gemisshandelten Menschen, die gestohlene Uhr des X, die gef_alschteUrkunde, die durch Betrug dem X entzogene Geldsumme" (aaO, S. 64). So sucht Schutze 111 emer Theone zusammenzubringen, was seiner konzeptionellen Grundstruktur n_ach111chtzusammenpaík den bereits im Abschwung begriffenen Hegelianismus, d_er- mo111st1sch das Ganze de_rVernunft in den Einzelheiten der Wirklichkeit verkorpert s1eht, und das aufstrebende duahst1sche Denken, das norm- und naturwissenschaftliche Betrachtung zu unhintergehbaren Gegensatzen erklart. 618 . So der durchaus reprasentative Vorwurf von Honig (Einwilligung, S. 116) gegen die Hegehaner. 619 So in der Tat Gleispach, Willensstrafrecht, S. 1069, 1072; Kadecka, ZStW 59 (1940), 20 H.; Schaffstezn, Verbrechen, S. 137; naher Cheng, Ausnahme, S. 94 f. - In neuerer Zeit ist die These von der Irrelevanz des sogenannten Erfolgsunwerts für Unrecht und Schuld vor allem von Vertretern eines subjektivistisch zugespitzten Finalismus vertreten worden (Horn,

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So zu argumentieren heifü jedoch, ein - gemessen anden Mafütaben Halsch620 ners - unterkomplexes Verbrechensverstandnis zugrunde zu legen . Es wird dabei der Umstand auger Acht gelassen, dag die Mitwirkungspflicht gegenüber der Allgemeinheit Legitimation und klare Konturen erst durch ihren Bezug auf die Freiheitssphare der einzelnen Bürger erhalt. Mit dieser begründungstheoretischen Abhangigkeit des Allgemeinen vom Besonderen ware es unvereinbar, das verbrecherische Unrecht auf eine Absage an die Forderungen der Rechtsgemeinschaft zu reduzieren und den Umstand, dag der Tater immerhin den realen Freiheitsraum des Opfers in zurechenbarer Weise eingeschrankt hat, auf den Status einer augerhalb des eigentlichen Unrechtsvorwurfs angesiedelten objektiven Bedingung der Strafbarkeit zu reduzieren 621 • Vielmehr macht es für die Bewertung des Unrechtsgehalts einer Handlung, die gerade um der Rechte und Güter des einzelnen willen nicht stattfinden sol!, einen erheblichen Unterschied, 0 6 die von ihr betroffene Person tatsachlich Einbugen erleidet oder ob die Absage des Taters an seine Mitwirkungspflicht folgenlos bleibt. In Halschners Worten ist das besondere Recht, gegen welches das Verbrechen sich richtet, nicht nur das nothwendige Mittel, um die verbrecherische That in die Erschei~ung treten zu lassen, sondern auch das Mag der Rechtsverletzung" 622 • Deren Umfang bestimmt sich aus diesem Grund maggeblich nach ,,[der] Qualitat des verletzten Rechtes und de[m] quantitative[n] Umfang, in welchem es verletzt wurde" 623. Welch ein reserviertes Verhaltnis die Vertreter des kollektivistischen Verbrechensverstandnisses zum Gedanken der Selbstbestimmung des einzelnen und damit zur Idee personaler Freiheit haben, wird exemplarisch deutlich an ihrem Mifürauen gegenüber einem Rechtsinstitut, das wie kaum ein zweites aufschlufüeich für die Grenzziehung zwischen individueller Selbstbestimmung 624 . 1nen 1st: . dem I nst1tut . der E.111w1 ·11· und Sozialpflichtigkeit d es emze 1gung . Eine unter Strafe verbotene Handlung wird wegen einer von dem Beschadig;en dazu ertheilten stillschweigenden oder ausdrücklichen Erlaubnig weder straflos noch in minderem Grade strafbar", so lautet Art. 123 Abs. 1 des von

'

Gefahrdungsdelikte, S. 79 ff.; Sancinetti, Unrechtsbegründung, _S.131; Zielinski, Erfolgsunwert, S. 214 ff.; ders., FS Schreiber, S. 548; Dornseifer, GS Armm Kaufmann, S. 434 ff.; Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik, S. 160 f.; Lüderssen, ZStW 85 [1973), 292; ferner Hoyer, Strafrechtsdogmatik, S. 181 f., 189 f., 230). . . 620 Treffend Burchard (Irren, S. 160): ,,Die für polizeistaatliches Strafrecht charaktenst1sche Sanktionierung des sich gegen die Gemeinschaft auflehnenden Taters ist unrechtstheoretisch verabsoluticrt." -Ahnlich Lippold, Rechtslehre, S. 313 f., 392. 621 Ebenso jüngst Burchard, Irren, S. 172, 187 ff.; im Grundsatz wie hier Stratrnwerth, SchwZStr 75 (1963), 254 f.; Maiwald, Bedeutung, S. 71; nahestehend Rath, Rechtfert1gnngselement, S. 115. 622Hdlschner, Preufüsches Strafrecht, S. 222. 623 Hdlschner Preufüsches Strafrecht, S. 223. 624 Die Bede~tung der Einwilligung als Gradmesser für das Verhaltnis zwischen Staat und Staatsbürger wird herausgestellt von Maurach!Zipf, AT 1, § 17 Rn. 36 f.

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Feuerbach verfafüen Bayerischen Strafgesetzbuches von 1813625 • Dies entspricht einer bis weit in das 20.Jahrhundert hinein verbreiteten Auffassung. Weil das Verbrechen - so heifü es in einer Arbeit aus dem Jabre 1857 - ,,nur die Verletzung des Rechts, nicht die Verletzung eines Rechts" sei, ,,kann die ErlaubniG des zufallig (in und mit der Rechtsordnung) verletzten Individuums eine Straflosigkeit für die ,vom Individuum erlaubte Rechtsverletzung' nicht herbeiführen"6 26 • Auch Binding betont, daG die Einwilligung ihre Kraft, dem Angriff die Rechtswidrigkeit zu nehmen, nicht ,,aus dem Vorrate eigener Machtvollkommenheit" schopfe - ,,Niemand kann erlauben oder für rechtlich bedeutungslos erklaren, was der Staat verboten hat!" -, sondern allein aus dem Umstand, daG der Wille des Privaren mit dieser Wirkung gesetzlich ausgestattet sei627 • Die Materialisierung des Unrechtsurteils führt in der Folgezeit darüber hinaus zu der Forderung nach einer umfassenden Inhaltskontrolle erteilter Einwilligungen. Die Frage Dohnas, ob sich in der Einwilligung ein ,,objektiv begründctes Wollen" kundgegeben habe628 ; der Rückgriff Sauers auf das Gemeinwohl als MaGstab für die Anerkennungswürdigkeit der vom Einwilligenden vorgenommenen Einschatzung seiner Interessen und Werte629 ; und die Forderung Maurachs, dem ,,asozial ausgeübte[n] Rechtsverzicht" die strafrechtliche Beachtlichkeit abzusprechen 630 - sie alle variieren ein und dasselbe Motiv: die Wirkungskraft der Einwilligung soll auf solche Falle beschrankt bleiben, in denen der Einwilligende nach den jeweiligen sozialen MaGstaben ,,vernünftig" entschieden hat. Solche Auffassungen sind, wie haufig betont wird, unvereinbar mit einem Rechtsverstandnis, das auf dem Grundsatz originarer, nicht von der politischen Gemcinschaft abgeleitcter Freiheit des einzelnen beruht 631 • Dessen ungeachtet wirkt der EinfluG dieses Denkens bis in die Gegcnwart fort. Noch bis weit in die Nachkriegszeit wird aus der ,,Bedeutung auch des Individualrechtsguts als objektivem Wert der Gemeinschaft"6 32 geschlossen, die Selbstverletzung sei ,,an 625

Zitiert nach: Bttschmann, Textbuch, S. 474. Bohlau, GA 5 (1857), 492. - Vertretcr dieser Auffassung in der ersten Halfte des 19.Jahrhundens: Thibaut, Beytrage, S. 33; Dabelow, Lchrbuch, S. 54 f.; Geib, Lehrbuch, Bd. II, S. 212; für Verbrechcn, die nicht bereits tatbestandlich ein Handeln gegen den Willen des Verletzten voraussetzen, auch Hepp, Theorie, S. 60. - Erik Wolf erneuerte diese Position in einer prograrnrnatischen Schrift aus dern Jahre 1933: ,,Die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund verschwindet. Sie ist ein ausgepragt individualistischer Gedanke, der ursprünglich aus dern Privatrccht starnrnt." (Erik Wolf, Krisis, S. 38) 627 Binding, Handbuch, S. 708. 628 Dohna, Rechtswidrigkeit, S. 147.- Zustirnrnend Hartmann, Grünhut's Zcitschrift 27 (1900), 728 ff. - Gegcn die ,,abgottische Vorstellung vorn Staate als ,Selbstzweck"' hingegen Kefller, Einwilligung, S. 50. 629 Sauer, Grundlagen, S. 336; ders., Strafrechtslehrc, S. 135 f. 630 Maurach, DStR 1936, 122. 631 Dolling, GA 1984, 85; Gallas, Beitrage, S. 168, 179; Rinck, Deliktsaufbau, S. 34; Ronnau, Willensrnangel, S. 34 f.; Roxin, FS Dreher, S. 337 f.; Weiglin, Honig, S. 105. 632 ]escheck/Weigend, AT, § 34 I 2 b (S. 375); Weigend, ZStW 98 (1986), 62 f., 65 f. 626

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwir!eungspflicht

l. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

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sich sozialschadlich «6 33 oder gar rechtswidrig 634 und die Einwilligungsbefugnis sei auf Strafgesetze beschrankt, die durch ein mangelndes Interesses des Staates gekennzeichnet seien 635 . Selbst ein dezidiert liberaler Autor wie Noll spricht dem Selbstbestimmungsrecht des Einwilligenden lediglich die Bcdeutung eines Abwagungsgesichtspunktes zu 636 • Im Rahmen dieser Abwagung seien dem Wert der Freiheit Erfolgs-, Handlungs- und Gesinnungsunwert der verletzenden Handlung gegenüberzustellen 637 . Wenn das geschützte Rechtsgut danach als wertvoller anzusehen sei als die pcrsonliche Freiheit, sei die Einwilligung unwirksam 638 • Der methodologische Hauptmangel derartiger Auffassungen besteht in ihrer Abstraktheit: Sie isolieren das Allgemeine gegenüber dem Besonderen. Die tragende Saule von Halschners Verbrechenskonzeption ist demgegenüber die Einsicht, daG das Recht in den Rechten allererst Wirklichkeit gewinnt, die Rechte aber den Zweck haben, ihrem Inhaber ein selbstbestimmtes - Halschner zufolge ein sittliches - Leben zu ermoglichen. Deshalb hort in Halschners Verstandnis eine Handlung, die sich ihrem Erfolg nach als Beschadigung einer Person darstellt, auf, eine Rechtsverletzung zu sein, sofern der Beschadigte in die betreffende Handlung eingewilligt hat 639 • Durch die Einwilligung wandelt sich der Sinn des Geschehens vom Übergriff auf einen fremden Rechtsbereich 640 zur Mithilfe bei der Nutzung rechtlich zugestandener Selbstbestimmung . Diesen Bedeutungswandel hat eine auf ein Konkret-Allgemeines bezogene

Geppert, ZStW 83 (1971), 963. Schmidhi:iuser, FS Welzel, S. 813 ff. 63 5 Geerds, GA 1954, 263; ders., ZStW 72 (1960), 43. 636 Noll, Rechtfertigungsgründe, S. 74 f.; ders., ZStW 77 (1965), 15, 19. - Ebenso ]escheckl Weigend, AT, § 34 II 3 (S. 377); Geilen, Einwilligung, S. 89 f.; Bichlmeier, JZ 1980, 54 Fn. 15; Dolling, GA 1984, 84, 90 f.; Geppert, ZStW 83 (1971), 952 ff.; Otto, FS Geerds, S. 609; _1rn Grundsatz auch Chatzikostas, Disponibilitat, S. 148 (allerdmgs soll der Anwendungsbere1ch paternalistischer Erwagungen danach auf jene Falle beschrankt bleibcn,_ in dene~ die Ei~sichtsfahigkeit des Rechtsgutinhabers als nicht ausreichend bewertct w1rd). - Fur das Z1vilrecht Miinzberg, Verhalten, S. 310 ff. 637 Noll, Rechtfcrtigungsgründe, S. 75. 638 Noll, ZStW 77 (1965), 15. - Berechtigte Kritik an diesem Ansatz üben LK-Ronnau, Vor § 32 Rn. 153; Kohler, AT, S. 246; Roxin, AT 1, § 13 Rn. 23; Arzt, Willensmangel, S. 43; Derksen, Handeln, S. 89 f.; Fateh-Moghadam, Einwilligung, S. 101; Ingelfinger, Grundlagen, S. 200; Kioupis, Notwehr, S. 102; Ohly, Volenti, S. 66, 209; Roxin, FS Arnelun_g, S. 277; 1!,udolphi, ZStW 86 (1974), 87; Sarhan, Wiedcrgutmachung, S. 231 f. - Sternberg~L1eben schhdh sich diescr Kritik zunachst an (Sternberg-Lieben, Schranken, S. 58), urn wemge Seiten spater (aaO, S. 70 f.) doch wieder auf das Abwagungsmodell zurückzufallen: . _ . . 639 Hi:ilschner, Preuflisches Strafrecht, S. 231 f. - Dies sol! allerdmgs mcht 1m Hmbhck auf sogcnannte unverauGerliche Rechte geltcn, zu denen insbcsondere __ Leben, Ge~un~heit, Freiheit und Ehre gehorten (Hi:ilschner,aaO, S. 232, 235 ff. unter Anknupfung an eme altere Tradition [vgl. etwa Feuerbach, Lehrbuch, § 35]); da ge gen überzeugend Luden, Thatbestand, 63 3 634

S.415ff. 640 Naher dazu unten S. 220 ff.

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l. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Verbrechenslehre nachzuvollziehen 641 . Die der Rechtsgemeinschaft geschuldete Mitwirkungspf1icht soll der Selbstbestimmung der Bürger dienen und darf deshalb nicht gegen diese ausgespielt werden. Die Freiheit des einzelnen ist der Grund des Rechts und nicht lediglich ein disponibler Reflex von Allgemeininteressen. III. Vergeltungstheorie

und Strafverhangung

Der Tater eines Verbrechens verletzt nach dem vorstehend Ausgeführten seine Bürgerpflicht, an der Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes der Freiheit!ichkeit mitzuwirken. Seine Unrechtstat andert freilich nichts daran daB der Straftater Bürger ist und bleibt 642 ; deshalb wird er aus seiner Verantwo:tung für das Gelingen des Projekts einer wirklichkeitshaltigen Freiheitsordnung nicht entlassen. Lediglich der Inhalt seiner Verpflichtung verandert sich. Der legal handelnde Bürger tragt zur Stabilisierung eines Zustandes realer Freiheitlichkeit dadurch bei, daB er den anderen das Ihrige an Freiheit belafü. Im Falle des Straftaters wandelt sich die primare Erfüllungspf1icht zu einer sekundaren Duldungspflicht 643 : Weil der Delinquent dem Grundaxiom aller Recht!ichkeit - dem Satz, daB es gesicherte Freiheit nur um den Preis der Pflichterfüllung gibt - zuwidergehandelt hat, muB eres sich gefallen lassen, daB auf seine Kosten die Unaufloslichkeit des Zusammenhanges von FreiheitsgenuB und Mitwirkungspflichterfüllung bestatigt wird. Der Name des bestatigenden Akts lautet: Strafe 644 • Das Moment der ,,Rechtsminderung" 645 ist einer derart verstandenen Strafe immanent. ,,Der Normverletzer hat sich nicht nur an einem Begriff vergangen, sondern an einer rechtmafügen sozialen Wirklichkeit, und hat die für die allgemeinen Bedingungen der Freiheit im taglichen Leben bestehenden Voraussetzungen geschwacht oder zu deren Erosion beigetragen." 646 Umgekehrt muB auch die Strafe ein merkliches Übel sein, ,,wenn sie als Zeichen für die fortdauernde Gültigkeit der Norm nicht nur registriert, sondern ihre Botschaft auch geglaubt

641

Treffend Renzikowski, FS Hruschka, S. 660. Aus der alteren Literatur: Binding, Entstehung, S. 5. - Aus dem neueren Schrifttum: Cancio, ZStW 117 (2005), 288; Gossel, FS Schroeder, S. 43; Schiinemann GA 2001, 211; ders., FS Nehm, S. 226. -Abwegig ist es daher, wenn Steinert (Gerechtigkeit, S. 344) die ,,reine Form der Strafe" in dem Verhalten des Herrn erblickt, ,,der in einem plotzlichen Wutanfall ein Tier oder emen Sklaven prügelt". 643 B_inding,Normen, Bd. I, S. 425,550; ders., GrundriB, S. 227. 644 Ahnlich Henkel, Einführung, S. 4l2;jakobs, Strafe, S. 32; ders., Rechtszwang, S. 33 f.; Arthur Ka~fma~n, FS Henkel, S. 106. - Nahestehend ferner Roxin (JuS 1966, 385), der diesen Gedanken 111 semen spateren Arbeiten jedoch nicht weitervcrfolgt hat. 645 Erik Wolf, Wesen, S. 33. 646 Feijoo Sánchez, FS Jakobs, S. 94. 642

C. Strafe als Antwort auf die Verletwng einer Mitwirkungspflicht

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werden soll" 647 : ,,Actions speak." 648 Indem der bestrafte Bürger nach MaBgabe des AusmaBes seiner Pflichtverletzung zur Starkung jenes Glaubens herangezogen wird, wird demonstriert, daB jemand, der den bestehenden Zustand realer Freiheitlichkeit angreift, sich dadurch selbst um einen Teil seiner Freiheit bringt. Deshalb reprasentieren die Strafmittel jeweils spiegelbildlich jenen Vorteil, der nach neuzeitlicher Grundüberzeugung die Begründung einer Rechtsordnung legitimiert: den Zugewinn an Handlungsoptionen 649 , symbolisiert in den bei650 den Grundwerten der bürgerlichen Gesellschaft: Freiheit und Eigentum • So651 wohl die ,,Entziehung der auBern Welt mit der Befriedigung, die sie gewahrt" , durch die Freiheitsstrafe als auch die zwangsweise Entziehung von Vermogenswerten durch die Geldstrafe sind darauf angelegt, den Handlungsspielraum des Delinquenten zu reduzieren. Freilich mag das Moment der realen Zwangsausübung in weitem Umfang hinter die zeichenhafte Stigmatisierung des Taters zurücktreten. Je sicherer eine Gesellschaft ihrer selbst ist, desto eher nimmt sie das Verbrechen als ein ,,Unfestes und Isoliertes" wahr und desto milder konnen dann auch die Strafen ausfallen 652 • Der sozialen und kulturellen Evolution ist dabei ein weites Feld eroffnet 653 • Eine gewisse Drastik der strafenden Sanktion ist aber unverzichtbar; denn anders lafü sich die Konnexitat von Mitwirkungspflichterfüllung und FreiheitsgenuB nicht überzeugend vermitteln. Wird die Verhdngung der Strafe demnach dadurch legitimiert, dafl der Tater sich eine Verletzung seiner Bürgerpflicht vorwerfen lassen muB, so muB sich 654 die Strafhohe konsequenterweise nach dem Ausmafl dieses Unrechts richten • 647 Puppe, FS Gri.inwald, S. 479. - Ahnlich jakobs, System, S. 14 f.; ders., Strafe, S. 32; ders., Rechtszwang, S. 33; ders., FS Samson, S. 51; Baurmann, GA 1994, 371 ff.; Diez Rippolés, ZStW 113 (2001), 524; ders., Rechtstheorie 36 (2005), 336; Dolling, ZStW 102 (1990), 15 ff.; Hamel, Strafen, S. 157 ff.; Hornle, Strafbegri.indungstheorien, S. 28; Koller, ZStW 91 (1973), 71; Stiibinger, Idealisiertcs Strafrecht, S. 305. 648 Bottom, zitiert nach: Bleckmann, Strafrechtsdogmatik, S. 129. 649 Kindhauser, Gefahrdung, S. 157. 65 º Bleckmann, Strafrechtsdogmatik, S. 129. 651 Stahl, Philosophie, Bd. II/2, S. 698. 652 So bereits Hegel, Grundlinien, § 218 Z, Werke Bd. 7, S. 373; ausführlich dazu Miiller-Tuckfeld, Integrationspravention, S. 280 ff. - Ebenso Nagler, Strafe, S. 615 f. - Mit Schild (ARSP 70 [1984], 104) mag man deshalb davon sprechen, daB es gerade der absolute Strafbegriff ist, der die (auf die konkrete Bestimmung der Art und des Grades des Strafübels beschrankte) Wahrheit der relativen Straftheorien begründet. 653 Eindringlich Jung, Sanktionensysteme, S. 31 ff. (unter Rückgriff auf die Zivilisationstheorie von Norbert Elias); ferner Androulakis, ZStW 108 (1996), 314 ff., insbesondere 320; Frisch, MaBstabe, S. 179 ff. - Keller weist darauf hin, da/\ selbst Kants spiegelnde Wiedervergeltung ein soziales Deutungsmuster impliziere, namlich ,,die Annahme, der Unwert der Tat sei im gegenstandlichen Schaden verkorpert". Dies sei zu Ka'.1ts~eiten.noch Ter! der Lebenswelt gewesen (Keller, Wahrnehmung, S. 292). Annahernd ze1tgle1chm1t der auf dieser Annahme beruhenden Lehre vom corpus delicti seien die Korperstrafen zurückgetreten (Keller, ZStW 107 [1995], 464). 654 Wie hier vor allem Frisch, FG BGH, S. 279; ders., FS Mi.iller-Dietz, S. 247 f. - Fi.ir eine Anbindung des Strafzumessungsrechts an die Katcgorien der Strafbcgründung bereits

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C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Entsprechend der komplexen Beschaffenheit dieses Unrechts als einer Pflichtverletzung gegenüber der Rechtsgemeinschaft, die sich in der zumindest versuchten Beeintrachtigung konkreter Freiheitsbelange materialisieren muB, bemifü sich die Intensitat des dem Tater als Bürger zurechenbaren Unrechts zum einen nach dem Umfang der Freiheitsbeeintrdchtigung, die er seinem Opfer tatsachlich zugefügt oder die er doch jedenfalls in seinen Vorsatz aufgenommen hat; zum anderen ist maBgeblich der Grad der Jlloyalitat des Taters gegenüber dem Projekt einer wirklichkeitshaltigen Freiheitsordnung, der sich insbesondere danach bemifü, in welchem AusmaB er seine Obliegenheit zur Rechtstreue6 55verletzt hat 656. Unter diesem Gesichtspunkt schlagt es zum Vorteil des Taters zu Buche, wenn ihm - beispielsweise durch ein provozierendes Vorverhalten des Opfers657- die Erfüllung seiner Mitwirkungspflicht in auBergewohnlicher Weise erschwert worden ist. Auch das Nachtatverhalten des Taters kann das Gewicht seiner vorangegangenen Pflichtverletzung abschwachen. Der Delinquent, der sich nach der Tat freiwillig um Wiedergutmachung bemüht, dokumentiert damit seine Rückkehr in den Verband rechtstreuer Bürger und setzt seine Straftat

ders., ZStW 99 (1987), 386f.; ders., GA 1989, 355f.; ders., Straftatsystem, S.12ff. (wenngleich noch auf der Basis einer zum Teil abweichenden straftheoretischen Ausgangsposition); ebenso Hornle, Strafzumessung, S.127ff.; dies., JZ 1999, 1087f.; dies., Kriterien, S.105ff.; Silva-Sánchez, FS Hassemer, S. 628 ff.; Schiinemann, Funktion, S. 189; ders., Pladoyer, S. 225; ders., GA 1986, 350 f. (ihm zustimmend H.-]. Albrecht, Strafzumessung, S. 52 f.). - Widersprochen wird damit der herki:immlichen Strafzumessungsdoktrin, welche die Wertungen der ':7erbrechenslehre lediglich als Teilmomente innerhalb einer umfassender angelegten Beurteilungsgrundlage berücksichtigen will (exemplarisch Bruns, Ncues Strafzumessungsrecht, S.15 ff.). Zurückgewiesen wird insbesondere auch die sogenannte ,,Spielraumtheorie" der R_echtsprechung (zu dieser Haas, Strafbegriff, S. 274 ff.; Streng, FS Müller-Dietz, S. 875 ff.), die ebenfalls auf der Annahme beruht, daB die Strafzumessung sich nicht im Ausgleich des verschuldeten Unrechts erschi:ipfen ki:inne. Naher zur Kritik an der Spielraumtheorie: Frisch, FG BGH, S. 274 ff.; Hornle, aaO, S.17 ff.; Kohler, Zusammenhang S. 22 ff.; Schiinemann, GA 1986, 308 ff. 655 Zu dieser Kategorie unten S. 307 ff. 656 Die Befürworter einer ,,tatproportionalen Strafe" neigen überwiegend dazu, den erstgenannten Aspekt einseitig in den Vordergrund zu rücken (exemplarisch Ashworth, Kriterien, S. 85 ff.; van Hirsch, Begründung, S. 66 ff.; Hornle, Kriterien, S. 103 f.). Dies hat zur Folge, daB sie eine Reihe anerkannter Strafzumessungsfaktoren insbesondere den Rückfall - nicht oder nur mit Mühe zu erfassen vermi:igen. So wendet sich Hornle (Strafzumessung, S. 159 ff., 165 ff.) gegen jede Berücksichtigung von Vortaten bei der Strafzumessung; Ashworth (aaO, S. 91 f.) und van Hirsch (aaO) pladieren dafür, dem Ersttater einen StrafnachlaB zu gewahren und erst bei weiteren Taten zur vollen ,,verdienten" Strafe zu greifen; Schiinemann (Akzeptanz, S. 195) greift zur Verteidigung der Strafverscharfung bei Rückfall auf den Gedanken der Sicherungs-Spezialpravention zurück, den er als ein ,,gegenüber der Tatproprotionalitat selbstandige[s] Prinzip" einführt. - Kritisch zu der darin liegenden Engführung des Gedankens der Tatproporitonalitat Frisch, Einleitung, S. 10. 657 Zur Strafzumessungsrelevanz der ,,:'.'fotwehrnahc" einer Tat vgl. insbesondere Hillenkamp, Vorsatztat, S. 269 ff.

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zu einem punktuellen Ereignis herab 658. Strafverscharfend wirkt es sich demgegenüber aus, wenn die einzelne Unrechtstat innerhalb ~er Biographie d_es_Taters nicht ein isoliertes Einzelereignis darstellt, sondern srch als Bestandte1l erner ganzen kriminellen Karriere erweist. Zu Recht werd~n daher Vorstr~~en ~es!ªters, vor allem wegen ,,einschlagiger" Delikte, zu semen Lasten berucks1cht1gt. Deutlicher und nachhaltiger als in dieser Form der Nichtanerkennung selbst des ihm gegenüber ausdrücklich bestatigten Rechts kann man sich die Absage 659 des Taters gegenüber der Rechtsordnung kaum vorstellen." Auch der an mehreren Stellen des deutschen Strafgesetzbuches auftauchende Topos von der ,,Verteidigung der Rechtsordnung" (§§ 47 Abs. 1, 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StGB) findet im Rahmen des hiesigen Kategoriensystems eine zwanglose Deutung. Er markiert danach nicht etwa einen dem vorliegenden Ansatz fremden Einbruch generalpraventiven Denkens 660, sondern er bezieht sich auf jene Falle, in denen das Unrecht des Taters, bemessen nach dem konkret herbeigeführten Schaden, relativ gering, aus der - letztlich entscheidenden - gesamtgesellschaftlichen Perspektive gesehen hingegen erheblich ist. Wie bereits erwahnt, wird der soziale Bedeutungsgehalt einer Tat mitbestimmt durch den Zustand, in dem sich die Rechtsordnung zu diesem Zeitpunkt befindet. Dieser Zustand ist bedeutsam nicht nur für das allgemeine Niveau der von einer Rechtsgemeinschaft verhangten Strafen; er beeinflufü auch die Bewertung des konkret in Rede stehenden Normbruchs. Ein Tater, der eine in ihrer Geltung bereits geschwachte Norm noch ein weiteres Mal bricht, verletzt seine Mitwirkungspflicht starker als ein Tater, der von einer weitestge~e~d befolgten ~or~ abweicht; dies rechtfertigt eine (maBvolle) Scharfung deqemgen Strafe, die be1 · .. 661 unangefoc htener Normge 1tung angeze1gt ware . . . Der Gesichtspunkt der sogenannten Spezialprdvention (insbesondere 1111hrer Rcsozialisierungskomponente) hat ,,innerhalb des staatlichen Strafens" seinen Platz662. GemaB der Bestimmung des§ 2 S. 1 StVollzG hat die Spezialpravention Im wesentlichen wie hier Frisch, FG BGH, S. 281, 294. Frisch, FS Müller-Dietz, S. 256; tendenziell anders (die Rückfallvorschriften trügen besonderen Praventionsbedürfnissen Rechnung) ders., GA 2009, 389. - Zu den Gegenstim658

659

men oben S. 118 Fn. 656. 660 So aber die vorherrschende Deutung dieses Merkmals (grundlegend BGHSt 24, 40, 46; ebenso S/S-Stree/Kinzig, Vorbem §§ 38 ff. Rn.20 m.w.N.; MK-Franke, § 47 Rn. lb;Jes~heckl Weigend, AT, § 79 I 5 [S. 838 f.]; Lackner!Kiihl, § 47 Rn. 5; Maiwald, GA 1983, 49 ff.; Zzpf, FS Bruns, S. 211 ff.). 661 Frisch, FG BGH, S. 280 f., 285, 305; Kohler, Zusammenhang, S. 53 ff., 59 f. - Zu Lasten des Taters wird hier also die fehlende Rechtstreue anderer Bürger in Anschlag gebracht. Entgegen einem mitunter erhobenen Vorwurf (Altenhain, AnschluBde!ikt, S. 323, 325; ~eck, Unrechtsbegründung, S. 68) entbehrt dieser Zurechnungs~kt ~ber mcht der erforderhc_hen Grundlage. Der Tater delinquiert, wenn man so sagen darf,_111 eme konkrete_ gesel'.schafthche Sicherheitslage hinein; in seiner Rolle als Bürger kann er s1ch von diesem die soZJale Bedeutung seiner Tat mitpragenden Kontext nicht distanzieren. 662 Schmidhauser, AT, 3/17.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

vorrangig die Strafvollstreckung zu pragen 663 . Dort ist sie in der Tat unverzichtbar: Eine Rechtsgemeinschaft, die den Tater imAkt der Bestrafung in seiner Bürgerrolle anspricht, muB auch den Vollzug dieser Strafe in Respekt vor dem Bürgerstatus des Taters ausgestalten; alles andere ware Barbarei 664 • Nach einer treffenden Bemerkung Nolls kann die Rechtsgemeinschaft nicht erwarten, daB der Delinquent seine Verantwortung ihr gegenüber erkennt und übernimmt, wenn ~ie ihre Ve1:antwortun~ ihm gegenüber ablehnt 665 • Gerade weil der Tater Bürger 1st und ble1bt, hat er emen Anspruch darauf, daB der entsozialisierenden Wirkung de~ Frei~eitsst~afe so"'.eit wie moglich entgegengewirkt und ihm dabei geholfen w1rd, seme Pnmarpfhcht zu aktiver Loyalitat in Zukunft ordnungsgemaB 666 zu erfüllen • Deshalb muB der Strafvollzug auch eine ,,chanceneroffnend-,soziale' Seite" aufweisen 667 , dem Tater also nach Moglichkeit mehr Handlungskompetenz und soziale Teilhabe vermitteln 668 .

IV. Bürger und Externe Eine Pflichtverletzung kann nur begehen, wer Subjekt der in Rede stehenden P~icht.ist. Ebe?sowenig wie eine Person, die nicht Partei eines Kaufvertrags ist, die Pfüchten emes Kaufers verletzen kann, vermag jemand, der nicht Adressat 663 Die Vorschrift des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB gebietet nichts Abweichendes· dazu Frisch FG BGH, S. 308. ' ' 664 Hassemer, Selbstverstandnis, S. 68. 665 Noll: Begründung, S. 26. -:-Eingedenk seiner fortbestehenden Bürgerrolle ist freilich auch d_erTater selbst dazu verpfhchtet, an seiner Resozialisierung mitzuwirken. (Dies wird verbre1tet bestntten: Ex.emplansch Baumann u. a., Alternativ- Entwurf cines Strafvollzugsgesetzes, S. 59; zuletzt Muller-Steznhauer, Autonomie, S.234 ff.) DaG § 4 Abs. 1 StVollzG davon a_bs1eht,die Erfül(ung dieser _Pflicht disziplinarrechtlich zu erzwingen, lafü sich auf pragmatische Grunde stu:z~n;_ ,,geh?grnde Lernprozesse zu installieren, geht nicht ohne die Zustimmung und fre1w1lhge M1tw1rkung des Gefangenen" (Calliess FS Müller-Dietz S. 116· sachlich übereinstimmend Dolling, FS Lampe, S. 607 f.;Jakobs, AT, 1/47; Schoch, Ve;stehen: S...318; Sc_hultz, ZStW 92 [1980],_621).Vollzugsloc_k~rungen sowie die vorzeitige Entlassung d~rfen emem Gefangenen, der s1ch allen Resoz1ahs1erungsangeboten hartnackig verweigert, hmgegen durchaus verwe1gert werden (Bohm, Strafvollzug, Rn. 15 m.w.N.; a.A. zuletzt Müller-Steznhauer, aaO, S. 268). 666 Ahnl_ich Greco, Lebendiges, S. 446 f.; Hornle, Strafzumessungslehre, S. 125; Kleinert, Betroffenhe1t, S. 208; Roxzn, Schlussbencht, S. 179; Schild, SchwZStr, 99 (1982), 380 ff.; ders., FS L_enckner, S. 308; v. Schlotheim, MschrKrim 50 (1967), 4, 12. - Nichts anderes besagt die ,,soz1a_leVerantwortung", von der § 2 S. 1 StrVollzG spricht. Entgegen den Bedenken des Alten:ative_ntwurfs (B_aumannu.a., Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, S. 55) liegt dann keme~wegs eme unzulassige Moralisierung des Strafvollzugs, sondern geradezu eine straftheoret1sche Selbstverstandlichkeit. 667Kohler, AT, S. 50. 668 DaG die V~llstr~ckung der strafrechtlichen Sanktionen primar die Aufgabe der ,,Herstellung von Part1z1pat10nschancen" hat, ist insbesondere von Calliess herausgearbeitet worden (Callzess, Theone, S. 64, 155 ff.; ahnlich jüngst Hassemer, Selbstverstandnis, S. 77).

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

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der Pflicht zur Mitwirkung an dem gemeinsamen Freiheitsprojekt einer Rechtsgemeinschaft ist, dieser Pflicht zuwiderzuhandeln 669 • Nur Mitwirkungspflichtige konnen also kriminelles Unrecht verwirklichen, nur ihnen gegenüber kann von einem legitimen Einsatz der staatlichen Strafgewalt gesprochen werden. Wer aber besitzt den Status als Mitwirkungspflichtiger? Hobbes hat diese Frage in einer für sakulare Rechtsordnungen bis heute maBgebenden Weise beantwortet. ,,Der Zweck des Gehorsams ist Schutz", so lautet die berühmte Forme! aus dem Leviathan (1651)670 • Nur derjenige, der mir Sicherheit garantieren kann, kann mich zu Recht zwingen, bestatigt Leibniz wenige Jahre spater (1669-1671) 671 . Der Staat sei zuvorderst eine ,,Sicherheits-Gesellschaft [... ], d.h. eine Vielheit von Menschen, die in der Erwartung leben, wechselseitig für ihre Sicherheit zu sorgen"672 . Weil und sofern die Rechtsgemeinschaft ihren Bürgern Daseinssicherheit vermittelt, darf sie diesen demnach die Verpflichtung zur Wahrung fremder Daseinssicherheit auferlegen 673 • Bei der betreffenden Rechtsgemeinschaft braucht es sich nicht notwendig um einen Staat im herkommlichen Sinne zu handeln. Eine supranationale Gemeinschaf t kann bei hinreichendem Entwicklungsstand ihrer Institutionen in die Rolle eines subsidiaren oder gar komplementaren Rechtlichkeitsgaranten hineinwachsen. Entscheidend ist, ob es ihr gelingt, ihre normativen Anforderungen zu einer habituell beachteten und in diesem Sinne tatsachlich wirksamen Lebensordnung zu verdichten; ihre Mitglieder müssen ,,nach der Ordnung leben und nicht lediglich bestraf t werden"674 .

669 Im Ergebnis wie hier jakobs, Straftheorie, S. 37; ders., Norm, S. 116; ders., ZStW 118 (2006), 846 f. 670Hobbes, Leviathan, 21. Kapitel (S. 171). 671 Leibniz, Schriften, S. 155. 672 Leibniz, Schriften, S. 161. 673 Die Regeln über den persiinlichen und raumlichen Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (§§ 3 H. StGB und § 1 VStGB) erweisen sich in dieser Perspektive als Bestimmungen über den Kreis der miiglichen Subjekte jener strafrechtlich relevanten Mitwir~un?spflicht. Es ist deshalb irrig, die Bestimmungen des lnternationale~ Strnfrechts_ als ob¡ektive Strafbarkeitsvoraussetzungen zu behandeln, welche die Strafbarke1t emes an s1ch umversellen Unrechts zu Gunsten des Taters einschranken (so aber die herrschende Meinung: Fischer, Vor §§ 3-7 Rn. 30; Lackner!Kühl, § 3 Rn.1O; LK-Gribbohm, Vor § 3 Rn. 415; MK-Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 3; SIS-Eser, Vorbem. §§ 3-7 Rn. 6l;jescheck!Weigend, AT, § 18 V [S. 180]; Altenhain, FS Puppe, S. 353; die Einordnung geht zurück auf Beling, Verbrechen, S. 102 ff.). Die Normen des Internationalen Strafrechts kiinnen vielmehr keine andere verbrechenssystematische Einordnung erfahren als die übrigen in den Tatbestanden des Besonderen Teils enthaltenen Anforderungen an die Subjektstellung auch. Sie sind mithin als ausgelagerte, vor die Klammer gezogene Tatbestandsmerkmale zu verstehen (ebenso NK-Bose, Vor § 3 Rn. 9, 51; ders., FS Maiwald, S. 69;Jakobs, AT, 5/12;jefiberger, Geltungsbereich, S. 128; Neumann, FG BGH, S. 99 f.; ders., StV 2000, 426; ders., FS Müller-Dietz, S. 603 f.; Zieher, Strafrecht, S. 46; im Grundsatz auch Liebelt, Strafrecht, S. 147 und wohl auch Oehler, Strafrecht, Rn. 123). 674Jakobs, Norm, S. 117.

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Der Bereich genuinen Kriminalunrechts wird dadurch in doppelter Hinsicht begrenzt. Erstens muB der Beschuldigte mitzustandig für die Bestandssicherung einer bestimmten Rechtsordnung sein. Dies setzt nach dem vorstehend Ausgeführten voraus, daB diese Rechtsordnung auch ihm reale Freiheit vermittelt. Zweitens muB der Beschuldigte sich gerade gegen diese Rechtsordnung vergangen haben. Das hat er zum einen, wenn er das institutionelle Fundament angreift, dem die betreffende Rechtsordnung ihre reale Geltungskraft verdankt. Zum anderen ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn der Beschuldigte die Integritatsinteressen von Personen beeintrachtigt, die mit der Rechtsgemeinschaft des Taters in der gleichen, spezifisch engen Weise verbunden sind wie dieser selbst. Diesen Anforderungen wird das Territorialitdtsprinzip (§ 3 StGB) in hervorragender Weise gerecht. Das Territorialitatsprinzip stellt ein regional begrenztes Universalitatsprinzip dar 675. Mit seiner Statuierung tragt der einz_elneStaat_der mens~henrecht!ichen Gleichheit aller Personen Rechnung, die s1ch auf semem Geb1et aufhalten: Ihnen allen sucht er die Realbedingungen personaler Existenz zu gewahrleisten, indem er es übernimmt, strafrechtlich relevante Beeintrachtigungen der Daseinssicherheit eines jeden von ihnen zu ahnden 676. Weil sie von ihm Schutz erwarten dürfen, schulden die Bewohner seines Territoriums ihm ihrerseits Gehorsam 677. Einen ganzlich anderen Rechtsstatus als ein Angreifer aus dem Inneren der Rechtsgemeinschaft besitzt, wer selbst auflerhalb dieser Gemeinschaft steht: Weil er nicht zum K.reis derer gehort, denen die betreffende Rechtsordnung ~eale Freiheit eroffne~, trifft ihn umgekehrt auch keine Mitzustandigkeit für 1hren Fortbestand. Die Erstreckung der Geltung einer nationalen Strafrechtsordnung auf auBenstehende Angreifer, wie das Schutzprinzip und das passive Pers~nalitdtsp:inzip s~e~ornehmen, laBt sich deshalb nicht als Ausdehnung des Bere1chs genumen Knmmalunrechts verstehen. Die heute herrschende, auf den Gedanken des Rechtsgüterschutzes fixierte Strafrechtsdogmatik ist allerdings konstitutionsbedingt blind für die Sonderstellung jener Prinzipien: Fast jedes 675

S. Walther, FS Eser, S. 938. Ahnlich S. Walther, FS Eser, S. 940. 677 . Deit~rs (Legalitatsprinzip, S. 99) halt diese Erwagung nicht für zwingend. Es ware, w1e er ausfuhrt, auch denkbar, dem Auslander nur so lange den Schutz der eigenen Rechtsordnung zute1l werden zu lassen, wie er sich selbst an deren Normen halt, und ihn anderenfalls als Externen zu behandeln. Die Moglichkeit einer solchen Konstruktion besteht freilich_nicht nur gegenüber de~ Auslander, sondern, wie Fichte (Grundlage, S. 253 f.) es vorgefuhrt ha:, gleJChermaGen, ¡a sogar primar gegenüber dem inlandischen (und deshalb in ¡e~e_mFall_m d,en ,,Bürgervertrag" einbezogenen) R~chtsbrecher. Konsequent durchgeführt, wmde De1ters Vorschlag daher zur 111chtnur parnellen, sondern vollstandigen Ersetzung des St~afrechts durch ~in _vermutlich wesentlich robusteres Feindbekampfungsrecht führen. -. Da~ 11_1 ~ 9 St_G~kod1fiz1erte Ubiquitatsprinzip erstreckt den Anwendungsbereich des Ternt~naht~tsprmz1ps all~rdmgs we1t über die im Text genannten Voraussetzungen hinaus; das gleiche gilt fur das akt1ve Personalitatsprinzip (§ 5 Nr. 8 b, 11 a, 15 sowie § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB). Kritisch dazu Pawlik, FS Schroeder, S. 375 ff. 676

C. Strafe als Antwort auf die Verletwng einer Mitwirkungspjlicht

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

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Rechtsgut - die Ausnahmen ergeben sich aus der Auslegung der einzelnen Deliktstatbestande des Besonderen Teils - kann sowohl von internen als auch von externen Angreifern beeintrachtigt werden; die Behauptung einer prinzipiellen Differenz zwischen beiden Tatergruppen erscheint aus dieser Warte grundlos678_Die altere, noch nicht im Banne des Rechtsgüterschutzdogmas stehende Lehre des Internationalen Strafrechts war sich dieses Unterschiedes hingegen durchaus bewufü. Gleichgültig ob sie die Abwehr externer Angreifer als eine Art Notwehr begriffen 679, ob sie sich auf ein ,,natürliches Strafrecht" berie681 fe11680 oder ob sie gar das ius belli zur Anwendung brachten -jedenfalls waren sich die alteren Autoren weitgehend darüber einig, daB in diesem Fall die gewohnlichen Begründungskategorien des Strafrechts versagten. Worum es statt dessen geht, hat niemand klarer auf den Punkt gebracht als Ernst Immanuel Bekker. Wie er in seiner 1859 erschienenen Theorie des heutigen Deutschen Strafrechts ausführt, darf der Staat Externe zwar n_ichtbestrafen. ,,Aber das punire ne peccetur scheint ihm unter andern Schutzmmeln gestattet werden zu müssen. Feuerbachs Theorie der Generalpravention dürf te gerade auf die Vergehn der Auslander im Ausland Anwendung finden k~nnen. ?er Staat schützt sich durch das Verbot. Das genügt für die nicht entsch1eden femdlich gesinnten. Diese schreckt er ab durch die für die Uebertretung des Verbots gedrohte Strafe. Der Vollzug der Strafe dient nur z~r ~ekraftigun? der Drohung."682 Gegenüber AuBenstehenden kommt m1thm das gew1sserm~~en nackte Anliegen des Rechtsgüterschutzes zum Tragen. Es geht darum, Gefahrdungen des inlandischen Rechtsgüterbestandes nach Moglichkeit zu verhindern. Wenn dies in einzelnen Fallen nicht gelungen ist, soll die Verhangung von ZwangsmaBnahmen gegen die Urheber der eingetretenen Beeintrachti?u~g zu einer Erhéihung der künftigen Gütersicherheit beitragen. Es geht, m1t emem Wort, in diesen Fallen der Sache nach nicht um Strafe, sondern um pure Gefahrenabwehr683. 678 Zu den Konsequenzen eines konsequent rechtsgüterschutzorientierten lnternationalen Strafrechts im einzelnen Pawlik, FS Schroeder, S. 360 ff. 679 So insbesondere Abegg, Bestrafung, S. 42 f., 51 f.; v. Bar, Lehrbuch, S. 224; ders., Gesetz, Bd. I, S. 114; ders., GA 15 (1867), 664; ders., GS 28 (1876), 454; nahestehend Arnold, GS

9 (1857), 340.

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Berner, Wirkungskreis, S. 149 ff.; ders., Lehrbuch , S. 251. Abegg, Lehrbuch, S. 89 f.; Heffter, Lehrbuch, S. 41; Henke: Handbuch, S. 607 f.; wohl auch Bauer, Lehrbuch, S. 75 (,,feindliche Handlung") und Heznze, GA 17 (1869), 746 ff. 680

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(,,Kriegszustand" ). 682 Bekker, Theorie, S. 192 f. . 683 In der Weimarer Zeit war diese Einsicht nur noch bei wenigen Autoren lebend1g. (Treffend insbesondere Wegner, Unrecht, S. 20 f.; ders., FG Frank, Bd. I, S. 152 f.: Bei ~em Schutzprinzip handele es sich ,,nicht um ein eigentliches Gelten der deutschen Gebo_tefur den A:uslander [... ], sondern mehr um Koerzition", so daG in diesen Fallen ,,reme Sicherung, 111cht aber Strafrecht zur Anwendung kommt". Ferner Smend, Verfassung, S. 83: Es ha_ndeles1ch um eine ,,Sonderart gewisser justizformiger Funktionen, die sachlich aber 111cht,w1e sonsnge

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Bislang wurde der Blick auf jene Akteure gelenkt, welche eine bestehende Rechtsordnung von auBen her attackicren. Daneben gibt es aber auch Tater, die ihre Taten auflerhalb funktionierender Friedensordnungen oder unter dem Schutz von insgesamt pervertierten Rechtssystemen begehen. Die Delikte des Vi:ilkerstrafrcchts, für die nach § 1 VStGB das Weltrechtsprinzip gilt 684, fallen typischerweise unter diese Kategorie der sogenannten ,,Makrokriminalitat"685. Vi:ilkerstraftaten sind maBgeblich dadurch gekennzeichnet, daB sie die dementaren Mindestbedingungen von Rechtlichkeit negieren, die einzelne Person also durch einen Angriff auf die institutionellen Grundbedingungen ihrer Existenz treffen 686. Diese Taten werden entweder im Rahmen eines bewaffneten Konflikts verübt - der Fall der Kriegsverbrechen (§§ 8-12 VStGB) - oder aber sie werden durch eine Ordnung gedeckt, die bestimmten Opfergruppen systematisch die Anerkennung ihrer fundamentalen Freiheitsrechte versagt- die Falle des Genozids sowie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§§ 6 f. VStGB). 06 in diesen Fallen der Sanktionierung der betreffenden Taten die Bedeutung zukommt, die Beachtlichkeit eines bestehenden Zustandes der Rechtlichkeit zu bekraftigen, ist zweifelhaft. Zwar wird die Existenz eines solchen Zustandes nicht schon dadurch ausgeschlossen, daB die Weltgemeinschaft nicht staatlich oder quasi-staatlich verfafü ist 687.Zumindest aber müfüen die Bewohner gerade der labilen Weltregionen in der GewiBheit leben ki:innen, daB die Ausübung von Herrschaftsgewalt und die Austragung bewaffneter Konflikte in der Regel vi:ilkerstrafrechtskonform erfolgen und daB Übergriffe, so sie dennoch geschehen, einigermaBen zuverlassig geahndet werden. Von einer solchen

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

• · d. R d · 688 S leben die sogenannten Sachlage kann gegenwart1g m~h\b ie . e e ~mT . b~waffneter Konflikte689, ,,neuen Kriege", der heute welt u er"".1~gen e yp .. 690 Vor allem . d von der systematischen Terrons1erung der Bevolkerung .: . . gera \n t die Bereitschaft zur effektiven Ahndung von Rechts?ruchen m e1aber h 1ichen mit der innerstaatlichen Sanktionierung von Kap1talverVbrec~~n nem verg. r · h o portunitatserwagungen ab. or ieunertr~ghchen AduslmaB votndpr~S1at1nsl~ti:sv~rhangung hier nicht die Bedeutung H ntergrun rnmm e ~ 6 k ··f . ::n die1Beachtlichkeit eines bestehenden Rechtl~chkeitszu;a~~~s zu edra bt~~ ' . .stet vielmehr einen Beitrag zur künftigen (Re-) u t1v1erun~ e~ ~::ff:~:~e~esellschaft: Durch die Befriedigung des G~n~gtuu;~.stbe~~~::~:: f die Ausschaltung besonders stark komprom1tt1e~te_r ª.er . der Op er, . d . MaBgeblichkeit und Durchsetzungsfah1gke1t emes menDemonstra~1on er . d d 692 11der Boden für eine dauerhafte Verbesschenrechthchcn Bas1sstan ar s so_ 693 serung des bisherigen Zustandes bere1tet werden . 688 Naher du Bois-Pedain, Wollu st , S. 223 · 1 . r·¡ t bewaffneten Konflikte sind 689 Nur noch etwa zehn Prozent aller we twelt ge u 1r en Staatenkriege im k_lass(schen__ Sinn (Mü~kler, PVSf:21[:i~? 584). 690 Dazu eindnnghch Munkler, Knege, S. 28 ., 691 H. ]ager, Makroverbreche1,1, S. 345 ~-- l ¡- her Sanktionen stellt die deutschsprachige 692 Diesen erhofften Effekt volkerstra ie~ 1t icb ..h ( gl Eser FS Trechsel, S. 234; . . 1 1 .h r Leg1t1mat10ns emu ungen v . , dl Literatur m den M1tte pun ,t l re .. f. 1 S 507 ff. Neitbacher Grun agen, .. " S 349f• M"ller Volkerstra 1ec1t, · ., ' W Merkel, ,,Troster , . h., 1 ºs 1500 f. Werle Viilkerstrafrecht, Rn. 86; dens., ZSt 109 S. 424 f.; Triffterer, FS Jesc ec ,, · ·, ' [1997], 821). b . d iifteren aufmerksam gemacht: Jakobs, GA 693 Auf diese Differenz hat Jakobs ereits ..e~ . S f. ders FS Spinellis, S. 465; ders., 54 1994, 18; ders., Strafe, S. 47 f.; ders., Selbs_tver;i~: d:1;,oi;-Pedain, Wollust, S. 211, 222 ff.; DeiHRRS 2004_'.94 ders., No~m'._S.117f. Ah:tzen S. 64. -Keller (FS Lüderssen, S. 429) betont, ters Legahtatspnnz1p, S. 96, Lude. rssen, N hh' . fl·chtet der Sache nach eme andere ' . 11 M. r d . d r Mensc e1t verp l ' " daG eine Norm, die a e itg ie e1 . e 1· h l nsol1'dierten Staates geltenden Nor. . • h lb · m wesent lC en rn . k Norm" se1 als die mner a . emes 1 laGt ausdrücklich offen, ob es sich be1 den San .men. H. ]ager (Makroverb1echen, S. 346) . S f h delt oder aber eine MaGnahme m1t .. f h 1 t tlich um eme tra e an h tionen des Volkerstra rec ts" e z . dV •¡ ·m i·echtsformigen Verfa ren zur . z h b ·k t un erurte1 ung 1 d en ar__e1 1· h S f ·echtsdogmatik die sich bislang ohnePiinalen Elementen," ieV urec der herkomm ic en tra 1 ' k . . Voraussetzung h at · - 011 hd z l --lkerstrafrechtlicher San t10111erung . h . d F age nac en wec ,en v 0 d h . d d hin nur spora isc. mlt . er r . ZStW 123 [2011], 40 f.), wird die Besan er e:t es befaGt hat (insowert knt1sch auch F. Meye1, h. d. d herkiimmlichen innerstaatlichen d sen Untersc 1e zu em . h f Viilkerstrafrechts zwar geseh en, es A b d Steiner die Viilkergememsc a t . . S0 betonen zwar m os un , f d . 11 Strafrecht aber b agate isiert. . . l • ·h . Entstehungsphase be an en. · ¡ d Nationa staaten 1111 1er l " befinde sich ,,heute d ort, wo SIC 1 ¡-~~ . (viilkerstrafrechtlichen) Gewaltmonopo s bei der Herausbildung und Konso 1 i;rm:g e~ts 1 t' nierenden viilkerstrafrechtlichen Ords eS111e1f un ,or10allemclarín einen Beitrag zu der Er(Ambos!Steiner, JuS 2001, 10). Manl_gel . d z k ··11 • echt 1c1er tra cn v ' " . "( O nung hege er wec vo ,e1r . ··11 . f). htl1·chen Wertordnung zu le1sten aa ' .d. . emer vo ,e1(stra rec . . 1 . h richtung un d Konso l z ze1u_ng . A b nd Steiner hingegen emen ax10 og1sc en . Z e1·1en wei t er. suggeneren m os. uh . 1·1ch e 13) Nur wemge S f echt· Dient das mnerstaat · ¡- h d ..berstaat 11C em tra r ·" l Gleichklang zwischen staat ic em un ~ b d M nschen innerhalb eines Staates, verfo gt Strafrecht dem friedlichen Zusammen e en el: h eG. n h1·11aus"(aaO 13). Ebenso un. z k ..b . staat re e 1enze ' .. das Viilkerstrafrecht d iesen wec u e1 . ' h . ·kennen daG die Leistung des Vo 1. E W 1 d Roxm nuc s1e e1 , genau argumentieren ser, er e un .

L;

Justiz, dem Rechtswert dienen, sondern der Machtdurchsetzung des Staates".)- Das Gleiche gilt für die heutige Strafrechtsdogmatik. Hier sind an erster Stelle Stratenwerth!Kuhlen, AT, § 4 Rn. 18 zu nennen: Beim Schutzprinzip gehe es ausschlieGlich um MaGnahmen der Selbstverteidigung. ,,Sie in das Gewand der Strafe zu kleiden, ist ein traditioneller MiGbrauch, der die auf eincn sozialethischen Vorwurf bezogene Strafe denaturiert." Den Sonderstatus der auf das Schutzprinzip gestützten MaGnahmen betonen ferner Jakobs, Vergangenheitsbewaltigung, S. 62; ders., ZStW 118 (2006), 847; Deiters, Legalitatsprinzip, S. 91 (das Schutzprinzip ersetze die an sich sachentsprechende Behandlung des Taters als Feind) und Kaspar, MDR 1994, 546. Van einer ,,notwehrahnliche[n] Situation" spricht MK-Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 40. 684 In§ 6 Nr. 2-9 StGB werden weitere Anwendungsfalle des Weltrechtsprinzips statuiert. Die Heterogenitat der dort erfaGten Tatbestande und das kraG untcrschiedliche Gewicht der darin beschriebenen Handlungen sind schon haufig kritisiert worden (grundlegend Merkel, Jurisdiktion, S. 240; zuletzt MK-Ambos, § 6 Rn. 3; Wang, Strafanspruch, S. 127 ff.; Weigend, FS Eser, S. 958). 685 Grundlegend zu dieser Terminologie: H. Jager, Makroverbrechen, S. 326 ff. 686 Der hier vorgeschlagenen Begriffsbestimmung steht diejenige Kiihlers nahe, der das universale Verbrechen definiert als ,,Negation der Verfassungs- und zugleich Viilkerrechtsfahigkeit, also einer Fundamentalbedingung der intern rechtsverfaGten Selbstandigkeit eines Verbandes (Volkes) bzw. Staates" (Kohler, JRE 11 [2003], 457). Die herrschende Meinung fafü den Bereich der Viilkerstraftaten weiter; dazu naher Weigend, FS Eser, S. 966 ff. 687 Darauf stellt Deiters (Legalitatsprinzip, S. 95) maGgeblich ab.

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C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirku.ngspflicht

1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Die vom Vi:ilkerstrafrecht erfafhen Taten verdienen aus diesem Grund nicht die Bezeichnung als Kriminalunrecht 694 • Der moralische Unrechtsgehalt derartiger Taten ist freilich haufig so exorbitant, daB sich der Rückgriff auf den Gedanken des malum in se geradezu aufdrangt. Das zentrale Problem eines solchen Ans_a~zes~esteht indessen darin, daB sich auf seiner Basis keine überzeugende Leg1timat10n (gerade) der Strafe mehr entwickeln laBt. Einem Delinquenten das malum der Strafe nur deswegen aufzuerlegen, weil er seinerseits ein malum vers~huldet hat, liefe auf eine bloBe Sequenz zweier Übel und damit auf jene Vers10n der Vergeltungstheorie hinaus, die bereits seit Hegel als diskreditiert gelten kann 695 • Der spezifischen Zielsetzung vi:ilkerstrafrechtlicher Sanktionen lafü sich deshalb nur dadurch angemessen Rechnung tragen, daB man die einschlagigen Delikte auBerhalb des regularen Strafrechts ansiedelt und sie einer starker praventionsorientierten Sonderdogmatik unterstellt. DaB dies unter Wertungskerstrafrechts allenfalls darin bestehen kann, der ,,Durchsetzung" wünschenswerter Rechtsstandards (Eser, FS Trechsel, S. 233; Hcrvorhebung hinzugefügt) bzw. dem ,,Attfbau einer nat'.onalen Mens~he~rechtskultur" (Wlerle, ZStW 109 [1997], 821) zu dienen und auf diese We1se ,,zur Verw1rkhchung des uralten Menschheitstraums vom ewigen Frieden" beizutragen (Roxzn, Zukunft, S._390). A~f den Unterschied, der zwischen der Bestatigung einer best_ehen~enund ~er Etabherung emer künftigen Friedensordnung besteht, gehen aber auch sie mcht em. Im L1chte des herrschenden Rechtsgüterschutzdenkens betrachtet ist diese Unbefange~hcit wenig v~rwunderlich. Wie an früherer Stelle (S. 64 f.) gezeigt w~rden ist, korrespon~1ert der Au_snchtung des Strafrechts auf die Aufgabe des Rechtsgüterschutzes eine pravent10nstheoret1~che Deutung. der Strafe und damit eine Auffassung, die - wie Kohler (Strafrecht, S. 93) pragnant formuherte - ,,das Strafrecht vollstandig in Polizeigewalt und die Strafrechtszwecl~e vollstandig in polizeilichen Schutz aufgehen" laík Haben die Sanktionen de_s~trafrechts sich dem~ach insgesa7:1t~nter _Verweis auf ihre künftigen Effekte zu legitim1e1en, so kann es auf die Untersch1edhchke1t der Ausgangspositionen nicht entscheidend ankommen. _694 . Anderer Ansicht jüngst Gierhake (Begründung, S. 157): Zwar sei die Strafe für ihre fre1he1tskonforme A_usübung auf die Verfassung der Allgemeinheit in handlungsfahigcn Instüut10nen angew1esen. Dcr Rechtsgrund der Strafe aber sei schon im vorstaatlichcn allgememen Rechtsgesetz zu finden. Dcm Satz, daG auf Unrecht Strafe zu folgen habe, komme der Rang emer ,,:Ver;1-unftnotwendigkeit" zu, ,,und zwar im gedanklich ersten Schritt auch unabhang1g von Jeghcher staatlichen Verfestigung der Rechtsverhaltnisse". 06 sich mit Hilfe der Unterschei_dun~ zwischen ~em Re~htsgrund und den Ausübungsbedingungcn lcgitimer Strafe tatsachhch die rechtsph1losoph1sche Dignitat auch solcher Strafen beweisen laGt die auGerha_lbvon etablierte_n Daseinsordnungen von Freiheit verhangt werden, erscheint indessen zwe1felhaft. Wenn die Strafe -wie Gierhake ausdrücklich konzediert - zu ihrcr freiheitsk?nf_ormen Verwirklichung auf verfaGte Gemeinschaftlichkeit angewicsen ist, dann bedeutet d1e_s11:1GegenschluG, daG eine Strafe auGerhalb derartiger institutioncller Strukturen nicht in fre1he1t~konformer We_ise_exekutiert werden kann. Mit anderen Wortcn: Gierhake begründet :'war die Sta_atsunabhang1gke1t der Strafe als cines reinen Gedankendings, nicht aber auch JCne~er tatsachhch vollstreckten Strafe. Dies aber - der Vollzug des Strafzwanges - muG aus de1:S1~htemer dem _Fre1he1tsgedankenverpflichteten Straftheorie als das eigentliche Argernis de1 Sti afe und dam1t auch als den :"ahrcn Gegenstand aller Legitimationsbemühungen gelten (o ben S. 26 ff.). Der Log1k von G1erhakes Gedankengang würde es von daher weitaus eher entsprechen, den genuinen Strafcharakter viilkerstrafrechtlichcr Sanktionen zu verneinen. 695 Oben S. 88 f. -Treffcnd du Bois-Pedain, Wollust, S. 231.

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gesichtspunkten unbedenklich ist, ergibt sich aus einem Vergleich mit dem zuvor behandelten Schutzprinzip 696 . Dürfen Auslander, die im Ausland handelnd inlandische deutsche Rechtspositionen schadigen, massiven Sanktionen unterworfen werden, so kann eine Lockerung der Anforderungen an das regulare Bürgerstrafrecht auch für den internationalen Schutz des Kernbereichs der Menschenrechte akzeptiert werden. ,,Wenn dieser Schutz dem Vi:ilkerrecht entspricht, ist seine Legitimitat nicht geringer als die des Selbstschutzes eines souveranen Staates." 697 Aber man sollte ihn bei seinem richtigen Namen nennen.

V. Das Verbrechen als Rechtsgutverletzung? Die bisherigen Überlegungen weisen eine auf den ersten Bliclc überraschende Lücke auf. In ihnen spielt jener Begriff keine Rolle, der nach herki:immlicher 698 Auffassung den ,,harte[n] Fels unseres heutigen modernen Strafrechts" u~d die conditio sine qua non materiellen Kriminalunrechts darstellt: der Begnff der Rechtsgutverletzung. Die AuBerachtlassung dieses Begriffs erfolgte jedoch aus gutem Grund; denn die Hochschatzung der Kategorie des Rechtsgutes_ ist ungerechtfertigt. Die herkunftsgeschichtliche Dignitat des Rechtsgutbegnffs wird haufig überschatzt (1.), ebenso seine kritische Potenz (2.). Vor allem aber leidet das Rechtsgutdenken an einem grundsatzlichen Konstruktionsfehler. Auf die Frage zugeschnitten, ob einem Straftatbestand ein sch~tzwür~iges Substrat (,,Rechtsgut") zugrunde liege, vernachlassigt es das praktisc_h we1tau_s.?e~eutsamere Problem, in welchem Umfang andere Personen für die Integntat dieses Rechtsgutes verantwortlich gemacht werden ki:innen; Zustandigkeitserwagungen bleiben dem Rechtsgutdenken deshalb stets auBerli_ch.Das Bild verandert sich sobald man die Kategorie des Rechtsgutes durch die der Rechtsperson ersetz~. Die Kategorie der Rechtsperson stellt gleichsam das konzeptionelle Bindeglied zwischen den allgemeinen rechtsbegrifflich-legitimationstheoretischen Überlegungen und der strafrechtlichen Zustandigkeitslehre dar. D~r Per~onbegriff verknüpft damit die Eri:irterungen des vorliegenden Abschmtts mit dem Gegenstand des folgenden Kapitels (3.). 1. Der Rechtsgutbegriff als ,,reifste Frucht der Aufklarung"?

Der Rechtsgutbegriff hat seine Wurzeln im 19.Jahrhundert. Er ?etrat die wissenschaftliche Bühne mit Birnbaums 1834publiziertem Aufsatz Uber das Erfordernifl einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens. Anders als dieser 696

Die nachfolgende Argumentation lehnt sich eng an die Ausführungen Kellers an (Kel-

ler, FS Lüderssen, S. 434). .. . . 697 Keller, FS Lüderssen, S. 434. - Zu den Konsequenzen fur die dogmat1sche Ausgestaltung dieses Rechtsgebiets Pawlik, FS Schroeder, S. 385 f. 698 Chen, Garantensonderdelikt, S. 274.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Titel vermuten lafü, ging es Birnbaum nicht etwa um eine Verteidigung, sondern im Gegenteil um eine Kritik der Rechtsverletzungslehre Feuerbachs. Dieser hatte seinen vermeintlich schlanken Verbrechensbegriff dadurch kompromittiert, daB er ihm die inhaltlich hochst diffuse Kategorie der Polizeiübertretungen an die Seite gestellt hatte 699 • Birnbaum rügte als einer der ersten die Inkonsistenz dieses Verfahrens 700 • Um diesen Mangel zu beseitigen, müsse man den Verbrechensbegriff von vornherein weiter fassen 7º 1• Als Verbrechen sei ,,nach der Natur der Sache oder als vernunftgemaB im Staate strafbar jede dem menschlichen Willen zuzurechnende Verletzung oder Gefahrdung eines durch die Staatsgewalt Ali en gleichmafüg zu garantirenden Guts anzusehen" 7º 2 . Wie diese Definition zeigt, war Birnbaum ebenso wie Feuerbach bestrebt einen metapositiven MaBstab zu formulieren, der den Ponalisierungsaktivitat~n der S_trafgesetzgeber Grenzen setzen sollte 703 • In seiner Absage an staatsutilitarist1sche Vorstellungen war Birnbaum sogar noch entschiedener als Feuerbach 7º 4 . 699

Feuerbach, Lehrbuch, § 22 (S. 46). Birnbaum, ACrim (N. F.) 15 (1834), 162, 166 ff. -Aus der neueren Literatur: NK-Hassemer/Neumann, Vor _§1 Rn. 124; Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 35 ff.; Anastasopoulozt, Dehktstypen, S. 5 f.; Fzolka, Rechtsgut, S. 15; Gkountis, Autonomie, S. 183; Sina, Dogmengesch1chte, S. 18; Schiinemann, Rechtsgütersclrntzprinzip, S. 139· Swoboda ZStW 122 (2010) 26f. ' ' ' 701 Dal3 Birnbaum mit Hilfe des Begriffs der Rechtsgutverletzung das als zu eng empfundene Korsett von_Feuerbachs Rechtsverletzungslehre sprengen wollte, wird im heutigen Schnfttum nahez~ emhelhg anerkannt (Amelung, Rechtsgütersclrntz, S. 45 ff.; ders., Lehre, S. 354 ff.; Ehret'. L1szt, S. 151 ff.; Fzolka, Rechtsgut, S. 157 f.; Gkountis, Autonomie, S. 186; Grew, Lebend1ges, S. 335; Hassemer, Thcorie, S. 37; Low, Erkundigungspflicht, S. 265; Mazer-Wezgt, Vcrbrechensbegriff, S. 123 ff.; Silva Sánchez, Expansion, S. 62; Wrage, Grenzen, S. 57; Dubber, ZStW 117 [2005], 505; K. Giinther, Pflichtvcrletzung, S. 451 f.; Roxin, FS Has~emer, S. 576, 5_90;Swoboda, ZStW 122 [2010], 27 f.; Vormbaum, ZStW 107 [1995], 751 f.; zuruckhaltende; Szna, Dogmengeschichte, S. 25. - Die Behauptung Kargls [JZ 1997, 283], das h'.stonsche Mot1v für den Rechtsgutgedanken habe sich aus seinen strafbarkeitslimitierenden Eigenschaften gespeist, wi~erspri~ht dem Textbefund.)- Zwingend war die von Birnbaum gezogene Konseq_ue~zallerdm?s kemeswegs. Wic sich am Beispiel Droste-Hülshoffs zeigt, war es_uns_chwermoghc~, mlt H1lfe der Rechtsverletzungslchre weitreichcnde Pi:inalisierungsbedurfn'.sse zu be_fned1gen;man mufae nach dem Vorbild Christian Wolffs (dazu unten S. 134) led1glich auf die mmelbar staatsgefahrdenden Wirkungen von Lastern wie Unsittlichkeit und Irreligiositat abstellen (so Droste-Hiilshoff, NACrim 9 [1827], 617 ff.). Eindringlich dazu Greco, Lebendiges, S. 344 ff. · 702 Birnbaum, ACrim (N. F.) 15 (1834), 179. 703 S~hr k!ar auch ~irnbaum, ACrim (N. F.) 25 (1837), 495 f. - Nachdrücklich hervorgehoben wird d1eser Ges1chtspunkt von Neubacher, Jura 2000, 514 f. und Schiinemann Rechtsgüterschutzprinzip, S. 140 f. ' 704 . Vgl. Birnbaum, ACrim (N. F.), 15 (1834), 180. - Fiolka (Rechtsgut, S. 52) bezeichnet Birnbaums Rechtsgutlehre deshalb zu Recht als ,,gemafügt liberal"; ahnlich Otto, AT, § 1 R_n.28. - Gko_untzs(Au:onom1e, S. 186 f.) nimmt Birnbaum dagegen allzu unkritisch als Fortfuhrer der ,,hberal-ph1loso_phischen Richtung" in Anspruch. Am anderen Ende der mi:ighchen Deutungen bewegt s1ch Wrage (Grenzen, S. 43), der Birnbaum einen paternalistischen Ausgangspunkt zuschreibt. 700

C. Strafe als Antwort attf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

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Angesichts der Unbestimmtheit von Birnbaums Verbrechensbegriff wies seine 5 Rechtsgutlehre allcrdings nur ein sehr geringes l~ritisches Potential auf7° • ~nsofern bietet sie ,,ein Beispiel für einen f!ieBenden Ubergang vom naturrechthchen zum positivistischen Denken" 7º6• • • Es verwundert deshalb nicht, daB nach dem hegelianischen Zwischensp1el 111 der deutschen Strafrechtslehre der Positivist Binding in den siebziger Jabren des 19.J ahrhunderts auf Birnbaum zurückgriff7º 7 . Binding, der nach einem bekannten Wort Armin Kaufmanns dem Rechtsgutdogma allererst ,,Bürgerrecht in der Strafrechtsdogmatik verschafft" hat 708 , wies dem Rechtsgutbegriff freilich eine rein dogmatische Funktion zu. Das Rechtsgut hatte in Bindings Lehre die Funktion, eine Verbindung zwischen den Normen der Rechtsordnung und den tatsachlichen Gegebenheiten der AuBenwelt herzustellen; es diente ,,zur Verdeutlichung der Normen" 7º9 . So erlaubte Bindings Normentheorie es !hm Iediglich, das Verbrechen als den mit Strafe_bedro~te~ schu~dhaften B_ruchemer Norm zu definieren 71º; sie enthielt aber keme Kntenen, m1t deren H11feer dem unterschiedlichen Gewicht von Straftaten wie Mord, Diebstahl oder Schlittenfahren ohne Gelaute hatte Rechnung tragen konnen 711. Diese Lücke in seiner 712 Theorie suchte Binding mit der Rechtsgutlehre zu schlieBen : Die unter dem Gesichtspunkt des Ungehorsams gegen den Normbcfehl vollig gleichwertige_n Delikte konnten nach dem Wert der Rechtsgüter abgestuft wcrden, gegen die sie sich richteten 713 ; in der ,,Schale des Ungehorsams" sei die ,,Gutsverletzung als Kern" enthalten 714 . Rechtspolitische Ambitionen lagen Binding dabei fern715;ausdrücklich betonte er, die Entscheidung darüber, was als Bedingung

705 Ebenso NK-Hassemer!Neumann, Vor § 1 Rn. 123;Fiolka, Rechtsgut, S. 19 ff., 259; Hefendehl, Rechtsgüter, S. 17; Stdchelin, Strafgesetzgeb1rng, S. 37; Amelung: Lehre, S. 356; Ehret, Liszt, s.153; Steinberg, FS Rüpmg, S. 92 ff.- So h1elt Bzmba1'.m (ACnm [N. F.] 15 [1834], 178 f.) auch den strafrechtlichen Schutz von Gemeingütern w1e S1tthchke1tund Gott~sfurcht für zulassig, sofern ihre ,,Erhaltung mit der Erhaltung der Verfassun~ selbst m [... ] mmgem Verbande steht". Welcher Strafgesetzgeber des 19. Jahrhunderts hatte mcht unschwer begrunden ki:innen, dal3 dics der Fall sei (treffend NK-Hassemer/Neumann, aaO)?_ . . . 706 Amelung, Lehre, S. 356. - Vgl. auch Naucke (KritV 1993, B7 f): .'.'Die Ph1lo:oph1e 1st beiseite gesetzt. An ihre Stelle ist der Appell an zeitgeistnahe Plaus161htat getreten. 707 Binding, Normen, Bd. I, S. 499. 708 Armin Kaufmann, Lebendiges, S. 69. 709 Fiolka, Rechtsgut, S. 30. 110 Binding, Handbuch, Bd. I, S. 499. . " 111 Aus der zeitgenossischen Literatur: Heinemann, ZStW 13 (18_83),389; Lzepmann, Em· S 12 f - Aus dem neueren Schrifttum: Amelung, Rechtsguterschutz, S. 73 f.; ders., . 1e1tung, . Einflul3, S. 364. 712 Fiolka, Rechtsgut, S. 38. 713 Binding, Normen, Bd. I, S. 366. 714 Binding, Normen, Bd. I, S. 365. . 715 Dies wird ¡ heutigen Schrifttum einhellig betont: Anastasopoulou, Dehktstypen, 111 S. 8 ff.; Ehret, Liszt, S. 158 ff.; Fiolka, Rechtsgut, S. 35 f., 206; Mazer-Wezgt, Verbrechensbe-

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l. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

C. Strafe als Antwort attf die Verletwng einer Mitwirkungspflicht

gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert sei, sei ausschlieGlich Sache des Gesetzgebers 716 .

besser als die Leichtigkeit, mit der sie sich den politischen Verhaltnissen nach 1933 anpassen lieK In der These vom aufklarerisch-liberalen Gehalt des Rechtsgutdenkens lebt - lediglich mit umgekehrten Vorzeichen - jene Interpretation fort, die die strafrechtlichen Reprasentanten der berühmt-berüchtigten Kieler Schule, Schaffstein und Dahm, mit dem erklarten Ziel vorgelegt haben, die Staatsideologie des klassischen Liberalismus", deren strafrechtliche Auspra;ung die Rechtsgutverletzungslehre sei, endgültig aus dem deutschen Strafrecht zu verbannen 724.Für eine Umdeutung der von Schaffstein und Dahm konstruierten Verfalls- zu einer Heldengeschichte fehlt es an der dogmengeschichtlichen Grundlage. Die eine Sichtweise ist so ideologisch wie die andere 725 •

Vor diesem Hintergrund heifü es die Dinge geradezu auf den Kopf stellen, wenn der Rechtsgutgedanke als ,,reifste Frucht der Aufklarung" 717 gefeiert und ihm eine intrinsische Liberalitat zugeschrieben wird 718 . Das Denken in Rechtsgütern ist ohne zugrunde liegende Wertungen inhaltsleer 719 • Die betreffenden Wertungen konnen aber nicht aus der Theorie heraus entwickelt werden, sondern sind politischer Natur 720 • ,,Vor dem Hintergrund eines liberalen Verstandnisses _werden sich .nicht die gleichen Folgerungen aus der Rechtsgutslehre ergeben w1evor dem Hmtergrund eines schutzbetonten praventiv konservativen Vers~andni~ses."721Aber gleichgültig, ob liberal oder konservativ - in jedem Fall ist em best1mmtes Rechtsgutkonzept ,,auf ein intellektuelles und soziales Klima angewiesen, das es tragt und seine Durchsetzung ermoglicht"722. Anden sich dieses Klima, so verandert sich auch der Zuschnitt der als schutzbedürftig ausgegebe723 nen Rechtsgüter . Nichts beweist die inhaltliche Flexibilitat der Rechtsgutlehre griff, S. 131; Marx, Definition, S. 22 f.; Sina, Dogmengeschichte S. 46 f.· Swoboda ZStW 122 (2010), 30. ' ' ' 716

B. d.

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d

.

. zn zng, ormen, B . I, S. 353. - E111eFolge dieser rechtspolitischen Enthaltsamkeit war_d1evo1;Lzszt (ZStW 8 [1888], 141) gerügte ,,tumultuarische Aufzahlung", die Binding dem ,,Guterkap1tal der Rechtsordnung" angedeihen lieK 717 So unlangst noch Schünemann, FS Herzberg, S. 47. - Die Auffassung, daG der Rechtsgutgedanke auf dem_Staats- und Strafverstandnis der Aufklarung fuGe, ist freilich auch ansonsten stark verbreitet (grundlegend für die Nachkriegsdiskussion: H. ]dger, Strafgesetzgebung, S. 6; ferner NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1 Rn. 115; Hassemer, Theorie, S. 29 ff., 51, 214; Roxzn, AT 1, §~ Rn. 8; ders., FS Marinucci, S. 733 f.; ders., Rechtsgüterschutz, S. 138 f.; Gkountzs, Autonom1e, S. 177 ff.; Marx, Definition, S. 5, 16; Sarhan, Wiedergutmachung, S. 35; Sternberg-Lzeben, Schranken, S. 386; Gracia, GA 2010, 330; Müller-Dietz, FS R. Schmitt, S. 104; Neubacher, Jura 2000, 514; Otto, Rechtsgutsbegriff, S. 3 f.; Steinberg, FS Ri.iping, S. 98 f., 108; Swoboda, ZStW 122 [~010], 25 f.). Kritisch zu der dieser Zuschreibung zugrunde hegenden Argumentat1°.nsstrateg1e Greco, Le_bendiges,S. 322 H.- Haas (Kausalitat, S. 61 ff.); ders. (Leh1e, S. 204); Low (Erkund1gungspfücht, S. 266); Renzikowski (GA 2007, 568) und Wrage_(Grenzen, S. 236) sehen die Rechtsgutlchre dagegen in einer aufklarungskritischen Tradmon wurzeln. 718 . So in~b~sondere ]escheck/Weigend, AT, § 1 III 2 (S. 8); Marx, Definition, S. 15 f.; Schne'.der, _E111ubung,S. 84 f.; _Szna, Dogmeng_eschichte, S. 25 H., 70, 89 f.; Kühl, FS Puppe, S. 664, Schunemann, Rechtsguterschutzpnnz1p, S. 134, 154; ders., Kritik, S. 228; de Sousa, FS Hassemer, S. 309 f.; Wzttzg, Rechtsgutstheorie, S. 239; im Grundsatz auch Papageorgiou Schaden, S. 92. ' 719

Exemplarisch Androulakis, FS Hassemer, S. 272 f.; Haas, Kausalitat, S. 65; Jakobs, FS A1~;~ung, S. 47 Fn. 63; Stuckenberg, GA 2011, 656 f.; Vogler, ZStW 90 (1978), 138 H. Fzolka, Rechtsgut, S. 146; Jakobs, System, S. 22 Fn. 29; Low, Erkundigungspflicht, S. 268; Vogler, ZStW 90 (1978), 140. 721 Fiolka, Rechtsgut, S. 146. 722 Neumann, Alternativen, S. 95. 723 . Hefendehl (Rechts?üter, S. 21) bringt das der herkommlichen Rechtsgutlehre daraus ei wachsende Dilem1rn pr~gnant auf den Punh: ,,Ein Rechtsgutsbegriff, der die genannten Abhang1gke1ten mcht 111se111eDefi111t10naufn1mmt, kann dieser Dynamik nicht gerecht wcr-

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2. Kritische Potenz des Rechtsgutbegriffs? a) ,,Das Recht ist um der Menschen willen da" Einen noch energischeren Befürworter als Binding fand der Rechtsgutbegriff in Liszt. Dem Rechtsgutbegriff kommt Liszt zufolge sowohl für die allgemeine Rechtslehre als auch für das Strafrecht eine grundlegende Bedeutung zu 726 , und seine Klarstellung sei insbesondere für letzteres eine ,,Lebensfrage" 727 . Das Strafrecht sei - so klagte Liszt im Jahre 1888 - ,,niemals mehr von dem Verfall in Formalismus bedroht [gewesen] als in diesem Augenblick" 728 • Demgegenüber betone der Begriff des Rechtsgutes ,,den inneren Zusammenh~ng der Rechtswissenschaft mit der Politik" 729 . Wahrend Binding das Allgeme111interesse in den Vordergrund schob 730 , hob Liszt - seinem Schüler Kohlrausch zufolge ,,der Liberale mit einem sozialen Ideal im Herzen" 731 - nicht weniger nachdrücklich hervor, daG alles Recht ,,um der Menschen willen" da sei732 • Deshalb sei Rechtsgut ,,in letzter Linie stets das menschliche Dasein in seinen ver-

den, ein Rechtsgutsbegriff, der diese Abhangigkeiten bcherzigt, verliert weitgehend sein luitisches Potential." 724 Vgl. Schaffstein, Verbrechen, S. 111 ff. (Zitat auf S. 112);_Dahm, _ZStW 95 (1935), 295. - Einzelheiten bei Hartl, Willensstrafrecht, S. 102 ff. - Be1sp1elhaft fur diese na1ve Lesart sind die Ausfi.ihrungen von Gkountis (Autonomie, S. 196 f.): Die Vertreter der autor_itar:n Stréimung innerhalb der deutschen Strafrechtswissenschaft hattm 1m Rechtsgutbcgr1ff em von freiheitlichen Gedanken herrührendes Potential erkannt und 1hn eben deshalb bekampft. Diese Angriffe aber harten ,,den wahren, liberal gepragten Gehalt des Rechtsgutsbegrif'.s letztlich nur allzu deutlich zu Tage treten lassen". Ob Schwmge und Z1mmerl (zu deren Pos1tion oben S. 98) das ebenso gesehen hatten? 725 Ahnlich K. Günther, Pf!ichtverletzung, S. 453; Low, Erkundigungspflicht, S. 267. 726 Liszt, ZStW 8 (1888), 133. 727 Liszt, ZStW 8 (1888), 133. 728 Liszt, ZStW 8 (1888), 138. 729 Liszt, ZStW 8 (1888), 140 . 730 Oben S. 95. 73l Kohlrausch, Krise, S. 16. 132 Liszt, Lehrbuch, S. 4; ders., ZStW 6 (1886), 672; ders., ZStW 8 (1888), 138, 141.

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C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

l. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

schiedenen Auspragungen" 733 . Schon früh wurde freilich die Unscharfe dieser Formel gerügt. ,,DaB insbesondere das Strafrecht um der Menschen willen da sei", wird nach einer Feststellung v. Buris ,,ja wohl überhaupt noch nicht bezweifelt worden sein. Nur ist es nicht wegen des Hinz oder Kunz, sondern zur Ermoglichung des Zusammenlebens aller Menschen vorhanden." 734 Liszt selbst beeilte sich klarzustellen, daB er keineswegs einem institutionsfeindlichen Radikalindividualismus das Wort reden wolle. Weil das menschliche Dasein ,,entweder als Dasein des als Einzelwesen betrachteten Menschen oder als Dasein des einzelnen in der Gesamtheit der Rechtsgenossen" erscheine, zerfielen die durch das Strafrecht geschützten Interessen in Rechtsgüter des einzelnen und in Rechtsgüter der Gesamtheit 735 . Auf diese Weise sicherte Liszt sich die Moglichkeit, auch den Staat als Reprasentanten der Allgemeinheit zum Interessenund Rechtsguttrager zu erheben und damit dessen formale Stellung an die des einzelnen Bürgers anzugleichen. Der dergestalt ausgeweitete Interessenbegriff stellte freilich den individualistischen Ausgangspunkt der Theorie buchstablich auf den Kopf; er konnte, wie Amelung resümiert, ,,zum Instrument eines blanken Etatismus werden" 736 , dies zumal deshalb, weil die Interessenlehre das Verhaltnis der staatlichen Interessen zu denen der Individuen niemals hinlanglich klarte 737 • Aber auch im übrigen lafü der wohlklingende Satz, das Recht sei um der Menschen willen da, die Frage offen, um welcher Belange der Menschen willen es da sei738 • Von der strikten Beschrankung auf den Schutz der Handlungsfreiheit der Menschen bis hin zur Stabilisierung ihrer sittlichen Überzeugungen und kulturellen Bedürfnisse besteht insofern ein breites Spektrum an Moglich-

keiten. Wie wenig stringent Liszt in dieser Frage argumentierte, zeigt sich exemplarisch an seinen Ausführungen zum notorisch problematischen ~echtsgut der Sittlichkeitsdelikte. Einerseits erklarte Liszt, der Gesetzgeber w1dme dem auBerehelichen Geschlechtsleben seine Aufmerksamkeit nur, ,,soweit es in den Rechtskreis einzelner verletzend eingreift" 739 • Andererseits hatte er keine Bedenken, auch das ,,sittliche Gefühl des einzelnen" zu den danach schützenswerten Belangen zu rechnen 740 • Unter dem Strich steht Liszts Konzeption dem Rechtsgutverstandnis Bindings weitaus naher, als die Heftigkeit der zwischen 741 beiden Autoren ausgefochtenen Kontroverse es vermuten laBt • Auch die Lehre Liszts ist eine positivistische Theorie: ,,Letztlich selegiert der Gesetzgeber, welche Lebensinteressen des Menschen in den Genuss rechtlichen Schutzes 742 kommen und damit in den Stand von Rechtsgütern erhoben werden." Ein nennenswertes kritisches Potential geht jedenfalls auch von Liszts Rechtsgutverstandnis nicht aus 743 • b) Ausgrenzung blofler Moralwidrigkeiten?

Die Begründungslücke in Liszts Konzeption scheint sich allerdings dadurch schlieBen zu lassen, daB man dem Rechtsgutbegriff durch die Einführung eines den Bereich des Nicht-Strafwürdigen bezeichnenden Gegenbegriffs scharfere Konturen zu verleihen sucht. Dieser Gegenbegriff wird verbreitet in den ,,reinen Moralwidrigkeiten" gesehen 744 . Nach deren Ausgrenzung blieben für das Strafrecht nur jene Verhaltensweisen übrig, ,,die die Voraussetzungen für ein auf Freiheit und Verantwortlichkeit des einzelnen aufbauendes gedeih745 liches gesellschaftliches Leben beeintrachtigen oder gefahrden" . Der Satz, Liszt, Lehrbuch, S. 347 (Hervorhebung im Original). Liszt, Lehrbuch, S. 348. Ein zeitgenossisches Beispiel für einen vom Boden der Interessentheorie aus geführ~en Angriff auf Bindings Rechtsgutlehrc bietet Keftler, GS 39 (1887), 104 ff. - Der h1es1genEmschatzung nahestehcnd Ehret, Liszt, S. 163 ff.; Fiolka, Rechtsgut, S. 338; Haas, Lehre, S. 205; Maier-Weigt, Verbrechensbegriff, S. 131 f.; Naucke, FS Hassemer, S. 563; Swoboda: ZStW 122 (2010), 31 f. -Anders (groÍ\e Verschicdenheit beider Ansatze) Sina, Dogmengesch1chte, S. 47. 742 Fiolka, Rechtsgut, S. 45. . . 743 Ebenso Hassemer (Theorie, S. 39), nach dessen Urteil Liszts Rechtsgutlehre sich we1tgehend in programmatischen Formeln erschi:ipft; Ehret, Liszt, S. 168; Fiolka, Rechtsgut, S. 161;Amelung, Lehre, S. 358; Naucke, ZStW 94 (1982), 546. _ 114 HK-GS-Rossner, Vorbem. zu § 1 Rn. 18; MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 37; SK-R11dolphi, Vor § 1 Rn. 5, 10; ders., FS Honig, S. 161; S/S-Lenckn~r/Eisele, Vorbem. §§ 13 ff. Rn: 10; SSW-Kudlich, Vor §§ 13 ff. Rn. 5; Bringewat, Grundbegnffe, Rn. 18; Ebert, AT, S. 4; ]ager, AT, Rn. 4; Roxin, AT 1, § 2 Rn. 17; ders., JuS 1966, 382; ders., FS Marinucci, S. 721 f.; ders., Rechtsgüterschutz, S. 141;ders., FS Hassemer, S. 579; ders., GA 2011, 681; ders., AoR 59 (2011), 4 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 21; Marx, Definition, S. 84 f.; H.-L. Günther, JuS 1978, 9; Hanack, 47. DJT, S. A 29 f.; M. Heinrich, 2. FS Roxin, S. 149; Kühl, Bedeutung, S. 15; ders., FS Schreiber, S. 963; ders., FS Otto, S. 73; ders., FS Maiwald, S. 435,449; Neubacher, Jura 2000, 518; Otto, Rechtsgutsbegriff, S. 5, 10. 745 Rudolphi, FS Honig, S. 161. 73 9

733

Liszt, Lehrbuch, S. 282; ders., ZStW 8 (1888), 142. 734 v. Buri, GS 41 (1889), 436. - Es ist wenig verwunderlich, da/\ diese Kritik 1933 wiederaufgegriffen wurde. ,,Jene mit gro/\em Nachdruck an die Spitze der Rechtsgüterlehre gestellte Ansicht, da/\ der Mensch und seine Betatigung das Rechtsgut sei, das es zu schützen gelte", ist nach dem Urteil Schwarzschilds (Liszt, S. 12 f.) entweder eine Banalitat oder unzureichend. ,,Banalitat, insoweit sie besagt, da/\ Recht als Ordnung von Menschen für Menschen n~twendig auf den Menschen - nicht etwa auf Tiere, Pflanzen oder Gotter zugeschnitten sem müsse -, unzureichend, insofern sie einseitiger Ausdruck einer rein individualistischen Staats- und Rechtsauffassung ist, die den Menschen von vornherein hoher zu stellen geneigt ist als die Gemeinschaft." 735 Liszt, Lehrbuch, S. 282; ders., ZStW 8 (1888), 148. 736 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 109. - In der Tat war das Spektrum der von Liszt als Delikte gegen die Staatsverwaltung zusammengefa/\ten Straftaten auÍ\erordentlich breit· dazu Ehret, Liszt, S. 165. ' 737 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 69, 109; ahnlich Fiolka, Rechtsgut, S. 264; H. ]ager, Strafgesetzgebung, S. 11 f.; No!!, Rechtfertigungsgründe, S. 15; Swoboda, ZStW 122 (2010), 31 f.-. Diesen Umstand vernachlassigt Rudolphi (FS Honig, S. 155), wenn er ,,die liberale, gegen die Allmacht des Staates gcrichtete Intention" von Liszts Rechtsgutlehrc rühmt; ahnlich jüngst Gkountis, Autonomie, S.193. 738 Fiolka, Rechtsgut, S. 47.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

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daB bloBe Unmoral nicht strafwürdig sei, ist jedoch kaum aussagekraftiger als Liszts Beschworung ,,der Menschen" und ihrer Interessen. Da namlich jedes Gut, ob Rechtsgut oder nicht, eine bestimmte Moralitat zum Ausdruck bringt, Güter und Moralitaten also austauschbare Kategorien sind, ist eine Entgegensetzung von Rechtsgütern auf der einen und Moralwidrigkeiten auf der anderen Seite von vornherein zum Scheitern verurteilt. ,,Man muB vielmehr die Moralitaten selbst, auf denen die betreffenden Güter beruhen, in Frage stellen."746Diese Aufgabe ist schon schwierig genug; zusatzlich erschwert wird sie dadurch, daB die Grenze zwischen dem, was ,,bloB unmoralisch" und dem was ,,schon strafrechtlich relevant" ist, sich nicht mit dem Anspruch auf - ga; überzeitliche - Allgemeinverbindlichkeit beantworten laBt747, sondern eine ,,Komplementarerscheinung zur allgemeinen politischen, wirtschaftlichen und moralischen Entwicklung" darstellt 748. Für Christian Wolff stand bereits 1736 fest, daB man ,,im gemeinen Wesen nichts bestrafen [darf], als wodurch die gemeine Wohlfahrt und Sicherheit gestort wird" 749. Dazu gehorte nach Wolffs Überzeugung allerdings auch die Bestrafung von Verachtung und Versaumnis des Gottesdienstes 750. Weil sich namlich Zucht und Gerechtigkeit im gemeinen Wesen ohne Religion nicht befestigen lieBen751,habe der Staat alles zu hindern, wodurch die Religion in Verachtung kommen konnte 752. In der Tat ware in der Welt des 18.Jahrhunderts jeder Staat, der es gewagt hatte, auf die integrative Kraft der Religion zu verzichten, ein unabsehbares Risiko eingegangen; dies gilt zumal für das künstliche Gebilde PreuBen, dessen Herrscher in jenen Jahrzehnten vor der schwierigen Aufgabe standen, ihren landsmannschaftlich zersplitterten Untertanen ein gemeinsames StaatsbewuBtsein einzupflanzen. Mittlerweile hat sich zwar erwiesen, daB auch weitgehend sakular gestimmte Gesellschaften zu einem ertraglichen Zusammenleben imstande sind - nicht zuletzt dank des Fortlebens ursprünglich religios motivierter Verhaltensdispositionen. Deshalb erscheint Wolffs Ponalisierungsforderung heute als anachronistisch 753. Der Grund dafür liegt aber nicht in erster Linie in einem gelauterten Verstandnis der Bestrafungsbefugnis des Staates, sondern in einer Veranderung von deren Anwendungsbedingungen754. 746Treffend Papageorgiou, Schaden, S. 98. 747Jakobs, AT, 2/21; Appel, Verfassung, S. 356. 748Naucke, Strafrecht, § 6 Rn. 74. 749 Ch. Wolff, Gedanken, § 359 (S. 265). 75 Ch. Wolff, Gedanken, § 421 (S. 345). 751 Ch. Wolff, Gedanken, § 366 (S. 275). 752 Ch. Wolff, Gedanken, § 367 (S. 276). 753 Eine Deutung der Bekenntnisbeschimpfung

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als beleidigungsahnliches Delikt wird entwicke!t in: Pawlik, Schutz, S. 46 ff. 754 Das Gleiche gi!t für die Strafvorschriften gegen Hexerei und Zauberei. Sternberg-Lieben (Schranken, S. 362 f.) weist zu Recht darauf hin, daG diese Normen nach dem damaligen,

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

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Ahnlich liegen die Dinge im Bereich der Sexualdelikte, einer weiteren ,,Randzone des kriminellen Verhaltens" 755, deren Ausdünnung verbreitet als die be756 deutsamste Leistung des Rechtsgutdenkens angesehen wird . Exemplarisch sei auf das Verbot des Ehebruchs eingegangen. Solange die Ehe auch eine Wirtschaftsgemeinschaft war und den Kindern maBgebliche Bedeutung für die Alterssicherung ihrer Eltern zukam, bestand ein gewichtiges offentliches Interesse an der lntegritat ehelicher Beziehungen und der Eindeutigkeit von Absta~mungsverhaltnissen757. Erst mit der Entokonomisierung der Ehe, der Kolle)(t1vierung der Absicherung gegenüber den Gefahren von Not und Alter und mcht zuletzt der Entwicklung zuverlassiger Verfahren zur Klarung der Abstammung von Kindern wandelte sich das Bild, und die Strafnorm gegen den Ehebruch büBte ihre soziale Plausibilitat ein 758. Erneut war es somit eine Veranderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, nicht eine vertief te Einsi~ht -~ndie Notwendigkeit einer Grenzziehung zwischen Strafrecht und Moral, die fur den 759 Fortfall des Bestrafungsbedürfnisses verantwortlich war . Der durch seine Entgegensetzung zur ,,Moralwidrigkeit" bestimmte Rechtsgutbegriff greift somit in aller Regel erst dann ein, wenn die _entsprechenden Moralvorstellungen - insbesondere infolge eines Wandels der s1etragenden gevon der realen Existenz und für Dritte schadlichen Wirksamkeit di eser Phanomene ausgehenden gesellschaftlichen Erkenntnisstand durchaus der Bekampfung einer sozialschadlichen Verhaltensweise dienten. 755H. Jdger, Strafgesetzgebung, S. III. 756 Grundlegend H. Jdger, Strafgesetzgebung, S. 41 ff., 116 ff.; zusammenfassend Hassemer, Strafrechtswissenschaft, S. 283 f.; zuletzt Kiihl, Strafrccht, S. 16; ders., FS Puppe, S. 665; Neubacher, Jura 2000, 518; Roxin, Rechtsgüterschutz, S. 136. . . 757 Deshalb wollten zahlreichc Autoren - darunter solch bedeutendc Theoretiker w1e Montesquieu und Beccaria - die Frau harter bestraft sehen als den Mann (L. Giinther, Archiv f. Krim.-Anthr. 28 [1907], 241). 15s AhnlichJakobs, FS Saito, S. 771. . 759 Ebenso Fiolka, Rechtsgut, S. 346 f., 387; Wrage, Grenzen, S. 60; Appel, KntV 1999, 285; Frisch, Rechtsgut, S. 218,224 f.; Hirsch, FS Spinellis, S. 432; Wohlers, Tagun~, S. 281. -Ande~s NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1 Rn. 146; Greco, Lebend1ges, S. 343 sow1e - auf der Bas1s eincr vcrblüffend ahistorischen Argumentation - jüngst Gimbernat Ordeig, GA 2011, 288. - Entsprechendes gilt für das strafrechtliche Inzcstverbot (§ P3 Abs. 2 S. 2 StGB). Das B1:1rr.desverfassungsgericht (BVerfGE 120, 224 ff.) hat erst ~urzhch d1e_Yerfass:mgskonform1tat dieser Norm bejaht und ist damit auf den Widerstand emes GroGte1ls der L1teratur gestoGen (ablehnend NK-Hassemer!Neumann, Vor § 1 Rn. 115; S/S-Len_ckner/Eisele, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 10a; Frister, AT, § 3 Rn. 31; Bottke, FS Volk, S. 104; Cornzls, ZJS 2009, 88; Duttge, 2. FS Roxin, S. 229 ff.; Gimbernat Ordeig, aaO, 286; Greco, ZIS 2008, 234 ff.; M. Heinrzch, 2. FS Roxin, s.141 ff.; Hefendehl, JA 2011, 403 ff.; Hornle, NJW 2008, 2085 ff.; Hoerster, Strafe, S. 116ff.; Kahlo, FS Hassemer, S. 412 f.; Kraufl, FS Hassemer, S. 424 ff.; Noltenzus, ZJS 2009, 15 ff.; Roxin, StV 2009, 544 ff.; ders., FS Hassemer, S. 581 ff.; ders., AoR 59 [201_1],5_f.; Thurn, KJ 2009, 83; Zabel, JR 2008, 454 H.; ders., MSchrKrim 92 [20_09],407 f.; vors1cht1g zust1mmend dagegen Androulakis, FS Hassemer, S. 281 ff.). Dem Gencht :w1rd(wohl zu Recht) vorgeworfen, bei seiner Bewertung den Fortschritt der wissenschafthchen Erkenntms und den Wandel der gesellschaftlichen Wahrnehmungsmuster vcrkannt zu haben.

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1· Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

C. Strafe als Antwort auf die Verletzttng einer Mitwirkungspflicht

sellschaftlichen Rahmenbedingungen - bereit b .. h. . . berechti?te Kern .der Rechtsgutrhetorik redu:ie:~~i:~ ~:::i;ten s;i~~76o.Der nung, h111und w1eder zu überprüfen ob d a au ie Mahstrafrechtlichen Schutz geniefü diese ' as, wa~ al~ wenhafter Zustand Diese Mahnung konnte freilich,ohne j:de ::g:i~r~ wtktc~ (noch) besitzt"76I_ griff auf den Rechtsgutbegr1'ff a h e ic e in u e auch ohne Rückusgesproc en werd A 1· Gegenüberstellung in ihrer Abstral th . . h . en. " nsonsten e1stet die . . ( e1t111cts msbesond . h . k . nu111hberalen Gehalt."762 ' eie at s1e emen ge-

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e) Unterscheidung zwischen Rechtsgut und N orm.2 Eine gewisse Disziplinierungswirkun kommt d dann zu, wenn man in der N hf 1 1 1 .em Rechtsgutdenken allenfalls geschützt werden sol! sondaec o ge d e ze s ,,dn1chtschon das, was durch Strafe ' rn nur as was ur h d. N d rechtliche Gebot oder Verbot h.. ' d e ie orm, .h. durch das net"763.Dieser Konzeption zuf' gles~ uRtztwher en soll, als Rechtsgut bezeich.l 6otene oder verbotene Verh lt o ge¡ 1st . ec tsgut. "11ur d as, worau f sic 1 das ge. a en a s sem matenell d 'd 11 obJekt bezieht nicht aber d V h 1 lb es o er 1 ee es Handlungs' as er a ten se st"764 D . . des Rechtsgüterschutzes leg·r· . . h' · as so verstandene Pnnzip 1 1m1ert m1t 111nur sol h S f . schützen, was selbst keine N . l ~ e tra normen, die etwas orm 1st; es ver angt t d wr Norm Erfolge verbietet die ..b d B. h m1 an eren worten, daB die 'h ' u er en 1 uc der N d d. S 1 .. 1 rer Geltung hinausgehen76S. orm un 1e e 1wachung

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. Diese Konsequenz zieht die bis heute herrsch d mcht. Dies zeigt sich an der Selbst . .. dl. hl .en ~ Auff~ssung aber gerade offentlichen Frieden und d R hve1 stan ic (e1t, m1t der s1enach wie vor den . as ec tsvertrauen der B "11 ¡ . d 1geRechtsgüter anerkennt D' A l d. evo (erung as e1genstan. " ie na yse 1eser R h ·· · · render Kampf mit der Phrase "766Z . h ~e tsguter 1st e111fortwah. war ze1c net es e · kl' hl • Rechtsordnung aus, daB sie den off h . 111~ Wlf lC (eitsmachtige dadurch Ordnungsvertrauen und ent ic en !nede~ s1chert und den Bürgern darin die Funktion der Recht dPlanunglss1cherheit vermittelt767_ Weil aber sor nung a s ganzer b h . Aufgabenzuweisungen nicht als d. . k Z _este t, taugen derart1ge zstzn te wecke e111zelnerTatbestande768.

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ppe, Verfassung, S. 356· ders KritV 1999 . Frisch, FS Stree/Wessels' S 72·,. b d , 285; Frzsch, FS Stree/Wessels, S. 72 f. . h .. . ' · , e enso ers St fb ¡ · sachl 1c ubercmstimmend]akob FS S . ·, ra ar ,eitsvoraussetzungen S 208· 762 s, a1to, S. 770 ' · , ]akobs, FS Saito S. 770 763 ' ' Welzel, Abhandlungen, S. 138 Fn. 30 _ 764 Welzel, Abhandlungen s. 138 F 30 765 A l , n. . . me ttng, Rechtsgutsverlctzung S 2 75. d . . Dehktstypen, S. 17 ff.-Die inhaltliche Au.s es~ e1s., Begnff, S. 169 ff., 1~2; Anastasopoulou, allerdmgs ziemlich blaíl· dazu M" . S h g altung des Rechtsgutbegnffs bleibt bei Welzcl 766 .. ' usstg, e utz, S. 30. H. Jager, Strafgcsetzgebung, S. 17. 767 Vgl. nur Comg Grundz" .. 768 In¿· s· , b . -uge, s. 142;. SRuthers, Rcchtsthcoric S 52 1esem 1nne ereits H M f , · • neueren Schrifttum: Roxin AT ;y;1, tra recht, S. 200; ders., DStR 1938, 84. - Aus dem griff, s. 171 ff.; Fiolka, Rechtsgut: 1081~:;z/rs., 1:,e_chtsgüterschutz, s. 143; Amelung, Be., e er, Fi iedc, S. 599 f.; ders., NStZ 1988, 163 f.; 761

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sie begründen vielmehr die Gefahr, dem Gesetzgeber ein Passepartout für die Inkriminierung jeglichen unerwünschten Verhaltens in die Hand zu geben 769. Das heute herrschende Verbrechensverstandnis verwischt diesen Befund. Indem es den sdmtlichen Straftaten innewohnenden Bezug auf den offentlichen Frieden nicht mehr eigens thematisiert, begünstigt es die kategorienf ehlerhafte erneute Heranziehung dieses Topos zur Rechtfertigung einzelner, anders nicht überzeugend legitimierbarer Strafnormen. Ein komplexer Verbrechensbegriff, so wie er hier vorgeschlagen wird, vermeidet diesen Fehler, indem er die Mitwirkungspflichtverletzung als solche sorgsam von der konkreten Rechts- bzw. Rechtsgutbeeintrachtigung abhebt, in der jene Pflichtverletzung sich auBert. Diese Diff erenzierung- und damit der Sinn der ganzen Konstruktion - würde obsolet, wenn der Zweck der Mitwirkungspflicht mit jenem der konkret übertretenen Verhaltensvorschrift zusammenfiele. Was für das Rechtsgutdenken allenfalls eine - wenig beachtete - Option ist, wird vor dem Hintergrund der hiesigen Konzeption zur konstruktiven Notwendigkeit. 3. Vom Rechtsgut zur Rechtsperson a) Die Eindimensionalitdt der Rechtsgutlehre Bislang ist lediglich gezeigt worden, daB der Rechtsgutbegriff von weniger edler Herkunft ist, als dies verbreitet angenommen wird, und daB sein kritisches Potential eher gering zu veranschlagen ist. Das Grundgebrechen, gewissermaBen der Geburtsfehler des Rechtsgutdenkens liegt jedoch in der Einseitigkeit, mit der es die komplexe Problematik der Legitimation von Strafnormen auf die Frage reduziert, ob einem Straftatbestand ein schutzwürdiges Substrat (,,Rechtsgut") zugrunde liege770 . Die so verstandene Rechtsguttheorie ist darauf beschrankt, Strafrechtsnormen zu delegitimieren, mit denen Interessen verfolgt werden, die nach MaBgabe der normativen Hintergrundüberzeugungen einer Gesellschaft als schutzunwürdig gelten 771.Die praktische Bedeutung derartiger Erorterungen ist indessen recht gering: Tatbestande, bei denen das geschützte Gut selbst problematisch ist, bilden heute jedenfalls im deutschen Strafrecht nur ein Randproblem 772. ,,Denn in einem komplexen Gemeinwesen, das die Erhaltung vielfaltiger Zustande, Funktionsablaufe und Vertrauenstatbestande als ders., FS Puppe, S. 1127 f.; Groteguth, Verbots(un)kenntnis, S. 69; Hefendehl, Rcchtsgüter, S. 124 f.; Hornle, Verhalten, S. 93; dies., Schutz, S. 270; Kahlo, Handlungsform, S. 150; Kargl, Vertrauen, S. 60 f.; Renzikowski, GA 2007, 571; Ronnau, Willensmangel, S. 165; Wohlers, Deliktstypen, S. 270f.; Zabel, ZStW 122 (2010), 844; grundsatzlich auch Bottke, FS Lampe, s.489. 769 Ronnazt, Willensmangel, S. 165. 770 Naucke, Strafrecht, § 6 Rn. 78; Pawlik, Verhalten, S. 48 f.; Amelung, FS Eser, S. 6. 771 Oben S. 134 f. 772 Frisch, Rechtsgut, S. 227; ders., FS Stree/Wessels, S. 75; ders., Strafrechtsdogmatik, S.194; Wohlers, GA 2002, 17; Dttbber, ZStW 117 (2005), 508.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

gut und richtig ansieht, bereitet es keine besonderen Schwierigkeiten, als Hintergrund der angestrebten Ponalisierung ein Gut zu formulieren, das durch die entsprechenden Verhaltensweisen beeintrachtigt oder gefahrdet wird." 773 Mit dem Befund, daB gewisse Belange prinzipiell schutzwürdig sind, ist hingegen noch keine Aussage darüber getroffen, auf welche Weise und mit welchen Mitteln diese Belange geschützt werden dürfen 774 • Beim strafrechtlichen Rechtsgüterschutz sind regelmafüg nicht nur die Interessen der potentiellen Opfer, sondern auch die Interessen derjenigen Personen betroffen, die durch cine Verbotsnorm in ihrer Handlungsfreiheit eingeschrankt werden 775: ,,Was man der einen Seite gibt, nimmt man der anderen!" 776 Aus diesem Grund muB über die Benennung cines bestimmten Rechtsgutes hinaus dargelegt werden, weshalb und in welchem Umfang andere Personen zur Wahrung von dessen Integritat in Anspruch genommen werden dürfen, wie weit also in sachlicher aber auch in zeitlicher Hinsicht (Vorverlagerungsproblematik!) deren Zustandigkeit 77 reicht7 • In der von ihr vorgenommenen Zustandigkeitsverteilung zeigt sich die Freiheitlichkeit einer Strafrechtsordnung mindestens ebenso sehr wie in ihrer RechtsgüterauswahF 78 • Zwar betonen auch die herkommlichen Rechtsgutlehren, daB das Strafrecht die von ihm unter seine Fittiche genommenen Güter nicht umfassend und 779 lückenlos schütze und die ,,Existenz eines vorzeigbaren Rechtsguts [... ] lediglich cine notwendige, nicht aber cine hinreichende Bedingung für die Legitimitat einer Strafdrohung" sei 780 • Diesen Lehren lassen sich jedoch ,,keine Kriterien dafür entnehmen, unter welchen spezifischen Voraussetzungen das

C. Strafe als Antwort auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

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Interesse am Unterbleiben bestimmter Handlungen den Einsatz von Verboten oder gar deren Stabilisierung durch die Bewehrung mit Strafe rechtfertigt" 781 . Indem diese Lehren ein Gut, obwohl es nur ein Gut ist, zum MaBstab ihrer Schutzwürdigkeitsüberlegungen machen, blenden sie die Moglichkeit cines Konflikts mit anderen Gütern von vornherein aus. Sie treffen ,,cine nicht gerechtfertigte Grundentscheidung für diesen einen Inhalt, ohne die Inhalte in Betracht zu ziehen, deren Verwirklichung er moglicherweise ausschlieBt" 782 • Weil dem Rechtsgutdenken Zustandigkeitserwagungen stets auBerlich bleiben, ist die Frage nach dem ,,Wie" des strafrechtlichen Schutzes von den Vertretern dieser Auffassung weitgehend vernachlassigt worden 783 . Das Rechtsgutdenken hat vielmehr cine gleichsam natürliche Affinitat zum Gefahrdungskriterium: Wenn die Erhaltung von Rechtsgütern das Ziel ist, dann sind Gütergefahrdungen das zu Vermeidende, und der Tater wird dadurch definiert, daB er dem Rechtsgut gefahrlich werden kann 784 • Damit ist jedoch cine Expansionslogik in Gang gesetzt, die sich mit den Begründungsressourcen des Rechtsgutdenkens nicht mehr aufhalten laBt. Wird namlich mit dem Anliegen einer Optimierung des Güterschutzes ernst gemacht, so genügt zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit die Erhohung des Gefahrdungsniveaus für fremde Rechtsgüter. Dann aber ist, wie Wohlers zu Recht hervorhebt, ,,nicht ersichtlich, daB sich ein vom Gesetzgeber als geeignete und erforderliche MaBnahme der Gefahrenabwehr angesehenes strafbewehrtes Verhaltensgebot überhaupt noch als illegitim erweisen kann" 785 • Noch scharfer tritt die strafbarkeitsausdehnende

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Frisch, Strafrechtsdogmatik, S. 194. 774 ]akobs, AT, 2/22; Appel, Verfassung, S. 350,386; Frisch, Rechtsgut, S. 223 ff.; ders., FS Stree/Wessels, S. 75; Haas, Kausalitat, S. 69; Zabel, MSchrKrim 92 (2009) 399. 775 D. b b . ' 1es etonen erelts Torp, ZStW 23 (1905), 88 und - unmittelbar vor seinem Umschlag in eine Totalkritik des Güterschutzdenkens - Schaffstein, Problematik, S. 18. Aus dem neueren Schrifttum: MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 137; Appel, Verfassung, S. 382; Don~tsch, Sorgfaltsbemessung, S. 179; Frisch, Verhalten, S. 74 f.; ders., Rechtsgut, S. 224; Kindhauser, FS Ma1wald, S. 406 f.; Lagodny, Strafrecht, S. 198; Voflgdtter, Handlungslehren, S. 21 f.; Silva Sánchez, FS Jakobs, S. 653; de Sousa, FS Hassemer, S. 308. 776 Freund, AT, § 1 Rn. 17. 777 Grundlegend Jakobs, ZStW 97 (1985), 752 f.; ferner Frisch, Verhalten, S. 74 ff.; ders., Rechtsgut, S. 226 ff.; Pawlik, Verha!ten, S. 48 f.; Wohlers, Deliktstypen, S. 24, 48 f., 109; ders., GA 2002, 20; ders., Tagung, S. 282 f.; Appel, KritV 1999, 298, 308; Bacigalupo, FS Jakobs, S. 14; Gaede, Kraft, S. 188 f.; Gracia, GA 2010, 340; Hirsch, FS Spinellis, S. 430 f.; von Hirsch, GA 2002, 9 ders., Rechtsgutsbegriff, S. 20; von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie, S. 197; ~enzzkowskz, Normentheone, S.123; Vogler, ZStW 90 (1978), 138; Wittig, Rechtsgutstheone, S.240.

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Kindhdz;ser (Gefahrdung, S. 150) bezeichnet die strafrechtliche Verhaltensnorm deshalb als ,,die universalisierte Losung eines rechtsgutsbezogenen Freiheitskonflikts". ;:: Exemplarisch Bringewat, Grundbegriffe, R~. 21, 24; Rengier, AT, § 3 Rn. 7. Neumann, Alterna.uven, S. 94; 111d1esem Smne auch Stdchelin, Strafgesetzgebung, S. 60; Hefendehl, Rechtsguter, S. 7.

781Appel, Verfassung, S. 385; ders., KritV 1999, 298; ebenso Jakobs, AT, 2/22 f.; Wittig, Rechtsgutstheorie, S. 240. 782 Ricken, Ethik, Rn. 152. 783 Wohlers, Deliktstypen, S. 278; Frisch, Rechtsgut, S. 223 f. 784 Jakobs, ZStW 97 (1985), 753. -Treffend bemcrkt bereits Boldt (ZStW 55 [1935], 45): ,,das Gefahrdungsstrafrecht erhoht, generalisierend vom Sclrntzobjekt her, den Rechtsgüterschutz." 785 Wohlers, Deliktstypen, S. 50. - Im Schrifttum wird seit langem moniert, dail ei~ konsequent durchgeführter Rechtsgüterschutz ins Uferlose führen würde. ,,Wollte rr1an die vom Gesetzgeber für schutzwürdig erachteten Güter nach allen Se1ten s1chern, so muÍlte_d1e_szu umfassenden Verboten führen, die die menschliche Handlungsfre1hc1t schwer beemtrachtigen wi.irden." (Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 241; ebenso ]akobs, ZStW 97 [1985], 753; Appel, Verfassung, S. 450; Donatsch, Sorgfaltsbemes~ung, S. 179; Greco, Lebend1ges, S. 339; Bottke, FS Lampe, S. 487 f.; H.-L. Giinther, Rechtfertigung, S. 372; Kargl, JZ 1997, 283; Kuhl, FS Maiwald, S. 448; Kiihnbach, Solidaritatspflichten, S. 109; Kuhlen, Strafrechtsbegrenzung, S. 92; Lagodny, Strafrecht, S.198, 226; Lesch, Problem, S.172, 220f.; P;ittwitz, StV 1991, 438 f.; Rinck, Deliktsaufbau, S. 51 f. Schiinemann, Grund, S. 365; Szlva Sanchez, Expans1011, S. 67 f.; Sternberg-Lieben, Schranken, S. 402; ders., Rechtsgut, S. 76; Stuckenberg, GA 2011, 658; Vormbaum, ZStW 107 [1995], 752; Vogler, ZStW 90 [1978], 144; Wohlers, Deliktstyp~n, S. 24, 48; aus dem alteren Schrifttum: H. Mayer, Strafrecht, S. 96; Schaffstein, Problemat1k, S. 14) - Die von NK-Hassemer/Neumann (Vor § 1 Rn. 147) sowie Hassemer (Strafe, S. 157) angestimmte Klage, daG die im modernen Strafrecht zu beobachtende Tendenz, das Rechts-

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

Tendenz des Rechtsgutdenkens im Bereich der Unterlassungsdelikte zutage. Der optimale Güterschutz wird dadurch erreicht, daG jeder Rettungsfahige zu jeder ihm mi:iglichen Rettung verpflichtet wird 786.Der Abwendung dieser eminent freiheitsfeindlichen Konsequenz dient die Lehre von den Garantenpflichten787.Mit ihr tragt auch die herki:immliche Strafrechtsdogmatik, wenngleich falschlicherweise nur für einen Teilbereich von Delikten 788, der Überlagerung der Rechtsgut- durch die Zustandigkeitsfrage Rechnung. Der eingangs formulierte Befund, wonach das entscheidende Manko der Rechtsgutlehre in ihrer Eindimensionalitat besteht, laGt sich nunmehr prazisieren: Indem die Rechtsgutlehre die Sozialschadlichkeit und Strafwürdigkeit eines Verhaltens nicht als Sti:irung der Beziehungen zwischen Rechtspersonen beschreibt, sondern - mit Amelung gesprochen - ,,als Schadigung externer Objekte, denen die Gesellschaft einen Wert beilegt" 789, verdunkelt sie den gesellschaftlichen Horizont des Rechts, seine Bezogenheit auf soziale Interaktionen790;sie verkennt, daG ,,ohne Blick auf das Rechtsverhaltnis, in dem das Gut ,lebt', [... ] sich weder ein MaGstab für seinen Wert noch ein Kriterium für seine Beeintrachtigung gewinnen [lafü]" 791.Um diesen Fehler zu vermeiden konzipiert das hiesige Legitimationsmodell den Verbrechensbegriff nicht vo:U unerwünschten Ergebnis, der Rechtsgutverletzung, sondern von dem Verpflichtungsumfang des als Tater in Betracht kommenden Bürgers her. Deshalb wird der potentielle Tater hier nicht als Individuum in den Blick genommen, das durch die Fahigkeit zur Herbeiführung von Rechtsgutverletzungen charakterisiert ist, sondern als Rechtsperson, die für die Ausfüllung eines bestimmten Pflichtenkreises - aber auch nur dafür -verantwortlich ist. Umgekehrt tritt der Verletzte nicht mehr in gleichsam mediatisierter Form - reprasentiert durch das von ihm innegehabte Rechtsgut - verbrechenstheoretisch in Erscheinung, sondern, komplementar zum Tater, ebenfalls als Rechtsperson. Die Ersetzung des Rechtsgutbegriffs durch den Personbegriff als Leitkategorie 792ist somit weit

gutkonzept als Legitimationsmodell für die zunehmende Entgrenzung des Strafrechts einzusetzen, einen strafre~htsk'.·itischen Topos zu einem affirmativen pervertiere, geht deshalb fehl: ,,Dieses Potential 1st Te1l des Rechtsgutsbegriffs." (Fiolka, Rechtsgut, 354) Wenn Roxin (~echtsgüterschutz, S. 145) selbst für erhebliche Vorverlagerungen der Strafbarkeit lediglich e1ne ,,beso_n~ere Begründung" glaubt fordern ZU kiinncn, so ist dies ebenso konsequent wie fur den knt1schen Anspruch der Rechtsgutlehre desastriis. 786 Treffend Timpe, Strafmilderungen, S. 191. 787 Lesch, Problem, S. 172. . 788 Zur systematischen Bedeutung der Garantenpflichten innerhalb der hiesigen Konzept1011unten S. 159 ff. 789 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 276; sachlich übereinstimmend ders. Begriff S. 180 190]a k obs, FS Amelung, S. 46; Derksen, Handeln, S. 95 f.; Lesch, Problem,' S. 239; ' Müssig, · Schutz, S. 152. 791 Kindhauser, Rechtsgüterschutz, S. 265. 792 Sie wird auch gefordert von]akobs, FS Amelung, S. 46. - Demgegenüber kritisiercn

C. Strafe als Antwort auf die Verletwng einer Mitwirleungspflicht

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mehr als eine terminologische Nuance. Sie tragt vielmehr der Einsicht Rechnung, ,,daG die Herstellung und Sicherung von Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens keine Frage des Schutzes einer abzahlbaren Menge wertvoller Objekte" ist793, sondern daG sie auf das Problem der Abgrenzung personaler Freiheitsraume antwortet. b) Personbegriff und Zurechnungslehre

,,Sowohl in der Jurisprudenz wie in der Ethik ist man gewohnt, die Person streng vom Menschen zu unterscheiden. Nicht die biologisch-physiologische Einheit Mensch, nicht diese organisch verbundene Summe von Lebensprozessen ist es, die mit der spezifisch ethisch-juristischen Einheit ,Person', diesem Subjekte der Zurechnung identisch ist. Person sein und Mensch sein heiGt keineswegs das gleiche." 794Der Tenninus Mensch dient zur Bezeichnung des · 19s. Wer me · h ts as1 em · M ensc h 1st, . biologischen Gattungswesens hamo sapzens 796 ist in den Worten des Hegel-Schülers Gans rechtlich ,,noch gar nichts" . Der Begriff Person dagegen ist in den Worten John Lockes ,,ein juristischer Aus799 druck"797, weil er ,,auf Handlungen und ihren Lohn" 798bezogen ist : Person

Kohler (AT, S. 24) und sein Schi.iler Rehr-Zimmermann

(Strd,tur, S. 81 f.) zwar zu Recht das herkiimmliche Verstandnis des Rechtsguts als emer ob1ekt1v-teleolog1schen Vorgegebenheit, die sich nicht freiheitsgesetzlich bestimme. Kohler zieht aus di_esem Bdund aber ~icht die Konsequenz, auf den Rechtsgutbegriff ganzlich zu verz1chten; d1eser se1 v1elmehr :,smnvoll als Mittelbegriff, der die allgemeinste Rcchtsnorm nach personalen und 111st1tutmnellgemeinschaftlichen Besondcrungen (Rechtsgutsartcn) differenziert" (aaO, S. 25)._Die_ zentrale Schwache des Rechtsgutbegriffs besteht aber gerade dann, da{) er wegen ~er 1hm mnewohnenden Einseitigkeit diese Differenzierungsleistung nicht angemessen zu le1sten vermag. 793 Amelung, Rechtsgi.iterschutz, S. 264. . . .. . . 794 Kelsen, Grenzen, S. 52. - Wenn Ambos, 111sowe1tfur vicie heut1ge Strafrechtler sprechend es zum Kennzeichen eines ,,menschengerechten Strafrechts" erklart, da{) es ,,den realen,Menschen ,aus Fleisch und Blut' als Zurechnungssubjekt" sehe (Ambos, SchwZStr 124 [2006], 27), so zeugt dies weniger von i.iberlcgener rechtsethischer Einsicht als vielmehr von einem gehiirigen Mal) an (Begriffs-)Geschichtsvergessenheit. 795 Ausborn-Brinker, Pcrson, S. 20; K. Günther, Person, S. 19. 796 Gans, Naturrecht, S. 79. - Der Tcrminus ,,Menschenrechte" steht nur vordergri.indig im Widerspruch zu dieser Lcsart. ,,Offensichtlich macht e~ das Pr~prium des Mensc_h~nrechtsgedankens aus, das sittliche Subjektsein (Pcrsonprinz1p) und die Gattungszugehongkeit (Naturprinzip) [... ] als einc unliislic~e Ei1'.heit zu ~etracht_e1'.." (H_onnefel~er, Begnff, S. 59) Der Bcgriff der Menschenrechte bnngt diese Unloshchke1t 111 pragnantc1 We1se zum Ausdruck. 797 Locke, Versuch, Bd. I, S. 435. 798 Loclec, Versuch, Bd. I, S. 435. . . . .. 799 Wahrend sich allerdings bei Locke die Zurechenbarke1t auf die Identitat des SelbstbewuÍ)tseins gri.indet, folgt sie bei Kant aus der moralischen_ Selbstgesetzgebung (Sturm~, Philosophie, S. 207). Kant koppelt seit 1787 de'.1 Personbegnff sowohl d~r Ontolog1e als auch von der BewuÍ)tseins- und Erkenntmstheone ab und then1at1S1ert 1h11fast ausschliefüich im Zusammenhang moral- und rechtsphilosophischer Uberlegungen (Mohr, Begriff, S. 104). - Naher zu Kants Konzept der Person Mohr, aaO, S. 103 ff.; ders., Person,

:~n

C. Strafe als Antwort ali[ die Verletzung einer Mitwirkungspflicht

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

ist, wer im sozialen Verkehr als Urheber von Handlungen gilt, wessen Verhalten also nach der bekannten Formel Kants einer Zurechnung fahig istsoo. Personalitat impliziert zuvi:irderst Verantwortlichkeit 801. In ihrer Eigenschaft als handlungsfahige Subjekte sind Personen zudem die einzigen Wesen, die Rechte wahrnehmen und einfordern sowie Pflichten anerkennen und befolgen k~nnen 802. Die berühmte Einleitungsbestimmung des Preuflischen Allgemeznen Landrechts, wonach der Mensch, insofern er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genieBt, cine Person genannt wird, akzentuiert das erste dieser Momente 803. Davon zu sprechen, daB Personen gegenüber Personen Rechte besitzen, ist freilich zumeist nur eine andere Weise zu sagen, daB Personen gegenüber Personen Pflichten haben 804: ,,Unsere Pflichten - das sind die Rechte Anderer auf uns." 805Den Aspekt der Pflicht haben das früh. 1·1~h e N aturr~c h t.so6und neuerd111gs · n~uze1t Luhmann in den Vordergrund geruckt. D1eser begre1ft die ,,Form der Person" als soziale Konstruktion zur Li:isung des Problems der doppelten Kontingenz 8º7 und definiert sie als individuell attribuierte Einschrankung von Verhaltensmi:iglichkeiten" 8º8. SchlieB-

S. 17 ff.; Siep, Philosophie, S. 90 ff. - Zur komplexen Geschichte des Personbegriffs insgesamt Kather, Person, S. 12 ff.; Kobusch, Entdeckung, S. 23 ff.; Konersmann, Tatsachen, S. 158 ff.; Lutz-Bachmann, Mensch, S. 109 ff.; Mohr, Einleitung, S. 25 ff.; Spaemann, Personen, S. 25 ff. 80 Kant, MS, Werke_Bd. 7,_S. 329. - Au_fden so verstandenen Personbegriff greift Kant zuruck, wenn er__ zu Begmn semer Exp~s1t10n des Rechtsbegriffs klarstellt, daG der Bcgriff des Rechts ,,d~s auGere und zwar praknsche Verhaltnis einer Person gegen eine andere" betreffe, ,,sofern 1hrc Handlungen als Facta aufeinander [... ] EinfluG ha ben kéinnen" (Kant MS Werke Bd. 7, S. 337). ' ' . 801 _ Leder, Person, S. 42. - Person ist also ,,die Bezeichnung eines praktischen Begriffs, der mcht ~n der Metaphys1k erkannt und dann in der Ethik angewendet wird, sondern der eine ursprunghche prakt1~che Bedeutung hat" (Honnefelder, Begriff, S. 60). Die thcoretische Deut~ng des Pe_rs_onbe~1:1f'.s 111 Form der Zuschreibung von Vernunftbestimmtheit, Substantialitat und Ind1v1duahtat 1st von der pra~tischen ab~cleitet, weil und insofern sie der praktischcn Selbsterfahrung als handelndem Sub¡ekt entspnngt und ihren Grund in der Evidenz dieser Erfahrung hat (Honnefelder, Würde, S. 36). 802 Leder, Person, S. 42. 803 F~eilich ist diese Bestimmung noch gepragt durch die traditionelle status- Lehre. Der Mensch 1st _danach Person nicht aufgrund seines Menschseins, sondern kraft der ihm per Gesetz verhehenen Inhaberschaft eines bestimmten rechtlichen Status (naher Hattenhauer Mensch, S. 40 H., 52 ff.). ' 804 Spaemann, Personen, S. 195; Renzikowski, GA 2007, 562. - Mit Groschner (Dialogik, S. 93) kann man deshalb sagen, daG 111chtdas sub¡ektive Recht das Fundament der Rechtsordnung und dcr Grundbcgriff der Rechtstheorie ist, sondern das Rechtsverhaltn 1's eN· zetzsche, Morgenréithe 112 (KSA Bd. 3, S. 100). - Es sind allerdings auch . Pflichten dcnkbar, denen keme Rechte des Begünstigten entsprechen, sondern die lediglich zu einer fak~~!chen Besserstellung Dntter führen (Auer, AcP 208 [2008], 548). Oben S. 101 f. Fn. 554. 807 L11hmann, Aufklarung, S. 152. 808 Luhmann, Aufklarung, S. 148.

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lich kann man beide Seiten auch zusammenfassen. So kommt für Kelsen in der Person ein Komplex von Rechtspflichten und subjektiven Rechten figürlich zum Ausdruck 8º9; auch Jakobs versteht unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Kelsen 81º die Person als den ,,gedachte[n] Zusammenhang der Belegenheit und 811 der Verwaltung von Rechten und Pflichten" . . . Gleichgültig welche dieser Formulierungen man bevorzugt, 111_ eznem Punkt kommen sie alle überein: Personen gibt es ihnen zufolge ,,nur 1m Plural"812. Ich bin niemals für mich allein Person, sondern stets nur in meinem praktischen Verhaltnis zu anderen Personen 813. ,,Persons~in ist das Einnehmen cines Platzes, den es gar nicht gibt ohne einen Raum, 111dem andere Personen ihre Platze haben." 814Personen befi.nden sich also von vornherein in einer normativ konstituierten Gemeinschaft mit anderen Personen; ,,ihr Da816 sein ist das Anerkanntsein" 815 • Anders als Kelsen behauptet, sind Personen allerdings nicht lediglich ,,künstliche Konstruktion[en] der Rechtswis818 .. senschaft" 817. Ihr ontologischer Status ist - nac h d er von Sear 1e gepragten 819 Terminologie - vielmehr derjenige institutioneller Tatsachen : Sie ki:innen . . l · · «820 b · zwar ,,nur innerhalb von Systemen konst1tut1ver Rege n existieren , es1tzen aber dessen ungeachtet gesellschaftliche Realitat und sind nicht etwa bloBe Gedankengebilde. Rechtspersonen beziehen ihren Status aus ihrer ~ugehi:irigkeit z~ einer Rechtsgemeinschaft. Da Rechtsgemeinschaften ihrerse1ts rec~tsgesetzhch verfafü sind- so ist der Staat als der Prototyp einer Rechtsgeme111schaft nach der Definition Kants ,,die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen"821-, sind die Begriffe ,,Rechtsperson" und ,,Rechtsgesetz" untrennbar miteinander verbunden: Einerseits steht die Existenz von Rechtspersonen

809 210 211

Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , S. 177. Jakobs, Begriff, S. 66 f. Jakobs, Begriff, S. 74; zuletzt ders., System, S. 27. - Ebenso Seelmann, Grundannah-

men, S. 92. f · 812 Spaemann, Personen, S. 144. - Eindringlich ferner K. Giinther, Person, S. 23 . sow1e

]aeschke, Person, S. 64 f. 813 jakobs, Norm, S. 37. 814 Spaemann, Personen, S.193. 815 Hegel, Phanomenologie, Werke Bd. 3, S. 465. 2 816 Kelsen Reine Rechtslehre , S.176. 817 Kritik' an Kelsens Entscheidung, den Personbegriff auf den Bereich rechtswissenschaftlicher Erkenntnis zu beschranken statt ihn als Zeichen gesellschaftlicher Praxis zu begreifen, übt auch Miissig, FS Jakobs, S. 408. - Zu den Sc~wankungen und Problemen von Kelsens Konzeption der Person - wie ist das Verhaltnis ~vnschen dem Menschen und der Person im Rechtssinne gcnau zu denken? - Paulson, Ob¡ekt1v1erungsprogramme, S. 207 f. 8 18 Searle, Konstruktion, S. 37 ff. 819 Als ,,normative Institutionen" bezeichnet siejakobs, Rechtszwang, S. 42. 820 821

Searle, Konstruktion, S. 38. Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 431.

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unter der Voraussetzung der Geltung eines Rechtsgesetzes; andererseits kann das Rechtsgesetz seiner Grundaufgabe der Handlungskoordination nur durch die Konstituierung von Rechtspersonen gerecht werden 822 . In der Grundnorm des abstrakten Rechts - ,,sei Person und respektiere die anderen als Personen" hat Hegel diesen Zusammenhang in unübertrefflicher Pragnanz zum Ausdruck 823 gebracht und zugleich den materiellen Kern des allgemeinen Rechtsgesetzes umrissen: Behandle die anderen als deinesgleichen. In Kants Rechtsgesetz - ,,handle auBerlich so, daB der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen konne" 824 - hat ein solches dem Ziel einer Gleichheit in der Freiheit verpflichtetes Rechtsverstandnis seinen klassischen Ausdruck gefunden. Das Recht erscheint hier als die ,,Moglichkeitsbedingung der Existenz freier Wesen", die, insofern sie als Personen aufeinander bezogen sind, in ihren auBeren Handlungen die gleichen Einschrankungen ihres rechtlichen Bewegungsspielraumes erfahren 825 . Kant hatte eine Reihe von Vorlaufern, etwa Locke oder - in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft - den Abbé Sieyes. Respektierung des anderen heifü auch bei diesen Autoren, daB ich nicht in seinen Rechtsbereich eindringen darf; aber - und darin liegt der entscheidende Unterschied zu Kant - der Anspruch des anderen fungiert nicht als immanente Schranke meiner Rechtssphare 826 • Nach einer Bemerkung Sieyes' sind die anderen Individuen für mich vielmehr :,notwendigerweise entweder Mittel oder Hindernisse" 827 ; ich tue gut daran, 1hre Belange zu berücksichtigen, weil sich eine erfolgreiche Kooperation nicht anders organisieren laBt, aber sie bleiben meinem eigenen, prinzipiell unbegrenzten Freiheitsinteresse gegenüber auBerlich. Bei Kant ist Freiheit hingegen notwendig auf andere Freiheit bezogen und deswegen von vornherein nicht ande_rsals beschrankt denkbar 828 • Im Gegensatz zum liberalen Freiheitsbegriff semer Vorganger hat Kant damit ,,das Faktum der Sozialitat des Menschen auf transze~dentaler Ebene eingeholt" 829 • Ist aber Freiheit ,,nicht nur je meine, sondern gle1chursprünglich die des anderen" 830 , so konnen die Rechte einer Person

I d. n 1esem s· mne 1,ann man mit· Gans (Naturrecht, S. 78) sagen, die Rechtsperson sei :,das Recht selbs: als_Subjekt": In ihrwird das objektive Gesetzesrecht subjektiv und das Sub¡ekt rechthch obJekt1v (Kirste, FS Hollcrbach, S. 320). 823 Hegel, Grundlinien, § 36, Werke Bd. 7, S. 95. 824 Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 338. 825 Kobusch, Entdeckung, S. 144. 826 Konig, Begründung, S. 148, 164 f. 827 Sieyes, Schriften, S. 243. 828 Kobusch, Entdcckung, S. 143; ebenso Konig, Begründung, S. 188, 240. 829 Komg, Begründung, S. 240. 83 . ~ Zaczyk, FS E. A. Wolff, S. 519. - Zu cng Hofmann (Bilder, S. 86), der dem Freiheitsbegnff 1m Untersch1ed zu dem auf andere Personen bezogenen Begriff dcr Gerechtigkeit einen 822

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von vornherein ,,nicht ohne Blick auf die Position der anderen Person" bestimmt werden 831 • Eine freiheitstheoretisch reflektierte Konzeption muB demnach von vornherein die Freiheitsansprüche aller von einer strafrechtlichen Regelung Betroffenen in gleicher Weise berücksichtigen - also nicht nur die Belange des potentiell Geschadigten, sondern auch die Positionen derjenigen Personen, deren Handlungsoptionen durch das in Rede stehende Verbot eingeschrankt werden. Aus der rechtsgesetzlichen VerfaBtheit personaler Freiheit ergibt sich somit unmittelbar, daB deren Umfang maBgeblich durch Zustandigkeitserwagungen bestimmt wird. Nur soweit jemand danach für die Wahrung der Belange eines anderen zustdndig ist, verdient dessen Schutzinteresse rechtliche Anerkennung 832 . Wie weit diese Zustandigkeit in einer gegebenen Strafrechtsordnung zu einer bestimmten Zeit jeweils reicht, lafü sich zwar nicht mit apriorischer SelbstgewiBheit ermitteln 833 • Eine strafrechtliche Zustandigkeitskonzeption wird vielmehr unweigerlich kontingente Züge aufweisen. Dessen ungeachtet bildet sie das Rückgrat einer um den Personbegriff kreisenden Allgemeinen Verbrechenslehre. Ihrer Darstellung ist deshalb das folgende Kapitel gewidmet. e) Person als Einheit von Rechtsform und Materie Zu den Voraussetzungen des Rechtsgesetzes gehort nicht nur die Existenz zurechnungsfahiger Handlungssubjekte, die als Trager von Verpflichtungen in Anspruch genommen werden konnen. Um beurteilen zu konnen, ob das Verhalten des einen die rechtliche Freiheit eines anderen tangiert, muB zudem bekannt sein, welche Rechtspositionen dem Handelnden 834 und welche dem Eingriffsadressaten zuzuordnen sind 835 • Die damit verbundenen Fragen beantwortet Kant erst im weiteren Verlauf seiner Darlegungen, namlich in seinen Lehrstücken über das innere und das auBere Mein 836 .

irreduziblen Selbstbezug eingeschricben sieht. Auf Kant kann er sich bei dieser Deutung jedenfalls nicht berufcn. 831 So (allerdings ohne Bezugnahmc auf Kant) jakobs, Begriff, S. 74; ebenso Buchheim, Verlangen, S. 71. 832 Pawlik, Verhalten, S. 47. 833 So schreibt der kantische Rechts begriff keineswegs eine bestimmte Gestalt der Rechtsordnung vor, sondern ist mit einer ganzen Bandbreite zulassiger Rechtsgestaltungcn vereinbar (Auer, AcP 208 [2008], 627). 834 F. v. Hippel, Gesetzmafügkeit, S. 12 f. 835 Stratenwerth, ZStW 68 (1956), 44. 836 Nicht einmal die Notwendigkeit des Eigentums überhaupt lafü sich Kant zufolge analytisch aus dem kategorischen Impcrativ oder dem allgemei~en Rechtspr~nzip folgern. Es ist eine der zentralen Thesen der ,,Rechtslehre", daG es dazu emes synthet1schen Rechtssatzes bedürfe (Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 358).

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

In dem Verhaltnis von Kants Ausführungen über das Rechtsgesetz und das innere bzw. auBere Mein kann man, wenn man so hoch greifen mochte, die transzendentale Methode am Werk sehen: Bedingung der Moglichkeit einer operablen rechtlichen Verhaltensordnung ist das Vorhandensein rechtlicher Zuordnungsregeln 837. Die strafrechtliche Verhaltensordnung enthalt diese Zuordnungsregeln ebensowenig in sich, wie Kants Rechtsgesetz die Lehren seines Privatrechts vorwegnimmt; sie findet sie vielmehr vor. Nach den obigen Überlegungen besteht die Aufgabe des Strafrechts namlich allein darin einen Zustand rechtlich verfaBter Freiheitlichkeit aufrechtzuerhalten. Es is~ mithin eine bereits normativ geordnete Welt, in deren Rahmen das Strafrecht tatig wird. Seine Rolle ist die eines Stabilisators, nicht die eines Schopfers · sJs. D.1esen semen · von Fre1·he1t Bezugsgegenstand, konstituiert durch die Zuordnungsregeln, hat das Strafrecht in seiner Eigenschaft als ,,akzessorisches Schutzrecht" 839deshalb zu respektieren; der Beschranktheit seiner Aufgabe korrespondiert ein begrenzter Regelungsspielraum. Damit wird freilich nicht die Kompetenz des Strafrechts geleugnet, eigenstandig darüber zu entscheiden, welche der von ihm vorgefundenen Rechtspositionen es unter seine Fittiche nehmen will und welche nicht 840. Eines steht dem Strafrecht aufgrund der Vorgangigkeit der Zuordnungsregeln aber nicht offen: solche Positionen als schutzwürdig zu behandeln, die keine Anerkennung von seiten der Zuteilungsordnung genieBen 841. 837 Ahnlich Müller, Wille, S. 3; Hruschka, JZ 2004, 1090. 838 Ebenso MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 43, 56; ders., AT, § 1 Rn. 12; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 5; Ebert, AT, S. 5; Schmzdhduser, AT, 1/5; Appel, Verfassung, S. 431 f.; ders., KritV 1999, 306; Haas, Kausahtat, S. 54 ff.; Kleinert, Betroffenheit, S. 94 f.; Mikus, Verhaltensnorm, S. 90; Frzsch, Rechtsgut, S... 219 ff.; Renzikowski l Taterbegriff ' S. 55·l ders ., GA 2007' 571• 839 SK-H.-L. Gunther, Vor § 32 Rn. 60; Appel, Verfassung, S. 431; ders., KritV 1999, 306; Haas, Kausalitat, S. 54. 840MK-Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 56. 841 Ebenso SK-Rz~dolfhi, Vor § 1 Rn. 5. - Dieser Zusammenhang wird von der heutigen Strafrechtsdogmat1k m vi~len Emzelfragen miGachtet (dazu zuletzt]akobs, Begriff, S. 67 ff.). We~n die he:rschende Memung im_Rahmen des§ 240 StGB statt der rechtlich garantierten die faktische Willensbildungs- und Willensbetatigungsfreiheit des Opfers schützt (BVerfGE 73, 206,237; BGHSt 37,350,353; MK-Gropp!Sinn, § 240 Rn. 2 ff.; SIS-Eser,§ 240 Rn. 1; Wesselsl Hettznger: B~ 1, Rn. 380; treffende Kritik di eser Auffassung bei jakobs, FS Peters, S. 69 ff.; ebenso w1e hicr auch SK-Wolters/Horn, § 240 Rn. 3; Frisch, Verhalten, S. 136; Horn, NStZ 1_983,499; Lesch, FS Jakobs, S. 330ff.; Rehr-Zimmermann, Struktur, S. 89; Ronnau, Einwilhgung, ~-444 ff.; Timpe, Néitigung, S. 27 ff.), wenn sie die Zusage einer strafbaren Handlung ohne we1teres als betrügerische Tauschung qualifiziert (KG NJW 2001, 86; Kreyl H ellmann, BT 2, Rn. 426; ablehnend LPK-Kindhduser, § 263 Rn. 205; Kindhauser/Wallau NStZ 2003 153; Pawlik, Verhalten, S. 146 ff.) oder wenn sie rechtswidrig innegehabten Po~itionen Ver~ méigensqualitat zuspricht (RGSt 44'. 230; Krey/Hellmann, aaO, Rn. 433 ff.; dagegen Kindhauser ~S Luderssen, S. 635 ff.; Pawlzk, aaO, S. 259 ff.), so überdehnt sie damit die Regelungsb_efugn'.sde_sStrafrechts. Hier_ racht es sich, daG die heutige Strafrechtsdogmatik nicht über emen hmreichend !dar kontunerten Personbegriff verfügt. Deshalb operiert die herrschende

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Trotzdem ist die Definition der Rechtsperson als Bezugspunkt von Rechten und Pflichten unzureichend. Folgerichtig durchgeführt, erlaubt sie namlich keinerlei inhaltliche Differenzierungen. Wer eine Person abschlieBend als ein Zuordnungssubjekt von Rechten und Pflichten versteht, kann Angriffe auf _sie konsequenterweise ebenfalls nur anhand einer formalen Kategorie, namhch derjenigen der Rechtsverletzung, begreifen. Eine derart verstandene P~rson würde folglich durch jede Beeintrachtigung ihrer Rechtsposition in gle1cher Weise betroffen. Ebenso wie die ,,stoische Ansicht, daB es nur eine Tugend und ein Laster gibt, die drakonische Gesetzgebung, die jedes Verbrechen mit dem Tode bestraft", und ein formeller Ehrbegriff, der ,,die unendliche Personlichkeit in jede Verletzung legt", würde eine solche Auf~assu~g freilich- mit H~?el_gesprochen - ,,bei dem abstrakten Denken des fre1en W1llens und_der Personhc_hkeit stehenbleiben und sie nicht in ihrem konkreten und best1mmten Dasem, das sie als Idee haben muB, nehmen" 842.Um das Los formalistischer Uniformitat zu vermeiden, muB man entweder den Personbegriff um eine weitere, materielle Unterscheidungen ermoglichende Kategorie erganzen, oder aber man muB den Personbegriff selbst verandern. Die erstere Strategie ist jene der herkommlichen Rechtsgutlehre. Danach fungiert die Person als Inhaber oder - noch miBverstandlic~er - al~ ,,Trager" der ihr zugeordneten Güter 843.Rechtsgüter ha ben danach ,,eme1~obJekth_aften Charakter, ein seinshaftes Substrat; sie existieren auBerhalb emes Subiekts, in der Wirklichkeit der AuBenwelt" 844.Aber ist es ontologisch und normativ angemessen, Gesundheit, korperliche Inte~ritat oder g~r das_Le_benals ,,Güter" zu qualifizieren, die eine Person ,,bes1tze" und die, weil s1e ,,als solche und nicht nur als Dispositionsmasse menschlicher Freiheit einen Wert verkorpern"845, gegebenenfalls auch gegen den Willen ihres ,,Tragers" geschützt Auffassung in einem Kontext, in dem es um Personen als Rechtstrager geh:, mit Me~sche_n und deren faktischen lnteressen und Machtpositionen - ein erhellendes Be1sp1el_dafur, wie undurchschaute Kategorienfehler sich in den vcrschiedensten Teilbereichen und Emzelfragen cines Begründungssystems niederschlagen. 842 Hegel, Grundlinien, § 96 A, Werke Bd. 7, S. 183. . .. .. 843Die Verfehltheit der letztgenannten Bezeichnung kann_man mcht uberzc.ugender ~ugen, als Kefüer dies gctan hat: Mit ihr werde angedeutet, daG die betreffenden Guter m~ht 1hrem Trager, sondern dem erhabenen Gedankenwe_sen des objektiven Rechts_selbst_gehorten. ,,Von einem Stück Vieh kann man wohl sagen, sem Fleisch und sem Fell se1en_Gutei semes Eigenthümers und das Vieh nur der Trager die ser Gütcr; aber Le ben, Ehre, ~reiheit und_was sonst etwa das Recht dem Menschen schützt, das smd auch wirkhch sezne Guter, er hat sie zu eigen, und tragt sie nicht bloG als die eines Anderen, am allerwemgsten als die cmer hohlen Abstraktion." (Kefiler, GS 39 [1887], 109 f.) . 844 M. Marx Definition, S. 9. - Zu Unrecht ordnet Kargl (JZ 2002, _395)die Auffassung, Rechtsgüter hat~en unabhangig vom Willen der Person einen eigenstandige_n Wert, der rechtsphilosophischen Tradition Hegels zu. Heg~l 1st umgekeh:t gerade der Pl11losorh, ~er derartige abstrakte Unterscheidungen am entscl11edensten bekampft hat; dazu sogleich im Text. 845 So Hirsch, FS Amelung, S. 189.

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werden konnen? 846Wird es der Rolle des menschlichen Leibes gerecht, wenn man einen ,,funktionierenden Korper" zu den ,,Dinge[n]" rechnet, die der Mensch benotige, um sein Dasein gestalten zu konnen 847, oder wenn man ihn gar als ,,das Transportmittel" bezeichnet, ,,welches das ,geistige Ich' durchs Le ben befordert" 848? Ist die Metapher vom Geist, der im menschlichen Korper ,,wohnt und ihn beherrscht" 849,vor dem Hintergrund der modernen Philosophie des Geistes zur Umschreibung cines strafrechtlichen Schutzobjekts noch statthaft? Derartige Formulierungen speisen sich aus einer wenig überzeugenden Gemengelage aus cartesischer Metaphysik mit ihrer scharfen Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa 850 und einem besitzbürgerlichen Denken, das alle Rechtsgüter nach MaBgabe des Eigentums konstruiert 851. Tatsachlich hat die Person nicht einen Leib- sie ist kein immaterielles Etwas das diesen Leib in Besitz nehmen konnte wie ein beliebiges Kleidungsstücl~ und ihn ,,wie einen Mantel dereinst ablegen kann" 852-, sondern sie ist dieser Leib 853. Wenn der Leib verletzt wird, so wird deshalb die Person selbst verletzt, wenn die Person hingegen wirksam in den Eingriff eingewilligt hat, so fehlt es bereits am tatbestandlichen Anlrnüpfungspunkt für eine Strafbarkeitsprüfung854. Zumindest im Kernbereich der Delikte gegen die Person versagt somit der Dualismus von ,,Rechtsgut" und ,,Rechtsgutinhaber"; vielmehr muB die Spaltung als solche überwunden, d.h. der Personbegriff materialisiert werden.

846 Neumann (Alternativen, S. 93) spricht diesbezüglich von einer ,,Tyrannei des Rechtsguts gegenüber dessen Inhaber". 847 Die Wendung stammt von Ingelfinger, Grundlagen, S. 38. - Ganz ahnlich M. Marx, Definition, S. 68 (das Subjekt müsse ,,Kéirper und Leben zur Verfügung haben, um über sie [und damit sich] bestimmen zu kéinnen"). 848 Diese Umschreibung wahlt Wortmann, Inhalt, S. 91. 849 So Roxin, AT 1, § 13 Rn. 14. 85 Koriath, Grundlagen, S. 365. - Zutreffende Kritik an dem - sei es offenen, sei es verd~ckten - Fortleben des Cartesianismus in der modernen Neurophilosophie üben Fuchs, Geh1rn, S. 27 ff. und Kladen, Anima, S. 264 f. 851 Letzteres manieren auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 71; ders., Begriff, S. 164; ders., FS Eser, S. 3 und Fiolka, Rechtsgut, S. 39. - DaG der Rechtsgutbegriff nicht von dem Bild ,,Hab und Gut" her zu interpretieren sei, hebt auch Otto, Rechtsgutsbegriff, S. 5 hervor. Dies hindert _ihnallerdings nicht daran, auf der folgenden Seite eben dies zu tun, indem er von der ,,Bez1ehung des Rechtssubjekts zu seinem Leben, seinem Kéirper und seinen Eigentumsobjekten" spricht. 852 Plessner, Macht, S. 226. 853 Eindringlich Plessner, Macht, S. 226; an ihn anlrnüpfend jüngstFuchs, Gehirn, S. 95 ff.; instruktiv auch Kather, Pcrson, S. 142ff. -Treffend auch W. Marx (Grundrechte, S. 81): ,,Der menschliche Leib ist nicht etwa nur das umhüllende Kleid von Selbstbewusstsein, Seele und Person, das man sich von letzterem gewissermaGen wegdenken kéinnte, sondern die elementarste alter Existenzbedingungen." 854 Nachweise zu dem diesbezüglichen Meinungsstreit unten S. 197f. - Zum Sonderfall des§ 216 StGB unten S. 225 ff.

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Diesen Schritt hat Kant in seinem Lehrstück vom inneren Mein vollzogen. Soweit der Bereich des inneren Mein reicht, ist die Person für Kant mehr als ein bloBer Knotenpunkt von Zurechnungsprozessen, nach deren MaBgabe der betreffenden Person gewisse auBere Güter als die ihrigen zugeordnet werden. Insoweit ist die Person vielmehr verkorperte Subjektivitdt, Einheit von Freiheit und raumzeitlicher Erscheinung 855. ,,Der homo noumenon setzt sich als horno phaenomenon in Bewegung." 856Den Umfang dieses angeborenen Rechts zieht Kant allerdings sehr eng; es umfafü lediglich die leibliche Integritat und die physische Bemachtigungsfahigkeit der einzelnen Person. Die Grenze des Lei857 bes ist nach Kant die Grenze der material verstandenen Person . Jenseits dieser Grenze - in der Sphare des auGeren Mein - zerbricht die Einheit welche den Bereich des inneren Mein auszeichnet, und der Dualismus von For:U und Materie, der Kants Philosophie insgesamt durchzieht, behauptet das Feld. Die Dinge stehen dem Willen auBerlich, fremd und undurchdringlich gegenüber858;das Band, das beide miteinander verbindet, kann deshalb nur der dünne Faden der bloGen Rechtsinhaberschaft sein. Die Person wird hier von Kant stillschweigend sublimiert zu einem Subjekt, dem aufgrund von gewissen Zurechnungsregeln der intelligible Besitz an auBeren Gegenstanden zugeordnet wird. Wer mir daher beispielsweise einen Apfel aus der Hand windet, der verletzt mich nur insoweit in dem, was ich als Person bin (meinem ,,inneren 859 Mein"), wie er meinen Korper seiner Zwangsgewalt unterwirft . Im Hinblick auf den Apfel verletzt er mich hingegen allenfalls in einer Rechtsposition, die ich als Person habe. Kant stellt zwar ldar, daG jemand, der einen fremden Gegenstand gegen den Willen seines Inhabers affiziert, sehr wohl die Person des Inhabers selbst ladiert 86º. Aber im Unterschied zu Eingriffen in das innere Mein trifft die Lision die verletzte Person hier nicht in ihrer Qualitat als gestaltgewordenes Subjekt, sondern lediglich in ihrer abstrakten Rechtsinhaberschaft, d.h. in ihrer Eigenschaft, Subjekt von Rechtsansprüchen gegen andere Personen zu sein. Wie gesehen, ist auf dieser Basis eine Gewichtung von Straftaten nach ihrer Schwere ausgeschlossen. Wo Kant eine solche Gewichtung dennoch vornimmt, wie vor allem in seinen Ausführungen zur Strafgerechtigkeit, überschreitet er unvermerkt die Begründungsgrenzen seiner Lehre vom auGeren Mein. Die Materialisierung des Personbegriffs muB deshalb weiter getrieben werden, als es bei Kant geschieht.

8s5 856 8 57 8 58 859

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Müller, Wille, S. 139. Müller, Wille, S. 130. Miiller, Wille, S. 138. M üller, Wille, S. 78. Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 358. Kant, MS, Werke Bd. 7, S. 56.

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1. Kapitel: Der Begriff des Verbrechens

. Hegel hat es u:1ternommen, den Begriff der Person insgesamt nach dem Vorbild von Kants .,,mnerem Mein" zu modellieren861• ,,Di'e p erson ", so formu 1· 1ert er pr.ogr~m~at1sch, ,,s~ll :