Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung: Chancen und Risiken [1. Aufl. 2019] 978-3-658-26039-2, 978-3-658-26040-8

Welche Bedeutung hat Konsum in der gesellschaftlichen Umbruchphase zwischen Klimawandel und Digitalisierungsprozessen? K

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German Pages XVI, 174 [183] Year 2019

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Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung: Chancen und Risiken [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-26039-2, 978-3-658-26040-8

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVI
Wie kann Konsum transformative Kraft entwickeln? – Eine Annäherung (Renate Hübner, Barbara Schmon)....Pages 1-21
Nachhaltiger Konsum und die sozial-ökologische Transformation: Die sozialen Praktiken ändern, nicht die Individuen! (Karl-Michael Brunner)....Pages 23-35
Smarte Konsumwende? Chancen und Grenzen der Digitalisierung für den nachhaltigen Konsum (Vivian Frick, Tilman Santarius)....Pages 37-57
„Smarte“ Technologien als Schlüssel zu klimafreundlichem Konsum? (Stephan Schwarzinger, Ingrid Kaltenegger, David Neil Bird)....Pages 59-77
Die Stimme der Verbraucherinnen und Verbraucher: Diskursiver politischer Konsum on/offline (Katharina Witterhold)....Pages 79-92
Das pathogene Potenzial von Konsum: Kaufsucht und Produkte der digitalen Transformation (Saskia Ehrhardt, Christina Raab, Michael Dübner)....Pages 93-104
Verbraucherbildung im und für Wandel? Normative, konzeptionelle und curriculare Transformationen im Spiegel konsumgesellschaftlicher Entwicklungen (Nadine Heiduk)....Pages 105-118
Die Rolle von Grenzziehungen bei der Thematisierung transformativen Konsums in heterogenen Klassen (Anke Uhlenwinkel)....Pages 119-133
Nachhaltiger Konsum als Utopie, soziale Wirklichkeit und Ideologie – Über die transformativen Potenziale des „Scheiterns“ (Björn Wendt)....Pages 135-151
Art of Hosting oder: Wie können Konferenzen durch ihre Gestaltung transformativ wirken? (Martina Handler, Ines Omann, Renate Hübner)....Pages 153-174

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Kritische Verbraucherforschung

Renate Hübner · Barbara Schmon Hrsg.

Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung Chancen und Risiken

Kritische Verbraucherforschung Reihe herausgegeben von Christian Fridrich, Wien, Österreich Renate Hübner, IUS, Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich Karl Kollmann, Österreichischer Verbraucherrat, Wien, Österreich Michael-Burkhard Piorkowsky, Institut für Konsumökonomik, Universität Bonn Bonn, Deutschland Nina Tröger, Arbeiterkammer Wien, Wien, Österreich

In der Reihe „Kritische Verbraucherforschung“ werden Sammelbände und Monographien veröffentlicht, die im Gegensatz zur herkömmlichen, am Markt-KaufParadigma orientierten Verbraucherforschung wenig reflektierte Ansätze stärker in den Blick nehmen. Kritisch wird vor allem die tendenziell zunehmende Vereinnahmung sämtlicher Lebensbereiche durch den Markt gesehen. Die zunehmende Marktorientierung verändert unsere Gesellschaft insofern massiv, als sie erstens Menschen einseitig marktabhängig macht, zweitens aufgrund des dem herrschenden ökonomischen Verständnis inhärenten Wachstumsparadigmas dazu führt, dass alle Lebensbereiche nach der Wachstumslogik funktionieren (müssen) und dadurch drittens die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu beschleunigen scheint. Kritische Verbraucherforschung wird daher in mehrerlei Hinsicht aus einer emanzipatorischen Haltung heraus entwickelt: wider die Instrumentalisierung der Verbraucherforschung, wider die Vermarktlichung der Gesellschaft, wider die Infantilisierung der Verbraucherinnen und Verbraucher und wider die Privatisierung von politischer Verantwortung. Mit einer Kritischen Verbraucherforschung eng verknüpft ist eine kritische Verbrauchertheorie, in der jene Kontexte angemessen berücksichtigt werden, in die das Handeln von Verbraucherinnen und Verbrauchern eingebettet ist, nämlich private Haushalte, Erwerbstätigkeit und Gesellschaft. Diese Handlungskontexte sind für eine sozioökonomisch ausgerichtete Wirtschafts- und Verbraucherbildung von höchster Relevanz, in der die gesellschaftlich eingebetteten Akteurinnen und Akteure in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden und die auf kompetente Orientierungs-, Urteils- sowie Handlungsfähigkeit abzielt. Die Reihe ist auch ein Angebot an die Verbraucherbildung, die Verbraucherpolitik und die Nachhaltigkeitspolitik, insofern diese Bereiche auch Interesse an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ansätzen abseits von rein marktökonomischen Perspektiven und Gestaltungsspielräumen haben. Umgekehrt sind auch Vertreterinnen und Vertreter insbesondere der Bildungs-, Verbraucher- und Nachhaltigkeitspolitik eingeladen, mitzuwirken und mit ihren Fragestellungen wiederum die Kritische Verbraucherforschung zu fordern und zu fördern.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13869

Renate Hübner · Barbara Schmon (Hrsg.)

Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung Chancen und Risiken

Hrsg. Renate Hübner Alpen-Adria Universität Klagenfurt Klagenfurt, Österreich

Barbara Schmon Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus (BMNT) Wien, Österreich

ISSN 2569-7161 ISSN 2569-717X  (electronic) Kritische Verbraucherforschung ISBN 978-3-658-26039-2 ISBN 978-3-658-26040-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Wir gedenken mit diesem Buch Karl Kollmann. Er ist zur Zeit der Drucklegung dieses Bandes leider viel zu früh verstorben. Karl Kollmann war maßgeblich an der Vernetzung des Herausgeberteams beteiligt. Seine pointierte und kritische Stimme wird der Reihe fehlen.

Vorwort

Konsum ist als klassische Querschnittsmaterie in vielen Disziplinen und Politikbereichen explizit oder implizit präsent. Die dem jeweiligen Konsumverständnis und Verbraucherbild zugrunde liegenden Paradigmen sind jedoch höchst unterschiedlich, teilweise sogar widersprüchlich. Gemeinsames Merkmal ist allerdings das implizite Anliegen, in der Gesellschaft wirksam zu werden und nicht- zukunftsfähige Konsumpraktiken und deren Folgen zu beeinflussen. Durch Entwicklungen wie sozial-ökologische Transformationsprozesse, aber auch durch zunehmend konsumkritische Zugänge in Teilen der Bevölkerung bis hin zum Einsatz von Konsum als politische Ausdrucksform, haben alternative Konsumformen eine neue Dynamik erhalten. Kann es im gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem „nachhaltigen Konsum“ überhaupt geben? Zuviel an Information, Verantwortungszumutungen, ungelösten Fragestellungen und widersprüchlichen Botschaften können auch zu einer Überforderung der BürgerInnen und VerbraucherInnen (in Personalunion) führen. Eine zukunftsorientierte Konsum- und Verbraucherforschung muss sich an einen Diskurs beteiligen, der neue bzw. vielfältige Zugänge zu Konsum in Wissenschaft, Politik, Bildung und Praxis ermöglicht und dazu beiträgt, alternative Konzepte, sowie politische und praktische Handlungsalternativen zu entwickeln. Mit dem Fokus auf das transformative Potenzial von Konsum bietet der vorliegende Band Zugänge an der Schnittstelle von kritischer Verbraucherforschung und Nachhaltigkeitsforschung, sowie den damit verbundenen Bildungsfragen. Der Band entstand auf Basis eines Symposiums in der Reihe „Konsum neu denken“. Die Veranstaltungsreihe, im Jahre 2015 von einer kleinen Initiativgruppe gestartet, war von Beginn an sektor- und disziplinenübergreifend angelegt. Das Anliegen war, Kommunikationsräume anzubieten und so zu gestalten, dass sich Menschen unterschiedlichster disziplinärer Herkunft rund um aktuelle

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Vorwort

Themen der Konsum- und Verbraucherforschung sowie der Nachhaltigkeitsforschung und Verbraucherbildung vernetzen können. Das 3. Konsum neu denken-Symposium mit dem Titel „Konsum im Wandel – das Transformative Potenzial von Konsum“ (21.–22. September 2017 in Klagenfurt/Österreich) verfolgte das Ziel, mithilfe eines erweiterten Konsumverständnisses Handlungsalternativen im Sinne eines gesellschaftlichen Wandels nicht nur sichtbar zu machen, sondern auch den Diskurs anzuregen, wie deren Weiterentwicklung im Rahmen kollektiver Prozesse bestmöglich unterstützt werden kann. Experten und Expertinnen aus Wissenschaft und Forschung, Verwaltung und Wirtschaft, NGOs und Interessensvertretungen, sowie Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft aus unterschiedlichsten Bereichen stellten sich die Frage, ob und in welcher Form Konsum transformative Kraft entfalten kann und welche Schritte dafür notwendig sind. Nach dem Konzept des „Art of Hosting“ ausgerichtet, wurden im Zuge der Veranstaltung zentrale konsum- und nutzungsrelevante, sowie bildungs- und forschungsspezifische Fragestellungen sichtbar gemacht. Das Symposium, unterstützt von der Arbeiterkammer Wien und dem österreichischen Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus (BMNT), war somit Ausgangspunkt für den vorliegenden Band. Wie jedes andere Projekt wäre auch dieser Band nicht ohne gelingender Zusammenarbeit von verschiedenen Personen möglich gewesen. Wir bedanken uns an dieser Stelle bei Frau Elisabeth Buxbaum für das Lektorat, bei Frau Marina Stollberger für die Manuskripterstellung, bei Frau Eva Stepka für die Unterstützung in der organisatorischen Abwicklung, sowie bei Frau Emmerich stellvertretend für den Verlag Springer VS für die Umsetzung als Band in der Buchreihe „Kritische Verbraucherforschung“. Unser besonderer Dank gilt schließlich allen Autorinnen und Autoren und ihrer Bereitschaft sich (in mehreren Schleifen) mit den Hinweisen und Anregungen seitens der beiden Herausgeberinnen sowie vor allem auch seitens der Gutachterinnen und Gutachter intensiv auseinanderzusetzen. Dabei sei folgenden Reviewerinnen und Reviewern herzlichst gedankt: • • • • • •

Christian Bala, Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW, Düsseldorf Dieter Bögenhold, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Wilfried Elmenreich, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Bernhard Freyer, Universität für Bodenkultur, Wien Christian Fridrich, Pädagogische Hochschule, Wien Michael Jonas, Institut für höhere Studien, Wien

Vorwort

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• Hermann Kaindl, Technische Universität, Wien • Sigrid Kannengießer, Universität Bremen • Fridolin Krausmann, Universität für Bodenkultur, Wien • Sylvia Mandl, AustriaTech – Gesellschaft des Bundes für technologiepolitische Maßnahmen • Franz Rauch, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt • Lucia Reisch, Copenhagen Business School • Martina Schäfer, Technische Universität Berlin • Lukas Scherak, Universität Vechta • Tanja Schneider, SfS – Institute of Sociology, SHSS – School of Humanities and Social Sciences • Joachim Spangenberg, Sustainable Europe Research Institute (SERI), ­Germany • Agnes Turner, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt • Sandra Wassermann, Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung, Universität Stuttgart • Norbert Wohlgemuth, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Dem Anliegen der Buchreihe entsprechend, war auch die Zusammenarbeit der beiden HerausgeberInnen getragen von dem Wunsch, aus dem jeweiligen Erfahrungsschatz und den unterschiedlichen Zugängen (Wissenschaft und Praxis) möglichst reichhaltig zu schöpfen und dies auch im Band sichtbar zu machen. Sich darauf einzulassen war herausfordernd, inspirierend und motivierend gleichermaßen. Klagenfurt-Wien September 2019

Barbara Schmon Renate Hübner

Inhaltsverzeichnis

Wie kann Konsum transformative Kraft entwickeln? – Eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Renate Hübner und Barbara Schmon Nachhaltiger Konsum und die sozial-ökologische Transformation: Die sozialen Praktiken ändern, nicht die Individuen! . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Karl-Michael Brunner Smarte Konsumwende? Chancen und Grenzen der Digitalisierung für den nachhaltigen Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Vivian Frick und Tilman Santarius „Smarte“ Technologien als Schlüssel zu klimafreundlichem Konsum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Stephan Schwarzinger, Ingrid Kaltenegger und David Neil Bird Die Stimme der Verbraucherinnen und Verbraucher: Diskursiver politischer Konsum on/offline . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Katharina Witterhold Das pathogene Potenzial von Konsum: Kaufsucht und Produkte der digitalen Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Saskia Ehrhardt, Christina Raab und Michael Dübner Verbraucherbildung im und für Wandel? Normative, konzeptionelle und curriculare Transformationen im Spiegel konsumgesellschaftlicher Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Nadine Heiduk

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Inhaltsverzeichnis

Die Rolle von Grenzziehungen bei der Thematisierung transformativen Konsums in heterogenen Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Anke Uhlenwinkel Nachhaltiger Konsum als Utopie, soziale Wirklichkeit und Ideologie – Über die transformativen Potenziale des „Scheiterns“ . . . . . . 135 Björn Wendt Art of Hosting oder: Wie können Konferenzen durch ihre Gestaltung transformativ wirken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Martina Handler, Ines Omann und Renate Hübner

Autorenverzeichnis

David Neil Bird  erhielt einen MSc. Geophysik von der Univ. of British Columbia, Vancouver, 1981, arbeitet aber seit 1996 an Themen des Klimawandels. Er kam im August 2005 zu JOANNEUM RESEARCH, wo er sich mit folgenden Themen beschäftigt: Treibhausgasemissionen (THG) aus verschiedenen Lebensstilen; Auswirkungen von Klimaänderungs- und Anpassungsstrategien auf die landwirtschaftliche Produktion und die städtische Umwelt; THG von Landwirtschaft und der Nutzung von Biomasse. Karl-Michael Brunner studierte Soziologie und Pädagogik in Klagenfurt und Wien. Er ist Professor für Soziologie am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist seit Jahrzehnten in Forschung und Lehre mit Fragen gesellschaftlicher Naturbeziehungen und der Soziologie nachhaltiger Entwicklung beschäftigt. Seine gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte sind nachhaltiger Konsum und sozialökologische Ungleichheiten, mit Schwerpunktsetzungen in den Bereichen Ernährung und Energiearmut sowie Fragen sozial-ökologischer Transformationen. Michael Dübner, Studium der Allgemeinen Informatik an der HTW Dresden. Software- und Systementwicklung in verschiedenen internationalen Unternehmen. Derzeit Abteilungsleiter einer Forschung und Entwicklungsabteilung der Robert Bosch AG in Österreich. Aktuelle Schwerpunkte: Software-und Systementwicklung für Embedded Systems, Cyber-physical Systems sowie Internet of Things. Saskia Ehrhardt, Studium der Erziehungswissenschaften an der TU Chemnitz, Studium der Sozialwirtschaft und Sozialen Arbeit an der FH Campus Wien. Derzeit Forschung und Lehre an der FH Campus Wien. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Klinische Soziale Arbeit, Abhängigkeitserkrankungen, Sozialtherapie. XIII

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Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Klinische Soziale Arbeit der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit. Vivian Frick ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin und dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in der Forschungsgruppe „Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation“. Sie arbeitet aus umweltpsychologischer Perspektive zu den Themen Digitalisierung, nachhaltiger Konsum, Suffizienz und Verhaltensveränderung. www.nachhaltige-digitalisierung.de. Martina Handler,  Politikwissenschaftlerin und eingetragene Mediatorin, Bereichsleiterin für Partizipation und Green Investment in der Österreichischen Gesellschaft für Umwelt und Technik (ÖGUT), Lehrende an verschiedenen österreichischen Universitäten und Fachhochschulen. Arbeitsschwerpunkte: Partizipation, demokratische und soziale Innovationen, Konflikttransformation, Nachhaltige Entwicklung, Gender und Diversität. Nadine Heiduk,  Studium der Fächer „Politik und Wirtschaft“ sowie „Deutsch“ für das Lehramt an Gymnasien an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Verbraucherbildung und sozioökonomische Bildung. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Renate Hübner,  Wirtschafts- und Sportstudium, Promotion an der Wirtschaftsuniversität Wien. Nach 15 Jahren selbstständiger Tätigkeit in der Nachhaltigkeitsberatung und -forschung seit 2005 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: „Nachhaltigkeit konkret“: Nachhaltig Wirtschaften, Interventionsorientierte Nachhaltigkeits- und Verbraucherforschung, Bildung für Nachhaltige Entwicklung. Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung der IFF-Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung. Ingrid Kaltenegger, Studium der Chemie und Umweltsystemwissenschaften, Promotion an der TU Graz. Nach mehreren Jahren Tätigkeit im Bereich Cleaner Production seit 2001 bei JOANNEUM RESEARCH in verschiedenen Bereichen als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin tätig. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Begleitung und Management von Stakeholderprozessen, Bewertung und sozialverträgliche Gestaltung von Produkten, Prozessen und Dienstleistungen (u. a. Social Life Cycle Analysis), Nachhaltige Stadtentwicklung(sprozesse), sowie Produkt-Dienstleistungs-Systeme (PDL).

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Ines Omann  ist promovierte ökologische Ökonomin und Umweltsystemwissenschaftlerin und arbeitet seit 1998 als Nachhaltigkeitsforscherin an verschiedenen Forschungsinstituten, u. a. am SERI, am Helmholtz Zentrum für Umweltforschung in Leipzig oder der Wirtschaftsuniversität Wien. Zudem arbeitet sie seit mehr als fünf Jahren als Moderatorin und Prozessbegleiterin im Bereich „Wandel zu einem nachhaltig guten Leben für alle“. Christina Raab, BA Soziale Arbeit, Stud. MSc im Addiction Prevention and Treatment. Nach der Arbeit als Bezugstherapeutin suchtkranker Jugendlicher und junger Erwachsener in unterschiedlichen Leitungsfunktionen in Deutschland seit 2016 in Österreich als Sozialarbeiterin im Suchtbereich tätig. Arbeitsschwerpunkt: Langzeitrehabilitation suchtkranker Menschen. Forschungsschwerpunkt: Verhaltenstraining für Menschen mit kompensatorischem und pathologischem Kaufverhalten. Tilman Santarius, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Promotion an der Universität Kassel. Tätigkeit als Wissenschaftler, Autor und Aktivist. Seit 2001 in der angewandten Nachhaltigkeitsforschung am Wuppertal Institut und in der Heinrich-Böll Stiftung; seit 2016 an der Technische Universität Berlin, am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung und am Einstein Centre Digital Futures. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation; Rebound-Effekte, Suffizienz-Chancen, Nachhaltig Wirtschaften. Institut für berufliche Bildung und Arbeitslehre der TU Berlin, Fachgebiet Sozial-ökologische Transformation. Barbara Schmon,  Studium der Biologie und Biochemie. Forschungstätigkeit an der Univ.-Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Graz mit Schwerpunkt Diabetes- und Stoffwechselerkrankungen; postgrad.: Technischer Umweltschutz und Ökotoxikologie. Anschließend Koordinations- und Lehrtätigkeit im Bereich Umweltschutz und Ökopädagogik. Seit 1995 Referentin im Umweltministerium Wien, Bereich Umweltbildung und Nachhaltige Entwicklung. Aktueller Schwerpunkt: Nachhaltiger Konsum und Ressourceneffizienz. Seit 2009 diplomierte Mediatorin. Stephan Schwarzinger,  Bachelor- und Masterstudium Soziologie (2011–2016), aktuell (2019) laufendes Doktoratsstudium an der Universität Graz. 2016–2019 empirische Sozialforschung am Zentrum für Klima, Energie und Gesellschaft (LIFE) der Joanneum Research Forschungsgesellschaft mbH in Graz. Seit 2019 strategischer Datenanalyst an der Universität Graz.

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Anke Uhlenwinkel, Lehramtsstudium (Geographie und Anglistik), Promotion und Habilitation an der Universität Bremen. Professur an der Universität Potsdam. Verschiedene Tätigkeiten – freiberuflich und an verschiedenen Universitäten. Zuletzt als senior lecturer an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: GeoCapabilities und powerful disciplinary knowledge, Argumentationskompetenz, Progression, sozioökonomische Bildung. Institut für Geographie und Regionalforschung. Björn Wendt studierte Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Münster, wo er von 2012–2017 zum Thema „Nachhaltigkeit als Utopie“ promovierte und zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie tätig ist. Er ist Mitherausgeber der Beitragsreihe „Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung“ und Mitglied des DFG-Netzwerkes „Soziologie der Nachhaltigkeit“. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Utopieforschung und Wissenssoziologie, Politische Soziologie, Umweltsoziologie und Soziologie der Nachhaltigkeit. Katharina Witterhold,  Studium der Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, forscht und lehrt zum (Konsum-) Alltag mit besonderem Fokus auf Prozesse der Politisierung und Digitalisierung. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt („Verbraucherschutz und Konsumsozialisation von Geflüchteten“ an der Universität Siegen beschäftigt sie sich in diesem Kontext mit transnationalen Konsumerfahrungen.

Wie kann Konsum transformative Kraft entwickeln? – Eine Annäherung Renate Hübner und Barbara Schmon

1 Den Blickwinkel weiten – Synergien nützen: Wo und wie sich Verbraucherforschung und Nachhaltigkeitsforschung treffen Wir erleben derzeit global massive Umbrüche ökologischer, technologischer, sozialer wie auch politischer Natur. Welche Bedeutung hat Konsum in dieser Umbruchsphase zwischen Globalisierung, Klimawandel und Digitalisierungsprozessen? Wie werden wir zukünftig Konsum gestalten und welche Art von Forschung ist adäquat, um Gesellschaft, aber auch Wirtschaft und Politik zukunftsgestaltend gut begleiten zu können? Phasen des Umbruchs bergen immer auch ein hohes Potenzial an Veränderungsmöglichkeiten in sich. Wie können dabei unterschiedliche Blickwinkel und Interessen verschiedener Akteursgruppen synergetisch genutzt werden? Und wie kann der Austausch zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Akteursgruppen organisiert werden, um diese Entwicklung bestmöglich zu unterstützen? Was transportiert der Konsumbegriff eigentlich und ist er noch adäquat? Die kritische Verbraucherforschung – wie sie der gleichnamigen Buchreihe zugrunde gelegt ist – stellt sich diese Fragen schon länger und bietet daher bereits einige Zugänge, um das transformative

R. Hübner (*)  Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] B. Schmon  Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_1

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Potenzial von Konsum theoretisch, konzeptionell und praktisch, fassbar und nutzbar zu machen. Kritische Verbraucherforschung und Nachhaltigkeitsforschung weisen einige Gemeinsamkeiten auf: Beide haben einen inhärenten klar transformatorischen Anspruch. Beide sind interventionsorientiert, suchen und forschen sie doch nach Ansatzpunkten, wie eine gesellschaftliche Transformation initiiert und begleitet werden kann (Renate Hübner 2017, S. 161 f.). Die Schnittmengen unterscheiden sich, je nachdem welches Konsumverständnis und welche Annahmen allfälligen Interventionen zugrunde gelegt werden. Eine kritische Verbraucherforschung, wie sie bisher konzipiert wurde, bietet ein großes Potenzial für die gemeinsame Bearbeitung spezifischer Forschungsfragen und methodischer Herausforderungen: Erstens durch den emanzipatorischen Anspruch, zweitens durch das über Kaufakte hinausgehende Konsumverständnis (Fridrich et al. 2017), sowie drittens durch den praxistheoretischen Zugang (Nessel et al. 2018). Dadurch tut sich ein viel breiteres Spektrum transformativen Potenzials von Konsum auf, verbunden mit einem, wie wir meinen, sich gegenseitig befruchtenden Diskurs auch im Hinblick auf das Thema Digitalisierung und der damit diskutierten Chancen und Risiken.

2 Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung Der Ansatz, einen sozio-ökologischen Wandel von und durch Konsum zu bewerkstelligen, ist bereits in der Agenda 21 der Vereinten Nationen (Kap. 4, 1992) verankert und findet sich auch in der Agenda 2030 (Vereinte Nationen 2015) wieder: Explizit im SDG 12 und implizit in vielen anderen Nachhaltigkeitszielen. Genau genommen werden dabei zwei Ebenen der Transformation adressiert: Erstens gilt es das Konsumverhalten zu verändern, was – je nach Konsumverständnis – weitreichende Änderungen individueller Lebensweisen bedeuten kann, und zweitens erhält privater Konsum durch den gesellschaftsverändernden Anspruch einen neuen, zusätzlichen gesellschaftspolitischen Aspekt. Nachhaltiger Konsum erfährt somit in der Umsetzung des Nachhaltigkeitskonzepts einen „doppelt transformatorischen Anspruch“ (Hübner 2017, S. 195).

2.1 Nachhaltiger Konsum: Anspruch und Wirklichkeit Der Versuch Konsum in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung zu beeinflussen, konzentriert sich bislang vorwiegend auf jene Maßnahmen, die das Kauf- und

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Entsorgungsverhalten betreffen. Ökologische, biologische, regionale und soziale Labels sollen die Kaufentscheidungen erleichtern, steigendes Angebot weitere Nachfrage erzeugen und dadurch insgesamt das Produktangebot in eine nachhaltigere Richtung lenken. Man ist bemüht, objektiv aufbereitete Informationen betreffend das Einkaufs- und Entsorgungsverhalten leicht zugänglich zur Verfügung zu stellen, damit sich die interessierte und bereitwillige Konsumentin bzw. der Konsument anschließend aufgeklärt verhält. Diese marktangebots- und expertenabhängige Herangehensweise reduziert die Denk-, Diskurs- und Handlungsräume transfomativen Konsums auf • den individuellen Charakter von Konsumhandlungen: Dabei wird vernachlässigt, dass Gesellschaft als soziales Gebilde dauerhaft durch das Handeln einzelner Gesellschaftsmitglieder reproduziert wird (Berger und Luckmann 2003), und „Nachhaltiger Konsum“ in diesem – auf Kauf- und Entsorgungsprozesse – reduzierten Verständnis dann möglicherweise eher zur Reproduktion statt zur Transformation nicht-nachhaltiger Muster beiträgt. • marktvermittelte Verhaltensweisen: Dabei wird vernachlässigt, dass auch marktferne Konsumaktivitäten und Konsumentscheidungen (Subsistenzstrategien, Sharing, Reparatur, Konsumverzicht usf.) marktrelevant werden können, indem sie die Nachfrage nach marktvermittelten Lösungen verändern. In der kritischen Verbraucherforschung wird Konsum immer vor dem Hintergrund sozialer Einbettungen, struktureller Gegebenheiten und technischer Möglichkeiten betrachtet. Konsummuster sind daher weniger als individuelle Handlungen bzw. Handlungsroutinen zu verstehen, sondern immer als Bündel sozialer Praktiken, wie in einem Band dieser Buchreihe bereits ausgeführt wurde (Nessel et al. 2018). Gerade durch diese Perspektive – nahe am Verständnis der Praxistheorie – wird deutlich, welche Anforderungen (Rahmenbedingungen, vorhandene Infrastruktur, soziale Normen, etc.) im Hinblick auf eine gesellschaftliche Transformation zu berücksichtigen sind, damit sie ihre transformative Wirkung entfalten können. Auch die Zusammenhänge zwischen marktvermittelten und marktfernen Angeboten können mithilfe praxistheoretischer Zugänge in all ihren Wechselwirkungen – besser als mit verhaltenstheoretischen Zugängen – sichtbar gemacht werden und ermöglichen dadurch neue Perspektiven für Transformation in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung. Doch wie kann das Nachhaltigkeitskonzept in diesem Sinne konkretisiert und operationalisiert werden, damit es den transformativen Anspruch erfüllen kann?

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2.2 Nachhaltige Entwicklung: Ein verhextes (wicked) Problem Als „ill-defined concept“ (Phillis und Andriantiatsaholiniaina 2001) bietet das Konzept „Nachhaltige Entwicklung“ keine rezeptartigen Lösungen für seine praktische Umsetzung an. Entsprechende Maßnahmen und Strategien müssen erst im Rahmen gesellschaftlicher Diskussionsprozesse ausverhandelt werden. Dies kann leicht zu Überforderung, Ohnmacht oder Frustration führen, wie am Diskurs rund um das Thema der vorzeitigen Obsoleszenz deutlich wird (Renate Hübner 2014; Krajewski 2014; Schridde 2012; Wolkerstorfer 2012). Die Kurzlebigkeit von Produkten kann als eines der charakteristischsten Beispiele für nicht-nachhaltige bzw. nicht-zukunftsfähige Konsummuster angesehen werden. Gerade an diesem Phänomen lässt sich die Nicht-Nachhaltigkeit unseres Konsumverhaltens auch als Ergebnis einer zunehmend ausdifferenzierten Wissenschaft erklären, wodurch sich „eine paradoxe Situation der Wissenschaft in Hinblick auf ihre gesellschaftliche (Nicht-) Wirksamkeit ergibt: Trotz zunehmenden Erkennens und Verstehens komplexer Zusammenhänge (i. S. von Ratio, also von Vernunft) tritt der paradoxe Fall auf, dass es als ‚normal‘ angesehen wird, dass zusätzlich von niemandem gewünschte, also unerwünschte Bedingungen auftreten“ (Abels 2009, S. 12). Dies spiegelt sich auch im Dilemma der „Zuvielisation“ (Guggenberger 1992) wider, als ein Ergebnis der westlichen Kultur, in welcher in Anlehnung an M. Weber (wirtschaftlich orientiertes) zweckrationales Handeln eher belohnt wird, als (gesellschaftlich orientiertes) wertrationales Handeln (Weber und Altmann 1922, S. 13). Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich das Nachhaltigkeitskonzept „den traditionell linearen, analytischen Zugängen in Wissenschaft und Forschung, Probleme zu bewältigen, zu entziehen scheint: Nämlich zunächst ein Problem zu definieren, dann Lösungen auszuarbeiten, diese zu bewerten und schließlich umzusetzen“ (Rittel und Webber 1973). Derartigen „tame problems“, also lösbaren und damit „zähmbaren“ Problemen, stellen die beiden Autoren angesichts der Dilemmata, die jede Form von Planung erzeugen, die „wicked problems“, also „schelmische, boshafte“ (engl.: wicked), die nicht definierbar und nicht lösbar sind, gegenüber. Daraus sollte allerdings nicht geschlossen werden, dass sich derartige Probleme wissenschaftlicher Bearbeitung grundsätzlich entziehen. „Nachhaltige Entwicklung“ als „wicked problem“ zu verstehen (Knapp 2008; Murphy 2012) eröffnet auch neue Zugänge für Wissenschaft und Forschung. Einer davon ist, von der Lösungsorientierung zur Interventionsorientierung zu wechseln, wie es Knapp (2008) auf den Punkt bringt: „Instead of

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seeking the answer that totally eliminates a problem, one should recognize that actions occur in an ongoing process, and further actions will always be needed.“ Derartige Interventionen zu konzipieren und zu realisieren ist höchst voraussetzungsvoll. Die Frage ist daher, welche Annahmen solchen Interventionen zugrunde zu legen sind. Wenn „Nachhaltiger Konsum“ nicht nur individuelle Handlungsroutinen, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungslinien verändern soll, dann lassen sich aus der bisherigen Analyse folgende Merkmale ableiten: • Das Konzept lässt sich nicht ausreichend definieren, um klare Zielvorgaben und ein alternatives Regelsystem für nachhaltigen Konsum daraus ableiten zu können (Minsch et al. 1998, S. 18). • Eine Fokussierung auf individuelle Konsumentscheidungen überträgt die Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung auf die Konsumentinnen und Konsumenten und käme einer „Privatisierung der Nachhaltigkeit“ (Grunwald 2010) gleich. Das führt letztlich aber zu einer Überforderung der Menschen in dieser Rolle. • Hinzu kommt das dem Nachhaltigkeitskonzept innewohnende „konstitutive Wissensproblem“: Bei der bewussten Gestaltung gesellschaftlicher Regeln ist immer die Gefahr einzukalkulieren, „dass die menschlichen Vernunftfähigkeiten überschätzt und Mechanismen etabliert werden, die mehr unerwünschte Nebenfolgen auslösen, als sie zur Problemlösung beitragen“ (Minsch et al. 1998, S. 18 f.). • Eine nachhaltige Entwicklung geht über die Handlungsmöglichkeiten und den Verantwortungsbereich von Einzelpersonen hinaus. Transformativer Konsum ist daher nicht (nur) Privatsache, sondern eine gesellschaftliche und damit staatsbürgerliche Herausforderung (Grunwald 2010). Konsum, der in diesem Sinne wirksam werden soll, muss sowohl auf individuelles als auch auf gesellschaftliches Handeln abzielen (Heinrichs und Grunenberg 2012, S. 17). • Das Konzept induziert aporetische Widersprüche, die sich einfachen bzw. rezeptartigen Lösungen grundsätzlich entziehen (vgl. dazu Hübner 2017). Dem Konzept inhärent ist daher ein emanzipatorischer und konstruktivistischer Ansatz. Diese Merkmale bilden die Basis, auf die jedwede Intervention im Sinne des in diesem Band skizzierten transformativen Konsums aufbaut. Es liegt demnach nahe, solche Interventionen auf Basis eines dialektischen Zugangs zu entwickeln, die vor allem das Widersprüchliche des Konzepts integrieren, um diese Dilemmata fruchtbar zu machen. Insbesondere die Digitalisierung bietet Veränderungsprozessen neue Chancen, eröffnet aber auch neue Widersprüche.

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2.3 Digitalisierung im Spannungsfeld zwischen Zukunftschancen und öko-sozialen Belastungen Als zunächst neutrale technische Infrastruktur, die sowohl marktvermittelte als auch marktferne Konsumpraktiken gleichermaßen unterstützt, hat die Digitalisierung längst schon Konsumpraktiken verändert. Den marktvermittelten Kaufakten sind dadurch weder zeitlich noch räumlich Grenzen gesetzt, es gibt nichts, was nicht „geshared“ oder getauscht werden kann, die Angebotsvielfalt scheint unendlich und unüberschaubar. Die Digitalisierung verändert Konsum in vielerlei Hinsicht. Einerseits führt das Internet zu einer Veränderung der Kaufroutinen, der Online-Kauf nimmt rasant zu, die (bisherige) Bedeutung des stationären Handels sinkt. Andererseits fördert das Internet die Entstehung und Ausbreitung neuer Beschaffungs- und Versorgungsformen (Sharing Economy, Open Source, 3D-Druck). Und es ist gerade die Digitalisierung, die Änderungen im Bereich der Energieversorgung ermöglicht. Die zunehmend dezentralen und zum Teil gemeinschaftlich organisierten Alternativen stellen eine Herausforderung für die zentral organisierten großen Energieversorgungsunternehmen dar. Hinzukommen unzählige „Graswurzelbewegungen“, die dank der Digitalisierung dezentral und spontan bezogen auf verschiedenste Themen bzw. Anliegen der Zivilgesellschaft entstehen (lebenswerte Gemeinden, alternative Wirtschaftsweisen, Vermitteln und Bündeln handwerklicher Fähigkeiten, etc.) – oft unabhängig voneinander lokal oder regional, aber oft auch verbunden mit größeren Netzwerken (bspw. Transition Towns, fragnebenan). Viele davon sind an einem gesellschaftlichen Wandel orientiert, manche wollen einfach Alternativen zu den Lebensstilen der Vorgängergeneration entwickeln (Cohen 2017). Die Digitalisierung erschließt den Konsumentinnen und Konsumenten völlig neue Formen sich selbst oder gemeinschaftlich zu versorgen, Güter bzw. Ersatzteile selbst herzustellen und zeigt die enge Verflochtenheit von Produktion und Konsum (Piorkowsky 2011, 2018; Fridrich et al. 2017; Cohen 2017). Eine zeitgenössische Verbraucherforschung muss dies berücksichtigen, weshalb die herrschende ökonomische Lehre, die ja auf der Trennung (und Trennbarkeit) von Konsum und Produktion aufbaut, keine geeignete theoretische Grundlage bzw. Rahmung bietet. Gegenstand der kritischen Verbraucherforschung ist der Verbraucher, die Verbraucherin in zeitgenössischen konsumspezifischen Kontexten – mit vielfältigen, sich teilweise überlagernden Rollen und Aufgaben. Diese entwickeln bzw. verändern sich im Spannungsfeld zwischen Notwendigkeiten in Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung und den Möglichkeiten, die die Digitalisierung mit sich bringt.

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3 Transformation in Richtung „Konsum der Zukunft“ Im Gegensatz zur „Transition“ als geschehende, von den involvierten Akteursgruppen meist wenig reflektierte Entwicklungsprozesse, braucht es für eine „Transformation“ eine Vision bzw. Utopie (Jonas 2016, S. 117 f.). Diese gibt dem Veränderungsprozess eine bestimmte Richtung, damit sich soziale Praktiken in Bezug auf ein bestimmtes Ziel verändern können. Und es braucht wiederkehrende kollektive Reflexionsprozesse um Maß, Richtung und Auswirkungen veränderter Praktiken zu bewerten. Demgemäß wären Veränderungen von Konsumpraktiken durch Digitalisierungsprozesse als Transition zu verstehen, da wesentliche Änderungen sozialer Praktiken nicht gezielt angestrebt werden. Es ist das Nachhaltigkeitskonzept, das als gesellschaftliche Leitidee der längst schon spürbaren digitalen Transition eine Richtung geben kann und will und dessen transformative Kraft entfaltet. Ein „Konsum der Zukunft“ bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen den Polen Zukunftsfähigkeit (Leitbild), neue Technologien (Instrumente) und Transformationsanspruch (Prozess) (vgl. bspw. Renate Hübner et al. 2018). Um Transformation mitgestalten zu können, ist es notwendig, aktuelle technische und mögliche gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen, Wirtschaftslogiken miteinzubeziehen, sowie Empowerment (Verbraucherbildung statt noch mehr Information) zu stärken. Im Diskurs sind dabei auch jene Fragestellungen ins Blickfeld zu nehmen, die sich mit den Wirkmechanismen und reproduzierenden Faktoren von derzeit nicht nachhaltigen Konsummustern beschäftigen. An diesem Punkt rücken neben dem Konsum als Handlung nun Konsumenten als Akteure in den Fokus. Wie „souverän“ ist die Konsumentin/der Konsument tatsächlich? Und in welcher Rolle kann diese Souveränität vor dem Hintergrund der Digitalisierung neu betrachtet werden?

3.1 Chancen, Risiken, Widersprüche Im Zuge der Entstehung der Konsumgesellschaft (Pfister 1995) und dank der – auf Basis der industriellen Massenproduktion standardisierten und immer billiger gewordenen Konsumgüter – verfestigten sich Kaufakte als wesentliche Elemente einer (vermeintlich?) höchst individuellen Lebens- und Haushaltsgestaltung. Aktuell scheint das Interesse an der Gestaltung gemeinsamer Lösungen, Produkte und Erlebnisse zuzunehmen. Die Digitalisierung erlaubt es dabei, sich mit

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Gleichgesinnten in einem Ausmaß und einer Intensität zu vernetzen wie es nie zuvor möglich war. Zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung lassen sich folgende transformative Potenziale von Konsum abbilden: • Konsumverhalten ändern: Digitalisierung kann jedenfalls dazu beitragen, individuelle Konsumentscheidungen in Hinblick auf Nachhaltigkeit im Sinn eines „social imaginary“ (Taylor 2004 in Reichel 2018), eines sinnstiftenden Zusammenhangs, der eine moralische Ordnung in einer Gesellschaft konstituieren hilft, zu beeinflussen. Sie regt KonsumentInnen an, ihren Konsum neu zu kontextualisieren und ihre Konsumpraktiken neu zu „organisieren“. • Verhältnisse ändern – kollaborative Wirtschaftsformen: Aufgrund der Gestaltungsmöglichkeiten des Internets können sich die Beziehungen zwischen Konsum und Produktion neu sortieren: Kundenintegration, Mass customization, Kundeninformation, Consumer-to-Consumer- Kooperationen (van Bömmel 2003) und in Form gemeinschaftsbasierter Wirtschaftsformen (Collaborative Commons) sich völlig neue dezentrale, regionale Produktions-, Verteil- und Konsummöglichkeiten erschließen (siehe dazu u. a. auch Cohen 2017). • Am Nachhaltigkeitsdiskurs beteiligen: Wenn es um Transformation und nicht nur Transition gehen soll, dann braucht es entsprechende begleitende Reflexionsprozesse. Eine „reflexive Beschäftigung mit der Digitalisierung als tiefgreifende neue Sozialtechnologie“ ist erforderlich, wenn die digitale Gesellschaft auch nachhaltig sein soll (Reichel 2018). • Nicht nur Effizienzstrategien werden durch Digitalisierungsprozesse unterstützt. Auch die – meist nicht marktvermittelten – Konsumpraktiken und -routinen bedingenden Konsistenzstrategien (bspw. Circular Economy) und Subsistenzstrategien (Do-it-yourself, Teilen, Tauschen) können wesentlich von der Digitalisierung profitieren. Allen diesen Strategien gemeinsam ist das Bemühen, damit zu einer Reduktion des Ressourcenverbrauchs und der Belastungen von Mensch und Natur beizutragen. Doch mit den Chancen sind auch Risiken verbunden, die identifiziert, konkretisiert und diskutiert werden müssen. So konnte bisher noch keine befriedigende Antwort auf die mit den Effizienzsteigerungen oft einhergehenden „Reboundeffekte“ gefunden werden. Auch Fragen von Datenschutz, Sicherheit, etc. scheinen noch ungelöst. Darüberhinaus steht ein Weniger an gekauften Gütern im

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Widerspruch zu einem Gesellschaftssystem, das sich von einem auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftssystem abhängig gemacht hat. Damit wird deutlich, dass nicht nur die Digitalisierung, sondern auch der transformatorische Anspruch des Nachhaltigkeitskonzepts Risiken und Widersprüche erzeugt, die weit über individuelle und alltägliche Zielkonflikte hinausgehen.

3.2 Konsum der Zukunft als Forschungsgegenstand und Handlungsfeld einer kritischen Verbraucherund Konsumforschung Thematisch ist „Konsum“ als Querschnittsmaterie in vielen Disziplinen und Politikbereichen explizit oder implizit präsent. Die dem jeweiligen Konsumverständnis und Verbraucherbild zugrunde liegenden Paradigmen sind jedoch höchst unterschiedlich und teilweise auch widersprüchlich. So dient eine marktlich ausgerichtete Verbraucher- und Konsumforschung eher der Förderung von marktvermittelten Strategien und steht beispielsweise einer an Subsistenz oder Suffizienz orientierten Konsumforschung fast diametral gegenüber. Eine kritische Verbraucherforschung, die gesellschaftlich wirksam werden möchte, kann und muss die Verbraucherinnen und Verbraucher in ihren verschiedenen Rollen und in den sich mit der Digitalisierung erweiternden Handlungsräumen unterstützen, das transformative Potenzial von Konsum zu realisieren. Die unterschiedlichen Rollen (Käufer/Nutzer, Anbieter/Nachfrager bei Plattformökonomien, Consumer-toConsumer bei Peer-Ansätzen) machen nicht nur die unterschiedlichen Konsumverständnisse sichtbar, sondern zeigen auch die jeweiligen Handlungsoptionen und Ansatzmöglichkeiten auf, wie der Tabelle 1 entnommen werden kann. Eine kritische und zeitgenössische Konsum- und Verbraucherforschung kann und muss daher auch Beiträge zu Fragestellungen leisten, wie die Digitalisierung diese Transformation gut begleiten kann: Welche Rahmenbedingungen braucht es, um beispielsweise dezentrale Wirtschaftsweisen zu stärken bzw. wie können Formen der Digitalisierung unterstützt werden, die suffiziente Produktions- und Konsumweisen begünstigen? (Lange und Santarius 2016). Dabei geht es nicht nur um Veränderungen von Konsummustern, sondern auch um die Weiterentwicklung des Konzepts an sich. Bereits im Bamberger Manifest zur Konzeption einer kritischen Verbraucherforschung wurde auf den konstruktivistischen Ansatz hingewiesen, der einer Transformation im oben dargestellten Sinn zugrunde liegt (Fridrich et al. 2014).

Information, Kommunikation, Orientierung Online-Bewertungen durch Konsumentinnen und Konsumenten a) Unternehmensperspektive – Ersatzteilmanagement – Second-Hand – Plattformen b) Konsumperspektive – Information, Kommunikation – Peer-Austausch & Vernetzung – Bewertungen • Peer-Vernetzung, Gebrauchtund Ersatzteile, Anleitungen online (Open source) • Plattformökonomie (Netzwerkökonomie) • Beteiligung am Diskurs (zivilgesellschaftliches Engagement)

Verbesserung/Verbreitung entsprechender Angebote (Nutzer-/ Anbieterrolle) a) Markvermittelte Angebote (Reparatur-, Leihen, Sharing) b) alternative Organisationsformen (bspw. Repair Café, Couchsurfing)

Transformation der Nutzungsmuster Gebrauchsgüter-Bestand intelligent (länger oder gemeinsam) nutzen

Transformation der Bedarfe und Selber (Prosument) bzw. gemeinsam machen (Peer) ihrer Befriedigung a) individuelle Lösungen Bedarfs- bzw. versorgungs(Do-it-yourself, immaterielle orientiertes Wirtschaften Lösungen, Suffizienz) b) Kollaborative Ansätze (solidarisch Wirtschaften, Gemeinschaftslösungen, anders Wirtschaften)

Nutzungsorientiert „Service-Economy“

Bedarfsorientiert Alternative Wirtschaftsformen

Aktivierung der Konsument*innen Chancen durch die Digitalisierung Entscheidungshilfen für marktvermittelten Angebote (Käuferrolle) Labels, Marken, PR, Werbung, „Bewusst Kaufen“

Transformatorischer Anspruch

Kauf-orientiert Transformation des marktver„Green & Fair Economy“ mittelten Angebots Ökologisierung bzw. „Fair-Besserung“ der Produkte bzw. Produktionsbedingungen

Nachhaltiger Konsum

Tab. 1   Transformatives Potenzial von Konsum – Chancen durch Digitalisierung. (Quelle: Eigene Darstellung)

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4 Transformative Potenziale eines Diskurses zu (nachhaltigem) Konsum Eng mit dem Konzept der „Nachhaltigen Entwicklung“ ist nicht nur Konsumkritik, sondern auch der kritische Diskurs um ein alleinig an Wachstum und Gewinn ausgerichtetem Wirtschaftssystem verbunden (siehe dazu bspw. Paech, 2012). In diesen Diskursen wird versucht, neue Perspektiven in Bezug auf Wirtschaft und Konsum zu erschließen. Häufig sind die Perspektiven mit neuen ­Formen des Wirtschaftens verbunden oder versuchen Räume für die Entstehung bzw. Stabilisierung neuer Formen des Konsums entstehen zu lassen. In der politischen Umsetzung liegen dem Konzept des „Nachhaltigen Konsums“ verschiedene Strategien zugrunde, die natürlich in den Diskursprozessen immer wieder einfließen. Die „Effizienz-Strategie“ ist wirtschaftspolitisch gut umsetzbar, steht jedoch ob der begrenzten Wirksamkeit (Stichwort ReboundEffekte) zunehmend im Sperrfeuer der Kritik. Die Suffizienz-Strategie steht für Selbstbegrenzung, dem richtigen Maß an Konsum, oft verknüpft mit Begriffen wie Entschleunigung und Konsumverzicht (Bauer 2008, S. 61 f.). Unterstützt wird dieser Ansatz durch die Glücksforschung, die zeigt, dass (nach Befriedigung der Grundbedürfnisse) ein „Mehr an Konsum“ zu keiner Erhöhung der Zufriedenheit führt (Jackson et al. 2004). Der Begriff ist jedoch sehr abstrakt und „was angemessen ist, muss dem Begriff erst als Interpretation beigelegt werden“ (Linz 2004). Das macht die Umsetzung schwierig und Suffizienz als Leitbild wenig geeignet. Die „Konsistenz-Strategie“, die die Basis für das europäische Kreislaufwirtschaftspaket bildet (Europäische Kommission 2015), zielt darauf ab, Energieverbrauch und Materialflüsse möglichst naturverträglich zu gestalten. Theoretisch ließe sich mit konsistentem Wirtschaften ein flächendeckender Wohlstand auf hohem Konsumniveau bei gleichzeitigem Umweltschutz erreichen. Ob die Umsetzung ausreichend gelingen wird, ist noch offen – sowohl Suffizienz als auch Effizienz würden die Transformation jedenfalls unterstützen. Jänicke folgend erzielt Umweltpolitik ihre Wirkungen „nicht durch die Maßnahmen eines von oben nach unten steuernden Staates, vielmehr als hochdynamische Interaktion vielfältiger Einflussfaktoren und Lernprozesse“ (1997). Daher kann ein ökologischer Transformationsprozess also nur gemeinsam mit einem gesellschaftlichen Weiterentwicklungsprozess gelingen, der Bewusstsein für die Bedeutung von Selbstermächtigung miteinschließt und auch die Voraussetzungen dafür entwickelt, wie z. B. das Bereitstellen notwendiger Diskursräume. Der Bildungsbereich ist hier besonders gefordert, wobei außerschulische

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Lernorte aktuell deutlich mehr Gestaltungsspielraum haben, da sie leichter ihr gesamtes Potenzial ausschöpfen können. Ein gelungenes Beispiel dafür ist das CoCo- Lab, eine Mitmachausstellung für SchülerInnen und Jugendliche, die mithilfe öffentlicher Gelder (BMASGK und BMNT) im Mai 2018 im Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseum (wirtschaftsmuseum.at) in Wien eröffnet wurde (COCO steht für COnscious COnsumers, Lab für Laboratorium, Experiment, sich Wissen aneignen). Fridrich et al. haben das Konzept dazu im vorhergehenden Band vorgestellt und in diesem Zusammenhang für neue Formen und kreative Herangehensweisen (und auch alternative Räume) plädiert. Die Ausstellung nähert sich den komplexen Lebenswelten der Jugendlichen gut an, da die Themen so aufbereitet werden, dass sie kein eindeutiges Richtig oder Falsch abverlangen und somit die Möglichkeit bieten, auch individuelle Vorstellungen von Konsum sichtbar zu machen. Im Idealfall provoziert die Beschäftigung mit den Inhalten eine Auseinandersetzung mit Konzepten, die nicht notwendigerweise mit den eigenen Vorstellungen zusammenpassen. An den Grenzen der einzelnen Konzepte entstehen Reibungsflächen und repräsentieren damit gleichzeitig die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Die erfolgreiche Umsetzung lässt auf weitere Projekte in diese Richtung hoffen.

4.1 Konsum im Wandel – Wandel durch Konsum? Gegenstand des Diskurses sollte auch sein, die Veränderung der Entwicklungsdynamiken von Gesellschaft und Wirtschaft in den Blick zu nehmen und der Frage nachzuspüren, inwieweit Konsumpraktiken überhaupt geeignet sind, ökonomische Logiken und jene anderer gesellschaftlicher Teilsysteme so zu verändern, dass eine sozial gerechtere und ökologisch tragfähige Kultur- und Wirtschaftsform entstehen kann. Dem Konzept der kulturellen Nachhaltigkeit (Heintel und Krainer 2012) folgend, werden dabei verschiedene Ansatzmöglichkeiten sichtbar (in Anlehnung an Hübner 2017): • Systemimmanent: Damit sind Ansätze gemeint, die innerhalb der Systemlogik verbleiben (Beispiel: Ecodesign-Produkte); eine Transformation der Wirtschaftsform, der Produktionsverhältnisse und der Vertriebsformen wird nicht bezweckt. • Systemtransgredient: Damit sind alternative Ansätze gemeint, die sich außerhalb des Systems entwickeln und etablieren. Derartige Ansätze können

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zu alternativen Wirtschaftsweisen führen (wie bspw. kollaborativer Konsum, solidarische Ökonomie, Geschenkökonomie) und – allenfalls indirekt (bspw. durchsinkende Nachfrage nach Marktangeboten oder steigende Nachfrage nach Services) – auch transformativ wirksam werden. • Systemtranszendierend: Diese Ansätze schließlich bewegen sich an den Grenzen bestehender Teilsysteme, häufig in Nischen – genau dort, wo am ehesten disruptive Innovationen entstehen (können). Plattformökonomien bspw. können die Funktionslogiken des bisherigen Wirtschaftssystems durchaus verändern, da sie neue Handlungsspielräume an dessen Grenzen eröffnen (bspw. Verkauf von Nutzen statt von Produkten).

4.2 Diskurse – Die Beiträge Die Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen führt uns weniger zur Frage, ob wir einen Wandel brauchen oder wollen, sondern dazu, wie dieser Wandel (mit)gestaltet werden kann und inwieweit moderne Technologien, insbesondere die Digitalisierung hierbei genützt werden können. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes bringen sich aus höchst unterschiedlichen Perspektiven in diesen Diskurs ein und verdeutlichen viele Chancen und auch Risiken, die mit dem doppelt transformativen Anspruch von nachhaltigem Konsum – gerade auch im Zuge der Digitalisierung verbunden sind. So geht Karl Brunner in seinem Beitrag aus soziologischer Perspektive von einer systemischen Konzeption des Nachhaltigkeitswandels („systems change“) aus und bietet Ansatzmöglichkeiten, die Nachfragedynamiken in Richtung nachhaltigerer Lebens- und Konsumweisen zu transformieren. Er empfiehlt, sich vom bisherigen individuellen Transformationsnarrativ zu verabschieden und begründet anschaulich, warum es sinnvoll ist, Maßnahmen für einen nachhaltigen Konsum auf Basis der Theorie sozialer Praxis zu entwickeln. Konsum demzufolge als soziale Praktik, als Bündel einzelner Handlungen, Rahmenbedingungen und Bedeutungen zu sehen, führt ihn zu der Erkenntnis, dass Probleme nachhaltigen Konsums Probleme gesellschaftlicher Organisation sind. Weitergedacht bedeutet Nachhaltiger Konsum, das soziale Leben zu reorganisieren – und zwar so zu organisieren, dass (ressourcenintensive) Bedürfnisse durch wirtschaftliches und politisches Handeln gar nicht erst geschaffen werden. Demnach wären „soziale Praktiken so auszuformen, dass keine ökologischen Eskalationen ‚eingebaut‘ sind“ (in diesem Band). Es müsste nicht primär um eine Förderung des individuellen, nachhaltigen Konsums, sondern vielmehr um die Reduktion der sich aus der Dynamik sozialer Praktiken ergebenden Nachfrage gehen. Drei

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Interventionsformen, die sich an praxistheoretischen Einsichten orientieren, und deren unterschiedliches Transformationspotenzial werden vorgestellt und machen nachvollziehbar, wie kollektive Konsumpotenziale durch gesellschaftlich organisierte Suffizienz erschlossen werden können. Es geht Brunner dabei nicht (nur) darum, „nicht nachhaltige alltägliche Gewohnheiten durch Wissensvermittlung und Reflexion zu verändern, sondern gleichzeitig darum, soziale Praktiken so auszugestalten, dass Nachhaltigkeit gesellschaftliche Normalität wird“ (in diesem Band). Das Autorenteam Schwarzinger, Kaltenegger und Bird untersucht aus ökologischer Perspektive in seinem Beitrag konkret, inwieweit sich smarte Technologien wie bspw. das „smart meter“ oder eine CO2-App verändernd auf das Verhalten auswirken können bzw. welche Vorrausetzungen dafür notwendig wären. Der Einfluss von zeitlich unmittelbarem Feedback (zumindest bezüglich Energieverbrauch im Haushalt) auf individuelles Verhalten – so ihre Analyse – ist aus wissenschaftlicher Sicht weniger eindeutig, als dies in Anbetracht theoretischer Überlegungen der Fall sein müsste. Trotz gesteigerten Bewusstseins scheint das Verhaltensänderungspotenzial limitiert. Schwarzinger et al. verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die aktuelle Auseinandersetzung von KostenNutzen-Abwägungen zwischen individuellen und kollektiven Interessen. Das Beispiel CO2-App für Lebensmittel macht die Problematik sichtbar, komplexe Zusammenhänge in möglichst einfache Kommunikationstools (CO2-Äquivalente) als Entscheidungshilfen bei der Produktauswahl gießen zu wollen. Zwar sind einige methodische Fragestellungen zu den Datengrundlagen und Bewertungen noch ungelöst, die AutorInnen sehen dennoch in einer einfachen Abrufbarkeit von klimarelevanten Produktinformationen mittels Smartphone durchaus Potential für mögliche Verhaltensänderungen, speziell bei jenen Menschen, die auch bereit sind, ihre Konsum-/Essgewohnheiten zu überdenken. Es könnten so treffsichere Entscheidungen ermöglicht werden, als durch bisher angebotene Heuristiken („Daumenregeln“). Sie kommen jedoch auch zum Schluss, „wem das Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz generell zu aufwendig ist, wird sein Verhalten in dieser Hinsicht vielleicht auch mit der Verfügbarkeit einer App nicht ändern“ (in diesem Band) und machen damit deutlich, dass es mit dem Fokus auf den Kaufakt allein noch nicht getan ist. Forschungsbedarf sehen die AutorInnen jedenfalls in der Fragestellung, wie sich diese bereitgestellten Informationen tatsächlich auf Konsumentscheidungen verschiedener Gruppen von Konsumentinnen und Konsumenten auswirken. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive stellt sich Katharina Witterhold die Fragen, ob, wo und wie Konsumierende politische Gestaltungsmacht anstreben und ob sich Ansätze der Kollektivierung von Verbraucherinteressen

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erkennen lassen. In ihrem Beitrag Die Stimme der Verbraucherinnen und Verbraucher: Diskursiver politischer Konsum on/offline lenkt die Autorin den Blick auf das Phänomen des politischen Konsums und wie Digitalisierung dazu beiträgt, dessen transformatives Potenzial zu steigern bzw. auszuschöpfen. Während im Zuge der Strategien marktvermittelten politischen Konsums (Buy-/Boykotts als sog. Exitstrategien) die Anliegen und Motive der politisch Konsumierenden häufig unklar und „ohne Stimme“ bleiben, untersucht Witterhold den diskursiven politischen Konsum, der darauf beruht, als Konsumentin/Konsument die Stimme zu erheben und Widerspruch (Voice) – auch öffentlich – zu äußern. Die Diffe­ renzierung zwischen vertikalen und horizontalen Voice-Strategien nutzt Witterhold dafür, auch deren mögliche Wechselwirkungen aufzuzeigen: Sie sieht im horizontalen Widerspruch den Beginn der Kollektivierung von Interessen (nach dem Organisationsprinzip der „Individualized collective action“) und obwohl diese den vertikal ausgerichteten Strukturen politischer Institutionen diametral entgegen stehen, „geht horizontaler Widerspruch den meisten Formen ­kollektiven ver­tikalen Widerstands voraus“, so Witterhold in diesem Band. Sie stellt fest, dass ­politisch Konsumierende nach neuen Formen des Konsums suchen, wobei der Austausch mit anderen eine wesentliche Quelle der Unterstützung durch Information und Anerkennung ist. „Aufgrund der Teilnahme an diskursiven Praktiken wird die eigene Konsumpraxis beständig reflektierend geprüft und verändert. Dieser Reflexionsprozess wird wiederum zum Element einer diskursiven Praxis im Austausch mit ähnlich orientierten Konsumierenden gerade auch im Social Web“ (in diesem Band). Aus umweltpsychologischer Perspektive wiederum hat sich das Autoren-Team Frick und Santarius in seinem Beitrag Smarte Konsumwende? Chancen und Grenzen der Digitalisierung für den nachhaltigen Konsum dem Thema des Bandes genähert. Sie stellten sich die Frage, wie sich durch Digitalisierung kontextuelle und motivationale Faktoren verändern und inwiefern dabei bestehende umweltpsychologische Ansätze hilfreich sein könnten, die spezifischen Wirkweisen eines digitalisierten Konsums zu verstehen. Sie sehen ebenso wie Schwarzinger et al. in der durch die Digitalisierung entstehenden geografischen und zeitlichen Entgrenzung eine Erleichterung zu Zugang und Verführbarkeit konsumrelevanter Informationen (für nicht-nachhaltige, als auch für nachhaltige gleichermaßen). Forschungsbedarf sehen sie vor allem in Bezug auf die Implikationen eines digitalisierten Konsums (wie Rebound-Effekte, Induktionseffekte, nachhaltigkeitsorientierte Informationsvermittlung, Gestaltung digitaler Umwelten), sie verweisen aber auch auf die noch weitgehend ungenutzten Potenziale der Ermächtigung zur Selbstorganisation und Autonomie-Rückgewinnung. Diese Potenziale seien aber keineswegs „Selbstläufer“ und bedürfen

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­ nterstützung durch regulatorische Maßnahmen. In der Anwendung psychoU logischer Ansätze sehen Frick und Santarius eine gute Hilfestellung, die Wirkung von Digitalisierung auf individuelles Konsumverhalten und Konsumbedarfe zukünftig besser erfassen zu können und so für eine Transformation des Konsumverhaltens nutzbar zu machen. Ihre Beispiele zu personalisierter Werbung, zu Angeboten und Suchanfragen weisen darüber hinaus auf den Themenkomplex der normativen Beeinflussung durch die Internetnutzung hin, ein zweifellos sensibler Bereich, der im Beitrag von Ehrhardt et al. noch vertiefender ausgeführt wurde. Unter dem Titel Das pathogene Potenzial von Konsum: Kaufsucht und Produkte der digitalen Transformation zeigt das Autoren-Team Ehrhardt, Raab und Dübner, wie durch die Digitalisierung Produkte und Services entstehen, deren Design das Nutzerverhalten nicht nur zielgerichtet beeinflusst, sondern auch mit unerwünschten Konsequenzen wie Abhängigkeiten einhergehen können. In ihrem Beitrag werden aktuelle Studien und Diskurse unterschiedlicher Fachdisziplinen unter dieser Fragestellung vereint und das Zusammenwirken von digitalen Produkten und Kaufsucht thematisiert. „Durch die Verzahnung von menschlichen Grundbedürfnissen, wie dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und Selbstkonzepterfüllung mit dem Akt des Kaufens wird eine dysfunktionale Verbindung bereits in Marketing-Konzepten vorgenommen“ – so die Analyse der AutorInnen in diesem Band und sie plädieren für mehr präventive Maßnahmen zur Vermeidung solcher Abhängigkeiten. Aus Perspektive der sozioökonomischen Bildung analysiert Nadine Heiduk Relationen zwischen Verbraucherbildung und gesellschaftlichem Wandel. In ihrem Beitrag Verbraucherbildung im und für Wandel? werden normative, konzeptionelle und curriculare Transformationen im Spiegel konsumgesellschaftlicher Entwicklungen analysiert. Trotz der Implementierung von Verbraucherbildung als Querschnittsthema stellt sie fest, dass es kein einheitliches Konzept und Leitbild dazu gibt. Heiduks Beitrag zeigt Ansätze auf, wie transformative Verbraucherbildung gedacht werden kann, ohne in Handlungsempfehlungen zu verfallen. Sie sieht in der sozioökonomischen Bildung ein Konzept, Lernende nicht nur als reflektierte kritische Konsumentinnen und Konsumenten zu bilden, sondern auch auf die mögliche Rolle als „Change Agents“ vorzubereiten. Anstelle reproduzierbaren Wissens um ethisch-korrektes Konsumhandeln steht die Frage nach den Rahmenbedingungen, den gesamtgesellschaftlichen Wert- und Zielvorstellungen, in die das persönliche Handeln eingebunden ist, im Zentrum. Es gilt gemeinsam mit den Lernenden herauszuarbeiten, welche gesellschaftliche Strukturen und Problemstellungen von kollektiver „Bedeutsamkeit“ sind. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem transformativen Anspruch des Nachhaltigkeitskonzeptes werden in Bildungskontexten somit sowohl allgemeine konsumgesellschaftliche

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als auch individuelle Problemstellungen sowie konfligierende Interessen evident und können in ihren Strukturen und Verbindungslinien analysiert werden. „Auf dieser Grundlage können auch Entscheidungs- und Handlungsalternativen von Konsumentinnen und Konsumenten diskutiert werden, die eine Thematisierung unterschiedlicher Rollenzuschreibungen mit Blick auf die verbraucherseitige Einflussmacht erlauben“ so Heiduk in diesem Band. Dadurch können mögliche Partizipationsformen (beispielsweise in Orientierung an der Exit-Voice Theorie – sh. Beitrag Witterhold, oder angesichts von Sharing-, Repair- oder Upcycling-Bewegungen) mit ihren Chancen und Grenzen offen diskutiert und kritisch reflektiert werden, ohne dabei in Handlungsempfehlungen zu verfallen. Eine bildungssoziologische Problemstellung behandelt Anke Uhlenwinkel in ihrem Beitrag über Die Rolle von Grenzziehungen bei der Thematisierung transformativen Konsums in heterogenen Klassen. „Unterscheiden bedeutet ausschließen, und das behagt der aktuellen Inklusionsrhetorik wenig“ zitiert sie Liessmann. Während es allerdings üblich und erlaubt ist, SchülerInnen im Schulalltag nach Leistungsstärke und Lernstilen zu unterscheiden, scheint das Milieugruppenkonzept und seine praktische Nutzung im Sinn transformatorischer Bildung eher Unbehagen auszulösen, stellt Uhlenwinkel fest. In der Milieugruppenforschung sieht sie einen integrativen Bestandteil des heutigen Wirtschaftssystems und diese Differenzierungen machen vor dem Klassenraum nicht Halt. Wenn transformativer Konsum die Strukturen der Marktwirtschaft tiefgreifend verändern soll und möglicherweise das Ende einer von Werbung nahezu abhängigen Marktwirtschaft anstrebt, wäre es daher nur konsequent, das der Werbung zugrunde liegende Konzept der Milieugruppen auch in der Verbraucherbildung in Schulklassen anzuwenden, seine Wirkung zu diskutieren. Damit würde sich allerdings auch die Zielsetzung des Unterrichts ändern, so Uhlenwinkel: „Es geht darum die Mechanismen aufzudecken, mit denen individuelle Werbung heute möglich ist, und die Wirkungen dieser Mechanismen auf verschiedene Weltbilder zu erörtern. Gezeigt werden müsste dabei sowohl wie Milieugruppen in der Konsumforschung entstehen, als auch welche Möglichkeiten der Erkennung von Konsummustern Unternehmen durch die Verarbeitung von Big Data heute zur Verfügung stehen“ (Uhlenwinkel in diesem Band). Im Sinn eines powerful knowledge können Schülerinnen und Schüler ohne von außen gesetztem Druck über ihre eigene Milieuzugehörigkeit zu reflektieren und darüber nachzudenken, welche Rolle welcher Konsum in ihrem Leben spielt und ob er diese Rolle auch spielen sollte. Björn Wendt nähert sich dem transformativen Potenzial von Konsum aus der Perspektive des möglichen (wahrscheinlichen?) Scheiterns. Zwischen Ideologie und Utopie verortet, wird „Nachhaltiger Konsum“ zunächst als Erfolgsgeschichte

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skizziert, jedoch schließlich in seinen Transformationsansprüchen dem Scheitern zugeordnet. Es sei bisher nicht gelungen, aus den Nischenphänomenen Strategien zu entfalten, um den Gesamttrend umzukehren – so Wendt – und er stellt die Frage, ob es überhaupt möglich ist, in einer Gesellschaft des globalisierten Massenkonsums nachhaltig zu konsumieren. Dabei wäre es wichtig, stets auch die ideologischen Missdeutungen im Blickfeld zu haben und er verweist dabei auf den Gesamtzusammenhang aus Bewusstsein, sozialer Praxis und Gesellschaftssystem. Der Autor sieht jedoch gerade in der Reflexion des Scheiterns das Potenzial und die Möglichkeit, über sozialen Wandel nachzudenken und zu forschen. Basierend auf der Erkenntnis, dass absolutes Scheitern keine weiteren Handlungsmöglichkeiten mehr zulässt, sieht Wendt im „transformativen Scheitern“ sehr wohl die Möglichkeit von Erkenntnisgewinnen, die nutzbar gemacht werden können. Im Prozess des Scheiterns verändern sich soziale Wirklichkeiten und Maßstäbe, die wiederum in Richtung des „angestrebten Ideals zurückwirkten“. Realitätsnahe Kritik, ebenso wie eine Steigerung der Reflexivität und die soziohistorische Kontextualisierung sieht Wendt als zentrale Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit dem Thema und erkennt darin auch einen wesentlichen Beitrag soziologischer Konsumforschung. Eine gesellschaftliche Transformation von so hoher Komplexität kann nicht von Eliten top-down gesteuert werden, sie erfordert die Mitgestaltung vieler. Während die bisherigen Beiträge das vielfältige Spektrum des transformativen Potenzials von Konsum im Spannungsfeld zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit widerspiegeln, widmet sich der abschließende Beitrag der Frage, welche Rahmenbedingungen ein gelingender Diskurs benötigt. Da das Konzept „Nachhaltigen Entwicklung“ keine vorgegebenen Lösungen anbietet, sondern diese immer erst im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskussionsprozesses ausverhandelt werden müssen, braucht es auch entsprechende Räume, in denen (große) Gruppen von Menschen in fruchtvollen Austausch zu wesentliche Fragen treten können. In ihrem Beitrag Art of Hosting oder wie können Konferenzen durch ihre Gestaltung transformativ wirken? verarbeitet das Autorenteam Handler, Omann und Hübner Erfahrungen, die es im Zuge der Anwendung des Art of Hosting – Konzepts im Rahmen des dem Band zugrunde liegenden Symposiums „Konsum neu denken 2017“ sammeln konnte. Die Autorinnen gehen von der Annahme aus, dass sich gerade der Grenzbereich zwischen Ordnung (bzw. Struktur) und Chaos für Innovation gut eignet. Diese „Knirschzonen“ fruchtbar zu machen, d. h. Lösungen zu ermöglichen, die umfassender, robuster und breite Unterstützung finden, ist die große Herausforderung für die Prozessgestaltung. Auf Basis der theoretischen Grundlagen des Art-of-Hosting-Konzepts wird gezeigt, wie durch

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co-kreative Prozesse nicht nur Einsicht für Transformation, sondern auch die Bereitschaft diese mitzutragen, gut adressiert werden kann. Es wird spürbar, wie dieses Konzept in der Durchführung und Aufarbeitung des Symposiums wirksam wurde und sich dadurch „Kommunikation mit transformativer Wirkung“ entwickeln konnte. Insbesondere der Fokus auf gute Ergebnisse („Ernten“) prägte die Planung von Beginn an und gewährleistete, dass nicht nur gute Gespräche geführt wurden, sondern dass diese auch über die Veranstaltung hinaus Wirkung entfalten konnten. Die Autorinnen – allesamt als Forscherinnen vertraut mit wissenschaftlichen Konferenzen – sind sich einig: „Es waren die Mischung an Menschen, die vielen (kleinen) Gespräche, das gute Zuhören, die Aufmerksamkeit in den Räumen, der Spaß der spürbar war, die Anerkennung von allen Ideen, wissenschaftlichen, wie praktischen, die dieses Symposium besonders gemacht haben und die ohne Art of Hosting nicht möglich gewesen wären“ so die Autorinnen in diesem Band. Das Symposium als wissenschaftliches Konferenzformat für ein heterogenes Teilnehmerspektrum zu öffnen war ein wesentliches Ziel. Die unterschiedlichen Perspektiven sichtbar zu machen und dabei auch Unsicherheiten und Widersprüche zuzulassen, wird von den Autorinnen als transformatives wie auch innovatives Potenzial gesehen.

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Wie kann Konsum transformative Kraft entwickeln …

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Nachhaltiger Konsum und die sozialökologische Transformation: Die sozialen Praktiken ändern, nicht die Individuen! Karl-Michael Brunner 1 Nachhaltiger Konsum: Herausforderungen und Status quo Die Diskurse um nachhaltigen Konsum und die gesellschaftlichen Einmahnungen eines nachhaltigen Lebensstils sind inzwischen mehrere Jahrzehnte alt. Seit den 1960er Jahren war „Anders leben, anders konsumieren“ ein zentraler Topos vieler sozialer Bewegungen, deren Zielsetzungen von antikapitalistischer Konsumkritik („Konsumterror“) bis hin zu ökologisch motivierter Kritik an Großtechnologien und Industrialismus reichten (Brand 2002). Auf der Rio-Konferenz 1992 wird in Kap. 4 der Agenda 21 die Notwendigkeit einer Förderung von Verbrauchs- und Produktionsmustern hervorgehoben, die zu einer Verringerung von Umweltbelastungen und zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse führen sollen. Zuletzt finden sich entsprechende Zielsetzungen in den Sustainable Development Goals (SDGs) von 2015. Nachhaltiger Konsum als Kernelement einer Green Economy ist inzwischen national und international auf breiter Ebene konsensfähig. Das dabei verfolgte Konzept von nachhaltigem Konsum fokussiert meist auf das Leitbild mündiger, eigenverantwortlicher oder auch „reflexiver“ Konsumentinnen und Konsumenten, die rational handeln und auf Basis der Bereitstellung von Informationen eine Entscheidung am Markt treffen. Theoretisch unterfüttert mit ökonomischen und psychologischen Handlungsmodellen (theoretische Rahmungen sind durchaus politikrelevant!) wird Konsum häufig auf individuelle EntK.-M. Brunner (*)  Wirtschaftsuniversität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_2

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scheidungen reduziert, ohne soziale Beziehungen, soziale und kulturelle Kontexte oder auch Routinen und (infra-)strukturelle Bedingungen ausreichend mitzuberücksichtigen (Brunner und Christanell 2014). Gesellschaftliche Dimensionen oder sozio-technische Konstellationen werden bestenfalls als „externe“ Einflüsse konzeptualisiert. Im Leitbild verantwortlicher Konsumentinnen und Konsumenten wird die Bedeutung von Information und Wissensvermittlung auch oft überschätzt. Aus der sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung ist bekannt, dass ein ausgeprägtes Bewusstsein (nachhaltigkeitsaffine Einstellungen und Werte sowie Wissensbestände) häufig zwar eine teilweise notwendige, aber oft keineswegs hinreichende Voraussetzung für nachhaltiges Handeln ist. Im Gegenteil: Gerade nachhaltigkeitsorientierte, einkommensstarke soziale Milieus zählen zu denjenigen mit dem höchsten Umweltverbrauch (Kleinhückelkotten et al. 2016). Angesichts der Diskussionen um eine „große Transformation“ (Schneidewind 2018), internationaler Vereinbarungen (z. B. dem Pariser Klimaabkommen) und intragenerationaler Gerechtigkeitsansprüche (der Spielraum für Entwicklung der sich entwickelnden Länder muss mit einer Reduktion der Umweltimpacts der reichen Länder einhergehen) müsste in den nächsten Jahrzehnten eine radikale sozial-ökologische Transformation stattfinden, wenn eine postkarbone und nachhaltigere Gesellschaft Wirklichkeit werden soll. Für manche impliziert dies gar „the total reorganization of social life, nothing more and nothing less“ (Urry 2010, S. 8). Doch eine grundlegende Reorganisation des sozialen Lebens ist bisher nicht in Sicht. Im Gegenteil: In vielen Konsumbereichen ist eine Ausweitung ressourcenintensiver Konsummuster feststellbar: größere Wohnflächen, häufigere Flugreisen, konstant hoher Fleischkonsum, größere Autos usw. in den Industrieländern und eine Zunahme dieser Konsummuster bei den aufsteigenden Mittelschichten in den sich entwickelnden Ländern. Es scheint, als wäre das transformative Potenzial des nachhaltigen Konsums begrenzt und die globale Ausweitung nicht nachhaltiger Konsumspiralen im Vormarsch. Zwar gibt es in manchen Konsumfeldern durchaus Entwicklungen in Richtung Nachhaltigkeit. Im Ernährungsbereich nimmt Österreich beispielsweise seit einiger Zeit einen Spitzenplatz im Bio-Anbau und -Konsum sowohl in Europa als auch weltweit ein. Der Bio-Konsum hat sich von Anfang der 1990er Jahre bis 2014 von zwei bis drei Prozent auf inzwischen 6,5 % erhöht und kann weitere jährliche Wachstumsraten verzeichnen (IFOAM EU et al. 2016, S. 26). Einzelne Bio-Produkte erreichen auch schon mal mehr als 20 % Marktanteil. Auch wenn in den letzten 30 Jahren viele günstige Bedingungen gegeben waren (Lebensmittelskandale, steigendes Gesundheitsbewusstsein, politische Förderung des Öko-Landbaus, Marketingkampagnen für Bioprodukte usw.), ist diese Konsumausweitung aber weit von einer grundlegenden Umorientierung des Ernährungssystems entfernt.

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Und in vielen europäischen Ländern ist der Marktanteil noch immer knapp über der Wahrnehmungsgrenze. Auch in anderen Konsumbereichen (Mobilität, Kleidung, Wohnen usw.) ist der empirische Befund nach 30 bis 40 Jahren Nachhaltigkeitsbemühungen ernüchternd. Nachhaltiger Konsum bewegt sich in mehr oder weniger kleinen Nischen und ist weit von einem Beitrag zu einer radikaleren sozial-ökologischen Transformation entfernt. Es ist offensichtlich, dass Konsumierende als Nachhaltigkeitstreiber die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen bzw. erfüllen können. Doch ungeachtet der bisher eher rudimentären Umsetzung nachhaltigen Konsums wird unverdrossen auf die Förderung „bewussten“ Konsums gemäß dem Leitbild der Konsumentensouveränität gesetzt. So hat die deutsche Bundesregierung 2016 ein „Nationales Programm für nachhaltigen Konsum“ verabschiedet, das im Wesentlichen auf ein „Empowerment“ von Konsumierenden gerichtet ist, wobei Informations- und Aufklärungsinstrumente dominant sind (Brunner und Littig 2017). Kritische Stimmen haben an diesem Programm die Vernachlässigung des zentralen Problemfelds tierische Lebensmittel und generell eine große Vorsicht im Umgang mit dem Thema Suffizienz bemängelt. Es würde der Eindruck erweckt, dass Art und Ausmaß der Konsumnachfrage in Ordnung wären und nur eine möglichst umwelt- und sozialverträgliche Befriedigung angestrebt werde. Effektive Maßnahmen, die sich nicht in Informations- und Bildungsmaßnahmen erschöpfen, kämen nicht vor. Allerdings gehen auch diese kritischen Stellungnahmen nicht wesentlich über eine Marktorientierung hinaus. Zwar wird der Staat in seiner Vorbildrolle bei der öffentlichen Beschaffung in die Verantwortung genommen, jedoch wird fast komplett ausgeblendet, wie (ressourcenintensive) Bedürfnisse durch wirtschaftliches und politisches Handeln geschaffen werden, wie etwa durch Infrastrukturentscheidungen Konsum erst erzeugt wird (Brunner 2018). Und wenn Suffizienz thematisiert wird, wird diese als individuelle „Lifestyle“-Entscheidung gesehen. Konsum ist aber nachhaltigkeitspolitisch auch eine Quantitätsfrage und Suffizienz (in den Industrieländern) angesichts globaler Ungleichheiten und den Gerechtigkeitsimplikationen nachhaltiger Entwicklung dringend erforderlich. Marktbasierte Konzepte stehen aber eher ratlos vor dem Problem zu hoher Konsumlevels. Politisch scheint eine Infragestellung der (nicht nachhaltigen) Nachfrage innerhalb marktwirtschaftlicher Strukturen schwierig. Das gängige politische Muster (etwa in der Verkehrsplanung) lautet eher: „Predict and Provide“ (Goulden et al. 2014). Und wenn z. B. aktuelle Projektionen von einer weltweit immensen Steigerung des „Bedürfnisses“ Flugreisen ausgehen, dann – so die diskursive Untermalung dieser Projektionen – habe die Politik eben die entsprechenden Rahmenbedingungen für die Befriedigung dieser Nachfrage bereitzustellen.

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2 Die soziale und sozio-technische Einbettung des Konsums und die gesellschaftliche Konstruktion der Nachfrage Warum geht der Konsumwandel in Richtung Nachhaltigkeit so schleppend voran? Studien zeigen, dass viele Menschen nachhaltigkeitsrelevante Aspekte bei ihren Konsumhandlungen zwar einbeziehen, diese jedoch häufig in Konkurrenz zu anderen Motivationen bzw. alltäglichen Koordinationserfordernissen stehen. Ein durchgehend nachhaltiger Lebens- und Konsumstil ist sehr voraussetzungsvoll und im Alltag nur schwer zu realisieren (Brunner 2014b). Konsumhandlungen sind von vielen Faktoren abhängig (Geld, Wissen, Familie, Lebensgeschichte usw.) und kontextuell eingebunden (in soziale Beziehungen, in wirtschaftliche und politische Strukturen, in Versorgungssysteme usw.). Wird die Verantwortung hauptsächlich den Konsumentinnen und Konsumenten zugeschrieben, wird ausgeblendet, dass auch geeignete kontextuelle Rahmenbedingungen (wie etwa Angebote, Anreizsysteme, kommunikative Maßnahmen, Regulierungen, Abbau nicht nachhaltiger Strukturen, Internalisierung externer Kosten) vorhanden sein müssen, damit ein entsprechendes Konsumhandeln möglich wird. Aus sozialer Perspektive muss auch berücksichtigt werden, dass ein ökologischer Lebens- und Konsumstil als neues Statussymbol oftmals mit neuen sozialen Grenzziehungen einhergeht und nicht nachhaltig konsumierende Gruppen moralisch stigmatisiert werden, wenn sie den (nachhaltigen) Konsumstandards der Mittelschichten nicht folgen. Nachhaltiger Konsum kann dann schnell zu einer sozial nicht nachhaltigen Stabilisierung sozialer Ungleichheit führen (Neckel 2018). Die Konzentration auf sogenannten „bewussten Konsum“, der auch die sozialen und ökologischen Nebenfolgen in Konsumentscheidungen einbezieht, lässt oft auch vergessen, dass Konsum in hohem Ausmaß routinisiert, in alltägliche Handlungsvollzüge eingebunden und der Reflexion entzogen ist. Energiekonsum z. B. ist an die Ausführung milieuspezifischer Lebensstile gebunden und selten eine bewusste Entscheidung. Häufig ist (Ressourcen-)Konsum auch Ausdruck gesellschaftlicher Normalitäten. So ist in vielen Ländern der Gebrauch von Klimaanlagen zunehmend üblich geworden. Wie ist dieses „Bedürfnis“ nach energieintensiver Kühlung von Innenräumen entstanden? Die Rekonstruktion dieser Entwicklung zeigt, dass die Ausbreitung nicht primär auf „needs and choices“ individueller Konsumentinnen und Konsumenten zurückzuführen, sondern das Ergebnis der „Produktion der Nachfrage“ ist, bei der u. a. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technologien, Infrastrukturen involviert sind, die an der sozialen Konstruktion von Bedürfnissen und den Bedingungen ihrer Befriedigung mitwirken, und damit auch bestimmte Zukunftswege v­orstrukturieren und

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andere Möglichkeiten marginalisieren. Trotz unterschiedlicher Klimazonen und Wetterbedingungen sowie kulturell diversifizierter Komfortvorstellungen steigt die Nachfrage nach Klimaanlagen weltweit und damit auch der Energieverbrauch (Strengers 2010). In Indien ist es inzwischen normal, dass die Bauwirtschaft Wohnungen für die Mittelklasse mit Klimaanlagen ausstattet und den zukünftigen Bewohnern keine Wahl mehr lässt. In Vietnam ist die Klimatisierung ein relativ junges Phänomen, das sich allerdings in den letzten Jahren enorm beschleunigt hat. Marktliberalisierung, höhere Verfügbarkeit, sinkende Preise waren dabei Treiber, aber auch neue Baupraktiken und steigende Komfortansprüche. Dies führte dazu, dass Klimaanlagen von einem Luxusgegenstand zu einem „must-have“ für die aufsteigenden Mittelklassen in den Städten wurden. Die Gewöhnung an klimatisierte Innenräume ist für viele Menschen in Vietnam nun ein Grund, sich ein Auto anzuschaffen, um der Hitze zu entgehen. Die zunehmende Attraktivität Vietnams als Tourismusdestination führte auch im Hotelgewerbe zu einer „Klimatisierung“, die inzwischen für den größten Anteil am Stromverbrauch im Hotelsektor verantwortlich ist (Hansen et al. 2016). Diese Normalisierung führt auch zu veränderten Erwartungen: Junge Menschen in Singapur gehen inzwischen davon aus, dass sie einen Anspruch auf klimatisierte Luft haben und dies kein Luxus, sondern gesellschaftliches Basisbedürfnis sei. Damit verbunden zeigt sich ein Absinken der Toleranzgrenzen für lokale Außentemperaturen, was wiederum mit der Entwicklung neuer Körpernormen einhergeht, die „natürliches“ Schwitzen als sozial nicht mehr akzeptabel erscheinen lassen (Hitchings und Lee 2008). Es scheint sich so ein Teufelskreis herauszubilden, „in which energy demand for cooling increases as a result of the higher temperatures that climate change itself is expected to produce […] and in which air conditioning in cities exacerbates urban heat island effects, generating the ‚need‘ for yet more cooling and yet more energy consumption“ (Shove et al. 2014, S. 1517). Wilhite (2010) spricht von der sozialen und technischen Konstruktion des Bedürfnisses nach Klimaanlagen. Dabei spielten nicht Entscheidungen individueller Konsumierender die Hauptrolle, sondern die Strukturierung der Entscheidungsalternativen durch vielfältige, machtvolle Akteure und deren Einfluss auf Diskurse, Problemdefinitionen, Technologieentscheidungen und Marktbearbeitungen (zur Geschichte der Ausbreitung von Klimaanlagen in den USA siehe Cooper 1998). Durch diese gesellschaftliche Normalisierung ressourcenintensiver Konsumstandards werden Pfadabhängigkeiten geschaffen (zum Konzept der Pfadabhängigkeiten vgl. Göll und Henseling 2017), die nachhaltigere Alternativen ausschließen und Optionen verringern (lock-in-Effekte). Daran ändert sich auch wenig, wenn die neue Generation von Klimaanlagen eine höhere Energieeffizienz aufweist.

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3 Plädoyer für ein Neudenken des Konsums und der Transformationsfrage Angesichts dieser Situation könnte es sinnvoll sein, Konsumprozesse aus neuen theoretischen Perspektiven zu betrachten und auch in nachhaltigkeitspolitischer Hinsicht andere, möglicherweise effektivere Strategien zu einer Nachhaltigkeitstransformation zu wagen. Die Diskussion um nachhaltigen Konsum braucht einen modifizierten Konsumbegriff und sollte die Konzentration auf individuelle Kaufakte am Markt überwinden. Dabei können praxistheoretische Ansätze hilfreich sein, die sich sowohl als Alternative zu individualistischen, entscheidungsbasierten als auch zu biophysischen (ökologischer Fußabdruck!) Konzeptionen des Konsums anbieten. Gemeinsamer Kern der Praxistheorien ist die Annahme, dass im Zentrum sozialwissenschaftlicher Analyse die soziale Praktik steht (z. B. Essen oder Wohnen). Eine Praktik ist keine Einzelhandlung, sondern ein Muster oder Block verschiedener Handlungen. Zwar gibt es im Forschungsfeld unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der konstitutiven Elemente einer Praktik, drei Elemente sind aber in vielen Varianten der neueren Praxistheorie relevant (zu den Unterschieden Gram-Hanssen 2011): Materielles (materials), Kompetenzen (skills) und Bedeutungen (images, meanings). Die soziale Praktik des Heizens von Wohnräumen z. B. ist demnach ein Zusammenspiel von Materiellem (Technologien, Bauweise, verwendete Materialien, Lage und Ort der Wohnung, Kleidung usw.), dem praktischem Wissen und Fertigkeiten (Umgang mit Technik, praktische Intelligenz beim Öffnen von Fenstern usw.) sowie Bedeutungen (z. B. Komfortvorstellungen, Gastlichkeit, Modernität). Für das Thema dieses Aufsatzes relevant ist, dass Konsum nicht (nur) als Kaufakt zu konzipieren ist, sondern als Folge einer Vielzahl an sozialen Praktiken. Warde spricht von einer Re-Konzeptualisierung des Konsums „as not itself a practice but rather, a moment in almost every practice“ (Warde 2005, S. 137). Energie z. B. wird ja nicht per se konsumiert, sondern im Vollzug sozialer Praktiken. Aus dieser Perspektive bestimmen die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen dem Konsum, der materiellen Umwelt (Technologien, Bauten, Geräte) und den infrastrukturellen und institutionellen Strukturen (Energiemarkt, Geräteherstellende, Architekten, Politiker) die Ausformungen und Dynamiken von Energiepraktiken mit. Energiekonsum ist demnach nicht von der Dynamik sozialer Praktiken isoliert, sondern deren inhärenter Bestandteil. Effizienzstrategien werden aus dieser Perspektive als ungenügend zur Bearbeitung gesellschaftlicher Nachhaltigkeitsprobleme gesehen, da sie die dem Konsum zugrunde liegenden sozialen Praktiken unverändert lassen, damit den Status quo reproduzieren und

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nicht nachhaltige „contemporary material arrangements and practices“ (Shove und Walker 2014, S. 53) legitimieren. Individualistische Konzepte des sozial-ökologischen Wandels („behaviour change“) setzen an Einstellungen und Werten sowie an individuelles Handeln steuernden Rahmenbedingungen an. Verhaltensänderungen sollen durch Bewusstseinswandel, soziales Marketing oder finanzielle Anreize bewirkt werden. Das entsprechende Transformationsnarrativ lautet „that many small changes in individual actions will add up to bigger changes in overall resource consumption“ (Watson 2017, S. 344). Oder alltagssprachlich formuliert: Jeder muss bei sich selber anfangen und wenn nur jeder ein bisschen nachhaltiger handelt, dann wird die Welt gerettet! Solche Ansätze interessieren sich aber nicht dafür, wie Lebensstandards etabliert werden (z. B. Raumtemperaturen), unter welchen Bedingungen Bedürfnisse geformt werden und wie Normalitäten sozial organisiert werden. Damit werden Fragen von Ungleichheiten, Ansprüchen und Verantwortlichkeiten ausgeblendet bzw. individualisiert. Dieser Ausblendung entspricht eine Politikperspektive, die die soziale Konstruktion routinisierter Bedürfnisse und Wünsche nicht sieht und Nachhaltigkeit auf Effizienzfragen reduziert. Der Fokus auf die nachhaltigkeitskompatible Veränderung von Werten und Einstellungen verdeckt, dass ein großer Teil des Konsums durch kollektive Normen geleitet wird und in einer Welt von Dingen und soziotechnischen Systemen abläuft, die Routinen und soziale Konventionen stabilisieren. Im Unterschied zu individualistischen Vorstellungen des Nachhaltigkeitswandels ist ein praxistheoretisches Politikverständnis systemisch orientiert und zielt auf die Transformation nicht nachhaltiger Praktiken („systems change“) (Evans et al. 2012). Wie die Literatur zu „transition management“ hervorhebt (Loorbach 2007), brauchen gesellschaftliche Transformationen nicht nur neue Technologien, sondern auch neue Märkte, Konsumpraktiken, Regulationen, Infrastrukturen und kulturelle Bedeutungen. Dabei kommt nicht dem Individuum die tragende Rolle zu, sondern dem Staat und anderen Akteuren (u. a. Unternehmen, Architekten, Designer), die die Struktur des Alltagslebens und entsprechende Praktiken konfigurieren. Spurling und McMeekin (2015) skizzieren idealtypisch drei Interventionsformen, die sich an praxistheoretischen Einsichten orientieren. Die erste Intervention versucht die Ressourcenintensität sozialer Praktiken zu reduzieren, indem die Elemente, aus den Praktiken zusammengesetzt sind, verändert werden. Diese Interventionsform ist gegenwärtig dominant, z. B. indem durch energieeffizientere Technologien (materials) der Ressourcenverbrauch vermindert wird. Oder es wird auf der Ebene der Bedeutungen angesetzt, indem nachhaltiger Konsum als „trendy“ dargestellt wird. Werden allerdings nur einzelne Elemente sozialer

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Praktiken verändert, dann wird die Reichweite der Veränderung vermutlich eher beschränkt sein. Deshalb werden multidimensionale Veränderungsansätze, die an allen drei Elementen sozialer Praktiken ansetzen, als effektiver eingeschätzt. Eine zweite Interventionsmöglichkeit ist nicht auf die einzelnen Elemente einer Praktik bzw. deren Zusammenspiel ausgerichtet, sondern auf die Intervention in ressourcenintensive Praktiken und deren Ersatz durch weniger ressourcenintensive, damit sich die Balance zugunsten letzterer ändert. Dies kann sowohl durch die Förderung der nachhaltigeren Praktik als auch die Einschränkung der nicht nachhaltigen erfolgen. Beispiel wäre eine Änderung des Modal Shift im Verkehr, indem Fahrradfahren und Gehen anstelle des Autofahrens gefördert werden. Wesentlich ist dabei die „Exnovation“, „die zielgerichtete Beendigung von nicht-nachhaltigen Infrastrukturen, Technologien, Produkten, Praktiken sowie den sie fördernden Politikinstrumenten, z. B. umweltschädliche Subventionen“ (Heyen 2016, S. 10). Allerdings bleibt damit die Nachfrage nach Mobilität unhinterfragt, sondern wird „nur“ durch nachhaltigere Alternativen befriedigt. Eine dritte Möglichkeit richtet sich auf Interventionen in das System von Praktiken, das die Nachfrage nach Mobilität erst erzeugt. Dabei geht es um Bündel von Praktiken, die zusammenhängen und täglich reproduziert werden. Die Herausforderung besteht darin, die Verbindungen zwischen Praktiken zu verändern, die mobilitätsfördernd sind. Hier geht es also darum, in Praktiken zu intervenieren, die auf den ersten Blick mit Mobilität wenig zu tun haben. Neben dem Fokus auf die räumliche Planung von Wohnungen und Arbeitsplätzen könnten neue Lebens- und Konsumweisen entstehen, indem an lokalen Orten die Performanz mehrerer Praktiken möglich gemacht wird (z. B. Arbeiten, Essen, soziale Begegnungen) und dadurch der Mobilitätsbedarf reduziert wird. Hintergrund dieser Interventionsform ist die Einsicht, dass Bedürfnisse (z. B. nach Mobilität) nicht gegeben sind, sondern historisch kontingent und in viele Bereiche des Alltagslebens eingeschrieben sind. Probleme nachhaltigen Konsums sind Probleme gesellschaftlicher Organisation. Wenn z. B. zwischen Wohnort und Arbeitsort 200 km liegen, dann bedeutet dies einen höheren Mobilitätsbedarf als wenn dies nicht der Fall ist. Wenn Arbeitszeit so strukturiert ist, dann ein Großteil der Bevölkerung innerhalb eines bestimmten Zeitfensters nach Hause kommt, dann kann nicht überraschen, wenn ein Peak Demand das Stromnetz vor Herausforderungen stellt. Wenn Straßenbau die politische Nummer eins der Krisenbewältigung ist, wie es in Österreich mit seinem immens hohen Flächenverbrauch der Fall ist, dann darf nicht überraschen, dass auch die Zulassung von Autos

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ansteigt. Wenn Häuser so gebaut werden, dass im Sommer erhöhter Kühlbedarf entsteht, dann liegt die rasante Ausbreitung von Klimaanlagen auf der Hand. Es geht also nicht (nur) darum, nicht nachhaltige alltägliche Gewohnheiten durch Wissensvermittlung und Reflexion zu verändern, sondern gleichzeitig darum, soziale Praktiken so auszugestalten, dass Nachhaltigkeit gesellschaftliche Normalität wird. Die drei praxistheoretisch angeleiteten Interventionsperspektiven sollen aber nicht den Eindruck erwecken, dass damit gleichsam „Programme“ für den Nachhaltigkeitswandel bereitstehen, die nur auf ihre Umsetzung warten. Aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht ist durchaus Skepsis angebracht, ob Nachhaltigkeitstransformationen gezielt gesteuert werden können (Brand 2017). Systemischer Wandel erfolgt in hohem Maße ungesteuert und eigendynamisch und eine „große Transformation“ setzt voraus, dass es Kongruenz sowohl hinsichtlich der Problemdefinitionen, der Zielsetzungen und präferierten Steuerungsinstrumente als auch der verantwortlichen Akteursgruppen gibt. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Nachhaltigkeitsbestrebungen sind mit tiefgreifenden Wert-, Interessenund Machtkonflikten konfrontiert, die in einem partizipativen, ergebnisoffenen Gestaltungsprozess unter breiter Beteiligung relevanter Akteure auf verschiedenen Governance-Ebenen auszuhandeln sind (Mann 2017). Keller und Vihalemm (2017) haben angesichts der theoretisch einsichtigen Steuerungsvorschläge (z. B. die Verbindungen zwischen Praktiken zu verändern) den Eindruck, dass es eines „aufgeklärten Monarchen“ bedürfte, der die Legitimität, die Macht und Ressourcen für holistische Lösungen komplexer Probleme mit vielen involvierten Akteuren hat. Doch diesen Monarchen gibt es nicht, und ob der Staat eine solche Rolle spielen kann, wird zumindest in der politikwissenschaftlichen Forschung skeptisch beurteilt, die eine Entwicklung vom klassischen, staatlichen Steuerungsmodell hin zum „kooperativen Staat“ mit der Präferenz für weiche, horizontale Steuerungsformen konstatiert. Auch wenn viele der praxistheoretischen Steuerungsvorschläge an „Politikmachende“ gerichtet sind, so sind es neben unterschiedlichen politischen Akteurinnen und Akteuren auch Unternehmen, Interessensverbände oder auch zivilgesellschaftliche Akteure und Konsumierende, die Nachhaltigkeitswandel befördern können. Beispielsweise finden viele soziale Innovationen für nachhaltigen Konsum in zivilgesellschaftlichen Initiativen und Experimenten statt (Jaeger-Erben et al. 2017).

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4 Gesellschaftswandel und sozial-ökologische Infrastrukturen: Kollektive Konsumpotenziale durch gesellschaftlich organisierte Suffizienz In einem weiteren Sinne wären soziale Praktiken so auszuformen, dass nicht ökologische Eskalationen „eingebaut“ sind, sondern suffizientere Lebensführung möglich wird. Es geht demnach primär nicht um eine Förderung des individuellen, nachhaltigen Konsums, sondern um die Reduktion der sich aus der Dynamik sozialer Praktiken ergebenden Nachfrage durch ein nachhaltigeres Design von sozialen Praktiken und Infrastrukturen (Coutard und Shove 2019), z. B. durch die Initiierung und Förderung verschiedener Formen der „Sharing-Economy“ (Schor und Fitzmaurice 2015), die durch die Digitalisierung neue Möglichkeiten der Verbreitung gewinnt. Das Marktmodell mit der Rolle des Konsumierenden, der gegen Geld bestimmte (nachhaltige) Produkte erwirbt, die durch unternehmerisches Handeln erzeugt bzw. bereitgestellt wurden, ist nur ein Modell des Konsums, das im Übrigen den Großteil des Konsumprozesses ausblendet. Konsumangebote werden durch verschiedene Akteure bereitgestellt und durch unterschiedliche (nicht immer monetäre) Tauschbeziehungen geregelt. Wenn wir politische Akteure (vom Staat bis zu den Kommunen) als Ermöglicher kollektiven Konsums in den Fokus nehmen (Warde 2017), dann geht es bezogen auf Nachhaltigkeit um die kompatible Gestaltung gesellschaftlicher Alltagspraktiken und die Bereitstellung sozial-ökologischer Infrastrukturen, die kollektive Suffizienz ermöglichen und gleichzeitig auch soziale Ungleichheiten verringern (Brunner 2014a), z. B. durch klimafreundliche Stadtgestaltung oder mobilitätsreduzierende Raumplanung. Da die Entstehung und der Umgang mit Umweltproblemen untrennbar mit den jeweiligen dominanten gesellschaftlichen Organisationsmustern verbunden sind, es sich also um „gesellschaftliche Naturverhältnisse“ handelt (Brand 2017), sind dabei nicht nur Umwelt- und Wirtschaftspolitik gefragt bzw. Marktlösungen, sondern eine integrative, sektorübergreifende Gesellschaftspolitik, die eine integrative Re-Konfigurierung zentraler Stellschrauben des gesellschaftlichen Lebens in Richtung Nachhaltigkeit ermöglicht (zu einer praxistheoretisch inspirierten „Politikberatung“ siehe Spurling et al. 2013). Bisher sind Ansätze einer Suffizienzpolitik im politischen System aber bestenfalls punktuell zu erkennen (Quack et al. 2017). Auf jeden Fall sollten Transformationsperspektiven den praxistheoretischen Kerngedanken des Eingebettetseins des (Ressourcen)Konsums in soziale Praktiken ernst nehmen. Eine praxistheoretisch inspirierte Nachhaltigkeitspolitik bedeutet nicht, dass individueller Nachhaltigkeitswandel obsolet wird. Doch

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angesichts der immensen Herausforderungen und der bisher eher bescheidenen Ausprägungen nachhaltigen Konsums braucht es mehr als das Einwirken auf individuelle Konsumentinnen und Konsumenten. Nachhaltigkeitspolitik muss letztlich Gesellschaftspolitik sein, was auch neue Herausforderungen für das transformative Potenzial der Gesellschaftswissenschaften bedeutet (Brunner 2016).

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Nachhaltiger Konsum und die sozial-ökologische Transformation …

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Smarte Konsumwende? Chancen und Grenzen der Digitalisierung für den nachhaltigen Konsum Vivian Frick und Tilman Santarius 1 Einleitung Der Konsum wird zunehmend vom Einsatz digitaler Geräte und Anwendungen geprägt. In Deutschland beispielsweise kaufen 65 % der Menschen online ein (Handelsverband Deutschland 2018), 36 % sogar mindestens wöchentlich, und 43 % haben bereits Reisen online gebucht (Initiative D21 2018). Der Anteil von E-Commerce am gesamten Umsatz des Einzelhandels nimmt derzeit mit zweistelligen Wachstumsraten pro Jahr zu. Such-, Vergleichs-, Tauschplattformen, aber auch soziale Medien, digitale Wunschlisten und eine laufend wachsende Zahl konsumbezogener Apps verändern das Konsumverhalten. Digitalisierter Konsum geht per se mit einem ökologischen Fußabdruck einher, der sich aus den Materialen der Hardware (PC, Smartphones, Serverparks usw.) wie auch aus dem Stromverbrauch der Nutzung digitaler Medien ergibt. Der Energieverbrauch des Internets wächst rasch an und wird bereits heute auf 8–14 % der weltweiten Stromnachfrage geschätzt (Andrae und Edler 2015). Allerdings ermöglichen digitale Technologien und Anwendungen es auch, den Energie- und Ressourcenverbrauch in verschiedenen Konsumbereichen zu verändern, beispielsweise im Mobilitätssektor durch Sharing-Systeme oder im Wohnsektor V. Frick (*)  Zentrum Technik und Gesellschaft, TU Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Santarius  FG Sozial-ökologische Transformation, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre, TU Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_3

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durch automatisierte Heizungssteuerungsanlagen (zu den Debatten „Green ICT“ und „Green for ICT“ siehe z. B. Hilty und Aebischer 2015). Im vorliegenden Kapitel thematisieren wir die Frage, welchen Einfluss die Digitalisierung des Konsums auf eine Transformation der Konsummuster und Konsumbedarfe hat. Die Digitalisierung bietet diverse Potentiale für nachhaltigen Konsum, so können es Applikationen und digitale Konsumoptionen Verbraucherinnen und Verbrauchern leichter machen, nachhaltig zu konsumieren (Ballew et al. 2015; Brauer et al. 2016; Midden et al. 2008). Ebenso wurde bereits in der frühen Entstehungsphase von E-Commerce vor einer Ausweitung des Konsums durch OnlineShopping gewarnt (Reisch 2001; Sui und Rejeski 2002). Auch Verpackung und Transport, sowie Rücksendungen unpassender Produkte können beim Onlineshopping zu erhöhtem Energie- und Ressourcenverbrauch führen (Asdecker 2015; van Loon et al. 2015; Wiese et al. 2012), das vorliegende Kapitel beschränkt sich jedoch auf Veränderungen der nachhaltigkeitsrelevanten Menge und Beschaffenheit gekaufter Produkte. Im Folgenden möchten wir vorerst die für diese Frage zentralen Begriffe definieren, dann sowohl Chancen wie auch Risiken der Digitalisierung für ein nachhaltiges Konsumverhalten darstellen.

2 Definitionen und Begriffsklärungen Konsum wird allgemein in die Phasen Auswahl, Kauf, Nutzung, Reparatur und Entsorgung von Produkten und Dienstleistungen untergliedert (Campbell 1995, S. 102). Zudem können Konsumformen praktiziert werden, die eine Alternative zum Neukauf von Produkten darstellen, wie etwa Tauschen, Teilen und Wiederverkauf. Sie werden ebenfalls stark durch Digitalisierung geprägt. Wir definieren „digitalisierten Konsum“ als die Integration digitaler Technologien und Anwendungen in unterschiedliche Phasen und Formen des Konsums. Zu digitalisiertem Konsum gehören somit die digitale Informationssuche zu Produkten, Konsumoptionen oder auch Ladengeschäften, der Einkauf über E-Commerce, also Online-Shopping, die digitale Bezahlung, sowie die Ausführung von alternativen Konsumformen wie Wiederverkauf (Secondhand), Leihen, Teilen und Tauschen (Sharing), Schenken oder Reparieren. Nachhaltiges Konsumverhalten umfasst die Wahl von Produkten oder Dienstleistungen, die in der Herstellung, Nutzung und Entsorgung besonders umweltfreundlich und sozialverträglich sind. Hierunter wird u. a. eine Minimierung des Inputs pro Konsumeinheit (Effizienz) oder eine besonders hohe Naturverträglichkeit des Konsums (Konsistenz) verstanden (Wuppertal Institut 1997). In Gesellschaften mit hohem Konsumniveau zielt nachhaltiges Konsumverhalten zudem

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auch auf eine Senkung des Konsumniveau durch einen suffizienten Lebensstil ab (Balderjahn et al. 2013; Di Giulio und Fuchs 2014; Linz et al. 2002), weil die Höhe des bestehenden Konsumniveaus die Einhaltung der planetaren Grenzen gefährdet (Lorek und Vadovics 2016; Steffen et al. 2015). Der Suffizienz-Aspekt nachhaltigen Konsumverhaltens umfasst die reduzierte Anschaffung ressourcenintensiver Güter, kleiner dimensionierte bzw. weniger leistungsfähige Güter sowie die verringerte und sparsame Nutzung von Ressourcen und ressourcenintensiven Gütern und Dienstleistungen (Jenny 2016). Entsprechend drückt sich nachhaltiger Konsum nicht nur in der Wahl nachhaltiger Produkte, sondern auch in einem suffizienten Konsumniveau aus. Konsumverhalten wird sowohl durch individuell-motivationale wie auch durch situationsbedingte, kontextuelle Faktoren beeinflusst (siehe u. a. Klöckner und Blöbaum 2010; Steg und Vlek 2009). Zu den kontextuellen Faktoren gehören beispielsweise die Wahrnehmung der Umgebung sowie soziale und sozioökonomische Kontexte. So wirkt sich schon die Sozialisation in einer bestimmten sozialen Schicht oder einem Milieu auf den Habitus von Konsumentinnen und Konsumenten aus, was zu unterschiedlichen Konsumweisen und Anspruchsniveaus führen kann (Bourdieu and Russer 1982; Veblen 2005). Entsprechend prägen unterschiedliche soziale Praktiken den Konsum (Shove et al. 2012), was von Røpke und Christensen (2013) wenigstens theoretisch bereits für mögliche Auswirkungen auf den digitalen Konsum diskutiert wurde. Schließlich werden seit langem diverse Konsum- und Wachstumszwänge kapitalistischer Gesellschaften diskutiert (siehe schon Marx 1980; oder z. B. auch Galbraith 1958; Schor 1991; Princen 2005), die das Phänomen des Massenkonsums hervorgebracht und zu einer sprichwörtlichen „Konsumkultur“ geführt haben (siehe z. B. Bauman und Barth 2017; Schulze 2004). Es gibt darüber hinaus Anzeichen dafür, dass die zunehmende Digitalisierung den Konsum ankurbelt (L. Reisch 2001; L. Reisch et al. 2016b; Ternes et al. 2015; Handelsverband Deutschland 2018) und zu einem „neuen Frühling des Massenkonsums“ führt (Lange und Santarius 2018). Dieser Beitrag legt einen Schwerpunkt auf individuell-motivationale Faktoren und diskutiert, wie eine Digitalisierung des Konsums die Konsummotivation verändern kann (siehe auch Abschn. 5). Motivationale Faktoren lassen sich in moralische, hedonistische und gewinnorientierte unterscheiden (Lindenberg und Steg 2007). Moralische Motive, wie Umweltschutz oder faire Arbeitsbedingungen, spielen bei den Konsumentscheidungen vieler Menschen eine untergeordnete Rolle (Barbopoulos und Johansson 2017; Mokhtarian et al. 2009). Neben der Intention zu nachhaltigem Konsumverhalten ist es daher wichtig, auch gewinnorientierte und hedonistische Motive des Konsumverhaltens in den Blick zu nehmen. Hierunter fallen Motive wie zum Beispiel Komfort, Aufwand, Status,

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Besitz oder Materialismus (Kasser 2016; Steg und Vlek 2009). Diese Motive drücken sich u. a. in einem hohen Konsumbedarf oder Anspruchsniveau aus, das die objektiven Bedürfnisse übersteigt (Di Giulio und Fuchs 2014; Karlsson et al. 2004).

3 Risiken der Digitalisierung für nichtnachhaltiges Konsumverhalten Wie jede technische Innovation bietet Digitalisierung sowohl Chancen für nachhaltiges als auch Risiken für nicht-nachhaltiges Konsumverhalten (Midden et al. 2007). Bereits früh haben Studien gewarnt, dass Onlineshopping zu einem steigenden Konsum von Gütern und Dienstleistungen führen könne (Reisch 2001; Sui und Rejeski 2002). Daneben wird seit längerem diskutiert, ob die Digitalisierung von Bezahlung Kaufsucht fördern und damit zu erhöhten Konsumausgaben führen könnte (z. B. Dittmar et al. 2007). Wir betrachten nachfolgend die Risiken für steigende Umweltauswirkungen individuellen Konsumverhaltens durch verschiedene Rebound- und Induktionseffekte, sowie durch die Weckung neuer Konsumbedarfe (für eine Übersicht, siehe Börjesson Rivera et al. 2014).

3.1 Reboundeffekte beim Kaufverhalten Onlineshopping geht mit einer geografischen und zeitlichen Entgrenzung des Konsums einher, da weder die Örtlichkeiten noch die Öffnungszeiten von Geschäften das Kaufverhalten einschränken und so eine steigende Zahl von Konsumoptionen „anywhere-anytime“ verfügbar ist (Shankar et al. 2010). Durch Such- und Preisvergleichsportale, einer geografischen Ausweitung der Reichweite von Anbietern im Internet sowie einem dadurch intensivierten Wettbewerb können Konsumentinnen und Konsumenten zudem finanzielle Kosten sparen. Mittels mobilen Internets können vormals inaktive Zeiten, wie bspw. Wartezeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln, für Konsumhandlungen genutzt werden. Insbesondere in der Marketing-Forschung wird darauf hingewiesen, dass auch die Convenience beim Konsum durch Onlineshopping zunehmen kann. Das Konzept der Convenience umfasst die Dimensionen Zeit (zeitlich flexible Verfügbarkeit), Ort (geografische Flexibilität, Ort der Lieferung), Anschaffung (vereinfachte Anschaffung z. B. durch digitale Zahlungssysteme) sowie ggf. eine bequemere Nutzung und Ausführung, etwa wenn persönlicher Aufwand an andere (z. B. Lieferdienste) ausgelagert werden kann (Brown 1990). Jiang

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et al. (2013) ergänzen die Zugangs-Convenience, die örtlich (Vermeidung von Anreise oder Menschenmassen) und zeitlich (Verkürzung von Wartezeit) wirkt. Diese Effizienzsteigerungen werden auch als Smart Shopping diskutiert, wobei unter diesem Begriff ein möglichst geringer Aufwand von Zeit, Mühe und Geld bei zugleich möglichst hohem hedonistischen und utilitaristischen Kaufwert verstanden wird (Atkins und Kim 2012, S. 361; Voropanova 2015). Im Zusammenhang von Onlineshopping lassen sich also drei Arten von Effizienzsteigerungen unterscheiden: finanzielle Einsparungen (geringerer Preis), Zeitersparnisse, und verringerter Aufwand bzw. Mühe, also mehr Convenience. Diese Effizienzsteigerungen finden fortwährend statt, beispielsweise durch die Etablierung des mobilen Internets und neuen Software-Applikationen, die das Konsumieren vereinfachen. Sie können zu verschiedenen Formen von Reboundeffekten führen (finanzielle, industrielle, motivationale, strukturelle und Zeit-Reboundeffekte), die eine Mehrnachfrage bedingen (Santarius 2015). Inwieweit digitalisierter Konsum mit einer Mehrnachfrage einhergeht, ist bisher kaum empirisch untersucht worden. Einige Studien stützen jedoch die These, dass Digitalisierung durch diese Effizienzsteigerungen zu gesteigertem Konsumverhalten führt: Wang et al. (2015) zeigten in einem Feldexperiment, dass sich Online-Einkäufe beim Wechsel vom PC auf das Smartphone sowohl in Frequenz als auch im Kaufvolumen erhöhen. Anderson et al. (2014) fanden, dass die Absicht, beim Einkauf Zeit und Aufwand zu sparen, mit der Absicht korreliert, bei Onlineshops einzukaufen, die über soziale Medien beworbenen werden. Dementsprechend korrelieren die wahrgenommene Convenience beim Onlineshopping, die wahrgenommene Zeitersparnis, günstigere Preise sowie ein erhöhtes Einkaufsvergnügen mit einer höheren Kaufintention von Online-Flugtickets oder Online-Buchung von Flugreisen (Amaro und Duarte 2015; Bigné et al. 2010).

3.2 Induktion neuen Konsumbedarfs Der Induktionseffekt ist dem Reboundeffekt ähnlich, aber muss nicht durch Effizienzgewinne herbeigeführt werden, sondern bezeichnet generell die Steigerung des Konsums durch neue technische Möglichkeiten (Røpke 2012). Ein Beispiel dafür ist, dass viele Aspekte des Online-Shoppings mit impulsivem Kaufverhalten zusammenhängen (Chan et al. 2016; Chih et al. 2012; Kim und LaRose 2004). Impulsives Einkaufen verläuft ungeplant, und während das Verhalten aus Sicht des Marketing oftmals ein gewünschtes, weil absatzsteigerndes Verhalten darstellt (e.g. Amos et al. 2014; Liu et al. 2013), ist es unter dem

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Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit unerwünscht. Es tritt jedoch bei Online-Einkäufen häufig auf (Verhagen und van Dolen 2011), da Produkteigenschaften wie Größe und Gewicht bei Online-Shops mit Lieferservice kein Kaufhindernis darstellen und Beschränkungen wie (Öffnungs-) Zeiten oder die geografische Lage wegfallen (Koufaris 2002). Ferner wurde herausgefunden, dass umso mehr Impulskäufe getätigt werden, je einfacher ein Onlineshop zu navigieren ist ­(Dawson und Kim 2010). 93 % der Teilnehmenden einer Online-Shopping-Studie von United Problem Solvers (UPC 2016) berichteten überdies, dass sie teils mehr Produkte als geplant online bestellten, um den Mindestbestellwert für Gratislieferungen zu erfüllen. Ein weiterer Induktionseffekt kann über die Generierung oder Steigerung von Konsumbedarfen entstehen. Beispielsweise fand Lohmann (2015) einen Zusammenhang zwischen Internetzugang und erhöhten materiellen Ansprüchen. Zudem können Kaufintentionen durch verbesserte User Experience, durch personalisierte Werbung und auch durch Social-Media-Werbung gesteigert werden (Chan et al. 2016; Zhang und Benyoucef 2016). Werbung im Internet steigert nicht nur die Online-Verkäufe, sondern auch die Einkäufe im stationären Einzelhandel, und Online-Werbung in Suchmaschinen und mittels Bannern führt zu höheren Verkäufen als traditionelle Werbung (Dinner et al. 2014). Dabei spielt insbesondere die Personalisierung von Suchergebnissen, Werbung und Produktangeboten eine besondere Rolle. Personalisierte Werbung erweist sich gegenüber herkömmlicher (nicht-personalisierter) Werbung als wirksamer (Bleier und Eisenbeiss 2015). Das Anlegen individueller Profile, die durch Daten verschiedener digitaler Plattformen wie Online-Shops, soziale Medien oder Suchmaschinen komplettiert werden, ermöglicht es Unternehmen, gezielt auf individuelle Präferenzen zu reagieren und neben dem umstrittenen Eingriff in die Privatsphäre auch den individuellen Konsumbedarf zu steigern (Morozov 2015). So hängt personalisierte Werbung positiv mit erhöhter Kaufintention zusammen (Pappas et al. 2014, 2017). Auch die Personalisierung von Preisen kann das Bedürfnis nach Konsum steigern; beispielsweise wenn Konsumentinnen und Konsumenten nach ihren individuellen Präferenzen mit Rabattaktionen, Gutscheinen oder Schnäppchenangeboten gelockt werden (Schieder und Lorenz 2012; Zander-Hayat et al. 2016). Wie Jentzsch (2017) konzeptioniert und u. a. Shiller (2016) empirisch für Netflix-Kundinnen und Kunden zeigt, können personalisierte Preise dazu führen, dass zugleich die Unternehmensgewinne steigen und die Preise für bestimmte Konsumentengruppen sinken, wodurch insgesamt das Konsumniveau gesteigert wird (Reisch et al. 2016). Darüber hinaus stellen Denegri-Knott und Molesworth (2013) fest, dass das Anlegen individueller Wunschlisten oder Alerts über Produktverfügbarkeiten

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die Fähigkeit zum Konsumverlangen steigert, weil diese als eine Art Gedächtnisstütze Konsumwünsche über eine längere Zeit aufrecht erhalten. Daneben sind Social Media ein vergleichsweise gut untersuchter Einflussfaktor. Eine groß angelegte Facebook-Studie zeigte, dass soziale Informationen, die unter SocialMedia-Freunden geteilt werden, das Wahlverhalten messbar beeinflussen (Bond et al. 2012), was sich erwartungsgemäß auf Konsumverhalten übertragen ließe. Taylor und Strutton (2016) zeigen, wie Facebook-Nutzung mediiert über selbstberichtete Gefühle von Neid, Narzissmus und den Wunsch zur Selbstdarstellung mit sogenanntem Geltungs- oder Prestigekonsum korreliert. Eine repräsentative Studie in fünf Ländern stellt einen positiven Zusammenhang zwischen Konsumbedürfnissen, Konsumniveau und der Nutzung sozialer Medien für Konsumzwecke fest (für Facebook, Instagram und Mode-Blogs, Wahnbaeck und Roloff 2017). Verhaltensdaten zeigen zudem, dass Produkt-Likes auf Facebook Verkäufe steigern (Lee et al. 2015) und der Beitritt zu Gruppen in sozialen Medien von Marken erhöht diesbezügliche Konsumausgaben, was hauptsächlich durch nutzergenerierte Inhalte erklärt werden kann (Goh et al. 2013). Auch ein ökonomisches Laborexperiment zeigte, dass soziale Information, also deskriptive Normen zum Konsumniveau von Bezugsgruppen, das Konsumniveau erhöhen (Carbone und Duffy 2014). All dies deutet darauf hin, dass sowohl personalisierte Werbung als auch soziale Informationen zum Konsumverhalten unter peers in sozialen Medien das Konsumniveau steigern können.

4 Chancen der Digitalisierung für nachhaltiges Konsumverhalten Viele der oben genannten Risiken können in ähnlicher Form als Chance fungieren. So erhöhen zeitliche und geografische Entgrenzung auch den Zugang zu nachhaltigen Produkten und Konsumformen. Digitale Umwelten können je nach Ausgestaltung ebenso nachhaltigen Konsum befördern, worauf wir nun eingehen möchten.

4.1 Vermittlung von Nachhaltigkeitsinformationen Über Webseiten, Blogs und Apps erhalten Konsumentinnen und Konsumenten einfach und schnell Auskunft über Herstellungsverfahren und Umweltauswirkungen von Produkten und Dienstleistungen, beispielsweise über deren ökologischen Fußabdruck oder CO2-Bilanz (Atkinson 2013; Luck und Ginanti

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2013). Diverse „grüne Apps“ und Informationsplattformen zielen darauf ab, das Problembewusstsein über nichtnachhaltige Konsumformen zu stärken und Handlungswissen für nachhaltige Konsumformen bereitzustellen (Brauer et al. 2016). Mehr Informationen und ein zeitnaher Zugriff auf sie, teils sogar in Echtzeit mittels Barcode-Scannern während des Einkaufens, verbessern die Ausgangsbedingungen für nachhaltiges Konsumverhalten (Börjesson Rivera et al. 2014; Zapico et al. 2010). Mit Blick auf nachhaltiges digitales Konsumverhalten wurde bisher vor allem untersucht, wie die Wahl nachhaltiger Produkte durch kontextuelle Faktoren wie Positionierung, Filterung oder die Kommunikation sozialer Normen gefördert werden kann. Dies wird oftmals unter dem Begriff Nudging subsumiert. So konnte bspw. gezeigt werden, dass sozialer Einfluss eine starke Rolle spielt und deskriptive Normen die Wahl nachhaltiger Produkte in Onlineshopping- Experimenten steigern können (Demarque et al. 2015). Weiterhin zeigt eine Literatur-­ Review, dass digitale Feedbacksysteme Verhalten zumindest kurzfristig verändern können, indem sie durch punktuelle Informations-Rückkopplung helfen, Gewohnheiten „disruptiv“ zu durchbrechen (Hermsen et al. 2016). Die Evaluation einer Facebook-Intervention zum Energiesparen lässt erkennen, dass soziale Medien zur Förderung suffizienten Verhaltens durch soziale Vergleiche eingesetzt werden können (Foster et al. 2010). Nicht zuletzt kann auch im Bereich Werbung oder Unternehmenskommunikation nachhaltiger Konsum gefördert werden – so beispielsweise durch Nachhaltigkeitsmarketing, Corporate Social Responsibility, oder auch durch „suffizienzorientiertes Marketing“ (Bocken und Short 2016).

4.2 Kollaborativer Konsum und soziale Innovationen Über die Informationsverbesserung hinaus erleichtert das Internet es Konsumentinnen und Konsumenten, auf Neukauf zu verzichten und stattdessen gebrauchte Waren zu erwerben (Benton 2015; Henseling et al. 2009). Beispiele hierfür liefern Gebrauchthandel-Plattformen wie Ebay-Kleinanzeigen oder Kleiderkreisel. Ferner lässt die Digitalisierung auf einen möglichen Durchbruch beim Prosuming hoffen, bei dem Individuen einen Teil ihrer Konsumbedürfnisse durch (urbane) Subsistenz befriedigen (so schon Toffler 1980; Blättel-Mink und Hellmann 2010; Gährs et al. 2016). Ein Beispiel hierfür bietet die Internetplattform Etsy, auf welcher Nutzerinnen und Nutzer selbst genähte Kleidung feilbieten können. Besondere Relevanz für Veränderungen der Konsummotivation können „soziale Innovationen“ entfalten, die teils erst durch Digitalisierung

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­möglich werden (Jaeger-Erben et al. 2017; Rückert-John et al. 2013). Beispiele hierfür sind etwa das Couch-Surfing oder das Food-Sharing. Schließlich wird es durch Digitalisierung erleichtert, Produkte durch Sharing geteilt zu nutzen. Auch das Sharing bietet Möglichkeiten, um auf Neukauf zu verzichten und somit Suffizienz beim Konsum zu praktizieren (Reisch et al. 2016; Scholl et al. 2015; Scholl 2017). Insbesondere beim Teilen von Verkehrsträgern (Carsharing, Bikesharing, Mitfahrgelegenheiten, nachbarschaftliche Autovermietung), aber auch in anderen Konsumbereichen ist Sharing bereits verbreitet. Allerdings wird zwischen einerseits dem Peer-to-Peer-Sharing (zwischen privaten Nutzerinnen und Nutzern) und andererseits der Sharing-Economy unterschieden (kommerzielle Anbieter ermöglichen es Konsumentinnen und Konsumenten, nutzungsgeteilten Konsum zu betreiben; Scholl et al. 2017); letztere unterscheidet sich nur unwesentlich von herkömmlichen Vermietungs-Dienstleistungen, folgt in der Regel einer profitorientierten Logik und ist meist auf eine Steigerung des Konsumniveaus ausgerichtet (Daunorienė et al. 2015; Frenken und Schor 2017). Damit die Sharing-Economy einen stärkeren Beitrag zur Nachhaltigkeit leistet, wird daher eine stärkere staatliche Regulierung vorgeschlagen (Peuckert und Pentzien 2018). Insgesamt sind Potentiale des Sharings, den Ressourcenverbrauch zu verringern, bislang noch wenig empirisch untersucht wurden (für eine der wenigen Life-Cycle-Analysen von Sharing, siehe etwa Gossen et al. 2017). Zudem kann es auch beim Konsum von nachhaltiger hergestellten oder geteilt genutzten Produkten und Dienstleistungen zu einer allgemeinen Konsumsteigerung kommen. Die durch Digitalisierung erhöhte Zugänglichkeit nachhaltiger Konsumformen entspricht vom Prinzip her dem Reboundeffekt. Fälle, bei denen die Effizienzsteigerungen des Konsums vermehrt zu nachhaltigem Konsum führen, kann von einem „Beneficial effect“ gesprochen werden (Santarius und Soland 2016). Beispiele sind zeitlich und örtlich entgrenzte Einkaufsmöglichkeiten umweltfreundlicher Produkte und Dienstleistungen durch nachhaltige Onlineshops, oder auch Online Direktvermarktung, wie etwa bei der Direktvermarktung ökologischer Lebensmittel durch Akteure wie das Unternehmen „Marktschwärmer“. Jedoch kann Sharing auch dazu führen, dass frei gewordene Mittel im Sinne einer Mehrnachfrage für nicht-nachhaltige Produkte und Dienstleistungen genutzt werden. Wenn es insgesamt zu einem Anstieg des Konsumniveaus kommt, schmälern Reboundeffekte das Nachhaltigkeitspotential von Sharing (Loske 2015). Eine Umfrage zeigte dementsprechend, dass vor allem materialistische, aber auch umweltbewusste Individuen die Buchung von Unterkünften bei Peer-to-Peer-Sharing-Plattformen als moralische Lizenzierung für Impulskäufe sehen, was auf mögliche negative Auswirkungen kollaborativen Konsums hinweist (Parguel et al. 2017).

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5 Mit psychologischen Ansätzen digitalisierten Konsum verstehen Verschiedene sozialwissenschaftliche Ansätze können angewendet werden, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Konsumverhalten zu beforschen. Hier soll der Fokus auf umweltpsychologischen Ansätzen liegen, die sich aus zwei Gründen besonders eignen. Einerseits bieten sie einen Überblick zu Determinanten umweltrelevanten Verhaltens und somit auch Ansätze zur Förderung nachhaltigen Konsums. Andererseits liefern sie jedoch auch einen breiten Wissensfundus zur Wirkung von Umwelten auf menschliches Denken, Fühlen und Handeln. Bisher wurde hauptsächlich untersucht, wie die physische Umwelt menschliche Wahrnehmung und Verhalten beeinflusst (Gifford 2014). Mit dem Aufkommen der Digitalisierung gewinnt nun die digitale Umwelt ständig an Bedeutung: Deutsche verbringen im Schnitt 40 h pro Woche online (HNA 2015). Daher wird neben der Wirkung natürlicher und bebauter Umwelten auf den Menschen ebenso die Wirkung der digitalen Umwelt relevant. Forschung dazu findet in Cyberpsychologie, Mensch-Maschine-Interaktion und klinischer Psychologie bereits statt (Gosling und Mason 2015). Vereinzelt lassen sich auch umweltrelevante Forschungsergebnisse finden, jedoch können umweltpsychologische Erkenntnisse und Forschung zukünftig einen weit größeren Beitrag leisten (Gifford 2014). Wie wir anhand des Stands der Literatur im Vorangegangenen dargelegt haben, besteht gerade hinsichtlich der Implikationen auf nachhaltigen Konsum großer Forschungsbedarf. Daher möchten wir psychologische Handlungsmodelle nun daraufhin untersuchen, inwiefern sie sich für ein vertieftes Verständnis der Implikationen eines digitalisierten (nachhaltigen) Konsums und als Ausgangspunkt für zukünftige Forschung anbieten. Midden et al. (2007) definieren vier Rollen von Technologie für umweltfreundliches Verhalten. Technologien können als Vermittler (intermediary) fungieren, wenn sie zwischen zielgerichtetem Verhalten und damit verbundener Ressourcennutzung stehen, also zum Beispiel durch direkte Nutzung digitaler Technologien. Sie sind Verstärker (amplifier), wenn sie die Zielerreichung verbessern oder erweitern, also beispielsweise durch Online Shopping einfacher, günstiger und schneller eingekauft wird. Als Determinanten (determinant) wirken sie, wenn kontextuelle Technologie das umweltrelevante Verhalten beeinflusst, beispielsweise durch Nudges, und viertens als Promoter (promoter), wenn Technologie spezifisch dafür designt wurde, umweltfreundliches Verhalten zu unterstützen, wie beispielsweise „grüne“ Apps. Technologien können zugleich mehrere dieser Rollen einnehmen, so wirkt die Setzung von umweltfreundlichen Filtern in Onlineshops (z. B. Demarque et al. 2015) zugleich als Determinant und Promoter.

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Nach Steg und Vlek (2009) ließe sich Digitalisierung als ein kontextueller Faktor verstehen, der umweltfreundliches Verhalten erschwert oder erleichtert. Sie unterscheiden dabei vier Wirkungsarten: Erstens beeinflussen kontextuelle Faktoren Konsumverhalten direkt durch ihre Präsenz oder Abwesenheit; beispielsweise ist es nur möglich, online einzukaufen, wenn ein Internetzugang besteht. Dies entspricht der Vermittlerrolle bei Midden et al.’s Kategorisierung. Zweitens kann die Wirkung kontextueller Faktoren auf Konsumverhalten durch motivationale Faktoren wie Konsumeinstellungen oder Werte vermittelt werden; beispielsweise können Möglichkeiten zum Teilen und Tauschen im Netz die Einstellung zu solchen Konsumformen positiv beeinflussen, da diese bequemer werden, wodurch wiederum Teil- und Tauschverhalten verstärkt wird. Drittens wird durch kontextuelle Faktoren der Einfluss von motivationalen Faktoren (z. B. Einstellung, Normen oder Werte) auf das Verhalten verändert; beispielsweise kann sich durch einen erleichterten digitalen Zugang zu nachhaltigen Produkten auch die Einstellung gegenüber nachhaltigem Konsumverhalten ändern; in gleicher Weise jedoch kann für primär konsumorientierte Personen der digitale Zugang zu einer Erhöhung des Konsumniveaus führen. Viertens können kontextuelle Faktoren in konkreten Konsumsituationen verschiedene Ziele in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, die das Verhalten entsprechend beeinflussen (Lindenberg und Steg 2007); beispielsweise können normative Ziele aktiviert werden, wenn Menschen nachhaltige Online-Shops besuchen, während Preisvergleichsportale Motive der persönlichen Gewinnorientierung und Online-Werbung oder Social Media Posts hedonistische Motive in den Vordergrund rücken können. Neben der Systematisierung der Auswirkungen digitaler Technologien auf Konsumverhalten lassen sich verschiedene umweltpsychologische Verhaltensmodelle zur Beforschung ihrer Auswirkungen einsetzen. So zeigen etwa die Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen 1991), das Normaktivierungs-Model (Schwartz 1975), die Value-Belief-Norm-Theorie (Stern et al. 1999), oder deren Weiterentwicklungen wie das Comprehensive Action Determination Model (Klöckner und Blöbaum 2010) weitere handlungsleitende Faktoren auf, die das Konsumverhalten beeinflussen können. Diese Modelle enthalten die bereits besprochenen situationellen oder kontextuellen Einflüsse wie objektive situationelle Barrieren oder erleichterten Zugang, subjektiv wahrgenommene Verhaltenskontrolle und Selbstwirksamkeit. Daneben enthalten sie personelle Faktoren, wie normative Motive der Einstellung, personalen Norm, Problembewusstsein und Verantwortungsgefühle. Diese können durch Informations- und Dienstleistungsangebote im Internet gestärkt werden. Des Weiteren haben soziale Faktoren wie die soziale Norm Einfluss auf Konsumverhalten. Digitale Umwelten können durch Inhalte auf Webseiten und insbesondere via Social Media durch

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kommuniziertes und beobachtbares (nicht)nachhaltiges Konsumverhalten in Bezugsgruppen soziale Normen verstärkt sichtbar machen. Schließlich zeigen Ballew et al. (2015), wie Social Media und Blogs umweltbewusstes Verhalten stärken können, indem sie bei personalen, sozialen und kontextuellen Faktoren ansetzen. Als personelle Faktoren identifizieren sie Umweltwissen, eine positive Umwelteinstellung und Naturverbundenheit sowie die personale Norm zu umweltfreundlichem Verhalten; als soziale Faktoren werden Statusbewusstsein und soziale Normen genannt. Als kontextuellen Faktor wiederum nennen sie das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Community. Diese Faktoren können auf digitalen Plattformen laut Ballew et al. (2015) durch die Bereitstellung von Information, durch verstärkte relationale Beziehungen (Austausch mit gleichgesinnten Personen auf den Plattformen) sowie durch erfahrungsbasierte Funktionen beeinflusst werden; als solche Funktionen nennen die Autoren primär die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe durch die Veröffentlichung der eigenen Meinung in Blogs und Posts sowie durch interaktive Spiele.

6 Diskussion Gesamtheitlich erleichtern geografische und zeitliche Entgrenzung der digitalen Umwelt den Zugang zu und die Verfügbarkeit von konsumrelevanten Informationen und Produkterwerb. Digitale Geräte, Medien und Anwendungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Handlungsspielräume und Informationszugänglichkeit ausweiten – für nichtnachhaltige sowie für nachhaltige Konsumformen gleichermaßen. Wenngleich vereinzelte empirischen Befunde diese These insofern stützen, dass sich viele korrelative Zusammenhänge nachweisen lassen, lässt sich der aktuelle, eher spärliche Forschungsbestand nicht kausal interpretieren. Unsere Literaturanalyse zeigt somit einerseits, dass entlang der entwickelten Systematik der Implikationen eines digitalisierten Konsums – Reboundeffekte, Induktionseffekte, nachhaltigkeitsorientierte Informationsvermittlung, Gestaltung digitaler Umwelten – zu allen Aspekten noch Forschungsbedarf besteht, insbesondere fehlt es jedoch an nachhaltigkeitsfokussierten Studien, Langzeitstudien und experimentellen Forschungsdesigns. Andererseits bietet die Anwendung psychologischer Ansätze auf digitalisierten Konsum Hilfestellungen, die Wirkung der Digitalisierung auf individuelles Konsumverhalten und Konsumbedarfe zukünftig besser zu erfassen und zu erforschen. Diese Modelle bilden jeweils Teilaspekte der Implikationen digitalisierten Konsums ab, die für eine Transformation des Konsumverhalten und der

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Konsumbedarfe genutzt werden können. Und mit Blick auf eine gewünschte Transformation des Konsumverhaltens und des Konsumbedarfs in Richtung Nachhaltigkeit ist deutlich geworden, dass die Digitalisierung des Konsums zu viele konkurrierende Faktoren und Wirkkräfte entfaltet, als dass einseitig von Chancen oder Risiken ausgegangen werden sollte. Daher bedarf es nicht nur empirischer Grundlagenforschung und theoretischer Konzeption für ein vertieftes Verständnis digitalisierten Konsums, sondern ebenfalls transdisziplinärer, angewandter Forschung, die neues Transformationswissen für eine nachhaltigkeitsorientierte Gestaltung digitaler Umwelten bereitstellt. Die digitale Umwelt unterscheidet sich in einem Aspekt grundlegend von der analogen Umwelt: Die digitale Umwelt passt sich der jeweiligen Nutzerin und dem jeweiligen Nutzer an, kann also für jede Person anders aussehen (Pariser 2011). Die gezeigten Beispiele zu personalisierter Werbung, Angeboten oder Suchanfragen machen dies deutlich. In der digitalen Umwelt stehen also personelle Faktoren und kontextuelle Faktoren in dauernder, sich gegenseitig verstärkender Wechselwirkung zueinander: Während die ökologisch bewusste Nutzerin ihren Werten entsprechende Konsuminformationen und -angebote erhält, wird der hedonistische Konsument personalisiert mit den neusten Konsumangeboten eingedeckt. Auch können sich ähnlich eingestellte Bezugsgruppen in Social Media durch vermehrt ausgedrückte soziale Normen in ihren Meinungen gegenseitig bestärken und ihre Ausprägung sich so akzentuieren, was in der Sozialpsychologie als Gruppendenken bekannt ist (Janis 1972). So kann Internetnutzung die Nutzerinnen und Nutzer normativ beeinflussen, sowohl über Informationen, über hervorgehobene Werte als auch über beobachtetes Verhalten anderer. Neben klassischen Konsumweisen ergeben sich noch weitgehend ungenutzte Potentiale des Empowerments, Ermächtigung zur Selbstorganisation und Autonomie-Rückgewinnung durch die Möglichkeit, vermehrt Alternativen zum herkömmlichen, monetären „Supermarkt/Amazon“-Konsummodell zu finden. So sehen wir im Internet einen reichhaltigen Wissensschatz an Do-it-Yourself-Praktiken in Communities, Maker-Bewegungen in Kooperativen, Direktvermarktung, Informationsvermittlung zu nachhaltigem Konsum, sowie erleichterten Zugang und Reichweite zu Teil- und Tauschportalen. Und nicht zuletzt die Vernetzung sozial-ökologischer Akteure, die Praktiken von Subsistenz und Kreislaufwirtschaft mittels Digitalisierung einer breiteren Masse zugänglich machen können. Während solche alternative Formen des Konsums bisher hauptsächlich in Nischen stattfinden, wächst die gesellschaftliche Präferenz für Onlineshopping stetig, mit Wachstumsraten des Umsatzes in Deutschland von jährlich rund 15 % (Handelsverband Deutschland 2018). Die Potentiale der Digitalisierung für Nachhaltigkeit sind also keine Selbstläufer. Einerseits, was ihre Verbreitung betrifft,

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aber andererseits bzgl. bei der Frage, ob ihre Umsetzung tatsächlich zu einer ökologischen Entlastung führt. Sharing-Strategien können einerseits zu Ressourceneinsparungen führen, andererseits jedoch auch konsumstimulierend oder – im Falle von Unterkünften beispielsweise – gentrifizierend wirken. Ein umsichtiger Einsatz im Hinblick auf sozial-ökologische Auswirkungen ist in jedem Falle notwendig. Mit der digitalen Entgrenzung und Optionenvielfalt der Konsummöglichkeiten steigert sich somit die Verantwortung und der Anspruch an aufgeklärte Konsumentscheidungen, wobei gleichzeitig Konsumräume für diese auch schwerer überblickbar sind (Reisch et al. 2016). Verhaltenswissenschaftliche und psychologische Ansätze können helfen, die Möglichkeiten, aber auch Beschränkungen individueller Konsumentscheidungen mit zu bedenken. Gerade durch steigende Komplexität ist vielmehr noch eine Förderung nachhaltigen Konsums auf politischer und institutioneller Ebene vonnöten. Eine Förderung nachhaltigen digitalen Konsums kann, informiert durch verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse, auch aus Regulierung, Subventionierung, Anreizen oder aus der Setzung günstiger Rahmenbedingungen bestehen (siehe ausführlich Lange und Santarius 2018). Was Regulierung betrifft, könnte eine Einschränkung der Werbung im Internet in Erwägung gezogen werden. Geht aus der Forschung hervor, dass die Kommerzialisierung der digitalen Umwelt tatsächlich zu einer Konsumsteigerung führt, könnten diese – etwa Suchmaschinen oder Social Media – frei von Werbung gehalten werden oder Werbung jedenfalls eingeschränkt werden. Eine weitere Form der Regulierung könnte darin bestehen, die Sammlung und Auswertung von persönlichen Daten einzuschränken, damit eine Personalisierung von Werbung das Kaufverhalten nicht weiter steigert. Hierzu müssten insbesondere die in der Europäischen Datenschutzgrundverordnung verankerten Prinzipien der Datensparsamkeit und des Kopplungsverbots konsequent (und am besten international) vollzogen werden. Nicht zuletzt können kontextuelle Faktoren wie die Sichtbarkeit sozial-ökologischer Alternativen in der digitalen Umwelt erhöht werden. Gerade der Positionierung nachhaltiger Angebote in Such- und Vergleichsportalen kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Nachhaltig orientierte und kooperativ betriebene Shopping-, Gebrauchtwaren- und Tausch-Plattformen können zusätzlich durch öffentliche Fördermaßnahmen unterstützt werden. Maßnahmen, die einer Re-Regionalisierung der Ökonomie Vorschub leisten, können zugleich die Chancen auf eine Ausweitung von Prosuming, Sharing und Do-it-Yourself-Versorgung (Subsistenz) erhöhen und daher einen wichtigen Beitrag für nachhaltige Formen des digitalen Konsums leisten.

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Smarte Konsumwende? Chancen und Grenzen …

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„Smarte“ Technologien als Schlüssel zu klimafreundlichem Konsum? Stephan Schwarzinger, Ingrid Kaltenegger und David Neil Bird

1 Einleitung Während der dringende Handlungsbedarf in Bezug auf die Begrenzung des anthropogenen Klimawandels weithin außer Frage steht, zeigt die befürchtete Verfehlung des 1,5 °C Zieles auf dramatische Art und Weise, dass die verbleibende Zeit und die zur Einhaltung der Ziele des Pariser Abkommens notwendigen Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasen in einem alarmierenden Verhältnis zueinander stehen (IPCC 2018). Der steigende Handlungsdruck lässt die Hoffnung vermehrt auf technologische Innovationen setzen, die die Bereitstellung emissionsarmer Produkte und damit drastische Emissionseinsparungen ermöglichen. Das ideale Szenario klingt jedenfalls vielversprechend: Ausgehend davon, dass Treibhausgasemissionen aus der Menge und Emissionsintensität der konsumierten Produkte und Dienstleistungen resultieren (also Produktmenge mal Emissionen pro Produkt), lässt sich eine emissionsarme bis klimaneutrale Wirtschaftsweise auf zwei idealtypische Arten erreichen. Im einen Extremfall durch eine dramatische Reduktion des Konsums bzw. im anderen Extremfall durch ein Ersetzen der konsumierten Produkte und Dienstleistungen durch emissionsarme bis klimaneutrale Alternativen. Während eine weitreichende S. Schwarzinger (*) · I. Kaltenegger · D. N. Bird  Joanneum Research Forschungsgesellschaft mbH, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] I. Kaltenegger E-Mail: [email protected] D. N. Bird E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_4

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Einschränkung des Konsums wenig realistisch erscheint, ist ein Szenario, in dem alle konsumierten Produkte und Dienstleistungen durch klimaverträgliche Alternativen ersetzt werden, eher mit wachstums- und technologieorientierten Zukunftsvisionen vereinbar. Eine erfolgreiche Umsetzung der Ziele des „Paris Agreement“ ist bei einer flächendeckenden Verbreitung von klimaverträglichen Produkten jedenfalls ohne weiteres denkbar. Bislang scheitert ein solches Szenario allerdings an technologischen und marktwirtschaftlichen Realitäten sowie am individuellen Konsumverhalten. Unter der Voraussetzung, dass es technisch und ökonomisch machbar sowie rechtlich zulässig ist, zumindest für bestimmte Produkte und Dienstleistungen klimaverträgliche Substitute anzubieten, müssen sich derartige Produkte allerdings erst auf Märkten gegenüber konventionellen Produkten durchsetzen, um ihr Klimaschutzpotential ausspielen zu können. Diese Durchsetzung klimafreundlicher Angebote ist ihrerseits an eine weitere Anforderung geknüpft: Die angebotenen Produkte müssen mit den Lebensrealitäten der potentiellen Käuferinnen und Käufer kompatibel sein. Dazu zählt neben der Leistbarkeit entsprechender Angebote auch die Frage, ob sie mit der Alltagsgestaltung und den persönlichen Präferenzen zusammenpassen. Hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Alltagsgestaltung ist beispielsweise von Relevanz, ob der Umstieg auf klimaverträglichere Alternativen mit einem subjektiv relevanten Mehraufwand oder sonstigen Schwierigkeiten verbunden ist. Dabei fließen persönliche Präferenzen und Normvorstellungen sowohl in die Bewertung eines Produkts in Bezug auf die eigene Alltagsgestaltung als auch in die Entscheidung darüber ein, ob eine potentiell klimafreundlichere Alternative im Endeffekt in Anspruch genommen wird (und so zu einer Emissionsreduktion führen kann) oder nicht (Abb. 1). Technisch betrachtet existiert bereits heute zu beinahe jedem Produkt eine Alternative, die sich in ihrer Emissionsbilanz signifikant unterscheidet. Dies

Abb. 1   Vorbedingungen und erhoffte Auswirkung emissionsarmer Produkte. (Quelle: Eigene Darstellung)

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gilt beispielsweise für die Wahl des Heizsystems in den eigenen vier Wänden ebenso wie für die Entscheidung zwischen verschiedenen Fleisch- oder Gemüseangeboten im Supermarkt. Heuristiken wie die Empfehlung „saisonal und regional“ zu kaufen oder auf Fleisch zu verzichten, geben handlungsbereiten Konsumentinnen und Konsumenten zwar eine gewisse Orientierung, können viele Informationsdefizite aber nicht beheben. So ist „Saisonalität“ eine Kategorie, die in erster Linie bei Obst und Gemüse Anwendung finden kann. Das Kriterium der „Regionalität“ ist durch komplexe Wertschöpfungsketten (z. B. bei vielen in einem Produkt verarbeiteten Zutaten) ebenfalls nur bedingt geeignet, um emissionsarme Produkte bzw. Produktalternativen zu identifizieren. Darüber hinaus kann es natürlich auch vorkommen, dass Heuristiken wie „regional und saisonal“ oder „Fleischverzicht“ als Orientierung erst gar nicht zur Diskussion stehen, weil sie nicht mit dem Geschmack oder bestimmten Ernährungs-Anforderungen vereinbar sind – Stichwort „Lebensrealitäten“. Insgesamt ist also anzunehmen, dass es selbst klimabewussten und entsprechend handlungsbereiten Personen nicht immer möglich ist, solchen (ohne Zweifel hilfreichen) Heuristiken entsprechend zu handeln. Das Spektrum schwierig zu beantwortender Fragen ist jedenfalls vielfältig: Ist der Kauf einer Bio-Tomate mediterraner Herkunft im österreichischen oder deutschen Supermarkt klimaverträglicher als der Kauf einer konventionellen Tomate aus der Region? Wie schneidet ein regionaler aber nicht saisonaler Apfel aus dem Kühlhaus klimatechnisch im Vergleich mit einer saisonalen aber nicht regionalen Kiwi aus Neuseeland ab? Gezielt am Klimaschutz orientierter Konsum gleicht also in vielen Fällen aufgrund eines Mangels an verfügbarer Information einem Ratespiel. Der vorliegende Beitrag diskutiert zunächst vorliegende Befunde am Beispiel von „Smart Metern“ und widmet sich anschließend der Frage, welche Rolle digital bereitgestellte Informationen über die Klimabilanz von Produkten bei Supermarkt-Einkäufen spielen könnten, wenn es um die Unterstützung bewusster Konsumentscheidungen im Sinne des Klimaschutzes geht.

2 „Smarte“ Technologien (und „smarte“ Entscheidungen?) – Beispiel Energienutzung im Haushalt Die Erwartung, durch digitale Tools wie z. B. Feedback-Technologien oder vernetzte Geräte den Energieverbrauch und damit verbundene Emissionen einsparen zu können, scheint im Wohn- bzw. Haushaltsbereich besonders ausgeprägt zu sein. So ist beispielsweise im Strategic Energy Technology (SET-) Plan

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v­orgesehen, Technologien und Dienstleistungen zu schaffen, die Nutzerinnen und Nutzer ins Zentrum des zukünftigen europäischen Energiesystems stellen und „Smarte Lösungen“ bieten (Europäische Kommission 2015). Die Verfügbarkeit entsprechender „smarter“ Geräte ist hoch und das Bestreben auf europäischer Ebene, bis 2020 80 % der Haushalte mit „intelligenten Messsystemen“ auszustatten, zeigt die angestrebte Richtung ebenso auf. Entsprechend ausführlich ist auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema.1 Daher eignet sich der Haushalts- bzw. Wohnbereich besonders gut als Ausgangspunkt für eine Diskussion über „smarte“ Technologien. Beispielsweise verspricht die Möglichkeit, mittels „Smart Metern“ digital und in Echtzeit den Stromverbrauch im Haushalt zu messen und auszuwerten signifikante Einsparungen im Energieverbrauch und Emissionsausstoß. Erreicht werden sollen diese Reduktionen einerseits durch die Identifikation von „Stromfressern“, wie es etwa ineffiziente Haushaltsgeräte oder Stand-by -Modi sind sowie andererseits durch die Sichtbarkeit der damit verbundenen Auswirkungen auf der Stromrechnung. Dies soll Haushalten die Möglichkeit bieten, einen besseren Einblick in das eigene Konsumverhalten und seine Auswirkungen auf Klima und Umwelt zu erlangen. Durch die Möglichkeit, mittels „smarter“ Hilfsmittel zu jedem Zeitpunkt Informationen über den aktuellen Stromtarif zu erhalten, können Nutzerinnen und Nutzer energieintensive Vorgänge wie Wäschewaschen, Geschirrspülen oder Backen zusätzlich auf jene Zeiten verlegen, in denen der Strom am günstigsten ist und/oder aus regenerativen Quellen bezogen werden kann. Ob eine derartige Informationsbereitstellung im individuellen Fall zu Emissionseinsparungen im Sinne von Abb. 1 führen kann, ist allerdings davon abhängig, ob Nutzerinnen und Nutzer eine potentielle Einsparung für relevant genug erachten, um energieintensive Aktivitäten tatsächlich in jene Zeiten zu verschieben, in denen ökologisch bereitgestellter Strom zur Verfügung steht. Allerdings spielt in der Diskussion um „Smarte“ Technologien nicht nur der erhoffte Zusatznutzen für Nutzung und Umwelt eine Rolle, sondern auch produktions- bzw. angebotsseitige Interessen finden ihren Niederschlag: So erhofft man sich beispielsweise durch die Segmentierung von Nutzerinnen und Nutzern auf der Grundlage ihrer Verbrauchsprofile die Identifikation neuer Zielgruppen, die mit spezifischen Angeboten adressiert werden können (Flath et al. 2012). Darüber hinaus verspricht das Management der Energieversorgung auf der Grund-

1Eine

Suche im Web of Science nach „smart home behaviour“ erzielt 1108 Treffer für die vergangenen 5 Jahre; Google Scholar liefert für den Zeitraum 2014–2018 17.400 Treffer (jeweils Stand 19.09.2018).

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lage von Verbrauchsdaten auch eine genauere Prognose von Belastungsspitzen, wodurch Investitionen in den Ausbau der bestehenden Infrastruktur nach hinten verschoben oder sogar gänzlich unterlassen werden können (Santo et al. 2018). Aufgrund dieser De-Facto Interaktion zwischen Angebots- und Nachfrageseite spricht man auch von einer Mediator-Rolle „smarter“ Technologien (Lovell et al. 2017). Dass Informationen über das potentiell strategische Handeln des Gegenübers nicht beiden Seiten im gleichen Maße zugänglich sind, ist ein denkbarer Grund für die regen Diskussionen darüber, wie derartige Technologien hinsichtlich Datenschutz und Privatsphäre zu bewerten sind. Zur Diskussion steht dabei vor allem, welche Verwendung von gewonnenen Daten legitim ist und wie eine akzeptable Kosten-/Nutzen-Abwägung zwischen individuellen und kollektiven Interessen letztendlich aussehen könnte (McKenna et al. 2012). Teilweise wird neben potentieller Vulnerabilität (Hackerangriffe) sowie ökonomischer und ökologischer Fragen vor allem ins Treffen geführt, dass sich durch derartige Geräte die Verhaltensweisen von Nutzern nachvollziehen ließen und so unberechtigte Dritte Einblick in das Privatleben von verschiedenen Personen erhalten könnten. Es erscheint jedoch naheliegend, dass sich kritische bis ablehnende Positionen, insbesondere wenn es um die Förderung nachhaltiger Verhaltensweisen geht, nicht gegen die erhofften positiven Effekte selbst richten. Primär wird zur Vorsicht gemahnt, im Diskurs um theoretische Verbesserungspotentiale mögliche Nebenfolgen im Blick zu behalten. Dies gilt natürlich auch für den Einsatz „smarter“ Technologien im Bereich von Lebensmittel-Einkäufen oder anderen Bereichen. Was die Wirkung von zeitlich unmittelbarem Feedback zu individuellem Handeln (z. B. Information über verbrauchte Heizenergie) betrifft, sind die Befunde aus wissenschaftlicher Sicht teilweise weniger eindeutig als dies in Anbetracht theoretischer Überlegungen eigentlich der Fall sein müsste. So stellten Hagreaves et al. beispielsweise fest, dass sich Smart Meter zwar positiv auf das Wissen und Bewusstsein der von ihnen in Großbritannien untersuchten Personen über ihre Energienutzung auswirkten, die tatsächlichen Einsparungen aber aus unterschiedlichen Gründen klar limitiert sind. Sogar das Risiko gegenteiliger Effekte wird in Betracht gezogen: Diese könnten aus einer Frustration resultieren, wenn Nutzerinnen und Nutzer feststellen, wie gering die Auswirkungen der ihnen möglichen Verhaltensänderungen tatsächlich sind (Hargreaves et al. 2013). Teilweise in Kontrast hierzu stehen die Befunde von Gans et al., die auf Basis eines Quasi-Experiments in Nordirland eine Stromersparnis zwischen 11 und 17 % ermittelten (Gans et al. 2013). Vorliegende Befunde zum Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Einstellung einerseits sowie Verhalten und Verhaltenskonsequenz andererseits legen jedenfalls nahe, dass die bloße Steigerung von

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Wissen oder Bewusstsein nur gelegentlich in modifiziertem Handeln resultiert (Binder und Blankenberg 2017; Newton und Meyer 2013). Dieser geringe statistische Zusammenhang zwischen Bewusstsein/Einstellung und Verhalten wird vor allem dann plausibel, wenn man die Rahmenbedingungen berücksichtigt, in denen „Verhalten“ stattfindet. Betrachtet man beispielsweise das aus materieller Kultur, kognitiven Normen und Praxis bestehende Energy-Cultures-Konzept (Stephenson et al. 2010), so wird schnell ersichtlich, dass die Komponente der materiellen Kultur ausgeklammert bleibt, wenn nur der Zusammenhang zwischen Bewusstsein/Einstellung und Verhalten statistisch analysiert wird. Insbesondere dann, wenn die Rahmenbedingungen relativ rigide sind und dem Individuum wenig Spielraum für Entscheidungen bleibt, erscheint es daher naheliegend, dass der Einfluss von Problembewusstsein oder Normvorstellung auf das Verhalten gering bleibt. Gerade was beispielsweise das Heizverhalten betrifft, kann eine persönliche Motivation in den meisten Fällen nur innerhalb jener Grenzen umgesetzt werden, in denen z. B. eine Senkung der Raumtemperatur für die persönlichen Lebensumstände praktikabel ist. Wenn man berücksichtigt, in welchem Rahmen ein bestimmtes Handeln stattfindet und welcher Spielraum darin für persönliche Entscheidungen bleibt, kann die Frage nach dem Emissions-Reduktionspotential „smarter“ Technologien nicht allgemeingültig beantwortet werden. Es besteht jedoch Grund zur Vermutung, dass der in Praxis und Forschung aktuell vorwiegende Fokus auf Wohnen und Gebäude dazu verleitet, die Wirkung „smarter“ Technologien in anderen Lebensbereichen zu unterschätzen. Beispielsweise ergibt sich für das Individuum im konkreten Fall des Lebensmitteleinkaufs ein wesentlich größerer Entscheidungs- und Handlungsspielraum als bei der Frage, auf welche Temperatur die eigenen vier Wände idealerweise zu heizen sind. Wie der nachfolgende Hauptteil des gegenständlichen Kapitels zeigen wird, deckt die Bandbreite an verfügbaren Produktvarianten und -alternativen im Lebensmittelbereich nicht nur ein breites Spektrum an Geschmäckern sondern auch eine große Bandbreite an Treibhausgas-Emissionsbilanzen ab. Bei der Diskussion über die Rolle „smarter“ Technologien für die Unterstützung klimaschonenderer Konsumentscheidungen sind dabei insbesondere zwei Fragen zentral: 1. Was sind die Voraussetzungen, unter denen eine Etablierung „smarter“ Technologien im Lebensmittel-Einzelhandel mit dem Effekt verbesserten Klimaschutzes denkbar wäre? 2. Welche Bedeutung haben vorliegende Erkenntnisse aus dem Bereich der Energienutzung für den „smarten“ Konsum im hier in weiterer Folge behandelten Lebensmittel-Einzelhandel?

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3 Aufmerksamkeit und Transparenz Klimafreundliche Angebote, die im (physischen oder virtuellen) Produktregal verfügbar sind, teilen sich die Aufmerksamkeit der potentiellen Konsumentinnen und Konsumenten im Regelfall mit einer Vielzahl an weniger ressourcenschonenden Alternativen. Wie in der Einleitung dargestellt, folgen Heuristiken wie „regional und saisonal“ oder „Fleischverzicht“ zwar relativ klaren Regeln und bieten so eine gewisse Orientierung, sind jedoch in vielen Fällen nicht anwendbar. Da mehrheitlich keine Informationen vorliegen, die während des Einkaufs im Supermarkt einen Vergleich der Klimabilanzen verschiedener Angebote ermöglichen, bleibt eine bewusste Kaufentscheidung nach klimaspezifischen Aspekten jenen vorbehalten, die bereit sind, sich ausführlich mit den vielfältigen Faktoren auseinanderzusetzen, die für eine Abschätzung der Produkt-Emissionsbilanz maßgeblich sind. Allerdings erscheint es naheliegend anzunehmen, dass diese Bereitschaft in weiten Teilen der Bevölkerung nicht vorhanden ist. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass individuelle und „aus dem Bauch heraus“ gefällte Abschätzungen von Konsumentinnen und Konsumenten eine zu geringe „Trefferquote“ aufweisen, um das theoretisch vorhandene Potential solcher Vorreitergruppen (Bekenntnis zum Klimaschutz verbunden mit hoher Handlungsbereitschaft) wirklich auszuschöpfen. Gerade beim Lebensmittel-Einkauf ist die Beurteilung oft besonders schwierig, weil Heuristiken schnell an ihre Grenzen stoßen. Was ist beispielsweise zu tun, wenn nicht alle Kriterien erfüllbar sind? Auch in solchen Fällen entscheidet die Wahl zwischen mehreren Alternativen letztlich darüber, welche Menge an Treibhausgasemissionen man als Konsumentin bzw. Konsument in Kauf nimmt. Derzeit verfügen Individuen aber üblicherweise gar nicht über die erforderlichen Informationen, um eine diesbezügliche Entscheidung bewusst im Sinne des Klimaschutzes treffen zu können. Auch wenn sich die auf der Berücksichtigung des gesamten Produkt-Lebenszyklus basierende Umweltbewertung mittels Lifecycle-Assessment2 weithin etablieren konnte, bleibt die Vermittlung des dadurch erlangten Wissens üblicherweise auf wissenschaftliche Publikationen oder auf die Kommunikation zwischen Forschungseinrichtungen und Unternehmen beschränkt. Aus der Sicht der Konsumentinnen und Konsumenten ist die Transparenz hinsichtlich der Emissionsintensität von Produkten also gering. Eine Voraussetzung für die Erhöhung dieser Transparenz ist die Verfügbarkeit methodisch standardisierter,

2ISO

14040 und ISO 14044.

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l­ebenszyklusbasierter Treibhausgasbilanzen für eine breite Palette von Produkten. Bis dato sind diesbezügliche, von Unternehmen für eigene Produkte generierte Daten nur in seltenen Fällen öffentlich zugänglich. In Branchen oder Produktsparten, in denen keine Verpflichtung zur Emissionsbewertung besteht, liegt die Vermutung nahe, dass nur jene Unternehmen ihre Treibhausgasbilanzen veröffentlichen, die sich dadurch einen Marktvorteil erwarten. Wer eine schlechte Bilanz ausweist, läuft naheliegend Gefahr, sogar einen Nachteil gegenüber anderen Unternehmen zu generieren. Diese fehlende bzw. lückenhafte Verfügbarkeit von emissionsrelevanten Prozessdaten spielt auch in der nachfolgenden Diskussion über die Bereitstellung von Emissionsdaten für Lebensmittel eine zentrale Rolle.

4 Das Klimaschutz-Potential „smarten“ Konsums beim Lebensmittel-Einkauf Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen klimarelevanten Entscheidungen im Wohnbereich und klimarelevanten Entscheidungen beim Lebensmitteleinkauf liegt in ihrer Pfadabhängigkeit. Im Wohnbereich ist der alltägliche Gestaltungsspielraum stark durch räumliche (Wohnfläche, Wohnort), technische (Gebäudecharakteristik, Heizungstyp, Gerätebestand) und soziale Gegebenheiten (Haushaltszusammensetzung, Tagesabläufe der Haushaltsmitglieder) geprägt. Gleichzeitig sind es jedoch diese Rahmenbedingungen, die einen wesentlichen Teil des Energiebedarfs im Haushalt ausmachen. Viele Entscheidungen im Kontext des Wohnens sind also langfristig prägender Natur und geben den Rahmen vor, in dem Entscheidungen getroffen werden können. Beispielsweise kann die Intention, Heizenergie zu sparen oder die diesbezüglichen Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren, nur innerhalb jener Grenzen Umsetzung finden, die von diesen Rahmenbedingungen vorgegeben werden. Zwar kann beispielsweise laut einer gängigen Faustregel bei einer Temperaturabsenkung von 1 °C mit einer Heizenergie- bzw. Emissions-Einsparung von 6 % gerechnet werden, allerdings sind die Grenzen spätestens dann erreicht, wenn die Raumtemperatur auf ein nicht mehr behagliches Niveau abgesenkt wurde. Im Gegensatz hierzu zeichnet sich ein Lebensmitteleinkauf durch eine wesentlich geringere Pfadabhängigkeit und eine größere Anzahl an Freiheitsgraden aus. Eine geringere Pfadabhängigkeit deshalb, weil die Intention heute klimaverträglich einzukaufen umgesetzt werden kann, ohne in besonderem Maße Einschränkungen durch früher getroffene Entscheidungen zu unterliegen. Eine größere Anzahl an Freiheitsgraden deshalb, weil beim Lebensmitteleinkauf nicht

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nur entlang der Dimension „mehr oder weniger“ (heizen/kaufen) entschieden werden kann, sondern auch die Frage zu klären ist, welche Produkte man kauft. Beispielsweise emittiert die Bereitstellung von einem Kilogramm Rindfleisch im weltweiten Durchschnitt 28,73 kg CO2-Äquivalent, während ein Kilogramm Hühnerfleisch mit lediglich 4,12 kg zu Buche schlägt (Clune et al. 2017). Auf einzelne Länder heruntergebrochen und unter Berücksichtigung der jeweils länderspezifischen Unterschiede in der Tierhaltung und der Verwendung unterschiedlicher Futtermittel, kann dieser Unterschied natürlich vom weltweiten Durchschnitt abweichen, die Größenverhältnisse zeigen sich darin aber allemal. Allein dieses plakative und häufig verwendete Beispiel lässt erkennen, dass Lebensmitteleinkäufe eine wesentliche Rolle im Klimaschutz spielen, jedoch von Konsumentinnen und Konsumenten nicht zwangsweise als solche wahrgenommen werden. Zum Vergleich: Ein PKW mit Benzin- oder Dieselantrieb emittiert (unter Betrachtung des gesamten Lebenszyklus) rund 200 g CO2-Äquivalent pro Kilometer (ÖAMTC 2018). Die Differenz zwischen einem Kilogramm Rindfleisch und einem Kilogramm Hühnerfleisch entspricht also mehr als 120 gefahrenen Kilometern. Nachfolgend werden einige weitere Vergleiche angestellt, um das Potential bewusster Entscheidungen aufzuzeigen. Clune et al. betrachteten z. B. einen Wocheneinkauf für eine vierköpfige australische Familie und errechneten, dass wöchentlich 62,53 kg CO2-Äquivalent für eine Ernährung mit Fleisch, Fisch und Eiern anfallen. Ersetzt man nun einige der tierischen Produkte durch ebenfalls tierische Alternativen, die dieselbe Menge Eiweiß liefern aber eine bessere Klimabilanz aufweisen (beispielsweise Ersatz von Lamm durch Kaninchen und Ente), reduziert sich die emittierte Menge auf 28,14 kg CO2-Äquivalent, was einer Einsparung von knapp 55 % entspricht. Bezieht man die insgesamt vorgeschlagene Kalorien- und Eiweißmenge aus rein pflanzlichen Quellen, beträgt das durch die konsumierten Nahrungsmittel emittierte CO2-Äquivalent für die vierköpfige Familie im Mittel nur noch rund 2,7 kg pro Woche. Dies entspricht einer Reduktion von mehr als 95 % (Clune et al. 2017). Die im Kontext der Energienutzung im Haushalt diskutierten Limits des Einsparungspotentials gelten für Supermarkt-Einkäufe also oftmals nur bedingt; ob die im Bereich der Haushalts-Energienutzung ermittelten Befunde hinsichtlich eingeschränkter Selbstwirksamkeit, damit verbundenen Enttäuschungen oder zeitlich beschränkter Motivation (Hargreaves et al. 2013) auch auf den Lebensmitteleinkauf übertragbar sind, müsste allerdings empirisch geprüft werden. Die Zahlen aus den obigen Beispielen wurden mittels Lebenszyklusanalysen, auch bekannt als „LCA“, „Lebenszyklusanalyse“, „Ökobilanz“, „Ökologischer Fußabdruck“ und „Carbon Footprint“, berechnet. Eine Lebenszyklusanalyse

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ist eine „systematische Analyse der Umweltwirkungen von Dienstleistungen und Produkten während der gesamten Phase der Produktion, der Nutzung und der Entsorgung. Dabei werden auch die Umweltwirkungen der vor- und nachgeschalteten Prozesse inklusive jener der Bereitstellung der benötigten Energie einbezogen. Teilaspekte einer LCA sind die Entnahmen aus der Umwelt, unter ihnen der Wasserverbrauch, sowie die Emissionen in die Umwelt, vor allem die Kohlendioxid- und Stickstoffemissionen“. Emissionsspezifische Daten aus Lebenszyklusanalysen sind jedoch weder primär für Konsumentinnen und Konsumenten gedacht, noch ohne weiteres verfügbar und verständlich. Der Zeitaufwand für das erforderliche Einlesen in die Materie und Einordnen der Ergebnisse ist also relativ groß und die Bereitschaft, diese Zeit zu investieren, dürfte sich in weiten Teilen der Bevölkerung in Grenzen halten. Bislang sind Klimaschutz-Interessierte also weitgehend auf eigene Recherchen angewiesen, um sich über das Thema eingehend zu informieren. Speziell für den Lebensmittelbereich sind bereits einige elektronische „Hilfsmittel“ wie Online-Ratgeber mit Einkauftipps verfügbar, die die Entscheidung für oder gegen bestimmte Produkte erleichtern bzw. den Einkauf in eine bestimmte Richtung lenken sollen. So bietet zum Beispiel der Greenpeace-Marktcheck einen Überblick über das Bio-Angebot der größten österreichischen Supermarktketten und bietet auch weiterführende Empfehlungen zu einer klimabewussten Ernährung, indem zum Beispiel empfohlen wird, mehr Gemüse und Hülsenfrüchte zu essen, und sich lieber selten, dafür aber ein hochwertiges Stück Fleisch zu gönnen. Ähnlich dem statistischen Warenkorb, der bei der Berechnung der Inflationsrate Anwendung findet, wurden im Greenpeace-Marktcheck 50 Produktgruppen definiert, darunter Obst, Fleisch und Schokolade und bewertet, inwieweit Produkte mit einem Bio-Gütezeichen verfügbar sind, woher sie stammen und unter welchen Bedingungen sie produziert wurden (Greenpeace 2018). Dennoch sind auch die hier angeführten Empfehlungen (weniger Fleisch, mehr Gemüse und Hülsenfrüchte) Faustregeln, die nicht für alle Konsumentinnen und Konsumenten eine überlegenswerte Alternative darstellen. Auch der WWF hat 2012 eine Studie veröffentlicht, in der der Zusammenhang zwischen Ernährung und den Emissionen von Treibhausgasen dargestellt wird. Anbau, Ernte, Verarbeitung, Transport, Lagerung, eventuelle Kühlung, Zubereitung und gegebenenfalls die Entsorgung von Nahrungsmitteln verursachen beachtliche Emissionen von Treibhausgasen (WWF 2012). Die Studie zeigt auf, dass durch einen geringeren Fleischkonsum und einer geringeren Entsorgung von noch essbaren Nahrungsmitteln die Umwelt von bis zu 67 Mio. t CO2-Äquivalenten an Treibhausgasen entlasten würde. Dadurch könnte

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jede/r Deutsche jährlich Treibhausgas-Emissionen in der Höhe von ca. 800 kg CO2-Äquivalenten bzw. etwa 7 % der durch ihn oder sie versursachten Gesamtemissionen vermeiden. Jedoch werden auch Studien dieser Art, die explizit für Konsumentinnen und Konsumenten verfasst sind, nur von einigen genau gelesen und Konsequenzen für das eigene Konsumverhalten daraus abgeleitet. Die Distanz zwischen potentiell verfügbarem Wissen und der tatsächlichen Konsumentscheidung ist dadurch meist sowohl zeitlich als auch räumlich noch (zu) groß. Zeitlich weil die gewünschte Information die Menschen irgendwann erreicht, also zumeist nicht im Vorfeld einer Kaufentscheidung. Räumlich weil die Information nicht direkt beim Einkauf präsent ist. Mittlerweile sind für Verbraucherinnen und Verbraucher interessante Informationen jedoch schon häufiger mittels Smartphone-Apps abrufbar. Technisch betrachtet kann so das Problem der zeitlichen und räumlichen Distanz zwischen Informationsbereitstellung und Produktwahl gelöst werden. Die Abrufbarkeit von Produktinformationen mittels Smartphone ist heutzutage relativ einfach möglich und versetzt Konsumentinnen und Konsumenten in die Lage, ihre Wahl zwar aufgrund von fundierten (wissenschaftlichen) Erkenntnissen, jedoch trotzdem weitgehend selbstbestimmt zu treffen. Umweltaspekte und Klimaschutz spielen in derartigen Services im Regelfall jedoch nur für Nischenmärkte oder -produkte eine Rolle. Dies zeigt beispielsweise eine Auflistung der „20 beliebtesten Shopping-Apps“ durch das deutschsprachige Computerportal „chip“: 35 % der dort gelisteten Tools sind App-Versionen von Webshops oder Shopping-Portalen. Bei vier der gelisteten Apps handelt es sich um Hilfsmittel zur „Schnäppchenjagd“, die das Auffinden von besonders günstigen Angeboten unterstützen sollen. Jeweils zwei sind Second-Hand Plattformen, Hilfsmittel für die persönliche (Einkaufs-)Organisation und Informationsquellen über Geschäfte aus der Umgebung. Eine weitere App zeigt einen Überblick über aktuelle Prospekte und Flugblätter. Nur eine dieser Apps – barcoo – bietet für einen Teil der hinterlegten Produkte Informationen zu Nachhaltigkeitsaspekten, allerdings nicht auf der Ebene des konkreten Produkts sondern entweder anhand einer Nachhaltigkeitsbewertung des anbietenden Unternehmens oder in Form von Richtwerten für bestimmte Produktkategorien. Hinsichtlich klimaschutzspezifischer Informationsbereitstellung ergibt sich daraus folgendes Problem: Ein Vergleich der Klimabilanz von weitgehend gleichwertiger Produktalternativen ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Alle jene, die ihre Kaufentscheidungen unter Berücksichtigung von Klimaschutz-Aspekten treffen wollen, aber auf vergleichsweise emissionsintensive Produkte nicht immer verzichten können oder möchten (zum Beispiel den generellen Verzicht oder die Einschränkung des eigenen Fleischkonsums zugunsten einer

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p­flanzenbasierten Ernährung), stoßen hinsichtlich verfügbarer Informationen daher rasch an ihre Grenzen. Beispielsweise kann die Frage nach den CO2-Emissionen von „1 kg Rindfleisch Typ A“ im Vergleich zu „1 kg Rindfleisch Typ B“ so nicht beantwortet werden, obwohl sich aufgrund verschiedener Produktionsbedingungen, Transportwege und Lagerungsformen auch zwischen Produkten innerhalb derselben Kategorie Unterschiede ergeben können. Durch diesen Mangel an Information und Transparenz bleibt die Wahl der klimaverträglicheren Alternative selbst bei hoher Klimaschutz-Affinität und Handlungsbereitschaft weitgehend dem Zufall überlassen. Diese Zufallskomponente spielt auch in jenem Problem eine Rolle, das als „Behaviour-Impact-Gap“ bezeichnet wird: Selbst wenn Individuen sich ihrer Intention nach im Sinne des Klimaschutzes verhalten, können Faktoren, die sich ihrem Einfluss oder ihrem Wissen entziehen, das eigentlich erwartete Einsparungspotential neutralisieren. Csutora zeigte empirisch, dass dieser Effekt sogar so weit gehen kann, dass sich ökologisch Engagierte in ihrem Carbon-Footprint nicht vom Rest der Bevölkerung unterscheiden (Csutora 2012). Ein Mangel an Information über die tatsächliche Emissionsbilanz von Verhaltensweisen oder konsumierten Produkten schränkt die Praktikabilität eines konsequent Treibhausgas-minimierenden Lebensstils also sogar für jene Personen ein, die überdurchschnittlich engagiert sind und die klare Intention haben, klimaverträgliche Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus ist dieser Informationsmangel für die dringend notwendige Verbesserung der „Climate Literacy“, also der „Alphabetisierung“ und Bildung von Bürgerinnen und Bürgern hinsichtlich des komplexen Themas „Klima“, in aktuell noch nicht Klimaschutz-affinen Bevölkerungsgruppen hinderlich. Dass Smartphone-Apps die räumliche und zeitliche Distanz zwischen Information und Entscheidungssituation reduzieren können, wurde oben bereits dargelegt. Erkenntnisse von Froehlich et al. bestätigen jedenfalls die Relevanz zeitlicher Nähe für die Etablierung erwünschter Handlungsweisen (Froehlich et al. 2010). Unabhängig davon, ob eine Kaufentscheidung zuhause oder erst im Supermarkt getroffen wird, kann eine entsprechende App grundsätzlich sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Nähe zwischen Informationsbereitstellung und Entscheidung ermöglichen. Eine andere Herausforderung liegt jedoch in der Art und Weise, wie entsprechende Informationen verschiedenen Zielgruppen dahin gehend nähergebracht werden können, dass sie am ehesten zu einer Konsumentscheidung im Sinne des Klimaschutzes führen. Die Umweltpsychologie geht häufig von einem sequenziellen Prozess aus, der letztendlich zu einer Kaufentscheidung führt oder diese verhindert. Beispielsweise gliedert sich das in der Erforschung von Umweltverhalten häufig ein-

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gesetzte Norm-Aktivationsmodell nach Schwartz (1977) in vier Stufen, die die Problemwahrnehmung, die Entwicklung/Aktivierung einer persönlichen Norm, die Einschätzung von möglichen Handlungsalternativen (u. a. auf der Grundlage verfügbarer Informationen) sowie die Auswahl oder Unterlassung einer konkreten Handlung abdecken (Lehmann 2012). Ebenfalls einem sequenziellen Schema folgend formulierten He et al. unter dem Schlagwort „one size does not fit all“ ein fünfstufiges Konzept, das abhängig vom individuellen Fortschritt hinsichtlich nachhaltiger Praxen unterschiedliche Anreize setzt, um erwünschtes Handeln zu fördern und dauerhaft zu etablieren (He et al. 2010). Dieser Ansatz setzt allerdings neben adäquater Information über das aktuelle Entwicklungsstadium von Individuen bzw. Zielgruppen auch die Möglichkeit voraus, diese gezielt mit Informationen und Anreizen zu versorgen, um die Menschen dort abzuholen, wo sie sich gegenwärtig (im Sinne des Norm-Aktivationsmodells) auf dem Weg zwischen Problemwahrnehmung und bewusster Entscheidung befinden. In genau diesem Bereich liegt ein zusätzliches zentrales Potential von „smarten“ Technologien: Im Gegensatz zu eher unspezifischen Kampagnen (wie zum Beispiel Bewusstseinsbildung hinsichtlich „Saisonalität“ und „Regionalität“ und „Fleischverzicht“), die häufig das Gießkannen-Prinzip anwenden, kann über Smartphone-Apps erstens das aktuelle Nutzungsverhalten erfasst und zweitens Information zielgruppengerecht kommuniziert werden. Dadurch können nicht nur bereits klimaorientiert handlungsbereite Personen mit relevanten Informationen versorgt werden, sondern auch jene angesprochen werden, die sich mit dem Thema bisher nur wenig bis gar nicht auseinandergesetzt haben. Um diese Aufgaben erfüllen zu können, muss eine derartige App einige Kriterien erfüllen. Zentral sind dabei natürlich die vorrangigen Anforderungen einer einfachen Bedienung und einer klaren Aussage darüber, welches Produkt hinsichtlich Klimaschutz besser oder schlechter abschneidet als ein anderes. Denkbar wäre beispielsweise, dass Emissions-Daten angezeigt werden, sobald der Produkt-Strichcode mittels Smartphone eingescannt wird. Also ganz nach dem Vorbild von Apps, die Informationen über bestimmte Produkte (z. B. Nährwertangaben von Lebensmitteln oder Inhaltsstoffe von Kosmetikartikeln) bereitstellen, wenn ein Strichcode erfasst wird. Eine wesentliche Herausforderung in der technischen Umsetzung einer „CO2-App“ liegt in der Verfügbarkeit von Emissionsdaten für unterschiedlichste Lebensmittelprodukte. Diese sind von Zulieferketten, Rezepturen und der Saisonalität abhängig und müssen daher laufend aktuell gehalten werden, wenn aus mehreren Produkten die jeweils klimafreundlichste Alternative identifiziert werden soll. Dieser permanente Aktualisierungsbedarf ist auch im wissenschaftlichen Bereich ein bisher weitgehend ungelöstes Problem.

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Eine weitere offene Frage dreht sich um die Form, in der Informationen dargestellt werden. Ergebnisse aus dem Bereich Haushaltsstrom legen jedenfalls nahe, dass neben der Informationsbereitstellung an sich auch das Framing, also die Art und Weise in der das Feedback bzw. die Information präsentiert wird, entscheidend für die längerfristige Wirkung ist. Beispielsweise bevorzugen Stromkundinnen und -kunden zwar ökonomische Informationen, jedoch hat sich normativ aufgeladenes Feedback als wirksamer im Sinne einer tatsächlichen Einsparung erwiesen (Schultz et al. 2015). Eine Angabe von LCA-basierten Werten in CO2-Äquivalenten in Verbindung mit einem jährlichen und auf der Basis klimapolitischer Entwicklungen festgelegten persönlichen CO2-Guthaben, das nach eigenen Vorstellungen verbraucht werden kann, würde beispielsweise eine quasi-ökonomische Aufgabenstellung mit einer normativen Komponente darstellen. Was grundsätzlich vielversprechend klingt, stellt sich allerdings bei näherer Betrachtung als problematisch heraus: Erstens ist die Festlegung jener individuellen Restmenge, die einem Menschen zusteht, komplex. Wie viel dürfen beispielsweise jene zukünftig noch emittieren, die in der Vergangenheit einen emissionsintensiven Lebensstil gepflegt haben? Mehr oder weniger als jene, die bisher erst wenige Treibhausgas-Emissionen verursacht haben? Zweitens bezieht sich die individuell noch zur Verfügung stehende Restmenge naheliegend nicht nur auf den Bereich des Lebensmittelkonsums sondern auf alle Lebensbereiche, in denen es emissionsrelevante Verhaltensweisen gibt. Die Integration aller klimarelevanten Lebensbereiche könnte ihrerseits zwar die Einordnung von Informationen über Emissionsmengen fördern („Wie vielen Kilometern Fahrt mit meinem PKW entspricht die eine oder die andere Sorte Fleisch und wie schneidet eine pflanzliche Alternative ab?“), erhöht die Komplexität der technischen Umsetzung aber enorm. Unabhängig davon, ob eine App nun ausschließlich Emissionsangaben für Lebensmittel-Einkäufe bereitstellt oder auch weitere Lebensbereiche berücksichtigt, könnten bestimmte Vergleichsgrößen wie PKW-Kilometer dennoch eine sinnvolle Ergänzung sein, um das Verständnis für Größenverhältnisse zu verbessern. Grundsätzlich ist auch die Bandbreite an alternativen Darstellungsformen groß. Das Spektrum reicht von einem Ampelsystem, das die Treibhausgasemissionen in Relation zur Produktmenge farblich codiert ausweist (in Anlehnung an die Energieeffizienzklassen bei Elektrogeräten) bis hin zur Anzahl an Bäumen, die einen Tag lang mit der Speicherung der entsprechende Menge CO2 ausgelastet wären. Letzteres wird vom Portal Treeday verwendet und nachhaltige Verhaltensalternativen (Öffi statt PKW, Duschen statt Baden etc.) werden dort durch den Erhalt sogenannter „Treeds“ belohnt. Das oben angeführte Beispiel nach Clune et al. (2017) lässt auch eine Angabe der Emissionsmenge

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im Verhältnis zur enthaltenen Kalorien- oder Eiweißmenge überlegenswert erscheinen. Unabhängig von der genauen Darstellungsform und den technischen Details der Umsetzung bleibt jener Aspekt zentral, der eingangs dargestellt wurde: Die Verfügbarkeit von Informationen über produktspezifische Treibhausgas-Emissionen ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Konsumentinnen und Konsumenten beim Lebensmittel-Einkauf gezielt jene Produkte wählen können, die zwar einerseits ihren momentanen Anforderungen entsprechen, zugleich aber eine unter diesen Umständen möglichst günstige Emissionsbilanz aufweisen. Das Emissions-Reduktionspotential, das durch diese erweiterte Informationsverfügbarkeit theoretisch abgerufen werden kann, setzt sich daher aus zwei Teilen zusammen: Erstens können jene, die sich bereits an Heuristiken wie „saisonal“, „regional“ und „Fleischverzicht“ orientieren, durch produktspezifische Treibhausgas-Informationen ihre Auswahl im Sinne des Klimaschutzes noch weiter optimieren. Zweitens können dadurch aber auch jene, die ihren Warenkorb nicht von Saisonalität und Regionalität (mit-)bestimmen lassen oder nicht auf Fleisch verzichten möchten, einen gezielten Beitrag zum Klimaschutz leisten. Sie können, wenn auch mit einem insgesamt wahrscheinlich höheren Emissionslevel, ebenso informierte Entscheidungen treffen, in die neben anderweitigen Anforderungen auch die Klimabilanz der gewählten Produkte einfließt. Möglicherweise ist diese Form der Selbstbestimmtheit ein wichtiger Bestandteil im Vorhaben, möglichst alle Teile der Bevölkerung für eine Teilnahme am „Projekt Klimaschutz“ zu gewinnen.

5 Fazit und Ausblick Theoretische Überlegungen legen ebenso wie empirische Untersuchungen nahe, dass „smarte“ Technologien Potential haben, den Klimaschutz zu unterstützen. Im Moment spielt die Digitalisierung für die Änderung von Lebensstilen in Richtung Nachhaltigkeit aber noch eine vergleichsweise geringe Rolle. Die konsequente Bereitstellung klimarelevanter Bezugsgrößen wie z. B. von CO2-Äquivalenten auf individueller Produktebene scheitert bis dato unter anderem noch an zwei wesentlichen Hürden: Erstens stehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die Mehrzahl der individuellen Produkte keine Lebenszyklusbasierten Emissionsbilanzen zur Verfügung. Dies scheitert bis dato unter anderem daran, dass zwar Einigkeit darüber besteht, dass Treibhausgas-Bilanzen von Produkten den gesamten Lebenszyklus berücksichtigen müssen, für diese Bewertungen aber verschiedene Datenbanken zur Verfügung stehen, die sich in methodischen Details unterscheiden. Eine

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Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer CO2-App für Lebensmitteleinkäufe, nämlich ein einheitlicher Bewertungsstandard, der die Treibhausgas-Bilanz von einzelnen Produkten wirklich vergleichbar macht, konnte sich daher noch nicht etablieren. Erforderlich sind also die Standardisierung von Bewertungen sowie die Erstellung und Aufrechterhaltung einer Datenbank, die Produktionsprozesse, Bereitstellungs- und Entsorgungsketten sowie Veränderungen im Produktlebenszyklus mit geringer Latenz berücksichtigt. Zweitens ist die Nutzung eines digitalen Hilfsmittels wie einer Smartphone-App trotz der Möglichkeit, Produkte am Handy über das Scannen des Barcodes aufzurufen, mit einem (wenn auch relativ geringen) zeitlichen Aufwand verbunden. Für eine Vielzahl von Konsumentinnen und Konsumenten wird der individuell wahrgenommene Nutzen in Form einer Emissionsreduktion eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema aber möglicherweise nicht rechtfertigen. Wem das Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz generell zu aufwendig ist, wird sein Verhalten in dieser Hinsicht vielleicht auch mit der Verfügbarkeit einer App nicht ändern. Dennoch ist die einfache Abrufbarkeit von klimarelevanten Produktinformationen mittels Smartphone auch als Angebot an jene Menschen zu verstehen, die bis dato den Eindruck haben, dass sie ihre Konsum- und damit Essensgewohnheiten (Beispiel „Fleischverzicht“) grundlegend verändern müssten, um ihre individuelle Treibhausgas-Bilanz zu verbessern. Das oben genannte Beispiel, in dem eine Fleischsorte durch eine andere ersetzt wird und so 55 % der Treibhausgas-Emissionen bzw. rund 34 kg an CO2-Äquivalenten eingespart werden (Clune et al. 2017), macht dies deutlich. Damit ist die Feststellung, dass ein signifikanter Beitrag zum Klimaschutz auch ohne Totalveränderung der vertrauten Ernährungsweise geleistet werden kann, eine der Kernbotschaften, die eine zukünftige App transportieren kann. Dies erscheint speziell im Kontext vorliegender Forschungsergebnisse über den Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeit und Handlungsbereitschaft vielversprechend (Schutte und Bhullar 2017; Tabernero und Hernández 2011). Geht man davon aus, dass selbst Klimaschutz-affine Personen ihre Entscheidungen zwischen emissionsintensiven Produkten und klimafreundlicheren Alternativen mangels Informationsverfügbarkeit aktuell mehrheitlich auf zufälliger Basis treffen und durch die Bereitstellung entsprechender Informationen treffsicher entscheiden könnten, ist das möglicherweise unkompliziert abrufbare Emissions-Reduktionspotential durch eine App keinesfalls zu unterschätzen. Inwieweit zusätzliche Einsparungen durch potentiell aktivierbare Bevölkerungsgruppen erzielbar sind, ist schwieriger abzuschätzen. In Anbetracht der angestellten Überlegungen und umweltpsychologischen Erkenntnisse über Verhaltensänderungen erscheint es aber angemessen, in einer möglichen App-Ent-

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wicklung explizit auch jene Gruppen zu berücksichtigen, die auf den ersten Blick nicht den Eindruck erwecken, einen emissionsreduzierten Lebensstil anzustreben. Die im Titel dieses Beitrags aufgeworfene Frage, ob „smarte“ Technologien der Schlüssel zu klimafreundlichen Konsumentscheidungen sind, kann zum momentanen Zeitpunkt jedenfalls nicht eindeutig beantwortet werden. Welche Rolle die zur Diskussion gestellte Möglichkeit einer Lebensmittel-App spielen wird, hängt jedenfalls stark davon ab, wie sich die Diskussion um die Standardisierung von Bewertungen und vor allem auch die Verfügbarkeit dafür erforderlicher Prozessdaten (Beschaffung, Herstellung, Transport etc.) entwickelt. Äußerst fraglich ist dabei vor allem, ob eine flächendeckende Bereitstellung solcher Prozessdaten durch Unternehmen ohne regulatorische Zwänge realistisch ist. Das theoretisch vorhandene Reduktionspotential scheint in Anbetracht steigenden Handlungsdrucks jedenfalls hinreichend groß zu sein, um sich weiterführend mit jenen Fragen zu befassen, die im vorliegenden Beitrag aufgeworfen wurden. Zunächst wird empirisch die grundlegende Frage zu beantworten sein, wie sich bereitgestellte Informationen über die Emissionsbilanz verschiedener Produktalternativen tatsächlich auf Konsumentscheidungen verschiedener Gruppen von Konsumentinnen und Konsumenten auswirken. In der Zwischenzeit bleibt ein Vergleich der wahren Klimabilanz von verschiedenen Produkten im Lebensmittelbereich durch Konsumentinnen und Konsumenten im Regelfall (noch) Zukunftsmusik.

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Die Stimme der Verbraucherinnen und Verbraucher: Diskursiver politischer Konsum on/offline Katharina Witterhold 1 Einleitung Eine Grundfrage politischer Konsumforschung zielt auf die Reichweite politisierter Konsumpraktiken und deren möglicher Effekte auf die Struktu­ ren des Marktes ab (Micheletti 2017). Als politische Konsumpraktiken gelten neben Boykott und Buykott als strategische Kaufverweigerung bzw. gezielter Kaufakt auch Lifestyle-Politics1 und diskursiver politischer Konsum. Letzterer bezeichnet vor allem diskursive Praktiken des Anti Branding und Culture Jamming, die u. a. mittels künstlerischer Verfremdungstechniken Aufmerksamkeit auf bekannte Marken und Unternehmen lenken, um deren Praktiken zu diffamieren (Stolle und Micheletti 2013, S. 170). Im Gegensatz zu Boy-/Buykott basiere diskursiver politischer Konsum auf kreativen bürgerschaftlichen Kommunikationsfertigkeiten anstatt auf der Verfügbarkeit monetärer Mittel und sei damit „highly reliant on digital tools to craft and communicate its political message“ (Stolle und Micheletti 2013, S. 171). Ziel diskursiven politischen

1Lifestyle-politics

bezeichnet allgemein im Anschluss an Giddens eine Politisierung des Alltags, deren Auslöser Mechanismen der Entbettung und Reflexivierung sind. Ausgangspunkt ist „a realization that one’s everyday decisions have global implications, and that global considerations should therefore affect lifestyle choices“ (Moor 2014, S. 4; siehe auch Giddens 1991, S. 210; Witterhold 2017, S. 127 f.). K. Witterhold (*)  Fakultät I, Sozialwissenschaften, Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_5

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­ onsum sei es, mittels „communication and deliberation […] to change how K people view consumption“. Während der Markt auf diese Weise zwar zu einer Arena für Politik werde, könnten die unintendierten Nebenfolgen von Boykotts vermieden werden (ebd.). Damit verbunden ist die Annahme, dass Boykott und diskursiver politischer Konsum zwei disparate Engagementformen darstellen, die im Sinne eines Entweder/Oder Anwendung finden. Diese Trennlinie wird auch in der Forschung zu politischem Konsum aufrechterhalten, die trotz dessen breiter Definition primär die ökonomische Form des Boy-/Buykotts untersucht. Dies lässt sich u. a. damit begründen, dass das der politischen Konsumforschung zugrunde liegende Verständnis von Konsum eher ökonomisch gefasst ist. Demgegenüber wird von Konsumsoziologen wie A. Warde (2014) eine Sichtweise auf Konsum vertreten, die neben dem Prozess der Auswahl eines Produkts oder einer Dienstleistung und dessen oder deren Erwerb auch die Praktiken des Ge- und Verbrauchs, insbesondere der Aneignung, in den Blick nimmt. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive stellt diese Erweiterung des Konsumbegriffs einerseits eine Herausforderung dar, weil mit ihr eine Anpassung und Neuausrichtung des metho­ dischen Instrumentariums verbunden sind (Baringhorst et al. 2019), andererseits ermöglicht sie es, im Anschluss an eine Perspektive auf politische Beteiligung als präfigurative Praxis (Yates 2014) dem transformativen Potential politischen Konsums nachzuspüren. Maßgeblich für das Verständnis präfigurativer Politik ist die Äquivalenz von Mitteln und Zielen, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass sie das Ziel in direktem Bezug zum eigenen Lebensstil setzt und somit womöglich unmittelbare Konsequenzen für eigene (Konsum-) Entscheidungen beinhaltet. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive folgt daraus, nicht nur die Effekte konsumpolitischer Praktiken auf Marktstrukturen zu untersuchen, sondern auch die Transformation der Konsumpraxis selbst. Ein grundlegendes Problem präfigurativer Politik auch im Kontext von Konsum ist eines der Organisation: „Individualized collective action“ (Micheletti 2003) steht als Organisationsprinzip horizontalen Widerstands den vertikal ausgerichteten Strukturen politischer Institutionen diametral entgegen. Folglich stellt sich hinsichtlich des transformativen Potentials politischen Konsums über die Alltagspraxis hinaus die Frage, auf welche Weise hier eine Vermittlung möglich ist. Im Hinblick auf präfigurative Politik hat Dan Mercea (2016) untersucht, welchen Beitrag digitale Medien zur Mobilisierung von Protest und Artikulation kollektiver Identität leisten können. Während der Einfluss digitaler Medien auf politische Partizipation nicht unumstritten ist (siehe aktuell dazu den Beitrag von Kurylo 2018), geht Mercea (2016) davon aus, dass weniger ein Niedergang als eine Transformation von Engagement zu beobachten ist (S. 11). Diese Transformation sei einerseits

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geprägt von der demokratisierenden Wirkung netzwerkbasierter Kommunikation, die Institutionen vor die Herausforderung stelle, horizontale und inklusive Formen der Entscheidungsfindung zu entwickeln (S. 75), andererseits von einer Personalisierung des Politischen. Diese findet ihren Ausdruck in der Kommunikation persönlicher Geschichten, die dazu beitragen könnten, kollektive Identitäten zu artikulieren. Die Folge sei eine Verlagerung der Artikulationshoheit von Organisationen zu Individuen, die mittels digitaler Medien nun zu Mittlern, Erzeugern und Re-Interpretatoren kollektiver Identität werden. Um zu untersuchen, ob sich ähnliche Verschiebungen auch im Bereich des politischen Konsums feststellen lassen und in welchem Verhältnis netzbasierte diskursive Praktiken zu den Routinen des Offline-Alltags stehen, bietet sich als geeigneter empirischer Ansatzpunkt eine ethnografische On-/Offline-Perspektive an. Während die mobilisierenden Effekte des World Wide Web nicht unumstritten sind, werden die Folgen der Digitalisierung2 für politische Konsumpraktiken kaum thematisiert. Wie Göttlich (2010) argumentiert, beinhalten neue Medien jedoch grundsätzlich das Potential zu einer Veränderung sozialer Praktiken. Er plädiert für eine stärker praxeologische Perspektive, um die Konsequenzen neuer Kommunikationsformen für den Alltag sowie Transformationsprozesse allgemein in den Blick zu nehmen. Medien sollten dabei als „Durchgangspunkte“ sozialer Praktiken verstanden werden. Eine solche Analyseperspektive muss das Ensemble aus Akteurin oder Akteur, Aktant, Kontext und verfügbaren Mitteln in Bezug zu Routine und Transformation, zu Repetitivität und Unberechenbarkeit, zu Sicherheit und Kreativität setzen (S. 29 f.). Demzufolge kommt Forschungsarbeiten, die nicht einseitig optimistischen oder pessimistischen Lesarten gegenwärtiger Entwicklungstendenzen politischer Beteiligung folgen, sondern Bürgerschaft an der Schnittstelle von politisiertem Alltag und Digitalisierung zunächst einmal rekonstruktiv bestimmen, besondere Bedeutung zu. Im Hinblick auf politischen Konsum wurde diesem Anliegen in dem von S. Baringhorst geleiteten Forschungsprojekt „Consumer Netizens“ Rechnung getragen (u. a. Baringhorst 2016; Baringhorst und Witterhold 2017; Witterhold 2017). Hier standen die analogen und digitalen Alltagspraktiken politischer Konsumierender im Fokus, wobei es den Partizipanten, die diese Praktiken mittels eines Tagebuchs dokumentierten, überlassen wurde, welche Praktiken für sie politische

2Der

Begriff der Digitalisierung wird verwendet, um über webbasierte Kommunikationsund Informationsgelegenheiten hinaus auf einen grundlegenden Wandel des Alltags, aber auch des Politischen hinzuweisen und beispielsweise auch die Entwicklung von Software für Abstimmungsverfahren berücksichtigen zu können.

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­ onsumpraktiken darstellen.3 Entsprechend erlaubt der Rückgriff auf das empiK rische Datenmaterial des Forschungsprojekts in diesem Beitrag, der Frage nach Formen und Akteuren der Vermittlung zwischen politischer Konsumpraxis einerseits und Verbraucherpolitik andererseits konkret nachzugehen.

2 Digitalisierung und Politisierung des Konsums Politischer Konsum wird zumeist als politisch oder ethisch motivierter Kauf oder Nichtkauf von Produkten und Dienstleistungen verstanden. Diese Sichtweise folgt einem Konzept von Konsum als primär ökonomischer Praxis. Demgegenüber haben Sozialwissenschaftler wie u. a. Bourdieu (1982), de Certeau (1984), McCracken (1986) und Miller (1998) darauf hingewiesen, dass es die kulturelle Dimension des Konsums ist, die Verbraucherhandeln maßgeblich strukturiert. Denn Konsumentscheidungen basieren selten auf rationalen KostenNutzen-Überlegungen, vielmehr sind sie als Ausdruck und Routinen u. a. von Geschmack, Identität, Zugehörigkeit eingebettet in ein komplexes Zeichen- und Sozialsystem. Und dies, so die Überlegung, gilt auch dann, wenn Konsumpraktiken politisiert werden. Eine solche Perspektive erweitert in zweifacher Hinsicht konventionelle Forschungsansätze: Zum einen im Hinblick auf die Erforschung politischer Partizipation, bei der politisches Handeln zumeist ohne Berücksichtigung der ihm zugrunde liegenden, vorpolitischen Strukturen untersucht wird. Zum anderen wird im Kontext politischen Konsums eine Reihe von Praktiken relevant, die in einer ökonomischen Lesart von Konsum regelmäßig übersehen werden. Dies sind einerseits markt-alternative Praktiken, die bspw. als Folge von Boykott zur Erhaltung des Konsum-Status-Quo etabliert werden (z. B. Praktiken des Prosumings), andererseits gewinnt der Umgang mit Information zu

3Der Teilnahmeaufruf wurde mittels in einer Vorstudie (Yang und Baringhorst 2016) erhobenen Web-Projekten zu politischem Konsum verbreitet. Interessierte wurden so zu einem Onlinefragebogen weitergeleitet, mittels dessen sowohl die Kontaktdaten wie auch sozio-ökonomische Daten und die Social-Web-Nutzung im Kontext von politischem Konsum erhoben wurden. Darauf erfolgte die Auswahl der Partizipanten (N = 26) in Anlehnung an das Theoretical Sampling, um eine möglichst große Bandbreite unterschiedlicher Partizipations- und Nutzungstypen untersuchen zu können. Dieser Teil der Erhebung fand sukzessive zwischen März 2012 und Juli 2013 statt. Daran anschließend wurden Gruppendiskussionen sowie eine repräsentative Online-Befragung durchgeführt, die jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags sind.

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und die Kommunikation über Konsum zentrale Bedeutung. Dies gilt umso mehr, als durch das Social Web eine kostengünstige und niedrigschwellige kommunikative Infrastruktur zur Verfügung steht, die es Konsumierenden ermöglicht, Erfahrungen, Ideen und Informationen miteinander zu teilen. Auch bei der Mobilisierung von Verbraucherprotest spielt die Digitalisierung eine Schlüsselrolle. Die Entwicklung einer digitalen Sprache, die auf der Umwandlung analoger Zeichen in digitale Codes beruht, die mittels Internet von Endgerät zu Endgerät übertragen werden können und über die Benutzeroberfläche des World Wide Web den weitgehend barrierefreien Zugang auch technisch weniger affinen Personen ermöglichen, ist die entscheidende Voraussetzung für eine neue Kommunikationsform (Castells 2001, S. 50). Diese hat weitreichende Auswirkungen nicht nur auf die Bereiche der Wirtschaft und Arbeit, sondern auch auf Kultur und Alltag, was sich am Beispiel von Konsum besonders gut beobachten lässt (Lamla und Jacob 2005). Als Konvergenzmedium integriert das World Wide Web nicht nur verschiedene Medien, sondern verändert erstens den Handlungsspielraum seiner Nutzenden, die zu „Produtzern“ (Bruns 2010) werden und zweitens insbesondere mittels des Social Web ihrerseits persönliche und politische Anliegen ebenso miteinander koppeln wie sie drittens neue (globale) Beziehungsnetzwerke ermöglichen. Die davon beförderte Diffusion von Konsumstilen und Markenkommunikation nutzt im World Wide Web nicht nur den Unternehmen, indem neue Formen personalisierter Werbung ermöglicht werden, sondern auch Nichtregierungsorganisationen (NRO) wie Greenpeace oder Foodwatch nutzen das Social Web ebenfalls, um Verbraucherinnen und Verbraucher anzusprechen und beispielsweise mittels Formen des Culture Jamming (Baringhorst 2012) Aufmerksamkeit auf ihre Anliegen zu lenken. Kennzeichen dieser Form des Verbraucherprotests ist zudem, dass nationalstaatliche Grenzen kaum eine Rolle spielen, während für die Konsumierenden nun Ereignisse an weit entfernten Orten bedeutungsvoll für ihre Entscheidungen werden. Folge ist eine zunehmende Reflexivität im Hinblick auf Konsumgewohnheiten – und mittels Boy- und Buykott können sie ihrem Anliegen auch einfach, kostengünstig und zeitsparend Nachdruck (wenn schon nicht Ausdruck, denn der Exit liefert keinen Hinweis zu seiner Ursache) verleihen. Aber nicht nur NRO machen sich die Macht der Verbraucherinnen und Verbraucher zunutze. Auch andere politische Akteure wie bspw. die Abgeordnete des Deutschen Bundestages Katja Kipping lenken mit moralischen Appellen die Aufmerksamkeit der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Problemlagen, bei welchen die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats limitiert erscheint. Und hierbei wiederum spielt das Social Web eine entscheidende Rolle: Kippings Aufruf zum Türkei-Boykott im März 2017 wurde von

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der Facebook-Gruppe „Türkei-Boykott“ aufgenommen und innerhalb weniger Stunden 28.000 Mal geteilt.4 Auf welche Weise gehen die Verbraucherinnen und Verbraucher mit diesem Mehr an Handlungsaufrufen um? Übernehmen sie derartige Zuschreibungen von Verantwortung einfach? Den kommunikativen und netzwerkenden Praktiken der Verbraucherinnen und Verbraucher mit- und untereinander wurde bislang kaum Rechnung getragen. Diskursiver politischer Konsum als die Problematisierung und Skandalisierung von Marktpraktiken wurde lediglich anhand weniger, wenn auch prominenter Beispiele wie dem Peretti-Nike-Email-Exchange diskutiert (Micheletti et al. 2005). Um diskursiven politischen Konsum auch theoretisch besser einordnen zu können, beziehe ich mich im Folgenden auf Hirschmans (1974, 1993, S. 168–191) Konzept von Abwanderung (Exit) und Widerspruch (Voice), als zwei Strategien, um mit Unzufriedenheit (mit politischen und/oder wirtschaftlichen Institutionen) umzugehen. Exit bedeutet das Ende einer Mitgliedschaft, einer Beziehung, den Wechsel an eine andere Schule oder auch den Nicht(mehr) kauf eines Produkts, womit die Parallele zu Buy-/Boykott deutlich wird. Wie Hirschman ausführt, ist der Exit für das Unternehmen mit dem Problem behaftet, dass ihm keine Informationen dazu vorliegen, warum sein Produkt oder seine Dienstleistung nicht mehr gekauft werden. Voice wird demgegenüber als voraussetzungsvoller skizziert, schließlich sind mit der Artikulation von Unzufriedenheit ganz andere Fähigkeiten und auch Risiken verknüpft als mit dem Exit.5 Als Strategie verortet Hirschman den Exit im Handlungsfeld des Marktes, während Voice (zumindest normativ) dem Handlungsbereich der Bürgerin und des Bürgers zugerechnet wird. Eine für das tiefergehende Verständnis diskursiven politischen Konsums entscheidende Differenzierung ist die Unterscheidung zwischen vertikaler und horizontaler Voice (O’Donnell 1986, S. 3). Horizontaler Widerspruch kann verstanden werden als eine Art der Vor-Verständigung, als ein Austausch von Gefühlen und Sichtweisen, als ein kommunikativer Prozess des Suchens und Findens einer gemeinsamen Basis. In dieser Weise geht horizontaler Widerspruch den meisten Formen kollektiven vertikalen Widerstands voraus. Im Hinblick auf politische Konsumforschung ist es von besonderem Interesse, sich mit Praktiken der Voice politischen Konsums auseinanderzusetzen, da sich durch sie möglicherweise alternative Formen der Assoziation von Konsumierenden herausbilden.

4https://www.n-tv.de/politik/Erdogan-Effekt-belastet-Tuerkei-Tourismus-article19740992. html. Zugegriffen: 22. Mai 2018. 5Hirschman zeigt jedoch auf, dass es auch Konstellationen gibt, in denen Voice die kostengünstigere bzw. risikoärmere Variante darstellen kann.

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3 Diskursiver politischer Konsum im mediatisierten Alltag Wie gestaltet sich diskursiver politischer Konsum konkret im Alltag politischer Konsumierender und in welchem Verhältnis steht er zu anderen Formen politischen Konsums? Um diesen Fragen nachzugehen, wird im folgenden Abschnitt auf die Tagebücher politischer Konsumierender Bezug genommen, die im Rahmen des o. g. DFG-Projekts erhoben wurden. Die Analyse der Aufzeichnungen politischer Konsumierender bzgl. ihrer Praktiken zeigt, dass diskursiver politischer Konsum als die Artikulation konsumpolitischer6 Anliegen, soweit es analoge Kommunikationsräume betrifft, meist sehr eng auf einen bestimmten Personenkreis begrenzt ist. Oftmals sind es nur nahe Familienangehörige oder enge Freunde gegenüber denen die eigenen Überlegungen zu angemessenen, andere nicht schädigenden Verhaltensweisen artikuliert werden: „Die ethische Beratung ist eher der Kampf eines Don Quijote gegen Windmühlen. Immerhin hat Mutter ein offenes Ohr für Schadstoffe, was einen im Baumarkt das ein ums andere Mal tänzeln läßt. (Ich hole meine Farben übrigens nicht im Baumarkt sondern bei »Biofarben« in Stadtteil XY. Dauert aber, da die erst anrühren müssen. http://www.biofarben.de)“ (Tagebuch Marc Kunze, Z315) Als Grund für diese Zurückhaltung führen die Partizipanten ihre negativen Erfahrungen, teils aber auch lediglich Befürchtungen an. „Ich weiß, dass die Ausbildung mehrere Wochenenden mit Übernachtungen einschließt und somit auch gemeinsame Mahlzeiten beinhaltet; ich bin unsicher, ob die Leute es akzeptieren werden, dass ich an diesen Mahlzeiten nicht teilnehmen möchte bzw. mir eigenes Essen mitbringen und verzehren werde.“ (Tagebuch Maria Schreiber, Z94) Diejenigen, die sich möglichen Diskussionen stellen, berichten, wie ihr Verhalten schnell zum Gegenstand hitziger Auseinandersetzungen werde, bei denen sie regelmäßig in Rechtfertigungszwang geraten: „Mich nervt es total, wenn Leute mich als inkonsequent darstellen durch Kommentare wie: ‚Ich dachte du seist jetzt Vegetarier‘ oder ‚Da ist aber keine Fair-Trade-Schokolade drin‘, wenn ich Essen esse, was sonst weggeschmissen

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wird zwischen konsum- und verbraucherpolitischen Anliegen unterschieden. Während verbraucherpolitische Anliegen sich konkret auf die eigenen Rechte als Verbraucherinnen und Verbrauchern und deren Durchsetzung beziehen, adressieren konsumpolitische Anliegen auch Ziele außerhalb der Sphäre von Verbraucherpolitik wie bspw. die Rechte von Arbeitnehmenden in den Produktionsländern.

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werden würde. Es passiert häufig genug, dass in der Mensa Menschen zu viel Essen auf dem Teller haben und dann den Rest wegschmeißen würden. Wenn sich niemand anbietet es aufzuessen, sehe ich keinen Grund darin, dies nicht zu tun, egal ob es Fleisch ist oder was auch immer.“ (Tagebuch Matthias Bonnella, Z317) Diese Reaktionen deuten auf ein grundlegendes Problem von nachhaltigkeitsorientiertem politischem Konsum hin: Die politischen Konsumierenden teilen zwar die Ansicht „dass mit der Konsumgesellschaft etwas nicht stimmt“ (Lamla 2013, S. 73), aber es fehlt an belastbarem Wissen darüber, mit welchen Mitteln ein Zielzustand erreicht werden kann, der sich als ein diffuses „Nicht-Weiter-So“ kaum als identitäts- und gemeinschaftsstiftende Utopie eignet. Die Befürchtung, das eigene Konsumverhalten könne Gegenstand von Auseinandersetzungen werden, geht zum Teil so weit, dass bspw. Sarah im beruflichen Kontext ganz bewusst ihre Überzeugung verbirgt und, um potentielle Kundinnen und Kunden nicht vor den Kopf zu stoßen, das ihr angebotene Schinkenbrötchen isst, obgleich sie überzeugte Vegetarierin ist. „Z. B. war ich auch selber mal bei einer Kundin gewesen zum Fototermin. Und die hat dann irgendwie gesagt: ‚Wollen Sie, ah, jetzt kriegen Sie erst mal schön belegte Brötchen.‘ Da hätte ich jetzt sagen können: Ok, nee, ich bin ja Vegetarier, ich esse kein Fleisch, ne. Da habe ich halt dieses Schinkenbrötchen gegessen […]“ (Interview Sarah Damm, Z96) Dagegen versucht Philipp der direkten Konfrontation aus dem Weg zu gehen und gleichzeitig seinem Bedürfnis nach Majoritär-Werden (für den Begriff des Majoritär-Werdens in Bezug auf politischen Konsum siehe Baringhorst et al. 2019, S. 97) Rechnung zu tragen, indem er heimlich Informationsmaterialien verteilt: „Flyer über Eier/Milch/Fleischkonsum in die Infoständer in unserem Coworking Space geschmuggelt…Bisher hat auch noch keiner was gesagt.“ (Tagebuch Philipp Greif, Z87) Diese Beispiele zeigen, was für einen enormen Konformitätsdruck soziale Settings hinsichtlich des Konsumverhaltens erzeugen. Praktiken, die sich im geschützten, für andere nur eingeschränkt zugänglichen Raum individueller Agency längst transformiert haben, werden durch die Normen bestimmter sozialer (Konsum-)Situationen diszipliniert und entgegen der Überzeugung des individuellen Akteurs in ein dem Kontext angemessenes Verhalten zurückgeführt. Demgegenüber wesentlich dominanter gestalten sich Praktiken diskursiven politischen Konsums im Social Web. Marc bspw. nutzt gleich drei soziale Netzwerke online, Twitter, Diaspora und Facebook, um unterschiedliche Adressatengruppen mit Produktempfehlungen, Lesetipps und Aufrufen zum Mitzeichnen von OnlinePetitionen zu versorgen. Während er Facebook aufgrund des Umgangs mit

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Nutzerdaten nur nutzt, um „Masse zu erreichen“ und dort nur das Nötigste veröffentlicht, schreibt er ausführlicher zu konsumpolitischen Themen auf seinem Blog. Dabei gelingt es ihm, sehr unterschiedliche konsumpolitische Anliegen mit verbraucherpolitischen Forderungen zu verknüpfen. Vor allem die Digitalisierung wird hier als potentielles Instrument gesehen, gesellschaftlichen Wandel zu gestalten, indem Informationen geteilt sowie Transparenz und Mitbestimmung ermöglicht werden. In ähnlicher Weise bewertet Eugen die Digitalisierung, der als Programmierer die Entwicklung demokratischer Software (LiquidFeedback7) aufmerksam begleitet. Seine Aufzeichnungen belegen auch, mit welchem Aufwand diskursiver politischer Konsum online verknüpft sein kann: Denn bevor Informationen weitergeleitet werden, erfolgt ein teils langwieriger Prozess der Recherche und Evaluation, um den Wahrheitsgehalt einer Meldung einschätzen und auch bei der Weiterleitung den Kontext herstellen zu können. Dieser Umgang mit Information spielt auch bei anderen Partizipanten eine zentrale Rolle. Sarah recherchiert täglich teils mehrere Stunden, um auf ihren Facebook-Profilen neue, informative wie sensibilisierende Erzählungen posten zu können. Bei anderen Partizipanten gestaltet sich der diskursive politische Konsum noch persönlicher, wenn Christiane Fotos ihres selbst gekochten vegetarischen Essens hoch lädt8, Jana begeistert die Neuentdeckung eines veganen Kochbuchs teilt9 oder Paul seine mit dem Fahrrad zurückgelegten Kilometer veröffentlicht10. Letztere Beispiele verweisen auch auf ein Zusammenfließen von diskursivem und demonstrativem Konsum. Die Ansprache anderer soll damit weniger belehrend wirken, sondern vielmehr zeigen, welche Möglichkeiten bestehen, auf eine sehr einfache Weise für die eigenen konsumpolitischen Anliegen politisch aktiv zu sein, wie Jana dies im Hinblick auf das Zeichnen von E-Petitionen hervorhebt:

7https://liquidfeedback.org/index.de.html.

Zugegriffen: 3. Dezember 2018. habe die Fotos meines Essens der letzten Tage auf Facebook veröffentlicht. Eigentlich wollte ich nur das vegetarische Essen etwas mehr verbreiten und ich koche gerne, daher fotografiere ich hin und wieder mein Essen und teile die Rezepte.“ (Tagebuch Christiane Neumann, Z141). 9„Zum Mittagessen den Link zur Sendung über Gänsemast :- (http://www.ardmediathek. de/das-erste/report-mainz/die-vermeidbaren-qualen-der-ente?documentId=11027638. In der Gruppe der ‚Vegan Cookbook Addicts‘ habe ich folgendes gepostet: http://www.veganblog.de/2012/06/07/wenn-kochbucher-zum-nachmachen-ermuntern/ Habe ich gestern beim Zahnarzt in der ‚Gala‘ entdeckt :o)“ (Tagebuch Jana Peters, Z554–556). 10„Ich habe weitere gefahrene Kilometer [auf www.stadtradeln.de, Anmerk. K.W.] eingetragen, da ich der Kampagne zum Erfolg verhelfen will.“ (Tagebuch Paul Wiese, Z361). 8„Ich

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„Und das sind halt so kleine Schritte, die, finde ich, so easy in den Alltag einzubinden sind, dass ich es auch nicht verstehen kann, warum es nicht jeder macht. Das ist vielleicht auch so ein Problem was ich habe. Da darf ich mich nicht zu intensiv mit befassen, weil natürlich auch, oftmals wird man auch wütend, weil es so einfach ist, finde ich, kleine Dinge zu bewegen.“ (Interview Jana Peters, Z61) Während der diskursive Konsum von Partizipanten wie Marc nicht nur auf digitale Medien zurückgreift, sondern die Digitalisierung gleichermaßen als maßgebliches Mittel zur Transformation von Gesellschaft und Demokratie sehen, ist der diskursive Konsum der anderen stärker lifestyle-bezogen. Hier wird die Veränderung der Lebensweise als wichtigstes Mittel zur Veränderung der Konsumgesellschaft gesehen. Dabei spielen Verbraucherrechte allerdings kaum eine Rolle, sondern vor allem die Rechte Dritter: der Tiere, der Arbeitenden und derjenigen, die von den Folgen der globalen Massenproduktion bereits heute, aber auch in Zukunft in ihren Lebensmöglichkeiten eingeschränkt sind oder sein werden. Was die Quellen diskursiven politischen Konsums online angeht, spielen entsprechende Tierschutzorganisationen, Anti-Globalisierungsnetzwerke und Umweltorganisationen eine entscheidende Rolle. Zwar wird eine Mitgliedschaft von kaum einem der Partizipanten erwogen, aber das ist auch nicht notwendig, da es das Social Web ermöglicht, mit den jeweiligen Gruppen verbunden zu sein. Über Facebook Likes, Alerts oder Newsletter erhalten politische Konsumierende Informationen, welche, falls sie Bestandteil der individuellen politischen Agenda sind, an das jeweilige soziale Netzwerk weitergeleitet werden. In gleicher Weise helfen auch Online-Petitionen, die über Change.org oder Avaaz.org verbreitet werden, die Aufmerksamkeit auf immer neue Frage- und Problemstellungen zu lenken. Wenngleich dies als Bestandteil eines digitalen Bildungsprozesses interpretiert werden kann, verursacht die große Anzahl von Aufrufen jedoch auch zeitweilig Ermüdungserscheinungen, die zum Rückzug führen können. Was die Angst vor negativem Feedback angeht, besteht die zwar auch online, allerdings in deutlich abgeschwächter Form. „Meine Pinnwand, meine Regeln“, schreibt Jana (Tagebuch Jana Peters, Z551), als sich eine ihrer Freundinnen über ihre konsumpolitischen Postings beschwert. Die Profil-Seite bei Facebook wird hier offensichtlich als äquivalent zu dem interpretiert, was im vorangehenden Abschnitt zu diskursivem Konsum offline als geschützter Raum individueller Agency bezeichnet wurde. Was diesen Raum schützt, ist insofern weniger die Privatsphäre als das Gefühl von Kontrolle und Gestaltungsmacht. Politische Konsumierende, die diskursiv aktiv im Netz sind, kaufen zwar auch entsprechend ihrer ethischen Orientierung oder boykottieren, prosumieren, tauschen und leihen, legen sich dabei aber nicht endgültig auf einen bestimmten Einkaufskorb oder bestimmte Geschäfte fest. Das liegt daran, dass aufgrund der

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Teilnahme an diskursiven Praktiken die eigene Konsumpraxis beständig reflektierend geprüft und verändert wird. Dieser Reflexionsprozess wird wiederum zum Element einer diskursiven Praxis, die einerseits mit befreundeten Personen und der Familie geteilt wird, andererseits aber – gerade wenn sich das primäre Beziehungsnetzwerk als wenig unterstützend erweist – im Austausch mit ähnlich orientierten Konsumierenden sowie NRO im Social Web realisiert wird. Ansatzpunkt für diesen Austausch sind einerseits konkrete alltagspraktische Konsumprobleme, die sich dann stellen, wenn bio, Fairtrade und regional miteinander kombiniert werden sollen und dabei ständig Konflikte mit teils selbst, teils fremd auferlegten Reglements auftreten, andererseits konsumbezogene Verantwortungszuschreibung und Problemstellungen, die mittels Petitionsaufrufen oder Warnmeldungen von NRO über die sozialen Medien an die Verbraucherinnen und Verbraucher herangetragen werden.

4 Fazit Diskursiver politischer Konsum im Netz unterscheidet sich deutlich von dem in Offline-Settings. Entgegen dem offline offenbar stärker vorherrschenden Konformitätsdruck können Konsumierende sich im Social Web mit sich selbst und mit anderen auseinandersetzen. Dabei wird das jeweilige Profil im Social Web einerseits genutzt, um die Veränderungen der eigenen Konsumpraxis zu dokumentieren, was wiederum von anderen, ähnlich orientierten Konsumierenden mit Zustimmung und Anerkennung honoriert wird. Andererseits werden Erfahrungen, Neuentdeckungen und auch Fragen mit anderen geteilt. Damit hebt sich diskursiver politischer Konsum im Netz als Voice sehr deutlich von einer ausschließlich ökonomisch vermittelnden Form politischen Konsums ab. Allerdings verbleiben die Diskurse der politisch Konsumierenden auf der Ebene horizontalen Widerstandes, bei der es zu einer Verständigung über notwendige Verhaltensänderungen und angemessene, alltagstaugliche Verhaltensalternativen kommt. So gelingt die Herstellung kollektiver Identität durch das Teilen von persönlichen Geschichten und Erfahrungen, ist dabei jedoch immer situativ und vorübergehend. Insofern stellt kollektive Identität einen wichtigen Rahmen der Referenz und Rechtfertigung von Konsumentscheidungen dar. Personalisierte und situative Verständigungsprozesse stellen aber NRO und insbesondere staatliche und staatsnahe Akteurinnen und Akteure vor Herausforderungen. Nicht nur, dass politischer Konsum als präfigurative Praxis grundsätzlich in Spannung zu hierarchisch-strukturierten Wegen politischer Entscheidungsfindung steht, auch die Voice politischer Konsumierender im Netz mit dem starken Bezug zur

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eigenen Erfahrungswelt, der Kommunikation mittels personalisierter Geschichten und Anliegen, die über die Handlungssphäre des Nationalstaats hinausreichen, macht eine Vermittlungsarbeit erforderlich, für die sich bislang aber kaum Ansätze identifizieren lassen (Baringhorst und Witterhold 2017). Dagegen könnten von einer Hinwendung zu neuen Formen des Austauschs entscheidende Impulse beispielsweise für die Legitimität, aber auch Alltagstauglichkeit politischer Entscheidungen ausgehen. Fasst man politischen Konsum als eine Art von präfigurativer Politik auf, würde eine Vertikalisierung von Verbraucherinteressen per se der Logik dieser Praxis entgegenstehen. Ein kollektiver Willensbildungsprozess wäre dann bspw. über digitale Abstimmungsverfahren, wie sie von einigen Partizipanten gefordert werden, denkbar. Allerdings wäre mit der Etablierung neuer Verfahren politischer Willensbildung nicht nur deren diskursiv begleitete (Weiter-)Entwicklung verbunden, sondern auch eine Öffnung institutioneller Politik. Für die Verbraucherforschung ist wichtig festzuhalten, dass politischer Konsum durch das Social Web eine wesentliche Dimension hinzugewinnt: Die Artikulation von Anliegen. Entgegen der Lesart diskursiven Konsums als Anti Branding und Culture Jamming stellt dieser sich im Alltag politischer Konsumierender als personalisierte Erzählung dar, die unterschiedliche Medientypen miteinander kombiniert, was nicht zuletzt auch die Möglichkeit emotionalen Ausdrucks erhöht. Aufgrund des methodischen Zuschnitts konnten sowohl Praktiken online wie offline untersucht werden. Auf diese Weise wird deutlich, dass diskursiver politischer Konsum online keineswegs eine Alternative zu Boy-/Buykott darstellt, sondern vielmehr auf diese Bezug nimmt, sie erklärt und reflektiert. Allerdings bleiben sie dabei meist unter sich. Am ehesten interessiert an einem Austausch zeigen sich Umwelt- und Tierschutzorganisationen sowie Unternehmen, wenngleich deren Motive nicht immer mit denen der Konsumierenden korrespondieren. Auch verfügen sie nicht über das Wissen, das für politisch Konsumierende hilfreich sein könnte bei der Bewertung von Information, der Einschätzung der Auswirkungen bestimmter Konsumpraktiken und der Effektivität möglicher Handlungsalternativen. Hier wäre es interessant, näher zu untersuchen, welche Barrieren einer institutionellen Öffnung aufseiten etablierter Verbraucherorganisationen entgegenstehen. Politisch Konsumierende, das wird mit Blick auf diskursiven politischen Konsum im Netz deutlich, sind nicht nur status- und gesundheitsbewusste Boyund Buykotteure. Sie suchen nach neuen Formen des Konsums, wobei der Austausch mit anderen eine wesentliche Quelle der Unterstützung durch Information und Anerkennung ist. Die Antwort bezüglich des transformativen Potentials der Digitalisierung fällt also zwiespältig aus. Obwohl sich neue Formen politischen

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Konsums im Netz beobachten lassen, ist fraglich, welchen Effekt die im Netz aktiven politisch Konsumierenden überhaupt erreichen können und welche Konsequenzen mit der Enttäuschung über vergebliches Engagement verbunden wären. Mit Hirschman wäre der Rückzug aus der Öffentlichkeit eine denkbare Option. Alternativ könnte ein unerfülltes Beteiligungs- und Gestaltungsbedürfnis zu einer zunehmenden Polarisierung beitragen, wodurch die Entwicklung zwanghafter Verhaltensweisen oder auch radikaler Einstellungen (bspw. gegenüber Autofahrerinnen und Fleischessern) begünstigt würden.

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Das pathogene Potenzial von Konsum: Kaufsucht und Produkte der digitalen Transformation Saskia Ehrhardt, Christina Raab und Michael Dübner 1 Die gezielte Gestaltung des Nutzerverhaltens Die digitale Transformation bringt Produkte und Services hervor, deren hochoptimiertes Design das Nutzerverhalten zielgerichtet beeinflusst. Die Motive dafür liegen oftmals in den Geschäftsmodellen der Digitalisierung begründet. Nutzerinnen und Nutzer sollen so viel Zeit wie möglich mit dem Produkt verbringen oder ein Maximum an (Nutzungs-)Daten übermitteln, damit etwa maßgeschneiderte Werbung platziert werden kann. Selbst namhafte Produktdesigner, wie z. B. Tony Fadell, einer der Erfinder von iPhone und iPod, bemerken in diesen Tagen, dass der Erfolg der Produkte mit unerwünschten Nebenwirkungen wie Abhängigkeit einherging. Darüber hinaus würde das Suchtpotenzial in einige Produkte der Digitalisierung bereits im Design mit verankert (Fadell 2018). Beispiele hierfür sind variable Belohnungen durch „Like“-Buttons oder durch Bewertungen von Kundenrezensionen auf Online-Versandplattformen. Die Studie der Arbeiterkammer Wien zur Kaufsucht in Österreich aus dem Jahr 2017 (Tröger 2017, S. 9) dokumentiert, dass 11 % der Bevölkerung ein

S. Ehrhardt (*)  FH Campus Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] C. Raab · M. Dübner  Wien, Österreich E-Mail: [email protected] M. Dübner E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_6

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pathologisches Kaufverhalten zeigen. Fördert das Design der Produkte und Services der digitalen Transformation pathologisches Kaufverhalten? Aktuelle ­ Studien und Diskurse aus unterschiedlichen Fachdisziplinen werden unter dieser Fragestellung vereint. Digitale Produkte und Services können in verschiedenen oder auch mehreren Phasen des Konsumvorgangs zum Einsatz kommen. In den folgenden Betrach­ tungen wird nicht unterschieden, ob das erworbene Produkt selbst ein digitales Produkt ist oder ob das digitale Produkt den Zugang zu analogen Produkten ­ermöglicht, die erworben werden. Das pathogene Potenzial des digitalen Produktes oder Services wird hier unabhängig seiner Position im Konsumvorgang betrachtet. Es wird aufgezeigt, dass eine bewusste und verantwortungsvolle Entwicklung und Nutzung digitaler Services und Produkte nötig sind, um eine Selbstbestimmung von Konsumentinnen und Konsumenten zu sichern.

2 Pathologisches Kaufen und Produkte der digitalen Transformation „Kaufsucht“ ist ein landläufiger Begriff für ein Störungsbild, für das es bislang keine einheitliche Definition und Diagnose gibt. In diesem Artikel wird das Verständnis von Müller und De Zwaan (2004) zugrunde gelegt, die ein Fehlverhalten hinsichtlich des Kaufens als pathologisches Kaufverhalten bezeichnen. Anhand eines gängigen Erklärungsmodells zur Suchtentstehung wird in diesem Kapitel erklärt, warum Kaufen als potentes Suchtmittel bewertet werden kann. Es wird zudem eine Abgrenzung zwischen dem funktionalen und pathologischen Kaufverhalten getroffen. Entlang dieser Betrachtung werden die wesentlichen Erkenntnisse aus der Studie der Arbeiterkammer Wien zur Kaufsucht in Österreich (Tröger 2017) miteingebunden und der Kontext zu Produkten der digitalen Transformation hergestellt. Dabei wird auch ein Blick auf Methoden des Produktdesigns geworfen, der sich in erstaunlicher Weise in die Darstellung der Entste­ hung eines pathologischen Kaufverhaltens einfügt.

2.1 Konsum aus soziologischer Sicht Zunächst sei hier als Grundlage der Betrachtung auf die soziologische Perspektive des Konsumbegriffs verwiesen. Der Konsum umfasst „sämtliche Verhaltensweisen, die auf die Erlangung und private Nutzung wirtschaftlicher Güter und Dienstleistungen“ gerichtet sind (Wiswede 2000, S. 24). Der Konsumvorgang bezeichnet dabei verschiedene Stadien, die sich beginnend mit der Entstehung

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und Reflexion eines Bedürfnisses über die Bedarfsfeststellung, Beschaffungs- und Nutzungsentscheidung, Informationssuche und -auswertung mit anschließender Entscheidung hin zur eigentlichen Kaufhandlung bzw. Beschaffung erstrecken. Zum Konsumvorgang gehört zusätzlich in diesem Verständnis auch die nach dem Kauf oder Beschaffung stattfindende Nutzung, die Entsorgung bzw. Weiterverwertung sowie die Inblicknahme künftigen Bedarfs. Wiswede (2000) betont, dass Konsum in dieser Betrachtung nicht auf die Perspektive des bloßen Kaufverhaltens reduziert werden sollte. Vielmehr sei Konsum eingebettet in gesellschaftliche Randbedingungen zu sehen, „die den Blick auf die Verflechtung von Konsum und Lebensstil eröffnet“ (Wiswede 2000, S. 24). Die hier als Verflechtung bezeichnete Verknüpfung von Konsum und Lebensstil ist relevant für die Erklärung einer Suchtentstehung, wenn beispielsweise erfolglos versucht wird, über Kaufhandlungen das imaginierte Bild eines Lebensstils umzusetzen und dadurch ein Leidensdruck generiert wird.

2.2 Zugehörigkeit als Motiv für Kaufhandlungen Das Kaufen als ein Teil des Konsumprozesses wird von vielen Faktoren beeinflusst. Kotler et al. (2011, S. 272) führen dafür kulturelle, soziale, persönliche und psychologische Faktoren an. In Betrachtung der kulturellen und sozialen Faktoren scheint das Motiv des Wunsches nach Zugehörigkeit für das Verhalten von Personen wesentlich zu sein. Kotler et al. (2011, S. 272) erklären die „Kulturzugehörigkeit“ als grundlegendes Motiv für die Wünsche und das Verhalten einer Person. Innerhalb der sozialen Faktoren findet sich das Zugehörigkeitsmotiv ein weiteres Mal. Das Kaufverhalten sei durch Zugehörigkeitsbestrebungen zu „bestimmten Gruppen“ beeinflusst. Der kulturelle und soziale Zugehörigkeitswunsch und das Kaufverhalten stehen hier in direktem Bezug zueinander. Dies impliziert, dass das grundlegende Motiv, nämlich dazuzugehören, durch ein geeignetes Kaufverhalten befriedigt werden kann. Kaufen bedeutet hier eine Maßnahme persönliche Bedürfnisse nach kultureller und sozialer Zugehörigkeit zu erfüllen. Für die Entwicklung einer Suchterkrankung ist diese Verschränkung von Zugehörigkeitswunsch und Kaufen sehr bedeutsam.

2.3 Das Suchtentstehungsmodell Die Suchtentstehungstrias von Kielholz und Ladewig (1973) ist noch immer eine gängige Erklärungsgrundlage für die Entstehung von Suchterkrankungen, obwohl seit seiner Entstehung auch andere Mehrkomponenten-Modelle

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e­ntwickelt wurden. So existieren heute neben der Suchtentstehungstrias auch Modelle, die vier oder gar fünf Komponenten zur Erklärung in den Blick nehmen. Das Fünf-Komponenten-Modell ist eher prädestiniert, Handlungsansätze in der Betreuung Suchtkranker erfahrungsgeleitet zu unterstützen. Multikausale Zusammenhänge der Suchtentstehung lassen sich dagegen mit der Suchtentstehungstrias sehr anschaulich abbilden. Daher wurde für den vorliegenden Beitrag auch dieses Modell als Erklärungsgrundlage ausgewählt. An den Eckpunkten eines Dreiecks werden die Komponenten „Mensch“, „Milieu“ und „Mittel“ in Bezug zueinander gesetzt. Der Mensch An der einen Ecke steht der Mensch mit seinen bio-psycho-sozialen Faktoren, Entwicklungen, Voraussetzungen und Erfahrungen. Kotler et al. (2011, S. 289) stellen klar heraus, dass Produkte „die eine P ­ erson kauft oder besitzt“ zu ihrer „Identitätsbildung beitragen und die eigene Persönlichkeit widerspiegeln“. Noch pointiert an dieser Stelle: „Wir sind, was wir besitzen.“ Die Idee, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe einschließlich der Realisierung eines Selbstkonzeptes hinsichtlich der Identität und Persönlichkeit durch Kaufen erfüllt und hergestellt werden kann, ist eine propagierte und affirmierte Haltung. Diese Haltung impliziert dabei zudem ein zu befolgendes Verhalten: Kaufe, dann besitzt du, dann bist du. Kaufen symbolisiert einen Status, den Ausdruck einer Befindlichkeit, zeigt Rollen an, wird zur Identitätsbildung verwendet. Die Gefahr eines dysfunktionalen Verhaltens, dem Wunsch nach Zugehörigkeit und erfülltem Selbstkonzept zu entsprechen, lässt sich hier bereits festhalten. Über die Anzeige eines bestimmten Besitzes könnte nach diesem Verständnis ein Rückschluss auf die Zugehörigkeit, die Persönlichkeit eines Menschen gezogen werden. Ob sich diese Person den Besitz leisten kann und ob dieser Besitz zu einer gefühlten, emotional verankerten Zugehörigkeit und einem befriedigenden Selbstkonzept führt, lässt sich nicht schlussfolgern. Die Mechanismen der sozialen Zugehörigkeit und des Selbstkonzepts haben eine grundlegende Bedeutung für das Erleben von Menschen, eben weil sie Grundbedürfnisse menschlichen Verhaltens darstellen. Die Propagierung, sich über das Kaufen in einer Gesellschaft zugehörig zu fühlen und zu einem erfüllten Selbstkonzept gelangen zu können, führt auf den krankmachenden Teil des Spektrums des ­Konsumverhaltens. An dieser Stelle ist eine Erklärung über die Grenze zwischen funktionalem und pathologischem Kaufen, nicht-abhängigem und abhängigem Verhalten

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­ ichtig, um einer Pathologisierung eines so alltäglichen Verhaltens wie dem Kauw fen entgegenzutreten. Beim pathologischen Kaufen handelt es sich um eine nicht-substanzgebundene Störung, die in den Bereich der Verhaltenssüchte eingeordnet werden kann (Grüsser und Thalemann 2006, S. 82). In Abgrenzung zu einem nicht-abhängigen Verhalten gibt es bei abhängigem Verhalten eine Einengung der Verhaltensvariabilität und somit der Vielfalt des Verhaltens bei einer Person. Zusätzlich muss ein Vorsatz bei dieser Person festzustellen sein, diese Verhaltenseinengung zu verändern. Um dem Kriterium einer Verhaltensabhängigkeit zu entsprechen, muss zwingend ein weiterer Aspekt erfüllt sein: Bei der betreffenden Person muss ein Leidensdruck durch das Misslingen der Veränderungsvorsätze und daraus resultierenden Einengungen der Verhaltensvielfalt und Einschränkungen in der sozialen Teilhabe zu eruieren sein (Heinz 2014, S. 201). Stellt man das Kaufmotiv von als nicht-pathologisch eingestuften Kaufhandlungen denen pathologischen Antriebs gegenüber, wird deutlich, dass das Ziel des funktionalen (nicht-abhängigen) Kaufens jenes ist, einen bewusst gewordenen Bedarf zu decken. Der Kaufvorgang ist dafür Mittel zum Zweck. Beim pathologischen Kaufen ist das Mittel zweckentfremdet, dysfunktionalisiert worden: Man kauft, um eine emotionale, soziale, gesellschaftliche oder persönliche Bedürftigkeit durch die Ersatzhandlung des Kaufens zu befriedigen. Die ständige Beschäftigung mit dem Kaufen oder mit Impulsen zum Kaufen wird dabei als störend, zeitraubend und sinnlos empfunden und steht im Konflikt zu anderen sozialen Aktivitäten und Verpflichtungen. Zusätzlich können finanzielle Probleme die Folge sein, da mehr und häufiger Dinge gekauft werden, als sich Betroffene leisten können. Eine Verhaltenseinengung zugunsten des Kaufens oder Gedanken an das Kaufen unter Vernachlässigung anderer Interessen und Tätigkeiten findet beim pathologischen Kaufen statt (Grüsser und Thalemann 2006). Neben den psycho-sozialen Faktoren, die hier angeführt wurden, spielt für die Entwicklung einer Abhängigkeit auch die biologische Disposition des Menschen eine Rolle. In Erwartung einer Belohnung erfolgt im menschlichen Gehirn eine vermehrte Dopaminausschüttung (Spitzer 2004, S. 90). Menschliches Verhalten richtet sich oftmals an solchen Handlungen aus (Pessiglione et al. 2006). Ob neurobiologische Prozesse bei substanzgebundenen (z. B. Alkoholabhängigkeit) und nicht-substanzgebundenen Süchten „gleichsinnig verlaufen“, sei letztlich nicht geklärt, so Heinz (2014, S. 197). Dennoch wird in vielen Modellen zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltenssüchten dem verhaltensverstärkenden Belohnungssystem des Menschen eine entscheidende Rolle zugeschrieben. So konstatieren Grüsser und Thalemann (2006, S. 71):

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„Den psychotropen Substanzen und auch den abhängigen Verhaltensweisen wie Spielen, Kaufen und Arbeiten ist gemeinsam, dass sie in der Lage sind, diesen Mechanismus der Dopaminausschüttung verstärkt zu aktivieren.“ Produktdesigner digitaler Services und Produkte beachten diesen Aspekt, indem bei der Nutzung von Produkten das Belohnungssystem adressiert wird. Beispielsweise werden variable Belohnungen mitintegriert (Eyal 2017, S. 16). Das Ansprechen des Belohnungssystems erfolgt bei digitalen Produkten durch deren Vernetzung und Verfügbarkeit hochfrequenter im Vergleich zu nicht-vernetzten Produkten. Der Besitz des eben erworbenen Produktes wird beispielsweise mit vielen „Likes“ auf einer sozialen Plattform belohnt. Variabilität steigert den Effekt der Erwartung einer Belohnung (Zimbardo 1992, S. 254) und wirkt damit verhaltensverstärkend. Was ist unter solchen variablen Belohnungen zu verstehen? Eyal (2017, S. 15) verdeutlicht dies mit einem Beispiel: Das Wissen, dass beim Öffnen der Kühlschranktür das Licht im Innern des Kühlschranks eingeschaltet wird, verleitet nicht dazu, die Türe immer wieder zu öffnen. Würde sich jedoch bei jeder Öffnung des Kühlschranks wie durch Zauberhand ein Leckerbissen finden, würde der Anreiz zum wiederholten Öffnen erheblich gesteigert. Die Variabilität verursacht eine Faszination in Verbindung mit einer erwarteten Belohnung. Umgelegt auf digitale Produkte und Services heißt dies, dass ein präsentierter Mix aus „Relevantem und Irrelelvantem, Aufreizendem und Schlichtem, Schönem und Gewöhnlichem“ (Eyal 2017, S. 16) mit dem Versprechen einer Belohnung im Gehirn zu einer Dopaminausschüttung einhergeht. Nutzerinnen und Nutzer verbringen in der Folge mehr Zeit auf beispielsweise Online-Versandplattformen und halten nach dem nächsten unvorhersehbaren, variablen Fund Ausschau. Die Gefahr der Entwicklung eines pathologischen Kaufverhaltens steigt mit der Abnahme eines rationalen Verhaltens. Legt man die Beschäftigung mit der persönlichen finanziellen Situation als rationale Handlung zugrunde und misst diese an der Praktik, den Kontoauszug regelmäßig zu lesen, so stellt die Studie der Arbeiterkammer zur Kaufsucht in Österreich (Tröger 2017, S. 18) folgendes fest: Personen, die ein problematisches Kauverhalten aufweisen, beschäftigen sich weniger mit ihrer finanziellen Situation. Jede dritte Person, die nie einen Kontoauszug liest, wies der Studie zufolge eine Kaufsuchtgefährdung auf. Dies betraf bei Personen, die regelmäßig ihren Kontoauszug lesen, dagegen nur jede fünfte Person. Das Milieu Das Milieu bezeichnet im bereits erwähnten Suchtentstehungsmodell von Kielholz und Ladewig (1973) die zweite der drei im Verhältnis zueinander stehenden

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Komponenten. Unter „Milieu“ werden das soziale Umfeld, der Lebensraum und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gefasst. Ein weiterer Aspekt in der Komponente „Milieu“ zur Erklärung von Suchtentwicklung ist die gesellschaftliche Anerkennung eines Suchtmittels. Betrachtet man das Kaufen, so kann von einer hochgradig positiven Bewertung innerhalb der Gesellschaft ausgegangen werden. Kaufen ist nicht nur ein unumgängliches, sondern ein gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten. Zuverlässig werden wir über die Kauflaune und die Konsumentwicklung informiert. Konsumverhalten wird herangezogen, um die Entwicklung und das Wohlergehen in einer Gesellschaft anzuzeigen. Verbraucherindizes, Informationen über die Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt, Wachstums- und Konsumprognosen gehören fest zum Repertoire der gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Statusbestimmung. Der Begriff der Konsumgesellschaft ist geläufig und suggeriert so auch eine Normalität des Konsumverhaltens. Das Suchtpotential ist wenig im Fokus (Bighiu et al. 2015). Das Mittel Die dritte Ecke im Modell der Suchtentstehung repräsentiert das „Mittel“. Darunter werden u. a. die Verfügbarkeit, Wirkung, Frequenz, Intensität und das Suchtpotential des Suchtmittels subsumiert. Wird das Kaufen auf diese Eigenschaften hin untersucht, lässt sich festhalten, dass Kaufmöglichkeiten bereits jetzt eine hohe Verfügbarkeit haben. Durch die digitale Transformation wird diese Verfügbarkeit weiter erhöht und optimiert. Zum Beispiel haben Online-Versandplattformen keine Schließzeiten. Konsumentinnen und Konsumenten werden persönlich adressiert, Werbung maßgeschneidert, Kaufen soll immer und überall möglich sein. In der Kaufsuchtstudie der Arbeiterkammer Wien 2017 (Tröger 2017, S. 12) lässt sich nachvollziehen, dass es einen Zusammenhang zwischen Kaufsucht und Nutzung von Bestellmöglichkeiten via Internet gibt. Personen, die häufig im Internet kaufen, weisen eine höhere Kaufsuchtgefährdung im Gegensatz zu solchen Personen auf, die nie im Internet bestellen. In einer empirischen Studie von Bighiu et al. (2015) wird der Zusammenhang zwischen Kaufsucht und Einkaufen im Internet beschrieben. Hier ist jedoch kein monokausaler Zusammenhang zu vermuten, da die Entwicklung einer Suchterkrankung immer in Wechselwirkung der drei Komponenten Mensch, Milieu und Mittel betrachtet werden muss. Digitale Produkte und Services bestehen zumeist aus Software und Hardware. So kann zum Beispiel eine Online-Versandplattform mittels eines Software-Frameworks betrieben und über ein Smartphone zugänglich gemacht werden. Die Bedienoberfläche der Versandplattform stellt dann zusammen mit den Bedienmöglichkeiten des Smartphones die Benutzerschnittstelle dar.

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Zur Optimierung des Designs dieser Benutzerschnittstelle werden State of the Art Methoden aus dem User Experience Design angewandt. Die User Experience beim Umgang mit Produkten und Services der digitalen Transformation entsteht also nicht zufällig. Sie wird geschaffen, wird designt und optimiert darauf ausgerichtet, Menschen an Produkte und Services zu binden. Shang Hwa Hsu et al. (2009) weisen in einer empirischen Studie den Zusammenhang zwischen User Experience und suchtfördernden Faktoren nach. Die Methoden des User Experience Designs adressieren oftmals emotionale Bindung (Tromp et al. 2011), Gewohnheitsbildung (Eyal 2017) oder aber Gemeinschaftsbildung und Zugehörigkeit (Cialdini 1984). Hier schließt sich der Kreis zu den oben bereits erläuterten Ausführungen von Kotler et al. (2011), die den Zusammenhang von Zugehörigkeitsmotiv, Selbstkonzepterfüllung und Kaufverhalten darlegen. Zusammenfassend kann an dieser Stelle bemerkt werden, dass eine ­ohnehin gefährliche Verknüpfung von menschlichen Grundbedürfnissen mit einem gesellschaftlich bedingten Verhalten (dem Kaufen) durch gezieltes Produktdesign extrem verschärft wird. Eyal (2017) hat ein „Hakenmodell“ entwickelt, mit dem er darlegt, wie Menschen durch gezieltes Produktdesign als Kundinnen und Kunden gebunden werden. Er bemerkt hierzu, dass sich solche Haken, die eine Konsumentenbindung bedingen, „tatsächlich in jeder Erfahrung verbergen“ können, „die sich in unsere Gedanken (und häufig auch in unsere Brieftaschen) hineindrängt“ (Eyal 2017, S. 13). Das Hakenmodell umfasst dabei vier Phasen: 1. Auslöser 2. Handlung 3. variable Belohnung 4. Investition. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem pathogenen Potenzial von Konsum sollen einige Aspekte aus dem Hakenmodell hier kurz betrachtet werden. „Gewohnheitsprägende Produkte“ (Eyal 2017, S. 14) stellten äußere Auslöser für unser Verhalten dar. Dies könnten etwa E-Mails, Links oder APP-Icons auf einem Smartphone sein. In aufeinanderfolgenden „Hakenzyklen“ werden Konsumierende „Assoziationen zu inneren Auslösern herstellen, die an existierende Verhaltensweisen und Emotionen gekoppelt sind“ (Eyal 2017, S. 14). Nach dem Auslöser folgt die Handlung. Nutzungshandlungen werden durch die „Kunst und Wissenschaft der Benutzerfreundlichkeit“ (Eyal 2017, S. 15) in Erwartung einer Belohnung ausgeführt. Das Produktdesign leistet hier einen entscheidenden Beitrag.

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Produktdesign wurde hinsichtlich des Einflusses auf das Nutzungsverhalten von Tromp et al. (2011) untersucht. Sie klassifizieren die Beeinflussung des Nutzungsverhaltens durch Design in vier Typen. Demnach kann ein Produktdesign auf Nutzerinnen und Nutzer einen 1. nötigenden (coercive) 2. überzeugenden (persuasive) 3. verleitenden (seductive) oder 4. bestimmenden (decisive) Einfluss nehmen. Wobei in Tromp et al. (2011) auch darauf verwiesen wird, dass nur Nutzerinnen und Nutzer selbst die Beeinflussungen eines Designs nach obiger Klassifikation bewerten können und sie jeweils höchst individuell wahrgenommen wird. Im Hinblick auf die Entstehung aber auch Aufrechterhaltung eines pathologischen Kaufverhaltens sind diese vier Beeinflussungstypen bedeutsam, auch wenn die individuelle Bewertung je nach Nutzerinnen und Nutzern unterschiedlich ist. Sowohl bei einem pathologischen Kaufverhalten mit bestehender Schwächung der Selbstkontrolle als auch bei einem nicht pathologischen Kaufverhalten sind alle vier Typen der Beeinflussung problematisch. Es ist gewissermaßen obsolet sich zu entscheiden, ob das Produktdesign einen vordergründig nötigenden, überzeugenden, verleitenden oder bestimmenden Einfluss hat. Für Personen mit einer Abhängigkeitserkrankung sind alle vier Typen in hohem Maße suchtaufrechterhaltend. In Dittmar (2005) wird der Zusammenhang zwischen menschlichen Grundbedürfnissen wie sozialer Zugehörigkeit und Erfüllung eines Selbstkonzeptes, einer Identitätsbildung und Kaufen dargelegt und empirisch untersucht. Produktdesignprozesse verschärfen diese Verzahnung, indem sie, wie die oben genannten Arbeiten belegen, auf die emotionale Bindung, die Gewohnheitsbildung oder die Gemeinschaftsbildung und Zugehörigkeit abzielen. Durch eine hohe Verfügbarkeit und Frequentierung in der Nutzung werden bewusste Reflexionen über Kaufhandlungen erschwert und die Potenz des Suchtmittels nimmt zu. Für den Zusammenhang zwischen Kaufsucht und Digitalisierung ist festzuhalten, dass in erster Linie der Anteil der Kaufsucht adressiert wird, an dem das Internet oder mit dem Internet verbundene Produkte beim Kaufvorgang beteiligt sind. Beispiele dafür reichen von diversen Online-Versandplattformen bis hin zu Geräten, die den schnellen Zugang ermöglichen wie Smartphones oder sprachbasierte Dienste. Wann immer diese Produkte und Services den Nutzer durch z. B. Kommentarfunktionen wie Nutzerfeedbacks, Like-Buttons oder Rankings emotional zu binden versuchen oder gewohnheitsbildend wirken, erhöht sich das

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Risiko der Kaufsucht. Dabei spielt das zielgerichtete Produktdesign und User Experience Design eine wichtige Rolle. Die Disziplinen des Produktdesigns und User Experience Design werden bei der Entstehung eines Produktes mit Suchtpo­ tential einseitig betrieben und durch die dahinterliegenden Geschäftsmodelle der Unternehmen und Anbieter motiviert. Shang Hwa Hsu et al. (2009) fordern vorbeugende Maßnahmen durch das Bildungssystem, Lehrer und Eltern. Die Erarbeitung und konsequente Umsetzung ethischer Entwicklungsstandards, wie etwa auch Spiekermann (2015) fordert, fehlt nach heutigem Betrachtungsstand. Solche Entwicklungsstandards basieren auf Werten wie zum Beispiel Datenqualität, Transparenz, informierte Einwilligung oder kontextbezogene Integrität.

3 Fazit Wird das Kaufen also auf die drei Komponenten des Suchtentstehungsmodells bezogen, lässt sich nachweisen, dass das Kaufen in allen drei Bereichen fest verankert und hoch wirksam ist. Kaufen kann als potentes Suchtmittel betrachtet werden. Durch die Verzahnung von menschlichen Grundbedürfnissen, wie dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und Selbstkonzepterfüllung mit dem Akt des Kaufens, wird eine dysfunktionale Verbindung bereits in Marketing-Konzepten vorgenommen. Verschärft wird dieser affirmierte, sich scheinbar bedingende Zusammenhang von Bedürfniserfüllung und Kaufen durch Mechanismen des Produktdesigns in der digitalen Transformation. Hier wurden bislang gezielte Techniken eingesetzt, um Konsumentinnen und Konsumenten an Produkte und Services zu binden und einen möglichst hohen Profit zu erzielen. Das Suchtpotenzial dieser digitalen Produkte und Services gerät mittlerweile auch bei namhaften Entwicklern aus dem Silicon Valley in den Fokus. Ebenso wie Eyal (2017), der Urheber des Hakenmodells, fordern auch Tromp et al. (2011) einen verantwortungsvollen Einsatz von Designmethoden bei der Produktentwicklung: „Designers no longer can hide behind the needs and wishes of the consumer; instead, they have to take responsibility as ‚shapers‘ of society“ (Tromp et al. 2011, S. 19). Dabei steht nicht explizit die Kaufsucht im Vordergrund der Forderung. Ihr Appell richtet sich generell auf die Beachtung des suchtgenerierenden Potenzials der Produkte und Services. Zusätzlich zu der geforderten Verantwortungsübernahme wären präventive Maßnahmen zur Vermeidung eines abhängigen Verhaltens notwendig. Das Suchtpotenzial digitaler Services und Produkte könnte bspw. in den Curricula von Produktdesignerinnen und -designer verankert werden. Gleichzeitig sollten Konsumierende Informationen über

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Mechanismen in der Produktentwicklung digitaler Services und Produkte transparent gemacht werden und somit präventiv wirken. Als Beispiel kann hier der Ethical System Development Life Cycle (Spiekermann 2015) angeführt werden. Die digitale Transformation bietet große Chancen für die Entwicklung der Gesellschaft. Es muss allerdings gewährleistet sein, dass Konsumentinnen und Konsumenten bewusst Produkte und Services nutzen können und nicht Manipulationen von Unternehmen beispielsweise zum Zwecke der Profitoptimierung ausgesetzt sind. Die Beschaffenheit und Funktionsweise der digitalen Produkte und Services sollten es den Nutzerinnen und Nutzern ermöglichen, das Konsumverhalten vor dem Hintergrund des persönlichen Werteverständnisses zu reflektieren.

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S. Ehrhardt et al.

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Verbraucherbildung im und für Wandel? Normative, konzeptionelle und curriculare Transformationen im Spiegel konsumgesellschaftlicher Entwicklungen Nadine Heiduk 1 Bestimmungsfaktoren und Wandlungsprozesse im Feld der Verbraucherbildung Angesichts der sich stetig weiterentwickelnden Herausforderungen der Konsumgesellschaft wird Verbraucherbildung in öffentlichen und bildungspolitischen Debatten vielfach als wichtiges Instrument zur Anbahnung von mehr Konsumkompetenz identifiziert, weshalb die Forderungen nach (mehr) Verbraucherbildung an Schulen gemeinhin große Resonanz in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft findet. Gleichwohl werden Fragen zur konkreten Ausgestaltung verbraucherbildnerischer Maßnahmen sowie die dazu notwendigen Verbraucherbildungskonzepte und Kompetenzmodelle kontrovers diskutiert (z. B. Fridrich 2017). Sie unterliegen ihrerseits Transformationsprozessen, welche in Abhängigkeit von • • • •

historischen Entwicklungen, tagesaktuellen Problemstellungen, regionalen Spezifika der Curriculumgestaltung, verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen,

N. Heiduk (*)  Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_7

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• unterschiedlichen Akteurs- und Interessengruppen sowie • verbraucher- bzw. bildungspolitischen Debatten stark divergieren. Im Rückblick auf die historische Entwicklung der Verbraucherbildung werden die vielseitigen Einflussfaktoren und Ansatzpunkte schulischer Verbraucherbildungskonzepte evident (z. B. Pleiß 2008). Eine weiterentwickelte Übersicht von Kotisaari und Schuh (siehe Abb. 1) illustriert – ursprünglich mit Fokus auf Verbraucherbildung im österreichischen Schulwesen – die Genese des Anforderungsprofils an Konsumentinnen und Konsumenten im Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungs- und Wandlungsprozesse vom Zeitalter des „naiven Konsums“ (bis Ende der 1960er-Jahre) über die „Entstehung der Konsumgesellschaft“ (Mitte der 1980er-Jahre) bis hin zu den neueren Ansprüchen an ein „ökologisch und sozial orientiertes Konsumieren“ mit Übernahme konsumentenseitiger Verantwortung (ab den 1990er-Jahren) (2000, S. 142). Obschon die Fächer und Lehrpläne im Ländervergleich zwischen Deutschland und Österreich nicht übereinstimmen (hier wurden im Schaubild entsprechende Anpassungen für den bundesdeutschen Kontext vorgenommen), zeigen sich Analogien hinsichtlich der historischen Meilensteine und dem mit ihnen verbundenen Paradigmenwechsel bezüglich der Verbraucherleitbilder. Keinesfalls können diese rollen- und leitbildbezogenen Diskurse als abgeschlossen gelten – vielmehr illustrieren sie die Ursprünge von verbraucherbildnerischen Strömungen, die sich auch in aktuellen Konzepten und Debatten wiederfinden. Beispielsweise hat auch die Digitalisierung der Gesellschaft nachhaltigen Einfluss auf die Verbraucherrolle genommen. Konsumentinnen und Konsumenten sind Teil virtueller Welten, in denen sie sich sicher bewegen lernen müssen und die sie mit immer neuen Herausforderungen konfrontieren. So erweist sich der „gläserne Konsument“ im Zeitalter von Big Data als eine fragile Figur, sodass Datenschutz zu einem Themen- und Aufgabenbereich für den Verbraucherschutz avanciert (Bala und Müller 2014). Auch im Inhaltsspektrum der Verbraucherbildung wird der Datenschutz als essenzieller Themenaspekt des Teilbereichs „Medien und Information“ häufig benannt (KMK 2013, S. 5; weiterführend auch SenBJW 2016, S. 9 sowie MSW NRW 2017, S. 14 f.). Insofern könnte die Abb. 1 um Entwicklungslinien der sich ausweitenden Digitalisierung der Konsumentenrolle ergänzt werden. Diese Abbildung wurde mit Blick auf die Darstellung von Kotisaari und Schuh (2000, S. 142) in ihren Begrifflichkeiten und ihrer Struktur verallgemeinert. Die mit Aspekte bezeichneten Begriffe illustrieren ebenso wie die Leitbilder wichtige Eckpunkte des Diskurses um Verbraucherbildung. Die curricularen Ankerplätze

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bis Ende der 60er-Jahre

bis Mitte der 80er-Jahre

seit Ende der 90er-Jahre

„Naiver Konsum“

Schutzbedürftige Verbraucher

Verbraucherseitige Advokatorenschaft

Perspektive: Privathaushalt

Perspektive: Konsumentenrechte und Marktstrukturen in der Konsumgesellschaft

Perspektive: Verantwortungsvolles Handeln in der Welt(konsum)gesellschaft

Leitbild: Individuelle Nutzenmaximierung

Leitbild: Schutz und Stärkung von Verbraucherinnen und Verbrauchern (durch Informationen)

Leitbild: Verantwortungsübernahme mit Blick auf soziales und ökologisches Konsumieren

Aspekte: Bedürfnishierarchie, ökonomische Nützlichkeit, ökonomische Zusammenhänge auf nationaler Ebene

Aspekte: Verbraucherpolitische Maßnahmen und Entscheidungen, Aufgaben von Verbraucherverbänden bzw. -organisationen

Aspekte: Stärkung der Rechte Dritter, Lebensqualität, Nachhaltigkeit, ethisches Problembewusstsein, Handeln im Netz globalisierter Märkte

Curriculare Ankerplätze: Schulfach Hauswirtschaft und ab Mitte der 60er-Jahre im Fach Arbeitslehre

Curriculare Ankerplätze: Schulfach Hauswirtschaft und Fächer aus dem Spektrum der ökonomischen Bildung sowie der Geografie (in Österreich Geographie und Wirtschaftskunde)

Curriculare Ankerplätze: Verbraucherbildung ist Querschnittsaufgabe aller Fächer und Schulformen (in Deutschland erst seit 2013). Hier sind neben den traditionellen Ankerplätzen die sozialwissenschaftlichen Fächer Leitfächer.

Abb. 1   Konsumbezogener Wahrnehmungswandel und verbraucherbildnerischer Paradigmenwechsel. (Quelle: angelehnt an Kotisaari und Schuh 2000, S. 142; Pleiß 2008; KMK 2013, 2015)

innerhalb des schulischen Fächerkanons wurden in Anlehnung an Pleiß (2008) und den Beschluss der Kultusministerkonferenz zur „Verbraucherbildung an Schulen“ aus dem Jahr 2013 (KMK 2013) sowie den „Bericht zur Verbraucherkompetenz von Schülerinnen und Schülern“ (KMK 2015) aus dem Jahr 2015 für den bundesdeutschen Kontext modifiziert. Als vereinfachende Übersicht zum „Paradigmenwechsel in der Verbraucherbildung“ (Kotisaari und Schuh 2000, S. 142) unterstreicht Abb. 1 die Öffnung dieses Bildungsbereichs für neue Themenfelder und Ankerplätze im schulischen Fächerspektrum. Daraus ergeben sich auch Änderungen für die Wahrnehmung von und die Anforderungen an Verbraucherbildung, deren Perspektive sich mit der Erweiterung des Fokus über die Sphäre des Privathaushalts hinaus mit wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen beschäftigen muss. Dies zeigt insbesondere der Rückblick auf die Situation bis Ende der 1960er-Jahre. Denn obwohl die aufkommende Konsum- und Gesellschaftskritik bereits einige Jahre zuvor die Entwicklung verbrauchererzieherischer Überlegungen prägt (Pleiß 2008, S. 101), werden Verbraucherinnen und Verbraucher im Zeitalter des „naiven Konsums“ (Kotisaari und Schuh 2000, S. 142) eher als passive und mitunter „konsumistisch“ (Prisching 2009, S. 12) orientierte Akteure beschrieben. Unabhängige Informationsangebote erhalten Konsumentinnen

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und Konsumenten ab Mitte der 1960er-Jahre vor allem durch Verbraucherorganisationen wie die Stiftung Warentest, die als Instanzen des „institutionalisierten Vertrauens“ Orientierung bei privaten Konsumentscheidungen bieten (Engartner 2012). Mit der sich weiterentwickelnden Konsumgesellschaft wird Mitte der 1980er-Jahre Verbraucherinformation neben den verbraucherpolitischen Maßnahmen zu einer festen Säule des Verbraucherschutzes und nimmt in Gestalt von Verbraucherverbänden auch Einfluss auf die schulische Verbraucherbildung.

2 Neuere Entwicklungslinien und Leitbilder verbraucherseitiger Gestaltungsmacht Die Entwicklung der Welt(konsum)gesellschaft wirft seit Ende der 1980er-Jahre mit dem „Brundtland-Bericht“ und mit der 1992 im Rahmen der Rio-Konferenz entstandenen „Agenda 21“ die Frage nach den Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung auf, die sich in den 1990er-Jahren auch in der Herausbildung von Konzepten einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ manifestiert (de Haan 2008, S. 25). Im Zuge dessen weitet sich auch der Blick für die sozialen und ökologischen Problemstellungen, die mit der Massenproduktion einhergehen, woraus sich schließlich die Forderung nach mehr Verantwortungsübernahme durch die einzelnen Konsumentinnen und Konsumenten im Sinne von „Consumer Citizenship“ ergibt (z. B. Kneip 2010). Diese konsumbürgerschaftliche Advokatorenschaft gegenüber Dritten (z. B. ebd., S. 63) wird auch in Konzepten der Bildung für nachhaltige Entwicklung und Verbraucherbildung evident. Als „Change Agents“ überwinden Verbraucherinnen und Verbraucher tradierte Handlungs- und Entscheidungsstrukturen und tragen dabei im Sinne der von Giddens vertretenen „Strukturationstheorie“ zur (Re-)Produktion nachhaltigerer Strukturen in Markt und Konsumgesellschaft bei (Bilharz und Fricke 2011, S. 9 f.). In den 1980er-Jahren kommt es allgemein zu einem Rückgang verbraucherbildnerischer Forschungs- und Bildungsaktivitäten, den Schlegel-Matthies unter anderem der interdisziplinären Verhaftung des Bildungsbereichs zuschreibt (2004, S. 6). Mit dem Forschungsprojekt REVIS sei schließlich der „Versuch [unternommen worden,] wichtige Erkenntnisse und Forschungsfragen aus unterschiedlichen mit der Verbraucherbildung befassten Disziplinen zu bündeln und in ein mehrperspektivisches Modell der Verbraucherbildung zu integrieren“ (ebd.). Im Jahr 2013 hat im bundesdeutschen Kontext die Kultusministerkonferenz mit dem Beschluss zur „Verbraucherbildung an Schulen“ letztlich einen Definitionsrahmen geschaffen, der Verbraucherbildung zur Querschnittsaufgabe des Schulwesens erklärt (KMK 2013). Als ausgewiesene Querschnittsaufgabe aller Fächer

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und Schulformen fällt die Verbraucherbildung ins Aufgabenspektrum unterschiedlicher Fächer, was nicht zuletzt in ihrer breiten thematischen Ausrichtung begründet liegt. Daraus leitet sich die Notwendigkeit ab, den Beitrag, welchen die einzelnen Fachcurricula zur Verbraucherbildung leisten können, zu prüfen und überdies zu untersuchen, wie sich ihre Perspektiven ergänzen können. Dabei wird Bestehendes ergänzt und fortentwickelt, sodass ein Nebeneinander heterogener Konzepte zu beobachten ist, welches sich u. a. aus den unterschiedlichen Traditionen und Bezugspunkten verschiedener Wissenschaftsdisziplinen erklären lässt.

3 Verbraucherbildung mit sozioökonomischer Perspektivsetzung Mit der Frage nach den Bezugswissenschaften offenbart sich auch der Zuständigkeitsstreit innerhalb des Fächerspektrums des Schulwesens – insbesondere hinsichtlich der verbraucherbildnerischen Inhalte, die in das Themenspektrum ökonomischer Bildung fallen. Dies zeigt sich auch an der öffentlichen Debatte um die Einführung eines Partikularfachs „Wirtschaft“ (z. B. Kirchner 2018; Engartner 2017). Jene Separationsentwicklungen haben auch Einfluss auf die Definition von Verbraucherbildung, denn besonders hinsichtlich deren ökonomischer Themenbereiche zeigen sich unterschiedliche Interpretationen notwendiger Wissensbestände und Kompetenzen. Eine sozioökonomisch orientierte Verbraucherbildung strebt eine integrative Zusammenschau der sozialwissenschaftlichen Disziplinen an und distanziert sich dabei von einem inhaltlichen und methodischen „Monismus“ durch die Überbetonung einseitig ökonomischer Perspektivsetzungen (Engartner und Krisanthan 2013). Doch trotz aller Unterschiede sind die bereits bestehenden curricularen Vorgaben sowie Revisionskonzepte Leitlinien und Bezugspunkte für die Ausgestaltung von Verbraucherbildung in unterschiedlichen fachdidaktischen Kontexten (z. B. KMK 2013, 2015; Universität Paderborn 2005). So weisen sie hinsichtlich der verbraucherbezogenen Kompetenzbereiche Schnittmengen auf, indem sie vor allem Aspekte der „Fach-“, „Handlungs-“, „Kommunikations-“, „Methoden-“, „Urteils-“ und „Entscheidungskompetenz“ definieren (SenBJW 2016, S. 5 ff.). Eine „Länderabfrage“ der Kultusministerkonferenz zur Erhebung des „Sachstands“ der Verbraucherbildung (KMK 2015, S. 10) zeigt zudem, dass die Schulfächer des sozialwissenschaftlichen Spektrums häufig als Leitfächer der Verbraucherbildung identifiziert werden, wobei die Umsetzung sich vornehmlich in Integrationsfächern vollzieht, für die die einzelnen Kompetenzbereiche konkretisiert werden müssen. Dies sind Fächer mit Anschluss an die politische

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und ­ ökonomische Bildung wie z. B. „Politik/Wirtschaft“, „Sozialkunde“ oder Fächer des Lernbereichs „Arbeitslehre“ wie „Hauswirtschaft“, „Technik“ und „Wirtschaft“ sowie „Wirtschaft – Arbeit – Technik“. Für die sozialwissenschaftliche Didaktik – insbesondere die sozioökonomische Bildung – stehen Leitziele wie Mündigkeit und Partizipation im Zentrum, weshalb eine sozioökonomisch orientierte Verbraucherbildung eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit konsumgesellschaftlichen Entwicklungen sowie individuellen Handlungs- und Einflussfaktoren ermöglichen muss. Diese individuelle Handlungskompetenz kann sich überdies nicht in einfachem Handlungs- bzw. Prozesswissen, das auf die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in eng definierten Konsumkontexten zielt, beschränken. Diese Wissensbestände verlieren in den sich wandelnden Strukturen schnell ihre Gültigkeit und tragen nicht zur allgemeinen Reflexion bei, sondern fokussieren eher den kurzzeitigen individuellen Nutzen (weiterführend Fridrich 2017, S. 135 ff.). Für die politische bzw. sozioökonomische Bildung haben die didaktischen Prinzipien der Schüler-, Handlungs-, Wissenschafts-, Lebenswelt- und Problemorientierung neben der Konfliktorientierung einen besonders hohen Stellenwert im (fach-)didaktischen Diskurs (z. B. Breit 2005, S. 108 ff.; Detjen 2007, S. 194, 319 ff.; Engartner 2010, S. 85 ff.; Hedtke 2015a, S. 26; Reinhardt 2005a, S. 146 ff.). Auch im entsprechenden KMK-Beschluss (2013) klingen die Prinzipien der Lebensweltorientierung, Handlungsorientierung, Aktualität sowie Multiperspektivität als bedeutende Orientierungspunkte für die Gestaltung schulischer Verbraucherbildung an. Mit Blick auf den Aktualitäts- und Multiperspektivitätsanspruch ist Rücksicht auf die sich stetig wandelnden Problemstellungen der Konsumgesellschaft zu nehmen. Dabei können eine multiperspektivische Betrachtung und kontroverse Annäherung als unverzichtbare Voraussetzungen für die Planung und Durchführung konsumbezogener Bildungsangebote mit sozioökonomischer Ausrichtung gelten (z. B. Hedtke 2015b, S. 445). Aus sozioökonomischer Perspektivsetzung führt der Weg zu Mündigkeit und Partizipation – in Anlehnung an Moritz Peter Haarmann – von der „Orientierungs-“ über die „Urteils-“ zur „Handlungsfähigkeit“ (2014, S. 208 f.). Diese Orientierungsfähigkeit umfasst – übertragen auf das Thema Konsum – ein Verständnis der allgemeinen Determinanten des (persönlichen) Konsumverhaltens, aber auch ein Verständnis von Strukturen und Prozessen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die den äußeren Rahmen der eigenen Lebenswelt bedingen. Dementsprechend erfordert eine reflektierte Teilhabe an der Konsumgesellschaft eine kritische Beschäftigung mit der eigenen Verbraucherrolle und den p­ ersönlichen Gestaltungspotenzialen bzw. Handlungsalternativen sowie mit den Grenzen

Verbraucherbildung im und für Wandel? Normative …

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Handlungsdimension

Kognitive/Affektive Dimension FRAGEN stellen nach

URTEIL bilden über

Bedürfnissen Motiven Einflussfaktoren Handlungs-/Gestaltungsspielräumen Entscheidungs-/Wertmaßstäben Konsequenzen Alternativen

Ich konsumiere etwas (nicht), weil…

multiperspektivisch betrachten

Ich befürworte/kritisiere etwas, weil… Vor dem Hintergrund meiner (Wert-)Maßstäbe entscheide ich mich für/gegen ein Produkt/eine Dienstleistung, weil…

aktiv HANDELN durch Buy-/Boykott Exit/Voice Routinen durchbrechen Verzicht Sharing-/Repair-Kultur gebraucht/neu bewusst wählen Verstöße melden Informationen einholen und verbreiten (Blogs und Plattformen)

begründet entscheiden

reflektiert handeln

didaktisch-methodische Perspektiven: Konflikt- und Problemorientierung kritische, multiperspektivische, induktive Betrachtung Wert-, Handlungs-, Lebenswelt- und Schülerorientierung

Abb. 2   Reflektierte Konsumentinnen und Konsumenten als kritische Nachfrager. (Quelle: angelehnt an Engartner und Heiduk 2015, S. 340)

derer (siehe Abb. 2). Ein solch reflektierter Konsum kann dementsprechend als kritisches Bewusstsein für die ambivalente Wirkmächtigkeit von Konsum auf Individuum und Kollektiv sowie als die Bereitschaft zur aktiven und verantwortungsvollen Gestaltung der Konsumgesellschaft verstanden werden. Im Sinne der Lebensweltorientierung sind darüber hinaus die unterschiedlichen Bedürfnisse, Motive und heterogenen Lebenswelten von Lernenden sowie die vielgestaltigen Wertvorstellungen und (familiären) Lebensstile zu berücksichtigen. Für die Entwicklung verbraucherbezogener Kompetenzen identifiziert der KMK-Beschluss aus dem Jahr 2013 (S. 3) familiäre Erfahrungsräume, aber auch solche, die in der „Lebenswelt ‚Schule‘“ verortet sind und somit auch die sozialen und schulkulturellen Dynamiken bei der Durchführung von Maßnahmen im Bereich der Verbraucherbildung beachten. Darüber hinaus ist auch die Heterogenität innerhalb einzelner Schulen und Klassen zu bedenken, um Stigmatisierung zu vermeiden. Dass Konsum ein Thema ist, das als Elementarerfahrung den Handlungs- und Erfahrungsraum eines jeden Menschen berührt, bietet eine besondere Chance für die Herstellung und Entdeckung der individuellen „Betroffenheit“ (Gagel 2000, S. 153). Diese kann wiederum den Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und Problemstellungen bilden, welche von kollektiver „Bedeutsamkeit“ sind (ebd.). Mit Blick auf die Verbraucherbildung

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N. Heiduk

beschreibt dies eine Perspektivschärfung, die vom individuellen Standpunkt zur Betrachtung übergeordneter Strukturen und Prozesse führt. Diese Erweiterung ist auch deshalb relevant, weil die Auseinandersetzung mit konsumbezogenen Katastrophen, wie sie sich beispielsweise im Einsturz von Textilfabriken in Bangladesch manifestieren, nicht allein auf der Ebene einer kurzzeitigen Emotionalisierung und Subjektivierung im Sinne einer „Betroffenheitspädagogik“ verharren kann (ebd., S. 160). Gleichwohl sind der Umgang mit Emotionen und die Auseinandersetzung mit moralischen Wertvorstellungen ein wichtiger Ansatzpunkt für die kritisch-reflexive Annäherung an konsumbezogenes Handeln, welches in sich als ein ambivalentes Phänomen zwischen ratio und emotio zu beschreiben ist. Dabei sind es vorrangig die „tragenden Werte des politischen Gemeinwesens“ (Detjen 2007, S. 247), an denen eine Unterscheidung zwischen individuellen und kollektiven Wertvorstellungen illustriert werden kann. Dies impliziert eine Differenzierung zwischen solchen (moralischen) Wertvorstellungen, die in privaten Kontexten Anwendung finden sowie jenen, die die Basis für das Zusammenleben in demokratischen Gesellschaften bilden (ebd., S. 246). Insofern kann es nicht darum gehen, die Konsumorientierung und den Werteverfall einzelner Lernender anzuprangern, sondern vielmehr darum, den Stellenwert des Konsums in der Konsumgesellschaft mit seinen Folgen für Mensch und Natur zu untersuchen und dabei die bürgerschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten unter dem Fokus entsprechender „Grundwerte des demokratischen Verfassungsstaates“ wie der „Würde des Menschen, Freiheit und Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie […]“ sowie mit Blick auf „öffentliche Tugenden“ der „Gerechtigkeit im Verhalten der Menschen untereinander, die solidarische Sorge um die Schwächeren, die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement und das Eintreten für die demokratische politische Ordnung“ zu betrachten und aufzuarbeiten (ebd., S. 245 f.). Zudem kann diese Auseinandersetzung zur Differenzierung dieser abstrakten Wertbegriffe beitragen, die je nach Auslegung unterschiedlichen Akzentuierungen folgen (Reinhardt 2005b, S. 373). Daran anschließend erfordert eine differenzierte Auseinandersetzung mit reflektiertem bzw. ethischem Konsum ein Bewusstsein dafür, dass Entscheidungen unterschiedliche Wertvorstellungen zugrunde liegen können und verschiedenen Kriterien der Beurteilung folgen. Mit Blick auf die „politische Urteilsfähigkeit“ unterscheidet Peter Henkenborg beispielsweise zwischen „zweckrationalen, ethischen, moralischen [und] ästhetischen Rationalitätskriterien“ (2012, S. 33 ff.). Für die Wahrnehmung von Konsumentinnen und Konsumenten als „Change Agents“ ist insbesondere die Auseinandersetzung mit der politischen ­Dimension

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von Konsumhandeln bedeutsam, weshalb eine Analyse gesamtgesellschaftlicher Wert- und Zielvorstellungen einen wichtigen Bezugspunkt für die Frage nach den Rahmenbedingungen, in die das persönliche Handeln eingebunden ist, darstellt. So sind beispielsweise Nachhaltigkeitsziele1 fester Bestandteil politischer und auch unternehmerischer Agenden und finden als allgemeine Festschreibungen gesamtgesellschaftlich und individuell meist hohe Zustimmung. Im Kontext individueller Problemsituationen kann dieser allgemein geachtete Wert in seiner Durchsetzung jedoch konfliktbehaftet sein. Dies manifestiert sich beispielsweise hinsichtlich Budgetrestriktionen beim Kauf von nachhaltigen bzw. fair gehandelten Waren. Hier zeichnet sich das Dilemma, sich trotz beschränkter finanzieller Ressourcen für bessere ökologische und soziale Bedingungen einsetzen zu wollen, ab. Weitere Verunsicherungen ergeben sich aus Skandalen um „Greenwashing“-Kampagnen, die sich angesichts von Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Nachfragern nicht durchschauen lassen. Hier stellt sich die Frage nach zuverlässigen Gütesiegeln und rechtlichen Vorgaben zum Schutz von Umwelt sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. In der Auseinandersetzung mit dem Wert „Nachhaltigkeit“ werden somit sowohl allgemeine konsumgesellschaftliche als auch individuelle Problemstellungen sowie konfligierende Interessen evident und können in ihren Strukturen und Verbindungslinien analysiert werden. Auf dieser Grundlage können auch Überlegungen zu möglichen Entscheidungs- und Handlungsalternativen von Konsumentinnen und Konsumenten diskutiert werden, die auf Metaebene auch eine Thematisierung unterschiedlicher Rollenzuschreibungen mit Blick auf die verbraucherseitige Einflussmacht erlauben. Hieraus ergeben sich Fragen nach den Partizipationsmöglichkeiten von Konsumbürgerinnen und -bürgern. In einer solchen kritisch-distanzierten Betrachtung alltäglicher konsumentenseitiger Dilemmasituationen liegt zudem die Chance einer problemorientierten Annäherung an allgemeine Konsumprobleme, ohne dass diese eine individuelle Selbstoffenbarung und Schuldzuschreibung provozieren. So kann es nicht darum gehen, das Konsumverhalten durch moralisierende Handlungsanweisungen im Sinne einer indoktrinierenden „Werte-Vermittlung“ (Reinhardt 2005b, S. 375) zu beeinflussen, denn dadurch würde weder ein „Beitrag zu einer Erziehung zu moralischer Mündigkeit und sittlicher Urteilsfähigkeit“ (Detjen

1Den

Diskurs um „Nachhaltigkeit als politischen Wert“ beschreibt weiterführend Lothar Probst (2013).

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2007, S. 247) geleistet, noch wäre eine solche Form der Unterrichtsführung mit dem „Überwältigungsverbot“ des Beutelsbacher Konsens2 vereinbar. So können mögliche Partizipationsformen, wie sie sich beispielsweise in Orientierung an der Exit-Voice-Loyalty-Theorie von Albert O. Hirschman (1970) oder angesichts von Sharing-, Repair- oder Upcycling-Bewegungen ergeben, in ihren Chancen und Grenzen offen diskutiert und kritisch reflektiert werden, ohne dabei in Handlungsempfehlungen zu verfallen, die vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Lebenswelten der Lernenden womöglich nicht praktikabel erscheinen und so von vornherein zu resignativen Haltungen hinsichtlich der eigenen Handlungsmöglichkeiten führen können. Vielmehr sollten Beispiele aus der eigenen Lebenswelt zum Anlass genommen werden, um zu überlegen, wie im Lichte unterschiedlicher Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten ein Beitrag zur nachhaltigeren Nutzung von Ressourcen geleistet werden kann. Gleichwohl rekurriert die Idee verbraucherseitiger Verantwortungsübernahme – sei sie auf eigene Interessen oder auch auf die Dritter gerichtet – letztlich immer auf das Leitbild mündiger respektive souveräner Verbraucherinnen und Verbraucher. Dieses wird meist mit der vereinfachten Vorstellung verbunden, dass allein durch entsprechende Informationsangebote oder Verhaltensregeln ein souveränes Verbraucherverhalten vermittel- und damit erlernbar sei. Konzeptionen von Verbraucherbildung sollten mit Blick auf diese Verkürzungen in ihren Zielvorstellungen kritisch geprüft werden, um keine unrealistischen Erwartungshaltungen an jene Bildungskonzepte und das eigenverantwortliche Handeln von Konsumentinnen und Konsumenten zu richten. Somit steht nicht ein reproduzierbares Wissen um ethisch-korrektes Konsumhandeln im Zentrum, sondern vielmehr das Erlangen von „Urteilsfähigkeit“, die die grundlegende Kompetenz für eine kritisch-reflektierte und diskursive Auseinandersetzung mit Konsum bildet, denn „[d]er Gedanke der Begründbarkeit erfordere von den Argumentationsteilnehmern die Fähigkeit und Bereitschaft, ihre Gründe zu erklären, mit anderen zu vergleichen und gegebenenfalls zu ändern“ (Henkenborg 2012, S. 37).

2Der

„Beutelsbacher Konsens“, welcher 1976 im Zuge einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg durch Politikdidaktiker in Weinstadt-Beutelsbach formuliert wurde, definiert „drei Grundprinzipien Politischer Bildung“ (Wehling 1977, S. 179). Neben dem „Überwältigungs-/Indoktrinationsverbot“ werden das „Kontroversitätsgebot“ und das „Schülerorientierungsgebot“ als zentrale Leitlinien identifiziert (z. B. Engartner 2010, S. 123 f.).

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115

4 Zusammenschau unterschiedlicher Ebenen der Transformation Die vorangegangene Betrachtung hat gezeigt, dass es sich bei Verbraucherbildung keinesfalls um einen einheitlich zu definierenden und zeitlich stabilen Bildungsbereich handelt. Bei der Betrachtung von Verbraucherbildung sind insofern unterschiedliche Ebenen der Transformation zu identifizieren, welche strukturelle Wandlungsprozesse, aber auch die Erwartungshaltungen an das transformative Potenzial von Verbraucherbildungsmaßnahmen, umfassen. So unterliegen die mannigfaltigen verbraucherbildnerischen Konzepte historischen Wandlungsprozessen, die von verbraucher- bzw. bildungspolitischen und fachwissenschaftlichen sowie fachdidaktischen Paradigmenwechseln begleitet werden. Zum schulischen Querschnittsauftrag definiert, ist Verbraucherbildung zudem in unterschiedlichen fachdidaktischen Kontexten zu denken und der jeweilige Beitrag unterschiedlicher Schulfächer zu prüfen. Dies unterstreicht abermals die Pluralität verbraucherbildnerischer Ankerplätze und Konzepte. Überdies erweist sich Konsum als Phänomen, das weit über die ökonomische Sphäre hinausreicht und beispielsweise in politischen, ökologischen, sozialen und ästhetischen Dimensionen ein weites Wirkungsspektrum entfaltet, welches sich wiederum in unterschiedlichem Konsumentenhandeln widerspiegelt. Entsprechend bedarf es für eine fundierte Betrachtung eines breiten sozialwissenschaftlichen Fokus. Einen solchen legt auch eine sozialwissenschaftlich bzw. sozioökonomisch orientierte Verbraucherbildung zugrunde, wenn sie sich, den Prinzipien der sozioökonomischen Bildung folgend, der Multiperspektivität verpflichtet. Als lebensweltnaher Bildungsbereich steht die Verbraucherbildung darüber hinaus vor der Herausforderung, aktuelle gesellschaftliche Transformationsprozesse und Problemstellungen für Lernende didaktisch aufzubereiten und dabei die unterschiedlichen individuellen und kollektiven Partizipationspotenziale von Verbraucherinnen und Verbrauchern herauszustellen. Dies betrifft vor allem die Frage nach einem adäquaten verbraucherbezogenen Rollenverständnis, das sich sowohl in Anbetracht verbraucherpolitischer bzw. verbraucherbildnerischer Leitbilder als auch hinsichtlich des individuellen Selbstverständnisses von Verbraucherinnen und Verbrauchern unterscheiden kann. Der Wunsch nach mehr verbraucherseitiger Gestaltungsmacht korrespondiert dabei mit Leitbildern, die ein gewisses Verantwortungsbewusstsein und Reflexionsvermögen voraussetzen. Hier zeigt sich, dass Konsum im Lichte von Consumer-Citizenship-Konzepten auch eine besondere Brückenfunktion zwischen den Sphären des Öffentlichen und Privaten einnimmt. Die Reflexion der politischen Dimension von

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Konsum eröffnet die Betrachtung von Partizipationsmöglichkeiten jenseits einer reinen Angebots- und Nachfragelogik auf Ebene der Marktsteuerung. Somit ergibt sich ein verändertes Rollenverständnis von bürgerschaftlich agierenden Konsumentinnen und Konsumenten, das es im Unterricht in seinen unterschiedlichen Facetten zu reflektieren gilt. Dies umfasst die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Entscheidungskriterien und die Betrachtung individueller und kollektiver Konsumkonsequenzen sowie damit verbundener Dilemmata, die zur Frage nach den verbraucherseitigen Gestaltungspotenzialen überleiten. Überdies sollten innerhalb der „Lebenswelt ‚Schule‘“ (KMK 2013, S. 3) Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden, um einen Raum der Erprobung für partizipatives und nachhaltiges Handeln für Lernende zu bieten. Zudem sind die unterschiedlichen privaten Sozialisationsräume und Erfahrungswelten im Sinne einer lebensweltorientierten Gestaltung von Unterricht zu berücksichtigen. Hinsichtlich der hieraus erwachenden unterschiedlichen Voraussetzungen und Wertvorstellungen erscheinen Verbraucherbildungskonzepte geboten, die zum Denken in Alternativen und einem kritischen Bewusstsein für mögliche Partizipationsformen und die Grenzen derer anregen. Förderhinweis:  Das Projekt „Level – Lehrerbildung vernetzt entwickeln“ wird im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.

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Die Rolle von Grenzziehungen bei der Thematisierung transformativen Konsums in heterogenen Klassen Anke Uhlenwinkel 1 Einleitung Im Vorwort seines Buches „Lob der Grenzen“ schreibt der österreichische ­Philosoph Konrad Paul Liessmann: „Unterscheidungen zu treffen, wird einer Zeit schwer, die sich prinzipiell davor scheut, überhaupt noch Unterscheidungen im Denken zuzulassen – denn unterscheiden bedeutet ausschließen, und das behagt der aktuellen Inklusionsrhetorik wenig. Grenzen zu ziehen, sei es in der Wirklichkeit, sei es im Denken, gilt als unfein. Der Zeitgeist will Grenzen überschreiten, beseitigen, aufheben, zum Verschwinden bringen“ (Liessmann 2012, S. 12). Dieses Unbehagen des Zeitgeists ist mir immer wieder begegnet, wenn ich die Möglichkeit diskutiert habe, Schulklassen, insbesondere im Kontext der Behandlung von Themen, die dem Basiskonzept „Arbeit, Produktion, Konsum“ des österreichischen AHS-Oberstufen-Lehrplans (BGBLA 2016) zugeordnet werden können, nicht nur als heterogen hinsichtlich ihrer Leistungsstärke (Ferretti 2007) oder Lernstile (Gardner 2006; Kolb 1984) zu betrachten, sondern auch als heterogen hinsichtlich der Milieugruppen (Wippermann und Calmbach 2007), denen die Schüler und Schülerinnen jeweils angehören. Die Skepsis bezog sich dabei vor allem auf den Versuch der Kategorisierung selbst, also auf die Grenzen, die zwischen einzelnen Gruppen von Menschen gezogen wurden. Trotz dieses Schwerpunkts auf dem Allgemeinen der Grenzziehung bezog sie sich aber nur auf die Kategorisierung nach Milieugruppen, nicht auf die Kategorisierung

A. Uhlenwinkel (*)  Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_8

119

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nach Leistungsstärke oder Lernstilen. Das provoziert zwei Fragen: Warum wird die Kategorisierung nach Milieugruppen im Kontext der schulischen Verbraucherbildung als problematisch angesehen? Sind die geäußerten Bedenken im theoretischen Rahmen des transformativen Konsums angemessen? Um diese Frage diskutieren zu können, werden zunächst die beiden genannten erlaubten Unterscheidungen des Schulalltags kurz referiert. Auf dieser Hintergrundfolie wird der Ansatz der Milieugruppen und seine praktische Nutzung dargestellt. Daran anschließend werden sowohl das Konzept des transformativen Konsums als auch die Vorstellung des transformativen Lernens hinsichtlich der Frage nach Unterscheidungen und Grenzziehungen erörtert. Abschließend wird die Problematik aus bildungssoziologischer Sicht betrachtet, um letztlich mit einem vorläufigen Resümee zu enden.

2 Erlaubte Unterscheidungen: Leistungsstärke und Lernstile In der Schule sind Unterscheidungen zwischen verschiedenen Gruppen von Lernenden allgegenwärtig: Schon die Formulierung „Schüler und Schülerinnen“ an der Stelle von nur „Schülern“ oder „Lernenden“ enthält eine Unterscheidung, nämlich die zwischen männlichen und weiblichen Lernenden. Die über Jahrzehnte wirkmächtigste Unterscheidung im schulischen Unterricht war und ist allerdings jene nach der Leistungsstärke. Sie manifestiert sich in den Schulsystemen vieler Länder in einer Unterscheidung in verschiedene Schulformen und innerhalb dieser Schulformen wiederum in den unterschiedlichen Zensuren, die Schüler und Schülerinnen für ihre Leistung bekommen. Auch die PISA-Studien (z. B. Deutsches PISA-Konsortium 2001), in denen die Lesekompetenz, die mathematische und die naturwissenschaftliche Kompetenz sowie inzwischen auch die Finanzkompetenz von Schülern und Schülerinnen verschiedener Staaten untersucht werden, unterscheiden Leistungsniveaus in Form von Kompetenzstufen. Dabei werden für jede zu untersuchende Kompetenz zunächst fünf Stufen ausgegliedert, die sich durch eine Anzahl von Merkmalen beschreiben lassen (vgl. Abb. 1 für die Lesekompetenz). Nach der empirischen Erhebung werden die einzelnen Schülerarbeiten den entsprechenden Stufen zugeordnet, sodass international erkennbar wird, in welchem Land die leistungsstärksten Lernenden leben. Die Ergebnisse der Unterscheidung nach schulischer Leistungsstärke sind in der Zeit vor der ersten PISA-Studie in vielen Ländern in Verruf geraten: Befürchtet wurden negative Auswirkungen auf die Motivation derjenigen, die in

Die Rolle von Grenzziehungen bei der Thematisierung …

121

Kompetenzstufe Kompetenzbeschreibung

1

Schülerinnen und Schüler, die über Kompetenzstufe I nicht hinauskommen, verfügen lediglich über elementare Lesefähigkeiten. Sie können mit einfachen Texten umgehen, die ihnen in Inhalt und Form vertraut sind. Die zur Bewältigung der Leseaufgabe notwendige Information im Text muss deutlich erkennbar sein, und der Text darf nur wenige konkurrierende Elemente enthalten, die von der relevanten Information ablenken könnten. Es können nur relativ offensichtliche Verbindungen zwischen dem Gelesenen und allgemein bekanntem Alltagswissen hergestellt werden.

2

Schülerinnen und Schüler, die Kompetenzstufe II erreichen, sind in der Lage, einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Teilen eines Textes herzustellen und mit einer begrenzten Anzahl von ablenkenden Informationen umzugehen. Sie verfügen auch über die Fähigkeit, die Bedeutung einzelner Elemente durch simple Schlussfolgerungen zu erschließen. Auf dieser Grundlage kann der Hauptgedanke eines im Hinblick auf Inhalt und Form relativ vertrauten Textes identifiziert und ein breites Verständnis des Textes entwickelt werden. Die gelesenen Informationen können mit Alltagswissen in Beziehung gesetzt und unter Bezugnahme auf persönliche Erfahrungen und Einstellungen beurteilt werden.

3

Schülerinnen und Schüler, deren Leistungen der Kompetenzstufe III entsprechen, können Leseaufgaben mittleren Anspruchsniveaus bewältigen. Sie sind in der Lage, verschiedene Teile des Textes zu integrieren, auch wenn die einzubeziehende Information wenig offensichtlich ist und ihre Bedeutung teilweise indirekt erschlossen werden muss. Die Schülerinnen und Schüler können mit relativ auffälligen konkurrierenden Informationen umgehen, die von den relevanten Elementen ablenken könnten. Sie sind in der Lage, ein genaues Verständnis von Texten mittleren Komplexitätsgrades zu entwickeln und spezifisches Wissen gezielt zu nutzen, um das Gelesene auf dieser Grundlage zu beurteilen.

4

Schülerinnen und Schüler, die Kompetenzstufe IV erreicht haben, können mit Texten umgehen, die im Hinblick auf Inhalt und Form relativ unvertraut sind. Sie sind in der Lage, eingebettete Informationen zu nutzen und sie den Anforderungen der Aufgabe entsprechend zu organisieren. Potenzielle Hürden wie Mehrdeutigkeiten, Sprachnuancen oder den eigenen Erwartungen widersprechende Elemente können diese Schülerinnen und Schüler weitgehend bewältigen. Sie sind in der Lage, ein genaues Verständnis komplexer, relativ langer Texte zu erreichen und diese unter Rückgriff auf externes Wissen zu beurteilen.

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Bei Schülerinnen und Schülern, die sich auf Kompetenzstufe V befinden, handelt es sich um Expertenleser, die auch komplexe, unvertraute und lange Texte für verschiedene Zwecke flexibel nutzen können. Sie sind in der Lage, solche Texte vollständig und detailliert zu verstehen. Dieses Verständnis schließt auch Elemente ein, die außerhalb des Hauptteils des Textes liegen und die in starkem Widerspruch zu den eigenen Erwartungen stehen. Die Bedeutung feiner sprachlicher Nuancen wird angemessen interpretiert. Diese Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, das Gelesene in ihr Vorwissen aus verschiedenen Bereichen einzubetten und den Text auf dieser Grundlage kritisch zu bewerten.

Abb. 1   Kompetenzstufen der Lesekompetenz bei PISA. (Quelle: Stanat et al. 2002, S. 35 und 36)

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Der verbal-sprachliche Lerner lernt am besten durch Lesen oder Schreiben, wenn er alleine lernt, oder durch Kommunikation mit anderen. Wenig anfangen kann er dagegen mit Bildern und Diagrammen. Wenn er mit solchen Darstellungsformen konfrontiert wird, erweist es sich für ihn als hilfreich, den Inhalt zu verbalisieren. Der logisch-mathematische Lerner zieht es vor, Dinge selbst herauszufinden, Fragen zu stellen sowie Beziehungen und Muster zu erkennen. Er ist gut sowohl im Umgang mit Zahlen als auch im logischen Denken und im Argumentieren. Texte mag er dagegen nicht besonders gerne. Um sich die Inhalte von Texten zu erschließen, bietet es sich für ihn an, sie in Flussdiagrammen, Mind Maps oder Concept Maps zu organisieren. Der visuell-räumliche Lerner zeichnet gern und ist kreativ. Bilder und Filme sind für ihn ideale Medien. Puzzeln und Kartenlesen gehören zu den Dingen, die er gut kann. Er hat ein ausgezeichnetes räumliches Orientierungsvermögen. Wie der logisch-mathematische Lerner hat er Probleme mit Texten. Er erschließt sie sich am besten über Visualisierungen, die er oft bunt gestaltet. Der physisch-kinästhetische Lerner will Dinge anfassen, ist handwerklich begabt und bewegt sich gerne. Daneben redet er gerne, meist unter ausgiebiger Nutzung von Körpersprache. Feldarbeit gehört zu den Arbeitsformen des Geographieunterrichts, die er am liebsten mag. Ihm hilft es, wenn er Inhalte im Modell oder im Rollenspiel darstellen kann. Auch Strukturlegetechniken kommen seinem Bewegungsdrang entgegen.

Abb. 2   Praxisbedeutsame Lernstile nach Gardner. (Quelle: Uhlenwinkel 2012, S. 336)

der Leistungskonkurrenz nicht mithalten konnten. Dementsprechend wurde über Maßnahmen der Binnendifferenzierung nachgedacht: Jeder Schüler und jede Schülerin sollte seinen jeweiligen Fähigkeiten entsprechend gefördert werden. In diesem Rahmen wurden neue Unterscheidungen eingeführt, etwa die Unterscheidung in verschiedene Lerntypen (Vester 1978) oder Lernstile (Gardner 2006; Kolb 1984). Lerntypen oder Lernstile beschreiben Präferenzen für die Art des Lernens. Vester und Gardner unterscheiden mit überaus unterschiedlichen Begründungen u. a. verbal-sprachliche, logisch-mathematische, visuell-räumliche und physisch-kinästhetische Lerner (vgl. Abb. 2). Während Vester den Lerntyp eines Menschen aber als weitergehend stabil erachtet, sehen sowohl Gardner als auch Kolb die Lernstile der einzelnen Lernenden als wandelbar an. Beide Ansätze lassen sich als generisch einordnen: Sie beziehen sich auf das Allgemeine des Lernprozesses, nicht auf spezielle fachliche Inhalte.

3 Als problematisch wahrgenommene Unterscheidung: Der Milieugruppen-Ansatz Der Milieugruppen-Ansatz nimmt wie die Ausweisung von Kompetenzstufen oder die Einteilung in Lernstile eine Kategorisierung vor. Allerdings stammt der Ansatz nicht aus dem schulisch-pädagogischen Umfeld, sondern aus der

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Konsumforschung. Ziel ist es Gruppen zu identifizieren, die über ähnliche Lebensauffassungen und Lebensweisen verfügen, um sie durch Werbung gezielter ansprechen zu können. Zur Definition von Milieugruppen werden die beiden Merkmale der sozialen Lage und der Grundorientierung herangezogen. Die Grundorientierung selbst wird in einem aufwendigen Verfahren ermittelt, das sich in Bezug auf die Theoriebildung dem Ansatz der Grounded Theory bedient und sich hinsichtlich der Datenerhebung der Triangulation verpflichtet fühlt (Wippermann 2011, S. 52). Theoretische Bezüge werden dabei in einer Vielzahl von Ansätzen gesucht, etwa in der Phänomenologie, in der Semiologie, in der Systemtheorie, in den neuen Klassentheorien sowie in den Lebensstil-Analysen und Studien zur Wertorientierung. Als Erhebungsinstrumente dienen Interviews, Fotos von Zimmern oder Wohnungen, Tagebücher zu vorgegebenen Themen sowie quantitative Daten aus externen Quellen (Wippermann und Calmbach 2007, S. 16 f.). Die Auswertung dieser Daten führt zusammen mit der fortwährenden Theoriebildung zur Identifizierung von mehr oder weniger gleichgesinnten Gruppen. Für die 14- bis 19-Jährigen (Wippermann und Calmbach 2007, S. 21) bzw. die 14- bis 17-Jährigen (Calmbach et al. 2016, S. 33) identifiziert die Konsumforschung derzeit zumeist sieben Milieugruppen, die sich – wie bei den Erwachsenen auch - historisch entwickeln und insofern nicht stabil sind. Die folgenden Beschreibungen greifen weitgehend auf die neuere Variante von 2016 zurück (ebd., S. 34 und 38): 1. Konservativ-Bürgerliche: Meist eher bessergestellte, bodenständige, familien- und heimatverwurzelte Jugendliche mit Traditionsbewusstsein und Verantwortungsethik. Sie machen ca. 15 % der Jugendlichen aus. 2. Sozialökologische: Ebenfalls eher bessergestellte Jugendliche mit sozialkritischer Grundhaltung und Offenheit für alternative, nachhaltige Lebensentwürfe. Sie machen ca. acht Prozent der Jugendlichen aus. 3. Expeditive: Erfolgs- und lebensstilorientierte Netzwerker, die ihre Grenzen austesten wollen. Sie machen ca. 21 % der Jugendlichen aus. 4. Adaptiv-Pragmatische: Bevorzugen eine Mischung aus der Familienorientierung der Konservativ-Bürgerlichen und der Leistungsorientierung der Expeditiven. Sie stellen mit ca. 24 % der Jugendlichen den Mainstream dar und sind überaus anpassungsorientiert. 5. Experimentalistische Hedonisten: Spaß- und szeneorientierte Jugendliche, die vor allem im Hier und Jetzt leben und sich über die Zukunft wenig Gedanken machen. Sie machen ca. 12 % der Jugendlichen aus.

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6. Materialistische Hedonisten: Bevorzugen eine Mischung aus der Familienorientierung der Konservativ-Bürgerlichen und der Spaß- und Freizeitorientierung der experimentalistischen Hedonisten. Diese Gruppe verfügt über ein ausgeprägtes Markenbewusstsein, durch welches u. a. der Anschluss an bessergestellte Jugendliche gesichert werden soll. Sie machen ca. 15 % der Jugendlichen aus. 7. Prekäre: Jugendliche, die um ihre Teilhabemöglichkeiten fürchten und dabei eine gewisse Kämpfermentalität entwickeln. Sie machen ca. fünf Prozent der Jugendlichen aus. Keines dieser Milieus ist an sich „gut“ oder „schlecht“. Hinsichtlich eines nachhaltigen Konsums weisen verschiedene Autoren darauf hin, dass gerade die sozialökologischen oder postmateriellen Milieus über ein hohes und oftmals wenig ökologisches Konsumniveau verfügen (Brunel 2008; Heath und Potter 2005; Resenberger 2017), wenn sie etwa mit ihren naturnahen Holzöfen zur Feinstaubbelastung beitragen (Heath und Potter 2005, S. 360 f.) oder den eigenen Selbstversorgergarten aufgrund der kurzen Vegetationsperiode in ihrer (kanadischen) Heimat auf eine pazifische Insel verlegen (ebd., S. 193 ff.). Umgekehrt zeigt Resenberger (2017, S. 24 f.), dass ein Rentner aus dem traditionellen Milieu einen kleineren ökologischen Fußabdruck aufweisen kann als eine junge, global aktive Graphik-Designerin. Dieses Ergebnis lässt sich vermutlich auch auf die von den jeweiligen Milieugruppen weitgehend unabhängigen, vornehmlich generationstypischen Bedeutungsschemata zurückführen. Hinsichtlich des Konsums von Lebensmitteln zeichnen sich beispielsweise die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen durch eine deutlich geringere Tendenz zum Wegwerfen aus als die Generationen X oder Y (Eyerund und Neligan 2017, S. 2). Dementsprechend kann hinsichtlich der Frage nach einem möglichst nachhaltigen oder gar transformativen Konsum von der schlichten Kategorisierung der Milieugruppen nicht auf eine Diskriminierung oder gar Exklusion einzelner Gruppen geschlossen werden. Eventuell ergibt sich das Unbehagen an der Unterscheidung von Milieugruppen aber gar nicht so sehr aus dem Fakt, dass Menschen kategorisiert und damit potentiell stereotypisiert werden. Liessmann (2012) jedenfalls benennt weitere Unterscheidungen, die hier eine Rolle spielen könnten. So sieht er als eine der ersten und grundsätzlichsten Unterscheidungen den Anfang (und das Ende) als Grenze zwischen dem Davor und dem Demnach. Für die Milieugruppen könnte dieser Anfang beispielsweise in die Jahre 1854 und 1855 gelegt werden, den Jahren, in denen zum einen Ernst Litfaß die ersten Werbesäulen in

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Berlin installierte und zum anderen die erste Agentur für Anzeigen in Zeitungen gegründet wurde (Herrmann 2015, S. 155). Das damit beginnende Phänomen der Werbung lässt sich nur im Kontext einer Überflussgesellschaft verstehen. Dort, wo die Menschen gerade genug zum Leben haben, ist Werbung nicht nötig. Erst wenn die Menschen nicht mehr alles kaufen müssen, was sie kaufen könnten, wird Werbung für Unternehmen relevant. Nachdem zunächst mit Plakaten und Anzeigen geworben wurde, macht das Kino Filmwerbung vor einem großen Publikum möglich. Allerdings mussten die Menschen bewusst dorthin gehen, wo es Werbung gab, um sie zu sehen. Mit der Verbreitung des Fernsehens war für die Werbestrategen der direkte Weg in die Wohnzimmer frei. Aufgrund der zunehmenden Masse von Werbung und dem Wandel zur postmodernen Gesellschaft wurde es für die Unternehmen immer schwieriger die Aufmerksamkeit der potentiellen Kunden auf sich zu ziehen. Es mussten neue Methoden gefunden werden. Sie bestanden vor allem darin, die Kundengruppen zu identifizieren, die mit einer bestimmten Botschaft am ehesten zu einer Kaufentscheidung angeregt werden könnten (Krason et al. 2003). Dieser Bedarf nach Ausdifferenzierung wird durch die Milieugruppen-Forschung gedeckt. Damit sind Milieugruppen ein integrativer Bestandteil des heutigen Wirtschaftssystems. Eine Strategie des nachhaltigen oder auch des transformativen Konsums, die dieses System überwinden will, hätte somit vermeintlich gute Gründe, dem Ansatz der Milieugruppen kritisch gegenüber zu stehen. Allerdings werden die Ergebnisse der Milieugruppen-Forschung schon lange nicht mehr nur von Wirtschaftsunternehmen genutzt. Beispielsweise hat die katholische Kirche in Deutschland erforschen lassen, welche Milieugruppen sich als Rekrutierungsschwerpunkte für ihre Jugendverbände anbieten (Calmbach et al. 2016, S. 25). Auch das bei Wahlen inzwischen eingesetzte Microtargeting (Kind und Weide 2017) entspricht diesem Ansatz. Ein Grund für die zunehmende Nutzung von Milieugruppen wird darin gesehen, dass sich große homogene Gruppen („die Arbeiter“, „die Jugend“, „die Ausländer“) kaum noch identifizieren lassen. Die Individualisierung der Gesellschaft hat jedoch nicht dazu geführt, dass es stattdessen nunmehr nur noch eine große Gruppe verschiedener Einzelwesen gäbe. Tatsächlich haben sich viele kleine Milieugruppen gebildet, die jedenfalls in Teilen in ihren jeweils eigenen Filterblasen leben (Stampfl 2013). Diese Differenzierungen machen vor dem Klassenraum nicht halt. Und auch wenn jede Gruppeneinteilung als Ergebnis von Konstrukten betrachtet werden kann (Liessmann 2012, S. 29), so ist die Definition von Gruppengrenzen doch wirkmächtig genug, um auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen.

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4 Transformativer Konsum als Grenzüberschreitung Das Verlangen nach transformativem Konsum ist eine politische Forderung. Heidbrink et al. (2011) stellen es in der Einleitung ihres Buches Die Verantwortung des Konsumenten: Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum dem Verlangen nach partizipativem und nach kollaborativem Konsum gegenüber. Unter partizipativem Konsum verstehen sie dabei u. a. den Boykott des Kaufs von Produkten, die unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen hergestellt wurden. Kollaborativer Konsum zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass Konsumenten über Feedback und Evaluationen an der Entwicklung neuer Produkte teilhaben und auf diese Weise eine nachhaltige Produktion einfordern können. Transformativer Konsum geht über diese Formen der Beteiligung hinaus. Er wird als ein subversiver Konsum betrachtet, dessen Ziel es sei, „die Struktur und Dynamik von Marktprozessen selbst zu beeinflussen“ (ebd., S. 13). Dieser Einteilung zufolge würde sich sowohl der partizipative als auch der kollaborative Konsum innerhalb der Grenzen der Marktwirtschaft bewegen, während der transformative Konsum versucht eben diese Grenzen zu transzendieren. Heidbrink et al. verbinden transformativen Konsum vor allem mit „ästhetisch-politischen Aktionen“ (ebd., S. 14), bei denen Produkte verfremdet, umkodiert und neu angeeignet werden. Der Erfolg dieser Form von transformativem Konsum wird von Heath und Potter (2005) insbesondere mit dem Argument angezweifelt, dass hier faktisch nicht weniger, sondern nur anders (und oftmals sogar mehr) konsumiert werde als zuvor. Hübner (2017) füllt das Konzept des transformativen Konsums folglich auch mit anderen Aktionsformen wie etwa eigentumslosen Nutzungsstrategien (z. B. Car-Sharing) oder Tauschbörsen. Mit der Idee der eigentumslosen Nutzungsform überschreitet die Autorin die Grenzen westlicher Gesellschaftsverfassungen, wo das Recht auf Eigentum entweder eines der Grundrechte (Art. 14 Abs. 1 GG für Deutschland) oder jedenfalls ein bürgerliches Recht (§ 354 ABGB für Österreich) darstellt. Eigentumslose Nutzungsformen bilden in ihren Augen den Nachhaltigkeitskorridor1, in dessen Grenzen sich das Individuum nach wie vor frei und ohne moralische Konsumvorschriften bewegen können soll.

1Der Begriff Nachhaltigkeitskorridor wird in verschiedenen Kontexten genutzt. Hierzu gehören das Recht (Gehne 2011, S. 89), die Finanzwirtschaft (Brunnhuber 2016, S. 325, Anm. 180) und die Stadtplanung (Dalkmann et al. 2004, S. 20). In Bezug auf die Nachhaltigkeitsdebatte wird er zudem durch sehr unterschiedliche, nicht immer kompatible Merkmale beschrieben. So versteht Piorkowsky (2001, S. 52) unter Nachhaltigkeitskorridor

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Die Grundidee des transformativen Konsums formuliert somit eine Grenze: die Strukturen der Marktwirtschaft sollen tiefgreifend verändert werden. Transformativer Konsum will das Ende der Form von Marktwirtschaft erreichen, in der Werbung eine so bedeutende Rolle spielt. Insofern wäre es konsequent, der Berücksichtigung von Milieugruppen bei der Erreichung dieses Ziels skeptisch gegenüber zu stehen. Allerdings setzt insbesondere die zweite Art des transformativen Konsums transformatives Lernen voraus, denn sie verlangt, dass Menschen etwa ihre generationentypischen Bedeutungsschemata grundlegend verändern. Das Konzept des transformativen Lernens wurde in der Erwachsenenbildung entwickelt und bezieht sich damit auf Lernende, die bereits über ein hohes Maß an formativer Lernerfahrung verfügen. Dementsprechend wird der „frame of reference“ (Mezirow 2009, S. 92), der Bezugsrahmen oder in der deutschen Übersetzung die „Bedeutungsperspektive“ (Mezirows 1997, S. 34) zum zentralen Ansatzpunkt für Lernen. Dieser Bezugsrahmen umfasst zwei Dimensionen: den „habit of mind“ (Mezirow 2009, S. 92), deutsch das Bedeutungsschema (Mezirow 1997, S. 34), und die daraus resultierenden Standpunkte oder Perspektiven. Die Bedeutungsschemata sind in der Regel vergleichsweise abstrakt, da sie grundlegende Orientierungsmuster enthalten. Hierunter fiele etwa das oben dargestellte Wegwerfverhalten verschiedener Generationen, das jedenfalls bei den älteren Generationen auf die Erfahrung der Entbehrung zurückgeht, während die jüngeren Generationen im Überfluss aufgewachsen sind. Standpunkte hingegen sind oftmals konkret und können von anderen nicht nur leicht kritisiert, sondern von ihrem Träger auch problemlos geändert werden. Hierzu würde etwa die Bevorzugung bestimmter Lebensmittel oder bestimmter Anbieter von Lebensmitteln gehören. Junge wie alte Menschen können sich demnach relativ leicht dafür entscheiden, statt im Discounter im Biomarkt einzukaufen. Viel schwieriger ist es

den Überschneidungsbereich zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten. Schuster (2015, S. 40) begrenzt den Nachhaltigkeitskorridor mit einem gesellschaftlich und ökonomisch „unteren“ Rand, an dem Freiheit dazu gewonnen wird, und einem „oberen“ Rand, an dem sie eingeschränkt wird. Hübner (2017) bestimmt den von ihr genutzten Begriff nicht weiter. Aus dem Kontext lässt sich schließen, dass er sich vornehmlich auf eigentumslose Nutzungsstrategien richten soll. Die genannten Beispiele stehen dem allerdings entgegen: Car Sharing ist ein Mietgeschäft, setzt also in einer Hand konzentriertes Eigentum voraus (DriveNow ist beispielsweise als Joint Venture der BMW Group mit Sixt entstanden und gehört derzeit zu 100 % der BMW Group – vgl. Wikipedia-Eintrag) und auch Tauschbörsen sind ohne Eigentum nicht denkbar. Die verbale Abgrenzung zum kapitalistischen Marktgeschehen bleibt in der Durchführung somit inkonsequent.

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jedoch, grundlegende Bewertungsschemata zu ändern und, etwa wie in diesem Fall, als jüngerer Mensch weniger Lebensmittel wegzuwerfen. Transformatives Lernen findet aber genau hier statt und setzt dementsprechend ein hohes Maß an Selbstreflexion voraus. Da auch die Lebensauffassungen von Milieugruppen als eine Ebene der Bedeutungsschemata interpretiert werden können, spricht viel dafür, an diesen – verschiedenen – Bedeutungsschemata anzusetzen, wenn transformatives Lernen mit dem Ziel der Veränderung von Marktstrukturen und -prozessen durch Intervention auf individueller Ebene erfolgen soll.

5 Bildungssoziologische Sicht auf (un-)sichtbare Grenzen Um die Problematik aus bildungssoziologischer Sicht verständlich zu machen, seien hier zunächst einige Befunde aus der Jugendmilieu-Studie 2016 (Calmbach et al. 2016, S. 33) zur Einstellung von Teenagern zum kritischen Konsum referiert. Demnach ist der Begriff den meisten Jugendlichen nicht bekannt. Lediglich Jugendliche aus dem sozioökologischen und expeditiven Milieu können etwas mit ihm anfangen (ebd., S. 286). Betrachtet man allerdings die zwei im Unterricht häufig behandelten Fallbeispiele Nahrungsmittel und Kleidung, ergibt sich ein anderes Bild. Fragen nach der Herkunft der Lebensmittel erscheinen besonders für Adaptiv-Pragmatische und experimentalistische Hedonisten interessant. Dieses Interesse gründet sich aber weniger in dem Ziel, den bisherigen Konsumstil zu hinterfragen als vielmehr in dem Wunsch, sich gesund zu ernähren (ebd., S. 288). Bei Adaptiv-Pragmatischen kommt hinzu, dass vegetarische oder vegane Ernährung als Life-Style-Trend wahrgenommen wird, dem man sich nicht verschließen möchte. Sozioökologische Jugendliche kaufen Bio-Lebensmittel dagegen auch, um für andere eine Vorbildfunktion einzunehmen zu können (ebd., S. 290). Die Auseinandersetzung um die Produktionsbedingungen in der Textilindustrie werden besonders von materialistischen Hedonisten wahrgenommen, da sie oft und häufig bei Billigmarken einkaufen (ebd., S. 287). Für Jugendliche aus dem sozioökologischen und auch aus dem konservativen Milieu ist dieses Thema weniger interessant, weil sie insgesamt seltener Kleidung kaufen und die gekaufte Kleidung länger tragen (ebd., S. 294). In Schulbüchern und anderen publizierten Unterrichtsmaterialien, insbesondere aus dem weiten Feld der NGOs, wird zumeist die Sicht des sozioökologischen Milieus zugrunde gelegt. Dies mag folgerichtig sein, da es eines der drei Milieus ist, in denen sich die gesellschaftliche Elite bewegt. Damit a­ llerdings

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entsteht eine Situation, die Young und Muller (2010) in ihrer Heuristik in einem F1-Curriculum verorten würden. Ein solches F1-Curriculum zeichnet sich durch ein weitgehend stabiles, gut umgrenztes Wissen aus, das die Vorstellungen der herrschenden Klassen reproduziert und Jugendliche aus bildungsferneren Schichten systematisch benachteiligt. Young und Muller bezeichnen dieses Wissen rückgreifend auf Bernstein als „knowledge of the powerful“. Im Kontext der Behandlung des kritischen Konsums im Unterricht führt es dazu, dass sozioökologische Jugendliche sich in ihren Positionen bestärkt fühlen, während Jugendliche aus benachteiligten Schichten sich sowohl von ihren Lehrern als auch von ihren Mitschülern kritisieren lassen müssen. Diese Konstellation ist aus zwei Gründen problematisch: Zum einen erweist sich der sozioökologische Lebensstil, wie oben gezeigt, oftmals als deutlich weniger nachhaltig als die Lebensstile der unteren Schichten (Schmidt-Bleek 2014; ebenso Resenberger 2017). Zum anderen sind Jugendliche aus dem Milieu der materialistischen Hedonisten häufig schon finanziell nicht in der Lage auf nachhaltigere Angebote zuzugreifen. Sozioökologische Jugendliche dagegen könnten ihren elitären Konsum durchaus einschränken oder auf weniger schädliche und dabei oft sogar billigere Produkte zurückgreifen. Aber auch Jugendliche aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft, die Adaptiv-Pragmatischen, werden letztlich nicht erreicht, da kritischer Konsum für sie nur solange kompatibel ist, wie er gerade dem angesagten LifeStyle entspricht. Ändert sich der Mainstream, ändern sie sich mit, weil kritischer Konsum für sie eine Präferenz und kein Bedeutungsschema ist. Hinsichtlich der Frage nach den Unterscheidungen ergibt sich daraus, dass gerade die Nicht-Berücksichtigung der Unterschiede neue Unterschiede produziert (Liessmann 2012). Wollten die Lehrenden die Milieugruppen bei relevanten Themen ebenso berücksichtigen wie beispielsweise Lernstile oder Leistungsniveaus, müssten sie sich stärker auf die einzelnen Milieus einlassen und deren Sichtweise letztlich akzeptieren. Es gibt, wie oben gezeigt, keinen Grund dafür anzunehmen, dass einige Milieugruppen nachhaltiger denken und handeln als andere. Allenfalls käme es dann darauf an, den materialistischen Hedonisten Mittel an die Hand zu geben, damit sie die Herkunft der Kleidung besser erkennen können, während die Sozioökologischen lernen müssten, dass der Anspruch eine Vorbildfunktion einnehmen zu wollen, schnell moralisierend wirken kann. Anders als bei den generischen Formen der Unterscheidung liefe eine differenzierte Behandlung von Milieugruppen allerdings darauf hinaus, eine Interaktion der einzelnen Gruppen zu verhindern oder anders gewendet zur Bildung von Filterblasen und Echoräumen beizutragen, was letztlich nicht im Sinne einer demokratischen Erziehung sein kann. Aus diesem Umstand rührt vermutlich das einleitend benannte Unbehagen, diese Kategorisierung in der Schule zu verwenden.

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Umgekehrt finden derartige Gruppenbildungen im Wirtschaftsleben aber täglich statt: Banken bieten jungen Menschen mit guten Gehältern andere Produkte an als älteren Menschen in derselben oder erst recht einer anderen Gehaltsklasse. Dementsprechend ist es für kritische Verbraucher wichtig zu wissen, in welcher Rolle man jeweils gesehen wird. Die dafür nötige Form des Wissens bezeichnen Young und Muller (2010) als F3-Currilulum2. Ein F3-Curriculum betont die Relevanz von Fächern als spezialisierten Gemeinschaften der Wissensentwicklung, wobei das entstandene Wissen weder stabil noch undifferenziert ist, sondern konzeptuell und immer nur das zu einem bestimmten Zeitpunkt beste Wissen, das gerade vorhanden ist. Dabei ginge es nicht darum, den Unternehmen und Parteien in ihren Anstrengungen der möglichst passgenauen Ansprache von Kunden und Wählern nachzueifern, sondern darum die Mechanismen aufzudecken, mit denen solche individuellen Ansprachen heute möglich sind, und die Wirkungen dieser Mechanismen auf unsere Weltbilder zu erörtern. Gezeigt werden müsste dabei sowohl wie Milieugruppen in der Konsumforschung entstehen als auch welche Möglichkeiten der Erkennung von Konsummustern Unternehmen durch die Verarbeitung von Big Data heute zur Verfügung stehen. Eine solche Auseinandersetzung entspräche in etwa dem, was derzeit unter dem Begriff powerful knowledge (Young und Muller 2010; Young 2011) diskutiert wird. Powerful knowledge ist definiert als ein abstraktes, kontextunabhängiges Wissen, das oftmals dem intuitiven Alltagsverständnis widerspricht, aber genau deswegen neue Perspektiven für das Nachdenken über die Welt eröffnet. Für Schülerinnen und Schüler ergibt sich daraus die Möglichkeit ohne einen von außen gesetzten Druck über ihre eigene Milieuzugehörigkeit zu reflektieren und darüber nachzudenken, welche Rolle welcher Konsum in ihrem Leben spielt und ob er diese Rolle auch spielen sollte. Entscheidungen werden so im Einzelfall getroffen und erfordern ein jeweils neues (selbst)reflexives Nachdenken. Damit ändert sich allerdings auch die Zielsetzung des Unterrichts: Es geht nicht mehr darum, die Vorzüge eines bestimmten frame of reference oder eines bestimmten Konsummilieus zu vermitteln. Das wäre in einer Demokratie auch gar nicht zulässig (Möllers 2009). Es geht vielmehr darum, sich mit den verschiedenen Konsummilieus und Konsumformen auseinanderzusetzen und selbst entscheiden zu können, welche der Positionen am besten mit Daten und Fakten belegt, welche mit Argumenten begründet und verteidigt werden kann

2Das

F2-Curriculum orientiert sich vor allem an Vorstellungen des „Lernen lernens“, bei dem die Aneignung bestimmter Inhalte als zweitrangig betrachtet wird. Für die Argumentation dieses Beitrags ist es nicht von Belang.

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sowie welche der Positionen sich durch Selbstreflexion und die Einbindung in größere theoretische Zusammenhänge auszeichnet (Mezirow 2009, S. 92). Ein derartig reflektierter Umgang mit der Frage des kritischen Konsums wäre insoweit transformativ, dass er Grenzen als das anerkennt, was sie nach Liessmann im Kern nur sind: „Die Grenze, und das muss in einer Zeit, in der nahezu alle Begriffe nur mehr mit moralischen Konnotationen auftreten dürfen, verstören, markiert also nicht mehr und nicht weniger als eine Trennlinie zwischen Gegenstandsbereichen, ohne dass durch die Differenz etwas über die Qualität dessen ausgesagt wird, was diesseits und was jenseits dieser Grenze liegt“ (Liessmann 2012, S. 30).

6 Fazit Grenzen sind nicht per se negativ. Zwar können sie Menschen ausgrenzen und zu sich selbstverstärkenden Gruppenbildungen führen. Extreme Differenzierungen und Filterblasen wären die Folge. Aber Grenzen können Menschen auch vor Übergriffen anderer schützen. Insbesondere schwächere Minderheiten sind durch die Negation von Grenzen den oftmals moralischen Ansprüchen der stärkeren Gruppe ausgesetzt. Eine demokratische Schule ist gefordert, den Lernenden die Bedeutungen von Grenzen und Differenzen zu verdeutlichen, ihnen zu erklären, wie Unterschiede sowohl im wissenschaftlichen als auch im politischen Bereich zustande kommen und in wessen Interesse sie jeweils liegen. Mit einem derartigen Wissen wäre es den Heranwachsenden möglich eine eigene Position nicht nur zu finden, sondern auch einordnen und begründen zu können.

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Nachhaltiger Konsum als Utopie, soziale Wirklichkeit und Ideologie – Über die transformativen Potenziale des „Scheiterns“ Björn Wendt 1 Einleitung Nachhaltigkeit enthält ein bis heute uneingelöstes Versprechen, das hinter der ökologischen Dimension des Nachhaltigkeitsbegriffs allzu oft in Vergessenheit gerät: Wohlstand für alle – und zwar weltweit. Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development) intendierte der klassischen Definition der Brundtland-Kommission zufolge eine Entwicklung, „die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987, S. 46). Nachholende (Wohlstands)Entwicklung im globalen Süden durch Wachstum und Modernisierung, bei gleichzeitigem Schutz der ökologischen Voraussetzungen des Wohlstands für zukünftige Generationen – diese Harmonisierung von sozialen, ökologischen und ökonomischen Entwicklungszielen war die Vorstellung, die den Brundtland-Bericht, den Rio-Prozess und den entstehenden Nachhaltigkeitsdiskurs zunächst prägte (Brand 2018). Es ging darum eine „Entwicklung hin zu einer bestmöglichen Lebensqualität“ (Steurer 2001, S. 537) zu realisieren und diese räumlich auf die gesamte Welt und zeitlich in die Zukunft zu universalisieren (Görgen und Wendt 2015, S. 3). Nachhaltigkeit (Sustainability) umschreibt gegenwärtig hingegen kein konkretes Entwicklungskonzept und politisches Programm, sondern ein sich pluralisierendes Diskursfeld. Im Nachhaltigkeitsdiskurs sind verschiedene Nachhaltigkeitskonzepte (nachhaltiges Wachstum, Postwachstum, B. Wendt (*)  Institut für Soziologie, Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_9

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Suffizienz u. v. a.) und damit verbundene Wissensordnungen beheimatet (Brand 2014), die in Reaktion auf die sozial-ökologische Strukturkrise der Gegenwartsgesellschaft, insbesondere die Spaltung der Weltgesellschaft in Arm und Reich sowie die ökologischen Nebenfolgen des Industrialisierungsprozesses, ihre normativen Maßstäbe über wünschenswerte Zustände und Strategien der Nachhaltigkeit durchsetzen wollen. Auf Grundlage der gesellschaftskritischen Diagnosen über den sozialen und ökologischen Zustand der Weltgesellschaft und der daraus abgeleiteten positiven Alternativen des Nachhaltigkeitsdiskurses folgten zahlreiche praktische Initiativen, die versuchen eine nachhaltige(re) Entwicklung zu realisieren, sei es durch technische Lösungen und nachhaltige Produktionsweisen, staatliche Regulationen und Investitionen oder durch an die Bevölkerung gerichtete Appelle, die Lebensführung zu verändern und Formen des nachhaltigen Konsums zu erlernen. Die Nachhaltigkeitsforschung ist sich dabei darüber einig, dass ein großer Teil der Umweltschäden (je nach Produkt, Dienstleistung und Sektor mitunter deutlich über die Hälfte!) erst im Konsumbereich verursacht wird (Mayer et al. 2014; Ivanova et al. 2015). Die Verantwortung für eine Transformation zur Nachhaltigkeit kann in Bezug auf die ökologische Dimension folglich nicht alleine Unternehmen zugeschrieben werden, sondern liegt zu einem großen Teil auch bei den Konsumierenden. Letztere, so eine häufige Forderung, müssten sich von ihrer Schnäppchenmentalität und ihren nicht nachhaltigen Routinen distanzieren, ihre Markt- und Handlungsmacht nutzen, um angebotsseitige Veränderungen zu bewirken, durch Konsum oder Verzicht politische Zeichen gegen menschen- und umweltschädliche Produktions- und Konsumpraktiken setzen und die Industrie und Politik in Richtung Nachhaltigkeit drängen (z. B. Pötters 2006; Paech 2018). Nachhaltiger Konsum – so ein immer wieder artikulierter Befund – habe nämlich transformative Potenziale, er setze „politische Signale, kann beachtliche Wirkung haben (…) und ist Teil der kooperativen Verantwortung“ (Bilharz et al. 2011, S. 9) für Nachhaltigkeit. Vor dem Hintergrund der Bemühungen um Nachhaltigkeit durch Konsum und der gleichzeitigen „nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn 2013, S. 268) der Weltgesellschaft will der vorliegende Beitrag keine Lösungen anbieten, sondern in reflexiver Absicht Fragen aufwerfen und das Problem der Umsetzung von Nachhaltigkeit vertiefen. Er erkundet hierzu im Sinne einer Zwischenbilanzierung die utopisch-transformativen und ideologisch-systemstabilisierenden Wirkungen nachhaltigen Konsums. Nachdem zunächst der theoretischen Rahmen dieser Exploration entlang der Begriffe Ideologie und Utopie abgesteckt wird (Abschn. 1), werden transformative Wirkungen im Rahmen einer Erfolgsgeschichte nachhaltigen Konsums skizziert (Abschn. 2). Daran anschließend wird die Perspektive umgekehrt, indem die ideologischen Verstrickungen dieser

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Erfolgsgeschichte beschrieben und in einen größeren Kontext des Scheiterns der Umsetzung von Transformationsansprüchen in Richtung Nachhaltigkeit eingebunden werden (Abschn. 3). Es wird gezeigt, dass das diese Betrachtungsweise auch einen Zugang zu der Frage nach den transformativen Potenzialen der Digitalisierung erschließen kann (Abschn. 4). Schließlich werden in einem letzten Schritt transformative Potenziale des Scheiterns von Nachhaltigkeitsbestrebungen exploriert, um daraus einige Beobachtungen über die Dynamiken und Möglichkeit sozialen Wandelns durch nachhaltigen Konsum abzuleiten (Abschn. 5).

2 Theoretische Vorüberlegungen: Ideologie und Utopie Wie vollzieht sich sozialer Wandel? Während der Idealismus die Sphäre des Denkens, der Ideen, des Bewusstseins, der Rationalität und des Wissens als treibende Kraft des Geschichtsprozesses konzipiert, setzt der historische Materialismus bei der entgegengesetzten Grundannahme an: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (Marx 1971, S. 9). Das gesellschaftliche Sein, d. h. die „materielle Tätigkeit und der materielle Verkehr des Menschen“, sein „wirklicher Lebensprozeß“ und seine „materielle Produktion“, erzeugen demnach die „ideologischen Reflexe“ und zugleich „Nebelbildungen im Gehirn“ (Marx und Engels 1971, S. 26) der Menschen, die ihre Erkenntnisfähigkeit über die soziale Wirklichkeit und ihre Ideen über die Möglichkeit der Gestaltung der Welt trüben. Ändern sich die sozial-historischen Verhältnisse der materiellen Produktion, so ändern sich auch die damit verbundenen Ideen, Denkweisen, Wissensbestände und die ideologischen „Deckvorstellungen“ bzw. die für die Reproduktion der Gesellschaft notwendige „objektive Ideologie und die heißt Überbau, Überbau über den ökonomisch-gesellschaftlichen Unterbau. Und in diesem Überbau wohnt die Kultur“ (Bloch 1968, S. 65 ff.). Die Kultur- und Wissenssoziologie Karl Mannheims teilt die Setzung, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, fragt aber zugleich nach der Möglichkeit, eine gewisse Autonomie und Transformationskraft der kulturellen Sphäre, der Vorstellungswelt und des Bewusstseins zu erhalten. Es ging Mannheim, darum zu zeigen, dass „nicht nur das Sein das Denken bestimmt, das dann ideologisch wird, sondern auch das Denken, wenn es utopisch ist, das Sein“ (Hofmann 1996, S. 110). Während Ideologien demnach die Funktion haben bestehende soziale Wirklichkeiten zu verklären, zu legitimieren und zu stabilisieren, sei es durch bewusste Täuschungen oder durch ein „falsches Bewusstsein“, das den Menschen aufgrund ihrer Position in der Sozialstruktur auferlegt ist, handelt es sich bei Uto-

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pien um „all jene seinstranszendenten Vorstellungen […], die irgendwann transformierend auf das historisch-gesellschaftliche Sein wirkten“ (Mannheim 1985, S. 179; Bloch 1968). Auch Utopien verklären somit die Wirklichkeit, allerdings mit einer kritischen Intention und transformativen Wirkung. Mannheim nimmt damit eine weitreichende Verschiebung des Utopiebegriffs vor. Utopie meint im Sinne der klassischen Utopieforschung, ein Genre von Schriften, das anknüpfend an Thomas Morus Utopia (1516) mittels der Methode der Dichtung ideale Gesellschaftssysteme entwirft, um an den damit verbundenen Soll-Maßstäben, die Unvollkommenheiten der real-existierenden Verhältnisse zu kritisieren und den Sinn dafür zu schärfen, dass andere soziale Verhältnisse möglich sind (Schölderle 2011). Die utopische Methode des Gedankenexperiments soll damit zwar den Möglichkeitssinn der Menschen schärfen (Ruyer 1986; Negt 2012, S. 30) und indirekt auch Veränderungen intendieren, definiert sich aber keineswegs über den expliziten Verwirklichungsanspruch, der in den Schriften ausgemalten Idealgesellschaften. Die Art und Weise wie Utopien durch ihre Kritik und Veränderungsintention transformativ auf die soziale Wirklichkeit wirken und die Reichweite der damit verbundenen Wirkungen auf das Denken, die Praxis und den geschichtlichen Entwicklungsprozess als Ganzes ist zwischen den verschiedenen theoretischen Schulen der Utopieforschung hochumstritten (Wendt 2018). Grundsätzlich kann jedoch festgehalten werden: 1) Weitgehende Einigkeit besteht in der Utopieforschung darin, dass Utopien bestehende Verhältnisse kritisieren und ideale Soll-Zustände intendieren bzw. entwerfen (Heyer 2008): „In der Tat hat die Utopie zwei Seiten; sie ist Kritik dessen was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll.“ (Horkheimer 1986, S. 186). 2) Lassen sich aus diesen normativen Sollbestimmungen Maßstäbe ableiten, sodass „jede politische Unternehmung an ihnen gemessen werden kann“ (Horkheimer 1986, S. 189). 3) Der Erfolg oder das Scheitern der Realisierung, der mit den Maßstäben verbundenen politischen Ziele kann als Entscheidungskriterium gelten, ob Vorstellungen einen utopischen oder ideologischen Charakter haben, d. h. das „Kriterium für Ideologie und Utopie ist die Verwirklichung“ (Mannheim 1985, S. 178).

3 Nachhaltiger Konsum als Utopie Nicht nur Nachhaltigkeitskonzepte im Allgemeinen, auch der Begriff des nachhaltigen Konsums enthält kritische Vorstellungen darüber was ist und Vorstellungen darüber was sein soll. Konsum im Sinne der Nachhaltigkeit setzt voraus, dass „die bisher mehrheitlich praktizierten und für selbstverständlich

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angesehenen nicht nachhaltigen Praktiken verändert und durch nachhaltige Alternativen ersetzt werden“ (Rückert-John et al. 2015, S. 15). Wenn Konsum nicht nur „das Einkaufen […], sondern auch das Suchen, Auswählen, Ausprobieren, Mitnehmen, Einlagern, Gebrauchen, Verbrauchen und Entsorgen beliebiger Sachund Dienstleistungen“ (Hellmann 2013, S. 9) bezeichnet, meint nachhaltiger Konsum, dass diese Praktiken mit dem normativen Anspruch der Nachhaltigkeit verbunden werden. Dieser normative Anspruch kann nun wiederum auf die Intention der Konsumierenden ausgerichtet sein, d. h. dass Individuen „unter Berücksichtigung ökologischer und sozialer Gesichtspunkte konsumieren“ (Brand 2008, S. 73) sollen. Die Intentionalität bzw. das Bewusstsein seinen Konsum vom Maßstab der Nachhaltigkeit ausgehend verändern zu wollen, sagt aber noch nichts über die erfolgreiche Verwirklichung dieser Intention in der Praxis im weiten Sinne und nichts über seine sozial-ökologische Bilanz im engeren Sinne aus, sodass auch bei den konkreten Wirkungen angesetzt werden kann, die durch den Willen nachhaltig zu konsumieren erzielt werden. Negativ formuliert: Konsumentscheidungen sollen sich an Nachhaltigkeit orientieren und der Natur und anderen Menschen (auch denen, die noch nicht geboren sind) nicht schaden. Positiv formuliert: Konsum soll im Sinne der Nachhaltigkeit erfolgen und damit umweltverträglich und sozial (im Sinne des Abbaus von Armut und sozialer Ungleichheit) sein und damit zu einem guten Leben auf der Welt für alle Menschen beitragen (Defila et al. 2011). Der allgemeine utopische Maßstab nachhaltigen Konsums verbindet somit definitionsgemäß ökologische und soziale Soll-Vorstellungen. Bei der Erkundung der transformativen (im Sinne Mannheims „utopischen“) Wirkungen dieser normativ-utopischen Maßstäbe nachhaltigen Konsums ist es in einem ersten Schritt analytisch hilfreich, seine Erfolgsgeschichte der Verwirklichung an einigen Beispielen, in diesem Fall in Bezug auf Deutschland, zu illustrieren. Das Bewusstsein für Umweltprobleme ist seit den 1970er Jahren in alle Schichten der Bevölkerung diffundiert und Nachhaltigkeit ist zu einem normativen Maßstab avanciert, der gesellschaftlich breite Anerkennung erfährt (Wendt und Görgen 2017). Ausgehend von diesem Wertewandel lassen sich inzwischen 27 % der in Deutschland lebenden Menschen als „nachhaltigkeitsorientierter Typ identifizieren, der besonderen Wert auf Regionalität, Saisonalität, Bio-Qualität und fairen Handel legt“; darüber hinaus kaufen inzwischen 83 % „gelegentlich“ Bioprodukte (Umweltbundesamt 2017, S. 54). Der Biomarkt verzeichnet ein stetiges Wachstum und Konsumierende geben allein in Deutschland inzwischen fast 10 Mrd. EUR pro Jahr für Biolebensmittel aus (BÖLW 2017). Es hat sich auch in den konventionellen Supermärkten ein breites Angebot an biologischen, regionalen und fair gehandelten Produkten etabliert, die von

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zahlreichen Konsumierenden routiniert gesucht, ausgewählt, erworben, mitgenommen und verbraucht werden. Die konkreten Einkaufspraktiken zahlreicher Menschen haben sich in Bezug auf die konkrete Auswahl und den Kauf von Lebensmitteln somit durchaus verändert und auch in anderen Bereichen, sei es der vermehrten Nutzung von Car-Sharing oder Ökostrom (Umweltbundesamt 2017), haben sich Formen des nachhaltigen Konsums verwirklicht, die als gelebte Praxis, als soziale Wirklichkeit beschrieben werden können. Auch die zahlreichen Formen der Bildung von Konsumgemeinschaften, der Selbstorganisation nachhaltigkeitsorientierter Konsumräume, der gemeinsamen Erlernung von Do-it-yourself- und Do-it-together-Techniken und Nutzenintensivierungen verweisen auf Empowermentpraktiken durch nachhaltigen Konsum, die bereits in der Praxis gelebt werden (Jaeger-Erben et al. 2017). Sie stellen jenseits des (Welt-)Marktes alternative Infrastrukturen für nachhaltigen Konsum bereit und ermöglichen nicht nur eine Erweiterung des Radius nachhaltiger Konsumentscheidungen (Buycott) auch jenseits des Supermarktes, sondern auch Konsumverzicht (Boycott), etwa durch Reparaturen, das Teilen und gemeinschaftliche Nutzen von Konsumgütern, die Einübung von Genügsamkeit oder solidarische Formen des Prosumings, Gardenings oder Commoning. Diesen Konsum(verzichts)praktiken ist gemeinsam, dass sich durch sie mehr Bestandteile der Lebensführung verändern, als eine veränderte Praxis im Supermarkt. Sie verweisen vielmehr auf andere Materialitäten, Bedeutungen und Kompetenzen dieser Konsumpraktiken (Shove et al. 2012) und enthalten daher auch weitreichendere Potenziale, mit konventionellen Routinen zu brechen. Utopien nachhaltigen Konsums wirken demnach bereits als ein Bestandteil sozialer Praxis daran mit, dass Innovationen in der sozialen Wirklichkeit etablieren werden und in die Bevölkerung diffundieren, sei es über den (Welt-) Markt oder durch gemeinschaftliches Empowerment. Das Vorleben dieser Alternativen eröffnet kritische Impulse, Möglichkeitsräume und Experimentierfelder, in denen Konsumierende ihre Routinen hinterfragen und nachhaltigere Formen des Konsums erproben können. Das ist die eine Seite der Medaille, die Erfolgsgeschichte nachhaltigen Konsums (exemplarisch: Hawken 2010), die sowohl im Hinblick die Verbreitung der Intention nachhaltigen Konsums (ein Großteil der Menschen will in Anbetracht ihres Umweltbewusstseins nachhaltig konsumieren) (Wendt und Görgen 2017, S. 155 ff.) als auch die soziale Praxis (immer mehr Menschen suchen, wählen und kreieren nachhaltigen Konsum) als ein Trend, den es zur Kenntnis zu nehmen gilt, durchaus plausibilisiert werden kann.

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4 Nachhaltiger Konsum als Ideologie Die andere Seite der Medaille ist allerdings, welche ideologischen Verstrickungen und Auslassungen mit dieser Erfolgsgeschichte verbunden sind, die am Beispiel der entgegengesetzten Geschichte des Scheiterns einer Transformation zur Nachhaltigkeit deutlich werden. Der Konsum fair gehandelter und biologischer Waren ist bei genauer Betrachtung keineswegs weit verbreitet, sondern – wenn man die Umwelt- und Eine-Welt-Bewegung als Ausgangspunkt nimmt auch nach fast 50 Jahren, seit denen mit dieser Strategie versucht wird sozialen Wandel zu kreieren –, nach wie vor ein Nischenphänomen. Der Anteil der Biolebensmittel lag in Deutschland im Jahr 2016 bei unter 5 % (BÖLW 2017) und im Durchschnitt wurden von Konsumierenden lediglich 16 EUR pro Jahr für fair gehandelte Waren ausgegeben (Forum Fairer Handel 2017). Das Auto ist das vorwiegend genutzte Verkehrsmittel im Alltag. Kompensationszahlungen für Flüge sind ein Randphänomen (Umweltbundesamt 2017, S. 60 ff.). Umweltsoziologische Studien verweisen ferner seit Jahrzehnten darauf, dass das Umweltbewusstsein und -verhalten auf der Ebene der Lebensführung in der Regel in einem Widerspruch zueinander stehen (Preisendörfer und Franzen 1996, S. 233 f.). Auch (oder gerade) jene Sozialgruppen, die besonders umweltbewusst eingestellt sind, haben in der Summe häufig eine schlechte Umweltbilanz (Kleinhückelkotten et al. 2016; zum Zusammenhang von Lebenslage, sozialer Ungleichheit und Umweltverhalten: Schad 2018, S. 100 ff.). Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass auch wissenschaftliche Messinstrumente das Gesamtbild zum Positiven verzerren, sei es durch Effekte sozialer Erwünschtheit oder die Messverfahren, etwa wenn danach gefragt wird, wie „häufig“ jemand biologische, fair gehandelte oder regionale Lebensmittel kauft. Auf welche Produktgruppen des Warenkorbs von Konsumierenden beziehen sich die Antworten? „Häufig“ wohl auf einen fast zu vernachlässigenden Ausschnitt. Ein Grundproblem vieler Studien zum Umweltverhalten, etwa auch der zyklisch erhobenen Untersuchungen im Auftrag des Umweltbundesamtes, bleibt bis heute, dass in der Regel das verbalisierte Umweltverhalten erhoben und darauf verzichtet wird, sich den realen Umweltwirkungen über ökologistische Verfahren anzunähern (Wendt und Görgen 2017,S. 127 ff.). Dies führt u. a. dazu, dass auf Grundlage relativ weicher Indikatoren des Umweltverhaltens (Konsum nachhaltiger Produkte) immer noch den wohlhabenden Milieus eine Vorreiterrolle in Bezug auf gewünschtes Umweltverhalten zugeschrieben wird (Wohlstandsthese), obwohl inzwischen auf Grundlage härterer Indikatoren (z. B. des Energieverbrauchs)

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wiederholt gezeigt werden konnte, dass gerade die Wohlhabenden in der Summe über eine besonders schlechte Umweltbilanz verfügen (Brunner 2014). Der Vollzug einer nachhaltigen Konsumpraxis führt demnach nicht zwangsläufig dazu, dass ihre sozial-ökologische Wirkung im strengen Sinne nachhaltig ist. Wie umweltverträglich ist etwa das Fahren mit Hybrid- und Elektroautos oder das Konsumieren von fair gehandelten Bananen aus Übersee? Und vor allem: Weshalb stehen bei den Wirkungsfragen stets nur die ökologischen Aspekte im Zentrum? Inwiefern trägt nachhaltiger Konsum zu einem effektiven Abbau von absoluter Armut und sozialer Ungleichheit bei? Wie misst man den „sozialen Fußabdruck“ einzelner Konsumhandlungen? Als das sind bisher ungeklärte Fragen. Mit der Forderung nach der Verantwortungsübernahme der Konsumierenden werden diese in Anbetracht der Komplexität von Nachhaltigkeitsbewertungen kurzum schlichtweg überfordert und darüber hinaus in einem weiten Sinne entpolitisiert, indem öffentliche und damit politische Probleme in eine individualistische ökonomische Handlungsrationalität übersetzt und zu einer Privatsache deklariert werden (Grunwald 2011). Die sozial-ökologische Krise durch mehr Umweltbildung, bessere Informationen sowie Appelle an „mündige“ Konsumierende überwinden zu wollen, ist daher äußerst „riskant, weckt falsche Erwartungen und hat letztlich den Charakter einer großen Illusion“ (Grunwald 2018, S. 434). Gegen die Erfolgsgeschichte des nachhaltigen Konsums lässt sich damit vor allem der systemische Charakter des Konsums einwenden (Brand 2008): Nur wenn Waren auch nachhaltig produziert wurden und Infrastrukturen bereitstehen, sie nachhaltig zu erwerben, verbrauchen und entsorgen, ist nachhaltiger Konsum möglich. Es kann begründet hinterfragt werden, ob es überhaupt möglich ist in einer Gesellschaft des sich globalisierenden Massenkonsums nachhaltig zu konsumieren. Die Erfolgsgeschichte bleibt etwa häufig im nationalen Deutungsrahmen gefangen, wodurch der Blick für die „Externalisierungen“ und Nebenfolgen – vor allem in den Ländern des Südens (Lessenich 2016) –, auch bezüglich vermeintlich nachhaltiger Praktiken, schwindet. Der öko-soziale Konsum bewirkt so gesehen zwar ein gutes Gewissen und ökologische Distinktionsgewinne bei den Konsumierenden, die vor allem in spezifischen Mittelschichtenmilieus des Nordens beheimatet sind (Neckel 2018), trägt durch seine Integration in den Weltmarkt aber zur Stabilisierung jener „imperialen Lebensweise“ (Brand und Wissen 2017) bei, welche die Probleme erst verursacht, die das Nachhaltigkeitskonzept lösen will. Die Nebenfolgen und Externalisierungen des kapitalistisch-industriellen Wirtschaftsprozesses durch Greenwashing zu verschleiern, ist dann nur ein Modus, Nicht-Nachhaltigkeit in

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nachhaltigen Konsum umzuwidmen (Hartmann 2009), um weiterhin das zu tun, was getan werden muss, um bestehende Wirtschafts- und Lebensmodelle aufrecht erhalten zu können. Nachhaltigkeitskonzepte tragen aus dieser Perspektive dazu bei, bestehende Problemdefinitionen sowie Macht- und Ungleichheitsstrukturen zu verklären, da sie keineswegs auf grundlegende Veränderungen, sondern vielmehr auf die Fortführung des Bestehenden zielen und damit einen ideologischen, das System legitimierenden und stabilisierenden Charakter haben (hierzu bereits: Eblinghaus und Stickler 1996; aktueller Muraca 2014, S. 27; Wendt und Görgen 2018). Durch die partielle Integration „nachhaltigen“ Konsums in den eigenen Lebensstil werden zwar kleinere Transformationen initiiert, der Gesamttrend zur Nicht-Nachhaltigkeit, die gesamte Lebensführung und auch der nur partielle nachhaltigere Charakter einzelner Konsumakte wird verdrängt und nicht mehr als potenzieller Gegenstand der Veränderung in den Blick genommen.

5 Nachhaltiger Konsum durch Digitalisierung? Vor dem Hintergrund der anhaltenden Nicht-Nachhaltigkeit der Weltgesellschaft wird die Digitalisierung als ein möglicher „Game-Changer“ für die Realisierung von Nachhaltigkeit betrachtet (Seele und Lock 2017). Gerade in Bezug auf die industrielle Produktion werden die Potenziale der Digitalisierung für mehr Transparenz, Ressourceneffizienz und eine nachhaltige Energienutzung inzwischen verstärkt diskutiert (z. B. Beier et al. 2017; Beier und Pohl 2017). Die Forschung zu den Folgen und transformativen Potenzialen der Digitalisierung für nachhaltigen Konsum steckt noch in den Kinderschuhen. Wenngleich es rückblickend aufgrund der kurzen Zeitspanne ihrer Existenz nur schwer zu vermessen ist, wie diese technische Innovation auf Konsumpraktiken wirkt, lassen sich ihre Potenziale und Folgen in Bezug auf den utopisch-normativen Maßstab der Nachhaltigkeit gleichwohl ansatzweise erkunden. Die Digitalisierung produziert eine ganze Reihe an technischen Utopien (bspw. Smart Cities oder autonomes Fahren), aus denen sich auch soziale Utopien von einer suffizienten bzw. sanften Digitalisierung speisen (Gossen und Schrade 2018; Lange und Santarius 2018). Big-Data, das Internet der Dinge, Smart-Cities und Smart-Phones, d. h. die Erfindung und Verbreitung moderne Informationsund Kommunikationstechnologie, versprechen nicht nur bessere Informationen und ein effizienteres Management von Stoff- und Energieströmen, sondern auch Chancen für De-Materialisierungen, CO2-Einsparungen, mehr Teilhabe und eine gesteigerte Lebensqualität: „Digitalisierung ist […] kein Selbstzweck, sondern Motor für nachhaltiges Wirtschaften und damit für mehr Lebensqualität“ (Vogel

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et al. 2018, S. 14). Strategisch werden vor allem in der Dezentralisierung und im Prosuming transformative Potenziale für nachhaltige Konsumformen verortet (Petchow et al. 2014). Die utopisch-normativen Soll-Vorstellungen im Diskurs lassen sich in der ersten größeren Studie zum Zusammenhang von Digitalisierung und nachhaltigem Konsum exemplarisch verdeutlichen. Steffen Lange und Tilman Santarius plädieren für die Gesellschaftsutopie einer sanften Digitalisierung, die sich insbesondere durch umweltfreundliche Technologien, digitale Suffizienz, konsequenten Datenschutz und Gemeinwohlorientierung auszeichnet, und verweisen ferner darauf, dass sich durch die Digitalisierung bereits zahlreiche Potenziale, nachhaltigkeitsrelevante Praktiken und Infrastrukturen als gelebte Praxis verwirklicht haben (Lange und Santarius 2018, S. 45 ff.): Über Online-Portale wird Car-Sharing privat organisiert; E-Reader sind ab einer gewissen Nutzenintensität umweltfreundlicher als gedruckte Bücher; Smart-Home-Systeme sind in Kombination mit erneuerbaren Energien in der Lage, den gesamten Energiehaushalt umweltfreundlicher zu steuern; fair gehandelte Waren sind überall über alternative Online-Marktplätze zu beziehen; die Informationssuche im Internet über Herstellungsbedingungen oder den ökologischen Fußabdruck von Waren wird mit Hilfe von Apps erleichtert und über Online-Shops und Online-Flohmärkte sowie Tauschbörsen lassen sich unterschiedlichste gebrauchte Waren kaufen, tauschen oder auch verschenken. Aber auch bezüglich dieser Positivbeispiele und Potenziale lässt sich erneut auf die ideologischen Verstrickungen und Verkürzungen dieser strategischen Ansätze verweisen, wenn die oben herausgearbeitet utopischen Maßstäbe der Nachhaltigkeit angelegt werden. So bleibt der Abbau von Armut und sozialer Ungleichheit, also die soziale Dimension der Nachhaltigkeit, im Rahmen der auf ökologische Nachhaltigkeit zielenden Instrumente in der Regel außerhalb des Blickfeldes. Mit der infrastrukturellen Bereitstellung digitaler Dienstleistungen, die einen Beitrag zu umweltfreundlicheren Konsumpraktiken leisten können, sind zudem zahlreiche Reboundeffekte verbunden, sodass die proklamierten Effizienzsteigerungen durch die Digitalisierung bei näherem Hinsehen in vielem Fällen mitunter sogar überkompensiert werden, da die materielle Basis der schönen neuen Onlinewelt enorme Ressourcen benötigt und Emissionen verursacht (Lange und Santarius 2018, S. 24 ff.). Die Digitalisierung produziert darüber hinaus zusätzliche Umweltschäden durch mehr Konsum und zugleich eine ganze Reihe dystopischer Wirkungen und Potenziale, z. B. Überwachung, Jobverluste, Prekarisierungen, digitale Spaltungsmuster u. v. m., die soziale Ungleichheiten verstärken: „Letztlich spiegeln sich in der Digitalisierung des Konsums das gegenwärtige wirtschaftliche Machtgefüge und die bestehenden

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­ onsuminteressen wider: In der Nische verbessern sich die Optionen, nachK haltigere Produkte zu erwerben oder auf Neukauf verzichten zu können. In der Breite wirkt die Digitalisierung als Konsumkatalysator und kurbelt den Massenkonsum kräftig an“ (Lange und Santarius 2018, S. 50).

6 Transformative Potenziale des „Scheiterns“ Eine zentrale Conclusio der bisherigen Argumentation lautet, dass es bis jetzt nicht gelingt, dass Nischenphänomene, in denen sich ausgehend von Utopien des nachhaltigen Konsums auch nachhaltigere Handlungsoptionen und Praktiken entfalten, den nicht nachhaltigen Gesamttrend transformieren. Transformative, d. h. mit Mannheim utopische, Wirkungen des nachhaltigen Konsums sind zwar auf der Ebene eines sich verbreitenden Nachhaltigkeitsbewusstseins und der gelebten sozialen Praxis beschreibbar (etwa die Zunahme nachhaltiger Einkaufs- und Verzichtpraktiken). Letztere ergänzen jedoch vor allem die konventionellen Angebotsstrukturen und sind bisher nur in Ansätzen auf ihre sozial-ökologische Bilanz hin evaluiert. Die transformativen Potenziale nachhaltigen Konsums zu vermessen erfordert es daher, den Gesamtzusammenhang aus Bewusstsein, sozialer Praxis und Gesellschaftssystem stets im Auge zu behalten, damit man sich nicht in ideologischen Missdeutungen verfängt. Ein Vorschlag, der aus diesem Beitrag abgeleitet werden kann besteht darin, dass sich jede nachhaltige Konsumpraktik auf ihre utopischen, gelebten und ideologischen Bestandteile untersuchen lässt, sei es im Rahmen konventioneller oder digitalisierter Formen nachhaltigen Konsums. Die transformative Kraft nachhaltigen Konsums speist sich aus der Distanz zwischen als nicht-nachhaltig bewerteten konventionellen Konsumpraktiken und als nachhaltig bewerteten und erreichbar erscheinenden Alternativen. Zunächst eröffnen der normative Maßstab der Nachhaltigkeit und die gelebten Alternativen nachhaltigen Konsums nämlich Möglichkeitshorizonte, die Menschen motivieren können Gewohnheiten und Routinen zu hinterfragen und neue nachhaltigere Praktiken zu erproben. Wenn sich letztere nun jedoch als nicht nachhaltig erweisen, die damit verbundenen transformativen Ansprüche scheitern oder sogar als Elemente betrachtet werden können, die den nicht-nachhaltigen Gesamtzusammenhang stabilisieren oder verschärfen, kann das transformative Potenzial nachhaltigen Konsums durch die Thematisierung ihrer Nicht-Nachhaltigkeit unterminiert werden. Dies kann zu Enttäuschungen führen und demotivierend auf Transformationsbemühungen wirken (Grunwald 2010, S. 180 f.). Wie der bereits mehrfach zitierte Karl Mannheim darlegt, ist die Tragik eines scheinbar aussichtslosen Problems kein überzeugender Grund die damit

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gewonnenen Erkenntnisse zu verdrängen: „Denken ist ein von Realkräften getragener, stets sich selbst infrage stellender und zur Selbstkorrektur drängender Prozess. Das Verhängnisvollste wäre deshalb, das bereits sichtbar gewordene aus Ängstlichkeit zu verbauen“ (Mannheim 1985, S. 194). Die Täuschungen bzw. Vorurteile über die Strategie des nachhaltigen Konsums Wesentliches zu einem sozialen Wandel auf der Mikro- wie auf der Makroebene der Gesellschaft beizutragen, werden im Prozess des Ent-Täuschens aufgehoben und bewirken einen Erkenntnisfortschritt über die Grenzen intendierter Transformationsbemühungen. Eine zentrale Erkenntnis wäre in diesem Fall, dass der Normalfall des Versuchs der Veränderung von Praktiken und sozialen Systemen in Richtung Nachhaltigkeit das Scheitern in Bezug auf die anvisierte Utopie ist. Scheitern kann dabei als ein graduelles bzw. temporäres oder absolutes Phänomen konzeptualisiert werden, wobei ersteres unterstellt, „dass auch nach dem Scheitern noch gehandelt werden kann. […] Im absoluten Scheitern gibt es keine Verfügungsmöglichkeiten für Handeln“ (Junge 2004, S. 16). In diesem Sinne wird in diesem Beitrag keinesfalls dafür plädiert, nachhaltige Konsumpraktiken als ein absolutes Scheitern zu betrachten und sie zu unterlassen, sondern vielmehr von einem „transformativen Scheitern“ auszugehen, das einerseits partielle Veränderungen mobilisiert und wenn es reflektiert wird, weitere Möglichkeitsräume für eine „Politisierung der Nachhaltigkeit“ (Grunwald 2011), eine Transformation der Formen nachhaltigen Konsums und weitere Erkenntnisgewinne eröffnet. Ein Beispiel für die transformativen Potenziale des Scheitern in Bezug auf nachhaltigen Konsum ist etwa, dass sich im Rahmen einer qualitativen Studie zu suffizienten Denk- und Handlungsstrukturen zweierlei herausstellte (Burkart 2018, S. 36 ff.): Erstens, dass der Versuch von relativ suffizient handelnden Menschen gezielt auch Menschen in ihrem Umfeld (etwa ihre Familie) zu beeinflussen, suffizienter zu leben, zu Abwehrreaktionen und einem Scheitern dieser Bemühungen führt; dass diese aber, nachdem auf eine „Missionierung“ verzichtet wurde, nach einer gewissen Zeit aufgrund der vorgelebten Praxis beginnen, diese partiell zu imitieren. Das Scheitern der Veränderung der Praktiken einer Bezugsgruppe führte demnach zunächst zu einem Ablassen von der Veränderungsintention. Das wiederum setzte einen unerwarteten Effekt frei, der jedoch erst mit einigem zeitlichen Abstand sichtbar wird. Zweitens wurde deutlich, dass gerade eine absolute Zielorientierung die Befragten vor dem Hintergrund der Aufrechterhaltung ihrer sozialen Beziehungen überfordert, sodass ein pragmatischer Umgang mit den eigenen Idealen entsteht und gelegentliche Ausnahmen bzw. gelegentliches Scheitern ihnen die allgemeine Umsetzung (etwa des Veganismus oder Verzichts auf Kleidungskäufe) ermöglichen. Überträgt man diesen Mechanis-

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mus auf nachhaltigen Konsum, so wird deutlich, dass mit dem (­partiellen) „Scheitern“, zugleich eine partielle Verwirklichung einhergeht und damit – auch positive! – unerwartete Nebenfolgen einhergehen können. Verallgemeinert man diese Befunde und setzt sie mit Ergebnissen der Utopieforschung in Beziehung, so wird deutlich, dass auch Gesellschaftsprojekte, sei es der Liberalismus, der Sozialismus oder auch Nachhaltigkeit, zwar vermeintlich „scheitern“, wenn sie von den utopisch-normative Maßstäben und nicht vom Prozess der Veränderung und partiellen Transformationen her beurteilt werden. Im Prozess dieses Scheiterns verändern sich durch diese Maßstäbe soziale Wirklichkeiten und zwar mitunter durchaus in Richtung des angestrebten Ideals, was wiederum auf die kritisch-utopischen Maßstäbe zurückwirkt (Landauer 1977; Wendt 2018). Es wäre trotz der scheinbaren Unmöglichkeit der Verwirklichung einer nachhaltigen Gesellschaft demnach verfehlt, nur einer Ideologiekritik des nachhaltigen Konsums das Wort zu reden und nachhaltigen Konsum lediglich als stabilisierenden Faktor des Gesamtzusammenhangs zu betrachten. Vielmehr stellt sich die Aufgabe einer realitätsnahen Kritik an der „Bagatellisierung nachhaltigen Konsums“ (Bilharz et al. 2011), um erstens auszuloten, auf welchen Ebenen (auch unerwartete) transformative Wirkungen nachhaltigen Konsums und der Digitalisierung verborgen liegen und zweitens zu untersuchen, wie es möglich wird, die transformativen Potenziale des partiellen Scheiterns in Bezug auf verschiedene Praktiken in veränderte Formen nachhaltigen Konsums zu übersetzen. Gleichwohl kann Ideologiekritik auf Kurzschlüsse verweisen und als Ausgangspunkt dienen, immer wieder selbstkritisch über nachhaltigen Konsum nachzudenken und zu forschen und dadurch transformative Möglichkeitsräume für zukünftige Entwicklungen zu erschließend, in denen sich möglicherweise auch bisherige Nischenphänomene, etwa im Zuge sich zuspitzender Krisen, weiter verbreiten und transformativer auf das nicht nachhaltige Gesamtsystem wirken, als es derzeit der Fall ist. Gerade diese Steigerung der Reflexivität und die soziohistorische Kontextualisierung nachhaltigen Konsums kann ein wesentlicher Beitrag soziologischer Konsumforschung sein, die nicht nur neue konkrete Lösungsvorschläge, sondern zunächst andere Rahmungen der Problemstellungen erschließt (zur Rolle der Soziologie in der Nachhaltigkeitsforschung: Wendt et al. 2018).

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Art of Hosting oder: Wie können Konferenzen durch ihre Gestaltung transformativ wirken? Martina Handler, Ines Omann und Renate Hübner Getting the ‚whole system‘ in the room (Weisbord und Janoff 2000) Collective clarity of purpose is the invisible leader (Mary Parker Follet)

1 Change by Design not by Disaster: Transformation als Kommunikationsprozess Klimawandel, Migrationsbewegungen, die Krisen demokratischer Systeme, die Digitalisierung und eine globale Ungleichverteilung von Wohlstand und Ressourcen werden zu massiven Veränderungen und gesellschaftlichen Umbrüchen führen. Um den Veränderungen nicht „ausgeliefert“ zu sein (change by disaster), braucht es eine kollektive Kraftanstrengung für einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung (Change by Design). Klima- und Nachhaltigkeitsforscher und -forscherinnen sprechen von der Chance bzw. der Notwendigkeit einer „Großen Transformation“ (WBGU 2011;

M. Handler · I. Omann (*)  Wien, Österreich E-Mail: [email protected] M. Handler E-Mail: [email protected] R. Hübner  Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Hübner und B. Schmon (Hrsg.), Das transformative Potenzial von Konsum zwischen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Kritische Verbraucherforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26040-8_10

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Novy 2014) oder einer Great Transition (New Economics Foundation 2009; Jackson 2009). Dabei geht es um große, systemische Veränderungen mit dem Ziel ein „gutes Leben für alle“ (Novy 2013; Brand und Wissen 2017; Les Convivialistes – Adloff, Leggewie 2014) zu ermöglichen und damit auch der fortschreitenden Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Belastung der Regenerationskapazitäten von Mensch und Natur Einhalt zu gebieten. Konsum wirkt in viele Lebensbereiche der Menschen hinein und hat daher hohes transformatives Potenzial. Hierfür reicht es allerdings nicht, anders zu kaufen, anders zu reisen etc. Es geht darum Konsum völlig neu zu denken, um bestehende Muster zu verändern, neue Praktiken zu erschließen, Handlungsspielräume zu erweitern bzw. neue Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen (Hübner 2012a, b, 2017). Dazu müssen neben Konsumkompetenzen (Nutzungs- bzw. Produktkompetenzen im Sinn einer nachhaltigen Entwicklung) auch Fähigkeiten gestärkt bzw. erlernt werden, mit Unsicherheiten, Widersprüchen und Konflikten umzugehen, die ein fundamentaler Wandel mit sich bringt. Eine gesellschaftliche Transformation ist von hoher Komplexität und kann nicht (von Eliten) top-down gesteuert werden; sie erfordert die Mitgestaltung vieler (Wheatley und Frieze 2010)1. Auch wir Autorinnen sehen in einem co-­ kreativen Prozess – also einem Prozess der kreativen gemeinsamen Erarbeitung von Problemverständnis, Erkenntnissen, Wissen, Lösungen – die Voraussetzung, damit Einsicht in die Notwendigkeit und Möglichkeit einer tiefgreifenden Veränderung entstehen kann und die Transformation von möglichst vielen mitgetragen und gestaltet wird. In solchen kollaborativen2 Prozessen kann in Reflexions- und Diskursräumen einer neuen Qualität die bei vielen Menschen bereits vorhandene „Veränderungsenergie“ gestärkt und gebündelt werden. Erfahrungsgemäß sind die herkömmlichen Formate (wissenschaftlicher) Konferenzen und Symposien bspw. kaum dafür geeignet, die mit der gesellschaftlichen Transformation einhergehenden komplexen Probleme kreativ zu bearbeiten. Es bedarf neuer, co-kreativer Methoden bei der Gestaltung von ergebnisorientierten Diskursräumen, die es ermöglichen, alle vorhandenen Ressourcen, Kompetenzen und Erfahrungen zu nutzen. Es bedarf zudem einer spezifischen Haltung bei der Begleitung dieser Prozesse, damit in diesen Räumen wirklich gute Gespräche, damit meinen wir ganzheitliches – also kognitives wie emotionales – Wahrnehmen, tiefes Zuhören, absichtsvolles Sprechen sowie gemeinsames Nachdenken möglich werden. Es geht darum, Menschen aus verschiedenen

1Wheatley

und Frieze (2010) erläutern, dass im Zeitalter der Komplexität das hierarchische Führungsmodell, das der Illusion der Kontrolle erliegt, nicht mehr funktioniert. 2Gemeinsame Wissenskonstruktion im Rahmen eines interaktiven Prozesses.

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gesellschaftlichen Bereichen zusammenzuführen, in einen wertschätzenden Diskurs zu bringen und auf diese Weise zu ermutigen, Fragestellungen aus anderer als der bisher gewohnten Perspektive durchzudenken. Art of Hosting ist ein Ansatz, der dazu geeignet ist, diese Qualitäten zu erzeugen. Dieser Beitrag stellt die Wurzeln, die Historie, zugrunde liegenden Annahmen und Elemente des Art of Hosting and Harvesting Conversations that Matter (kurz: Art of Hosting) dar (Abschn. 2 und 3) und zeigt am Beispiel des 3. Symposiums „Konsum neu denken“ (zu Geschichte der Symposien sowie Idee und Ziele des 3. Symposiums siehe Hübner und Schmon in diesem Band), wie dieses Konzept in der Planung, Durchführung und Aufarbeitung des Symposiums wirksam wurde und sich dadurch in der Veranstaltung Kommunikation „mit transformativer Wirkung“ entwickeln konnte (Abschn. 4). Abschließend reflektieren wir jene Erkenntnisse, die uns für die Weiterentwicklung des Konzepts „Art of Hosting“ hilfreich erscheinen.

2 Veränderung durch Kommunikation gestalten – der Ansatz des Art of Hosting Das Ziel einer grundlegenden Neuorientierung unserer Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne der Nachhaltigkeit erfordert Interventionen auf vielen unterschiedlichen Ebenen und von unterschiedlichen Akteuren und Akteurinnen. Ein solcher Prozess erfordert (wie bereits erwähnt) vor allem auch Räume, in denen Menschen aus verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft zusammenkommen, in denen sie in einer tiefgehenden Weise gemeinsam reflektieren und zu neuen Einsichten und Lösungen gelangen können. Die Fülle der Konferenzen, Tagungen, Workshops zu nachhaltigkeitsorientierten Themen seit dem ersten globalen Umwelt- und Klimagipfel in Rio 1992 hat trotz oft ambitioniertem Anspruch in Summe relativ wenig bewirkt – misst man ihren Erfolg an Indikatoren wie Energie-, Ressourcenverbräuche, Emissions- und Müllmengen, Konsum von materiellen Gütern, Fernreisen etc.3, die alle – besonders stark in westlichen Gesellschaften – nach wie vor in eine nicht-nachhaltige Richtung weisen. Wie können wir also die Wirkung solcher Veranstaltungen, bei welchen viele engagierte Menschen zusammenkommen und die ein Baustein zu einem Umdenken und Umlenken darstellen könnten,

3Vgl.

Schor 2010, zit. nach Sommer und Welzer 2014, S. 20.

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erhöhen? Was bedeutet es konkret, Prozesse mit transformativer Qualität zu ­kreieren? Die Autorinnen gestalten seit einigen Jahren Veranstaltungen nach Art of ­Hosting bzw. nach Ansätzen mit verwandten Zugängen wie bspw. der Interventionsforschung (Krainer und Lerchster 2012; Hübner et al. 2014; Hübner 2012a; ­Hübner et al. 2018). Art of Hosting ist praxiserprobtes Wissen über Organisationen aus systemischer Sicht, zu Kommunikation und Veränderung. Es ist Erfahrungswissen über Prozesse, das von vielen Praktikern und Praktikerinnen in der ganzen Welt zusammengetragen, angewandt und weiterentwickelt wird. Dieses Wissen, das auch eine bestimmte Haltung der wertschätzenden Begegnung auf Augenhöhe voraussetzt, ermöglicht eine Qualität der Kommunikation und der Prozessgestaltung, die sich förderlich auf die Qualität der Ergebnisse bzw. auf die Wirksamkeit des Prozesses auswirkt. Im Folgenden werden wir Art of Hosting in Grundzügen vorstellen, dessen Wurzeln und Grundannahmen (Abschn. 3) erläutern sowie darlegen, welche Elemente des Art of Hosting im Besonderen dazu beitragen, dass die Kommunikation bzw. der Prozess eine transformative Wirkung entfalten können.

2.1 Was bedeutet transformative Qualität der Kommunikation? Kommunikation mit transformativem Anspruch ist voraussetzungsvoll wie im Folgenden ausgeführt wird. Der Physiker David Bohm (1917–1992) stellte grundlegende Überlegungen zum Dialog als „Intensivierung des Gesprächs“ an. Diese Vertiefung wird durch die Beachtung gewisser Prinzipien (s. u.) generiert. Gefühle, Wertungen, Vorannahmen, die das Denken und Handeln der Teilnehmenden lenken, können so ins Bewusstsein gelangen. Daraus entsteht zugleich ein tieferes Verstehen der Dialogpartner und -partnerinnen untereinander, des besprochenen Sachzusammenhangs und der eigenen inneren Prozesse. Auf diesem Weg eröffnet sich die Möglichkeit, Standpunkte und Haltungen zu verändern. Für Bohm ist der Dialog nicht nur eine Form der Kommunikation, sondern auch ein Weg zu einer grundlegenden Transformation einzelner Menschen und von Gruppen. Im Dialogue-Project unter William Isaacs (MIT) wurde der Dialog in Gruppen nach Bohm (2002) u. a. von Peter Senge, Freeman Dhority und Peter Garrett (Holman und Devane 1999; Seliger 2015) weiterentwickelt, in mehreren Praxisfeldern erfolgreich erprobt, um eine „Lernende Organisation“ zu schaffen und den Dialog als eine Methode in Unternehmen und Organisationen anzuwenden. Isaacs sieht folgende Dialog-Fähigkeiten als elementar an (Isaacs 2002):

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• Zuhören als das Auf-sich-wirken-lassen des Gehörten aus einem inneren Schweigen heraus. • Respektieren als das Verzichten auf jede Form von Abwehr, Schuldzuweisung, Abwertung oder Kritik gegenüber den Dialogpartnern. • Suspendieren als Erkennen und Beobachten eigener Gedanken, Emotionen und Meinungen, ohne in eine Fixierung zu verfallen. • Artikulieren als das Finden der eigenen, authentischen Sprache und des Aussprechens der eigenen Wahrheit. Neben diesen elementaren Prinzipien ist das Konzept des „Containers“ wesentlich für einen transformativen Dialog. Ein solcher Container ist als Raum oder Setting zu verstehen, in dem die Intensität des direkten, vertrauensvollen, zwischenmenschlichen Gespräches „gefahrlos“ ausgeführt und eingeübt werden kann. Insofern halten wir die deutsche Übersetzung Vertrauensraum für zutreffend. Ohne einen solchen Vertrauensraum gibt es nach Isaacs keinen Dialog. Die Bohmschen Überlegungen zur transformativen Qualität von Kommunikation sind grundlegend für den Ansatz des Art of Hostings. Im Art of Hosting geht es allerdings – zusätzlich zur Kunst des Dialogs oder der guten Gesprächsführung – in einem noch viel umfassenderen Sinne darum, mittels verschiedener Gestaltungselemente zu dieser spezifischen Qualität eines Prozesses beizutragen, in dem Menschen bereit und imstande sind, sich auf die Entwicklung von Neuem und auf Veränderung einzulassen.

2.2 Wurzeln und Entstehung des Art of Hosting Die Entwicklung von Art of Hosting entsprang dem Bedürfnis, besser zu verstehen, unter welchen Rahmenbedingungen gute Gespräche in und mit (unterschiedlichen) Akteurs-Gruppen – die Basis für Veränderung – gelingen und diese damit reproduzierbar zu machen. Art of Hosting steht in einer langen Tradition der organisationstheoretischen Auseinandersetzung damit, wie Veränderungen in sozialen Systemen generiert werden können. Entwickelt wurde Art of Hosting jedoch von Praktikern und Praktikerinnen4: Einige Organisationsberaterinnen und Prozessbegleiter begannen in den 1990er Jahren, ihr Erfahrungswissen zu folgenden Fragen zusammenzutragen:

4Diese

Tatsache erklärt auch, warum es kaum Publikationen dazu gibt.

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Wann verlaufen Gruppenprozesse besonders kraftvoll? Wie können wir diese Qualität gezielt herstellen? Was sind die optimalen Bedingungen, damit sich Kreativität entfalten kann? Welche besonderen Bedingungen fördern Selbstorganisation? Das Ergebnis ist ein Open Source-Wissenspool eines heute weltweiten Netzwerks von Art of Hosting-Praktikern und Praktikerinnen, die den Wissensbestand in Communities of Practice5, auf Plattformen und Foren beständig erweitern und weiterentwickeln – ein Beispiel für einen lebendigen co-kreativen Prozess. Art of Hosting umfasst im Wesentlichen Methoden und Prozesswissen sowie eine spezifische Grundhaltung. Mit der Bezeichnung The Art of Hosting and Harvesting Conversations that Matter6 wollten die Gründer und Gründerinnen zweierlei transportieren: Die Fähigkeiten, gute und kraftvolle Kommunikationsund Diskursprozesse zu gestalten, sind jenen des guten Gastgebens sehr ähnlich; das Gastgeben oder Hosting ist zudem eine kontinuierlich zu verfeinernde Praxis, um wahre Kunstfertigkeit darin zu erlangen. Art of Hosting ist also kein einmal zu erwerbendes Wissen, sondern ein kontinuierlicher Lernprozess. Art of Hosting ist nicht grundlegend neu, vielmehr baut es auf bestehenden Theorien – zu Organisationen, Gruppenprozessen, Selbstorganisation – und Methoden auf. Die Methoden, die heute als die Kernmethoden des Art of Hosting gelten – Open Space, Appreciative Inquiry, Circle/Bohmscher Dialog, World Café – wurden in den 1980er und 1990er Jahren7 entwickelt. Sie gelten als sogenannte Großgruppenmethoden und sind von ihrer Entstehungsgeschichte her eng verbunden mit der Organisationsentwicklung, der Gruppendynamik, dem Action Learning und vor allem der systemischen Organisationstheorie. Die Arbeit mit Großgruppen konnte sich erst mit dem veränderten Organisationsverständnis des

5Communities

of Practice sind Gruppen oder Gemeinschaften, die ein gemeinsames Ziel und eine geteilte Praxis haben und die sich zum Zweck des gemeinsamen Lernens zusammenfinden. Das Konzept der Community of Practice wurde von Etienne Wenger und Jean Lave (1998) entwickelt. 6Später The Art of Hosting and Harvesting Conversations that Matter – die zentrale Bedeutung des Harvestings im Art of Hosting und die Ausdifferenzierung der Ebenen und Herangehensweisen des Erntens wurde insbesondere von Monica Nissén und Chris Corrigan ins AoH-Community eingebracht. 7Open Space Technology – Harrison Owen (1985), Dialogmethode nach Bohm – William Isaacs, Peter Senge, Freeman Dhority, Peter Garrett et al. (1985–1994), Appreciative Inquiry – David Cooperider, Suresh Srivastra (1987), World Cafe – Juanita Brown, David Isaacs (1995). Vgl. Holman und Devane (1999).

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systemischen Ansatzes (Luhmann 1984; von Förster und von Glasersfeld 1999) entwickeln. Indem Organisationen als Kommunikationssysteme begriffen wurden, rückte die Neugestaltung organisationaler bzw. institutioneller kollektiver Kommunikation als Motor und Hebel für Veränderung in den Blickpunkt.8 Der Kern der Art of Hosting-Philosophie ist die Grundüberzeugung, dass wirklich gute tiefgehende reflexive Gespräche Menschen aus dem „Downloadmodus“ (Vgl. Theorie U von Otto F. Scharmer 2013, 2018) in einen schöpferischen Modus bringen und auf diese Weise Neues entstehen kann. Dieser Sichtweise liegen einige Grundannahmen zugrunde, die wir im Folgenden explizieren.

2.3 Grundannahmen des Art of Hosting Dem Art of Hosting liegen Grundannahmen über die Natur von Organisationen und über Veränderung zugrunde, die vor allem auf der systemischen Organisationstheorie fußen. Organisationen sind lebende Systeme: Emergenzfähigkeit Eines der zentralen mentalen Modelle im Art of Hosting ist das der Organisation als lebendes System (Luhmann 1984). Viele der besonderen Qualitäten von lebenden Systemen sind im Art of Hosting Grundelemente des systemischen Prozessverständnisses: Lebende Systeme, wie sie in der Natur beobachtbar sind, unterliegen ständigem Wandel. Sie sind nicht isoliert, sondern Teil der Entwicklung der Nachbarschaft. Sie tendieren zu Vielfalt und diese Vielfalt erhöht auch die Chance des Systems auf Überleben. Damit in Zusammenhang steht die Erkenntnis, dass neue Verbindungen zu neuen Möglichkeiten führen. So wie die Natur nicht darauf abzielt perfekte Lösungen zu finden, sondern solche, die praktikabel sind, gilt das in diesem Grundverständnis auch für Organisationen. Und

8Dieses

radikal neue Verständnis von Organisationen machte Großgruppenprozesse erst möglich: Nicht die einzelnen Individuen müssen sich ändern, damit die Organisation sich ändert – das war der Ansatz der Gruppendynamik –, sondern die Kommunikation muss sich ändern, deren „Umwelten“ Menschen sind. Die ersten wegweisenden Versuche, um Veränderungen in Organisationen durch Großgruppenprozesse zu erzielen, kamen von Fred Emery und Eric Trist, die 1960 die Search Conference entwickelten (vgl. Seliger 2015, S. 49).

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nicht zuletzt: Lebende Systeme – d. h. komplexe Systeme – haben die Fähigkeit zur Selbstorganisation und diese kann unter bestimmten Bedingungen zu Emergenz führen, also zur spontanen Herausbildung von völlig neuen Qualitäten und Strukturen. Ausgehend also von der Annahme, dass Organisationen lebende Systeme sind, trachtet Art of Hosting danach, Bedingungen zu schaffen, unter denen in einem kollaborativen Prozess Neues emergieren kann. Und zwar Neues in einer Qualität, wie es für dieses System Sinn macht. Zum tieferen Verständnis von Emergenz trägt bei, die Entstehungsbedingungen von Innovation und Kreativität zu kennen. Innovation im Grenzbereich zwischen Ordnung und Chaos: Knirschzonen „Nichts kann existieren ohne Ordnung. Nichts kann entstehen ohne Chaos.“ Dieses Zitat von Albert Einstein trifft den Kern der Annahmen des Art of Hostings hinsichtlich Ordnung und Chaos sehr präzise. Chaos, Ordnung und Selbstorganisation sind Teile komplexer dynamischer Systeme (vgl. Mainzer 2008). Innovationen tauchen selten dort auf, wo ein hohes Maß an Regeln und Standardisierung vorherrscht. Sie entstehen – wie Einstein es benannte – im Grenzbereich zwischen Ordnung und Chaos. In diesem Raum können neue Verbindungen, neue Möglichkeiten entstehen oder neue Einsichten emergieren, oft nach einer Phase des Knirschens. Der Begriff der Emergenz stammt aus der Systemtheorie und beschreibt ein Phänomen im Zuge der Selbstorganisation. Infolge der Interaktion seiner Teile können sich in einem System neue Eigenschaften und Strukturen herausbilden. Voraussetzung für die Emergenz von Neuem in einem sozialen Prozess, ist die Bereitschaft der Akteure und Akteurinnen oder Teilnehmenden, bekanntes Terrain zu verlassen und sich ein Stück weit in die Zone des Nicht-Wissens hineinzubegeben. Dieser Schritt des Sich-Einlassens auf Unbekanntes, Unsicheres, Neues bedarf einer achtsamen und zugleich kraftvollen Begleitung, die imstande ist, den notwendigen sicheren Rahmen zu geben, den Menschen brauchen, um diesen Schritt zu tun. Diese Art der Begleitung, des Hostings, schafft und beschützt den bereits oben beschriebenen „Container“, den Vertrauensraum und stellt ein zentrales Element des Art of Hosting dar, wie weiter unten ausgeführt wird. Die Acht Atemzüge – ein Prozessmodell: Emergenz ermöglichen Die Entstehungsbedingungen der oben beschriebenen angestrebten Emergenz von Neuem in einem Prozess werden im Art of Hosting im Prozessmodell der Acht Atemzüge noch weiter vertieft und für die Anwendung in der Praxis aufbereitet. Jeder Schritt in der Vorbereitung und Durchführung eines Prozesses wird

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symbolisch als Atemzug gedacht9 – als Abfolge von Divergenz, Emergenz und Konvergenz und repräsentiert damit den Idealtypus eines ergebnisorientierten Innovationsprozesses. Die Acht Atemzüge10 strukturieren den Prozess, das Modell führt Schritt für Schritt durch die Planung11 und hat das Ziel, kollektive Klarheit herzustellen. So wie der Brustkorb sich weitet beim Einatmen, repräsentiert diese erste Phase jedes Planungsschritts die Divergenz: das Öffnen, sich orientieren, Fragen formulieren, Ideen sammeln, Diversität der Sichtweisen zulassen bzw. dazu ermuntern etc. Das Ausatmen symbolisiert die Konvergenz, also das Schließen, das Fokussieren, die Auswahl aus den Optionen, die Klarheit über den nächsten Schritt, das Entscheiden. Dazwischen liegt ein oft kritischer Moment – im Art of Hosting als Knirschzone („groan zone“) bezeichnet. Es ist dies die Phase, in der häufig Verwirrung ob der vielen Möglichkeiten, Spannung, Frustration oder Ratlosigkeit auftauchen: Ein schwieriger Moment im Gruppenprozess, aber ein höchst wertvoller mit hohem Potenzial für Neues, das genau hier emergieren kann, in diesem Zwischenraum zwischen Chaos und Ordnung.

3 Die zentralen Elemente der Art of Hosting-Praxis In diesem Kapitel sollen nun die Gestaltungselemente dargestellt werden, die (aus unserer Sicht) das Potenzial haben, Gespräche zu relevanten Themen zu intensivieren und damit Veranstaltungen und Prozesse kreativ – präziser co-kreativ – und transformativ werden zu lassen.

3.1 Durch Diversität ein vollständiges Bild und ganzheitliche Lösungen generieren Entwickeln wir Problemlösungen in relativ homogenen Gruppen von Fachexpertinnen und -experten, wie das sehr oft der Fall ist, so besteht die Gefahr,

9Vgl.

artofhosting.ning.com. auch Diverge/Converge Model von Kathleen D. Dannemiller und Charles Tyson, den Erfindern der Real Time Strategic Change-Großgruppenmethode (Dannemiller Tyson Associates 2000). 11Manche Schritte, wie vor allem die Ernte oder auch das Klären des Sinns und Zwecks, sind iterativ angelegt und werden während des gesamten Prozesses immer wieder aufgegriffen. 10Siehe

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dass diese Lösungen viele Interessen und Perspektiven ausblenden, weil sie gar nicht in den Blick kommen, also einseitig und wenig kreativ sind. Auch die Umsetzung solcher Lösungen gestaltet sich meist schwierig, weil die Hauptbetroffenen ihre Bedarfe und Interessen nicht berücksichtigt sehen. Im Art of Hosting ist daher die Identifikation möglichst aller relevanten Akteure und Akteurinnen für die Entwicklung und Umsetzung von Ergebnissen ein zentraler Planungsschritt.12 Wir trachten danach, gezielt Diversität herzustellen durch die Einladung „des ganzen Systems“, oder anders gesagt, wir bringen (möglichst) die Vielfalt der Perspektiven im jeweiligen Feld in den Raum. Vielfalt inspiriert, zeigt neue Zugänge auf und macht die Komplexität des Themas, die Interdependenz und das Ineinanderwirken in einem System deutlich. Die Vielfalt vervollständigt das Bild der Ausgangssituation und des gewünschten Ziels, sowie der möglichen Barrieren auf dem Weg dorthin, indem neue Zugänge und Perspektiven aufgezeigt werden. Und zugleich wissen wir aus der Systemtheorie, dass Lösungen von Akteuren und Akteurinnen dann bereitwillig unterstützt werden, wenn diese bei der Entwicklung derselben beteiligt waren. Mit dem Bestreben, andere Sichtweisen auf Gesellschaft und Entwicklungen zu erschließen und damit Differenz zu individuellen bzw. subjektiven Positionen zu schaffen, zielt Art of Hosting – ähnlich wie die Interventionsforschung – unter anderem auch darauf, Bewusstsein zu erzeugen, „das sich aus der Gewinnung einer reflexiven Distanz zu jenen Verhältnissen ergibt, an denen man selbst teilhat.“ (Paul-Horn und Krainz 2009).

3.2 Für kollektive Klarheit im Prozess sorgen Zweck und Leitfrage Die gemeinsame Klarheit darüber, was die Absicht, der Sinn und Zweck (engl. purpose) einer Aktivität, eines Prozesses sind, bildet die Basis jeder gut funktionierenden Zusammenarbeit. Erst wenn alle Beteiligten das Gesamtbild verstehen und erkennen, warum Handeln nötig ist, entsteht Engagement und Commitment sowie Ziel- und Ergebnisorientierung. Auf diese Weise kann der Zweck zum Kompass, zum leitenden roten Faden für ein gemeinsames Vorhaben werden.

12Vielfalt

umfasst im speziellen Fall Fachexpertinnen und Praktiker, technologische, ökologische wie auch soziale Perspektiven, unterschiedliche soziale, etwa auch marginalisierte Gruppen etc.

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„Collective clarity of purpose is the invisible leader“ konstatierte bereits die 1933 verstorbene amerikanische Managementtheoretikerin Mary Parker Follett. Nach der kollektiven Klärung des Purpose im Team, das den Prozess plant und begleitet, wird von diesem Zweck ausgehend die Leitfrage für den Prozess formuliert: Was ist eine einfache und kraftvolle Frage, auf die wir mit diesem Prozess eine Antwort suchen und die den Zweck auf den Punkt bringt? Dieser Schritt ist methodisch wichtig, denn Fragen öffnen, lösen bei den Adressaten und Adressatinnen eine Suchbewegung aus, wecken Neugier, inspirieren und geben Energie. Im Zuge eines längeren Prozesses kann sich der Zweck und damit die Leitfrage auch verändern, es ist daher empfehlenswert, als Projektteam regelmäßig gemeinsam zu überprüfen, ob die Kompassnadel noch richtig ausschlägt und gegebenenfalls „nachzuschärfen“. Zusammenarbeit im Hosting-Team Klarheit zu erlangen über die unterschiedlichen Rollen und deren Aufgaben (z.  B.: strategische, organisatorisch-logistische, Moderation/Hosting, „Erntehelfer“) ist ein weiterer wichtiger Klärungsschritt zu Beginn der Planung. Ein zentraler Grundsatz im Art of Hosting lautet: Never host alone, also wenn möglich, als Host nicht alleine für alles verantwortlich zu sein. Ein gutes Team zusammenzustellen, in dem alle Kompetenzen, Fähigkeiten, das Commitment und das notwendige Wissen vorhanden sind, ist eine Aufgabe, die mit Bedacht erfolgt. Denn die Zusammenarbeit in dieser Gruppe ist bereits der erste co-kreative Prozess und die Basis für das Gelingen des Gesamtprozesses.

3.3 Öffnen für den transformativen Dialog Wie bereits erwähnt ist das Schaffen eines offenen und doch sicheren (virtuellen) Raumes wesentlich, damit Menschen den Schritt heraus aus dem schon Bekannten ins Neue, Unbekannte wagen können. Einer der wesentlichen Wirkfaktoren dabei ist die Kunst des Gastgebens, das Hosting in einer spezifischen Grundhaltung. Durch achtsames Hosting einen Vertrauensraum schaffen Hosting unterscheidet sich ganz wesentlich von herkömmlicher Moderation. Im Zentrum steht die Fähigkeit des „container building“, wie es in der ModeratorinnenSprache genannt wird, also die Fähigkeit, einen sicheren vertrauensvollen Raum für die Gruppe zu schaffen, in dem sich alle gehört fühlen, wohl fühlen und sich

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dadurch angstfrei einbringen können. Wodurch kreiert der Host einen solchen Raum? Das umfasst vor allem jene oft unsichtbaren Aspekte in der sozialen Interaktion, die dazu geeignet sind, Verbindung zwischen den Menschen herzustellen und gute soziale Beziehungen zu etablieren. Dazu gehört ganz wesentlich die Haltung der Moderatorin, ihre Präsenz und Authentizität, die sich im tiefen, achtsamen Zuhören und absichtsvollen Sprechen zeigt. Es wird also eine Atmosphäre geschaffen, in der das „Speak with intention and listen with attention“ für alle Beteiligten stattfinden kann. Diese Gesprächsqualitäten eines generativen sozialen Prozesses entstehen durch eine Reihe von gestalterischen Interventionen. Ganz wesentlich dabei ist die Verlangsamung des Dialogs (unterstützt z. B. durch den Einsatz eines Redegegenstands oder das Nacheinander-Sprechen im Kreis). Die Verlangsamung lässt Menschen achtsamer auf ihre eigenen Gedanken und Emotionen werden, eröffnet Raum für Nachspüren, Wirken-Lassen, fördert also das Lauschen auf den inneren Prozess, auf die innere Resonanz und ist Voraussetzung für eine Veränderung der eigenen Perspektive. Das wiederum ermöglicht das Finden und Aussprechen der eigenen, authentischen „Wahrheit“ und erzeugt mit der Zeit die Qualität des intentionalen Sprechens – also nur dann zu sprechen, wenn man etwas (Neues) zu sagen hat. Wesentlich für das Entstehen eines Vertrauensraumes ist zudem, dass die Hosts jeden Beitrag vor Bewertungen, Schuldzuweisungen oder Abwertungen radikal „schützen“. Es ist deren Aufgabe, diese Achtsamkeit und Klarheit „vorzuleben“, immer wieder herzustellen und auch bei anderen einzumahnen, wenn nötig. Verbindung und Vertrauen in einem Prozess entstehen zudem durch gestalterische Elemente wie etwa: Gutes Framing, also einleitend einen Rahmen zu schaffen, Orientierung zu geben, worum es in diesem Prozess, in dieser Veranstaltung gehen wird, was der Zweck des Zusammenkommens ist, welche Ergebnisse erzielt werden sollen; der Check-in – also Raum und Zeit zu geben für das Ankommen, das Einander-Wahrnehmen, in Kontakt kommen, „warm werden“ und sich als Person zu zeigen. Analog dazu gibt es am Ende ein Check-out, das ein Wort oder eine Geste sein kann oder auch ein Resümee jeder/s Einzelnen in der Runde. Verbindung entsteht aber vor allem durch gute Gespräche, die am besten in kleinen Gruppen gelingen – entlang fokussierender Fragen; durch Reflexionsphasen in Dyaden oder Triaden zwischen den verschiedenen Sessions und Interaktionen unterschiedlichster Art, die auflockern oder vertiefen, die Menschen in immer anderen Konstellationen in Austausch bringen, aber immer im Kontext des großen Ganzen (dem Zweck, siehe unten) geplant werden.

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Eine weitere wesentliche Voraussetzung für einen kreativen Prozess ist zudem das profunde Verständnis des Prozessmodells Divergenz/Konvergenz (der Acht Atemzüge), sowie die bereits erwähnte Fähigkeit des Hosts, den „Raum zu halten“. Das bedeutet, auch in Prozessphasen, wo Chaos, Verwirrung, Ratlosigkeit oder Aggressionen auftauchen, diese Spannung auszuhalten bzw. für die Gruppe aushaltbar zu machen, den Raum für Emergenz offen zu halten und nicht vorzeitig auf eine (leichte/erleichternde) Einigung, eine Entscheidung zuzusteuern, was möglicherweise hier auftauchendes Neues verhindert. Die Qualitäten, die einen guten Host ausmachen, sind anspruchsvoll und keine einfach erlern- und anwendbare Kniffe in der Moderation; sie müssen – um zur vollen Entfaltung zu gelangen – gemäß der Art of Hosting-Philosophie in einem kontinuierlichen persönlichen Lern- und Entwicklungsprozess verfeinert und vertieft werden, und sind eine lebenslange Praxis. Im Art of Hosting wird dieser Weg der Vierfache Pfad oder die Vier Dimensionen der Kunst des Hostings13 genannt. Denn für jeden partizipativen Prozess gilt die Feststellung des von Otto Scharmer interviewten Bill O’Brien, dem langjährigen CEO der Hannover Insurance: „The success of an intervention depends on the interior condition of the intervenor“ (Scharmer 2018, S. 7). Im Art of Hosting sind nicht nur die Qualitäten des Dialog-Raumes zentral, die erst das transformative Potenzial von Beteiligung erschließen, in dem Menschen sich öffnen und in Gesprächen verbinden können, es geht auch um die Atmosphäre des konkreten physischen Raumes. Qualität des physischen Raumes So banal es klingt: Menschen sind dann bereit, sich intensiv einzubringen und zu arbeiten, wenn sie sich wohlfühlen und auf ihre Bedürfnisse geachtet wird. Aus diesem Grund sorgt bei Art of Hosting-Veranstaltungen ein Raum-Host (jemand vom Hosting Team) für die Infrastruktur, Logistik und ansprechende Gestaltung des Raumes. Damit bekommen diese Aspekte, die auf eine subtile Weise wesentlich zum Gelingen einer Veranstaltung beitragen, größere Aufmerksamkeit. Gleichzeitig werden damit die Prozess-Hosts von diesen Aufgaben entlastet und können sich ihrer Kernaufgabe – der Gestaltung des virtuellen Raumes – widmen.

13Die

vier grundlegenden Praktiken heißen: 1 – Präsent und authentisch sein, 2 – Gespräche üben und Praxis erlangen, 3 – Zu Gesprächen einladen/Räume schaffen, 4 – In einer Gemeinschaft von Lernenden gemeinsam kreativ sein.

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3.4 Wirkung sichern durch gutes „Ernten“ Der besondere Fokus auf die Ergebnisse prägt die Planung von Beginn an und gewährleistet, dass nicht nur gute Gespräche geführt werden, sondern dass diese auch über den Prozess/die Veranstaltung hinaus Wirkung entfalten und mit den Ergebnissen danach gut weitergearbeitet werden kann. Ernten im Sinne des Art of Hosting bedeutet jedoch nicht nur, Ergebnisse festzuhalten, sondern auch individuelle und kollektive Lernprozesse sichtbar zu machen, sie zu unterstützen und damit die Qualität der Ergebnisse zu vertiefen. Mit den verschiedenen Werkzeugen des Erntens können während des Prozesses Einsichten bewusst und transparent gemacht und ein tiefergehendes Verständnis der in einem System wirksamen Muster entwickelt werden. Das ermöglicht der Gruppe noch während des Prozesses/der Veranstaltung auf diesen Lernprozessen aufzubauen und ein vielschichtigeres Verständnis des Problems oder der Lösungen zu entwickeln. Eine „gute Ernte“ hängt ganz wesentlich von der Qualität der mit Bedacht formulierten Fragen ab und von den Lernprozessen, die während des Prozesses durch bewusst initiierte Reflexionsphasen unterstützt werden. Die Kunst der guten Frageformulierung ist ebenfalls Bestandteil des Art of Hostings. Im folgenden Kapitel zeigen wir am Beispiel des wissenschaftlichen Symposiums „Konsum neu denken – das transformative Potenzial von Konsum“, in welcher Art und Weise Art of Hosting angewendet wurde.

4 Art of Hosting beim Symposium „Konsum neu denken 2017“14 4.1 Akteure und Akteurinnen aus Wissenschaft und Gesellschaft treten in einen Diskurs Angesichts der – wie eingangs beschrieben – zu erwartenden, grundlegenden gesellschaftlichen Umbrüche gilt es, Praktiken in vielen Bereichen unserer beruflichen und privaten Aktivitäten neu zu denken, so auch Konsum. Welche Risiken und Chancen sind mit Konsum verbunden? Kann Konsum transformative Kraft

14Das

Programm des Symposiums kann unter https://conference.aau.at/event/124/page/8 heruntergeladen werden.

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entfalten und wenn ja, wie? Was transportiert der Konsumbegriff und ist er noch adäquat? Diese Fragen wurden im 3. Symposium nicht nur aus der Perspektive der Wissenschaft, sondern gemeinsam mit Vertretern und Vertreterinnen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche diskutiert. Die mit einem gesellschaftlichen Wandel „by design not by disaster“ verbundene Herausforderung ist, jene transformativen Energien in wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen gesellschaftlichen Teilsystemen zu bündeln und gemeinsam neues Wissen und neue Wege zu generieren – und dennoch auch wissenschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Mit dem 3. Symposium wollten wir zur Generierung dieses neuen Wissens beitragen und wählten dafür Art of Hosting als unseren Zugang für Design, Durchführung und Nachbearbeitung der Konferenz. Wie wir die zentralen Elemente von Art of Hosting in diesen Prozess integriert haben, wollen wir im Folgenden erläutern. Diversität einladen Um die oben formulierten Ziele zu erreichen, war es wichtig, Design und Zielgruppen des Symposiums so aufeinander abzustimmen, dass die potenziellen Teilnehmenden nicht nur in ihren professionellen Funktionen, sondern auch als Konsumenten und Konsumentinnen adressiert werden und sich dementsprechend einbringen (können). Das Symposium richtete sich an wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Akteure und Akteurinnen, die im Themenfeld Konsum und Transformation forschen und arbeiten. Expertinnen und Experten aus Wissenschaft (konsum- und verbraucherrelevante Fragen in Forschung und Bildung aller Disziplinen) und Praxis (Politik, in NGOs, Akteure in freiwilligen Initiativen, in der Verbraucher-, Umwelt- oder Unternehmens-Beratung und allgemein) nahmen ebenso teil wie Vertreter und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft. Diese Vielfalt gelang durch einen Call for Inputs, der neben wissenschaftlichen Vorträgen auch zu von Praktikern geleiteten Workshops einlud sowie durch das bewusst breite Streuen der Einladung in unterschiedliche Netzwerke. Klarheit herstellen Die Herausforderung, die sich aus der Vielfalt der Themen und der zu adressierenden Akteursgruppen ergab, bestand darin, all die Menschen in ihren unterschiedlichen beruflichen und privaten Logiken zu erreichen. Das Kernteam (Omann/Hübner) hat gemeinsam mit dem Beirat (Repräsentanten und Repräsentantinnen aus Wissenschaft, Verwaltung und Interessensvertretung) den Zweck und Leitfragen formuliert. Darauf aufbauend wurde im Kernteam das Design des

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Symposiums erarbeitet, um die verschiedenen Logiken sichtbar und diskutierbar zu machen. Zweck des Symposiums war 1. die Öffnung eines Raumes für den Diskurs, 2. der Meinungen und Wissen von unterschiedlichen Akteuren aus verschiedenen Feldern und vor allem mit unterschiedlichen Perspektiven nicht nur zuließ, sondern durch diverse Formate förderte, und 3. anhand konkreter Beispiele aufzuzeigen, wie man vom Reden ins Tun, ins transformierende Handeln kommen kann. Die gemeinsam formulierte Leitfrage – „Wie kann Konsum so gestaltet bzw. der Diskurs darüber so geführt werden, dass er den Wandel hin zu einem ‚guten Leben für alle‘ unterstützen und mitgestalten kann?“ – hatte wissenschaftlichen wie praktischen Charakter und ermutigte zu ergebnisoffenen Gesprächen über organisatorisch-institutionelle und ideologische Grenzen hinweg. Wichtig bereits im Vorfeld war, klar zu machen, dass es bei dem Symposium – wie in der gesamten Symposiumsreihe auch – um ein Konsumverständnis geht, das weit über den reduktionistischen Kaufbegriff hinausgeht (siehe dazu u. a. Fridrich et al. 2014, 2017; Nessel, Tröger et al. 2018). Raum öffnen – und offen halten Um den Raum sowohl physisch als auch emotional und inhaltlich zu öffnen, bedarf es umfassender Vorbereitungen. Tischinseln für je acht Personen brachen räumlich mit dem sonst üblichen in Reihen zu einem Podium hin ausgerichteten Konferenzsetting, um damit eine partnerschaftliche Gesprächskultur zu fördern. Fragen auf den Tischinseln, die zum Gespräch anregen, sollten beitragen, dass die Teilnehmenden von Beginn an eine vertrauliche und partnerschaftliche Atmosphäre wahrnehmen, diese vertiefen und nutzen. Die Keynote-Redner und Rednerinnen „öffneten“ den Raum inhaltlich. Es gelang durch das gewählte Setting, die Haltung und professionelle Arbeit der beiden Hauptmoderatorinnen (und der Formate) den Raum auch emotional (sicher und vertrauensvoll) zu öffnen und damit den Rahmen zu schaffen, dass sich alle einbringen konnten und wollten (z. B. durch Murmelgespräche zu zweit oder dritt; Gruppenarbeiten; Tischhosts, die dafür sorgten, dass jede und jeder zu Wort kommt) sowie konträre Perspektiven hervorzubringen und sichtbar zu machen (z. B. durch stimulierende Fragen, oder durch die Einladung an alle, achtsam zuzuhören und absichtsvoll zu sprechen).

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Die Teilnehmenden wurden auch ermutigt, bewusst andere, vielleicht ungewohnte Rollen einzunehmen, damit andere Sichtweisen und Anliegen einzubringen und haben dies auch getan. Eine Vortragende, deren Rolle als Professorin dergestalt ist, in einer Veranstaltung Wissen weiter zu geben, hatte etwa nach ihrem Vortrag während der zwei Tage vor allem Fragen gestellt. Umgekehrt wurden die Teilnehmenden und meist Zuhörenden hier zu Erzählenden. Das ermöglichte Gespräche auf Augenhöhe und führte dazu, dass die Teilnehmenden sich stärker auf Interaktionen einließen, es wagten, Ideen zu formulieren und zur Diskussion zu stellen und damit sonst vielleicht Unausgesprochenes „zum Vorschein“ kam. Neue Ideen hervorlocken: Knirschen fruchtbar machen Die Phasen zwischen Divergenz und Konvergenz, in denen Verwirrung, Ratlosigkeit oder Aggressionen auftauchen können, werden im Art of Hosting Knirschzonen bezeichnet. Werden sie (aus)gehalten, können sie jene Phasen sein, die Neues hervorbringen. Die Emergenz von Neuem kann nicht vorab geplant werden. Allerdings kann auf die Knirschzonen besonders geachtet werden, sodass sie zu befruchtenden Phasen werden. Im Symposium entstanden Knirschzonen bspw. durch unterschiedliche Meinungen von Teilnehmenden und auch der Keynotesprecher darüber, wann und wie Konsum transformativ wirkt oder durch Verwirrungen angesichts der (zu?) vielen Fragen, die die Diskussionen nach den Vorträgen sowie bei den Gruppenarbeiten anleiteten. Durch sie entwickelten sich letztendlich engagierte und fruchtbare Diskussionen. Ebenso führte auch die besondere Art des Caterings, welches das Klimabündnis Kärnten, regionale Kleinbetriebe und Flüchtlinge in einer erstmaligen Kooperation organisierten, zu Knirschphasen, da manchmal das Wasser fehlte, zu wenig Pausenkaffee da war oder das Geschirr ausging. Die Moderatorinnen thematisierten diese Vorfälle im Plenum und baten die Teilnehmenden zu reflektieren, was diese Imperfektion bei ihnen auslöst und warum. Diese Wertungen und Gefühle aufzugreifen und als Ausgangspunkt für neue Wege und damit verknüpfte Probleme wahrzunehmen, hat die Gespräche befruchtet und somit Wirkung entfaltet. Auf diese Weise gelang es, dass anstelle der Mängel das Neue und Innovative stärker in den Vordergrund trat. Vieles dazu wurde in der Ernte festgehalten – Details können der Tagungsdokumentation ­entnommen werden15.

15https://conference.aau.at/event/124/

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4.2 Wirkung über das Event hinaus entfalten Die tatsächlichen Wirkungen eines Events sind schwer fassbar, es sei denn, die Teilnehmenden werden ex-post befragt, was selten der Fall ist. Eine gut vorbereitete Ernte16 ist eine wichtige Grundlage für das Wirken bzw. Nachwirken einer Veranstaltung. Das Zusammenfassen der Essenzen nach jeder Veranstaltungseinheit erlaubt den Teilnehmenden nochmal, tiefer in das Gehörte und Erlebte einzutauchen und regt individuelle und kollektive Lernprozesse an, die sich potenziell in veränderten Einstellungen und Praxen niederschlagen können. Für das Symposium wurden für jede der Sessions Erntefragen vorbereitet, die an der Leitfrage orientiert waren. Die Gruppenhosts brachten sie in die Diskussion ein und achteten darauf, dass die Essenzen jeder Diskussionsrunde festgehalten wurden. Es gab ein Team von Erntehelfern, das die Antworten in vorbereitete Templates (auf Flipcharts oder auf Powerpoint) eingetragen und im Plenum zusammengefasst vorgestellt hat. Dies ermöglichte allen die Teilhabe auch an jenen Gesprächen in Sessions, an denen man selbst nicht teilnehmen konnte.

4.3 Was hat die Anwendung von Art of Hosting gebracht? Das 3. Symposium „Konsum neu denken“ ging über ein klassisches wissenschaftliches Symposium hinaus. Das gewählte Format war eine Einladung, sich auf vielfältige Art und Weise zu begegnen, Sichtweisen und gemeinsame Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Es lud ein, sich auf Neues einzulassen, sich aktiv zu beteiligen, einander – egal ob aus der Wissenschaft oder aus der Praxis kommend – auf Augenhöhe zu begegnen, bewusst vertraute Rollen zu wechseln. Es ermöglichte vielfältige Reflexions- und Diskursprozesse durch die Einladung, immer wieder allein oder in kleinen Gruppen das Gehörte zu reflektieren. Die intensive Einstimmung zu Beginn beider Tage sowie das Ausklingen am Abend (bei einem Sunsetwalk durch ein Natura 2000-Gebiet und beim gemeinsamen Essen) ermöglichte, Menschen, die einander nicht kannten und die

16Näheres

zu den Inhalten der Ernte finden sich in der Tagungsdokumentation von Ebenwaldner et al. 2017 unter https://conference.aau.at/event/124/page/8.

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aus unterschiedlichen Feldern kamen, rasch miteinander ins Gespräch und auch zum Lachen zu bringen. Es waren die verschiedenen Menschen, die vielen (kleinen) Gespräche, das gute Zuhören, die Aufmerksamkeit in den Räumen, der spürbare Spaß, die Anerkennung aller Ideen, der wissenschaftlichen wie auch der praktischen, die dieses Symposium besonders gemacht haben und die Art of Hosting ermöglicht hat. Das Design, die eingesetzten partizipativen Methoden, der Raum sowie das Hosting erwiesen sich als fruchtbarer Rahmen, sodass sich alle einbringen konnten und neue Ideen hervorgebracht wurden, die dann in der Ernte sozusagen als Schatz zusammengeführt worden sind. Neben diesem bewirkte vielleicht auch der Versuch des Organisationsteams „to walk the talk“ (Ausrichtung als Green Event, vegetarisches Catering vom Klimabündnis Kärnten gemeinsam mit einer geflüchteten Familie) bei den Teilnehmenden weiteres Reflektieren, Nachspüren oder Berührt-Sein. Die Rückmeldungen gleich nach dem Symposium zeigten, dass das Ziel, einen Vertrauensraum für Diskurse über institutionelle Logiken hinweg zu schaffen, erreicht wurde. Dieses Buch als ein Folgeschritt des Symposiums war auch Anregung, mit dem vorliegenden Beitrag die Methode des Art of Hosting auch „in die Wissenschaft zu tragen“. Ausblick auf weitere Forschung Die Vorbereitung und Durchführung des Symposiums sowie auch die Arbeit an dem vorliegenden Beitrag hat zudem zu Erkenntnissen und offenen Fragen auf verschiedenen Ebenen geführt: 1. Reflexion der Methode: Aus Sicht des Kernteams interessant – wenn auch nicht überraschend – ist, wie sehr sich Art of Hosting und die (Klagenfurter) Interventionsforschung als Konzept kollektiver Kommunikations- und Entscheidungsprozesse eigentlich gut ergänzen. Ob es „nur“ die gleiche Haltung im Umgang mit Individuen und Kollektiven und die Akzeptanz der Nicht-Steuerbarkeit lebender Systeme ist oder darüber hinaus noch weitere Gemeinsamkeiten bzw. welche Unterschiede bestehen, die sich gegenseitig befruchten könnten, wäre zu prüfen. 2. Offenheit für Subjektivität im wissenschaftlichen Kontext: Wir haben in diesem Symposium, ebenso auch bereits bei anderen Veranstaltungen, die Beobachtung gemacht, dass Menschen mit nicht-wissenschaftlichem Hintergrund sich offenbar leichter auf interaktive Formate einlassen können, die auch die Ebenen der Emotionen, des Erfahrungswissens oder der Intuition

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ansprechen als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Wir schreiben das dem Umstand zu, dass sich in der Wissenschaft tätige Personen vorrangig über kognitives Wissen definieren bzw. die Kommunikation darüber im Vordergrund steht. Das Prinzip des „publish or parish“ und die damit einhergehende Konkurrenzsituation um Forschungsprojekte und unbefristete Stellen, erschweren es zudem, in die Verbundenheit und Kollaboration zu gehen. Die Suche nach Lösungen für die komplexen Herausforderungen erfordert hingegen mehr als Faktenwissen: Unsicherheiten und Zweifel, intuitives und Erfahrungswissen sind wertvolle Beiträge für die Entwicklung von ganzheitlichen Lösungen. Es wäre interessant, diese Beobachtungen zu überprüfen, verbunden mit der Frage: Was brauchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um sich auch für diese subjektiven Formen des Wissens zu öffnen, die durch Art of Hosting stark angesprochen werden? Diese Punkte könnten in zukünftigen transdisziplinären Forschungsprojekten bzw. wissenschaftlichen Veranstaltungen, die nach Art of Hosting durchgeführt werden, untersucht und adressiert werden, um die transformative Wirkung von Wissenschaft und ihren Beitrag zu einem Change by Design der gesellschaftlichen Umbrüche beizutragen.

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