Das Tempelwort Jesu: Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament 9783666538681, 3525538685, 9783525538685

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Das Tempelwort Jesu: Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament
 9783666538681, 3525538685, 9783525538685

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V5R

Dem Gedenken meiner Mutter

K U R T PAESLER

Das Tempelwort Jesu Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schräge und Rudolf Smend 184. Heft der ganzen Reihe

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaujhahme Paesler, Kurt: Das Tempelwort Jesu: die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament / Kurt Paesler. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments; H. 184) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-525-53868-5

© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. — Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 1997 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet und ergänzt. Hier soll nun der Dank ausgesprochen werden, den ich vielen Menschen in reichem Maße schulde. An erster Stelle ist hier mein verehrter Lehrer und Doktorvater Prof. Dr. Jürgen Roloff zu nennen, der diese Studie über Jahre begleitete und auf einen guten Weg brachte. Ihm verdanke ich die Uberzeugung, daß der irdische Jesus und die Kirche als der Leib Christi Ausgangs- und Brennpunkt aller neutestamentlichen Theologie sind und daß ein sachgemäßes Verstehen der Schriften des Neuen Testaments nur möglich ist, wenn sie von diesen beiden Punkten her in den Blick genommen werden. Mein Dank gilt auch allen anderen, die meine neutestamentliche Arbeit bis hierher begleitet haben, insbesondere Herrn Prof. Georg Strecker, der mich in meiner göttinger Studienzeit zur Beschäftigung mit dem Thema „Tempelwort" angeregt hat. Im Neutestamentlichen Fachbereich der Theologischen Fakultät Erlangen habe ich viel freundliche Unterstützung und Rückhalt erfahren. Genannt werden müssen hier Frau Prof. Oda Wischmeyer, Dr. habil. Martin Meiser, Prof. Wolfgang Kraus, der mich auf die inhaltliche und sachliche Nähe von Tempelworttradition und Rom 3, 25f. aufmerksam machte, sowie besonders Dr. habil. Theo K. Heckel, der mir in vielen Gesprächen mit hilfreicher Kritik und weiterführenden Hinweisen zur Seite stand. Prof. Hans-Christoph Schmitt hat mich zu einem traditionsgeschichtlichen Exkurs in das Alte Testament ermutigt und die Dissertation bis zum Rigorosum begleitet. Ebenso hat mich Frau Dr. Susanne Owczarek von alttestamentlicher Seite her unterstützt und die Arbeit auch korrekturgelesen. An weiteren Korrekturlesern sind Matthias Meinecke und Ulrich Volkers zu nennen. Ihnen sei hier nochmal Dank gesagt, ebenso wie dem Freistaat Bayern, der diese Dissertation durch ein großzügiges Stipendium finanzierte.

6

Inhalt

Herrn Prof. Otto Merk, der mir als Korefferent auch wertvolle Hinweise für die Überarbeitung dieser Studie gab, sei hier herzlich Dank gesagt. Mein Dank gilt auch den Herren Professoren Wolfgang Schräge und Rudolf Smend für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments; Herr Prof. Schräge hat mir darüber hinaus wertvolle und gewinnbringende Hinweise zur Überarbeitung gegeben. Freundlich und sehr hilfreich begleitet wurde die Veröffentlichung dieser Studie von dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und hier besonders von Frau Renate Hartog. Die Veröffentlichung wurde durch einen Druckkostenzuschuß der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig mitgetragen; auch die Zantner-Busch-Stiftung Erlangen hat sich durch einen großzügigen Zuschuß an den Unkosten beteiligt. Dafür sein hier nochmal Dank gesagt. Last but not least gilt mein Dank meinen beiden Kollegen in der St. Thomas-Gemeinde Wolfenbüttel, Herrn Pfr. Eberhard Borrmann und Herrn Pfr. Thomas Gunkel, die mir während der Erstellung der Druckvorlagen quasi auf der Zielgeraden den Rücken freigehalten haben.

Gewidmet ist diese Studie meiner Mutter Anneliese, die den Abschluß dieser Arbeit nicht mehr erlebt hat.

Helmstedt, am Pfingstmontag 1999 Kurt Paesler

Inhalt Vorwort

5

Einleitung

9

1.

Quellenkritischer Teil

11

1.1.

Markus

11

1.1.1.

Mk 14, 58

11

1.1.1.1.

Zugehörigkeit zum ältesten Passionsbericht

15

1.1.1.2.

Analyse der Perikope

22

1.1.2.

Mk 15, 29-32

30

1.1.3.

Zur Frage einer vormarkinischen Redaktion

32

1.2. Mt 26, 61

40

1.3.

49

Acta 6, 14

1.4. Joh 2 , 1 3 - 2 2

61

1.5.

Mk 13, lf

76

1.6.

2.Kor 5, 1

93

1.7.

ThEv Log 71

111

1.8.

Ergebnisformulierung

121

2. Motivgeschichtlicher Teil

123

2.1. Das Jerusalemer Heiligtum

123

2.1.1. Exkurs: Alttestamentliche Voraussetzungen

124

2.1.2. Der Tempel zur Zeit Jesu

136

8

Inhalt

2.2. Die Erneuerung des Heiligtums

150

2.2.1. Die kultische Insuffizienz des Jerusalemer Heiligtums

150

2.2.2. Das himmlische Heiligtum/die himmlische Stadt

153

2.2.3. Die Erneuerung des irdischen Heiligtums

156

2.2.3.1. Ausblick:

164

Die Fortführung des Motivs in 4.Esra

2.2.4. Rückblick

165

2.3. Die Dreitagesfrist

167

2.4. Exegese von Joh 2, 19*

179

2.5. Auslegung von Mk 14, 58

203

2.6. Ergebnisformulierung

228

3.

229

Jesus und die Tempelworttradition

3.1. Mt 5, 23f

231

3.2. Mk 11,15-19

233

3.3. Lk 13, 34f

250

3.4. Mk 13, 2*

256

3.5. Jesus und das Tempelwort

262

Literaturverzeichnis

267

Stellenregister

300

Einleitung Es ist verwunderlich, daß dem neutestamentlichen Tempelwort bisher keine Monographie gewidmet wurde und auch nur wenige Aufsätze zu diesem Logion vorliegen1, stellt das Wort doch das im Neuen Testament meistzitierte Herrenwort dar.2 Möglicherweise liegt dieser bemerkenswerte Sachverhalt darin begründet, daß das Logion aufgrund seiner „Unbestimmtheit" - liegt ein echtes Herrenwort vor, ein zeitgenössisches Falschzeugnis oder eine theologische Aussage der späteren Gemeinde? Welche Variante stellt die älteste, authentische Tradition dar, was ist sekundärer Zusatz der Gemeinde bzw. des Redaktors? - von den Exegeten im Zusammenhang recht verschiedener neutestamentlicher Fragestellungen aufgegriffen und für die jeweils eigene Argumentation leicht fruchtbar gemacht werden kann. So formuliert sich nach G. Theissen3 im Tempelwort der zeitgenössische Konflikt von Stadt- und Landbevölkerung; nach J. Jeremias 4 verlieh Jesus durch seine Ankündigung einer „standesgemäßen" Tempelerneuerung seinem messianischen Anspruch Ausdruck, während R.A. Hoffmann das Tempelwort als zeitgenössisches „Gerede unter den Juden" 5 ansah, welches auf das Mißverstehen oder die böswillige Uberzeichnung der Verkündigung Jesu von seiten seiner Geg-

1 Als Beiträge direkt zum Tempelwort sind lediglich: R . A . Hoffmann, Das Wort Jesu von der Zerstörung und dem Wiederaufbau des Tempels, in: Neutestamentliche Studien. Georg Heinrici zu seinem 70. Geburtstag, ed. A. Deißmann/H. Windisch, U N T 6, Leipzig 1914, 1 3 0 - 1 3 9 , sowie G. Theissen, Die Tempelweissagung Jesu. Prophetie im Spannungsfeld von Stadt und Land, T h Z 32 (1976) 1 4 4 - 1 5 8 , und die beiden italienischen Beiträge von A . Biguzzi, Mc. 14,58: un tempio « χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς , Rev Bib 26 (1978) 2 2 5 - 2 4 0 , und Β. Prete, Formazione e storicitä del detto di Gesü sul tempio secondo Mc. 14,58, B i b O r 27 (1985) 3 - 1 6 , zu nennen. 2 A l s ausdrückliches Herrenwort begegnet das Tempellogion nur in Joh 2, 19, als angebliches Jesuslogion darüber hinaus in M k 14, 58 par Mt 26, 61; weiterhin wird es noch Mk 15, 29 par Mt 27, 40, Acta 6, 14, 2 . K o r 5, 1 sowie M k 13, 2 (nach der Lesart von D und W ) zitiert. 3 G. Theissen, Tempelweissagung, dort v.a. 1 4 6 - 1 5 3 ; eine breitere Darstellung der Position Theißens erfolgt in Abschnitt 2.4. dieser Studie. 4 J. Jeremias, Jesus, 3 9 - 4 4 . 5 R.A. Hoffmann, 139.

10

Einleitung

ner zurückgehe; E.P. Sanders6 schließlich macht das Tempellogion zum Haftpunkt seiner radikal eschatologisch ausgerichteten Interpretation der Verkündigung Jesu. Jedoch ist gerade bei E.P. Sanders zu beobachten, daß mit einem recht unproblematischen Gebrauch des Tempelworts im je eigenen Argumentationszusammenhang das Zurücktreten der literarkritischen Analyse des Logions gewissermaßen korrespondiert: Die Frage nach der ältesten, authentischen Form jenes für Sanders' Jesusbild so wichtigen Wortes wird letztlich nur in einer aus sechs Sätzen bestehenden Fußnote diskutiert. 7 Ähnlich wird in den beiden neueren theologiegeschichtlichen Entwürfen von K. Berger8 und F. Vouga9 lediglich zwischen einer „Kurzform" und einer „Langform" des Wortes unterschieden, wobei der genauere Textbestand beider Formen unklar bleibt - wiewohl beide Exegeten dem Tempellogion im folgenden durchaus eine Schlüsselfunktion in ihrer Sicht der Entfaltung einer Theologie des Urchristentums zukommen lassen.10 In einer Untersuchung, die sich speziell mit Sinn und Bedeutung des neutestamentlichen Tempelwortes befassen will, muß darum die literarkritische Betrachtung der Belege des Logions an erster Stelle stehen. Durch die Trennung von Tradition und Redaktion sollen die ältesten Traditionsfragmente herausgearbeitet und abschließend zu einer Art Stammbaum des Wortes zusammengefügt werden; zugleich wird auf diese Weise auch eine qualifizierte redaktionsgeschichtliche Betrachtung eines jeden Belegs im Kontext der jeweiligen Endredaktion möglich. Im zweiten Teil der Untersuchung soll sodann die Auslegung der ältesten Variante bzw. der ältesten Varianten des Wortes erfolgen, nachdem zuvor ihr motivgeschichtlicher Hintergrund erhellt wurde. In einem dritten Teil soll abschließend auf die theologische Frage eingegangen werden, wie das Verhältnis des Logions bzw. seiner im Neuen Testament dokumentierten Fortschreibung zur Verkündigung des irdischen Jesus zu bestimmen ist.

6 E.P. Sanders, Jesus, 71ff. 7 E.P. Sanders, Jesus, 7 3 A 6 6 . 8 K. Berger, Theologiegeschichte, 144.587.604f. 9 F. Vouga, 5 4 - 5 7 . 10 Eine kurze Darstellung beider Positionen findet sich in Abschnitt 2.4. dieser Studie.

1. Quellenkritischer Teil

Das Tempelwort Jesu dürfte das meistzitierte Logion des Neuen Testaments sein. In Mk 14, 58 sowie der synoptischen Parallele Mt 26, 61 findet es sich als Aussage falscher Zeugen im Synhedriumsprozeß gegen Jesus, später taucht es dann in abgewandelter Form in Mk 15, 29 par Mt 27, 40 als Verspottung Jesu am Kreuz wieder auf. In der lukanischen Passionsgeschichte fehlt jeder Bezug zum Tempelwort Jesu, jedoch wird in Acta 6, 14 der Märtyrer Stephanus ebenfalls von falschen Zeugen mit einem ähnlich lautenden Vorwurf belastet. Auch der Evangelist Johannes kennt das Tempelwort Jesu; in Joh 2, 19 stellt es jedoch keine Verleumdung, sondern vielmehr eine Selbstaussage Jesu dar, die von den Zuhörern allerdings falsch verstanden wird. Weiterhin steht auch Mk 13, 2 par Mt 24, 2 par Lk 21, 6 in gedanklicher und sprachlicher Nähe zum eigentlichen Tempelwort, was in den Kodizes D und W zur Interpolation von Mk 14, 58b geführt hat. Weiterhin liegt es für 2.Kor 5, 1 nahe, eine Verwandtschaft mit der TempelwortTradition anzunehmen. Im außerbiblischen Bereich findet sich das Tempelwort schließlich im Logion 71 des Thomas-Evangeliums. Aus der Fülle dieser Belege soll nun der älteste in der neutestamentlichen Tradition greifbare Textbestand des Wortes erhoben werden. Um eine Traditionsgeschichte des Logions nachzeichnen zu können, sollen die genannten Belege auf untereinander bestehende Abhängigkeitsverhältnisse untersucht werden. Zu diesem Zweck werden die oben aufgeführten Verse im Zusammenhang ihrer Perikopen redaktions- und literarkritisch analysiert. Begonnen wird hierbei mit der markinischen Variante.

1.1. Markus 1.1.1. M k 14, 58 Im ältesten Evangelium begegnet das Tempelwort Jesu in der Perikope von der Verhandlung Jesu vor dem Synhedrium (Mk 14, 55—65). Funk-

12

Q u e l l e n k r i t i s c h e r Teil

tion und Bedeutung des Logions im Zusammenhang der Perikope sind von verschiedenen Exegeten unterschiedlich beurteilt worden. In der frühesten wissenschaftlichen Schriftauslegung wurde das vermeintliche Jesuszitat Mk 14, 58 als bewußte Verfälschung des Herrenwortes Joh 2, 19 verstanden, so bei H.E.G. Paulus1 und H.A.W. Meyer. 2 Während diese in der Tradition des Rationalismus stehende Exegese bemüht war, die logische Stimmigkeit der Evangelientexte untereinander nachzuweisen, machte D.F. Strauß in seinem „Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet"3 in seiner Betrachtung der Verhandlung Jesu den — letztendlich berechtigten — Vorwurf „eines Anschlags gegen das bestehende jüdische Religionswesen" als historischen Kern der Anklage gegen Jesus aus.4 Für die „mythische Geschichte Jesu", also die Theologie der Evangelisten, sei es jedoch wichtig gewesen, daß Jesus schuldlos verurteilt worden sei, daher seien die Zeugen als falsche Zeugen eingeführt worden. Markus habe aus apologetischem Ubereifer noch zusätzlich die Worte χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς und ά χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς hinzugefügt, was eigentlich gar nicht mehr nötig gewesen wäre, Lukas verschweige das Tempelwort, und Johannes beziehe es sekundär auf den Leib Jesu. Bei Strauß findet sich somit erstmals der Zweifel an der Historizität des von den Evangelien so dargestellten Prozeßverlaufes sowie — ebenfalls erstmalig — der Gedanke einer in welcher Form auch immer auf die Geschichte Jesu zurückgehenden Urgestalt des Tempelwortes, die Strauß freilich nicht näher zu bestimmen versucht, und einer jeweils bewußten Überarbeitung durch die Evangelisten. Ausgebaut wurde Strauß' Position durch J. Wellhausen 6 , der in der in Mk 14, 59 geschehenden Qualifizierung des Tempelwortes Jesu als falscher Beschuldigung die Redaktion des Evangelisten am Werk sah; Hauptanklagepunkt gegen Jesus seien tatsächlich blasphemische Äußerungen gegen den Tempel gewesen, die Wellhausen in Mk 13, 2 wieder-

1 In seinem Kommentar über die drey ersten Evangelien. Philologisch-kritischer und historischer Kommentar über das neue Testament, Dritter Theil von 1802, wird das Tempelwort auf den Seiten 6 6 5 . 6 6 9 angesprochen. 2 H . A . W . Meyer, Markus und Lukas, 158 (Erscheinungsjahr 1848). 3 Erschienen in Leipzig 1864. 4 D.F. Strauß, Volk, 284. 5 D.F. Strauß, Volk, 5 6 0 ; dem Zweck, den Bericht vom P r o z e ß Jesu in einen dem christlichen Glauben zuträglichen M y t h o s umzuwandeln, diente nach Strauß (Volk, 560f.) auch das Insistieren der Evangelisten auf dem Schweigen Jesu sowie dessen feierliches Messiasbekenntnis M k 14, 62 par. 6 J. Wellhausen, Evangelium Marci, 1 3 0 - 1 3 3 .

Markus

13

zufinden meinte. Auch Mk 15, 29 gebe noch den wirklichen Grund für Jesu Todesurteil wieder, das Messiasbekenntnis Mk 14, 6lf. sei demgegenüber historisch unglaubwürdig und eine spätere Interpolation. Auch daß Matthäus den rahmenden Vers Mk 14, 59 nicht übernommen habe, spreche dafür, daß das Tempelwort in der Tat von Jesus so formuliert worden sei. Zweifel an der Historizität auch des Tempelwortes selbst äußerte H. Lietzmann.8 In seiner Betrachtung des Passionsberichtes unter vorrangig historischem Aspekt kommt er zu dem Schluß, daß die gesamte Synhedriumsperikope in die Verleugnungsgeschichte „wie ein Fremdkörper hineingesteckt worden"9 sei; als Gründe nennt Lietzmann die literarische Spannung zwischen Mk 14, 55-65 und Mk 15, l10, die Verwendung eines christlichen Messiastitels durch den Hohenpriester in V. 6l" sowie vor allem das historische Faktum, daß Jesus von einem römischen Richter zu einer römischen Hinrichtungsart verurteilt wurde.12 Die Interpolation der Perikope diene dem Anliegen der Gemeinde, die Juden zu be- und die Römer zu entlasten.13 Bei der Ausgestaltung der Perikope habe jedoch „das Martyrium des Stephanus den Stoff geliefert"14. Dies werde gerade am Tempelwort deutlich, das in krassestem Widerspruch zu der Tatsache stehe, daß Jesus „vor kurzem im Tempelvorhof einen Sturm des Volkes gegen die Verkäufer entfesselt hat (11, 15-18), um die Heiligkeit eben dieses Tempels zu schützen."15 Das Logion „atmet den Geist der bekehrten Hellenisten von der Richtung des Stephanus"16, wie sie aus der Apostelgeschichte bekannt sind; hier führt Lietzmann als Belege hellenistisch-christlicher Tempelkritik Acta 6, 14 und 7, 48 an, des weiteren sieht er das christologische Bekenntnis Mk 14, 6lf. von Acta 7, 55-57 her inspiriert.

7 J. Wellhausen, Evangelium Matthaei, 141. 8 H. Lietzmann, Der Prozeß Jesu, erschienen in S P A W 14, Berlin 1931. 9 H. Lietzmann, 5. 10 H. Lietzmann, 5. 11 H. Lietzmann, 6. 12 H. Lietzmann, 7 - 1 0 . 13 H. Lietzmann, 11. 14 H. Lietzmann, 12; ebenso 6f. 15 H. Lietzmann, 5f. 16 H. Lietzmann, 6.

14

Quellenkritischer Teil

Während das Tempelwort nach Lietzmann also Aufschluß über die Gesinnung des Interpolators der Perikope17 gibt, hat es mit dem Prozeß des irdischen Jesus nichts zu tun. Auch R. Bultmann18 sah in der Gerichtsszene Mk 14, 5 5 - 6 4 eine sekundäre Ausführung zu Mk 15, l 19 ; innerhalb dieser Einfügung seien die Verse 57—59 jedoch eine noch spätere Interpolation, da sie V. 56 wiederholten und da das eigentliche Anliegen der Perikope ja die Verurteilung Jesu aufgrund seines Messiasbekenntnisses in V. 6lf. sei. Kritisch wandte sich Bultmann daher gegen Wellhausens Exegese der Perikope: „Zunächst muß doch gefragt werden: nicht, was ist als geschichtlich denkbar? sondern: was ist als christliche Gemeindetradition verständlich?"20, und das primäre Interesse der Gemeinde sei in der Auseinandersetzung mit dem Judentum ihrer Zeit eben eindeutig auf den Messiasanspruch Jesu gerichtet. Das Tempelwort Jesu selbst21 rechnet Bultmann zur Gruppe der prophetisch-apokalyptischen Jesusworte, die er zum Großteil als aus dem Judentum sekundär auf Jesus übertragene Logien ansieht. Mit R. Reitzenstein 22 und W. Bousset 23 nahm Bultmann als Hintergrund von Mk 14, 58 und Mk 13, lf. den Mythos von einem tempelzerstörenden messianischen Urmenschen an, den Jesus für seine eigene Rede vom

17 Nach H. Lietzmann, 5, der Evangelist Markus selbst. 18 R. Bultmann, Geschichte, 2 9 0 - 2 9 2 . 19 R. Bultmanns diesbezügliche Argumentation wird im folgenden breiter dargestellt werden. 20 R. Bultmann, Geschichte, 291; daß diese Fragestellung allerdings den Umgang der frühen Christenheit mit den Traditionen vom irdischen Jesus nicht hinreichend erfassen kann, hat J. Roloff in seiner Arbeit: Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien, nachgewiesen. 21 R. Bultmann, Geschichte, 126f. 22 R. Reitzenstein, Buch, 6 3 - 7 2 ; Reitzenstein hatte im 76. Kapitel des mandäischen Johannesbuches sowie im manichäischen Fragment T . I I D 18 den Mythos von einem den „Palast" abreißenden und erneuernden Urmenschen aufgewiesen, den er als grundlegend für das Leben der Täufersekte des Johannes und sogar für das Selbstbewußtsein Jesu — und dessen Aussage vor dem Synhedrium — ansah; vgl. hierzu auch R. Bultmann, Geschichte, 127.292A1, sowie H. Gressmann, Problem, 188f. 23 W. Bousset, Kyrios Christos, 39; Bousset hatte vermutet, die Majorität der Urchristenheit hätte sich durch M k 14, 58 und Joh 2 , 1 9 gegen den jüdischen Vorwurf der Tempelkritik zur Wehr gesetzt, nachdem bestimmte Kreise der Urgemeinde, in denen der von R. Reitzenstein (vgl. obige Anmerkung 22) behauptete Mythos vom tempelzerstörenden Menschensohn gepflegt wurde, durch Prophetien wie Mk 13, 2 und durch Auftritte wie den des Stephanus Acta 6f. Konflikte mit dem institutionalisierten Judentum heraufbeschworen hatten.

Markus

15

„Menschensohn" einfach aufgenommen habe. Ein Bezug zum Prozeß Jesu sei jedoch erst sekundär hergestellt worden. Indes besteht die Schwäche jeder Herleitung des Tempelwortes aus einem urmandäischen Täufertum in ihrem grundsätzlichen Optimismus bezüglich der Ableitbarkeit christlicher Texte und Bräuche aus der mandäischen Tradition; deren frühe Datierung scheint heute kaum mehr selbstverständlich. 24 Grundlegend für die Exegese von Mk 14, 55-64 bleibt jedoch die von Bultmann angeschnittene Frage, ob die Intention der Perikope eher dahin geht, eine kerygmatische Aussage der Gemeinde in historisierender Form in das Leben Jesu zurückzuverlegen, oder ob in ihr, wie die frühe Forschung annahm bzw. voraussetzte, tatsächlich eine historische Begebenheit aus dem Leben des irdischen Jesus dokumentiert ist. Darum soll zuerst auf die sach- und literarkritischen Einwände gegen eine ursprüngliche Zugehörigkeit der Perikope zum Passionsbericht eingegangen werden. Sodann soll der Text auf seine Sprachgestalt und die schon von D.F. Strauß erkannten internen Spannungen untersucht werden. Hier wird der Anregung R. Bultmanns nachzugehen sein, ob ein eventueller Interpolator mit dem Tempelwort eine ältere, zuvor unabhängige und in einem ganz anderen Zusammenhang beheimatete Tradition in den Text der Gerichtsperikope eingetragen hat. 1.1.1.1. Zugehörigkeit Sachkritische

zum ältesten

Passionsbeiicht

Einwände

Sachkritische Einwände sind in großer Zahl gegen die Historizität der Perikope erhoben worden, so wurde beispielsweise auf den Umstand verwiesen, daß kein christlicher Augenzeuge als Gewährsmann des Berichtes zur Verfügung stehen konnte. 25 Weiterhin erscheint eine nächtliche Verhandlung vor ολον το ουνέδριον — darüber hinaus auch noch unter

24 Zur Mandäerfrage vgl. J. Jeremias, Ursprung, 312-320; W. Baumgartner, 401-410; R. Macuch, 401-408; speziell im Zusammenhang mit dem Tempelwort auch Ph. Vielhauer, O i k o d o m e , 6 4 - 6 6 . Darüber hinaus steht und fällt die Religionsgeschichtliche Schule auch hier mit ihrem Postulat eines vorchristlichen UrmenschErlöser-Mythos, das seit der Arbeit von C . C o l p e , Die Religionsgeschichtliche Schule, fundamentaler Kritik ausgesetzt ist. 25 So H . Lietzmann, 5; E. Lohse, Geschichte, 83; ähnlich M. Dibelius, Formgeschichte, 193.

16

Quellenkritischer Teil

Hinzuziehung mehrerer Zeugen — kaum glaubhaft 26 ; hinzu kommt, daß es sich um die geheiligte Passanacht handelt. Auch die α ύ λ ή τοΰ ά ρ χ ιερέως ist als Ort einer Synhedrialverhandlung ganz unwahrscheinlich. 27 Ferner ist es offensichtlich, daß der Verlauf der Verhandlung in klarem Widerspruch zu den Rechtsbestimmungen der Mischna steht. 28 Darüber hinaus spricht vor allem die Tatsache, daß Jesus von einem römischen Prokurator verurteilt und auf römische Weise zu Tode gebracht, nämlich gekreuzigt wurde, gegen die Annahme eines jüdischen Verfahrens und Todesurteils. 29 Auch deuten die Umstände, daß der Hohepriester einen christlichen Messiastitel gebraucht 30 und daß der Messiasan-

26 R. Bultmann, Geschichte, 291; daß die Verhandlung nach Mk 14, 6 6 - 7 0 sich darüber hinaus auch lediglich über die kurze Zeitdauer von zwei Hahnenschreien erstreckt haben soll, geht gegen P. Winter, Gebilde, 2 6 0 - 2 6 3 , 262, nicht aus dem Text hervor. 27 Vgl. Strack/Billerbeck I, 997-1001. 28 Vgl. hierzu die ausführliche Analyse von Strack/Billerbeck I, 1019-1024; J. Blinzler, Synhedrium, 5 4 - 6 5 , setzt bei der Bestreitung dieses vor allem von H . Lietzmann angeführten Arguments voraus, daß zur Zeit Jesu ein vom späteren Mischna-Text abweichender „sadduzäischer Strafkodex" (Synedrium, 58) Rechtsgültigkeit besaß. In seiner Studie: Der Prozess Jesu, versuchte Blinzler die Widerlegung aller sachkritischen Argumente Lietzmanns (Prozeß, 123-126), die allerdings strekkenweise gezwungen wirkt. Kritisch setzt sich hier K. Müller, 41-83, mit Blinzler und dessen Voraussetzung, „daß alles, was im Neuen Testament nachgelesen werden kann, so lange als historisch zu akzeptieren sei, als sich das Gegenteil nicht nachweisen lasse", (Müller, 42) auseinander und kommt bei seiner Rückfrage nach dem historisch Möglichen zu recht ähnlichen Schlüssen wie seinerzeit J. Wellhausen (Messiasbekenntnis Mk 14, 61f. sekundär, Tempelwort historisch und Anlaß für das außergewöhnliche Zusammenspiel von römischer und jüdischer Gerichtsbarkeit [so K. Müller, 78-80.82f.; vgl. auch die genaue Rezension von W.G. Kümmel, Jesusforschung, 419]). Sowohl Blinzlers als auch Müllers Untersuchung leidet an dem Mangel an wirklichem Vergleichsmaterial. Vgl. hierzu, wie auch zum Folgenden, die Ausführungen zur Synhedriumsperikope von W. Reinbold, 241-258, der auch die diesbezügliche Diskussion seit Blinzler referiert (252-256). 29 S o H . Lietzmann, 7-10; ein jüdisches Todesurteil hätte die Steinigung nach sich ziehen müssen, vgl. Acta 7, 57f. Demgegenüber entwickelte J. Blinzler, Prozess, 163-174, die im Grunde nur auf Joh 18, 31 zurückgehende These, daß das Synhedrium unter römischer Vorherrschaft zwar zur Aussprache eines Todesurteils befugt gewesen sei, nicht aber zu seinem Vollzug; sie ist von einem großen Teil der Forschung rezipiert worden, so W. Schmithals, Markus, 657; J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 285f.; E. Lohse, Geschichte, 76-83, letzterer sah allerdings auch, daß Blinzlers Argumentation nur die Historizität von Mk 15, 1, nicht aber die von Mk 14, 5 4 - 6 5 hinreichend begründen kann, so E. Lohse, Geschichte, 87f.; vgl. hierzu schon H . Lietzmann, 7 - 9 . 30 Vgl. H . Lietzmann, 6.

Markus

17

spruch in der von Jesus vorgetragenen Weise (Vermeidung des Gottesnamens 31 ) kein Todesurteil begründen konnte, auf eine redaktionelle Entstehung zumindest der Endgestalt der Perikope. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Spannung zwischen der wörtlichen Zitation des Tempelworts in Mk 14, 58 und der Notiz in V. 59, nach der die Zeugnisse „nicht übereinstimmten", zu verweisen. Somit sprechen gewichtige inhaltliche Argumente gej^en die Historizität der in Mk 14, 5 5 - 6 4 beschriebenen Verhandlung. Jedoch impliziert diese sachkritische Feststellung, obwohl sie eine Exegese im Sinne Wellhausens zumindest erschwert, noch nicht ein literarkritisches Urteil über die ursprüngliche Zugehörigkeit der Perikope zum Grundbestand des Passionsberichtes. Im folgenden soll daher nach korrespondierenden literarkritischen Argumenten gefragt werden.

Literarkritische Einwände Auf literarkritischer Ebene sind vor allem drei Argumente kundären Ursprung der Perikope vorgebracht worden: Sie Zusammenhang der Verleugnungsgeschichte eingeschoben, allelen zum Pilatusverhör auf, und sie steht in Spannung zu

für einen sewirkt in den sie weist ParMk 15, 1.

Mk 14, 55-64 - ein Einschub33 Die Verse Mk 14, 5 5 - 6 4 unterbrechen die Erzählung von der dreimaligen Verleugnung des Petrus Mk 14, 53f.66-72. J. Gnilka sieht hierin ein typisches Charakteristikum der markinischen Redaktion („sandwichagreement" 34 ). Dafür, daß die Synhedriumsperikope nachträglich in die Verleugnungsgeschichte eingefügt wurde, spricht neben der Zerstörung

31 Vgl. Strack-Billerbeck I, 1018f., zumindest für die spätere jüdische Gerichtsbarkeit, vgl. das oben in Anm. 28 Ausgeführte. 32 So zuletzt auch W. Reinbold in seiner sehr gründlichen Untersuchung: Der älteste Bericht über den Tod Jesu, 2 5 8 . 2 4 8 f . ; ebenso E.P. Sanders, Jesus, 298f.; zu einem ganz anderen Ergebnis k o m m t neben J. Blinzler (s.o. Anm. 28f.) vor allem R. Pesch, Markusevangelium, 442f. Hauptsächlich gründet sich sein Vertrauen in die Historizität der vom Passionsbericht bezeugten Begebenheiten darin, daß der „unverhofft und überraschend" (413) eingetretene Judasverrat auch ungewöhnliche und improvisatorische Maßnahmen von Seiten der Jerusalemer Führung nach sich ziehen mußte, so z.B. in der Wahl des Versammlungsortes. 33 Vgl. hierzu R. Bultmann, Geschichte 290f.; H . Lietzmann, 5.9f.; W. Schmithals, Markus, 6 5 2 ; P. Winter, Trial, 23f.; Ders., Gebilde, 261f. 34 J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 275.

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Quellenkritischer Teil

des Zusammenhangs von V. 54 und V. 66 auch der betonte Kontrast von dreimaliger Verleugnung des Petrus und offenem Bekenntnis Jesu, durch den ein möglicher Interpolator einen paränetischen Effekt auf der Ebene des Lesers intendiert haben mag. 35 Die Tradition der Synhedriumsverhandlung Jesu scheint somit nicht zu dem ursprünglichen Bestand des Passionsberichtes gehört zu haben. Parallelen zu Mk 15, 2-5 Die Perikope von Jesus vor dem Synhedrium weist Parallelen 36 zum Verhör vor Pilatus auf. G. Braumann 37 nennt: die jeweils doppelte Anfrage an Jesus in Mk 14, 60a.61b und Mk 15, 2.4, wobei in Mk 14, 61b und Mk 15, 2 jeweils αυ εΓ verwendet wird; das Schweigen Jesu auf die erste 38 Frage Mk 14, 61a/Mk 15, 5 und dessen bekenntnisartige Antwort auf die zweite Frage Mk 14, 62/Mk 15, 2b; die Verwendung von π ά λ ι ν έ π η ρ ώ τ α α υ τ ό ν in Mk 14, 61a und Mk 15, 4 sowie den parallelen Gebrauch von τί öou κ α τ α μ ο φ τ υ ρ ο ΰ ο ι ν i n M k 1 4 , 6 0 b u n d π ό ο α σ ο υ κ α τ η γ ο ρ ο ΰ ο ι ν i n M k 1 5 ,

4b. Da diese Ubereinstimmungen auf eine Abhängigkeit schließen lassen, die Perikope Mk 14, 5 5 - 6 4 jedoch die breiter ausgestaltete ist und darüber hinaus ein weiterentwickeltes theologisches (Gottessohnschaft des Christus) und apologetisches (die Schuld am Tode Jesu tragen auch und vor allem die Juden) Interesse verrät, sprechen diese Beobachtungen dafür, daß die Synhedriumsperikope sekundär ist und wahrscheinlich nach dem Vorbild von Mk 15, 2—5 gebildet wurde. 3 9

35 Vgl. G. Schneider, Szene, 295; ähnlich W. Grundmann, Markus, 416f.; M. Dibelius, Formgeschichte, 216. 36 Die Abhängigkeit der Synhedriumsperikope von M k 15, 2 - 5 behauptete schon E. Wendling, Ur-Marcus, 19, sowie: Entstehung, 1 7 7 - 1 8 4 ; ebenso J. Gnilka, Verhandlungen, 12; vorsichtiger argumentiert Gnilka dann in Markus, Bd. 2, 275, w o er als möglichen G r u n d der parallelen Struktur beider Texte auch ihre Herkunft vom gleichen Verfasser einräumt. 37 G. Braumann, 274f. 38 Freilich muß G. Braumann, um der Abfolge der Handlung von M k 15, 5 5 - 6 4 zu entsprechen, M k 15, 2 auf die Verse 3 - 5 folgen lassen; zu dieser Umstellung fühlt er sich allerdings durch die von J. Wellhausen (Evangelium Marci, 136) und R. Bultmann (Geschichte, 307) festgestellte Spannung zwischen M k 15, 2 und M k 15, 3 - 5 berechtigt (G. Braumann, 276.278). 39 So auch W. Schmithals, Markus, 652.661; G. Braumann, 278; auch P. Winter, Gebilde, 2 6 0 - 2 6 3 , (als direkte A n t w o r t auf Braumanns o.g. Aufsatz verfaßt), betrachtet die Perikope als sekundär, auch wenn er die Parallelen zu M k 15, 2 - 5 besser durch den beschränkten Sprachschatz des Evangelisten (P. W i n t e r , 263) als durch Ii-

Markus Spannungen

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zu Mk 15, 1

Die Perikope von der Verhandlung Jesu vor dem Synhedrium steht in vermeintlicher Spannung zu Mk 15, 1, w o von einer zweiten Synhedriumsverhandlung am Morgen berichtet wird, und ist möglicherweise aus Mk 15, 1 gebildet worden. 4 0 Bei genauerer Betrachtung des Textes wird dieses Argument jedoch hinfällig: Textkritisch4i schwierig ist die für das Gesamtverständnis des Textes wichtige Wendung ουμβούλιον ποιήοαντες [so nach Α Β Ψ Ψ 0250 (mit Abweichungen), den Gruppen f 1 / 1 3 und TO, und weiterhin den Minuskeln 33 2427 und der Vulgata]; ihr stehen die Varianten ουμβούλιον εποίησαν [so D Θ 565 die späte Ergänzung zu 2542 sowie wenige andere Majuskeln, die Altlateiner und Origenes] und die Lesart von Nestle-Aland 25 ουμβούλιον έτοιμάοαντες [X C L 892 und wenige andere] gegenüber. Da der überwiegende Teil der Belege für eine Konstruktion mit ποιέω spricht und dieser textkritische Sachverhalt auch in der analog konstruierten Stelle Mk 3, 6, dem einzigen weiteren Beleg von ουμβούλιον bei Mk, so vorliegt42, dürfte die Lesart von Nestle-Aland 27 die vorzuziehende sein. 43 Anlaß für die Bildung der textkritischen Varianten war der ungewöhnliche Gebrauch der Vokabel ουμβούλιον bei Mk. In neutestamentlicher Zeit wird ουμβούλιον als Ubersetzungslatinismus von „consilium" verwandt: Κωνσίλιον ετι νυν τό ουμβούλιον καλοϋοι. 44 Für das Neue Testament singulär ist der Ge-

brauch von ουμβούλιον im Sinne von „Versammlung" in Acta 25, 1245, im übrigen N T wird ουμβούλιον mit einer Verbform als Wiedergabe der lateinischen Wendung „consilium capere" 46 verwendet und hat somit die Bedeutung von „durch Beratschlagung zu einem Beschluß gelangen", wobei das zur Ubersetzung von „capere" herangezogene Hilfsverb wechselt. 47 Hier erwies sich die markini-

terarische Abhängigkeit erklärt sieht. Zu erwägen wäre indes, ob nicht auch beide Perikopen von demselben Redaktor in den Passionsbericht eingetragen worden sein könnten. 40 So R. Bultmann, Geschichte, 290.294; E. Schweizer, Markus, 178f.; W. Schmithals, Markus, 652. 41 Zur Textkritik des Verses vgl. R. Pesch, Markusevangelium, 455 Anm. „a"; E. Lohmeyer, Markus, 334; L. Schenke, Christus, 51; D. Dormeyer, Passion, 174A658. 42 Dort bietet Nestle-Aland 27 allerdings die schlechter bezeugte Lesart ουμβούλιον έδίδουν. 43 Anders L. Schenke, Christus, 51; R. Pesch, Markusevangelium, 455. 44 Plut.Rom. c.14; Angabe nach H. Stephanus, Bd. 8, 1064; zum Gebrauch der Vokabel vgl. H. Stephanus, 1064f.; F. Blass/A. Debrunner, §§ 5, 4A18; 7. 45 Mit Parallelen in 4.Makk 17, 17 und JosAnt XIV 192; XVI163. 46 D. Dormeyer, Passion, 174f.; F. Blass/A. Debrunner, § 5, 4. 47 λαμβάνω: Mt 12, 14; 22, 15; 27, 1.7: 28, 12; ποιέω: Mk 3, 6 (N A); 15, 1 (A B); δίδωμι: Mk 3, 6 (B L / " ) ; έτοιμάζω: Mk 15,1 (X C).

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Quellenkritischer Teil

sehe Wahl des Hilfsverbs als ungebräuchlich und wurde von den Kodizes jeweils verschieden korrigiert.

Somit ist in Mk 15, 1 aber nicht von einem zweiten Zusammenkommen des Synhedriums am Morgen die Rede, sondern vom Abschluß der zuvor beschriebenen nächtlichen Beratungen in den frühen Morgenstunden.48 In der Erzählstruktur des Markusevangeliums knüpft Mk 15, 1 wieder an den durch die Petrus-Verleugnung unterbrochenen Bericht vom Prozeß Jesu an, behält jedoch durch die Angabe ε υ θ ύ ς πρωί' die vom Hahnenschrei in V. 72 vorgegebene Zeitebene bei. Beide Erzählungen werden so auch in ihrer zeitlichen Bestimmung miteinander verwoben. Auch R. Bultmanns49 Annahme, die Perikope Mk 14, 55—65 sei aus der älteren Tradition Mk 15, 1 heraus entwickelt worden, erweist sich bei genauerer Betrachtung von Mk 15, 1 als hinfällig; vielmehr verdankt sich der Vers zum überwiegenden Teil der Redaktion des Evangelisten. Wie gezeigt steht die Zeitangabe ε υ θ ύ ς πρωί im Dienst der Gleichzeitigkeit von Synhedriumsszene und Verleugnung des Petrus; ferner ordnet sie das Geschehen in das markinische Sieben-Tage-Schema 50 ein. Dies spricht ebenso für ihren redaktionellen Charakter wie eine vokabelstatistische Betrachtung ihres Wortbestands: sechs Belege von πρωί sind bei Mk zu verzeichnen, drei bei Mt, keiner bei Lk, zwei bei Joh; noch deutlicher ist der Befund bei ε ύ θ ύ ς : Siebenundvierzig Belegen bei Mk, oft in eindeutig redaktionellem Zusammenhang, stehen achtzehn bei Mt, acht bei Lk und sieben bei Joh gegenüber. Die in seltsam anmutender Häufung auftretenden άρχιερεΐς μετά των πρεοβυτέρων κ α ι γραμματέων κ α ι δ λ ο ν τό ουνέδριον stellen sich als redaktionelle Wiederaufnahme der in Mk 14, 53b und Mk 14, 55 genannten Personenkreise heraus51; weiterhin paßt dieses „umständliche und im Grunde doppelt bezeichnete Subjekt ... direkt nur zu dem ersten Partizip, nur indirekt zu den Hauptverben δήοαντες ... ά π ή ν ε γ κ α ν κ α ι παρέδωκαν"52, da es den Eindruck nahelegt, daß Jesus vom ganzen Synhedrium gefesselt und abgeführt wurde. Das von E. Lohmeyer angesprochene erste Partizip, nämlich αυμβούλιον ποιήοαντες, hat, wie oben besprochen, 48 So schon B. Weiß, Marcusevangelium, 484; J. Blinzler, Prozeß, 149f.; L. Schenke, Christus, 51; D. Dormeyer, Passion, 175; G. Schneider, Szene, 27-29. 49 R. Bultmann, Geschichte, 290.294. 50 Vgl. Τ. A. Mohr, 113-118. 51 Vgl. G. Schneider, Szene, 29; M. Myllykoski, Bd. 1, 114. 52 E. Lohmeyer, Markus, 334.

Markus

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eine Parallele in Mk 3, 6; weiterhin finden sich in Mk 3, 6 als Entsprechungen zu Mk 15, 1 auch die Verbindung der sich beratenden Personen durch μετά mit gen Plural 53 sowie das Adverb ευθύς. Nun ist Mk 3, 6 eindeutig markinisch-redaktionell. 54 Somit ist davon auszugehen, daß der gesamte Versteil Mk 15, la von Markus eingefügt wurde, um die Handlungsstränge Synhedriumsverhandlung und Petrusverleugnung zeitlich und logisch miteinander zu verknüpfen und um einen bruchlosen Ubergang zur Pilatusszene zu schaffen.55 Der vormarkinische Textbestand von Mk 15, 1* lautete vermutlich δήοαντες τον Ίηοοΰν άπήνεγκαν και παρέδωκαν Πιλάτω.56 Eventuell Schloß der so rekonstruierte Vers vor dem Hinzuwachsen von Petrus- und Synhedriumsszene an Mk 14, 52 an. Weder ist aus Mk 15, 1 die Perikope Mk 14, 53.55-64 entwickelt worden, noch steht Mk 15,1 in Spannung zur Perikope von der Verhandlung Jesu vor dem Synhedrium; auch vormarkinisch bestand eine solche Spannung nicht, da vormarkinisch in Mk 15, 1* überhaupt keine Verhandlung (ουμβούλιον) erwähnt wurde. Mk 15, 1 kann also nicht als Einwand der Literarkritik gegen die ursprüngliche Zugehörigkeit der Synhedriumsperikope zum Passionsbericht herangezogen werden. Dennoch sind die sach- und literarkritischen Argumente für einen sekundären Charakter von Mk 14, 53.55-64 erdrückend. Es ist nicht ersichtlich, woher ein christlicher Tradent authentische Informationen vom Hergang der Verhandlung bezogen haben soll, und der Verlauf des Prozesses, wie ihn der Text schildert, ist, wie bereits gezeigt wurde, in dieser Form äußerst unwahrscheinlich und zudem in der Gestaltung von Mk 15, 2 - 5 abhängig. Dies und der Sachverhalt, daß die Perikope den Zusammenhang der Verleugnungsgeschichte unterbricht, läßt vermuten, daß sie erst nachträglich dem Passionsbericht hinzugewachsen ist.

53 G. Schneider, Szene, 29. 54 Mit J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 126. 55 Hierbei ist freilich vorausgesetzt, daß M k 14, 5 3 . 5 5 - 6 5 ebenso wie M k 14, 54, 6 6 - 7 2 schon vormarkinisch zur Passionstradition gehörten, was im folgenden zu zeigen sein wird. 56 Ebenso D. Dormeyer, Passion, 174.178; L. Schenke, Christus, 52, E. Lohmeyer, Markus, 334 und J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 297, rechnen mit einem geringeren Umfang der markinischen Redaktion, R. Pesch, Markusevangelium, 455, sieht keinen Eingriff des Evangelisten in den Text.

Quellenkritischer Teil

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Somit stellt die Perikope nicht, wie J. Wellhausen implizit voraussetzte, eine Art historische Dokumentation aus den letzten Tagen Jesu57 dar, die durch religiöse und theologische Interessen schrittweise überzeichnet wurde und aus der das historisch Zuverlässige durch Subtraktion aller „mythologischen" Elemente (doch noch) zu erweisen wäre; vielmehr liegt in Mk 14, 53.55-64 ein mit einer bestimmten Intention58 verfaßtes literarisches Dokument vor, dessen Genese im folgenden analysiert werden soll, besonders im Hinblick auf die Verwendung älterer Traditionen, speziell der des Tempelworts.

1.1.1.2. Analyse

der

Perikope

Der Aufbau der Perikope ist in sich nicht spannungsfrei: In den Dienst des Synhedriums stellen sich viele falsche Zeugen59, deren Zeugnis aber „nicht gleich" ist (V. 56). Da stehen „einige" auf und rezitieren das Tempelwort Jesu in der ersten Person Singular. Seltsamerweise stimmt jedoch auch deren Zeugnis nicht überein (V. 59). Der Hohepriester fragt Jesus, weshalb er sich nicht verteidige (V. 60); dieser aber schweigt.60 Nun fragt der Hohepriester Jesus weiter, ob er der Christus sei (V. 61), was dieser bejaht, um mit einem aus Dan 7, 13 und Τ 110, 1 kompilierten Menschensohnspruch fortzufahren (V. 62). Daraufhin zerreißt der Hohepriester seine Kleider (V. 63), das Synhedrium fällt das Todesurteil (V. 64), und Jesus wird mißhandelt (V. 65). Der Vergleich mit Joh 18, 15—27, wo ebenfalls von einem Verhör Jesu vor dem ά ρ χ ι ε ρ ε ύ ς die Rede ist, welches von der Verleugnung des Petrus gerahmt wird, führt zu keinem Ergebnis, da in der johanneischen

57 Eine entsprechende Sicht der Perikope ist zuletzt von J.B. Green, 2 7 5 - 2 8 3 , vertreten worden. Entsprechend meint J.B. Green auch, die Historizität des Tempelwortes als dem tatsächlichen Hauptanklagepunkt des Synhedriumsprozesses gegen den irdischen Jesus nachweisen zu können, indem er eine traditionsgeschichtliche Verbindung von Tempelerneuerung [= Tempelwort] und Messianität [wegen dieses Anspruches ist Jesus ja nach V. 61f. verurteilt worden] konstruiert (vgl. dagegen E. Linnemann, 1 1 6 - 1 2 7 ) , um so den Erweis für die innere Stimmigkeit der Synhedriumsperikope zu erbringen (J.B. Green, 2 7 9 - 2 8 1 ) ; m.E. kann der von J.B. Green vertretene Ansatz dem Text zumindest der Synhedriumsperikope nicht gerecht werden. 58 Grundsätzlich der, den Juden zumindest eine Mitschuld am Tode Jesu zu geben. 59 Die Abhängigkeit dieses Motivs von Y 27, 12 hatten schon B. Bauer, 2 2 7 - 2 3 2 , und J. Weiß, Das älteste Evangelium, 314, gesehen. 60 J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 281, führt das Schweigemotiv auf Ψ 38, 1 4 - 1 6 und evtl. Jes 53, 7 zurück; vgl. aber auch unten A n m . 84 dieses Abschnitts.

Markus

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Szene — mit Ausnahme des Hohepriesters selbst und eines ράπιομα von einem υπηρέτης61 — keine Motive aus Mk 14, 55-65 vorkommen. Die Frage einer markinischen Verfasserschaft der Perikope ist in der Forschung unterschiedlich beantwortet worden. R. Pesch nimmt an, daß der Evangelist gar nicht in den ihm vorgegebenen Text eingegriffen habe, P. Winter führt ihre Entstehung allein auf die markinische Redaktion zurück. 63 Die meisten Exegeten nehmen eine mehrschichtige Entstehung der Perikope an.64 Genaueren Aufschluß soll eine vokabelstatistische Befragung des Textes geben. "Ολος u n d ζητέω [V. 55] sind unter vokabelstatistischen Gesichtspunkten unauffällig 6 5 , ebenso εύρίοκω. 6 6 Μαρτυρία begegnet bei M k nur hier in M k 14, 55.56.59, ansonsten verwendet der Evangelist μαρτύριον. 6 7 Ebenso gebraucht M k ϊοος nur hier in 14, 56.59. Καταλύω [V. 58] begegnet bei M k nur dreimal, jeweils im Zusammenhang mit dem Tempelwort [Mk 13, 2; 14, 58; 15, 29]. Ein ähnlicher Sachverhalt liegt bei ναός vor 6 8 , üblicherweise spricht Markus vom Tempel als ιερόν. 6 9 Ψευδομαρτυρέω schließlich findet sich im Markusevangelium außer in M k 14, 56f. 7 0 nur in M k 10,19 u n d ist dort traditionell.

61 Vgl. Mk 14, 65! 62 R. Pesch, Markusevangelium, 429. 63 P. Winter, Gebilde, 260-263; ähnlich W. Schmithals, Markus, 652.661; S. Schulz, 131-134; zuerst B. Bauer, 227-232. 64 E. Lohmeyer, Markus, 326-331; J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 273-288; L. Schenke, Christus, 26-46; D. Dormeyer, Passion, 157-174; E. Lohse, Geschichte 87f.; M. Myllykoski, Bd. 1, 78; U. Sommer, 132-140. Eine erschöpfende Zusammenfassung der jüngeren forschungsgeschichtlichen Diskussion um die Synhedriumsperikope [wenn auch deutlich aus amerikanischer Perspektive] bietet R.E. Brown auf immerhin 246 Seiten (Bd. 1, 315-560). 65 ολος: 18 Belege bei Mk, 22 bei Mt, 17 bei Lk; ζητέω: Mk 10 Belege, Mt 14, Lk 25, Joh 34. 66 Mk 11 Belege, Mt 27, Lk 45, Joh 19. 67 So Mk 1, 44; 6, 11; 13, 9. 68 Nur belegt in Mk 14, 58; 15, 29.38. 69 Mk 11, 11.15.16.27; 12, 35; 13, 1.3; 14, 49. 70 Wenn M. Myllykoski, Bd. 1, 53, das Präfix „ψευδό-" dadurch als markinische Redaktion ausmacht, daß die Kriterien des blutdürstigen Synhedriums für ein falsches Zeugnis gar nicht klar seien und daß somit eine „komische Situation" heraufbeschworen werde, so ist dies ein recht willkürlicher Umgang mit sachkritischen Argumenten im Rahmen der Literarkritik. Eine Erzählung kann durchaus in sich stimmig sein, ohne daß sie auf von außen herangetragene Fragestellungen (hier die Frage der juristischen Kriterien), die jenseits ihrer Erzählintention liegen, einzugehen braucht. Auch Myllykoskis Analyse der Synhedriumsperikope liegt die implizite Voraussetzung zugrunde, daß am Anfang der Tradition ein empirisch und logisch

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Quellenkritischer Teil

In V. 60f. häufen sich die Anzeichen markinischer Eingriffe in den Text: Der Gebrauch des Aorist-Partizips von άνίοτημι, das schon in M k 14, 57 begegnete, ist bei markinischer Redaktion nicht ungewöhnlich. 7 1 Ebenso sind von den vier weiteren Belegen von μέοον in M k mindestens M k 6, 47 und M k 7, 31 redaktionell. Das in V. 60f. zweimal begegnende έπερωτάω ist eindeutig ein markinisches Vorzugswort 72 , ebenso οιωπάω 3 und πάλιν. 7 4 Die Umschreibung des Gottessohntitels durch υιός τοϋ εύλογητοΰ ist singular im N T 7 5 ; jedoch wird der Gottessohntitel, das „Herzstück der markinischen Einschätzung Jesu" 76 , im Markusevangelium von außenstehenden Menschen vor Karfreitag nie unverhüllt ausgesprochen 77 , so daß der Evangelist das ihm eigene christologische Anliegen auch nier mit Hilfe einer traditionell wirkenden Umschreibung eingetragen haben dürfte. Weiterhin erinnert die Frage öu εί ό χριοτός an die Taufszene Mk 1,11 und das Petrusbekenntnis M k 8, 29 sowie an die Pilatusszene M k 15, 2 und den Sammelbericht M k 3, 11; markinische Verfasserschaft ist zumindest für M k 3,11 anzunehmen. 7 8 Das feierliche έγώ είμι [V. 62] findet sich bei M k noch in M k 6, 50 und M k 13, 6; dort dürfte es beide Male markinisch-redaktionell sein. 79 Hingegen läßt sich bei der Zitatenkombination M k 14, 62b, die, da in V. 61 nur der Hohepriester agiert hatte, durch den Plural οψεοθε zum heutigen Text der Perikope in Spannung steht, kein markinischer Einfluß erkennen. Auch in den folgenden Versen läßt sich zumeist vormarkinisches Gut ausmachen: Διαρήοοω [V. 63] findet sich bei M k nur hier, χιτών nur hier und in M k 6, 9, wo es aber traditionell ist. Die Wendung χρείαν εχειν gebraucht Mk relativ selten 80 und zumeist in traditionellem Zusammenhang. 8 1 Φαίνω [V. 64] ist für

nicht hinterfragbarer und in sich stimmiger, weil die Historie korrekt wiedergebender Bericht stand, nicht eine literarische Fiktion. 71 So Mk 1, 35; 7, 24; 10, 1. 72 Bei Mk 25 Belege, bei Mt acht, bei Lk 17. 73 Fünf Belege bei Mk, nur je zwei bei Mt und Lk. 74 28 Belege bei Mk, 17 bei Mt, drei bei Lk. 75 Verwiesen sei jedoch auf die in der christlichen Briefliteratur verbreitete (2.Kor 1, 3; Eph 1, 3; l.Petr 1, 3; ähnlich 2.Kor 11, 31) eulogische Wendung εύλογητός ό θεός και πατήρ του κυρίου ήμών Ίηοοϋ Χριοτοΰ, in der wie in Mk 14, 61 das Verbaladjektiv εύλογητός, der Christutstitel und das Vater-Sohn-Verhältnis miteinander verbunden sind. 76 R. Schnackenburg, Person, 66. 77 Vgl. Mk 10, 47f. 78 Vgl. J. Gnilka, Markus, Bd. 1, 133 samt Anm. 5; W. Grundmann, Markus, 98-100. 79 Ebenso D. Dormeyer, Passion, 165A611; zum redaktionellen Charakter von έγώ εΐμι in Mk 6, 50 vgl. J. Gnilka, Markus, Bd. 1, 266f., entsprechend für Mk 13, 6 vgl. R. Pesch, Naherwartungen, 108-112. 80 Vier Belegen bei Mk stehen sechs bei Mt und fünf bei Lk gegenüber. 81 Mk 2, 17.25; 11, 3.

Markus

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M k untypisch, da es ansonsten nur noch im unechten Markusschluß in M k 16, 9 auftaucht. "Ενοχος begegnet bei M k nur hier und in M k 3, 29, und dort als Tradition. Κατακρίνω und έμπτύω [V. 65] finden sich bei M k nur noch in der Dritten Leidensankündigung 8 2 und verweisen somit auf vormarkinischen Textbestand. Auch die Verben περικαλύπτω und κολαφίζω, beide im Markusevangelium nur hier gebraucht, und das in J o h 18, 22 wiederbegegnende ράπιομα 8 3 sprechen für das Vorliegen einer vormarkinischen Tradition.

Auf markinische Redaktion gehen somit die Einfügung des Partizips άναοτάντες in V. 57 und der überwiegende Teil des Textbestandes der Verse 60f. zurück. Der Evangelist hat das Motiv des Schweigens Jesu aus der Pilatus-Erzählung übernommen84 und in den Dienst seiner Theologie vom „Messiasgeheimnis"85 gestellt. Vermutlich hat Markus auch in den Text der Frage des Hohepriesters und in die Antwort Jesu eingegriffen - da der Evangelist ein εύαγγέλιον Ίηοου Χριοτοΰ υίοΰ θεοΰ (Mk 1,1) verfaßte, lag dies nahe. Wie Mk 14, 61f. vormarkinisch lautete, ist heute nicht mehr ersichtlich. Vermutlich wird es um die Frage nach Jesus als dem υίός τοϋ άνθρωπου gegangen sein, da die archaisch und im heutigen Textbestand sperrig (δψεοθε) wirkende Kombination alttestamentlicher Zitate Erhöhung und Kommen des Menschensohnes zum Gegenstand hat und da auch die Tradition der Leidensankündigungen, mit der, wie Mk 14, 64f. zeigt, die Entstehung dieser Perikope verbunden ist, vom Menschensohn redet.86 82 Mk 10, 33f.; κατακρίνω taucht allerdings noch einmal im unechten Markusschluß in Mk 16, 16 auf, έμπτύω noch in Mk 15, 19 bei der Mißhandlung vor Pilatus. 83 S.o. Anm. 61; in der synoptischen Tradition begegnet die Vokabel nur hier. 84 Traditionsgeschichtlicher Hintergrund dürfte das Schweigen des Gerechten Ψ 38, 14-16; 39, 10 sein, evtl. auch das Schweigen des Gottesknechts Jes 53, 7, vgl. J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 281; möglicherweise hat Mk dieses Motiv aber auch selbst in die Pilatus-Erzählung eingetragen, denn für die markinische Verfasserschaft von Mk 15, 3 - 5 spricht neben vokabelstatistischen Gründen [κατηγορέω nur hier und Mk 3, 3 red.; ούκέτι markinisches Vorzugswort; πάλιν und έπερωτάω s.o.] auch die Spannung zwischen V. 2 und V. 4f. Jedoch liegt dieses Problem außerhalb unserer Fragestellung. 85 S.u. Anm. 88. 86 Über die Genese von Mk 14, 61f. besteht in der derzeitigen Exegese kein Konsens. Zumeist nimmt man an, die Kompilation der AT-Zitate sei dem ursprünglichen έγώ είμι hinzugewachsen, so schon E. Wendling, Entstehung, 173f.; N. Perrin, 155; L. Schenke, Christus, 37-44 (ihm folgt J. Gnilka, Markus, Bd. 2 , 276f.); W. Schenk, Passionsbericht, 234f. und Ich-Idiom, 123f.; D. Dormeyer, Passion, 165-167; M. Myllykoski, Bd. 1, 61-63; verantwortlich für die Hinzufügung der alttestamentlichen Texte sei entweder eine vormarkinische Redaktion (Perrin, Schenke,

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Quellenkritischer Teil

Markus hat die Verse zu einem Wendepunkt seines Evangeliums umgestaltet: Endlich wird das Messiasgeheimnis durchbrochen, „aber erst im unübersehbaren Horizont des Kreuzes" 8 7 . Wie das erste ού εΓ ό χριοτός des Petrus in Mk 8, 29 mit der ersten Leidensankündigung verbunden war, so ist das erste (und einzige) offene Selbst-Bekenntnis des Christus nur im nun unauflösbaren Zusammenhang von Mißhandlung und Tod möglich. Der Messias und Gottessohn wird nur unter dem Kreuz erkannt (Mk 15, 39!)88 Als vormarkinischer Bestand der Perikope verbleibt somit: V. 55—59: Zeugenverhör mit Tempelwort, V. 57 evtl. ohne άναοτάντες. V. 61b*: Frage an Jesus, vermutlich nach seiner Menschensohnschaft. V. 62* : Entgegnung Jesu, eventuell mit σύ λέγεις par Mk 15, 289 und Rezitation von Dan 7, 13 und Ψ 110,1.

Gnilka) oder der Evangelist selbst (Wendling, Schenk, Myllykoski, Dormeyer). Auch H.-J. Steichele, 284-286, sieht in seiner Untersuchung zum markinischen Gottessohnbegriff im Anschluß an die oben genannten Autoren V. 62b als sekundär gegenüber der Hohepriesterfrage nach Χριοτός ό υιός τοΰ εύλογητοϋ in V. 61 und dem jesuanischen έγώ είμι in V. 62a an, wiewohl er ansonsten bei allen übrigen Vorkommen des Gottessohntitels im Markusevangelium (Mk 1, 11; 3, 11; 9, 7) markinische Redaktion nachweisen zu können meint (209); W. Grundmann, Markus, 415A24, nimmt schließlich ein dreistufiges Wachstum der Antwort Jesu an: 1.) έγώ είμι; 2.) vormk. Redaktion: έγώ είμι plus Ψ 110, 1; 3.) markin. Redaktion: έγώ είμι plus Ψ 110, 1 plus Dan 7, 13. Dem allen ist entgegenzuhalten, daß die Wendung έγώ είμι nicht schon deswegen über den Verdacht der redaktionellen Entstehung erhaben sein kann, weil sie am Beginn der Entgegnung Jesu steht. Ein ausdrückliches έγώ είμι im Munde Jesu findet sich in der gesamten synoptischen Tradition sonst nur noch in Mk 6, 50, und dort geht es auf den Evangelisten selbst zurück (s.o. Anm. 79); D. Dormeyer, Passion, 165A611; J. Gnilka, Markus, Bd. 1, 266f.). Auch hier in Mk 14, 61f. dürften das έγώ είμι Jesu und mit ihm die für Mk zentrale Frage nach Jesu Gottessohnschaft erst durch die Redaktion des Evangelisten in den Text eingetragen worden sein, während die Verse vormarkinisch den Menschensohn zum Thema hatten, worauf noch V. 62b und die Verwandtschaft von Mk 14, 64f. und Mk 10, 33f. hindeuten. Zum theologischen Gehalt des Verses vgl. W. Schenk, Ich-Idiom, 123f., und F. Hahn, Hoheitstitel, 181-183; 288f.; F. Hahns These bezüglich der Undurchführbarkeit literarkritischer Operationen in Mk 14, 61f. (290A2) ist allerdings völlig unbegründbar. 87 J. Gnilka, Markus, Bd. 1, 169. 88 Zur Diskussion um das Messiasgeheimnis vgl. G. Strecker, Messiasgeheimnis, 87-104; U. Luz, Geheimnismotiv, 9 - 3 0 ; J. Roloff, Markusevangelium, 283-310; H. Räisänen, „Messiasgeheimnis"; J. Gnilka, Markus, Bd. 1, 167-170; Chr. Maurer, 515-526. 89 Vorgeschlagene Konjektur von D. Dormeyer, Passion, 165.176.

Markus

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V.63-65: Verurteilung und Mißhandlung Jesu par Mk 10, 33f.; 15,16-19. Aus dem so gewonnenen vormarkinischen Bestand ragen nun die das Tempelwort umfassenden Verse Mk 14, 5 7 - 5 9 hervor. Wie schon E. Wendling90 gesehen hat, nimmt V. 57 das έψευδομαρτύρουυ κατ' αύτοΰ von V. 56a wörtlich auf, um Jesu Tempelwort als ein nochmal besonders zu nennendes falsches Zeugnis einzuleiten. V. 59 teilt dann — nun unter Aufnahme von V. 56b — mit, daß auch dieses Zeugnis91 nicht übereingestimmt habe, wiewohl es doch soeben in V. 58 in eindeutiger Weise rezitiert wurde. Wenn aber „das Zeugnis wörtlich angeführt und noch dazu im Singular davon gesprochen wird (μαρτυρία), so kann doch von Ungleichheit keine Rede sein." 92 Diese logische Schwierigkeit des Textes ist nun kein Zeichen übertriebener markinischer Apologetik, wie F.C. Baur 93 annahm. Vielmehr bemüht sich eine vormarkinische Redaktion, durch die Wiederholung von V. 56b nun wieder an den Erzählzusammenhang der Perikope anzuschließen, in dem V. 56 ursprünglich von V. 60 weitergeführt wurde. Diesen Zusammenhang hatte sie zuvor zerstört, indem sie in V. 57 nochmal den Vers 56a wiederholte, um hier die Rezitation des Tempelwortes einfügen zu können. 94 Ein ähnliches Vorgehen dieser Redaktion wird in Mk 15, 2 9 - 3 2 zu beobachten sein.95 Uber die literarkritische Beweisführung, die den Rahmen Mk 14, 57.59 als Doppelung und damit als sekundär erscheinen läßt, hinaus hat

90 E. Wendling, Ur-Marcus, 36A16. 91 Hier allerdings logischerweise im von V. 56 abweichenden Singular ή μαρτυρία ... 'ώη ην konstruiert. 92 Ε. Wendling, Die Entstehung des Marcus-Evangeliums, Tübingen 1908, 173. 93 F.C. Baur, Markusevangelium, 106; ähnlich schon in: Untersuchungen, 556f.; durch die Aufnahmen des Tempelworts bei Markus sah sich Baur in seinem Urteil über den „epitomirende(n) Charakter" (Untersuchungen, 557) des Markusevangeliums bestätigt. Markus habe das (nach der von Baur noch vorausgesetzten Griesbach'schen Benutzungshypothese ursprüngliche) matthäische δύναμαι in ein eindeutigeres futurisches καταλυθώ umgewandelt, um eine Beziehung zum Kreuz herzustellen, und auch aus demselben Grunde das Wortpaar χειροποίητος - άχειροποίητος hinzugefügt, jedoch habe er sich weiter, indem er dies alles in V. 59 auch noch als falsches Zeugnis deklarierte, zuletzt selber widersprochen. Hingegen zeigt R.E. Brown, Bd. 1, 4 4 4 - 4 5 4 , daß die Falschheit der Zeugenaussage auf der Ebene der markinischen Endredaktion durchaus nicht ohne Stringenz behauptet werden kann. 94 So unter Aufnahme E. Wendlings (s.o. Anm. 9 0 - 9 2 ) auch R. Bultmann, Geschichte, 291; L. Schenke, Christus, 32f.; D. Dormeyer, Passion, 159.162; J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 276, sowie in: Verhandlungen, 12.18-21; H.-J. Steichele, 213A81; U. Sommer, 134f. 95 Vgl. Abschnitt 1.1.2. dieser Studie.

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R. Bultmann 96 den sekundären Charakter der Verse 5 7 - 5 9 auch mit formgeschichtlichen Argumenten belegen wollen: Als primäres Anliegen der christlichen Tradenten müsse die in V. 61f. angesprochene Christologie gelten, die hierzu in literarischer wie theologischer Spannung stehenden Verse 5 7 - 5 9 könnten demgegenüber nur sekundär sein. Grundsätzlich wird dem zuzustimmen sein, wenn auch unter dem Vorbehalt, daß der vormarkinische Textbestand von V. 6lf. nicht mehr rekonstruierbar ist; wahrscheinlich wird es jedoch auch im vormarkinischen Text um eine christologische Problematik, nämlich die des Menschensohnes /(s.o.), \ gegangen sein. · 98 Das Tempelwort ist also von einer vormarkinischen Redaktion in die Synhedriumsperikope eingetragen worden. Dabei bemüht sich V. 58 in umständlicher Weise — ήκούοαμεν αύτοΰ λέγοντος δτι — um die wörtliche Wiedergabe eines in der ersten Person Singular formulierten angeblichen Jesuslogions; somit erscheint es als ein zuvor selbständig umlaufendes Traditionsstück, dessen Wortbestand der Redaktor auch im jetzigen Kontext nach Möglichkeit beibehalten wollte. Redaktionell ist in diesem Zusammenhang die Deklarierung des Tempelwortes als Falschzeugnis, durch die das Logion in den vorgege-

96 Geschichte, 291f. 97 Ebenso F. Hahn, Hoheitstitel, 177A3. 98 Abwegig ist die Analyse von E. Linnemann, 127-131, die nur V. 59 als redaktionell ansehen will; es sind jedoch sowohl V. 59 als auch V. 57 aus V. 56 gebildet worden, zudem auch noch mit derselben literarischen Technik, und die drei Verse 5 7 - 5 9 bilden eine klar abgrenzbare Sinneinheit, die als solche auch noch in Spannung zu dem Folgenden steht (s.u.). Anders argumentiert auch W. Schenk, Passionsbericht, 237-239.243, der in Anlehnung an H.W. Bartsch, Bedeutung, 92.99-101, die Verse ebenfalls als nicht zum Grundbestand des Passionsberichtes gehörig ansieht, jedoch nur Mk 14, 57* und Mk 14, 58 (bis χειροποίητον) zum vormk Textbestand zählt und den Rest der markinischen Redaktion zuschreibt. Die scheinbare Stärke dieser Hypothese liegt darin, daß sie die logische Spannung zwischen eindeutiger wörtlicher Rezitation des Tempelworts und dem „nicht-gleich-Sein" des Zeugnisses scheinbar literarkritisch zu lösen vermag, jedoch transformiert sie die vermeintliche gestalterische Fehlleistung des Erstredaktors nur in eine Fehlleistung des Zweitredaktors Markus. Die Schwäche der Hypothese W. Schenks besteht ferner darin, daß sie die Zusammengehörigkeit des redaktionellen Vorgehens in V. 57 und V. 59, das je einer Vershälfte von V. 56 zuzuordnen ist, nicht beachtet und darüber hinaus nicht sieht, daß auch in Mk 15, 2 9 - 3 2 (vgl. 1.1.2. dieser Studie) eine ähnliche redaktionelle Technik ihre Anwendung findet (nicht gesehen von W. Schenk, Passionsbericht, 20f.40f.53f). Ferner bietet auch der Hinweis auf Mk 13, 2 (W. Schenk, Passionsbericht, 238) keinen hinreichenden Anlaß für die Annahme eines literarischen Bruches zwischen Mk 14, 58ba und Mk 14, 58 bß.

Markus benen

Zusammenhang

der

Synhedriumsperikope

29 eingepaßt

V o m T e m p e l w o r t selbst sind j e d o c h , v o m m ö g l i c h e r w e i s e

wurde."

kontextbe-

d i n g t e n b e t o n t e n έγώ a b g e s e h e n , k e i n e S p u r e n r e d a k t i o n e l l e r Ü b e r a r b e i t u n g a b h e b b a r . D e r t r a d i t i o n s k r i t i s c h e n B e t r a c h t u n g ist also das e i g e n ständige L o g i o n ( Έ γ ώ ) καταλύαω τον ναόν τούτον τον χειροποίητον και δια τριών ήμερων άλλον άχειροποίητον οίκοδομήοω als älteste F o r m d e r in M k 14 v o r l i e g e n d e n T r a d i t i o n greifbar. D e r Textbestand der Synhedriumsperikope vor der Interpolation des Temelwortes dürfte somit die Verse M k 14, 5 5 . 5 6 . 6 1 b * 6 2 b * 6 3 . 6 4 . 6 5 umfaßt hae n . 1 0 0 Sie dürfte nach Motiven aus den Psalmen 1 0 1 und der Tradition der L e i densankündigungen 1 0 2 gebildet und in den Bericht von der Verleugnung des Petrus eingeschoben worden sein; ihre Intention bestand vermutlich darin, in den ältesten Leidensbericht einzutragen, daß Jesus a.) aufgrund seines christologischen Anspruchs und b.) durch das Verschulden der Jerusalemer Führungsschicht verurteilt und getötet worden sei. 1 0 3 Jedoch kann die Frage nach der Genese der Passionstradition in einer Studie über das Tempelwort Jesu nicht ausdiskutiert werden. 1 0 4

E

99 Daß das Tempelwort nach Meinung des Redaktors nicht unbedingt eine falsche Aussage darstellte, könnte Mk 15, 38 vermuten lassen, s.u. Abschnitt 1.1.3. dieser Studie. 100 Anders E. Wendling, Ur-Marcus, 57: Schicht M i : 65; Schicht M2: 55f.60f.62a(bis έγώ είμι).63ί.; Mk: 5 7 - 5 9 . 6 2 b ; L. Schenke, Christus, 44: Grundbestand: 55f.60f.62a (bis έγώ είμι).63-65; hellenistische Redaktion: 5 7 - 5 9 , 6 2 b ; D. Dormeyer, Passion, 171: Märtyrerakte: 55; sekundäre Redaktion: 56.61b.62aa(o δέ Ίηαοΰς εΐπεν plus Konjektur ού λέγεις nach Mk 15, 2).63f.65b; Mk: 57-61a.62 aßb.65ac; T.A. Mohr, 2 5 2 - 2 7 5 : Langbericht: 55f.61b*62*63f.65b; hellenistisch-judenchristliche Redaktion: 5 7 - 5 9 ; Mk: 53b.60.61a(bis πάλιν).65a; J. Becker, Jesus, Berlin 1996, 4 2 6 - 4 2 9 : Grundbestand 53a.56.60.61a.65; 5 7 - 5 9 sowie 61b-64a nachträgliche Auffüllungen, hierbei 61b-64a wahrscheinlich markinisch. 101 So Ψ 27, 12. 102 Besonders Mk 10, 33f. 103 Daß sich hier in irgendeiner Form eine historische Reminiszenz an die näheren Umstände des Todesschicksals des irdischen Jesus erhalten haben soll, ist zwar nicht völlig auszuschließen, aber doch ziemlich unwahrscheinlich. 104 Vgl. hierzu die verschiedenen Lösungsversuche von E. Linnemann, L. Ruppert, D. Dormeyer, Passion; W. Schenk, L. Schenke, Christus; die bei W.H. Kelber gesammelten Beiträge; T.A. Mohr, U. Sommer, W. Reinbold, sowie die kürzlich zu diesem Thema erscheinende Habilitationsschrift von M. Meiser.

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Sieht man in Mk 14, 57-59 eine vormarkinische Interpolation, so muß auch E. Linnemanns105 kritische Anfrage, was ein eventueller Redaktor denn mit dieser Einfügung hätte bezwecken sollen, beantwortet werden. Vorläufig — und wiederum unter dem Vorbehalt, daß uns der vormarkinische Text von Mk 14, 61f. nicht bekannt ist — kann hier nur auf die offensichtliche Intention verwiesen werden, Jesu Verhältnis zum Tempel, wie es durch das bereits zuvor tradierte Tempelwort beschrieben wird, auch in den Passionsbericht einzutragen und hier als eigentlichen oder zumindest sehr wesentlichen Gegenstand seines Konflikts mit dem institutionalisierten Judentum darzustellen — und damit als den eigentlichen oder zumindest sehr wesentlichen Grund seines Sterbens. Eine ausführlichere Antwort soll nach Sichtung des Textes von Mk 15, 29—32 gegeben werden.

1.1.2. M k 15, 2 9 - 3 2 Die Perikope ist in einem längeren Wachstumsprozeß entstanden, dessen Verlauf in der Forschung unterschiedlich beurteilt wird.106 E. Wendling107 vermutete, daß in Mk 15, 29f. eine authentische Schmähung gegen Jesus vorliege, die sich „in volkstümlich übertreibender Ausdrucksweise"108 auf dessen bei der Tempelreinigung gezeigten Reformeifer bezogen habe. Da ihm das Wort nun einmal vorgegeben war, habe der Evangelist dann auf ungeschickte Weise versucht, es zu entschärfen, indem er es als falsche Zeugenaussage in die Synhedriumsverhandlung einbaute und es zugleich durch die Hinzufügung von χειροποίητος und «χειροποίητος paulinisierend spiritualisierte. Nach E. Wendling wäre Mk 14, 58 also von Mk 15, 29 abhängig.109

105 E. Linnemann, 111. 106 Vgl. die verschiedenen Hypothesen von R. Bultmann, Geschichte, 2 9 5 ; W. Schenk, Passionsbericht, 20f.40f.53f.; L. Schenke, Christus, 9 2 - 9 4 ; E. Linnemann, 138.147f.; J. Schreiber, 25; D. D o r m e y e r , Passion, 1 9 6 - 1 9 8 . 2 0 9 . 2 1 2 f . ; J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 312f.; D. Lührmann, Markusevangelium, 261f. 1 0 7 E. Wendling, Entstehung, 199; schon in Ur-Marcus, 3 2 . 5 9 , weist E. Wendling M k 15, 29f. dem vormarkinischen Redaktor „M2", M k 14, 58 aber dem Evangelisten selbst zu. 108 E. Wendling, Entstehung, 199. 109 Recht ähnlich auch noch S. Mendner, 101(f.)A29, wobei Mendner die ver-

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Analyse der Perikope In der Perikope stehen zwei Verspottungen (V. 29f. und V. 31f.) in Spannung zueinander. Während die erste das Tempelwort aus der Verhandlung Jesu vor dem Synhedrium rezitiert, knüpft die zweite mit β α ο ι λ ε ύ ς Ί ο ρ α ή λ direkt an den Erzählzusammenhang von V. 26 an, wo von dem auf der Schuldtafel angegebenen Königstitel berichtet wird. Die zur ersten Verspottung gehörende Aufforderung ο ώ ο ο ν ο ε α υ τ ό ν κ α τ α β ά ς ά π ό τ ο υ ο τ α υ ρ ο ΰ (V. 30) gibt in zusammengefaßter Form die Aussagen der Verse 31b.32a aus der zweiten Verspottung an. Während diese dort jedoch in einem durchaus reflektierten Zusammenhang zum Christustitel und der Rettung „anderer" gemacht werden, schließen sie in V. 30 nicht unbedingt mit inhaltlicher Notwendigkeit an das Tempelwort-Zitat an.110 So erscheint Mk 15, 30 als sekundäre Bildung aus Mk 15, 31b.32a und die Verspottung Mk 15, 29b. 30 als sekundäre Dublette zu V. 31f.111 Auch daß sich V. 29b (beginnend mit κ α ι λ έ γ ο ν τ ε ς ) und V. 30 problemlos aus der Perikope herauslösen lassen — ο μ ο ί ω ς V. 31 bezieht sich dann auf das έ β λ α ο φ ή μ ο υ ν von V. 29112 —, spricht für das Vorliegen eines Einschubs. Der ursprüngliche Text des Leidensberichtes nahm das Motiv des Kopfschütteins und Spottes der Gegner im Angesicht des leidenden Gerechten aus der Psalmentradition (Ψ 22, 8)113 auf und schloß die Spottreden der Pharisäer gegen den König und Messias Israels an, wobei das Rettungsmotiv wiederum auf den folgenden Psalmvers Ψ 22, 9 anzuspielen scheint.114 Der Verfasser von Mk 15, 29b. 30 intendierte, bei der Kreuzigung Jesu noch einmal auf das Tempelwort anzuspielen, und paßte seine Interpolation dem Kontext der Verspottungsszene an, indem er die ihm in

meintliche Abhängigkeit des Tempelworts M k 14, 58 von M k 15, 2 9 allerdings auf nicht unproblematische Weise mit der von ihm postulierten Mt-Priorität - und somit der Priorität der Tempelwortvariante Mt 26, 61 - in Einklang zu bringen versucht; vgl. hierzu auch die von S. Mendner zitierte Exegese der Perikope von E. Klostermann, 155. 110 Mit L. Schenke, Christus 93. 111 Mit G. Schille, 195; T.A. Mohr, 3 3 7 - 3 4 2 ; J. Gnilka, EKK II/2, 312; H.-J. Steichele, 212f.; gegen R. Bultmann, Geschichte, 295. 112 Dieses Faktum übersieht U. Sommer, 187, der die zweite Verspottung eben aufgrund des ο μ ο ί ω ς der letzten, markinischen Redaktion der Perikope zuordnen möchte. 113 Auch Ψ 109, 25. 114 Vgl. J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 312; M. Myllykoski, Bd. 1, 126.

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V. 31f. vorliegende Aufforderung, vom Kreuz zu steigen, einfach wiederholte. Somit ähnelt sein redaktionelles Vorgehen dem in Mk 14, 57—59 beobachteten: Nach dem Einschub des fremden Textes soll durch simple Wiederholung eines ursprünglichen Versteiles der Anschluß an den Erzählzusammenhang wieder hergestellt werden; infolge dieser Technik kommt es zu einer gewissen sachlichen Unstimmigkeit innerhalb des Einschubs: Mk 14, 59 steht in inhaltlicher Spannung zu V. 58 n s und Mk 15, 30 hat keinen inneren Bezug zu V. 29. Beide Interpolationen gehen somit auf denselben Redaktor zurück.116 Wie Mk 15, 30 nun sekundär aus Mk 15, 31f. gestaltet worden ist, so erweist sich auch Mk 15, 29b als eine sekundäre Bildung aus Mk 14, 58.117 Während das Tempelwort im Mk 14, 58 mit Hilfe einer umständlichen grammatikalischen Konstruktion als Zitat in der ersten Person Singular geboten wird, erscheint es in Mk 15, 29 dem Kontext völlig angepaßt als direkte Anrede der παραπορευόμενοι an den Gekreuzigten. Als Angleichung an den redaktionellen Zusammenhang erscheint auch der Wegfall der Epitheta χειροποίητος — «χειροποίητος, die im Munde der Spötter wenig Sinn gemacht hätten. 1 Da Mk 15, 29b von Mk 14, 58 abhängig ist, kann der Vers für die Frage nach der frühesten Traditionsgeschichte des Tempelwortes außer Betracht bleiben.

1.1.3. Zur Frage einer v o r m a r k i n i s c h e n R e d a k t i o n Nimmt man an, daß Mk 14, 5 7 - 5 9 und Mk 15, 29b.30 von demselben Redaktor in den frühesten Leidensbericht eingefügt wurden, so ist, um Näheres über den Tradentenkreis zu erfahren, in dem das Tempelwort Jesu überliefert wurde, die Frage nach einer vormarkinischen redaktio-

115 S.o. Abschnitt 1.1.1.2. dieser Studie. 116 Vgl. T.A. Mohr, 413: Typisch für den vormk hellenistischen Redaktor seien „ohne Rücksicht auf Grammatik oder Kontext vorgenommene Einschübe" (T.A. Mohr, 413, dort Satzanfang). 117 Mit J.R. Sauer, 442f.; gegen E. Wendling, Entstehung 199. 118 Möglicherweise schlägt sich die Anpassung des Logions an den Kontext der Verspottungsszene auch in der von Mk 14, 58 abweichenden Formulierung der Dreitagesfrist (έν τριοίν ήμέραις) nieder; auf jeden Fall ist die mit διά plus Genitiv konstruierte Dreitagesfrist des in Mk 14, 58 wörtlich tradierten Logions im grammatischen Sinne auf die Auferweckung Jesu nach drei Tagen hin interpretierbar, die in Mk 15, 29 gebotene redaktionelle Form hingegen nicht; vgl. hierzu das in Abschnitt 2.3. dieser Studie zu R. Bultmanns Interpretation der Dreitagesfrist Ausgeführte.

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nellen Überarbeitung des Passionsberichtes zu stellen. Zuerst ist zu prüfen, ob der Interpolator von Mk 14, 5 7 - 5 9 und Mk 15, 29b.30 auch noch an anderer Stelle in den Text eingegriffen hat. Auffällig ist der in der Tempelwort-Redaktion begegnende, eher an paulinische Sprachlichkeit erinnernde119 Gebrauch von ναός zur Bezeichnung des Tempels, während der Evangelist ansonsten ιερόν verwendet. 120 Der einzige weitere Beleg von ναός im Markus-Evangelium findet sich in Mk 15, 38. Die Thematik des Verses, nämlich das Zerreißen des Vorhanges im Tempel, berührt sich mit der im Tempelwort ausgesprochenen Zerstörungsandrohung. Auch dieser Vers ist offensichtlich redaktionell und mit wenig Rücksicht auf die logische Stuktur des überarbeiteten Textes eingefügt worden, da έξ άναντίας αύτου in V. 39 inhaltlich an V. 37 anknüpft, obwohl es sich im heutigen Text rein grammatikalisch auf den Tempel beziehen müßte. 121 Es liegt somit nahe, in Mk 15, 38 denselben Redaktor am Werk zu sehen wie schon in Mk 14, 57—59; 15, 29b.30. Damit stellt sich im Rahmen dieser Studie zum Tempelwort

119 l.Kor 3, 16f.; 6, 19; 2.Kor 6, 16. 120 Mk 11, 11.15.16.27; 12, 35; 13, 1.3; 14, 49; anders R. Pesch, Naherwartungen, 90f., jedoch kann seine These ιερόν meine markinisch-redaktionell den Tempelbezirk und ναός das Tempelhaus selbst, m.E. nicht überzeugen, da sich R. Pesch der literarkritischen Frage nach der Verarbeitung verschiedener Quellen mit verschiedener Sprachlichkeit bei seiner Betrachtung des Passionsberichtes gar nicht ernsthaft stellt. Hingegen ordnet J. Schreiber, 187A148, ιερόν der markinischen Redaktion [mit Ausnahme von Mk 11, 15f.] und ναός der vormarkinischen Tradition zu. Dem dürfte grundsätzlich zuzustimmen sein, zu Mk 13, 1 vgl. allerdings Abschnitt 1.5. dieser Studie. 121 Die textkritischen Varianten von D W Θ 5 6 5 f 1 und dem Sinai-Syrer stellen den Versuch dar, mit dieser Schwierigkeit des Textes fertig zu werden, und sprechen darum für die Ursprünglichkeit der von Nestle-Aland gebotenen Variante. 122 Mit L. Schenke, Christus, 86.100f.; J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 312f.; U. Sommer, 203; gegen D. Dormeyer, Passion, 204f.; zu einem völlig anderen Ergebnis kommt freilich G.W.E. Nickelsburg, der die mit dem Tempel befaßten Verse des Passionsberichtes als gattungsspezifische Schaltstellen einer „extant passion narrative, whose story line tied Jesus' death to his attitude toward the temple" (Genre, 183), ansieht. Diese vormarkinische Erzählung sei nach der Form der „Stories of Persecution and Vindication in Jewish Literature" (Genre, 155; vgl. auch 155-163) in einer sich als neuem Tempel verstehenden Gruppe gebildet worden; da Markus bei der Überarbeitung des Traditionsstückes eine andere Intention als die für die o.g. Gattung konstitutive verfolgt habe, ständen die gattungsspezifischen Charakteristika, nämlich Mk 14, 58; 15, 29f. und Mk 15, 38, heute in Spannung zur markinischen Textgestalt. M . E . überzeugt weder die mit Hypothesen beladene Gattungsbestimmung des vormarkinischen Passionsberichtes noch die Logik der hieraus gezogenen Schlüsse.

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die grundsätzliche Frage nach einem vormarkinischen Textwachstum des Passionsberichtes. Anfang der 70er Jahre wandte sich die neutestamentliche Forschung in stärkerem Maße der Untersuchung der vormarkinischen Passionstradition zu. E. Linnemann ging in ihren „Studien zur Passionsgeschichte" 123 davon aus, daß der Evangelist Markus die Leidensgeschichte Jesu aus mehreren verschiedenen, bereits schriftlich fixierten Quellenstücken zusammengesetzt habe. Dieser Gedanke war bereits von J. Schreiber 124 für Mk 15, 20ff. durchgeführt worden. Die für unseren Zusammenhang wichtige Perikope von der Verhandlung Jesu vor dem Synhedrium sei, so E. Linnemann 1 2 5 , aus zwei zuvor selbständig überlieferten Einzeltraditionen 126 kompiliert worden, nämlich der Erzählung von der „Verurteilung des Messias" [Mk 14, 55f.60a.61c-64] und der Erzählung vom „Schweigen Jesu" [Mk 14, 55a.57f.61b.60b.61a]; daß Jesus sich in dieser nach Jes 53, 7 und Ψ 38, 13-16 gestalteten Perikope selbst gegen den völlig absurden — immerhin war der Sprengstoff ja noch nicht erfunden! 127 — Vorwurf, den Tempel in drei Tagen zerstören und wiederaufbauen zu wollen, nicht zur Wehr setzte, belegt nach Linnemann Jesu Bereitschaft zum Leiden. Besonderen Wert legte Linnemann auch auf die Bestreitung sowohl der Historizität des Tempelwortes als auch seiner seit der Religionsgeschichtlichen Schule behaupteten Verwandtschaft mit Vorstellungen aus dem Bereich des apokalyptischen Judentums. 128 Problematisch an Linnemanns Exegese von M k 14, 5 5 - 6 4 erscheint die willkürlich wirkende Zerstückelung und Umgruppierung der Verse 60f. sowie die literarkritische „Notlösung" den nicht in den postulierten Einzeltraditionen unterzubringenden V. 59 kurzerhand dem Endredaktor Markus zuzuschreiben. Auch auf den gesamten Umfang ihrer Studie betrachtet ließ sich weder die zwingende Notwendigkeit von Linnemanns literarkritischen Entscheidungen plausibel machen, noch konnte die Exegetin die formgeschichtliche Frage nach dem Sitz im Leben beantworten, wie ihn die von ihr angenommen selbständig tradierten Erzählungen ja aufweisen müßten. So modifizierte W. Schenk 1 2 9 Linnemanns These dahingehend, daß dem Evangelisten zwei ursprünglich eigenständige Passionsüberlieferungen vorgelegen hätten, aus denen er dann einen einzigen Bericht geformt habe. Schenk rekonstruierte eine präeschatologische, durch den Gebrauch des Präsens historicum

123 Erschien in F R L A N T , Bd. 102, Göttingen 1970. 124 J . S c h r e i b e r , T h e o l o g i e des Vertrauens, erschien 1967 in H a m b u r g . 125 Vgl. zum folgenden E. L i n n e m a n n , 1 0 9 - 1 3 5 . 126 E. L i n n e m a n n , 128f. 127 E. L i n n e m a n n , 132. 128 E. L i n n e m a n n , 1 1 6 - 1 2 7 ; zuzustimmen ist E . L i n n e m a n n zumindest insofern, als daß in der zwischentestamentlichen Literatur die Tradition der Erneuerung des Heiligtums, deren Umfang die Exegetin m . E . unterschätzt, nicht mit dem Messias verbunden ist (E. L i n n e m a n n , 1 2 5 - 1 2 7 ) ; vgl. hierzu Kapitel 2 . 2 . 3 . dieser Studie. 129 W. Schenks Arbeit zum Passionsbericht nach Markus erschien 1974 in Berlin.

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;ekennzeichnete Schicht und eine apokalyptisch bestimmte Passionserzählung 130 ;

; etzterer rechnete Schenk auch das Tempelwort zu. Die Tradenten der in ihr vertretenen „apokalyptisch-gnostischen Passionsauffassung" 131 sah Schenk in den Gegnern des Paulus. 132 Für sie seien das Tempelwort Jesu und die in M k 15, 38 geschehende Uberwindung des Jerusalemer Kultus zentrale theologische Inhalte gewesen. Doch läßt sich weder die eigenständige Tradierung von Schenks apokalyptischer Variante des Passionsberichts 133 wahrscheinlich machen, noch konnte Schenk dessen Genese erklären; auch kann Schenks Bestimmung des Tradentenkreises der apokalyptischen Passionserzählung nicht überzeugen. Im folgenden griffen die exegetischen Arbeiten zur Leidensgeschichte daher auf die bereits von E. Wendling 13 vertretene These einer bereits vormarkinisch redigierten (Passions-)Erzählung zurück. D. Dormeyer 135 sieht am Anfang der Passionstradition eine in der hellenistisch-judenchristlichen Gemeinde beheimatete Grundschicht stehen, die nach dem Vorbild der hellenistischen Märtyrerakte komponiert worden war und die Person Jesu typologisch als leidenden Gerechten und Märtyrer deutete. Eine „sekundäre Redaktion", die für die Auflockerung des von der Grundschicht vorgegebenen Handlungszusammenhanges durch Einzelszenen und Dialoge verantwortlich zeichnet, vertrat vor allem das christologische Interesse, Jesus als Erfüllung des Alten Testaments, zugleich aber als dessen Uberbietung darzustellen. Der Endredaktor und Heidenchrist Markus schließlich, der die divergenten Elemente der Passionsgeschichte im Sinne der Gattung „Legende" 136 überarbeitete, entapokalyptisierte das ihm vorgegebene Textmaterial und entwarf so den Gedanken eines zwischen Ostern una dem Endgericht bestehenden Interims, das durch die Kirche als eschatologischer Größe qualifiziert ausgefüllt wird. Diese markinische Konzeption, der auch ein gewichtiges paränetisches Implikat zu eigen ist, macht den Bruch mit dem Judentum unabänderlich. Interessanterweise ordnet Dormeyer auch das Tempelwort dieser letzten, markinischen Redaktion zu. 137 L. Schenke 138 sieht das zentrale Anliegen des frühesten Passionsberichtes darin, „das Leiden und Sterben Jesu als das Leiden und Sterben des Messias dar-

130 W. Schenk, Passionsbericht, 272. 131 W. Schenk, Passionsbericht, 237. 132 W. Schenk, Passionsbericht, 273. 133 Ihren Umfang bestimmt W. Schenk, Passionsbericht, 272f. 134 Ur-Marcus, 13; E. Wendling hatte allerdings für das ganze Evangelium eine schon vormarkinisch erweiterte Quellenschrift angenommen. 135 D. Dormeyers diesbezügliche Arbeit erschien ebenfalls 1974; zum folgenden vgl. Passion, 288-290; den hypothetischen Textbestand der einzelnen Schichten gibt D. Dormeyer auf den Seiten 297-301 an. 136 D. Dormeyer, Passion, 273 -276. 137 D. Dormeyer, Passion, 159-163.171; zum markinischen Tempelverständnis nach D. Dormeyer vgl. auch Passion, 281. 138 Der gekreuzigte Christus, SBS 69, Stuttgart 1974; zur „hellenistischen Redaktion" vgl. v.a. die Seiten 36f.49f.91.93-96.100f.l41-143.

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Quellenkritischer Teil

zustellen." 139 Diese in gewisser Weise apologetische Intention findet theologisch ihren Ausdruck in der Rede vom gekreuzigten Messias, die das zeitgenössische Messiasverständnis völlig umdeutet, indem es das alttestamentliche Motiv des leidenden Gerechten mit der traditionellen Messianologie verbindet. Eine „scharf antijüdische Redaktion", die die Verse Mk 14, 57-59.62b; 15, 6-15a.21.29b. 30.33.38 in den Passionsbericht einträgt, sieht im Tode Jesu vor allem die Ablösung der alten, durch Israel und seinen Tempel bestimmten Heilsordnung geschehen, die sich im besonderen durch das Verhalten ihrer Führer selbst desavouiert hat. Hinter dieser Redaktion stehen nach L. Schenke die hellenistisch-judenchristlichen Kreise in Jerusalem um Simon von Kyrene [Mk 15, 21!] und Stephanus, deren Konflikt mit Tempel und Gesetz aus Acta 6f. hinlänglich bekannt sei. 140 Der Evangelist Markus schließlich habe den Passionsbericht „zum Höheiunkt seines Messiasgeheimnisses ausgestaltet"141, da Jesus gerade und ausschließich als der Gekreuzigte als Gottessohn erkannt wird [Mk 15, 39]; Auf diese Weise wird auch die Gemeinde eindrücklich zur Xreuzesnachfolge aufgerufen. L. Schenkes Hypothese einer hellenistischen Redaktion des vormarkinischen Passionsberichts wurde von J. Gnilka 142 und U. Sommer 143 grundsätzlich übernommmen, auch wenn Gnilka einen etwas anderen Textumfang der redaktionellen Hinzufügung annimmt. 144 In der Bestimmung des Tradentenkreises des redigierten Passionsberichtes als der Gruppe um Stephanus folgt J. Gnilka ebenfalls L. Schenke. Ähnlich schreibt auch T.A. Mohr die Verse Mk 14, 57-59; 15, 29f.38f. einer hellenistisch-judenchristlichen Redaktion („B'^ des unter den Judenchristen Jerusalems entstandenen „Langberichtes (P)" zu. Anders als J. Gnilka und L. Schenke findet T.A. Mohr eine tempelfeindliche Intention jedoch erst bei dem Endredaktor Markus, nicht schon beim vormarkinischen Redaktor. 147 Auch M. Myllykoski geht in seiner Monographie zum Passionsbericht 148 von einer dreistufigen Entwicklung des Textes aus. Jedoch sieht er in der ersten Wachstumsphase der Erzählung (vom „alten Passionsbericht" zur „erweiterten

f

139 L. Schenke, Christus, 139 (Hervorhebungen im Text). 140 Ahnlich hatte im Hinblick auf Mk 14, 57-59 schon H. Lietzmann, 6, argumentiert. 141 L. Schenke, Christus, 144. 142 J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 348-350; zum Tempelwort selbst schon 276f.312; vor dem Erscheinen von L. Schenkes Arbeit hatte J. Gnilka noch Markus selbst für den Zuwachs von Mk 14, 57-59 verantwortlich gemacht, vgl. J. Gnilka, Verhandlungen, 19f. 143 U. Sommer, 134f.187.203. 144 J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 350A13. 145 T.A. Mohr, 411-413. 146 Zu dessen Textumfang vgl. T.A. Mohr, 404f. 147 T.A. Mohr, 414f. 148 Erschienen 1991/1994 in Helsinki; in der für seine Studie grundlegenden Annahme eines sowohl der markinischen als auch der johanneischen Passionstradition vorausliegenden gemeinsamen Grundberichtes folgt M. Myllykoski J. Jeremias, Abendmahlsworte, 83-90.

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Passionsgeschichte" 1 4 9 ) weniger eine planmäßige redaktionelle Überarbeitung als das Hinzutreten von „Stücke(n) ganz unterschiedlicher H e r k u n f t " 1 5 0 ; die für unsere Untersuchung wichtigen Verse M k 14, 5 7 - 5 9 ; 15, 2 9 b . 3 0 . 3 8 1 5 1 m u ß er daher der markinischen Endredaktion zuordnen, die ein besonderes Interesse an der Tempelzerstörung gehabt habe. 1 5 2 D e r G r o ß t e i l der Exegeten ordnet das Tempelwort Jesu also einer vormarkinischen [W. Schenk, L . Schenke, T . A . M o h r , J. Gnilka, U . S o m m e r ] oder markinisch-redaktionellen [ D . D o r m e y e r , in gewissem Sinne auch M . Myllykoski] Schicht zu, die an der Ü b e r w i n d u n g des Jerusalemer Kultus durch den Tod Jesu interessiert gewesen sei. Nach den Ergebnissen dieser Studie, die sich nur mit den im Zusammenhang mit dem Tempelwort Jesu stehenden Versen befassen soll — und somit keine Lösung für das redaktionsgeschichtliche P r o b l e m des gesamten Passionsberichtes geben kann—, liegt zumindest in den Versen M k 14, 5 7 - 5 9 ; 15, 2 9 b . 30.38 eine einheitliche Redaktionsschicht vor, die bereits vormarkinisch in den Text der Leidensgeschichte eingetragen wurde. S o m i t können am ehesten die Entwürfe von L . Schenke und J . Gnilka bestätigt werden, auch wenn deren Zuordnung von M k 14, 6 2 b zu einer vormarkinischen Redaktion nicht gefolgt werden konnte. 1 5 3

Das Anliegen der vormarkinischen Redaktion, soweit dieses im Rahmen der Fragestellung dieser Untersuchung ins Blickfeld gekommen ist, war es, einen Zusammenhang zwischen dem Todesschicksal Jesu und dem Jerusalemer Tempel herzustellen: a.) In Mk 14, 57-59 wird das Tempelwort Jesu in den Prozeß Jesu vor dem Synhedrium eingetragen. Das Todesurteil über den Menschensohn und Messias, von den Vertretern des jüdischen Establishments ausgesprochen, wird so in Verbindung gebracht mit Jesu Ankündigung, den Tempel zu erneuern (οίκοδομήοω). Der Redaktor ist dabei auf die genaue Wiedergabe des Wortlauts bedacht; wahrscheinlich hat er ein in seinen

149 M. Myllykoski, passim. 150 Μ. Myllykoski, Bd. 1,192. 151 Vgl. M. Myllykoski, Bd. 1, 116-130; das Tempelwort selbst hält M. Myllykoski jedoch für ein ursprünglich mit der Tempelreinigung verbundenes Herrenwort, vgl. Bd. 1, 122.192. 152 M. Myllykoski, Bd. 1, 130; auch Bd. 2, 182f.: Der Evangelist wollte durch die Deklarierung des Tempelworts als Falschzeugnis die in enthusiastischen christlichen Kreisen verbreitete Anschauung korrigieren, Jesus werde nach der jüngst durch Titus erfolgten Tempelzerstörung umgehend wiederkehren. 153 S.o. Abschnitt 1.1.2. dieser Studie. Es wird sich ferner im Verlauf dieser Untersuchung zeigen, daß L. Schenkes Verortung der vormarkinischen Redaktion im Stephanuskreis auf einer Unterschätzung der literarischen Möglichkeiten des Lukas beruht; gegen H. Lietzmann, 6, ist nicht Mk 14, 5 5 - 6 4 von Acta 6f. herzuleiten, vielmehr ist die Stephanuserzählung von M k 14, 55ff. abhängig.

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Q u e l l e n k r i t i s c h e r Teil

Kreisen selbständig umlaufendes Logion verarbeitet. Das Wort redet von der Aufhebung des bestehenden Tempels und der Errichtung eines neuen Heiligtums154; das in diesem Zusammenhang gebrauchte Gegensatzpaar χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς — « χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς bedeutet eine bewußte, polemische Disqualifizierung des Jerusalemer Tempels und seines Kultus, nicht, wie J. Wellhausen156 meinte, eine nachträgliche Entschärfung des Tempelworts durch die wieder tempelfreundlichere Urgemeinde. b.) Indem in Mk 15, 29f. das Tempelwort nochmals als Verspottung Jesu begegnet, erinnert der Redaktor den Leser an den Grund jener Feindschaft, die dem Gekreuzigten von Seiten des jüdischen Volkes entgegenschlägt. Zugleich beinhaltet der Einschub das Moment der dramaturgischen Steigerung: Während Jesus am Kreuz offenbar seinem Ende entgegensieht, scheint der Triumph seiner Peiniger ebenso sicher zu sein wie der Bestand ihres Tempels. c.) Die Interpolation von Mk 15, 38 verbindet den Tod Jesu (samt dem Christusbekenntnis des Hauptmanns157) mit der durch das Zerreißen des Tempelvorhanges geschehenden Profanierung des Jerusalemer Heiligtums.158 Jesu im Tempelwort ausgesprochene Zerstörungsandrohung ist

154 O b hiermit, wie der paulinische Sprachgebrauch vermuten läßt, die Kirche gemeint ist oder o b es sich um die Aufnahme einer apokalyptischen Vorstellung handelt, wird Gegenstand der motivgeschichtlichen Untersuchung in Kapitel 2 dieser Studie sein. 155 Vgl. hierzu A b s c h n i t t 2.5. dieser Studie; Hintergrund der Epitheta ist letztlich die jüdische G ö t z e n p o l e m i k . 156 J. Wellhausen, Evangelium Marci, 1 3 1 - 1 3 3 ; ähnlich deutete J . Wellhausen auch V. 59. 157 Soweit M k 15, 3 9 b schon in dieser F o r m zum vormarkinischen Bestand des Passionsberichtes gehörte; anders D . D o r m e y e r , Passion, 2 0 6 . 158 Mit G . Strecker meint das Zerreißen des Vorhanges, „daß G o t t aus dem T e m pel auszieht" (Passionsgeschichte, 2 4 2 ) ; E. L i n n e m a n n , 1 5 8 - 1 6 3 , die den Vers eher als einzigartige Enthüllung der Majestät Gottes beim Tode Jesu deuten m ö c h t e , trägt, wie auch ihre Belegstellen verraten, einseitig die T h e o l o g i e der Priesterschrift in die ( i m m e r h i n neutestamentliche) Kreuzigungsperikope ein; näher läge eine motivgeschichtliche O r i e n t i e r u n g an zeitgenössischen Quellen wie S y r B a r [s.u. A n m . 159]; zudem übersieht L i n n e m a n n den polemischen Gehalt schon von M k 14, 58; 15, 2 9 ; richtig hingegen auch R. Pesch, Markusevangelium, 4 9 9 ; L . S c h e n k e , Christus, 100; W. S c h e n k , Passionsbericht, 4 4 - 4 7 ; D . D o r m e y e r , Passion, 2 0 5 ; E. L o h m e y e r , Markus, 347. R. Feldmeier, 2 2 7 - 2 2 9 , weist auf formale und inhaltliche Analogien von M k 15, 3 7 - 3 9 und der Taufszene M k 1, lOf. hin und interpretiert von hier aus „das Zerspalten des Vorhanges als ein die Gottessohnprädikation bestätigendes Handeln Gottes" (227, Hervorhebungen im T e x t ) ; freilich trägt diese - auf der E b e n e der G e s a m t k o m p o s i t i o n des Markusevangeliums durchgeführte - Interpretation von M k

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praktisch erfüllt, da das Allerheiligste entweiht ist und der Tempel damit seine Funktion als Wohnort des Heiligen verloren hat.159 Jesu Leiden und Tod (und das darauf folgende Christusbekenntnis der Heiden) bedeutet also die Uberwindung der alten, auf Israel bezogenen Heilsordnung, wie sie im Jerusalemer Tempel ihren sichtbaren Ausdruck fand, d.) Für den Tradentenkreis des vormarkinischen Tempelwortes ergibt sich von daher, daß er in einem scharfen Gegensatz zum wohl noch existierenden160 Jerusalemer Tempel stand und das Logion in diesem Sinne bewußt polemisch interpretierte. Vermutlich geschah die Eintragung des Wortes in den Passionsbericht durch hellenistische Christen mit antijüdischer Gesinnung. Die von J. Wellhausen161 behauptete redaktionelle Tendenz zur „Entschärfung" des Logions läßt sich nicht erkennen.

15, 38 für das Verständnis des Verses in seinem vormarkinischen Kontext wenig aus. Einen interessanten Beitrag zum Verständnis von Mk 15, 38 liefert auch U. Sommer, 212-214: die in Mk 14, 58; 15, 29 „vorbereitete" Zerstörung des ναός meint nicht die Vernichtung des Bauwerks, sondern die Aufhebung seiner - um der Unreinheit der Menschen willen bestehenden - Funktion: das Zerreißen des (den unreinen Menschen vor der Heiligkeit Gottes schützenden) Vorhanges meint die durch die Passion geschehende Neudefinition der Beziehung Gottes zum Menschen, Versöhnung geschieht nun nur noch unter dem Kreuz Christi; Zum Tempelvorhang selbst vgl. Th. Klauser, 141-142, sowie die diesbezüglichen Erwägungen im oben schon genannten Beitrag von R. Feldmeier. 159 W. Schenk, Passionsbericht, 47, weist auf den geradezu antithetischen Charakter von Mk 15, 38 zu SyrBar 6, 7f. hin; dort ist gerade von einer Bewahrung des Vorhanges durch die „laute Stimme" Gottes [vgl. wiederum Mk 15, 37] die Rede; interessanterweise findet sich in SyrBar 6, 9 auch die Vorstellung einer endzeitlichen Erneuerung „Jerusalems", wie sie in der Redaktionsschicht auch in Mk 14, 58b vorliegt. 160 Zerstört wird hier jedenfalls nur der Vorhang. 161J. Wellhausen, Evangelium Marci, 132f.

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Quellenkritischer Teil

1.2. Mt 26, 61 Der Evangelist Matthäus überliefert das Tempelwort im Verlauf seines Berichtes vom Prozeß Jesu vor dem Synhedrium. Während der Kontext des Logions bei Mt und M k also identisch ist, weicht sein Wortlaut in Mt 26, 61 jedoch erheblich von dem der markinischen Variante ab. E. Lohmeyer 1 hat daher in Mt 26, 5 7 - 6 7 eine von M k 14, 55ff. unabhängig überlieferte Tradition sehen wollen, die M t hier anstelle des markinischen Berichts verarbeitet habe; das Gros der Exegeten nimmt jedoch eine redaktionelle Überarbeitung der markinischen Vorlage durch Matthäus an. 2 Da es für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist, ob sich in Mt 26, 61 eventuell eine von M k 14, 58 unabhängige Variante des Tempelwortes erhalten hat, soll Mt 26, 59—68 nun auf die mögliche Verarbeitung von über M k 14, 5 5 - 6 5 hinausgehenden Traditionen untersucht werden. Differenzen im Textbestand von Mt 26, 5 9 - 6 8 und M k 14, 5 5 - 6 5 liegen in großer Zahl vor: In Mt 26, 59 ist das Adjektiv ο λ ο υ — anders als in M k 14, 55 — dem Substantiv τό ουνέδριον nachgestellt; weiterhin ist die Tötungsabsicht bei Mt eleganter mit δπως mit finiter Verbform konstruiert. Die von M k so bezeichnete μαρτυρία der Zeugen wird von Matthäus ausdrücklich als ψευδομαρτυρία deklariert. Bei Mt ist somit von vornherein deutlich, daß es dem Synhedrium bei der Befragung der Zeugen 3 u m ein falsches Zeugnis geht. Dennoch verläuft diese Befragung ergebnislos, wobei Mt die Verbform (ούχ) ευρον statt des markinischen (ούχ) ηυριοκον verwendet. Daß die Erfolglosigkeit der gedungenen Zeugen durch das Vorliegen ungleicher Aussagen bedingt ist, wird bei M t — gegen M k 14, 56 — nicht gesagt.

1 E. Lohmeyer, Matthäus, 367.370; ähnlich zumindest für das Tempelwort Mt 26, 61/Mk 14, 58 noch S. Mendner, 101(f.)A29, im Anschluß an E. Klostermann, 155. 2 So W. Grundmann, Matthäus, ThHKNT 1, Berlin 1968, 545; J. Gnilka, Matthäusevangelium, 424; R. Schnackenburg, Matthäusevangelium, 267; W.F. Albright/C.S. Mann, 332f.; Th. Söding, 42A25. 3 Bei Mt im gen. abs. von προοέρχομαι konstruiert.

Mt 26, 61

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In Mt 26, 60b treten nun zwei (Mk 1 4 , 57: „einige") weitere Zeugen auf 5 , wodurch der nach rabbinischer Rechtsauffassung für ein Todesurteil notwendigen Zweizahl der Zeugen ausdrücklich Genüge getan ist. 6 Ihr Zeugnis wird mit einem über Mk 14, 5 7 hinausgehenden υοτερον δέ von den vorherigen Zeugenaussagen abgehoben. Weiterhin fehlt gegenüber Mk 14, 59 auch die Bemerkung, daß auch dieses Zeugnis „nicht gleich" sei. Im Zusammenhang der matthäischen Perikope dürfte das Zeugnis der Zwei somit als authentisch 7 und juristisch einwandfrei anzusehen sein. Nach einer im Vergleich mit Mk 14, 57f. deutlich kürzeren Einleitung 8 folgt in Mt 26, 61 nun die matthäische Variante des Tempelwortes: Δύναμαι κ α τ α λ υ ΰ α ι τον ν α ό ν του θ ε ο ΰ κ α ι δια τριών ήμερων οϊκοδομηοαι

Anstelle der in Mk 14, 58 verwendeten futurischen Formen κ α τ α λ ύ ο ω und οΐκοδομήοω begegnen die entsprechenden Verben im Infinitiv Aorist. Sie sind von einem am Satzanfang stehenden δύναμαι abhängig; das bei Mk an entsprechender Stelle stehende betonte έγώ fehlt. Somit wird dem Angeklagten in der matthäischen Variante nicht zur Last gelegt, daß er den Tempel tatsächlich zerstören und neu errichten wolle, sondern nur, daß er für sich in Anspruch nahm, über diesbezügliche Möglichkeiten zu verfügen. Des weiteren wird der Tempel bei Mt als ν α ό ν του θ ε ο ΰ bezeichnet, das markinische Epitheton χειροποίητον sowie der entsprechende Hinweis auf einen ά λ λ ο ν άχειροποίητον finden sich hier nicht. Inhaltlich bedeutet dies, daß die matthäische Variante — im Gegensatz zur markinischen — die Würde des Tempels als ναός τοΰ &εοΰ (und eben nicht als

4 Α (mit Umstellungen), C, D, 090, 0133 sowie die Handschriftengruppen / 1 3 und TO, 33, die mit der Vulgata gleichlautenden Altlateiner und die Haclensis haben statt δύο ein ψευδομάρτυρες, bei N, W , 1241 sowie einigen anderen Minuskeln und mit geringen Abweichungen auch beim Sinai-Syrer findet sich anstelle von δύο die Lesart τίνες ψευδομάρτυρες; beide Lesarten sind schlechter bezeugt und erklären sich aus der Kenntnis des markinischen Berichts von der Synhedriumsverhandlung, an dessen Verlauf die matthäische Perikope durch Wiederholung der in V. 60a schon verwendeten Vokabel ψευδόμαρτυς angeglichen werden sollte. 5 Wiederum προοέρχομαι, gegen Markus. 6 Nach Num 35, 30 und Dtn 17, 6; vgl. hierzu Strack-Billerbeck I, 266-269.lOOlf. 7 Mit R.E. Brown, Bd. 1, 435f., und W.F. Albright/C.S. Mann, 332. 8 εΐπον ούτος εφη statt λ έ γ ο ν τ ε ς οτι ήμεΤς ήκούοαμεν αΰτοΰ λ έ γ ο ν τ ο ς δτι (Mk 14, 57f.).

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Quellenkritischer Teil

bloßem ναός χειροποίητος9) sowie die Identität von gegenwärtigem und neu zu errichtendem Heiligtum wahrt. Auch V. 62 differiert von der markinischen Parallele Mk 14, 60, da Matthäus die Ortsbestimmung εις μέοον sowie die doppelte Verneinung ούκ άποκρίνη ούδέν nicht bietet, anstelle von έπηρώτηοεν das kürzere εΓπεν verwendet und Jesus nicht als Objekt der Anfrage des Hohepriesters, sondern als Subjekt des folgenden Hauptsatzes erwähnt. Auch die in V. 63 folgende Beschwörung beim lebendigen Gott ist matthäisches Sondergut.10 Weiterhin begegnet bei Mt — gegen Mk — der gebräuchlichere Messiastitel υιός του θεοΰ. Die folgende Antwort Jesu (V. 64) wird bei Mt mit λέγει αύτω, bei Mk mit εΐπεν eingeleitet. Während der markinische Jesus in Mk 14, 62 mit einem έγώ είμι auf die Frage des Hohepriesters eingeht, um dieses Bekenntnis dann mit einer Kombination aus Ψ 110, 1 und Dan 7, 13 auszuführen, entgegnet Jesus in der matthäischen Variante vorläufig mit einem bestätigenden αύ εΐπας11, um dann, wiederum gegen Mk, mit πλην λέγω ύμιν über die eigentlich gestellte Frage hinauszugehen.12 Entsprechend wird die mit Mk 14, 62 ansonsten übereinstimmende 13 Zitatenkompilation von Matthäus mit άπ' αρτι eingeleitet, was einen betonten Neuansatz zum Ausdruck bringt. Die in V. 65 anschließende Aktion des Hohepriesters wird bei Mt — gegen Mk — durch ein τότε zeitlich bestimmt. Das Verb διαρρήγνυμι steht bei Mt im Aorist, ferner verwendet Mt ιμάτια anstelle des markinischen χιτών. Die Ansprache des Hohepriesters beginnt mit einem über den Mk-Text hinausgehenden έβλαοφήμηοεν; das Vergehen Jesu, wie es die Synhedristen seinen Worten entnehmen zu können meinen, wird somit einleitend auf den Punkt gebracht. Dementsprechend verweist das (ebenfalls bei Mk fehlende) ι'δε νυν zurück auf die kurze Rede Jesu, an der sich der Vorwurf der Blasphemie festmacht.

9 Zum despektierlichen Charakter dieser Titulatur vgl. das in Abschnitt 2.5. zu den markinischen Epitheta Ausgeführte. 10 'Εξορκίζω ist Hapaxlegomenon; zur Bedeutung der Beschwörungsformel vgl. Strack-Billerbeck I, 1005f. 11 Identischer Gebrauch in Mt 26, 25; ähnlich immerhin Mk 15, 2 par Mt 27, 11/Lk 23, 3; die einzige wirkliche Parallele in der rabbinischen Literatur, TKelim BQ 1, 6, diskutiert Strack-Billerbeck I, 990f. 12 Vgl. W. Grundmann, Matthäus, 546; W.F. Albright/C.S. Mann, 333. 13 Jedoch im τ ω ν ν ε φ α λ ώ ν anstelle von μετά τ ω ν ν ε φ α λ ώ ν . Hingegen gebrauchen beide Evangelisten die über den Text der L X X hinausgehende Umschreibung des Gottesnamens durch δύναμις.

M t 26, 61

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A u f die Frage d e s H o h e p r i e s t e r s (V. 66) n a c h der a n g e m e s s e n e n Strafe 1 4 a n t w o r t e n die Synhedristen 1 5 m i t d e m Todesurteil, das i n seiner F o r m der w ö r t l i c h e n R e d e ebenfalls v o n M k 14, 6 4 b a b w e i c h t . Analyse

des

Sprachgebrauchs

Z w i s c h e n d e m T e x t v o n M t 2 6 , 5 9 - 6 6 u n d d e m der s y n o p t i s c h e n Parallele M k 14, 5 5 - 6 4 b e s t e h e n also e r h e b l i c h e D i f f e r e n z e n . J e d o c h ergibt sich aus der vokabelstatistischen Betrachtung, d a ß diese D i f f e r e n z e n auss c h l i e ß l i c h auf die r e d a k t i o n e l l e A r b e i t des E v a n g e l i s t e n u n d n i c h t auf die Verarbeitung eigenständig tradierter Q u e l l e n z u r ü c k g e h e n : Mt 26, 59: Konstruktionen mit δπως begegnen bei M t achtzehnmal, jedoch nur zweimal bei M k , siebenmal bei Lk u n d einmal bei Joh. D e r Gebrauch des Adverbs erweist sich somit als matthäisches Stilmittel. Ψευδομαρτυρία wird im N e u e n Testament nur von M t verwandt, nämlich hier u n d in M t 15,19. 1 6 V. 60: Auch ψευδόμαρτυς begegnet nur bei M t , allerdings auch nur hier in M t 26, 60. ΰοτερον ist mit acht Belegen bei Mt, davon fünfmal wie hier ύστερον δε, eindeutig ein matthäisches Vorzugswort, zumal es bei Lukas nur zweimal, bei M k u n d Joh nur je einmal begegnet. προσέρχομαι ist mit 51 Belegen bei M t (nur fünf bei M k , zehn bei Lk) ebenfalls matthäisches Vorzugswort. 1 7 V. 61: Φήμι ist mit 16 Belegen bei M t durchaus stärker vertreten als bei den übrigen Evangelisten. Δύναμαι begegnet bei M t 27mal, davon 19 Belege mit Infinitiv Aorist; jedoch wird die Vokabel auch von den übrigen Evangelisten recht häufig gebraucht , so daß hieraus keine weiteren Folgerungen abzuleiten sind. D i e von M k 14, 58 abweichende Wendung ναός του θεου findet sich in Nestle-Aland nur hier und in 2.Thess 4, 2; Apk 3, 12; 11,1.9. sowie zweimal in l . K o r 3,17. 2 0 - Jedoch liest in M t 21,12 eine respektable Reihe von Textzeugen 2 1 die einzigartige Wendung ιερόν του θεου. G e h t man von dieser (schwierigeren) Lesart aus, wie es auch H u c k / G r e e v e n ~ tut, so liegt in M t 21, 12 eine analoge Qualifizierung des Jerusalemer Heiligtums durch den Genitiv του θεοΰ vor, die

14 Mt verwendet δοκέω anstelle des markinischen φαίνω. 15 Bei Mt ohne das markinische π ά ν τ ε ς und unter Verwendung eines Aorist-Partizips von άποκρίνω konstruiert. 16 Vgl. W. Schenk, Sprache, 465. 17 Vgl. W. Schenk, Sprache, 258f. 18 Mk: 6/Lk: 8/Joh: 3. 19 Mk: 33/Lk: 26/Joh: 37. 20 O h n e Genitiv-Artikel noch in l.Kor 3, 16 sowie zweimal in 2.Kor 6, 16. 21 Nämlich C, D, W sowie die Gruppen f1, 331, Iat und sy.

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Quellenkritischer Teil

dann - hier wie dann auch in 26, 61 - als wahrscheinlich matthäisch-redaktionell anzusehen wäre. V. 62f.: Λέγω/έπε ρωτάω: Während Markus έπερωτάω 25mal gebraucht, verwendet Matthäus es nur achtmal. D a ß Matthäus ein markinisches επερωτάω redigiert, wie es hier in M t 26, 62 möglich scheint, geschieht u.a. M t 22, 23 par M k 12,18; Mt 27,13 par M k 15, 4; 'Εξορκίζω ist H a p a x l e g o m e n o n . 2 2 D e r Titel υιός του θεοΰ ist mit zehn Vorkommen bei M t deutlich besser belegt als bei den übrigen Synoptikern. Interessanterweise erscheint der G o t tessohntitel bei Mt auch im Verlauf der sich auf das Tempelwort beziehenden Verspottung am Kreuz 2 4 , w o er in eindeutiger Weise auf die matthäische Redaktion des Mk-Textes zurückgeht. V. 64: D i e Wendung ού εΐπας findet sich in der gleichen Bedeutung nur in M t 26, 25 wieder, w o sie ebenfalls als matthäisches Sonder^ut vorliegt. 2 5 Πλην verwendet M t fünfmal, M k jedoch nur einmal. D i e Wendung πλην λ έ γ ω ύμίν gebraucht Matthäus auch in M t 11, 22.24, während sie in der fukanischen Parallele nicht auftaucht. "Αρτι ist bei keinem weiteren Synoptiker belegt, jedoch siebenmal bei Matthäus 2 8 ; άπ' όίρτι verwendet Mt noch in Mt 23, 39 und M t 26, 29. V. 65: Τότε ist mit 90 Belegen bei M t eindeutig ein matthäisches Vorzugswort. Auch ίμάτιον verwendet M t deutlich häufiger als die übrigen Evangeli30 sten. Βλααφημέω ist mit drei Belegen bei M t und L k sowie vier Belegen bei M k und einem bei Joh unter vokabelstatistischen Gesichtspunkten betrachtet unauffällig. D e r Imperativ ϊδε ist bei M t weniger häufig, nämlich viermal, belegt als bei M k [sieben Belege] und bei J o h [16]; Lukas gebraucht ihn allerdings gar nicht. D i e Wortkombination ϊδε νυν hat ihre einzige Parallele in Joh 16, 29.

22 W. Schenk, Sprache, 371, interpretiert den matthäischen Gebrauch des Verbums von Mk 5, 7 diff Mt 8, 29 her und versteht das Selbstbekenntnis Jesu in V. 64 somit als Gegenbeispiel zum Verhalten des Petrus. 23 Mk: 4/Lk: 7. 24 Mt 27, 40; der Vers ist - analog zu Mt 26, 61 - redaktionell überarbeitet worden (υιός του θεοΰ) und im übrigen von Mk 15, 29f. abhängig. Für die Untersuchung der Traditionsgeschichte des Tempelwortes trägt Mt 27, 40 nichts aus. 25 Der gleiche bestätigende Sinn ist auch dem ού λ έ γ ε ι ς von Mk 15, 2 par Mt 27, 11 par Lk 23, 3 zueigen. Bei Johannes ist die häufiger anzutreffende Wendung ού λ έ γ ε ι ς meist interrogativ gemeint, so Joh 8, 52; 9, 17; 12, 34; 14, 9; 18, 34. 26 Bei Lukas allerdings 15 Belege, keiner bei Johannes. (Für Joh 8, 10 ist die Lesart von Κ textkritisch nicht haltbar.) 27 Lk 10, 14.12 28 Und zwölfmal bei Johannes; zum Gebrauch hier in Mt 26, 64 vgl. W. Schenk, Sprache, 50. 29 Gegen sechs Belege bei Mk, 15 bei Lk und zehn bei Joh. 30 Mt 16 Belege, Mk 12, Lk zehn, Joh sechs.

M t 26, 61

45

V. 66: Δοκέω gebraucht M t zehnmal, Markus hingegen nur zweimal; bei Lk finden sich elf, bei Joh acht Belege. Fragt man nach der unpersönlichen Wendung τί öoi/ύμΤν δοκεΤ, so wird das Ergebnis noch deutlicher 3 1 : sie findet sich bei M t insgesamt sechsmal, im gesamten übrigen N T jedoch nur in Joh 11, 56. Auch die Verwendung von α π ο κ ρ ί ν ο μ α ι ist bei M t mit 55 Belegen etwas gebräuchlicher als bei seinen synoptischen Seitenreferenten und könnte daner auch in M t 26, 66 gut auf matthäische Redaktion zurückgehen.

Somit liegen fast überall dort, wo Mt in seiner Schilderung der Verhandlung Jesu vor dem Synhedrium von Mk 14, 55-65 abweicht, typisch matthäische Vorzugsworte bzw. Stilmittel vor. Die Annahme E. Lohmeyers 33 , Mt habe hier eine eigenständige, vom Markusevangelium unabhängige Tradition verarbeitet, kann daher weder für die matthäische Variante des Tempelworts noch für die gesamte Verhandlungsszene aufrechterhalten werden.

Die theologische

Intention der matthäischen

Überarbeitung

Ein großer Teil der redaktionellen Eingriffe des Matthäus dient der stilistischen Glättung sowie der Tilgung von Spannungen im Mk-Text, wie sie sich dort aus dem Textwachstum ergeben hatten.34 Darüber hinaus liegt der matthäischen Redaktion jedoch ein christologisches, genauer messianologisches Interesse zugrunde. Der erste wesentliche Eingriff des Redaktors in den Verlauf der Erzählung besteht in der deutlichen Absetzung (υοτερον δέ) der das Tempelwort wiedergebenden Zeugen, die in der nach Num 35, 30 und Dtn 17, 6 für ein gültiges Verfahren nötigen Zweizahl auftreten. Die markinische Information, daß auch deren Zeugnis „nicht gleich" war, wird von Mt bewußt getilgt. Im matthäischen Erzählzusammenhang stellt die Aussage der „Zwei" also die juristisch korrekte Wiedergabe eines demzufolge authentischen Jesuswortes dar. Auch den Wortbestand des Tempelwortes selbst hat der Evangelist in bezeichnender Weise verändert: Es geht — gegen Mk — nicht um die Aufhebung eines „bloß mit Händen gemachten" Tempels und um die Errichtung eines neuen, dem alten überlegenen Heiligtums, sondern um ein und denselben ν α ό ς του θ ε ο ϋ , der als solcher die Wohnstatt Gottes in 31 32 33 34

Mit W. Schenk, Sprache, 197. Mk 30 Belege, Lk 46 Belege. S.o. Anm. 1. Vgl. 1.1.1.2. dieser Studie.

46

Q u e l l e n k r i t i s c h e r Teil

seinem Volk darstellt und dessen Würde auch der matthäische Jesus wahrt.35 Die Wiedererrichtung eben dieses einzigartigen Gottestempels entsprach nun der Hoffnung, die das jüdische Volk nach der Katastrophe des Jahres 70 in den von ihm erwarteten Messias setzte.36 Auch in der redaktionellen Interpolation des δύναμαι wird die messianologische Intention des Mt bei seiner Überarbeitung der Synhedriumsperikope deutlich: Zur Zeit des Evangelisten, da der Tempel nun wirklich in Trümmern liegt, hätte die Beibehaltung des markinischen καταλύαω nahegelegen; jedoch geht es dem Mt hier nicht darum, die Zerstörung des Tempels auf Jesus zurückzuführen37, sondern um den Nachweis — oder zumindest die Glaubensaussage —, daß Jesus über die ihm von Gott gegebenen Möglichkeiten verfügt — zur bereits geschehenen Zerstörung ebenso wie zur heute erhofften Erneuerung des Tempels — und somit als der rechtmäßige Messias Israels ausgewiesen ist. „Aus einer prophetischen ist eine Vollmachtsfrage geworden."38 Auch die weiteren redaktionellen Eingriffe des Evangelisten stehen im Dienst seines messianologischen Interesses: Jesus schweigt, da das von den zwei Zeugen rezitierte Logion durchaus der Wahrheit entspricht. Der Hohepriester will ihn jedoch zu einer Stellungnahme nötigen und greift zum Mittel der Beschwörung39, wodurch die Perikope auf ihren eigentlichen Höhepunkt zusteuert. Hier verändert Mt die markinische Frage nach Χριοτός ό υίός του ε ύ λ ο γ η τ ο ϋ in Χριατός ό υίός του θεοΰ. Dies geschieht nicht, weil für den ersten Evangelisten „diese Bezeichnung bereits zur festen Formel geworden war"40; vielmehr verwendet Mt in seinem Evangelium den Titel des Gottessohnes als „Hoheitsbezeichnung primär für den irdischen Jesus"41, 35 Vgl. J. Gnilka, Matthäusevangelium, 426. 36 Vgl. Strack-Billerbeck I, 1004f. 37 Implizit hat er dies in Mt 24, lf. bereits getan, indem er auf die Androhung der Tempelzerstörung direkt die Strafrede gegen die Pharisäer — von Anfang an erklärte Feinde der „besseren Gerechtigkeit" Jesu — folgen läßt; vgl. auch R. H u m m e l , 83-90. 38 J. Gnilka, Matthäusevangelium, 424; ähnlich E. Schweizer, Matthäus, 326; R. H u m m e l , 106f.; daß es Mt nur darum gegangen sei, ein vermeintliches Unvermögen Jesu, wie man es aus dem Futur, in dem Mk 14, 58 formuliert war, hätte herauslesen können, zu vermeiden [so. G Strecker, Weg, 121], erscheint doch als etwas kurz gegriffen. 39 Vgl. Strack-Billerbeck I, 1005f. 40 R. H u m m e l , 115. 41 G . Strecker, Weg, 126.

Mt 26, 61

47

während der anschließend in V. 64 begegnende Titel υιός του α ν θ ρ ώ π ο υ „aus der Welt der jüdischen Apokalyptik stammt und noch bei Matthäus das ursprünglich apokalyptische Element nicht verleugnet".42 Folgerichtigerweise beantwortet der matthäische Jesus die ihm gestellte Frage nach seiner ihm in seiner irdischen Existenz als υιός του θ ε ο ΰ eigenen messianischen Vollmacht mit ού ε'ιπας vorläufig bejahend, um sodann mit π λ η ν λ έ γ ω ύ μ ΐ ν über die eigentliche Frage des Hohepriesters hinauszugehen und auf das Sitzen des Menschensohnes bei Gott und sein Kommen zum Gericht, also auf die Vollmacht des Erhöhten und eschatologisch Kommenden, zu verweisen. Die Vollmacht des Christus beschränkt sich nicht nur auf die Zeit seiner irdischen Existenz, sie umfaßt auch sein erhöhtes Herrschen an der Seite des Vaters und seine einstige Wiederkehr zum Gericht, άπ' agu, d.h. von Kreuz und Auferstehung an, kann von Jesus nur als von dem herrschenden Menschensohn gesprochen werden, und als solcher ist er der Lebensgrund der matthäischen Gemeinde (Mt 28, 18-20!) — und auch der einzige, in den Israel seine messianisch geprägte Hoffnung auf eine Erneuerung des Tempels setzen könnte. Jedoch kann das zeitgenössische Israel, verkörpert im Hohepriester, in diesem Anspruch Jesu nur eine Blasphemie erblicken. Es fällt das Todesurteil über seinen eigenen Messias und richtet sich dadurch selbst. Das Zerreißen des hohepriesterlichen Gewandes geschieht daher in einer gewissen Doppeldeutigkeit. Die matthäische Redaktion der Synhedriumsperikope hat also durchgängig die messianische Hoheit Jesu zum Gegenstand. Um Jesu Messianität im Rahmen des Judentums seiner Zeit auszusagen, hat Matthäus das bei Mk tempelkritisch gemeinte Tempelwort in eine Darstellung der dem erhöhten Christus eigenen Möglichkeiten umgewandelt und zu einer korrekten Zeugenaussage werden lassen. Ebenso gerät die folgende Befragung des Angeklagten zur Deklaration seines messianischen Herrschaftsanspruchs. Da die matthäische Perikope somit an allen Punkten, an denen sie vom Mk-Text abweicht, von dem durchgängigen Interesse ihres Redaktors an der Messianität Jesu bestimmt ist und da fast alle Abweichungen

42 Ebd.; ähnlich auch W. Schenk, Ich-Idiom, 150; auch U. Luz, Matthäus, Bd. 2, 502: Während „Gottessohn" die dem Irdischen von oben gegebene Göttlichkeit aussagt und somit ein „vertikales" Element beinhaltet, ist der Titel „Menschensohn" eher „horizontaler" Natur, da er den Weg Jesu durch die Geschichte beschreibt, an dessen Ende seine Herrschaft und sein Gericht stehen.

48

Quellenkritischer Teil

matthäische Sprachmerkmale aufweisen, ist eine Verarbeitung einer von Mk 14, 55-64 unabhängig überlieferten Tradition weder speziell für Mt 26, 61 noch für die gesamte matthäische Synhedriumsperikope anzunehmen. Für die Frage nach der frühesten im Neuen Testament greifbaren Fassung des Tempelworts und deren form- und motivgeschichtlicher Einordnung kann Mt 26, 61 somit nicht weiter von Bedeutung sein.

Acta 6 , 1 4

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1.3 A c t a 6, 14 Der traditionskritischen Untersuchung der lukanischen Variante des Tempelwortes Acta 6,14 kommt eine besondere Bedeutung zu, da einige Exegeten in ihr „eine ältere Kurzform des Logions aufbewahrt" 1 sehen. Sollte in der Stephanuserzählung der Apostelgeschichte und speziell in Acta 6, 14 tatsächlich die redaktionelle Verwendung von älterem, gegenüber der synoptischen Tradition ursprünglicherem Traditionsmaterial nachzuweisen sein, so ständen wir hier wahrscheinlich nicht nur am Beginn der Traditionsgeschichte des eigentlichen Tempelwortes, es wäre darüber hinaus auch möglich, das Wort einer der wenigen uns bekannten Gruppen des vorpaulinischen Christentums, nämlich dem Stephanuskreis, zuzuordnen und von daher seinen Sitz im Leben und seine theologische Intention näher zu bestimmen. In diesem Sinne nahm H. Lietzmann 2 aufgrund der stilistischen wie inhaltlichen Ähnlichkeiten von Mk 14, 55-64 und Acta 6, 8-15; 7, 54ff. an, die markinische Synhedriumsperikope sei im Kreis des Stephanus verfaßt und in den Passionsbericht eingefügt worden, um die Motive der Jerusalemer Hellenisten sekundär in das Leben und Werk Jesu hineinzutragen. Ähnlich sieht L. Schenke 3 in der Gemeinde um Stephanus die Urheber der von ihm für den Passionsbericht nachgewiesenen vormarkinischen Redaktion. 4

1 J. Gnilka, Markus., Bd. 2, 276; in eine ähnliche Richtung geht auch L. Gaston, 1 5 4 - 1 6 1 . 2 4 3 . 4 0 1 , der die Verheißung des Neuen Tempels (also der eschatologischen Heilsgemeinde) zwar auf Jesus selbst zurückgehen sieht, die Ankündigung der Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums aber auf den Kreis der Hellenisten um Stephanus zurückführen möchte; bei Markus seien schließlich beide Traditionen zusammengewachsen (L. Gaston, 243); ähnlich nun auch E. Rau, der mit J. Gnilka in M k 14, 58 eine gegenüber Acta 6, 14 sekundäre Bildung sieht ( 2 0 - 2 4 ) ; nach E. Rau liegt in Acta 6, 14 ein authentisches Zeugnis aus dem Stephanus-Kreis vor, wobei die Tradition Acta 6, 14 ihrerseits das D r o h w o r t Mk 13, 2 und das Jerusalem-Wort Lk 13, 34f. voraussetzt, die beide auf den irdischen Jesus zurückgehen oder zumindest „fest in der Jesusüberlieferung verankert" (35) sind. 2 H. Lietzmann, 6f. 3 L. Schenke, 35f.43f.143; ebenso in: Urgemeinde, 176f. 4 Vgl. Abschnitt 1.1.3. dieser Studie.

50

Quellenkritischer Teil

Demgegenüber wird das Vorliegen einer älteren Tradition in der lukanischen Stephanusperikope und speziell in Acta 6, 14 von einigen Exegeten grundsätzlich abgestritten.5 D i e Diskussion, ob und inwieweit in Acta 6, 14 ältere Traditionen verarbeitet sind, ist auch für die Auseinandersetzung mit der „Biblischen Theologie" Tübinger Richtung von Interesse, hatte M . Hengel 6 doch methodisch vorausgesetzt, daß die Theologie des Stephanuskreises „vor allem der Anklage und dem P r o z e ß " 7 gegen Stephanus zu entnehmen sei. D i e Anklage lasse sich sich wie folgt zusammenfassen: „Stephanus behaupte, daß Christus das Ende des Tempels und seines Kultes bringe" 8 , und dies wiederum sei „die geistgewirkte Interpretation der Botschaft Jesu im neuen Medium der griechischen Sprache. H i e r erhielt Jesu eschatologisch-kritische Deutung der Tora, Moses und des Tempels neue Konturen." 9 Auf diesem Hintergrund hält es nun P. Stuhlmacher 1 0 für möglich, die postulierte kultkritische Verkündigung der Jerusalemer Hellenisten in Rom 3, 25f.* wiederzufinden. 1 1 D i e vorpaulinische Formel ist daher inhaltlich in dem Sinne zu bestimmen, daß sie die Ablösung der gemäß Lev 16 jährlich am Versöhnungstag im Allerheiligsten des Tempels geschehenden kultischen Sühne durch das einmalige Selbstopfer Christi behaupte, welches somit allen Tempelkult obsolet macht: „Wo dies verkündigt und geglaubt wird, da bedarf es keines Hohepriesters mehr und keines Sühnerituals". 12 D a Jesus nach Stuhlmacher 1 3 seinen Tod zuvor im Logion M k 10, 45 unter Verschmelzung der Motive vom Menschensohn, vom leidenden Gerechten und vom Gottesknecht sowie unter Verwendung des aus Jes 43, 3f. gewonnenen Be;riffs der „Stellvertretung" als ein λύτρου (=~1Q13) 1 άντί πολλών gedeutet hat, iegt in R o m 3, 25f.* nichts anderes als eine konsequente Weiterentwicklung des jesuanischen Sühneverständnisses vor, die der Stephanuskreis in der Auseinan-

f

5 So S. Arai, 398f.; ebenso G. Strecker, Befreiung, 481; J. Roloff, Kerygma, 104A182, sieht in Acta 6, 14 eine „freie lukanische Gestaltung einer nicht mehr rekonstruierbaren Vorlage", die für die Traditionsgeschichte des Tempelwortes nicht herangezogen werden kann. 6 M. Hengel, Jesus, 151-206. 7 M. Hengel, Jesus, 187. 8 M. Hengel, Jesus, 192. 9 M. Hengel, Jesus, 196, im Text teilweise hervorgehoben. 10 Zum Folgenden vgl. die Beiträge: Existenzstellvertretung für die Vielen: Mk 10,45 (Mt 20,28), (Versöhnung, 2 7 - 4 2 ) ; Die neue Gerechtigkeit der Jesusverkündigung, (Versöhnung, 4 3 - 6 5 ) ; Jesu Auferweckung und die Gerechtigkeitsanschauung der vorpaulinischen Missionsgemeinden, (Versöhnung, 6 6 - 8 6 ) ; Die Gerechtigkeitsanschauung des Apostels Paulus, (Versöhnung, 87-116). 11 P. Stuhlmacher, Versöhnung, 80-82. 12 P. Stuhlmacher, Versöhnung, 82. 13 P. Stuhlmacher, Versöhnung, 30-41. 14 Kritisch hierzu die detaillierte Analyse von W. Kraus, 179-184.

Acta 6,14

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dersetzung mit dem Jerusalemer Tempelkult gewann. Da andererseits der Apostel Paulus die jerusalemisch-antiochenische Sühnetradition „zum Fundament seiner Rechtfertigungs- und Erlösungsdarstellung" 15 macht und bei dem Apostel damit der „Formulierungsprozeß [des von Jesus ausgehenden Rechtfertigungsgedankens, d. Verf.] seinen Höhepunkt" 1 6 erreicht, ergibt sich auf diese Weise ein einheitliches, beeindruckend geschlossenes Bild der progressiven Entfaltung des neutestamentlichen Rechtfertigungskerygmas. 17

15 P. Stuhlmacher, Versöhnung, 102; vgl. dazu auch Versöhnung, 99-105. 16 P. Stuhlmacher, Versöhnung, 86. 17 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem von P. Stuhlmacher entworfenen Programm einer von Jesus zu Paulus sich kontinuierlich ausbildenden Gerechtigkeitsanschauung kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht geleistet werden. Zu dem oben Skizzierten ist anzumerken, daß J. Roloff in seinem Beitrag zu den Anfängen der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Verantwortung, 117-143) den nicht-jesuanischen Ursprung von zumindest Mk 10, 45b sowie die Zugehörigkeit des Verses zur neutestamentlichen Abendmahlstradition (διακονεΤν, ύπέρ/άντι πολλών) nachgewiesen hat (J. Roloff, Verantwortung, 129-139), so daß der Vers für Jesu eigene Schicksalsdeutung als „Existenzstellvertretung für die vielen" (P. Stuhlmacher, Versöhnung, 27-42) nicht als Beleg herangezogen werden kann. Ferner ist auch P. Stuhlmachers Rede von einer sich durchhaltenden „Gerechtigkeitsanschauung" problematisch, da in der synoptischen Jesustradition die Belege von δικαιοούνη zumeist matthäisch und somit redaktionell sind (neben sieben Belegen bei Mt findet sich nur einer bei Lk) und da auch in der alten Formel Rom 3, 25f.* der Begriff der δικαιοούνη nicht zum vorpaulinischen Bestand gehörte, wie die Analyse von W. Kraus, 10-20, ergeben hat; offenbar liegt hier doch ein späteres Theologumenon vor. Kritisch zu der von P. Stuhlmacher angenommenen Mittlerrolle der Hellenisten äußert sich auch H. Räisänen, Jesus, 149-202: Eine „Brückenfunktion" komme den Hellenisten zwar sowohl zwischen Jesu apokalyptischer Tempeldrohung und den späteren Tempelkritikern wie Mk, Hebr und Barn als auch zwischen der hellenistisch-jüdischen Diaspora und der Jesus-Bewegung zu, jedoch nicht in Stuhlmachers Sinn zwischen Jesus und Paulus, da Paulus nicht gegen den Tempel gewesen sei und Jesus nicht gegen das Gesetz (H. Räisänen, Jesus, 202). - Nur angedeutet werden kann die der Intention P. Stuhlmachers nahekommende Linie, die E. Rau „Von Jesus zu Paulus" (Titel der Monographie) zieht: Auch E. Rau geht bei seiner Untersuchung von der Anklage gegen Stephanus aus, die er im Kern als authentisch ansieht und auf die Jesus-Tradition (nicht Mk 14, 58, aber Mk 13, 2 und Lk 13, 34f.) zurückführt (15-35). Während die Tradenten von Q sich grundsätzlich um die Bewahrung aller ihnen bekannten Herrenworte bemühten, nahmen die in Jerusalem beheimateten hellenistischen Kreise (Simon von Cyrene!) speziell die mit Jerusalem verbundenen Jesus-Logien auf; sie bewahrten daher gerade die Erinnerung an die Tempelkritik des irdischen Jesus und interpretierten diese im eschatologischen Zusammenhang zugleich neu - und brachten hier, da sie Tempelkritik und Tötungsschicksal der Propheten miteinander verbanden (66-68), wegweisend „an zentraler Stelle auch den Tod Jesu zur Sprache" (116). So wurde schon in Jerusalem das theologische Fundament gelegt für die hellenistisch-antiochenische Mission unter Heiden, deren Anliegen nicht mehr die Beschneidung (86-100), sondern nur noch das Bekenntnis zu Je-

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Quellenkritischer Teil

Inwiefern der lukanische Text Acta 6, 8-7, 60 jedoch die ihm in diesem Zusammenhang zukommende Funktion erfüllen kann, der Stephanusgruppe eine kultkritische Gesinnung nachzuweisen — und damit die vorpaulinische Formel Rom 3, 25f.* von vornherein als Aussage über die Abschaffung des Tempelkultes durch den in der Selbsthingabe Jesu endgültig geschehenen Jom Kippur zu bestimmen 18 - muß die Exegese zeigen.

Analyse der Perikope Acta 6, 8—15 In der lukanischen Apg findet sich das Tempelwort im Bericht vom Prozeß gegen Stephanus Acta 6, 8-15. Die Perikope grenzt sich durch den Neuansatz Στέφανος δέ in V. 8 deutlich gegen die vorausgehende Wahl der Sieben ab; in 7, 54-8, 1 wird der Bericht fortgesetzt, nachdem er durch die lange Stephanusrede 7, 1—53 unterbrochen worden ist. In der Erzählung stehen Elemente, die an eine Lynchjustiz denken lassen19, in Spannung zu solchen, die ein Gerichtsverfahren vor dem Synhedrium beschreiben.20 Dies hat in der Forschung zu verschiedenen Hypothesen bezüglich der Quellenlage in dieser Perikope geführt21, von denen die Annahme eines vorlukanischen Berichtes von der tumultarischen Steinigung des Stephanus, in den Lukas die Züge eines ordentlichen Gerichtsverfahrens eingetragen habe22, in der heutigen Literatur den größten Anklang gefunden hat, ohne daß allerdings über den genauen Umfang der vorlukanischen Tradition ein Konsens besteht.23

sus als dem κύριος (83-86) sein konnte - und die somit direkt zu der Mission des Paulus hinführt (115-117.109-114). 18 Demgegenüber weist W. Kraus in seiner o.g. Arbeit nach, daß Rom 3, 25f.* neben Lev 16 auch die Heiligtumsweihen Ez 43.45 voraussetzt (59-65) und die Aussageintention der vorpaulinischen Formel somit eher in der durch den Tod Jesu geschehenden Weihe eines neuen, endzeitlichen Heiligtums liegt; die in der Forschung vorherrschende (vgl. W. Kraus, 45-70) einseitige Deutung von Rom 3, 25f.* von der in Lev 16 neben der Entsühnung des Heiligtums auch angesprochenen Entsühnung des Volkes her (a.a.O., 56f.), die das in der Formel bezeugte Geschehen in strikte Antithese zu dem im Tempelkult vollzogenen Sühneritual stellt, ist demgegenüber sekundär. 19 So Acta 6, 9.11; 7, 58-60. 20 Acta 6, 12f.l5. 21 Einen Uberblick geben E. Haenchen, Apostelgeschichte, 225, und G. Schneider, Apostelgeschichte, 433A4. 22 So schon im Jahre 1922 G.P. Wetter, 416; G. Schneider, Apostelgeschichte, 432-434; T. Holtz, Geschichte, 119; R. Pesch, Apostelgeschichte, Bd. 1, 234— 236.261f.; A. Weiser, Apostelgeschichte, Bd. 1,171f. 23 Vgl. zu Acta 7, 54ff. R. Pesch, Apostelgeschichte, Bd. 1, 261A1.

Acta 6 , 1 4

53

In der Tat neigt Lk dazu, Gerichtsverhandlungen zu konstruieren24, u n d d e r V o r w u r f v o n A c t a 6 , 13, κατά του τόπου (του άγιου) τούτου

και

του νόμου zu agieren, begegnet genauso in Acta 21, 28 und sinngemäß auch in Acta 25, 8. Ferner weisen auch λαός26 in V. 12 und ρήμα27 in V. 13 auf lukanische Sprachlichkeit hin. Wenn also die das Synhedriumsverfahren ansprechenden Verse lukanische Redaktion sein dürften, bleibt zu fragen, inwieweit Lukas zumindest in der Anklage in Acta 6, 14, die ja das Tempelwort zitiert, eine ältere Tradition aufnimmt. Wiederum ist zu bemerken, daß der Vorwurf einer doppelten Feindschaft gegen Tempel und Gesetz in Acta 6, 14 später auch dem Paulus in Acta 21, 28 und 25, 8 gemacht wird 28 und daher wohl lukanisches Interesse wiedergibt. Sprachstilistisch erweist sich τόπος mit 19 Belegen bei Lk und 18 in Acta, jedoch nur je zehn Belegen bei den übrigen Synoptikern, als lukanisches Vorzugswort, άλλάοοω begegnet im übrigen N T nur viermal bei Paulus und einmal im Hebräerbrief, also eher im gedanklichen Umfeld des Lukas. "Εθος ist bei den übrigen Synoptikern gar nicht, bei Lk jedoch dreimal und in Acta siebenmal belegt. Auch Μωϋοής verwendet Lukas deutlich häufiger als andere Schriften.29 Eine Kombination von εθος und Μωϋοής begegnet nur hier und in Acta 15, 1 sowie Acta 21, 21, ansonsten gar nicht im NT.

24 Vgl. Acta 4, 5 - 2 2 ; 1 8 , 1 2 - 1 7 ; 22, 3 0 - 2 3 , 11; 25, 1 - 2 6 , 32. 25 Textkritisch betrachtet muß τούτου zum Urtext gehören, da es u.a. auch von dem sehr alten 5>2S — wenn auch unter Umstellung — geboten wird. Daß τούτου von recht vielen Textzeugen weggelassen und in P 2 S umgestellt worden ist, erklärt sich aus der Schwierigkeit der überbestimmten Genitivkonstruktion und spricht daher für deren Ursprünglichkeit. 26 36 Belege bei Lk und 48 in Acta, hingegen nur 14 bei Mt, zwei bei Mk, drei bei Joh. 27 19 Belege bei Lk und 14 in Acta, nur fünf bei Mt und zwei bei Mk. 28 Angemerkt sei zu dem hier genannten (und in dieser Form sicherlich nicht historischen, sondern über Acta 6, 13f. auf Mk 14, 58 sowie auf Jer 26, 11 zurückgehenden) Vorwurf gegen Paulus, daß auch der Apostel Petrus von Spätfolgen der Traditionsgeschichte des Tempelwortes nicht verschont bleibt: Wie EvPetr 26 wissen will, mußten sich Petrus und die Jünger bis zur Auferstehung vor den Juden verstecken, da man ihnen unterstellte, sie wollten den Tempel anzünden. EvPetr steht hier in gewisser Weise in der Tradition des Lukas, da auch hier der bei M k noch gegen Jesus gerichtete Vorwurf einer beabsichtigten Tempelzerstörung auf renommierte Protagonisten der christlichen Gemeinde übertragen wird. 29 Zehn Belege bei Lk, 19 in Acta, sieben bei Mt, acht bei Mk, 13 bei Joh.

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Quellenkritischer Teil

Auch in der Bezeichnung Jesu als ό Ν α ζ ω ρ α ΐ ο ς 3 0 kann kein Beleg für eine vorlukanische Tradition gesehen werden. Zwar redete die hellenistische Christenheit von sich als den χριοτιανοί, während sich die Judenchristen und die von ihnen missionierten Orientalen nach Jesu Heimatstadt ΓΠ2ί] benannten, jedoch geht das häufige Vorkommen von Ναζωραίος in Acta31 auf den reflektierten Gebrauch des Wortes durch Lk zurück, der Jesus in der Rede von Christen an noch nicht glaubende Juden als Ναζωραϊος bezeichnet werden läßt32 und auf diese Weise eine historisch zutreffende Beschreibung der Situation der ersten Christen zu geben meint. Wie die Betrachtung von Acta 6, 8—15 zeigt, hat Lukas in dem Synhedriumsverfahren gegen Stephanus, in dem auch auf das Tempelwort Jesu angespielt wird, keine diesbezüglichen eigenständigen Traditionen verarbeitet33; vielmehr hat er die Szene frei konstruiert. Jedoch entwarf er den Lynchmord am ersten Märtyrer Stephanus nach dem Vorbild des Prozesses Jesu, wie er ihn von Mk 14 her kannte. 34 So finden sich im Bericht vom Martyrium des Stephanus Acta 6, 11—15; 7, 54—8, 2 verschiedene Elemente, die in der markinischen Synhedriumsperikope Mk 14, 55-64 begegnen, nicht aber in ihrer lukanischen Parallele Lk 22, 66-71. Diese wären: der Vorwurf der Blasphemie Acta 6, 11 par Mk 14, 64 diff. Lk 22, 71; das Auftreten falscher Zeugen gegen den Angeklagten Acta 6, 13 par Mk 14, 56f. diff. Lk 22, 66; das Tempelwort selbst incl. der Einleitung ά κ η κ ό α μ ε ν / ή κ ο ύ ο α μ ε ν ά υ τ ο ΰ λ έ γ ο ν τ ο ς οτι (!) Acta 6, 14 par Mk 14, 58 diff. Lk 22, 66f. Auch das Motiv des Sehens des Menschensohnes im Himmel zur Rechten Gottes (Acta 7, 56) hat Lukas offenbar aus Mk 14, 62 übernommen. 35

30 Vgl. hierzu auch H.H. Schaeder, 879-884; Lukas kennt auch die Bezeichnung Jesu als Ναζαρηνός (Lk 4, 34; 24, 19), wie sie auch Mk vertraut ist. 31 In Nestle-Aland 27 sieben Belege (Acta 2, 22; 3, 6; 4, 10; 6, 14; 22, 8; 24, 5; 26, 9), hingegen nur einer bei Lk, zwei bei Mt, keiner bei Mk. 32 So Acta 2, 22; 22, 8; 26, 9 und Acta 3, 6 par 4, 10, wo wegen der Wunderwirksamkeit des Namens auch Χριοτός steht. Im Munde ungläubiger Juden begegnet ΝαζωραΤος hier in Acta 6, 14 sowie in Acta 24, 5. 33 Gegen J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 276; L. Gaston, 242f.; F. Mußner, Apostelgeschichte, 43f. (für die Rede); R. Pesch, Apostelgeschichte, Bd. 1, 2 3 4 - 2 4 0 ; F.M. Young, 334f. 34 So zuletzt E. Larsson, 3 7 9 - 3 9 5 ; weiterhin J. Roloff, Kerygma 104A182; S. Arai, 399; J.R. Sauer, 426A5; F. Hahn, Mission, 29(f.)A5; U.B. Müller, 163. 35 Mk 14, 62 bietet Lk in verkürzter Form allerdings auch in seinem Evangelium (Lk 22, 69).

55

Acta 6 , 1 4

Die theologische

Intention

der lukanischen

Redaktion

Die Übertragung all dieser Motive von Jesus auf Stephanus dient Lukas weniger dazu, eine Parallele zwischen dem ersten Märtyrer und seinem Herrn zu konstruieren 36 — er hatte diese Elemente beim Prozeß Jesu ja gerade weggelassen! Vielmehr erklärt sich seine redaktionelle Arbeit aus seiner an zeitlichen und räumlichen Abschnitten orientierten Denkweise und aus seinem theologischen Interesse am Jerusalemer Tempel: Während der Tempel noch zur Zeit Jesu der Ort des gläubigen Gottesvolkes ist 37 und Lukas die Wirksamkeit Jesu ausdrücklich als eine Reise nach Jerusalem gestaltet 38 , um Jesus dort im Tempel lehren zu lassen 39 , wird der Bruch zwischen dem „Israel" und der jungen Christenheit — und damit die Desavouierung Jerusalems — erst mit der Vertreibung der hellenistischen Christen aus Jerusalem vollzogen. Beginnend mit der Pfingstpredigt des Petrus und den anschließenden Jerusalemer Massenbekehrungen war die verheißene Erneuerung Israels in der Jerusalemer Urgemeinde zur Erfüllung gekommen — die um die Apostel gesammelte Kirche repräsentiert „das zu seiner heilsgeschichtlichen Bestimmung gekommene Israel". 40 Entsprechend wurde der Tempel, die eigentliche religiöse Mitte Israels, von der Urgemeinde — wie zuvor schon von Jesus 41 — in Besitz genommen. 42 Indem jedoch mit Stephanus der er-

36 So aber R. Pesch, Apostelgeschichte, Bd. 1, 266. Richtig ist allerdings, daß L k den Tod des Stephanus an das Sterben Jesu, wie es in dem lukanischen Passionsbericht dargestellt ist, angleicht, so Acta 7, 59 das Anbefehlen des Geistes par L k 23, 46b [lukan. Sondergut], die φωνή μ ε γ ά λ η Acta 7, 60 par L k 23, 46a par M k 15, 37, sowie die Bitte um Vergebung für die Peiniger Acta 7, 60 par L k 23, 34 [Sondergut; mit E. Schweizer, Lukas, 239, ist das Fehlen von L k 23, 34a im Sinaiticus und im !P 7 5 auf eine bewußte Überarbeitung des Urtextes zurückzuführen.] Somit liegt dann ebenfalls in Acta 7, 59f. eine rein lukanische, am Evangelienstoff orientierte Bildung und kein älteres, von der synoptischen Tradition unabhängig tradiertes Quellenmaterial vor. 37 L k 1 setzt praktisch im Tempel ein; auch Simeon und H a n n a (Lk 2, 2 2 - 3 8 ) als Protagonisten des gläubigen Israel begegnen Jesus im Tempel, und der Zwölfjährige kehrt dorthin zurück 'ότι έν τοΤς του πατρός μου δ ε ι εΓναι ( L k 2, 49!). 38 Vgl. Η . Conzelmann, Mitte, 21-86. 39 L k 19, 4 5 - 4 7 ; 21, 37f.; auch die Erscheinungen des Auferstandenen verlegt L u k a s nach Jerusalem, damit das Heil — entsprechend Acta 1, 8, dem Aufriß der Apostelgeschichte — von dort ausgeht. 40 J. Roloff, Kirche, 200 (dort hervorgehoben); zum lukanischen Bild der Kirche als von G o t t erneuertem und unter Einbeziehung der Heiden vollendetem Israel vgl. J. Roloff, Kirche, 192-206. 41 L k 19, 4 5 - 4 7 ; 21, 37f. - vgl. bereits L k 2, 46-51. 42 Acta 2, 46; 3, 1; 5, 20f.42.

56

Quellenkritischer Teil

ste neben den Aposteln stehende kirchliche E x p o n e n t auf den Plan tritt, ist die erste Phase der lukanischen Heilsgeschichte v o n der Kirche, n ä m lich die Sammlung des Gottesvolkes aus den Juden, abgeschlossen 4 3 , und es beginnt das „ H i n z u k o m m e n der H e i d e n " 4 4 , von d e m der Rest der Apostelgeschichte handeln wird. Mit dieser im Auftreten der „Hellenisten" erstmalig geschehenden Hinwendung des Blicks zu der nichtisraelitischen Völkerwelt verliert Israel jedoch seinen — im Jerusalemer T e m pel Gestalt gewordenen — exklusiven Heilsanspruch. Die Ankündigung, „diesen O r t " aufzuheben, die Lukas in der markinischen Passionsgeschichte vorgefunden und die sich zu seiner Zeit längst erfüllt hatte, war d e m Evangelisten selbst im M u n d e falscher Zeugen als für Jesus und dessen Zeit unpassend erschienen; seit Stephanus und d e m Beginn der Zeugenschaft και έν πάθη trj 'Ιουδαία και Σαμαρεΐα και εως έοχάτου της γης macht sie jedoch mehr Sinn. Daher findet sich erstmalig in der Stephanusrede eine Kritik am Jerusalemer Tempel, die in d e m verleumderischen Vorwurf von 6, 13f. ihren Anknüpfungspunkt hat 4 5 , und darum begegnet nun, nach der Steinigung des Stephanus, in A c t a 8, 1 auch erstmalig die profane N a m e n s f o r m Ίεροοόλυμα, die Lukas in seinem D o p pelwerk so lange scheinbar bewußt vermieden hat. 4 6 Die Exklusivität des

43 Durch das Summarium Acta 6, 7f. wird die durch die Wahl der Sieben begonnene Entwicklung mit dem Wachstumsgedanken verknüpft, vgl. J. Roloff, Apostolat, 220.

44 J. Roloff, Kirche, 201 (dort hervorgehoben). 45 Ahnlich, wenn auch m. E. in der Sache überzogen, meint E. Haenchen, Apostelgeschichte, 227, Lukas habe „hier eine sehr kühne Taktik befolgt: er hat das vermeintliche Jesuswort hier angebracht, weil es als Anknüpfung und Vorbereitung dienen konnte für seine eigene Polemik gegen den Tempel (und Tempelkult)." - Wie er es in seiner markinischen Vorlage vorgefunden hat, bleibt das Tempellogion freilich formal ein Falschzeugnis, wenn sich Stephanus in seiner Rede auch de facto mit ihm identifiziert, vgl. hierzu die nun folgende Analyse von Acta 7, 2-53. 46 Mit Ausnahme von Acta 1, 4, da Lukas hier bei der resümierenden Anknüpfung an das schon im letzten Kapitel seines Evangeliums Berichtete noch in der im Proömium an Theophilos eingenommenen Perspektive verbleibt, nämlich der des lange nach Stephanus und der Uberwindung des Tempelkultes lebenden, hellenistischen [vermutlich römischen] Christen, für den die in den folgenden Kapiteln der Apostelgeschichte dargestellten heilsgeschichtlichen Ereignisse bereits in der Vergangenheit liegen; diese Perspektive wird mit der wörtlichen Rede Jesu V. 4bß.5 aufgegeben, und in V. 8 begegnet wieder die sakrale Namensform Ίερουοαλήμ. Zum Nebeneinander von Ίερουοαλήμ und Ίεροοόλυμα in Acta samt der Aporie der bisherigen Lösungsversuche vgl. J.M. Ross, 474-476; leider kann der Verfasser, da er die theologisch-heilsgeschichtliche Konzeption des Doppelwerkes in keiner Weise berücksichtigt, lediglich in der Vergeßlichkeit des Lukas (J.M. Ross, 476) eine plausible Erklärung für das Problem der beiden Namensformen von Jerusalem in Acta finden.

Acta 6 , 1 4

57

Jerusalemer Heilsortes ist nun aufgehoben, und von nun an erscheinen „oi Ι ο υ δ α ί ο ι " mitunter eher als Gegner des göttlichen Heilsplanes 47 , über die zuletzt das pessimistische Wort des lukanischen Paulus Acta 28, 26—28 gesprochen werden wird. 48 Auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten ist es also wahrscheinlich, daß Lukas in seiner Schilderung der Synhedriumsverhandlung des Stephanus synoptisches Material und speziell in Acta 6, 14 nichts anderes als Mk 14, 48 verwendet und entsprechend seinen theologischen Interessen redaktionell umgestaltet hat. L. Gastons These, die tempelkritische Tradition von Acta 6, 14 müsse als vorlukanisch und daher scheinbar zwangsläufig auch als auf Stephanus zurückgehend angesehen werden, da „it cannot at all be maintained that it represents Lucan theology" 49 , ist nach dem oben Gezeigten nicht aufrechtzuerhalten. Somit liegt in Acta 6, 14 keine von der synoptischen Tradition unabhängige Variante des Tempelwortes vor. Als eine Art „Gegenprobe" soll nun noch einmal kurz auf die Stephanusrede eingegangen werden, da einige Forscher in ihr vorlukanische tempelkritische Traditionen wiederfinden, die sie der frühen hellenistischen Judenchristenheit zuordnen. 50 Analyse Acta 7, 2-53

Gesteht man Lukas die schriftstellerische Fähigkeit zu, sich in den von ihm angenommenen denkerischen und sprachlichen Horizont seiner Figuren einzufühlen 51 , wird es unnötig, wegen des deuteronomisierenden

Literatur zur Diskussion um das Nebeneinander beider Namensformen bietet auch H.-J. Klauck, Stadt, 1 3 7 A 4 9 ; leider klammert Klauck diese Frage bei seiner Betrachtung der theologischen Bedeutung Jerusalems im Kontext des lukanischen Doppelwerks (Stadt, 1 3 7 - 1 4 7 ) völlig aus. 47 Vgl. Acta 9, 22f.; 13, 45; 14, 2; 17, 5; 18, 5f.; 21, 2 0 - 2 2 , 27f.; 23, 12f. 48 Vgl. hierzu J. Roloff, Kirche, 2 0 6 : „Lukas lehrt zwar nicht eine Substitution Israels durch die Kirche, wohl aber einen prozeßhaft sich vollziehenden Selbstausschluß großer Teile des jüdischen Volkes aus dem Gottesvolk." (Hervorhebungen im Text). - Freilich muß hier zugleich angemerkt werden, daß Lukas seine gesamte Ekklesiologie geradezu vom Verhältnis der Kirche zu Israel her entwirft und daß der lukanischen Position hier ein höheres Maß an Komplexität eingeräumt werden muß, als dies in der oben durchgeführten Analyse von Acta 6f. (bzw. Acta 6, 13f.) deutlich werden kann. Vgl. zu diesem Thema J. Roloff, Kirche, 1 9 2 - 2 0 6 . 49 L. Gaston, 155. 5 0 So F. Mußner, Apostelgeschichte, 4 4 ; R. Pesch, Apostelgeschichte, Bd. 1, 2 4 6 ; G. Schneider, Apostelgeschichte, 448; L. Schenke, Urgemeinde, 180 samt Anm. 2; E. Rau, 3 6 - 6 6 . 51 Man vergleiche Acta 2, 1 4 - 3 6 mit Acta 17, 2 2 - 3 1 .

58

Quellenkritischer Teil

Stils der Rede die Verarbeitung älterer Traditionen anzunehmen. Wenn R. Pesch meint, die Rede müsse aus einer anderen Uberlieferung eingeschoben sein, da sie nicht in den Kontext der Verhandlung passe und auf die Frage des Hohepriesters gar keine Antwort gebe52, übersieht er dabei, daß die Rede den doppelten Vorwurf von 6, 13f. sehr wohl aufnimmt: Indem die Stephanusrede mit Acta 7, 44-53 in einer zweifachen Kritik am Tempelkult und an der falschen Gesetzesobservanz der Juden gipfelt, wird der doppelte Vorwurf Acta 6, 13, ρήματα κ α τ ά του τόπου τοΰ ά γ ί ο υ τ ο ύ τ ο υ κ α ι τοΰ νόμου zu führen, quasi returniert. Weiterhin paßt es zum Konzept der theologischen Historiographie des Lukas, daß zum Beginn der Mission auch unter den Heiden — und damit am Ende der Beschränkung des Gotteshandelns nur auf Israel — in der Stephanusrede eine Art heilsgeschichtliche Schlußbilanz des Weges Gottes mit dem jüdischen Volk gezogen wird. Typisch lukanisch ist auch der Rekurs auf die Propheten53 bei der Einführung der Schriftzitate Acta 7, 42f. 48-50; A. Weiser54 hält daher die Schriftzitate 42b-43.48b-50, die Mose-Christus-Typologie 9b.22b. 25.35.37, die Tempelkritik V. 48a und den Schlußteil V. 51-53 für lukanische Interpolationen in einen schon vorlukanisch redigierten Urtext. Es bleibt aber zu fragen, welche Intention das von A. Weiser angenommene Traditionsfragment zuvor hätte verfolgt haben sollen und wie vorlukanisch Acta 7, 42a an V. 7, 44 angeschlossen haben sollte. Zudem spricht auch die Wortstatistik nicht gegen eine lukanische Verfasserschaft auch der von Weiser als vorlukanisch bestimmten Verse55 und somit der gesamten Rede: ο υ γ γ έ ν ε ι α (V. 7, 3.14) findet sich im übrigen NT nur in Lk 1, 61; ό μ ο λ ο γ έ ω (V. 7, 17) verwendet Lukas auch in Acta 23, 8 und Acta 24, 14 sowie in Lk 12, 8; βρέφος (V. 7, 19) findet sich in Lk viermal, bei den übrigen Synoptikern jedoch gar nicht. Mit H. Köster56 und W. Schmithals 57 ist anzunehmen, daß Lukas die Stephanusrede eigenständig

52 R. Pesch, Apostelgeschichte, Bd. 1, 244. 53 So auch Acta 3, 21; 13, 40; 28, 25; προφήτης ist mit 30 Belegen in Acta und 29 Belegen in Lk ein lukanisches Vorzugswort. 54 A. Weiser, Apostelgeschichte, 180-182. 55 Die im folgenden kurz angesprochenen Verse wurden ausgewählt, da sie nicht nur von A. Weiser, sondern auch in den literarkritischen Entwürfen von P.G. Wetter und T. Holtz (s.u. Anm. 58) als vorlukanisch angesehen werden (V. 14 bei Wetter jedoch lukanisch). 56 H. Köster, Einführung, 523. 57 W. Schmithals, 70-72.

Acta 6 , 1 4

59

und ohne Verwendung irgendwelcher Quellen komponiert hat. 58 Somit muß aber auch die tempelkritische Passage Acta 7, 4 4 - 4 8 rein lukanisch sein. Acta 7, 4 4 - 4 8 erzählen in heilsgeschichtlichem Rückblick, daß Gott dem Mose die Errichtung der ακηνή του μαρτυρίου befohlen hatte, um den Götzendienst Israels in der Wüste einzudämmen [7, 4 1 - 4 4 ] . Das Zelt des Zeugnisses wurde dann von Josua nach Palästina gebracht [7, 4 5 ] , und David bat Gott um das Vorrecht, dem Hause Jakobs 5 9 ein οκήνωμα errichten zu dürfen [7, 46]. Sein Sohn Salomo erbaute jedoch ein οίκος [7, 47]; Lukas hat hier den betonten G e gensatz von οκήνωμα und οΐκος der Nathanrede 2.Sam 7, 6 ( L X X ) im Blick: o u ού κατωκηκα έν οίκω ... εως της ήμέρας ταύτης και ημην έμπεριπατών έν καταλύματι και έν οκηνη. Aus der Schrift hingegen war — nach der Meinung des Lukas auch für das Israel zur Zeit Salomos — klar ersichtlich, daß G o t t nicht auf ein „mit Händen gemachtes" οίκος als τόπος της καταπαύοεως festgelegt werden kann [Acta 7, 48f. unter Aufnahme von A m 5, 2 5 - 2 7 ( L X X ) ] . 6 0

Interessant für unseren Zusammenhang ist daran, daß in Acta 7, 48 — wie in Mk 14, 58 — der Tempel als χειροποίητος61 bezeichnet wird. So findet sich hier ein weiteres Element der markinischen Synhedriumsperikope, das Lukas in seinem Evangelium ausgelassen hat, um es in seiner

58 Anders E. Rau, der in der Rede eine in sich geschlossene „vor-lk Einheit hellenistisch-judenchristlicher Provenienz" (36) sieht; anders auch G.P. Wetter, 414-418, und T. Holtz, Geschichte, 106-120, die mit einer ursprünglich tempelfreundlichen jüdischen Grundschrift und einer tempelkritischen Redaktion durch Lukas [Umfang der Redaktion nach P.G. Wetter: Acta 7, 5a.9-14.23-29a.35. 37-43.47.51-53; nach T. Holtz: Acta 7, 35.37.42f.49f.] rechnen. Beide Exegeten versuchen, die vermeintliche Spannung zwischen tempel- bzw. israelfeindlichen und -freundlichen Aussagen durch literarkritische Operationen zu lösen. Besser lassen sich diese jedoch vom theologischen Anliegen des Lukas her erklären: Es ist nicht dessen Anliegen, die Geschichte des alten Gottesbundes mit Israel als eine ausschließlich mißlungene darzustellen; vielmehr geht es Lukas darum, Gottes gutes Heilshandeln an und mit Israel angemessen zu würdigen und zugleich die heilsgeschichtliche Überholung dieses Heilshandelns durch das Wirken des Geistes in der Kirche darzustellen. Auf diese Weise kommen positiv-wohlmeinende und kritische Aussagen nebeneinander zu stehen. 59 Nicht „dem Gotte Jakobs"; die von !P und X* gebotene Lesart ist die bessere, mit E. Rau, 42. 60 Ähnlich A. Weiser, Apostelgeschichte, Bd. 1, 187f.; U. Wilckens, Missionsreden, 213f.; E. Rau, 43f.63-66; gegen E. Larsson, der in Acta 7, 4 4 - 5 0 keine Kritik am Jerusalemer Tempel, sondern einen - letztlich auf Christus hinzielenden - Abfolgezusammenhang von Verheißung und Erfüllung sehen will (so 388-395). 61 Daß Gott nicht έν χειροποιήτοις κατοικεί, läßt Lukas auch den Paulus in Acta 17, 24 sagen; vgl. hierzu Abschnitt 2.5. dieser Studie.

60

Quellenkritischer Teil

Stephanus-Erzählung zu verwenden. Lukas hatte also keine eigenständig tradierte Variante des Tempelwortes oder etwaige andere tempelkritische Traditionen der früheren Christenheit vorliegen, er ist hier völlig von Mk 14, 55—62 und insbesondere von der markinischen Fassung des Tempelwortes abhängig. Für die Frage nach der Traditionsgeschichte des Tempelwortes ergibt sich somit, daß in der in Acta 6, 13f. gebotenen Kurzform keine ältere, ursprünglichere Variante des Logions greifbar wird; es liegt vielmehr eine recht späte Variante vor. 62 Weiterhin ergibt sich somit, daß die Tradition des Tempelwortes weder im Stephanuskreis entstanden sein muß noch ihm aufgrund von Acta 6, 8 - 7 , 60 in einer anderen Hinsicht zwingend zugeordnet werden müßte. 63 Für die Frage nach Lehre und Theologie des „historischen" Stephanus und seiner G e m e i n d e bedeutet dies, daß Acta 6, 8 - 1 5 ; 7 nur mit äußerster Vorsicht herangezogen werden sollten. H . Lietzmanns H y p o t h e s e , die Verfasser der markinischen Synhedriumsperikope M k 14, 5 5 - 6 4 seien im Kreise „der bekehrten Hellenisten von der Richtung des Stephanus" 6 4 zu finden, kann als widerlegt gelten, da das von Lietzmann gesehene Abhängigkeitsverhältnis zwar besteht, jedoch nicht in der von ihm vermuteten Richtung verläuft. Selbiges gilt auch für L . S c h e n k e s 6 s und J . Gnilkas 6 6 ähnlich begründete Verortung der vormarkinischen Redaktion der Passionsgeschichte in der frühen hellenistischen G e m e i n d e von J e rusalem. Auch eine „Biblische T h e o l o g i e " in der anfänglich skizzierten, von M . H e n g e l 6 7 und P. Stuhlmacher 6 8 durchgeführten F o r m kann sich - ebenso wie der E n t w u r f von E . R a u 6 9 - aus den oben genannten Gründen b e i m von ihr versuchten Nachweis einer Kontinuität in der Gerechtigkeitsvorstellung von Jesus zu Paulus nicht in der zu Beginn dieses Kapitels skizzierten Weise auf Acta 6f. und speziell auf Acta 6 , 14 7 0 berufen.

62 Gegen J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 276; mit S. Arai, 398f.; J. Roloff, Kerygma, 104A182. 63 Vgl. aber die Abschnitte 2.4. und 2.5. dieser Studie, wo eine frühe Tradierung des Tempelwortes durch die hellenistische Judenchristenheit Jerusalems behauptet werden wird. 64 H. Lietzmann, 6. 65 L. Schenke, Christus, 43f. 66 J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 3 4 8 - 3 5 0 . 67 M. Hengel, Jesus, 151-206. 68 P. Stuhlmacher, Versöhnung, 6 6 - 8 6 . 69 E. Rau, 15-77.115-117. 70 Vgl. M. Hengel, Jesus, 186f.

Joh 3,13-22

61

1.4. Joh 2, 13-22 Der vierte Evangelist bietet das Tempelwort nicht nur in einer von der synoptischen Form stark abweichenden Textgestalt, sondern auch als tatsächlich „echtes" Jesuswort, das im Zusammenhang mit der Tempelreinigung gefallen sei. A m Beginn der historisch-kritischen Forschung hat der Rationalist H . E . G . Paulus in seinem 1802 erschienenen Evangelienkommentar 1 daher in J o h 2, 19 das authentische Tempelwort Jesu gesehen, während er die abweichenden Belege M k 14, 58 und Mt 26, 61 auf die Verzerrung durch gedungene Zeugen zurückführte. 2 Auch heute nehmen einige Exegeten an, daß in Joh 2, 13-22 eine dem markinischen Passionsbericht vorausliegende Tradition verarbeitet ist 3 , die teilweise bis auf den irdischen Jesus zurückgeführt wird. 4 Andere Forscher betonen demgegenüber den sekundären Charakter des johanneischen Textzusammenhangs. 5 Ließe sich nachweisen, daß der vierte Evangelist in Joh 2, 13-22 ein das Tempelwort Jesu beinhaltendes Traditionsstück verarbeitet hat, das sich weiterhin gegenüber M k 11, 15ff. als die ursprünglichere Fassung des Berichtes von der Tempelreinigung erweisen ließe, so wäre es in der Tat gelungen, den Anfang der Traditionsgeschichte des Tempelworts beim irdischen Jesus festzumachen. Analyse der Perikope Joh 2, 13-22 Die Perikope vermittelt auf den ersten Blick einen in sich stimmigen Eindruck: Auf die Notiz von Jesu Ankunft in Jerusalem (V. 13) folgt die Beschreibung seiner Aktion gegen den Tempelbetrieb (V. 14f.), an die sich zuerst eine deutende Begründung Jesu (V. 16), dann eine christolo1 Kommentar über die drey ersten Evangelien. Philologisch-kritischer und historischer Kommentar über das neue Testament. Dritter Theil, L ü b e c k 1802; zum Tempelwort Jesu 665.669. 2 H . E . G . Paulus, Bd. 3, 665. 3 J. Jeremias, Abendmahlsworte, 85; J. Roloff, Kerygma, 103f.; M. Myllykoski, Bd. 1, 191f.; U. Schnelle, Chistologie, 162 (hingegen setzt U. Schnelle in: Tempelreinigung, 361A9, nur noch den traditionellen Charakter von J o h 2, 14-16 voraus); R. Schnackenburg, Johannesevangelium, Bd. 1, 3 6 8 - 3 7 0 ; T . A . Mohr, 108. 4 S o M . A . Matson, 4 8 9 - 5 0 6 ; M. Trautmann, 124; E.P. Sanders, Jesus, 75f.; W. Kraus, 226f.; T . A . Mohr, 108, E. Trocme, 263. 5 R. Bultmann, Johannes, 86; S. Mendner, 102; J. Becker, Johannes, 148.

Quellenkritischer Teil

62

gische D e u t u n g d e r J ü n g e r (V. 17) m i t B e z u g auf Ψ 6 9 , 10 anschließt. E s folgt die F r a g e d e r J u d e n n a c h e i n e m die T e m p e l r e i n i g u n g legitimierend e n Z e i c h e n (V. 18), die Jesus m i t d e m T e m p e l w o r t (V. 19) b e a n t w o r t e t . Dieses w i r d v o n d e n J u d e n m i ß v e r s t a n d e n (V. 2 0 ) , v o m Evangelisten u n d d e n J ü n g e r n aber richtig, n ä m l i c h christologisch, interpretiert (V. 21f.). W i e J. R o l o f f 6 g e s e h e n hat, ergibt sich s o m i t ein „ d o p p e l s t ö c k i g e r " Aufbau der Texteinheit: A: B:

Handlung Jesu

Wort Jesu

„Erinnerung" der Jünger

(V. 14-16a)

(V. 16b)

(V. 17)

Kontroverse

Rätselwort Jesu

Interpretation

(V. 18-19a.20)

(V. 19b)

gelisten und „Erinnerung"

des

Evan-

der Jünger (V. 21f.) I m f o l g e n d e n sollen n u n in d e r P e r i k o p e J o h 2 , 13—22 T r a d i t i o n u n d R e daktion voneinander abgehoben werden. Eine Benutzung der synoptischen Evangelien (bzw. nur des M k ) bei der G e staltung des Johannesevangeliums wird hierbei nicht vorausgesetzt. D i e Annahme, der vierte Evangelist habe in freier Weise Traditionen aus den ihm vorliegenden Synoptikern verarbeitet, ist in letzter Zeit besonders von der „kompositionsgeschichtlichen" Exegese vertreten worden 7 , zumal sie mit deren — durch das primäre theologische Interesse an das gesamte Evangelium strukturierenden „Erzählebenen" bedingtem — Desinteresse an der traditionellen Quellenfrage 8 in gewisser Hinsicht korrespondiert. 9 Jedoch müßte eine Benutzung der Synoptiker durch Joh nicht nur vorausgesetzt 10 , sondern auch mit den

6 J. Roloff, Kerygma, 105. 7 Vgl. die im Sammelband von A. Denaux, John, herausgegebenen Arbeiten. Ferner gehen auch U. Schnelle, Christologie, und W. Schmithals, Johannesevangelium, von der Verarbeitung mindestens eines Synoptikers bei Johannes aus; W. Schmithals, Johannesevangelium, 318f., findet sogar Zitationen des lukanischen Doppelwerks (!) bei Johannes wieder. Für die Perikope Joh 2, 13-22 hatte schon S. Mendner, die Abhängigkeit mindestens vom Markusevangelium vermutet, lll(f.)A59. 8 Ein typisches Beispiel für die Vernachlässigung der literarkritischen Fragestellung findet sich in E. Bammels Aufsatz zur Tempelreinigung in dem unter Anm. 7 genannten Sammelband A. Denaux, John, 507-513, dort besonders 508.513. 9 Ähnliches gilt sinngemäß auch für die im Sammelband von W.H. Kelber veröffentlichten kompositionsgeschichtlichen Arbeiten zur Markuspassion (vgl. hierzu die Kritik von M. Myllykoski, Die letzten Tage Jesu, Bd. 1, 37) sowie auch für die „kompositionsgeschichtliche" Analyse der Markuspassion von J.P. Heil, Pattern, 331-358; vgl. auch Ders., Structure, 305-332; inhaltlich scheint J.P. Heils Untersuchung - zumindest soweit sie die Perikope Mk 14, 5 5 - 6 5 betrifft - vornehmlich dem Nachweis verborgener ironischer Implikate zu dienen, vgl. Pattern, 339. 10 Dies tut W. Schmithals, Johannesevangelium, 328f., wenn er in Joh 2, 18-21 neben Mk 14, 58 auch die synoptischen Verse Mk 8, llf.; Mt 16, lf. und Lk 20, Iff.

Joh 3 , 1 3 - 2 2

63

Mitteln der Literarkritik in F o r m einer Abhängigkeit des Joh von M k bewiesen werden 11 ; dies steht bisher aber noch aus. 12 Im Verlauf dieses Kapitels wird sich zeigen, daß auch die schon von R. Bultmann 1 3 und J. Jeremias 14 vertretene These einer Verarbeitung von mit den Quellen der Synoptiker verwandten Traditionen 1 5 durch den vierten Evangelisten die Genese der hier zu behandelnden Perikope hinreichend erklären kann. 1 6 D a d e r vierte Evangelist J e s u R e i s e n des ö f t e r e n d u r c h F e s t e m o t i viert sein läßt 1 7 , k ö n n t e a u c h in u n s e r e r P e r i k o p e d e r V. 13 redaktionell sein. 1 8 H i e r f ü r spricht die V e r w e n d u n g v o n έγγύς 1 9 u n d a u c h v o n αναβαίνω 20 ; da αναβαίνω j e d o c h a u c h in d e r dritten L e i d e n s a n k ü n d i g u n g M k 10, 33ff. u . ö . traditionell für d e n W e g J e s u n a c h J e r u s a l e m steht u n d da a u c h die s y n o p t i s c h e n E v a n g e l i e n ein Passafest als A n l a ß für J e s u J e r u s a -

wiederfindet. Im Wortlaut berührt sich Joh 2, 28-21 mit Mk 8, llf. lediglich in ΰημεΐον, mit Mt 16, 2 in άποκριθηναι und mit Lk 20, 2 in είπαν. 11 So auch W. Kraus, 224A132: „Es gilt ... grundsätzlich, die Frage, ob Joh die Synoptiker kennt, von der Frage nach literarischer ... Abhängigkeit zu unterscheiden." 12 M.E. erscheint auch der Versuch I. Dunderbergs, (in: A. Denaux, John, 558-570), in Joh 12, 3 - 8 die Verarbeitung aller drei synoptischen Evangelien nachzuweisen, wenig überzeugend. Grundsätzlich krankt die These einer Benutzung des Mk durch Joh auch daran, daß außerhalb des Passionszusammenhangs (Mk llff./Joh 2.12f.l8ff.) praktisch keine Gemeinsamkeiten von Mk und Joh bestehen; dies deutet dann aber nicht auf die Benutzung des älteren Evangeliums durch das jüngere hin, sondern vielmehr auf eine beiden gemeinsame (Passions-)Quellenschrift, vgl. J. Jeremias, Abendmahlsworte, 8 3 - 9 0 . 13 R. Bultmann, Johannes, 78f.83.315.316A8 u.ö. 14J.Jeremias, Abendmahlsworte, 83-90. 15 Zumindest für den Passionsbericht, dem unsere Perikope trotz ihrer heutigen Stellung im Joh ja wohl doch zuzurechnen sein dürfte, wird die These auch noch von der aktuellen neutestamentlichen Einleitung von U. Schnelle, 558f., vertreten. 16 Freilich wird man - auch wenn man die These, Johannes habe die Synoptiker benutzt, ablehnt - , nicht leugnen können, daß der vierte Evangelist das Markusevangelium zumindest kannte. Die hierfür anzuführenden Gründe bietet U. Schnelle, Einleitung, 5 6 3 - 5 6 9 ; wie jedoch auch Schnelle resümiert, nahm Johannes „allerdings weder das Markusevangelium noch das Lukasevangelium in der Weise auf, wie es sich aus dem literarischen Verhältnis der synoptischen Evangelien her nahelegen würde" (Einleitung, 568); auf dieser Beobachtung begründet sich die hier durchgeführte Distinktion von „Kenntnis" und „Benutzung" 17 So Joh 7, 2; 10, 22; 11, 55. 18 So R. Bultmann, Johannes, 86; J. Becker, Johannes, 145; Τ. A. Mohr, 87. 19 Die Vokabel begegnet bei Johannes elfmal, bei den Synoptikern jedoch nur zwei- bzw. dreimal. 20 Mit 16 Belegen bei Johannes deutlich häufiger vertreten als bei den Synoptikern mit je neun.

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Quellenkritischer Teil

lemreise angeben 21 , ist das Vorliegen einer älteren Tradition in Joh 2, 13 nicht auszuschließen. In V. 14f. spricht die Vokabelstatistik für das Vorliegen von vorjohanneischem Gut: Πωλέω begegnet bei Joh nur in Joh 2, 14.16 und wird in derselben Partizipialform auch in der markinischen Tempelreinigungsperikope verwandt. Βοΰς findet sich bei Joh nur hier (2, 14), περιοτερά nur hier (2, 14.16) und traditionell in der johanneischen Taufszene in Joh 1, 32; wiederum haben die Tauben eine Entsprechung in Mk 11, 15. πρόβατον scheint mit 21 Belegen ein johanneisches Vorzugswort zu sein 22 , jedoch entfallen hiervon 17 Belege auf die Hirtenrede (Joh 10), während die übrigen Vorkommen sich auf den Nachtrag Joh 21 und die Tempelreinigung (2, 14f.) verteilen. 23 Κερματιοτής ist neutestamentliches Hapaxlegomenon. Auch der Aorist ευρεν ist nicht unbedingt für Joh typisch 24 ; ιερόν begegnet auch in Mk 11, 15, ist aber für Joh nicht ungewöhnlich. 25 In Joh 2, 15 sind φ ρ α γ έ λ λ ι ο ν und κέρμα Hapaxlegomena; οχοινίον begegnet im N T nur hier und in Acta 27, 32, ανατρέπω nur hier und zweimal in den Pastoralbriefen. 26 Έκχέω verwendet das vierte Evangelium nur hier. Ebenso finden sich in Joh 2, 15 die einzigen Belege von κ ο λ λ υ β ι ο τ ή ς und τράπεζα im Johannesevangelium, jedoch sind beide Worte in der Mk-Parallele 11, 15 belegt. 27 Auch έ κ β ά λ λ ω ist keine für Joh typische Vokabel. 28 Zu περιοτερά und πωλέω in V. 16 siehe das oben (zu V. 14) Gesagte. Die Aufforderung άρατε ταϋτα έντεΰθεν könnte redaktionell sein, da αίρω bei Joh deutlich öfter belegt ist als bei den Synoptikern 29 ; weiterhin fin-

21 Weiterhin wird „Jerusalem" in Mk 11, 15 als O r t der markinischen Tempelreinigung erwähnt; zur markinischen Variante des Tempelreinigungsberichts und speziell zu M k 11, 15 vgl. Abschnitt 3.2. dieser Studie. 22 11 Belege bei Mt, nur je zwei bei Mk und Lk. 23 Die von R. Bultmann, Johannes, 86(f.)A10, hieraus gezogene Schlußfolgerung, daß βόας και πρόβατα auch in Joh 2, 14f. nachjohanneisch interpoliert worden sein müssen, ist jedoch nicht zwingend. 24 Sonst nur in Joh 11, 17; gebräuchlicher ist im vierten Evangelium das Präsens, vgl. Joh 1, 43.45; 5, 14. 25 11 Belege bei Joh und Mt, neun bei Mk, 14 bei L k ; zu ναός vgl. jedoch das im folgenden zu V. 19 Ausgeführte. 26 2.Tim 2 , 1 8 ; Tit 1,11. 27 κ ο λ λ υ β ί ο τ η ς begegnet darüber hinaus im Rahmen des N T nur noch in der synoptischen Parallele Mt 21, 12. 28 Nur sechs Belege bei Joh, hingegen 28 bei Mt, 18 bei Mk, 20 bei Lk. 29 Joh 26 Belege, Mt 19, Mk 20, L k 20.

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den sich für έ ν τ ε ΰ θ ε ν bei Joh sechs Belege, während diese Wendung im übrigen NT nur je einmal im Jak und in Apk sowie zweimal bei Lk auftaucht. Auch ούτος wird bei Joh deutlich häufiger verwendet als bei Mk oder Mt. 30 Ansonsten zeigt Joh 2, 16 jedoch keine weiteren Anzeichen johanneischer Redaktion: έμπόριον ist ein neutestamentliches Hapaxlegomenon; die Wendung μή ποιείτε findet sich in dieser Form im Johannesevangelium nur hier, ο ΐ κ ο ς begegnet mit fünf Belegen bei Joh deutlich seltener als bei den übrigen Evangelisten31, jedoch ebenfalls in Mk 11, 17; von den fünf johanneischen Belegen finden sich wiederum drei hier in V. 16f., während οίκος in Joh 7, 53 textkritisch umstritten und in Joh 11, 20 wohl traditionell ist. V. 17 überschreitet den Rahmen der Erzählung, da er an Jesu eigene Begründung der Tempelreinigung eine nachösterliche Reflexion über Jesus selbst anschließt, die den Jüngern zugeschrieben wird. Ein μιμνήοκεσθοα der Jünger aus nachösterlicher Perspektive findet sich auch in Joh 12, 16 — ebenfalls mit Schriftbezug — und am Schluß der Perikope in Joh 2, 22. In allen drei Versen dürfte die Redaktion des Evangelisten am Werk gewesen sein.32 Desgleichen sind auch die drei nicht voneinander zu trennenden Verse 20-22 redaktionell 33 , da sie den Tempel von V. 19 als den Leib Christi interpretieren und so ein typisch johanneisches Mißverständnis34 provozieren. Eindeutig johanneisch sind hier die Bezeichnung der Gegner als οί 'Ιουδαίοι 3 5 und die Wendung λ έ γ ω περί mit vorangestelltem δέ, die Joh häufig zur Klärung von Mißverständnissen verwendet. 36 In V. 18 ist die Wortverbindung von ά π ο κ ρ ί ν ω im Aorist passiv und λ έ γ ω im Aorist aktiv mit folgender angeredeter Person im Dativ typisch johanneisch. 37 Als weitere johanneische Stilmerkmale fallen ου30 Bei Joh 239 Belege, bei Mt 149, Mk 79, Lk allerdings immerhin 229. 31 Mt zehn Belege, Mk 13, Lk 33. 32 Für einen redaktionellen Ursprung von Joh 2, 17 plädieren auch R. Bultmann, Johannes, 87; J. Roloff, Kerygma, 106; U. Schnelle, Christologie, 190; T.A. Mohr, 87; E. Trocme, 259; W. Schmithals, Johannesevangelium, 328; anders allerdings J. Becker, Johannes, 147f. 33 Mit R. Bultmann, Johannes, 89f.; J. Becker, Johannes, 148f; U. Schnelle, Christologie, 190; W. Schmithals, Johannesevangelium, 328; E. Trocme, 259. 34 Vgl. Joh 3, 3f.; 6, 3 2 - 3 5 ; 7, 3 3 - 3 5 . 35 Vgl. Joh 1, 19; 2, 6; 5, 10; 6, 41.52; 7, 1; 9, 18.22; 18, 12 u.ö. 36 So Joh 7, 39; 11, 13; 12, 33. 37 M.E. liegen im Johannesevangelium 21 Belege vor, während die Synoptiker diese Wendung nicht kennen.

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Q u e l l e n k r i t i s c h e r Teil

und ουν 3 9 auf, ebenso in der pauschalen Bezeichnung der Gegner Jesu als οί 'Ιουδαίοι. 4 0 Auch in οημεΐον 4 1 und δ ε ί κ υ υ μ ι 4 2 liegen bekanntermaßen johanneische Theologumena vor. 43 V. 18 läßt sich somit vollständig auf den Evangelisten zurückführen. 44 In V. 19 erweist sich wiederum die Wortverbindung άποκρίνω im Aorist passiv plus λ έ γ ω im Aorist aktiv plus angeredeter Person im Dativ als johanneisch. 45 In V. 19b geht vermutlich die Verwendung von έ γ ε ί ρ ω auf das Konto des Evangelisten, da diese auch im Kontext des Johannesevangeliums nicht ungebräuchliche Vokabel 46 den von den redaktionellen Versen 20—22 intendierten Bezug des Geschehens auf die Auferstehung herstellt. Dafür, daß vorjohanneisch in V. 19b* — analog zu Mk 14, 58 — οϊκοδομεΐν stand, spricht, daß Johannes οίκοδομεΐν in dem folgenden (redaktionellen) V. 20 verwendet, um das falsche Verständnis der Juden wiederzugeben, während das Verb im übrigen Evangelium nicht mehr begegnet. Ebenso muß der Imperativ λ ύ ο α τ ε , da er das Logion auf die ja vom Evangelisten gestaltete Zeichenforderung bezieht, johanneisch-redaktionell sein; überhaupt läßt es sich wahrscheinlich machen, daß der vierte Evangelist das an dieser Stelle ursprüngliche Verb κ α τ α λ ύ ω 4 7 durch das kürzere λύω ersetzt hat, denn κ α τ α λ ύ ω gehört nicht zum Sprachgebrauch τος38

38 Vgl. A n m . 30. 39 202 Belegen in J o h stehen 56 in Mt, nur sechs in M k und 33 in L k gegenüber. 40 Vgl. Joh 5, 10; 6, 41.52; 7, 1, sowie die darüber hinaus unter A n m . 35 genannten Belege. 4117 Belege bei J o h , 13 bei Mt, sieben bei M k , elf bei L k . 42 Sieben Belege bei J o h , drei bei Mt, zwei bei M k , fünf bei L k . 43 U. Schnelle, Christologie, 168-194, weist den reflektierten Gebrauch des Begriffes σημεία durch den Evangelisten nach und bestreitet die Existenz der von R. Bultmann postulierten Semeia-Quelle, (vgl. auch A n m . 63); vgl. hierzu weiterhin den ausführlichen Forschungsüberblick bei J. Becker, Johannes, 134-142. 44 S o auch E. Linnemann, 117f.; W. Schmithals, Johannesevangelium, 328. 45 Vgl. das im Zusammenhang von V. 18 hierzu Angemerkte. 46 Immerhin 13 Belege bei Joh. 47 Wenn hier vorausgesetzt wird, daß der Gebrauch von κ α τ α λ ύ ω gegenüber dem von λύω als primär zu gelten hat, so begründet sich das aus der Tatsache, daß im gesamten neutestamentlichen Textbestand des Tempelwortes durchgehend κ α τ α λ ύ ω Verwendung findet und nur das johanneische λύω hiervon abweicht. Auch und gerade die ältesten Belege (Mk 14, 58 und v. a. M k 13, 2 [vgl. Abschnitt 1.5. dieser Studie]) bieten κ α τ α λ ύ ω . Weiterhin läßt sich eine redaktionelle Verkürzung von κ α τ α λ ύ ω auf λύω aufgrund der im folgenden dargestellten, den Sprachgebrauch des Johannesevangeliums betreffenden Gründe für den vierten Evangelisten recht wahrscheinlich machen.

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des Evangelisten48, während er λύω immerhin sechsmal gebraucht, zumeist redaktionell und in bezug auf religiös verbindliche Größen. 49 Johanneisch-redaktionell erscheint in V. 19 auch die Form der Zeitangabe έν τριοίν ήμέροας; denn Johannes konstruiert Zeitangaben vorzugsweise mit έν 5 0 plus Dativ; entsprechend begegnet auch im vom Evangelisten verfaßten V. 20 die gleiche dativische Konstruktion. Der temporale Gebrauch von διά plus Genitiv, wie er in der vormarkinischen Variante des Tempelwortes zur Wiedergabe der Dreitagesfrist verwandt wird, ist dem vierten Evangelisten scheinbar völlig unbekannt 51 , so daß er ihn in seiner Vorlage sicherlich korrigiert und so dem in seinem Evangelium üblichen und schon im nächsten Vers begegnenden Sprachgebrauch angepaßt haben dürfte.52 Weitere Merkmale johanneischer Redaktion sind in V. 19 nicht feststellbar. Hingegen weist der Gebrauch von ν α ό ς für den — in V. 14 noch als ιερόν bezeichneten — Tempel auf vorjohanneische Tradition hin, da sich ν α ό ς bei Joh nur hier in V. 19 und den von V. 19 abhängigen Versen 20f. findet und darüber hinaus, wie die Zeitangabe von drei Tagen, eine Entsprechung in Mk 14, 58 hat. Es ist also davon auszugehen, daß in Joh 2, 19b ein vorjohanneisches, mit dem markinisch/vormarkinischen Tempelwort verwandtes Traditionsstück vorliegt, das der Evangelist durch die Imperativform von λ ύ ω (anstelle von κ α τ α λ ύ ω ) und den Gebrauch von έν und έγείρω (anstelle von διά und οϊκοδομέω) in seinen jetzigen Kontext eingepaßt hat.

48 Weder im Evangelium noch in den Johannesbriefen findet sich ein einziger Beleg. 49 So Joh 5, 18 (Sabbat); 7, 23 (Gesetz des Mose); 10, 35 (Schrift) und hier 2, 19 (Tempel); im Imperativ der 2. Person plural begegnet λ ύ ω bei Joh ferner auch in 11, 44. 50 So έν τω μεταξύ Joh 4, 31; έν fj ήμέρα 9, 14; έν τη ήμερα (tagsüber) 11, 9; έν έ κ ε ί ν η τη ήμερα 5, 9; 14, 20; 16, 23.26; τη ήμερα τη τρίτη 2, 1; έν τη έοχάτη ήμερα 6, 39f.44.54; 7, 37; 11, 24; 12, 48; (ή) ώρα έν η 4, 52; 5, 28; έν έκείνη τη ωρα 4, 53; έν ο α β β ά τ ω 5, 16; 7, 22f.; έν έ κ ε ί ν η τη ν υ κ τ ί 21, 3; έν τη ν υ κ τ ί (nachts) 11, 10; lediglich viermal gibt Johannes eine Frist von mehreren Tagen im Akk pl an (2, 12; 4, 40; 11, 6.17), dort (außer 11, 17) wird der Akkusativ jedoch von der Konstruktion mit μένω (auch 1, 39) gefordert (vgl. Lk 1, 56; Acta 9, 43; 18, 20; 21, 7). 51 Trotz immerhin 59 Belegen von διά im Johannesevangelium; bei Mt 60 Belege, bei Mk 33, bei Lk 39. 52 Vgl. zu dem johanneisch-redaktionellen έν auch das in Abschnitt 2.3. dieser Studie zur inhaltlichen Interpretation der Dreitagesfrist bei R. Bultmann, Johannes, 88(f.)A7, Ausgeführte.

68

Zugehörigkeit

Q u e l l e n k r i t i s c h e r Teil

des Tempelworts

zur vorjoh Tempelreinigungsperikope

?

Als vorjohanneisches Gut werden in Joh 2, 13-22 somit die Verse (13*)14f.l6ac.l9b* greifbar. Damit stellt sich die Frage, ob Job 2, 19b" schon vormarkinisch mit der Tempelreinigung verbunden war oder ob dieser Zusammenhang erst vom Evangelisten hergestellt wurde. Diese Frage ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Auf der Basis der oben durchgeführten Bestimmung von Tradition und Redaktion ist sie dahingehend zu beantworten, daß erst der Evangelist die beiden zuvor selbständigen Traditionen miteinander verbunden hat. Auf die Verarbeitung zweier eigenständiger Traditionen deutet der verschiedene Sprachgebrauch von V. 14f.* und V. 19b* hin: Während der Tempel in V. 14f. — wie auch in Mk 11, 15 — als ιερόν bezeichnet wird, verwendet V. 19* das in Joh nur hier in V. 19-21 begegnende ναός, das wiederum Mk 14, 58 entspricht. Es ist aber unwahrscheinlich, daß das vorjohanneische Traditionsstück zwei verschiedene Vokabeln für den Tempel gebraucht haben sollte. Weiterhin findet die vorjohanneische Erzählung Joh 2, 14ff.* in dem Jesuswort V. 16c ihren organischen Abschluß; die Struktur von Zeichenhandlung und interpretierendem Deutewort entspricht so der markinischen Fassung der Tempelreinigung Mk 11, 15-17 und geht in dieser Form auf die Prophetentradition des Alten Testaments zurück.54 Demgegenüber wäre eine die alttestamentliche Form sprengende Fortführung durch V. 19b* überschüssig.

53 Für die Zusammengehörigkeit von Tempelhandlung und Tempelwort zumindest auf der Ebene einer vorjohanneischen Redaktion plädieren R. Bultmann, Johannes, 88(f.)A7; L. Goppelt, Bd. 1, 148; R. Schnackenburg, Johannesevangelium, Bd. 1, 360; J. Roloff, Kirche, 50; E.P. Sanders, Jesus, 75f.; U. Schnelle, Christologie, 162; W. Kraus, 226f.; M. Trautmann, 124; T . A . Mohr, 99; J. Becker, Johannes, 148f.; J . D . Crossan, 475; Ein Zusammenwachsen der Traditionen erst auf der Ebene der johanneischen Redaktion nehmen an: J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 137A4; J.R. Sauer, 437; E.W. Stegemann, 512; C h . K . Barrett, 217-219; W. Schmithals, Johannesevangelium, 328f. 54 S o j e r 19, lf.lOf.; vgl. G. Fohrer, Handlungen, 15-19.96f.; G . Fohrer sieht gerade in der Deutung der Zeichenhandlung durch den von Jahwe beauftragten Propheten das S p e z i f i k u m der israelitischen Prophetentradition; vgl. auch Ders., Gattung, 101-120. Als prophetische Zeichenhandlung gedeutet wurde die Tempelreinigung erstmals von M. Trautmann, 120-128, die im johanneischen Tempelwort das (von der Gemeinde schon durch Uminterpretation entschärfte) ursprüngliche Deutewort sah, das der irdische Jesus bei seiner Aktion gegen den Tempelbetrieb ausgesprochen habe; vgl. hierzu Abschnitt 3.4. dieser Studie.

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Für eine vorjohanneische Zugehörigkeit von V. 19b* zur Tempelreinigungsperikope ist wiederholt angeführt worden, daß in der vormarkinischen Passionstradition an Mk 11, 18a wahrscheinlich Mk 11, 28 anschloß, auf die Tempelreinigung mit abschließendem Deutewort also eine Vollmachtsfrage gefolgt sei; während dieser ursprüngliche Zusammenhang bei Mk durch die Interpolation von Mk 11, 19ff. zerstört worden sei, habe er sich bei Johannes erhalten und sei dort im Sinne johanneisch/vorjohanneischer Theologie zur Zeichenforderung umgestaltet 1 55 worden. Wenn auch die vormarkinische Zusammengehörigkeit von Mk 11, 18a und Mk 11, 28ff. nicht bestritten werden kann , so ist in Joh 2, 18.19a doch kein vorjohanneisches Traditionsgut erkennbar, das V. 19b* im Sinne einer Mk 11, 27-33 entsprechenden Vollmachtsfrage an das vorjohanneische Traditionsstück Joh 2, (13*)14f.l6ac angeschlossen haben könnte. Mit Mk 11, 27-33 verwandtes Textmaterial findet sich in Joh 2, 18-22 nicht, vielmehr erweisen sich die genannten Verse mit Ausnahme von V. 19b* als johanneisch-redaktionell. Das V. 19b* zugrundeliegende Tempelwort findet sich seinerseits nicht im elften Kapitel des Markusevangeliums, es ist bei der Analyse von Mk 14 vielmehr als selbständig tradierbares Logion erkannt worden. Es besteht somit kein Grund zu der Annahme, der Evangelist Johannes habe bei der Redaktion von Joh 2, 13-22 auf zwei bereits zu einer „spannungsvolle(n) Einheit"57 verbundene Traditionen zurückgegriffen; vielmehr stellte er die Verbindung von Tempelreinigung und Tempelwort selbst her, um Jesu Zeichenhandlung im Sinne der johanneischen Christologie interpretieren zu können. A n seiner Interpretation v o n J o h 2, 18f. als authentischer u n d gegenüber M k 11, 18ff. primärer Nachricht v o m Passionsschicksal Jesu scheitert auch der ansonsten originelle Entwurf einer Traditionsgeschichte des Tempelwortes v o n T . A . M o h r 5 8 , der hier k u r z skizziert w e r d e n soll: Nach T . A . M o h r folgten im vormarkinischen Passionsbericht Einzug, Tempelreinigung, Zeichenforderung und Tempelwort ursprünglich aufeinander. Eine vormarkinische Redaktion [„B"] habe das Tempellogion nochmals verdeutlichend und mit b e w u ß t tempelfeindlicher Tendenz in die S y n h e d r i u m s p e r i k o p e und die

55 So U. Schnelle, Christologie, 162; W. Kraus, 224f.; ähnlich auch J. Jeremias, Abendmahlsworte, 85; dagegen J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 1 3 7 A 4 ; Th. Söding, 49A57. 56 Vgl. die ausführliche Darlegung bei J. Roloff, Kerygma, 9 0 - 9 8 ; vorsichtig allerdings J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 127, im Anschluß an R. Bultmann, Geschichte, 18f.36. 57 R. Bultmann, Johannes, 86. 58 T.A. Mohr, 1 0 0 - 1 1 9 sowie 4 1 2 - 4 1 5 .

Quellenkritischer Teil

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Verspottung am Kreuz interpoliert. Jedoch habe der Evangelist Markus durch die Einfügung des Sieben-Tage-Schemas sowie der Verfluchung des Feigenbaums den o.g. ursprünglichen Zusammenhang zerstört und weiterhin in der Vollmachtsfrage das Tempelwort durch die Diskussion um Johannes den Täufer ersetzt, da er — analog zur Verborgenheit des Gottessohnschaft Christi bis zum Kreuz [ M k 15, 39] — auch eine Verborgenheit der durch Jesus geschehenden Überwindung des Tempelkultes bis zum Kreuz [ M k 15, 38!] konstruieren wollte. Das Zeugnis M k 14, 5 7 - 5 9 habe der Evangelist somit notwendigerweise zu einem Falschzeugnis umgestalten müssen. 5 9 Ähnlich hatte zuvor schon G . W . E . Nickelsburg gemeint: „Mark iuxtaposes temple and christology." 6 0 Wie oben angemerkt, spricht gegen Τ. A. Möhrs Entwurf vor allem, daß mit Joh 2, 1 3 - 2 2 ein ursprünglicher Zusammenhang von Tempelreinigung und Tempelwort für den vormarkinischen Passionsbericht nicht begründet werden kann. Das theologische

Anliegen

der johanneischen

Redaktion

D a s inhaltliche A n l i e g e n des J o h a n n e s verrät sich s c h o n a m r e d a k t i o n e l len O r t , d e n er d e r eigentlich in d e n P a s s i o n s z u s a m m e n h a n g g e h ö r e n d e n Tempelreinigung

am

A n f a n g seines E v a n g e l i u m s

gibt. Infolge

dieser

„ u n g e h e u r e n P r o l e p s e " 6 1 steht sie n u n z u s a m m e n m i t d e r H o c h z e i t v o n K a n a a m B e g i n n d e r W i r k s a m k e i t J e s u u n d erfüllt hier s o m i t eine p a r a digmatische Funktion62:

W ä h r e n d Jesus in K a n a in Galiläa d u r c h ein

οημεΐου seine H e r r l i c h k e i t erweist u n d so d e n G l a u b e n d e r J ü n g e r w e c k t (vgl. J o h 2 , l l ! ) 6 3 , erweist sich J e r u s a l e m als O r t d e r G e g n e r Jesu — οί

59 Vgl. hierzu jedoch die dem widersprechende Analyse in Kapitel 1.1.1.2. dieser Studie. 60 G.W.E. Nickelsburg, Genre, 178. 61J. Wellhausen, Evangelium Johannis, 16. 62: Vgl. J. Roloff, Kerygma, 105; U. Schnelle, Christologie, 190f.; Ders., Tempelreinigung, 363f. 63 U. Schnelle, Christologie 182-194, sieht gegen die Mehrzahl der Exegeten (R. Bultmann, Theologie, 396f.; Ders., Johannes, 78f.153.173; J. Becker, Johannes, 134-142) in den οημεΐα ein zentrales Theologumenon des Evangelisten: Indem sich in den Wundern Jesu die δόξα θεοΰ manifestiert, wecken sie als οημεΐα den Glauben an den Inkarnierten (Joh 20, 30f.). Da also ein „Junktim von Sehen und Glauben" (Christologie, 187) besteht (vgl. Joh 20, 8 . 2 4 - 2 9 ) , entspricht die massive Steigerung der Wunder bei Johannes (Joh 4, 4 6 - 5 3 diff. Mt 8, 5-13) der Tatsächlichkeit der Inkarnation des Präexistenten und steht somit im Dienst einer antidoketischen Christologie und einer spezifisch johanneischen „theologia crucis". In der Tat hat das Postulat einer vom Evangelisten „wunderkritisch" überarbeiteten Zeichenquelle bei genauerer literarkritischer Betrachtung wenig Anhalt am Text (vgl. U. Schnelle, Christologie, 87-167; ähnlich auch W. Schmithals, Johannesevangelium 124-126); zur Diskussion vgl. auch U. Schnelle, Einleitung, 5 6 0 - 5 6 2 ) , zumal Verse wie Joh 4, 48 auch nicht zwingend eine Kritik am Wunderglauben beinhalten.

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treten als explizite Gegner Jesu hier zum erstenmal auf —, denen ein glaubensstiftendes Zeichen verweigert wird. Das Grundthema des Johannes: „Jesus-gläubige Gemeinde - ungläubiger Kosmos" wird somit bereits im zweiten Kapitel des Evangeliums ausformuliert. Das theologische Anliegen des Verfassers wird auch bei seiner redaktionellen Uberformung der vorjohanneischen Quellen deutlich. Wie der „doppelstöckige"64 Aufbau der Perikope erwarten läßt, wird die johanneische Interpretation des Geschehens am deutlichsten in den aus der Sicht der Jünger formulierten Versen 17.2lf. zum Ausdruck gebracht.65 Das in V. 17b abweichend von der LXX-Fassung im Futur gebotene Psalmwort Ψ 69, 10 stellt die Tempelreinigung in den Zusammenhang der Passion. Dem entspricht auch das vom Evangelisten hier als Antwort auf die Zeichenforderung verwandte Tempelwort, dessen schon durch die Dreitagesfrist gegebener Bezug auf die Auferstehung66 er durch das Verb έ γ ε ί ρ ω noch verstärkt. Das auch den Juden67 gegebene σ η μ ε ΐ ο ν besteht darin, daß Jesus durch seine in der Passion geschehende Erhöhung am Kreuz das eigentliche Heiligtum aufgerichtet hat, das er selbst als Ort der wahren Gottesbegegnung ist. In einer typisch johanneischen Mißverständnisszene68 beziehen die Juden als Vertreter des Unglaubens das Wort jedoch auf das Jerusalemer Bauwerk und können das „Zeichen" somit nicht fassen; die von den Jüngern vertretene nachösterliche Gemeinde hingegen versteht das Wort Jesu richtig, nämlich als im eigentlichen Sinne christologisch69 gemeint, 'Ιουδαίοι

6 4 S.o. A n m . 6. 65 Gegen Th. Söding, 47f., der diese Funktion den Worten Jesu V. 16.19 zukommen läßt. Treffend hingegen U. Schnelle, Tempelreinigung, 363: „Der nachösterliche Rückblick ist somit für Johannes gleichermaßen theologisches Programm und Erzählperspektive, er ermöglicht es dem 4. Evangelisten, theologische Einsichten in erzählte Geschichte umzusetzen. Zwar sind alle Evangelien aus der Perspektive des Rückblickes geschrieben, aber Johannes ist der einzige Evangelist, der diesen Blickwinkel ausdrücklich thematisiert und zum Verstehensschlüssel seines ganzen Werkes erhebt." 6 6 Vgl. Abschnitt 2.3. dieser Studie. 6 7 Zumindest den nachösterlich lebenden Zeitgenossen des Evangelisten. 68 Zu den Mißverständnissen bei Johannes vgl. J. Becker, Johannes, 1 6 1 - 1 6 3 ; W. Schmithals, Johannesevangelium, 318. 6 9 Gegen R. Bultmann, Johannes, 91, und J. Becker, Johannes, 148f., w i r d hier jedoch nicht eine mit dem Tempelwort ursprünglich apokalyptisch gemeinte Aussage im Sinne einer „präsentischen Eschatologie" auf Christus bezogen; vielmehr beleuchtet der Evangelist eine Station des Lebensweges des irdischen Jesus vom für den Glauben grundlegenden Ende dieses Weges her; vgl. hierzu auch die Überlegungen

72

Quellenkritischer Teil

und deutet es auf den Tempel des Leibes Christi. Es ist anzunehmen, daß diesem οημεΐον somit auch ein antidoketisches Moment zueigen ist.70 Von einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem jüdischen Kultus wird man in dieser Perikope nicht sprechen können, da der Jerusalemer Tempeldienst zur Zeit des Evangelisten schon lange aufgehört hat: έ ρ χ ε τ α ι ώρα κ α ι ν υ ν έοτιν (!), δτε οί α λ η θ ι ν ο ί π ρ ο ο κ υ ν η τ α ί π ρ ο ο κ υ ν ή ο ο υ ο ι ν τω π α τ ρ ί έν π ν ε ύ μ α τ ι κ α ι ά λ η θ ε ί α (Joh 4, 23). Dennoch impliziert die Rede von Christus als dem eigentlichen Ort der Gottesgegenwart, daß dem jüdischen Kult diese Funktion abgesprochen wird. Wenn der Evangelist in der ihm eigenen Weise den Akzent auch weniger auf die Tempelkritik als auf die christologisch-soteriologische Aussage gelegt hat, erreicht die von W. Kraus11 für das Neue Testament aufgezeigte christologisch begründete Uberwindung des Jerusalemer Kultus bei Johannes doch einen Höhepunkt.72

Die vorjohanneische Tempelreinigungsperikope Auf die vorjohanneische Tempelreinigungstradition braucht hier nur kurz eingegangen zu werden, da sie erst von Johannes mit dem Tempelwort verbunden wurde. Gegenüber der vormarkinischen Tempelreinigungstradition, die zu einem späteren Zeitpunkt Gegenstand dieser Untersuchung sein wird73, ist die vorjohanneische Fassung sekundär, da ihr Deutewort Joh 2, 16ac das schon im vormarkinischen Zusammenhang sekundäre Wort Mk 11, 17 voraussetzt und variiert.74 Weiterhin erscheint die vorjohanneische von U. Schnelle zu einer johanneischen Kreuzestheologie (Tempelreinigung, 360-367). 70 Vgl. zu dieser Frage U. Schnelle, Christologie, 194; W. Schmithals, Johannesevangelium, 308.329. 71 W. Kraus, 262-271. 72 Vgl. zu diesem Thema die von W. Kraus, ebd., durchgeführte Exegese von Joh 1, 14.17.29.36.51; 2, 6 . 1 9 - 2 2 ; 4, 2 1 - 2 3 ; 7, 3 7 - 3 9 und 19, 36, die eine inhaltliche Nähe obiger Stellen zur vorpaulinischen Formel Rom 3, 25f.* nachweist: An die Stelle des jüdischen Kultbetriebes tritt als neues Heiligtum Christus selbst. Ahnlich zur johanneischen Überbietung des Tempels durch Jesus Christus als dem eigentlichen Heilsort auch U. Schnelle, Tempelreinigung, 367-371. 73 Vgl. Abschnitt 3.2. dieser Studie. 74 Die vorjohanneische Bezeichnung des Tempels als οίκος του πατρός μου erweitert die Einleitung des (vormarkinischen) Deutewortes ο ΐ κ ο ς μου - theologisch reflektiert und dem Kontext der Sprechsituation angepaßt - um die Erwähnung des Vaters als dem angemessenen Ermächtigungsgrund zur Tempelreinigung. Dafür, daß das Deutewort 16c der vorjohanneischen Überarbeitung zuzuordnen und gegen-

Joh 3 , 1 3 - 2 2

73

Fassung reflektierter und vermittelt einen gegenüber Mk 11, 15ff.* novellistisch ausgestalteten Eindruck.75 Die über die Mk-Parallele hinausgehenden Ochsen und Schafe dürften im Tempelvorhof nicht gehandelt worden sein, so daß auch jeder gläubige Jude deren Austreibung hätte gutheißen müssen.76 Überhaupt ist es für die vorjohanneische Tradition bezeichnend, daß sich das έκβάλλειν Jesu nicht wie in Mk 11, 15 gegen die Händler selbst, sondern gegen die Tiere richtet77; dem entspricht, daß Jesus sich mit einer aus Stricken geknoteten Geißel ausrüstet, wie sie zum Treiben von Ochsen üblicherweise verwendet wurde. Gegenüber der Darstellung von Mk 11, 15* scheint der vorjohanneischen Fassung einiges an Schärfe genommen zu sein. Inhaltlich bedeutet Jesu Tempelaktion hier nicht eine Verunmöglichung des Tempelbetriebes, wie es vormarkinisch der Fall war, sondern dessen Reinigung. Daher warnt das vorjohanneische Deutewort Joh 2, 16ac — wiederum in geradezu retardierendem Gegensatz zu den den Rahmen des jüdischen Tempelbetriebes weit sprengenden Versen Mk 11, 17b und 17c — lediglich vor der schleichenden Profanierung der Jerusalemer Kultfrömmigkeit durch ein übermäßiges Händlerwesen (das zu diesem Zweck von der Redaktion erst in die Perikope eingetragen werden mußte). Die vorjohanneische Perikope zeigt somit eine sowohl für den Evangelisten Johannes als auch für die markinische Tempelreinigungstradition untypische Wertschätzung des Tempels78 und zeichnet Jesus in seiner

über der Tradition Mk 11, 17 sekundär ist, spricht auch, daß im Deutewort 16c genau die Gruppe angesprochen wird, die von der vorjohanneischen Redaktion in den Vordergrund gerückt worden ist, nämlich die Tierverkäufer - ohne daß hierbei irgendein inhaltlicher Uberschuß des Deuteworts über den vorjohanneischen Kontext hinaus ersichtlich wäre. Angesichts dieser Argumente für eine Zugehörigkeit von V 16c zu einer vorjohanneischen Überarbeitung des Tempelreinigungsberichts kann die Annahme von T.A. Mohr, 92.95, in Joh 2, 16c liege das authentische Deutewort des irdischen Jesus vor, nicht überzeugen; vgl. hierzu auch E. Trocme, 262f. 75 So J.R. Sauer, 438; S. Mendner, 96. 76 Vgl. hierzu E.W. Stegemann, 507-510. 77 In Joh 2, 15* hat das πάντας έξέβαλεν eindeutig τά τε πρόβατα και τους βόας zum O b j e k t ; wahrscheinlich sind die letztgenannten Worte erst von der vorjohanneischen Redaktion nachgetragen worden, so daß ursprünglich wie in Mk 11, 15 von einer Aktion gegen die Händler die Rede war. Ubersehen wird der klare Bezug von πάντας auf die Tiere von U. Schnelle, Tempelreinigung, 361, der in der Perikope im folgenden - ganz im Gegensatz zu der in dieser Studie vertretenen Interpretation der vorjohanneischen Schicht - eine besonders gewalttätige Stilisierung Jesu wiederfindet (Tempelreinigung, 361.371). 78 Auf dieser Stufe der Redaktion (nicht jedoch auf der des Evangelisten, s.o. Anm. 77) gilt in der Tat der von J. McHugh, formulierte Satz: „There is not one

74

Quellenkritischer Teil

Tempelreinigung als einen konsequenten Eiferer für das Jerusalemer Heiligtum. Möglich erscheint die von E . W . Stegemann 7 9 vorgeschlagene Deutung der gegenüber M k 11, 1 5 - 1 7 betonten Milderung des Vorgehens Jesu als „Entpolitisierung" 8 0 der Messianität Jesu: D a Jesu Messiastitel nicht im Sinne eines politisch-messianischen Aufrührers mißverstanden werden sollte, habe der Redaktor dem „gefährlichen" Bericht von der Tempelreinigung Jesu jede Schärfe nehmen wollen und ihn zu der verständlichen Aktion eines frommen, tempeltreuen Kultteilnehmers umgestaltet. Die Geißel Jesu steht somit in einem symbolischen G e gensatz zum Dolch des Zeloten. Anders deutet T . A . Mohr 8 1 die in Joh 2, 1 4 - 1 6 vorliegende Tradition auf dem Hintergrund der königlichen Messianität Jesu, da sich der für das alttestamentliche Junktim von Königtum und Tempel grundlegende Text der Nathansweissagung 2.Sam 7, 1 2 - 1 6 in V. 14 auffällig mit dem Deutewort Joh 2, 16c berühre. D a im A T der König für die Reinhaltung des Kultes verantwortlich war 8 2 , Jesus als Davidssohn und Messias aber deren Erbe angetreten hatte, mußte Jesu Aktion im Tempel von den frühen Christen auf alttestamentlicher Basis als Kultreinigung verstanden — und entsprechend tradiert — werden.

Die Analyse von Joh 2, 13—22 unter Berücksichtigung der Frage nach der Traditionsgeschichte des Tempelwortes hat ergeben, daß sich in Joh 2, 19 wahrscheinlich die Verwendung von έν, von έγείρω und wohl auch die von λύω in imperativischer Verbform auf die johanneische Redaktion zurückführen lassen. Eine hypothetische vorjohanneische Form des Logions hätte dementsprechend gelautet: Καταλύαω τον ναόν τούτον και δια τριών ήμερων οικοδομήσω αυτόν

Gegenüber der aus Mk 14, 5883 gewonnenen Fassung eines vormarkinischen Tempelwortes fällt auf, daß vorjohanneisch von demselben Tem-

word of criticism of any Jewish institution, of any person in authority, or of any Jewish doctrine" (126). 79 E.W. Stegemann, 511-516; allerdings bezieht E.W. Stegemann die hier vorgetragene Deutung auf die johanneische Endredaktion, da er im „kompositionsgeschichtlichen" Sinne eine Trennung von Tradition und Redaktion in Joh 2, 13-22 nicht durchführt und so auch die jeweils andersgearteten Aussageintentionen von V. 13-16 und V. 17.18f.20-22 nicht erkennen kann. 80 E.W. Stegemann, 515. 81 T.A. Mohr, 9 6 - 9 8 ; T.A. Möhrs Deutung bezieht sich allerdings auf den irdischen Jesus, auf den Mohr die Tradition von Joh 2, 13ff. zu großen Teilen zurückführen möchte. 82 2.Kön 11, 13ff.; 23, 1-12; 2.Chron 15, 9ff.; 29, 10f.; Belege nach T.A. Mohr. 83 Vgl. Kapitel 1.1.1. dieser Studie.

Joh 3,13-22

75

pel die Rede ist, der zerstört und neu errichtet werden soll, was als Hinweis auf eine ältere Traditionsstufe verstanden werden kann.84 Weiterhin ist die eruierte Tempelworttradition erst von der johanneischen Redaktion mit der Tempelreinigung Jesu verbunden worden.85 Die in Abschnitt 1.1.1.2. aufgestellte These von einem eigenständig tradierbaren und in christlichen Gruppen verbreiteten Logion ist somit bestätigt worden. Die am Anfang dieses Kapitels angesprochene Rückführung der Traditionsgeschichte des Tempelwortes bis hin zum irdischen Jesus ist somit über die Exegese von Joh 2 , 1 3 - 2 2 nicht möglich.86

84 So J. Roloff, Kerygma, 104A182; grundsätzlich sieht auch J. Becker, Jesus, 403f., in Joh 2, 19 die gegenüber Mk 14, 58 ältere Stufe der Tradition - allerdings rechnet er den „typische(n) ironische(n) Imperativ" (403) λύοατε dem Grundbestand des Logions und nicht der johanneischen Redaktion zu; und auch E. Trocme sieht in V. 19 „la forme premiere de la declaration de Jesus au sujet du Temple" (263; Hervorhebungen im Text). 85 Mit den oben unter Anm. 5 genannten Exegeten, gegen die unter den Anm. 3 und Anm. 4 genannten. 86 Damit ist freilich nicht jeder Zusammenhang zwischen der Tempelworttradition und der Tempelreinigung des irdischen Jesus ausgeschlossen. Die jesuanische Zeichenhandlung der Tempelreinigung verlangte, wie M. Trautmann, 122-126, unter Voraussetzung von G. Fohrer, Handlungen, 96f., richtig sieht, als prophetische Zeichenhandlung auch ein Deutewort. Dieses ist in seiner in Mk 11, 17 vorliegenden Form sicherlich sekundär - und erst recht in seiner von diesem Vers abhängigen johanneischen Variante Joh 2, 16b [gegen T.A. Mohr, 92.95]; daß dieses ursprüngliche Deutewort nun das Tempelwort war, wie Trautmann, 123f., vermutet, ist nach dem oben Dargestellten wenig wahrscheinlich, da die Verbindung von Tempelreinigung und Tempelwort in Joh 2 erst auf den Evangelisten zurückgeht (vgl. auch zur Herkunft der Tempelworttradition die Abschnitte 2.4. und 2.5. dieser Studie), jedoch wird zu einem späteren Zeitpunkt zu prüfen sein, ob das authentische jesuanische Deutewort der Tempelreinigung nicht in der (wohl authentischen) Tradition Mk 13, 2* vorliegen könnte (für möglich gehalten von E.P. Sanders, Jesus, 73), vgl. Abschnitt 3. 4. dieser Studie.

76

Quellenkritischer Teil

1.5. Mk 13, lf. Im Zusammenhang der Traditionsgeschichte des Tempelwortes ist auch auf die Unheilsweissagung Jesu gegen den Tempel Mk 13, 2 einzugehen. Da die Lesart einiger vor allem westlicher Handschriften sicherlich sekundär ist1, liegt hier keine Variante des eigentlichen, zweigliedrigen Tempelworts vor; jedoch erscheinen die Eingriffe der westlichen Evangelienabschreiber in den Mk-Text durchaus folgerichtig, da sich die in Mk 14, 58 formulierte Anklage gegen Jesus zumindest auf der Ebene des Markusevangeliums nur auf Jesu Wort in Mk 13, 2 beziehen kann. Auch in der wissenschaftlichen Exegese wird Mk 13, 2 aufgrund seiner inhaltlichen und sprachlichen2 Nähe zu Mk 14, 58 des öfteren mit dem Tempelwort Jesu in Verbindung gebracht. Hinsichtlich der Art und Weise des angenommenen Verwandtschaftsverhältnisses werden verschiedene Positionen vertreten: a.) Mk 13, 2 geht wie Mk 14, 58 und die gesamte Tempelwort-Uberlieferung auf ein ursprünglich zweigliedriges, in der apokalyptischen Tradition Israels die endzeitliche Erneuerung des Tempels ansagendes Wort zurück 3 ; dieses war dem Markus möglicherweise noch bekannt", in Mk 14, 58 liegt es jedoch bereits in ekklesiologisch interpretierter Form vor, während es der Evangelist in Mk 13, 2 redaktionell verkürzt hat. 5 Notwendigerweise verbleibt der Rekurs auf ein sowohl Mk 14, 58 als auch Mk 13, 2 begründendes Herrenwort 6 im Bereich der Spekulation. 1 In Mk 13, 2 lesen die beiden Kodizes Bezae Cantabrigensis und Freerianus sowie fast die gesamte altlateinische Uberlieferung [außer 1 q r 2 und z] und Cyprian ού μή α φ έ τ η ώδε λ ί θ ο ς έπί λ ί θ ο υ (D: λ ί θ ω ) δς ού μή κ α τ α λ υ θ η κ α ι δια τριών ήμερων ά λ λ ο ς άναοτήσεται α ν ε υ χειρών bzw. ein lateinisches Äquivalent. Neben der insgesamt doch schlechten Bezeugung spricht auch der ungeschickte Anschluß ( ά λ λ ο ς meint den Tempel, bezieht sich aber im grammatikalischen Sinne auf λ ί θ ο ς ) dafür, daß hier das zweigliedrige Logion Mk 14, 58 nachträglich auf die Textgestalt des Verses eingewirkt hat. 2 κ α τ α λ ύ ω findet sich bei Mk nur hier und in Verbindung mit dem Tempelwort. 3 So vertreten von Ph. Vielhauer, Oikodome, 5 9 - 6 6 (in der als Dissertation 1939 veröffentlichten Fassung der Arbeit entspricht dies den Seiten 62-70); diese These Ph. Vielhauers wurde übernommen von W. Marxsen, 113, und F. Hahn, Mission, 29(f.)A3; 99-101. 4 So F. Hahn, Mission, 100A3. 5 So F. Hahn, Mission, 100f.; W. Marxsen, 113. 6 Vgl. Ph. Vielhauer, Oikodome, 64.

Mk 13, If.

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Die Vermutung von F. Hahn 7 , an M k 13, 2 sei das Passivum Divinum, an Mk 14, 58 aber die Zweigliedrigkeit ursprünglich, kann unter den oben genannten Voraussetzungen weder bestritten noch bewiesen werden. In jüngerer Zeit tendiert die Forschung daher eher zur Annahme eines direkten Abhängigkeitsverhältnisses von Mk 13, 2 und Mk 14, 58. b.) M k 13, 2 ist in Abhängigkeit von Mk 14, 58 gestaltet worden. 8 U m der in der Synhedriumsverhandlung auftauchenden Anklage gegen Jesus Mk 14, 58 einen Anhalt im Rahmen der Schilderung der letzten Tage Jesu zu geben, sei Mk 13, 2 zur „Verdeutlichung des vaticinium Jesu ex eventu hinzugefügt worden." 9 Nachdem die Zerstörung des Tempels im Jahre 70 tatsächlich geschehen war, konnte die aus der Passionstradition bekannte Unterstellung der Lügenzeugen als sich inzwischen erfüllt habende Prophetie deklariert und Jesus in den Mund gelegt werden. Ob dies nun durch die Komposition der gesamten Szene Mk 13, lf. nach dem Vorbild von Mk 14, 58f., wie D. Dormeyer 10 annimmt, oder durch die Hinzufügung des an Mk 14, 58 angelehnten Versteiles ος ού μή καταλυθη an ein schon zuvor bestehendes Apophthegma geschah, wie R. Pesch11 vermutet — auf jeden Fall geht die Endgestalt des Verses Mk 13, 2b erst auf den Endredaktor und Evangelisten Markus zurück und setzt die von Vespasian befohlene Schleifung des Heiligtums voraus. c.) In Mk 13, 2 liegt ein sehr altes, vermutlich authentisches Herrenwort vor, aus dem das eigentliche Tempelwort Mk 14, 58 abgeleitet worden ist. So betrachtete schon R. A. Hoffmann 12 das Logion Mk 14, 58 als „Gerede unter den Juden" 13 , in dem zwei verschiedene Worte Jesu miteinander verbunden worden seien 14 , nämlich Jesu Androhung eines

7 F. Hahn, Mission, 29(f.)A3. 8 So E. Linnemann, 1 1 8 f . ; J. Gnilka, Verhandlungen, 18; (in Markus, Bd. 2, 181 korrigiert J. Gnilka seine Auffassung allerdings dahingehend, daß der Evangelist in M k 13, 2 ein zuvor eigenständiges Apophthegma verarbeitet habe, das in keiner Weise an M k 14, 58 orientiert sei; im noch späteren Markus und Matthäus, 17f., k o m m t M k 13, 2 bei der Betrachtung des Tempelwortes gar nicht mehr in den Blick); D. D o r m e y e r , Passion, 1 5 9 - 1 6 3 ; D. Lührmann, Markusevangelium, 217f.; J.R. Sauer, 439f.; ähnlich (V. 2c von M k gestaltet) auch R. Pesch, Markusevangelium, 271; ihm folgt Th. Söding, 55. 9 R. Pesch, Markusevangelium, 271. 10 D. D o r m e y e r , Passion 159. 11 R. Pesch, Markusevangelium, 271; das logische Subjekt dieses Satzteiles sieht R. Pesch weiterhin in den römischen Eroberern. 12 R.A. Hoffmann, 1 3 0 - 1 3 9 . 13 R.A. Hoffmann, 139. 14 R.A. Hoffmann, 1 3 3 - 1 3 6 .

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Q u e l l e n k r i t i s c h e r Teil

durch die Römer zu vollziehenden göttlichen Strafgerichtes Mk 13, 2 par sowie ein im NT nicht wörtlich erhaltenes Logion Jesu, in dem dieser seiner Erwartung eines vollkommenen Kultus im Gottesreich Ausdruck verlieh. Ähnlich nahm O. Cullmann 15 an, im Tempelwort Mk 14, 58 sei Jesu Rede von seinem Jüngerkreis als einem nicht mit Händen gemachten „tabernacle spirituel"16 mit seinem bei anderer Gelegenheit geäußerten und in Mk 13, 2 überlieferten Drohwort gegen den Jerusalemer Tempel und die dort institutionalisierte religiöse Praxis verbunden worden. Auch S. Mendner17 vermutet Mk 13, 2 am Anfang der TempelwortTradition, die „von der christlichen Gemeinde Zug um Zug ausgestaltet worden"18 sei. Genauer sieht H. Braun19 im Tempelwort Mk 14, 58 eine nachösterliche, christologische Umgestaltung der in Mk 13, 2 authentisch überlieferten Prophetie Jesu gegen den Tempel, deren Radikalität schon dem frühen Christentum anstößig geworden war.20 Nach J. Schlosser21 liegen in Mk 13, 2 und Mk 14, 58 zwei Varianten desselben Wortes vor; während die erste vermutlich auf den irdischen Jesus selbst zurückgehe, sei dies für das weiterentwickelte Tempelwort mit seiner Ankündigung eines neuen Tempels eher unwahrscheinlich.22 Ähnlich vermutete zuletzt G. Strecker23, im Tempelwort läge ein nachösterlicher „Reflex der frühen Auseinandersetzung zwischen christlicher und jüdischer Gemeinde um die Person Jesu vor. ... Der Ursprung dieser Tradition kann eine historische Reminiszenz sein, die die tempelkriti-

15 O . Cullmann, L ' Opposition, 1 5 7 - 1 7 3 . 16 O . Cullmann, L ' Opposition, 167; O. Cullmann setzt hierbei die Existenz eines schon vorchristlich belegbaren und in Opposition zum Jerusalemer Tempelkult stehenden „esoterisch"-synkretistischen Judentums voraus, dessen Tempelkritik sich im Selbstverständnis der Gemeinschaft von Qumran manifestierte, sich aber auch, nachdem sich das Christentum in diesen Kreisen etabliert hatte, in der hellenistisch-synkretistischen G r u p p e um Stephanus und, weniger polemisch, im Johanneischen Kreis niederschlug. Daß Jesus selbst zu dieser jüdischen Sondergruppe gehörte, ist nach O . Cullmann nicht belegbar, aber auch nicht unwahrscheinlich. — Daß die Entwicklungsgeschichten verschiedener häretisch-jüdischer und christlicher Sondergruppen auf den einen, umfassenden Nenner des „esoterisch"-synkretistischen Judentums gebracht werden kann, erscheint jedoch zweifelhaft. 17 S. Mendner, 101(f.)A29. Alles in allem folgt Mendner hier der Exegese des Tempelwortes von E. Klostermann, 155.132. 18 S. Mendner, 101(f.)A29. 19 H. Braun, Bd. 2, 63(f.)A5. 20 Ebd. 2 1 J . Schlosser, parole, 3 9 8 - 4 1 4 . 22 J. Schlosser, parole, 4 1 2 - 4 1 4 . 23 G . Strecker, Passionsgeschichte, 2 1 8 - 2 4 7 .

Mk 13, If.

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sehe H a l t u n g Jesu z u m Inhalt hatte, wie diese in M k 1 3 , 2 belegt z u sein scheint." 2 4 Vorausgesetzt wird bei den zuletzt genannten A u t o r e n , daß — im Gegensatz zu der unter b.) skizzierten Position — in M k 13, 2 vormarkinisches Material vorliegt, in d e m eine alte, möglicherweise jesuanische Tradition bewahrt ist; o b und inwiefern dies der Fall ist, soll in der nun folgenden Exegese untersucht werden. Kontext Das L o g i o n steht im K o n t e x t der sogenannten „eschatologischen R e d e " 2 5 Jesu i m 13. Kapitel des Markusevangeliums. Vor Beginn seines v o m T o desbeschluß der Feinde 2 6 und der Salbung in Bethanien 2 7 eingeleiteten Passionsschicksals erteilt Jesus d e m engsten Kreis seiner J ü n g e r eine B e lehrung ü b e r das Endzeitgeschehen und schließt so die M k 12, 13 angefangene Reihe der Gespräche mit lehrhaftem C h a r a k t e r ab. 2 8 Auf die theologischen und literarkritischen Probleme der Exegese von Mk 13 kann hier nicht weiter eingegangen werden. W. Marxsen 2 9 nahm an, der Evangelist Markus wende sich in den Wirren des Jüdischen Krieges gegen schwärmerische Verführer, die im Denkzusammenhang der jüdischen Apokalyptik mit dem Kriegsausbruch auch das baldige Kommen des Menschensohnes verbanden; zu diesem Zweck habe er ein „apokalyptisches Flugblatt" überarbeitet und dessen Apokalyptik zur Eschatologie umgebaut 30 - der Evangelist wolle die Gemeinde auf diesem Wege wegführen von der apokalyptischen Spekulation und A/nführen zu einem „wachsamen" (Mk 13, 33.37) Existenzvollzug, der dem schon-jetzt-gekommen-Sein des endzeitlich kommen-werdenden Herrn entspricht. Einen Schritt weiter führten die Überlegungen von H . Conzelmann: M k will seine Leser nicht nur von einer apokalyptischen Deutung des aktuellen Zeitgeschehens wegführen, der Evangelist sucht vielmehr eine „grundsätzliche Lösung der eschatologischen Problematik" 3 1 , die sich durch die Kriegsereignisse, aber auch durch das Ausbleiben der Parusie ergeben hat. Nach H . Conzelmann

24 G. Strecker, Passionsgeschichte, 237. 25 R. Pesch, Markusevangelium, 264; J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 179f., möchte genauer von einer „eschatologischen Mahnrede" sprechen. 26 Mk 14, lf. 27 Mk 14, 3 - 9 . 28 Die Abhandlung eschatologischer Fragen zum Abschluß einer katechetischen Unterweisung war in frühchristlicher Zeit üblich, wie auch die Gliederung der Logienquelle zeigt (mit H. Conzelmann, Geschichte, 211f.) 29 W. Marxsen, 101-128. 30 W. Marxsen, 128. 31 H. Conzelmann, Geschichte, 215, dort mit Hervorhebungen.

80

Quellenkritischer Teil

besteht dieser erste, noch nicht hinreichende Lösungsversuch32 des Mk darin, daß hier Christologie und Eschatologie explizit aufeinader bezogen werden und daß fernerhin unterschieden wird zwischen einer letzten, von Drangsal bestimmten Epoche der Weltgeschichte (also der Zeit der Kirche) und der die Weltgeschichte endgültig abschließenden, schon supranaturalen kosmischen Katastrophe.33 Den Anregungen H. Conzelmanns folgend, haben sich in der jüngeren Forschung die Arbeiten von F. Hahn 34 durchgesetzt; nach F. Hahn hat der nach dem Jahr 70 schreibende Evangelist eine aus der Zeit des jüdischen Krieges stammende judenchristliche Apokalypse in dem Sinne überarbeitet, daß mit der inzwischen eingetretenen Zerstörung des Tempels ein als eschatologisch zu begreifendes Zeitalter angebrochen sei, das im Zeichen der Heidenmission (Mk 13,10!) stehe; dem entspreche auf der Erzählebene des Mk auch die Abfolge vom Zerreißen des Tempelvorhangs Mk 15, 38 und Bekenntnis des heidnischen Hauptmanns Mk 15, 39. Im allgemeinen folgt die Exegese der zuerst von T. Colani 35 entwickelten These einer von Markus überarbeiteten apokalyptischen Quellenschrift, deren Herkunft und Umfang recht unterschiedlich bestimmt werden kann: R. Bultmann36, apokalyptisches Flugblatt: V. 7f.l2.14-22.24-27.30(?) W.G. KümmeP1, jüdisch-urchristliches Traditionsgut: V. 7f.l2.14-20.24-27 F. Hahn38, (ehr.) Menschensohn-,Apokalypse": V. 7f.9b(10)ll-13.14-20. 21f.24—27.28—31 R. Pesch39, christliche Mahn- und Lobrede: V. 5.7-8.9.11-13.14-20. 21-22.24-27.28-31 J. Gnilka40, christliche Apokalypse: V. 6.7f.l2.13b.l4.17-20.22.24-27

32 Jedoch wird hier durch Markus der spätere heilsgeschichtliche Entwurf des lukanischen Doppelwerks vorbereitet, vgl. H. Conzelmann, Geschichte, 221. 33 Vgl. H . Conzelmann, Geschichte, 212-215. 34 F. Hahn, Mission, 58f.99-103; Ders., Rede, 2 4 0 - 2 6 6 ; unter dem Eindruck letztgenannter Arbeit hat R. Pesch seine noch in: Naherwartungen, 2 0 3 - 2 2 3 . 2 2 4 - 2 4 3 vertretene Position geändert, vgl. Ders., Markusevangelium, 2 6 4 - 2 6 7 ; auch J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 179-216, und W. Schmithals, Markus, 5 5 5 - 5 8 6 , folgen im wesentlichen F. Hahn. Vgl. weiterhin J. Gnilka, Markus 13, 129-134; R. Bultmann, Ergänzungsheft, 48f. 35 Vgl. T. Colanis 1864 in der zweiten Auflage erschienene Arbeit: Jesus Christ et Ies croyances messianiques de sons temps; Τ. Collanis These einer zusammenhängenden Quellenschrift ist von J. Lambrecht, 3 2 1 - 3 6 0 , grundsätzlich abgelehnt worden. 36 R. Bultmann, Geschichte, 129f.; ihm folgt W. Marxsen, 108f. 37 W.G. Kümmel, Verheißung, 8 8 - 9 7 ; nach W.G. Kümmel liegt freilich keine Quellenschrift vor, der Evangelist hat vielmehr diverse Fragmente apokalyptischen Charakters verarbeitet. 38 F. Hahn, Rede, 258.260. 39 R. Pesch, Markusevangelium, 266. 40 J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 211f.

81

M k 13, If. C. Breytenbactf\ 24-27.28-31

judenchristliche

Apokalypse:

V.

7f.(12?)14-20.21f.

Ε. Brandenburger42,

christliche Theophanie-Schrift: V. 7 f . l 4 — 2 0 . 2 4 - 2 7

Wichtig für unseren Zusammenhang ist indes, daß die Verse M k 1 3 , 1 - 4 von allen aufgeführten Exegeten zu dem vom Evangelisten selbst verfaßten Rahmen kinischen Apokalypse vorliegt ; dies s Traditionsmaterial verwendet, das ihm

t jedoch nicht aus, dais Markus hier derem Zusammenhang zugeflossen

Analyse Mk 13, 1-4 Der somit zu behandelnde, die Mahnrede Jesu einleitende Textabschnitt Mk 13, 1 - 4 setzt nach Abschluß der Erzählung vom Scherflein der Witwe (Mk 12, 41-44) mit einem durch καί angeschlossenen Genitivus absolutus neu ein. Jesus verläßt nun den Tempel, den er in Mk 11, 27 betreten hatte, und wird von einem Jünger auf das Bauwerk angesprochen (V. 1). Er antwortet nach einer kurzen, rhetorischen Rückfrage, daß hier kein Stein auf dem anderen bleiben werde. V. 3 setzt hingegen voraus, daß Jesus bereits dem Tempel gegenüber auf dem Olberg sitzt. Hier treten seine vier engsten Jünger, wie sie auch schon aus Mk 1, 16-19.29 und Mk 3, 16-18 bekannt sind, hinzu und fragen ihn, πότε ταύτα εσται καί τί τό σημεΐον (V. 4), was Jesus im folgenden mit seiner eschatologischen Rede Mk 13, 5 - 3 7 beantwortet. Zwar bezieht sich das ταΰτα in V. 4 eindeutig auf die in V. 2 ausgesprochene Prophetie, dennoch besteht, wie auch der Evangelist Lukas gesehen hat45,

41 C. Breytenbach, 3 0 2 - 3 0 4 . 42 E. Brandenburger, 41f.l66f.; zuvor bietet E. Brandenburger eine ausführliche Darstellung der bisherigen Rekonstruktionsversuche (21-40). 43 Anders allerdings R. Pesch, Markusevangelium, 276. 44 So auch H. Conzelmann, Geschichte, 212f. samt Anm 13, und F. Hahn, Rede, 242A11; E. Brandenburger sieht in V. lb—2 von Markus verarbeitetes Traditionsgut „mit schwer durchschaubarer Vorgeschichte" (41), auf das er im folgenden nicht weiter eingeht. 45 Lk korrigiert die zwischen den Ortsangaben in Mk 13, 2 und Mk 13, 3 bestehende Spannung, indem er in Lk 21, 7 par M k 13, 3f. die Belehrung der Jünger noch am Tempel geschehen läßt und von Jesu Aufbruch zum Olberg erst in Lk 21, 37 berichtet.

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Quellenkritischer Teil

aufgrund des Orts- und Personenwechsels zwischen V. 2 und V. 3 ein eindeutiger Bruch. 46 Dem entspricht, daß sich im Wort- und Motivbestand zumindest von Mk 13, 3 ausschließlich markinisches Material findet, während dies in Mk 13, lf. nur in recht geringem Umfang der Fall ist. 48 Typisch markinisch erscheint in M k 13, 3f. das Motiv des Berges als O r t der Jüngerbelehrung. 4 9 D e m korrespondiert das markinische Motiv der Aussonderung der Jünger zum Zweck der Belehrung. 5 0 D i e hierfür gebrauchte Wendung κατ' ιδίαν begegnet bei M k insgesamt siebenmal 5 1 und damit deutlich häufiger als in den übrigen Evangelien. Auch die Auswahl der vier Jünger dürfte auf Markus zurückgehen, da diese mehrfach in seinem Evangelium als die vier Ersterwählten genannt werden. 5 3 D i e Vermutung von R. Pesch, Markus habe einen ursprünglich nur den Apostel Andreas betreffenden Vers, der vormarkinisch die escnatologische Rede einleitete, um die in seinem Evangelium maßgeblichen Apostel Petrus, Johannes und Jakobus 5 4 erweitert 5 5 , kann somit nicht bestätigt werden. Weiterhin deutet der Gebrauch von έπερωτάω 56 und ιερόν 57 auf markinische Sprachlichkeit hin. Vor allem erweist sich auch die Präposition κατέναντι, durch die der Bezug zu V. 2 sachlich hergestellt werden soll, als markinisches Vorzugs-

46 Mit E. Wendling, Entstehung, 162; J. Wellhausen, Evangelium Marci, 107; W. Marxsen, 113; J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 181; ähnlich W. Schmithals, Markus, 570f.; C. Breytenbach, 288. 47 In V. 4 läßt der Gebrauch von μέλλω, ουντελέω und οημεΤον die Verwendung vormk. Textmaterials möglich erscheinen. Dieses würde den Vers dann jedoch eher mit der im folgenden verarbeiteten Apokalypse verbinden als mit Mk 13, lf. 48 Mit der überwiegenden Zahl der Exegeten gegen R. Pesch, Markusevangelium, 2 6 9 - 2 7 6 , und J.R. Sauer, 440f. 49 Vgl. Mk 3, 13-19; 9, 2-10; freilich auch Mt 5, 1-7, 29. 50 Vgl. Mk 4, 34; 7, 17f. u.ö.: Jünger als dem Volk gegenüber privilegierte Erkenntnisträger; Mk 9, 2f.; 13, 3f.; 14, 33: Aussonderung bestimmter späterer kirchlicher Autoritäten; vgl. hierzu auch K.-G. Reploh, 214-216. 51 Mk 4, 34; 6, 31f.; 7, 33; 9, 2.28; 13, 3. 52 Bei Mt sechs Belege, zumeist in Aufnahme markinischer Traditionen, bei Lk nur zwei, Joh vermeidet die Wendung. 53 So Mk 1, 16-19; 1, 29; 3, 16-18. 54 Vgl. Mk 5, 37; 9, 2; 14, 33. 55 So R. Pesch, Markusevangelium, 274.276; die von R. Pesch ins Feld geführte Singularform έπηρώτα geht darauf zurück, daß logischerweise nur ein Jünger, nämlich der erstgenannte Petrus, als Fragender gedacht wird. Richtig hingegen F. Hahn, Rede, 251f. 56 25 Belege bei Mk gegenüber nur acht bei Mt, 17 bei Lk, zwei bei Joh. 57 Von Mk des öfteren redaktionell zur Bezeichnung des Heiligtums gebraucht, so Mk 11, 27; 12, 35; 14, 49; vgl. aber auch Anm. 63.

M k 13, If.

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wort, da es bei M k dreimal 5 8 verwandt wird, während es sich bei den übrigen Synoptikern nur je einmal traditionell bei der Aufnahme von M k 11, 2 findet. Somit dürfte zumindest der Vers M k 13, 3, der die Szene M k 13, lf. nicht spannungslos mit der folgenden eschatologischen Mahnrede verbindet, vollständig auf den Evangelisten zurückgehen.

Hingegen finden sich in Mk 13, lf. keine Anzeichen einer markinischen Verfasserschaft. N e b e n den schon oben genannten O r t s - und Personenangaben, die die Verse in Spannung zu M k 13, 3f. stellen, verwundert auch der begeisterte Ausruf des namenlosen Jüngers in V. 1, der wohl die Prophetie Jesu in V. 2 vorbereitet, bei einem nach dem markinischen Erzählzusammenhang schon mindestens drei Tage in Jerusalem weilenden Jünger jedoch befremdlich wirkt. 5 9 Auch die Einführung des Jüngers als εις των μαθητών ist für Markus ungewöhnlich und läßt sich in keinem weiteren Vers seines Evangeliums belegen. Weiterhin ist die Anrede Jesu als διδάσκαλος in M k zumeist traditionell 6 0 und geht, wie J. Roloff 6 1 und F. H a h n 6 2 wahrscheinlich gemacht haben, im Kern auf den irdischen Jesus zurück. Auch das Verb έκπορεύω begegnet in M k zumeist als Tradition 6 3 ; nach R. Pesch 6 4 weist auch die in diesem Zusammenhang gebrauchte Genitivus absolutus-Konstruktion auf vormarkinisches Traditionsgut hin. 6 5 D i e Ortsangabe έκ τοΰ ΐεροΰ spricht nicht gegen das Vorliegen markinischer Redaktion 6 6 , könnte hier jedoch auch traditionell sein. 6 7 Ganz unmarkinisch sind die Worte ποταπός und οικοδομή, die sich beide im Markusevangelium nur hier in V. lf. finden. Auch die weiteren Belege von λίθος im M k scheint der Evangelist in seinen Quellen vorgefunden zu h a b e n . 6 8

58 Mk 11, 2; 12, 41; 13, 3. 59 Vgl. E. Lohmeyer, Markus, 268. 60 So Mk 4, 38; 9, 38; 10, 17.20.35 u.ö., wie auch J. Sauer, 441, zugeben muß; gegen J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 181; zutreffend hier auch C. BreytenbachS (288A48) Einwand. 61 J. Roloff, Kerygma, 55 samt Anm. 19: in den Augen der Umwelt bestand zwischen Jesus und seinen Jüngern eine Art Lehrer-Schüler-Verhältnis. 62 F. Hahn, Hoheitstitel, 77, redet von einem „weitgehend unreflektierte(n) Gebrauch" des Titels, der schon zur Zeit des irdischen Jesus vorgelegen haben dürfte. 63 So Mk 6, 11; 7, 15-21; als markinische Redaktion begegnet es jedoch zumindest in Mk 11,19. 64 R. Pesch, Markusevangelium, 269. 65 Anders J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 181. 66 S.o. Anm. 54. 67 So R. Pesch, Markusevangelium, 269. 68 So Mk 5, 5; 12, 10 sowie 15, 46; 16, 3f.; zu diesem Ergebnis kommt auch J.R. Sauer, 441; wenn er jedoch zu der Wendung ποταποί λίθοι και ποταποί οΐκοδομαί weiter meint, sie könnte trotz des Fehlens markinischer Sprachmerkmale leicht aus

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Quellenkritischer Teil

In M k 13, 2 findet J.R. Sauer 69 als Hinweis auf die Verarbeitung älteren Materials über die oben schon genannten Vokabeln hinaus noch die Verbform βλέπεις 70 , die nur in der vormarkinischen Tradition als direkte Anrede an eine Einzelperson verwendet wird, ωδε kennt Markus eher aus seiner Tradition. 71 Sicher unmarkinisch ist das hier im Passiv gebrauchte Verb καταλύω, das sich im Markusevangelium sonst nur im Zusammenhang des Tempelwortes M k 14, 58; 15, 29 findet und dort, wie gezeigt, vormarkinisch ist. Für R. Peschs 72 Vermutung, der Evangelist habe die Wendung δς ού μή καταλυθί] redaktionell an das ihm vorgegebene Traditionsstück V. 1.2ab«ß angefügt, um die Prophetie M k 13, 2 an M k 14, 58 anzugleichen, bietet der Text keinen rechten Anhalt. Als Ergebnis der Analyse v o n M k 13, 1 - 4 läßt sich somit festhalten, daß Markus in V. lf. ein i h m vorgegebenes Traditionsstück fast ohne redaktionelle Überarbeitung — lediglich die Verwandlung eines a n o n y m e n εΐς in εις των μαθητών αύτοΰ könnte auf den Evangelisten zurückgehen, da Markus die W e n d u n g οί μαθηταί αύτοΰ recht häufig v e r w e n d e t 7 3 — bietet, u m es durch die v o n i h m redaktionell verfaßten Verse 13, 3f. mit der anschließenden eschatologischen Rede Jesu z u verbinden.

Mk 13, lf. — ein vaticinium ex eventu ? Weiterhin ist n u n z u fragen, o b in M k 13, lf. ein vaticinium ex eventu vorliegt. N i m m t m a n an, daß die Szene ganz oder zu wesentlichen Tei-

dem älteren Vers 13, 2b gebildet worden sein, so hat er damit sicher recht, jedoch heißt dies noch nicht, daß Markus das Logion zum Apophthegma ausgestaltet hat; die Verwendung von ποταπός (was im älteren Vers 2b jedenfalls nicht enthalten war) spricht sogar eher dagegen, hier den Evangelisten selbst am Werk zu sehen. 69 J.R. Sauer, 441. 70 J.R. Sauer, 441, nennt als Belege die traditionellen Stellen Mk 5, 31.37; folgt man seiner Argumentation, so müßte hier zumindest noch Mk 8, 23 angefügt werden. Im übrigen ist das Verb bei Mk nicht besonders ungebräuchlich (15 Belege). Weiterhin sieht J.R. Sauer, ebd., auch in dem bei Mk überwiegend in Traditionen gebrauchten Adjektiv μέγας einen Hinweis auf den vormarkinischen Charakter von Mk 13, 2. 71 So Mk 9, 1.5; 13, 21; 14, 32.34. Mit J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 182A10, und gegen J.R. Sauer, 441, gehört das Wort zum Evangelientext, wie die bessere Lesart bezeugt. 72 R. Pesch, Markusevangelium, 271. 73 Je nach Lesart zwischen 32 und 36 der insgesamt 46 Erwähnungen der Jünger bei Markus überhaupt; ebenso J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 181, der diesen redaktionellen Eingriff aber in der seiner Meinung nach ebenfalls redaktionellen Anrede Jesu als διδάοκαλος begründet sieht. Wie schon aus dem im Zusammenhang mit Anm. 57-59 sowie Anm. 62 Gesagten hervorgeht, kann J. Gnilkas Rekonstruktion des vormarkinischen V. 13, 1 (vgl. Markus, Bd. 2, 181A3) nicht überzeugen.

M k 13, If.

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len von Markus gestaltet wurde, so liegt dieser Verdacht nahe. 74 Da Markus hier jedoch auf eine ältere Tradition zurückgreift, das Evangelium aber spätestens kurz nach 70 vorliegt75, bleibt für die Prägung und Tradierung der Szene nur ein äußerst geringer zeitlicher Spielraum76, so daß das Vorliegen eines erst nach dem Jahre 70 gebildeten vaticinium ex eventu kaum glaublich ist.77 Zudem haben W. Grundmann 7 8 und E . Schweizer 7 9 darauf hingewiesen, daß der Jerusalemer Tempel gegen den Wortlaut von M k 13, 2 nicht etwa geschleift, sondern niedergebrannt wurde. 8 0 Gegen diese Argumentation ist von N. Walter 8 1 mit Recht eingewendet worden, daß Vespasian laut Bell V I I , 1 - 4 kurz nach Ende der Kämpfe den Befehl auch zum Schleifen der Tempelanlage gab; „d.h.: dem Zustand, der sich Ende des Jahres 70 darbot, entspricht die Beschreibung in M k 13,2 durchaus." 82 Jedoch hat M . Hengel 8 3 gezeigt, daß die in M k 13, 2 ausgesprochene Vernichtungsdrohung gegen den Tempel zur Zeit Jesu keineswegs eine analogielose Erscheinung darstellte, sondern auf eine längere Vorge-

74 Das Vorliegen eines vaticinium ex eventu vermuten J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 184; J.R. Sauer, 442; W. Schmithals, Markus, 558; D. Dormeyer, Passion, 159A575; J. Becker, Jesus, 405f.; R. Pesch, Markusevangelium, 271, (für die V. 2c beinhaltende Endgestalt des Textes; hinsichtlich der von ihm in Mk 13, 1.2ab gefundenen vormarkinischen Tradition folgt R. Pesch J. Dupont, 301-320, in der Annahme einer vermutlich jesuanischen Prophetie, für deren Authentizität ihre doppelte Uberlieferung in Mk 13, 2 und Lk 19, 44 spreche. Jedoch dürfte Lk 19, 44 kein Sondergut aufnehmen, sondern vielmehr von Mk 13, 2 abhängig sein, so auch M. Hengel, Entstehungszeit, 22A88; vgl. hierzu auch das zu Beginn von Kapitel 3. dieser Studie zu Lk 19, 41-44 Ausgeführte). 75 So der überwiegende Teil der heutigen Exegeten; jedoch hat M. Hengel, Entstehungszeit, 1 - 4 5 , mit gewichtigen Argumenten für eine Abfassung des Evangeliums vor dem Jahre 70 plädiert; in diesem Falle läge in Mk 13, lf. selbstverständlich kein vaticinium ex eventu vor. Eine Datierung vor 70 vertreten auch W. Marxsen, 115, und E. Lohse, Entstehung, 86f.; ausführlich behandelt wird die Frage bei C.A. Evans, 89-147. 76 Vgl. Th. Söding, 55f. 77 Gegen das Vorliegen eines vaticinium ex eventu sprechen sich aus: E. Lohmeyer, Markus, 268; H. Conzelmann, Geschichte, 212A13; J. Roloff, Kerygma, 97; E. Schweizer, Markus, 146; W. Kraus, 2 2 0 - 2 2 2 ; W. Grundmann, Markus, 351. 78 W. Grundmann, Markus, 351. 79 E. Schweizer, Markus, 146. 80 Vgl. hierzu die Schilderung bei Josephus, Bell VI, 249-288. 81 N. Walter, 41-45; der Argumentation von N. Walter haben sich im folgenden einige Exegeten angeschlossen, genannt seien hier R. Pesch, Markusevangelium, 271, D. Lührmann, Markusevangelium, 217f., und J.R. Sauer, 442A18. 82 N. Walter, 42. 83 M. Hengel, Entstehungszeit, 2 2 - 2 5 .

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Quellenkritischer Teil

schichte von — eindeutig vor dem Jahre 70 formulierten — prophetischen U n h e i l sankündigungen zurückblickt.

Darüber hinaus ist das Motiv der Tempelzerstörungsdrohung auch in der alttestamentlichen Tradition beheimatet. 84 Von hier aus läßt sich nun die Sprachgestalt der Prophetie Mk 13, 2 leichter erklären, als es mit Hilfe der aufgrund der Datierungsfragen schwierigen Annahme eines vormarkinischen vaticinium ex eventu möglich ist: Die Wendung λίθον έπί λίθον ( L X X ) bzw. ρ κ findet sich in Hag 2, 15 im Zusammenhang mit dem Jerusalemer Tempel, freilich mit seiner Neuerrichtung nach der babylonischen Gefangenschaft. Das Motiv der Zerstörung selbst der Steine eines Heiligtums begegnet in 2 . K ö n 2 3 , 15 ( L X X ) :

και ουνέτριψεν τους λίθους αΰτοΰ καί έλέπτυνεν εις

χουν. D e r C o d e x Leningradensis liest die Wurzel p p ~ I wird von der Septuaginta unterschiedlich wiedergegeben (so etwa 2 . K ö n 23, 6: καί έλέπτυνεν εις χουν; 2 . C h r 34, 7: κατέκοψεν λεπτά) 8 5 ; gemeint ist jeweils das Zermalmen von etwas Festem in kleinste Teile (vgl. aramäisch K p T p - ! : Scherbe, Partikel). D i e Wurzel begegnet im A T fast ausschließlich im Zusammenhang des eschatologischen Handelns Gottes an und durch Israel (Jes 41, 15; M i 4, 13) oder bei der Vernichtung widergöttlicher Heiligtümer, mit denen Israel Götzendienst trieb ( E x 3 2 , 20; D t n 9 , 21; 2 . K ö n 23, 6.15; 2 . C h r 1 5 , 1 6 ; 34, 4 . 7 ) .

Das Motiv der völligen Zerstörung des gottesfeindlichen Heiligtums (pp~l) 86 könnte durchaus mit der auf den Jerusalemer Tempel bezogenen Wendung p x verbunden — und somit gegen den Jerusalemer Kultus selbst gerichtet — worden sein, beispielsweise von einem dem Tempelbetrieb feindlich gesonnenen Propheten, ohne daß eine Kenntnis der Vorfälle des Jahres 70 vorausgesetzt werden müßte. Zudem hat W. Kraus auf das „auf ein gegenwärtiges Bestehen des Tempels hinweisende

84 S o j e r 7, 14; 26, 6.18; Micha 3, 12 u.ö.; zur Opposition gegen den Tempel im Alten Testament vgl. den diesbezüglichen Beitrag von H.W. Hertzberg, 8 1 - 9 0 , sowie: G. Fohrer, Kritik, 101-116; V.W. Rabe, 2 2 8 - 2 3 3 ; Letzterer rechnet mit einer latenten innerisraelitischen Tempelopposition, da diese Jerusalemer Institution in Spannung zu den geistigen und traditionsgeschichtlichen Grundlagen des jüdischen Volkes stehe. 85 Freilich nirgendwo mit καταλύω. 86 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch die eschatologische Konnotation der Wurzel.

M k 13, If.

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βλέπεις"87 aufmerksam gemacht, das die späteren synoptischen Seitenreferenten jeweils verändert haben: Mt 24, 2: ού βλέπετε ταύτα πάντα; Lk 21, 6: ταΰτα α θεωρείτε, έλεύΰονται ήμέραι. Unter Berücksichtigung aller oben genannten Problemstellungen erscheint es äußerst unwahrscheinlich, daß die vormarkinische Szene Mk 13, lf.* als vaticinium ex eventu formuliert wurde. Es liegt somit kein zwingender Grund vor, die Entstehung der Tradition auf die Zeit nach 70 zu datieren. Analyse der vormarkinischen

Tradition Mk 13, l f .

Das vormarkinische Traditionsstück Mk 13, lf.* erweist sich als kunstvoll komponierte Szene: Nach einer knappen Ortsangabe wird der als διδάοκαλος bezeichnete Jesus von einem anonymen εις auf die beeindruckenden λίθοι und οίκοδομαί hingewiesen (ϊδε). Jedoch bereitet dieser begeisterte Ausruf lediglich das prophetische Wort Jesu vor: Einer kurzen, mit βλέπεις eingeleiteten rhetorischen Rückfrage nach den οίκοδομαί, die die zuvor spontan geäußerte Bewunderung nochmals aufnimmt, folgt die schroffe Ansage einer doppelten Zerstörung der λίθοι; kein Stein wird auf dem anderen bleiben, und ein jeder wird darüber hinaus noch zerstört werden. Dieser doppelten Androhung korrespondiert die vehemente Verneinung ού μή, die in dem Halbvers auch wiederum zweimal auftaucht. Fernerhin sind an kompositorischen Mitteln zu nennen: die Korrespondenz zwischem dem ϊδε des Anonymus und dem βλέπεις Jesu sowie die chiastische Verschränkung zwischen V. lb (λίθοι και ... οίκοδομαί) und den Versteilen 2a (οίκοδομαί) und 2b (λίθοι). Inhaltlich ist die komponierte Szene durch die Schärfe bestimmt, mit der gegen die staunenswerte Pracht88 der Tempelanlage die Ansage ihrer totalen Vernichtung gesetzt wird. 89 Formgeschichtlich betrachtet liegt in dem Traditionsstück ein Apophthegma 90 vor. Diese Gat87 W. Kraus, 220A109; vgl. dort auch das zu den weiteren redaktionellen Überarbeitungen bei Mt und Lk Gesagte. 88 Der Eindruck der damaligen Jerusalemer Tempelanlage muß in der Tat außergewöhnlich gewesen sein, vgl. Josephus Bell V, 222: „Die äußere Gestalt des Tempels bot alles, was sowohl die Seele als auch das Auge des Beschauers in großes Erstaunen versetzen konnte." (Übersetzung nach O. Michel/O. Bauernfeind). 89 Vgl. R. Pesch, Markusevangelium, 269. 90 Zum Begriff des Apophthegmas vgl. R. Bultmann, Geschichte, 8 - 7 3 ; R. Bultmann hat die Definition des Apophthegmas von P. Wendland, 261f., übernommen. Abweichend hat M. Dibelius, Formgeschichte, 24.34-66, dasselbe literarische Phänomen als „Paradigma" bezeichnet.

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Quellenkritischer Teil

tung zeichnet sich nun nach R. Bultmann durch die folgenden Merkmale aus91: Kargheit der Situationsangaben 9 2

vgl. V. la

D e r Anlaß zum abschließenden Herrenwort wird von außen an Jesus herangetragen

vgl. V. l b

Eine Charakterisierung der diesbezüglichen Personen fehlt 9 4

vgl. V. la (εΐς!)

Ziel der komponierten Erzählung ist ein Wort Jesu, das „in größter Knappheit gegeben" wird und am Ende steht

vgl. V. 2 b

Da sämtliche genannten Charakteristika sich in Mk 13, lf.* wiederfinden, ist das Vorliegen eines Apophthegmas unbestreitbar.96 Als solches dürfte die Szene selbständig tradierbar gewesen sein 97 ; schließlich bestand das Anliegen des Verfassers des kleinen Textes, wie es sich in der Wahl der literarischen Form des Apophthegmas ausdrückt, darin, einem für sich allein nur schwer tradierbaren Herrenwort einen erzählerischen Rahmen hinzuzufügen, der die Uberlieferbarkeit des Logions sicherstellen sollte.98

91 R. Bultmann, Geschichte, 66-71. 92 R. Bultmann, Geschichte, 6 7 - 6 9 . 93 R. Bultmann, Geschichte, 69f. 94 R. Bultmann, Geschichte, 70f. 95 R. Bultmann, Geschichte, 66; hier anders M. Dibelius, Formgeschichte, 54, der auch Paradigmen mit „Chor-Schluß" kennt. 96 Mit R. Bultmann, Geschichte, 58f.; vgl. auch 36; weiterhin H. Conzelmann, Geschichte, 212A13; F. Hahn, Rede, 252A48; R. Pesch, Markusevangelium, 269. 271f.; W.G. Kümmel, Verheißung, 9 2 - 9 4 ; J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 181.184; C. Breytenbach, 287; W. Kraus, 219; W. Grundmann, Markus, 350; J. Becker, Jesus, 405. 97 So J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 181; C. Breytenbach, 287; Th. Söding, 55; anders R. Pesch, Markusevangelium, 268, und W. Schmithals, Markus, 557f., die meinen, daß das Apophthegma fest im Kontext der vormarkinischen Passionsgeschichte verankert war. Diese Annahme ist möglich, aber nicht zwingend; die vormk Szene erreicht durch die Vollständigkeit ihrer Situations- und Handlungsangaben einen Grad an Abgeschlossenheit, der auch eine eigenständige Tradierung erlaubt — gerade dies ist ja auch die gattungsspezifische Intention des Apophthegmas. 98 P. Wendland, 261f., schreibt zur Entstehung der Apophthegmata: „Einzelne, besonders scharf geschliffene und pointierte Worte Jesu prägten sich mit zwingender Gewalt den Seelen ein und wurden als Apophthegmata weitergegeben. Der aktuelle Anlaß und die Situation, aus der die geboren waren, oder der Zusammenhang prophetischer Rede, in den sie einst gestellt waren, konnte leicht verloren gehen. Von Mund zu Mund umlaufend, in ihrer lebendigen Wirkung immer wieder erprobt,

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Mk 13, If.

Zweck und Anlaß der kompositorischen Bemühungen des Verfassers von Mk 13, 1Γ war also die Bewahrung des Herrenwortes Mk 13, 2, bzw. genauer des „scharf geschliffene(n) und pointierte(n) Worte(s)"" in V. 2b, da sich V. 2a mit seiner Rückfrage an den Namenlosen als Teil der erzählerischen Rahmung erweist.100 Diesem in V. 2b erhaltenen Logion gab der Verfasser des Apophthegmas eine seine Uberlieferung erleichternde Rahmenhandlung, indem er es zur Antwort auf eine Frage machte, die er wiederum aus dem Wort selbst gebildet hatte. - In dem Vers: Oü μή άφεθ?ί ωδε λίθος έπί λίθο ν δς ού μή καταλυθη

der, wie oben gezeigt, in einem Verhältnis zu dem Tempelwort Mk 14, 58 par steht, liegt also die älteste greifbare Stufe der in Mk 13, 1—4 verarbeiteten Tradition vor. In aramäischer Sprache hätte der Text gelautet: ρ ·ηρτ Ρ "Ρ; ~ ·

x ' pτ -:i

τ :

-

-

τ : -

τ

Π·Ρ τ·

κ 'τ?

Daß mit Κ 3 bzw. ωδε der Jerusalemer Tempel gemeint war, wie der Verfasser des Apophthegmas in V. 1* angibt, geht aus dem Logion selbst nicht zwingend hervor; jedoch spricht die aus dem Tempelbauzusammenhang Hag 2, 5 bekannte Wendung λίθος έπί λίθου101 dafür, daß das Logion als Prophetie gegen den Tempel formuliert und auch schon vor der Abfassung des Apophthegmas als solche überliefert worden ist. Der Verfasser von V. 1* hätte die Angaben seiner Tradenten somit lediglich in erzählerische Form gekleidet.102 Liegt in dem aus Mk 13, 2 gewonnenen Logion nun ein authentisches Jesuswort vor? Der Verfasser des Apophthegmas Mk 13, lf.* scheint davon überzeugt gewesen zu sein, als er den Vers zu einer tradierbaren Szene umgestaltete, jedoch kann dessen Einschätzung allein nicht die Annahme eines echten Herrenwortes begründen. In der Tat sprechen einige Anzeichen dafür, daß in Mk 13, 2* die ipsisslma vox Jesu vernehmwurden dann die Geschichten in Motivierung, ausschmückendem Detail, dramatischer Gestaltung unwillkürlich variiert." 9 9 P. Wendland, ebd. 100 Zu dem Ergebnis, daß in V. 2b das älteste Traditionsmaterial vorliegt, kommt übrigens auch J.R. Sauer, 441f., der diesem Gedanken jedoch nicht weiter folgen will. 101 S.o.; vgl. auch das zur alttestamentlichen Verwendung der Wurzel p p ~ l Gesagte. 102 Auch Ph. Vielhauer, Oikodome, 59, sieht den Bezug von M k 13, 2* auf die Zerstörung des herodianischen Tempels als gegeben an, ohne dies allerdings zu begründen.

90

Q u e l l e n k r i t i s c h e r Teil

bar ist, so die Formulierung des Wortes im Passivum Divinum103 und die Tatsache, daß das an sich anstößige Wort trotz des Vorliegens einer offensichtlich nicht erfüllten Prophetie weitertradiert wurde. Ein großer Teil der Exegeten, die in Mk 13, lf. kein vaticinium ex eventu sehen, geht daher von einem jesuanischen Ursprung des Wortes aus. Indes können die Tatsachen, daß a.) in Mk 13, 2* kein vaticinium ex eventu vorliegt und b.) das Logion einen eindeutig semitischen, alttestamentlichen Sprachhintergrund aufweist, die Beweislast für das Vorliegen eines authentischen Herrenwortes allein nicht tragen; es wäre schließlich auch denkbar, daß das Logion von Judenchristen gebildet worden wäre, die mit dem Jerusalemer Heiligtum gebrochen hatten, sei es als Konsequenz des Christusgeschehens oder aus einer konkreten antizelotischen Position105 heraus. Zu einem späteren Zeitpunkt106 soll daher gezeigt werden, daß sich das in Mk 13, 2* erhaltene Logion auch sinnvoll in den Gesamtzusammenhang der Verkündigung des irdischen Jesus einreihen läßt. Zu klären verbleibt noch die am Anfang dieses Kapitels gestellte Frage, wie das Verwandtschaftsverhältnis von Mk 13, 2 und Mk 14, 58 zu bestimmen ist. Da der Vers Mk 13, 2* vormarkinisch ist, kann er in seiner herausgearbeiteten Gestalt auf keinen Fall als in der Redaktion des Evangelisten entstandene Verkürzung des Tempelwortes Mk 14, 58 angesehen werden. Insofern in dem prophetischen Logion ein authentisches Jesuswort erhalten ist, steht es am Anfang der christlichen Traditionsbildung;

103 Vgl. F. Hahn, Mission, 29(f.)A3; „daß er selbst dabei Hand anzulegen gedacht hätte, widerspricht seiner ganzen A r t vollkommen" wie schon J. Weiß, Die drei ältesten Evangelien, 214, richtig gesehen hat; anders z.B. M k 14, 58 par. 104 So R. Pesch, Markusevangelium, 271f. (ohne V. 2c und auch unter Berufung auf G. Theißen, Tempelweissagung, 1 4 4 - 1 5 8 ) ; J. Roloff, Kerygma, 97f.; W.G. K ü m mel, Verheißung, 9 2 - 9 4 ; W. Kraus, 222; J. Schlosser, parole, 4 1 2 - 4 1 4 ; Η. Braun, Bd. 2, 63(f.)A5; W. Grundmann, Markus, 351; auch J . D . M . Derret, 3 - 2 0 , s i e h t i n M k 11, 15 und 13, 2 authentische Zeugnisse radikaler jesuanischer Tempelkritik; deren Herleitung aus dem Kampf Jesu gegen durch Lepraerkrankungen bedingte kultische U n reinheit erscheint allerdings fraglich; R. Bultmann, Geschichte, 135f., hält Mk 13, 2* für möglicherweise jesuanisch, (vgl. allerdings auch Geschichte 59.127); zur Vorsicht bei der Rückführung von Mk 13, 2b* auf Jesus rät Th. Söding, 5 6 A 9 8 . 105 Möglich erschiene dies v o r allem während der Zelotenherrschaft über den Tempel in den W i r r e n des Jüdischen Krieges. 106 Vgl. hierzu Kapitel 3. dieser Studie; in Abschnitt 3.4. wird nochmals auf das Logion M k 13, 2* eingegangen werden. 107 Gegen die oben unter A n m . 8 genannten Autoren.

M k 13, If.

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es wäre in diesem Falle davon auszugehen, daß das Tempelwort Mk 14, 58 in Abhängigkeit von Mk 13, 2b* gebildet worden ist. Daß Mk 14, 58 gegenüber Mk 13, 2* auf jeden Fall sekundär wäre, dafür spricht das Passivum Divinum καταλυθη, das die Vernichtung des Tempels als eine Tat Gottes erwartet, während das Tempelwort Mk 14, 58 im Kontext der markinischen Passion die Tempelzerstörung bereits christologisch reflektiert von Jesus selbst aussagt. Uberhaupt deutet der zweigliedrige Aufbau des Wortes Mk 14, 58 und seine über die bloße Vernichtungsaussage weit hinausgehende theologische Ausgestaltung (Erneuerung des Tempels; Gegensatzpaar χειροποίητος — «χειροποίητος) auf eine spätere Stufe der Tradition hin. In Mk 13, 2b* läge somit keine Variante des Tempelworts vor, sondern eher eine Vorform, an die man bei der Bildung des eigentlichen Tempelwortes angeknüpft haben könnte (καταλύω); insofern also hier eine jesuanische Prophetie oder zumindest eine sehr alte judenchristliche Tradition vorliegt, ist die Entstehung des Tempelwortes durch den Umgang mit diesem Logion wesentlich angeregt worden. 108 D a ß M k 13, 2 eine möglicherweise authentische, tempelkritische Äußerung Jesu wiedergibt, die am Anfang der späteren Tempelworttradition steht, vermutet auch R. Bultmann. 1 0 9 Ihm folgen W. Grundmann 1 1 0 und H . Braun. 1 1 1 Auch J. Schlosser 1 1 2 führt M k 13, 2b* als literarische Vorform von M k 14, 58 auf Jesus zurück; ähnlich sieht auch G . Strecker 1 1 3 in M k 13, 2 einen möglichen authentischen Beleg der tempelkritischen Haltung des irdischen Jesus, die am Anfang der Tempelwort-Traaition stehe. Weiterhin hat L . Schenke 1 1 4 bei seiner Analyse der vormarkinischen Redaktion des Passionsberichtes die Vermutung ausgesprochen, daß das Tempelwort auf ein prophetisches L o g i o n Jesu zurückgehe, ohne hier allerdings M k 13, 2 in Betracht zu ziehen. 1 1 5

108 Sinngemäß gilt das zur Abhängigkeit der Tempelwortvariante Mk 14, 58 von Mk 13, 2* Ausgeführte natürlich auch für das Tempelwort Joh 2, 19*; zum Verhältnis von Joh 2, 19* und Mk 13, 2* vgl. auch Abschnitt 2.4. dieser Studie. 109 R. Bultmann, Geschichte, 135f.; vorsichtiger allerdings Geschichte 36.126f. 110 W. Grundmann, Markus, 351. 111 H. Braun, Bd. 2, 63(f.)A5. 112 J. Schlosser, parole, 412-414. 113 G. Strecker, Passionsgeschichte, 237. 114 L. Schenke, Christus, 35. 115 Freilich kann trotz der oben aufgeführten Argumente (kein vaticinium ex eventu; alttestamentlich-semitischer Hintergrund; Übereinstimmung mit übriger Jesusverkündigung) nicht gänzlich ausgeschlossen werden, daß das Logion Mk 13, 2 zwar kein vaticinium ex eventu, jedoch ein nicht-authentisches, ja möglicherweise erst kurz vor 70 formuliertes Jesuswort darstellt. In diesem - doch eher unwahrscheinlichen - Fall wären die Berührungen von Tempelwort und Logion Mk 13, 2

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Quellenkritischer Teil

entweder rein zufällig, oder der Sprecher von Mk 13, 2* hätte sich beim Formulieren des Logions wohl an das Tempelwort erinnert, es aber nicht zitieren und auch nicht in redigierter bzw. teilweise negierter Form (vgl. ThEv Log 71) wiedergeben wollen. Leichter erklärt sich Mk 13, 2* freilich als authentisches Herrenwort (vgl. auch Kapitel 3. dieser Studie) und „Vorform" der Tempelworttradition.

2. K o r 5 , 1

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1.6. 2 . K o r 5, 1 Zur Untersuchung der Traditionsgeschichte des Tempelwortes ist auch der paulinische Vers 2.Kor 5, 1 heranzuziehen, da sich hier in auffälliger Weise Motive wiederfinden, die aus dem Zusammenhang des in den Evangelien überlieferten Tempelworts bekannt sind, so die Begriffe κατ α λ ύ ω , άχειροποίητος, das mit dem Verb οΐκοδομέω verwandte Substantiv οικοδομή und schließlich das Kontrastieren von irdischem und gottgewirktem Bau. Einige wenige Exegeten haben daher in 2.Kor 5, 1 ein paulinisches Zitat von Mk 14, 58 gesehen.1 Ob dies tatsächlich der Fall ist2, wird im folgenden zu prüfen sein. Kontext

Makrokontext des zu untersuchenden Textes ist die Apologie des paulinischen Apostolats 2.Kor 2, 14-7, 4. Paulus verteidigt hier seinen apostolischen Dienst, da fremde Missionare in der korinthischen Gemeinde Einfluß gewonnen haben, die auf Empfehlungsbriefe (2.Kor 3,1) verweisen können, aber das Wort Gottes verfälschen (2.Kor 2, 17). In diesem Zusammenhang kommt Paulus in 2.Kor 4, 7-17f. auch auf die von ihm erlittenen Leiden zu sprechen. Diese stellen sein Amt nicht, wie man meinen könnte, in Frage, sondern erscheinen vielmehr als konstitutiver Bestandteil seiner apostolischen Verkündigung, da Paulus sie christologisch als Offenbarwerden des Lebens Christi an seinem Leibe interpretiert (2.Kor 4, 10). Die tagtägliche Zerstörung seines εξω ά ν θ ρ ω π ο υ bedeutet für den Apostel also ein α ι ώ ν ι ο υ βάρος δόξης (2.Kor 4, 17f.), da er sich nicht an den sichtbaren, zeitlichen Dingen, sondern an τά δέ μή β λ ε π ό μ ε ν α α ι ώ ν ι α orientiert. 1 So zuerst A. Feuillet, 162ff.; ihm folgen E. Earle Ellis, 217f., J.-F. Collange, 187.198, und F.G. Lang, 184(f.)A346, sowie, leicht einschränkend, 185A347; erwogen wird die Möglichkeit einer Verarbeitung von Mk 14, 58 in 2.Kor 5, 1 auch bei Th.K. Heckel, 111; eine Verwandtschaft von 2.Kor 5, 1 und Mk 14, 58, allerdings eher im Sinne einer Abhängigkeit des markinischen Belegs vom paulinischen, vermutet auch J.R. Sauer, 444A40; C.M. Pate, 122, schließlich möchte die auch von ihm gesehene Verwandtschaft von 2.Kor 5, 1 und Mk 14, 58 eher auf eine gemeinsame Verwurzelung beider Aussagen in der jüdischen Spekulation über den endzeitlichen Tempel zurückführen denn auf ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis. 2 Anders mit dem Großteil der Forschung: Chr. Wolff, Der zweite Brief, 104; J. Osei-Bonsu, 83f.

Quellenkritischer Teil

94

H i e r schließt Paulus nun eine Ausführung z u m T h e m a der christlichen Zukunftshoffnung an ( 2 . K o r 5, 1 - 1 0 ) . D a hier die Lebenswirklichkeit und -hoffnung eines jeden Gemeindechristen im Blick ist und nicht speziell die des Apostels 3 , erscheint die Perikope im Zusammenhang der paulinischen Argumentation als Exkurs. Erst 2 . K o r 5, llff. wird wieder über das apostolische A m t gehandelt; allerdings bereiten schon die Ausführungen 2 . K o r 5, 6 - 1 0 z u m T h e m a des christlichen „Wandel(s) in der Bestimmtheit

durch

die Zukunft" 4

die allmähliche

Rückkehr

zum

eigentlichen Anliegen des Paulus, nämlich d e m apologetischen, vor. Die schwierige Perikope 2 . K o r 5 , 1 - 1 0 hat eine fast unüberschaubare Zahl von Deutungsversuchen evoziert. 5 Oft wird sie in der Diskussion u m einen Entwicklungsprozeß innerhalb der paulinischen Eschatologie herangezogen. 6 G r o b gesagt geht es in d e m Text u m das Verhältnis von

3 Anders K. Erlemann, 212A38, der im Anschluß an A.C. Perriman, 517, meint, Paulus rede in dem Abschnitt in erster Linie von sich selbst, so daß „das ,wir' demnach nicht auf eine allgemeine Erfahrung von Christen gerichtet ist." (K. Erlemann, ebenda); ähnlich zuletzt auch J. Schröter, 224-249, der, dem Untertitel seiner Studie entsprechend, auch in 2. Kor 5, 1-10 den Themenkreis von spezifisch apostolischer Zukunftserwartung und Bedeutung des Paulus behandelt sehen möchte, da „Paulus hier eine speziell auf seinen Apostolat zugeschnittene Eschatologie entwirft, die ihn von den Korinthern unterscheidet" (232f.), was Schröter mit der in 2.Kor 5, Iff. geschehenden Rede „gerade nicht von der Parusie, sondern vom künftigen Gericht" (232, Hervorhebung im Text) sowie der Thematisierung des apostolischen Leidens in 2.Kor 4, 16-18 (232f.) begründet; es bleibt jedoch fraglich, ob der Exkurs 2.Kor 5, 1-10 wirklich 2.Kor 4, 16-18 fortführt oder ob hier nicht vielmehr unter Anknüpfung lediglich an 2.Kor 4, 18b ein anderes, für die paulinische Diskussion mit den Korinthern ebenfalls wesentliches Problem behandelt wird. 4 R. Bultmann, Korinther, 141. 5 Vgl. die Forschungsüberblicke von Chr. Wolff, Der zweite Brief, 101-106, und K. Erlemann, 210f.; Chr. Wolff findet in der Auslegungsgeschichte der letzten hundert Jahre fünf sich ausschließende Deutungsmodelle wieder, die hier nicht dargestellt werden können. F.G. Lang hat der Exegese von „2.Kor 5, 1-10 in der neueren Forschung" eine ganze Monographie zukommen lassen; eine prägnante Zusammenstellung der „klassischen" Deutungsmöglichkeiten bietet R. Bultmann, Probleme, 3-12; eine vor allem auf der Verwandtschaft der paulinischen Gedanken mit Qumran insistierende Exegese versucht M. RISSI, 73-98; hingegen hat Th.K. Heckel in seiner jüngst erschienenen Untersuchung zum Motiv des ,,εοω άνθρωπος" bei Paulus mit überzeugenden Begründungen auf die - von den Gegnern evozierte - paulinische Verarbeitung platonischer Motive in 2.Kor 4, 16ff. hingewiesen (98-147); vgl. in der neueren Literatur auch J. Osei-Bonsu, 81-101; J. Gillman, 439-454; G. Dautzenberg, .Glaube', 86-104; T.F. Glasson, 145-155; C.M. Pate, 107-136. 6 Vgl. die von H. Windisch 1924 geäußerte Vermutung, daß Paulus „seit den Erlebnissen in .Asien' 1, 8ff. nicht mehr damit rechnete, daß er die Parusie erleben werde, und daß er darum ... die Hoffnung faßte, er werde unmittelbar nach seinem

2. K o r 5 , 1

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Lebensvollzug des Christen im gegenwärtigen Leid, wie ihn Paulus zuvor in 2.Kor 4, lOf. als Offenbarwerden des Lebens Christi für sich in Anspruch genommen hatte, und verheißener zukünftiger Herrlichkeit, in der die Sterblichkeit von Gott her aufgehoben sein wird (V. 4). Nachdem Paulus in 2.Kor 5, 1-4 die Sehnsucht des in seiner irdischen Behausung beheimateten Menschen nach einem Uberkleidet-Werden mit dem οίκητήριον έξ ο ύ ρ α ν ο υ thematisiert hat, kommt der in V. 5 geschehenden Zusage des Geistes als ά ρ ρ α β ώ ν eine entscheidende Bedeutung zu7; die Folgen des Empfangs der göttlichen Gabe konkretisiert der Apostel in V. 6ff. als christlichen Lebensvollzug δια πίστεως ... ού δια είδους.

In diesem Zusammenhang führt Paulus mit dem Vers 2.Kor 5, 1, der im folgenden zunächst der alleinige Gegenstand der exegetischen Untersuchung bleiben soll, mit dem Bild von irdischem und himmlischem Bauwerk einen gegenüber 2.Kor 4, 18 neuen, weiterführenden Gedanken ein. Eingeleitet wird der Vers mit der Wendung οϊδαμεν γ α ρ οτι, die so oder in sehr ähnlicher Form auch in Rom 2,2; 3, 19; 7, 14; 8, 22.28; l.Kor 8,1.4 u.ö. begegnet. Nach der Definition von K. Prümm 8 liegt hier eine paulinische Wissensformel vor, die dazu dient, „die motivspendenden Glaubenswahrheiten" zu „entfalten"'; entsprechend verarbeitet der Apostel in V. 1 „Lehrgut".10 Daß „οϊδαμεν ... einen allgemein anerkannten Satz des christlichen Glaubens" einführt", hat sich in der Exegese als allgemein anerkannt durchgesetzt.12 Entsprechend ist es wahrscheinlich,

(vorzeitigen) Tode zum Herrn gelangen." (Korintherbrief, 157); ähnlich sieht in neuerer Zeit W. Wiefel, Hauptrichtung, 7 4 - 7 9 , in 2.Kor 5, 1-10 den Durchbruch einer individuellen Eschatologie bei Paulus, die eine deutliche Tendenz zur dualistischen Weltsicht aufweise. 7 Zum Begriff des άρραβών vgl. K. Erlemann, 2 0 3 - 2 0 9 , sowie die diesbezügliche Monographie von F.W. Horn, Angeld. 8 K. Prümm, Theologie, 36f. 9 K. Prümm, Theologie, 40. 10 K. Prümm, Auslegung, 264. 11 R. Bultmann, Korinther, 132. 12 So schon P. Feine, 397: Da die Wendung gewöhnlich der Einleitung von „urchristliche(n) Lehrsätze(n)" dient, hat 2.Kor 5, 1 „den Charakter eines christlichen Lehrsatzes oder Dogmas." In die gleiche Richtung gehen auch H . Windisch, Korintherbrief, 158, und U. Wilckens, Römer, Bd. 2, 85.151 u.ö.; anders versteht das οϊδαμεν γ ά ρ Chr. Wolff, Der zweite Brief, 106.lOf.; ähnlich wird die Wendung von C.M. Pate, 121, relativiert, da der Apostel hier seiner Meinung nach zwar den Rekurs auf „common knowledge" (ebd.) ankündige, dies jedoch die verschiedenen von Pate im Text wiedergefundenen jüdischen bzw. frühchristlichen Traditionen meine und nicht eine geprägte Formel.

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Quellenkritischer Teil

daß Paulus in 2.Kor 5, 1 einen im Kreis seiner Leser bekannten Satz zitiert oder zumindest in abgewandelter Form wiedergibt. 13 Als weiteres formales Argument für das Vorliegen einer älteren Tradition in V. 1 nennt R. Bultmann den in V. 2ff. geschehenden Wechsel des Vorstellungskreises von „Behausung" zu „Bekleidung" 14 , J. Gilman15 weist auf die Analogie der Argumentationsstrukturen von 2.Kor 5, 1-5 und l.Kor 15, 50-57 hin: wie in 2.Kor 5, 1 beginnt Paulus auch in l.Kor 15, 50 seine Ausführungen mit einem „Programmatic statement of opposition between earthly and heavenly entities''16 (— auch in der weiteren Argumentationsstruktur ähneln sich die beiden Perikopen); da Paulus in l.Kor 15, 50 aus der ihm vorgegebenen christlichen Lehrtradition schöpft17, dürfte er wohl auch in 2.Kor 5, 1 an allgemein anerkanntes Traditionsgut anknüpfen. Trennung von Tradition und Redaktion

Inwiefern hält nun die durch formkritische Beobachtungen begründete Vermutung eines in 2.Kor 5, 1 verarbeiteten vorpaulinischen Satzes auch der Uberprüfung durch die Vokabelstatistik stand? Die Vokabel ο ι κ ί α ist im NT 94mal belegt, bei Paulus findet sie sich jedoch über 2.Kor 5, 1 hinaus nur in l.Kor 11, 22; 16, 15 und Phil 4, 22. Beim dortigen Gebrauch liegt der Akzent — anders als in 2.Kor 5, 1 — auf dem Hausvorstand bzw. Besitzer des Hauses ( ο ι κ ί α Σ τ έ φ α ν α , έκ της Κ α ί σαρος ο ι κ ί α ς ) , in anderem Zusammenhang verwendet der Apostel ansonsten für gewöhnlich οίκος. 1 8 Der Gebrauch von ο ι κ ί α in 2.Kor 5, 1 kann also nicht als für Paulus typisch bezeichnet werden.19

13 Bereits W. Bousset sah in 2.Kor 5, 1 eine .Aussage, die fast wie ein Lehrsatz klingt. Offenbar beruft der Apostel sich hier auf bestimmte apokalyptische Lehren und Uberlieferungen, die ihm und seinen Lesern wohlbekannt sind, während wir sie nicht mehr kennen" (Korinther, 184). 14 R. Bultmann, Korinther, 133; allerdings wird ο κ η ν ο ς in V. 4 nochmals aufgenommen. 15 Zum Folgenden vgl. J. Gillman, 448-451.(454). 16 J. Gillman, 449. 17 Vgl. hierzu H. Conzelmann, Korinther, 356 (für l.Kor 15, 50a); wiederum begegnet auch die einführende Wendung „τούτο δέ φημι, αδελφοί" wie schon zuvor in l.Kor 7, 29; ähnlich l.Kor 10, 15. 18 Insgesamt sechs Belege bei Paulus; auch οϊκητήριον (V. 2) findet sich bei Paulus nur hier. 19 Zum platonischen Hintergrund des hier begegnenden Gebrauchs von οικία als Bildwort für den menschlichen Leib vgl. die diesbezügliche Untersuchung von

2.Kor 5 , 1

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Σ κ ή ν ο ς begegnet im ganzen NT nur hier in 2.Kor 5, 1 und in der Wiederaufnahme des Motivs in V. 4. Gebräuchlicher ist die Vokabel ή οκηνή, die im Neuen Testament immerhin zwanzigmal 20 vorkommt, bei Paulus jedoch gar nicht. Die Wendung ο ι κ ί α του σ κ ή ν ο υ ς , die l.Chr 9, 23 (LXX) aufnimmt21, erweckt also nicht unbedingt den Anschein paulinischen Sprachgebrauchs. Hingegen finden sich von den sieben Belegen des Adjektivs έ π ί γ ε ι ο ς im NT fünf bei Paulus.22 Ferner ist für Paulus auch ein einheitlich sich durchhaltender Sprachgebrauch festzustellen, da έ π ί γ ε ι ο ς immer als Gegensatz zu έ π ο υ ρ ά ν ι ο ς verwandt wird, so in der ebenfalls die Auferstehungsthematik behandelnden Ausführung des Apostels in l.Kor 15, 40 sowie im Philipperhymnus in Phil 2, 10; in Phil 3, 19f. stehen — ähnlich wie hier 2.Kor 5, l(ff.) — „irdische Gesinnung" und π ο λ ί τ ε υ μ α έν ο ϋ ρ α ν ο ϊ ς in Opposition zueinander. All das gibt Anlaß dazu, ε π ί γ ε ι ο ς nicht der vorpaulinischen Tradition zuzuordnen. κ α τ α λ ύ ω begegnet im Neuen Testament 17mal, jedoch nur insgesamt dreimal bei Paulus, nämlich hier, Rom 14, 20 und Gal 2, 18; zu Gal 2, 18 vgl. das weiter unten Gesagte. Mit Ausnahme von 2.Kor 5, 1 gebraucht der Apostel das Verb nie im Passiv und nie wie hier im konkreten Sinn: Rom 14, 20 redet von einem κ α τ α λ ύ ε ι ν τό έ ρ γ ο ν του θ ε ο υ , in Gal 2, 18 ist das Objekt des κ α τ α λ ύ ε ι ν die Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes. Dies spricht - ebenso wie die relativ geringe Zahl der Belege eher für das Vorliegen einer von Paulus verarbeiteten Tradition in 2.Kor 5,1Mit εχομεν leitet der Apostel für gewöhnlich die von K. Prümm definierten „Habensformeln" ein, die ein „Haben" der von Gott zuge-

Th.K. Heckel, 109f.; vgl. hierzu auch den instruktiven Lexikonartikel von F. Ohly, 905-1063. 20 Mt 17, 4; Mk 9, 5; Lk 9, 33; 16, 9; Acta 7, 43f.; 15, 16; Hebr 8, 2.5; 9, 2f.6.8.11.21; 11, 9; 13, 10; Apk 13, 6; 15, 5; 21, 3. 21 Die Septuaginta verwendet allerdings die gebräuchlicheren Vokabeln: έν οίκω της ο κ η ν ή ς ; keinen wirklichen Bezug zu 2.Kor 5, 1 weist das in Nestle-Aland angegebene Sap 9, 15 auf, wo von dem den Geist gefangenhaltenden Leib als τό γεώδες Οκήνος gesprochen wird; so auch O. Michel, Bau, 86. 22 Zweimal l.Kor 15, 40; 2.Kor 5, 1; Phil 2, 10 (trad.); 3, 19; ansonsten noch Joh 3, 12 und Jak 3, 15. 23 K. Prümm, Theologie, 36f.39; möglich ist auch der Gebrauch des Partizips ε χ ο ν τ ε ς ; U. Wilckens, Römer, Bd. 1, 288, spricht von der „homologetisch-kirchlichen Wir-Form der betroffenen Glaubenden."

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Q u e l l e n k r i t i s c h e r Teil

eigneten Gaben thematisieren. Es liegt somit ein recht häufig begegnendes 24 sprachliches Mittel des Paulus vor. Οικοδομή erweist sich schon aufgrund seiner elf Vorkommen bei Paulus 25 als paulinisches Vorzugswort. Die οικοδομή der Gemeinde ist ein wesentliches Theologumenon des Apostels26; in der Auseinandersetzung mit den korinthischen Pneumatikern27 dient sie dem Paulus als objektives Kriterium der je individuellen — und damit vom ekstatischen Subjektivismus der korinthischen Gegner gefährdeten — π ν ε υ μ α τ ι κ ά / χ α ρ ί σ μ α τ α . Der Begriff οικοδομή wird somit schwerlich einer in 2.Kor 5, 1 verarbeiteten vorpaulinischen Tradition angehört haben.28 Ά χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς begegnet im Neuen Testament nur dreimal, nämlich im pseudopaulinischen Vers Kol 2, 11, im Tempelwort Mk 14, 58 und hier. Da 2.Kor 5, 1 somit als der einzige paulinische Beleg erscheint, spricht dies wiederum für die freie Rezitation älteren Traditionsgutes in diesem Vers. Bei αιώνιος kommt die vokabelstatistische Betrachtung zu keinem eindeutigen Ergebnis. Das Adjektiv begegnet im N T 74mal, bei Paulus finden sich elf Belegs. Der Apostel gebraucht das Wort vor allem in der Formel ζωή αιώνιος , verwendet es aber auch mit anderen Substantiven (z.B. αίώνιον βάρος, 2.Kor 4, 17) und auch substantiviert (2.Kor 4, 18) oder adverbiell (Phlm 16). Sollte der Apostel in 2.Kor 5, 1 ein älteres Logion überarbeitet haben, so geht die doppelte Bestimmung des Bauwerks30 als άχειροποίητον αίώνιον vermutlich auf Paulus selbst zurück, da 24 K. P r ü m m , Theologie, 39, findet allein in 2.Kor 3, 4 - 4 , 13 [im Text steht der Druckfehler „ 2 . K o r 3, 14 — ..."] fünf Belege; hinzu kommen 2.Kor 5, 1; 7, 1; 10, 15 sowie in den übrigen Briefen R o m 5, 1; 12, 6; l . K o r 2, 16; 8, 1; Gal 2, 4. 25 R o m 14, 19; 15, 2; l . K o r 3, 9; 14, 3.5.12.26, 2.Kor 10, 8; 12, 19; 13, 10 sowie hier 2.Kor 5, 1; im gesamten Neuen Testament insgesamt nur 18 Belege. 26 Vgl. zum Begriff der οικοδομή bei Paulus: Ph. Vielhauer, O i k o d o m e , 71-115; J. Roloff, Kirche, Göttingen 1993, 116f., sowie die diesbezügliche Monographie von 1. Kitzberger. 27 S o l . K o r 3, 9; 14, 3.5.12.26; auch 2.Kor 10, 8. 28 Mit Recht hat allerdings I. Kitzberger, 117-123.280.286.288.292.302.304 auf den in vielerlei Hinsicht „bei Paulus singulär(en)" (280) Gebrauch von οικοδομή in 2.Kor 5, 1 hingewiesen; ähnlich F . G . Lang, 181-183; T h . K . Heckeis (111) Schlußfolgerung, Paulus habe οικοδομή hier in der Tradition vorgefunden, erscheint allerdings nicht zwingend, da der Gebrauch von οικοδομή hier leichter auf die paulinisch-redaktionelle Überarbeitung eines geprägten Traditionsstücks zurückgeführt werden kann, das u.a. das Verb οίκοδομέω enthielt, s.u. samt A n m . 36. 29 S o Rom 2, 7; 5, 21; 6, 22f.; Gal 6, 8. 30 Bzw. genauer dreifache Bestimmung, da auch έν τοΤς ούρανοΤς attributiv zu οικία steht.

2. Kor 5,1

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die Bezeichnung des himmlischen Hauses als α ι ώ ν ι ο ς den Bezug des in V. 5, 1 neu eingebrachten Bildes zu dem zuvor in 2.Kor 4, 17f. thematisierten α ϊ ώ ν ι ο ν βάρος δόξης bzw. den τ ά ... μή β λ ε π ό μ ε ν α α ι ώ ν ι α betont herausstellt. Έκ θεοΰ: Von den 1318 Vorkommen von (ό) θεός im Neuen Testament entfallen 430, also knapp ein Drittel, auf Paulus. Auch von den 31 Belegen der Wortverbindung έκ (του) θεοΰ finden sich neun, also wiederum ein knappes Drittel, in den paulinischen Briefen. Jedoch begegnet die Wendung έκ (του) θεοΰ im NT praktisch nur31 im paulinischen Schrifttum und im Corpus Johanneum, und dort vornehmlich im l.Joh. 32 Der Gebrauch von έκ (του) θεοΰ kann somit als ein sprachliches Charakteristikum sowohl der johanneischen Tradition als auch des Apostels Paulus angesehen werden. Ο υ ρ α ν ό ς schließlich begegnet im Neuen Testament 274mal, bei Paulus nur ganze elfmal. Den semitisierenden (und somit auf eine möglicherweise „vorhellenistische" Traditionsgeschichte hinweisenden 33 ) Plural ο υ ρ α ν ο ί findet man bei Paulus dreimal, nämlich Phil 3, 20, l.Thess 1, 10 und hier 2.Kor 5, 1; in den übrigen acht Belegstellen gebraucht der Apostel den Singular, so auch in dem direkt an den hier besprochenen Text anschließenden Vers 2.Kor 5, 2. Daß derselbe Himmel als Herkunftsort des göttlichen Heilshandelns einmal im Plural und direkt anschließend im Singular genannt wird, bedeutet zumindest eine sprachliche Spannung. Die bei Paulus ungebräuchliche Pluralform geht sowohl in Phil 3, 2034 als auch in l.Thess 1, 1035 auf die Verwendung geprägter Traditionen durch den Apostel zurück. Auch in 2.Kor 5, 1 kann der Plural έν τοις οϋρανοΐς somit als Hinweis auf die Verarbeitung älteren Sprachgutes verstanden werden.

31 Die beiden einzigen Ausnahmen sind Acta 5, 39 und Apk 11,11. 32 Allein 15 Belege finden sich in l.Joh 3, 9 - 5 , 19; weitere vier finden sich in Joh 1, 13; 8, 42.47, einer schließlich in 3.Joh 11. 33 Der pluralische Gebrauch von ο ύ ρ α ν ό ς ist dem hellenistischen Sprachgebrauch völlig fremd und wird erst durch die von der L X X durchgeführte wörtliche Ubersetzung von •"'Dtü in das Griechische eingetragen, vgl. G. von Rad/H. Traub, 510f. 34 Zum vorpaulinischen Charakter von Phil 3, 20f. vgl. G. Strecker, Redaktion, 7 5 - 7 7 ; J. Gnilka, Philipperbrief, 209f. 35 Zum vorpaulinischen Charakter von l.Thess 1, 9f. vgl. U. Wilckens, Missionsreden, 8 1 - 8 6 ; G. Friedrich, 5 0 3 - 5 1 2 ; C. Bußmann, 3 8 - 5 6 ; T. Holtz, Thessalonicher, 57.

100

Quellenkritischer Teil

Als Ergebnis der vokabelstatistischen Untersuchung läßt sich formulieren, daß in 2.Kor 5, 1 typisch paulinische Wendungen neben für den Apostel untypischen Vokabeln begegnen. Die aufgrund der formalen Beobachtungen (ο'ιδαμεν οτι, strukturelle Analogie von 2.Kor 5, 1—5 und l.Kor 15, 50-57, s.o.) geäußerte Vermutung, Paulus gebe in V. 1 einen ihm und seinen Zuhörern gleichermaßen bekannten Lehrsatz o.a. wieder, läßt sich nun dahingehend präzisieren, daß Paulus in V. 1 eine ältere Tradition rezitiert, die er aber zuvor sprachlich umgestaltet hat. Eine K o m p o n e n t e dieser Umgestaltung ist vermutlich die H i n z u f ü g u n g von αιώνιος als zweitem Adjektiv (und dritter attributiver Bestimmung) zu οικία, durch die der Bezug des in V. 5, 1 eingebrachten neuen Gedankens zu den Ausführungen 2 . K o r 4, 17f. (τά ... μή βλεπόμενα αιώνια) verdeutlicht werden soll. Ähnlich verdankt sich auch das ήμών der Anpassung der älteren Tradition an den Kontext, der durchgängig in der 1. Person Plural gehalten ist. Weiterhin erklärt sich die paulinisch-redaktionelle Verwendung von έκ θεοϋ aus dem für den Apostel bekannten Anliegen, die Erlangung des Heilsgutes als ein Tun Gottes und nicht als autonome menschliche Möglichkeit darzustellen. D a s paulinische έπίγειος schließlich dürfte durch die von der Tradition vorgegebene Wendung έν τοις ούρανοΐς provoziert worden sein.

Als vermutliche Bestandteile des von Paulus aufgenommenen Logio n s v e r b l e i b e n s o m i t ή οικία του οκήνους, καταλύω, άχειροποίητος u n d έν

τοις ούρανοΤς. An das Tempelwort Jesu erinnern hiervon καταλύω, άχειροποίητος und die krasse Gegenüberstellung von zu zerstörendem und nicht mit Händen gemachtem Bauwerk. Der Bezug der aus 2.Kor 5, 1 eruierbaren vorpaulinischen Tradition zum Tempelwort verstärkt sich noch, wenn man in Erwägung zieht, daß das paulinische οίκοδομήν εχομεν hier möglicherweise das in der Tradition des Tempelworts verankerte Verb οίκοδομέω ersetzt haben könnte; indem Paulus οίκοδομήν εχειν für οΐκοδομέω setzte, veränderte er zwar massiv die Aussage des Logions in dem von ihm theologisch intendierten Sinne, jedoch blieb die sprachliche Nähe zu der von ihm zitierten (und den Hörern bekannten) Tradition weitgehend gewahrt.36

36 Auf diese Weise erklärt sich auch die von I. Kitzberger, F.G. Lang und Th.K. Heckel, (s.o. Anm. 28) angemerkte, für Paulus ungewöhnliche Verwendung von οικοδομή in V. 1 in bezug nicht auf die konkrete irdische Gemeinde (so Rom 14, 19; 15, 2; l.Kor 3, 9; 14, 3.5.12.26 u.ö.), sondern auf das eschatologisch erwartete himmlische Heilsgut; da der Apostel, durch das in der von ihm verarbeiteten Tradition vorgefundene οίκοδομέω angeregt, den ihm gebräuchlichen Begriff οικοδομή redak-

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2. Kor 5 , 1

Dafür, daß der Apostel eine Variante des Tempelworts Jesu kannte, spricht auch Gal 2, 18, neben Rom 14, 20 der einzige weitere Beleg von καταλύω im paulinischen Schrifttum. Hier stellt Paulus καταλύω in Opposition zu οίκοδομέω. Genau dieser antithetische Gebrauch beider Verben ist jedoch für das Tempelwort bezeichnend — und begegnet im N T auch nur dort. E s ist also sehr w a h r s c h e i n l i c h , d a ß P a u l u s in 2 . K o r 5, 1 ein L o g i o n v e r a r b e i t e t hat, d a s z w a r nicht m i t M k 14, 58 i d e n t i s c h ist, aber auf j e d e n F a l l als s e k u n d ä r e Variante des ( v o r ) m a r k i n i s c h e n L o g i o n s a n z u s e h e n ist u n d s o m i t in d e n Z u s a m m e n h a n g d e r T r a d i t i o n s g e s c h i c h t e d e s T e m p e l w o r t e s g e h ö r t . 3 7 D e n E x e g e t e n , d i e eine V e r w a n d t s c h a f t v o n 2 . K o r 5, 1 u n d M k 14, 58 v e r m u t e t h a b e n , ist s o m i t z u z u s t i m m e n . 3 8 Die vorpaulinische

Tradition

D i e B e s t i m m u n g des g e n a u e n W o r t l a u t e s der v o r p a u l i n i s c h e n F o r m e l k a n n n u r i m B e r e i c h des H y p o t h e t i s c h e n g e s c h e h e n . N e b e n d e r U m wandlung

des im Tempelwort

begegnenden

ναόν τούτον (τον

χειρο-

ποίητον) in ein οικία του οκήνους fällt in 2 . K o r 5, 1 v o r a l l e m die in d e r

tionell in die ältere Formel eintrug, begegnet er hier fast zwangsläufig in einem vom bei Paulus üblichen Sprachgebrauch abweichenden Sinnzusammenhang, vgl. I. Kitzberger, 280.286.288.292.302.304. 37 Gegen J. Osei-Bonsu, 83f.; daß, wiej. Osei-Bonsu richtig bemerkt, von einem ναός in 2.Kor 5, 1 nicht die Rede ist, mag ein Argument gegen die Verarbeitung des von Mk 14, 58 par gebotenen Logions im Rahmen von 2.Kor 5, 1 sein, jedoch nicht gegen die Zugehörigkeit des von Paulus frei zitierten Wortes zum Traditionskomplex des Tempelwortes. Wie die Analyse ergeben hat, redete das von Paulus verarbeitete Traditionsstück zwar nicht vom Jerusalemer ναός, jedoch von der οικία του οκήνους in Anlehnung an l.Chr 9, 23 ( L X X ) ; ferner gegen G. Dautzenberg, .Glaube', 95A91, wo die traditionsgeschichtliche Problematik völlig von der Frage nach der aktuellen theologischen Intention des Apostels (die ja durchaus nicht in Kongruenz zu der benutzten Tradition stehen muß) überdeckt wird. 38 So A. Feuillet, 162ff.; J.-F. Collange, 198: „Mais en 5:1 Paul utilise une metaphore. Se fondant sur la parole bien connue de Jesus sur le Temple (οί'δαμεν: Mc.l4:58)"; Ε. Earle Ellis, 217: „The concept is deeply rooted not only in Pauline thought but in the substructure of New Testament thought-patterns generally, and probably finds its origin in the sayings of Jesus himself. It may not be without significance that three key words of II Cor. v. I are contained in Mark XIV. 58"; F.G. Lang, 184(f.)A346: „Demnach scheinen Mk 14, 58; Act 6f und 2Kor 5,1 demselben Traditionskomplex zuzugehören." Ahnliches scheint auch O. Michel, οίκος, 149, anzudeuten; in: Bau, 85-89, stellt O. Michel den Zusammenhang von 2.Kor 5, 1 und Tempelwort jedoch zugunsten einer weitestmöglichen Herleitung der vorliegenden Begrifflichkeit aus dem qumranischen Schrifttum zurück, welche er im Anschluß an die diesbezügliche Arbeit von M. Rissi, durchführt.

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dritten Person Singular gehaltene passivische Aoristform von καταλύω auf. Die beiden Abänderungen bedingen sich gegenseitig: durch die Wahl der dritten Person Singular Passiv wird das Wort Jesu über sein selbsteigenes zukünftiges Handeln zu einer allgemeingültigen Aussage über die Vergänglichkeit der οικία του οκήνους umgeformt; οικία του οκήνους wiederum bezeichnet in l.Chr 9, 23 ( L X X ) zwar die Stiftshütte 39 , jedoch ist der metaphorische Gebrauch von οικία für den Leib als „Behausung" der Seele im hellenistisch-platonischen Millieu häufig anzutreffen 40 , und in diesem Sinne wird οικία του οκήνους auch von Paulus in Kontext von 2.Kor 5, iff. verwendet - er dürfte hierbei durchaus der Aussageintention des von ihm verarbeiteten Traditionsstückes folgen. Ebenso wie οικία του οκήνους schon vorpaulinisch Bestandteil der Formel geworden war41, geht auch das passivische Genus von καταλύω auf die tiefgreifende vorpaulinische Umgestaltung des Logions zurück; die von Paulus verarbeitete Variante des Tempelwortes lautete vermutlich: Κατελύθη οικία του οκήνους και φκοδομήθη οίκίαν άχεψοποίητον έν τοις ούρανοΐς

Das Logion kontrastiert die Auflösung des „Hauses des Zeltes" mit der Errichtung eines „nicht mit Händen gemachten" Hauses in den Himmeln. Den in Antithese zueinander stehenden Verben καταλύω und οίκοδομέω korrespondiert der Gegensatz von Vergänglichkeit des Zelt(!)hauses und Unvergänglichkeit der himmlischen οικία άχειροποίητος. D i e der Formel zugrundeliegende Vorstellung erinnert an l . K o r 15, 35-58 4 2 ; dort geht Paulus, nachdem er zuvor die Tatsächlichkeit der Auferstehung der Toten mit der Auferstehung Jesu begründet hat (15, 1 - 3 4 ) , auf die Frage „πώς έ γ ε ί ρονται ot νεκροί" (V. 35) ein, hinter der wahrscheinlich die eigentlichen Differenzen 4 3 zwischen dem Apostel und seiner Gemeinde stehen. Gegenüber einer

39 S.o. samt Anm. 21. 40 Vgl. Th.K. Heckel, 109f.l23; Heckel weist auch auf den platonischen Hintergrund weiterer in 2.Kor 5, Iff. gebrauchter Motive hin. 41 Vgl. die obige vokabelstatistische Analyse. 42 Zur Exegese des Textes vgl. H. Conzelmann, Korinther, 343-362; K.-A. Bauer, 89-106; Chr. Wolff, Der erste Brief, 194-216; H.-J. Klauck, l.Korintherbrief, 117-123, sowie die diesbezügliche Monographie von G. Sellin. 43 In der heutigen Exegese praktisch nicht mehr vertreten wird die These, daß Paulus in l.Kor 15 einer philosophisch begründeten innergemeindlichen Skepsis hinsichtlich der Totenauferstehung entgegenwirken möchte, wie H.A.W. Meyer, Korinther, 244f., und, etwas vorsichtiger, W.M.L. de Wette, 138f., im Zeitalter des anbrechenden Materialismus [1830 veröffentlichte L. Feuerbach anonym seine Überlegun-

2. Kor 5,1

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dichotomischen 44 Anthropologie, die die christliche Auferstehung der Toten als ein Weiterleben der - durch den in der Taufe geschehenen Empfang des göttlichen πνεύμα hierfür bereiteten - Geist-Seele nach der Zerstörung des Leibes interpretierte 45 , hebt Paulus in l.Kor 15, 35-58 einerseits die Diskontinuität von irdischer und eschatoloeisch-pneumatischer Existenz hervor (V. 36.50)46, andererseits betont er die Leiblichheit des endzeitlichen Heilszustandes (V. 44b.46).47 Im ersten Punkt der Diskontinuität von gegenwärtigem und eschatologischem Gut deckt sich die paulinische Aussageintention völlig mit der des vorpaulinischen Logions 2.Kor 5,1*, ihr zweites Anliegen, die Leiblichkeit der eschatologischen Existenzweise, wird von der oben eruierten Formel zumindest vorausgesetzt, da 2.Kor 5, 1* auch für den endzeitlichen Heilszustand eine οικία an-

gen zu Tod und Seele, 1841 „Das Wesen des Christentums"] vermuteten; - treffend zusammengefaßt wird der heutige Stand der exegetischen Diskussion um eine „korinthische Theologie" auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, von W. Schräge, Korinther, 38-63; dort auch weitere Literatur (38). 44 Die in der Nachfolge Bultmanns üblich gewordene Bezeichnung der Position der Gegner des Paulus als „gnostisch" wie sie beispielsweise von E. Güttgemanns, 62-72, unbefangen gebraucht wird, erscheint auf der Basis der Fakten, die der paulinischen Korinther-Korrespondenz eindeutig zu entnehmen sind, doch als überzogen; vgl. hierzu den Nachweis von W. Schräge, Korinther, 51-53; ähnlich J. Becker, Paulus, 225f. 45 Durch den Empfang des πνεύμα gehört die Seele schon auf Erden dem himmlischen Bereich an; die daraus resultierende Irrelevanz des Leibes begründet sowohl das Aufkommen von Libertinismus in der Gemeinde als auch die gleichzeitige übertriebene Wertschätzung von Askese; die von Paulus in l.Kor 15, 12 wiedergegebene Meinung einiger Korinther, oxt άνάοταοις νεκρών ούκ εοτιν, dürfte der Ansicht der Gegner des 2.Tim λέγοντες άνάοταοιν ηδη γεγονέναι (2, 18) entsprechen Hintergrund ist das Welt- und Zeitverständnis der hellenistischen Mysterienfrömmigkeit, das Pseudo-Sallustius mit dem Satz „ΤαΟτα δε έγένετο μεν ουδέποτε, εοτι δέ άεί" beschreibt (ΠΕΡΙ ΘΕΩΝ ΚΑΙ ΚΟΣΜΟΙ IV, 14f. [Zählung nach A.D. Nock; IV, 9 bei G. Rochefort in CUFr]); zur korinthischen Position vgl. E. Käsemann, Apokalyptik, 120f.; Chr. Wolff, Der erste Brief, 211-216; J. Becker, Paulus, 225-228, sowie die oben genannte Studie von G. Sellin. 46 Die paulinische Argumentation „läuft darauf hinaus, daß es zwischen AdamExistenz und Christus-Pneuma-Existenz keine Kontinuität gibt, keine anthropologische Konstante ... .Fleisch und Blut', d.h. der natürliche Mensch (ψυχή), sind vom .Gottesreich' ausgeschlossen (V.50). Deshalb ist Verwandlung, neue Leiblichkeit erforderlich" G. Sellin, 223. 47 „Ist die Rede von der Auferweckung in der Apokalyptik beheimatet und ist Auferweckung für Paulus ... ein schöpferisches Handeln Gottes als des creator ex nihilo, dann legt sich der Schluß nahe, daß der leibliche Charakter der Auferweckung Jesu Konstitutivum und logisches Implikat der Auferweckungsaussage [auch und gerade in bezug auf die Zukunftshoffnung der Christen, d. Verf.] ist" K.-A. Bauer, 139; zum Insistieren des Apostels auf der Leiblichkeit der eschatologischen Existenzweise vgl. auch H.-J. Klauck, l.Korintherbrief, 119; J. Becker, Paulus, 227.473; Chr. Wolff, Der erste Brief, 195f.198.200.215f.

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nimmt, wenn diese auch von einer völlig anderen Qualität („«χειροποίητος") ist (was Paulus wiederum in l . K o r 15, 4 2 - 4 4 analog vom δώμα πνευματικόν ausführt).

Somit bestätigt sich die aufgrund der Einleitung οΐδαμεν γαρ δτι („Wissensformel") gefaßte Vermutung, daß Paulus mit der hier zitierten Variante des Tempelwortes ein Logion mit dem „Charakter eines christlichen Lehrsatzes oder Dogmas" 4 8 wiedergibt, dessen Verbindlichkeit er auch für die Korinther voraussetzen kann. Während der Apostel in dem recht ähnlichen 49 Kontext von l.Kor 15, 35ff. den Gehalt der Formel ausführlich expliziert hat und auf diese Weise eine von seinem Evangelium abweichende, auf falschen anthropologischen Vorstellungen beruhende, Libertinismus evozierende Soteriologie der Korinther zu korrigieren versuchte, gebraucht er das Logion in 2.Kor 5, 1-10 als Einleitung eines kurzen Exkurses zum gleichen Thema, um - auf der Basis der angenommenen Zustimmung der Korinther zum in V. 1 rezitierten Lehrsatz wiederum über das analog in l.Kor 15 begegnende Motiv der eschatologischen Verwandlung (V. 2f. par l.Kor 15, 50—55) des Leibes (!) auf die Verantwortlichkeit des einzelnen Christen für seine Existenz δια του οώματος (V. 10) abzuzielen. 5 0

48 P. Feine, 397. 49 Sowohl in 2.Kor 5, 1-10 als auch in l.Kor 15, 35-58 wird von der Art und Weise der christlichen Auferstehungshoffnung gehandelt, beide Male ist die Gegenposition eine dichotomische im oben dargestellten Sinne (s.o. Anm. 44f.). Für 2.Kor 5, 1-10 hat Th.K. Heckel, 113-124, die platonische Färbung des hier in die paulinische Argumentation eingegangenen Sprachgebrauchs der korinthischen Gegner aufgezeigt, so u.a. das in V. 3 - und wiederum ähnlich in l.Kor 15, 37 - begegnende Motiv der Nacktheit der Seele [vgl. zur Traditionsgeschichte die bei Heckel, 113A79ff. genannten Belege aus Piatos Gorgias sowie den Aufsatz: „Some Remarks on the Γ Ϊ Μ Ν Ο Σ in II Cor. V. 3" von J.N. Sevenster, 202-214]; die hiermit verbundene Vorstellung vom Leib als Gewand (vgl. V. 2f., έπενδύοαοθαι/έκδύοαΰθαι) ist wiederum in l.Kor 15, 49 zumindest impliziert (vgl. Chr. Wolff, Der erste Brief, 203f.). „Sofern vergleichbare Themen zur Verhandlung anstehen (IKor 15/IIKor 5), läßt sich eine einheitliche Grundlinie der Gegnerkategorien feststellen. Leichte Verschiebungen innerhalb der rekonstruierten Absicht der Gegner sollten weder ausgeschlossen noch überbewertet werden." Th.K. Heckel, 129. 50 „.. auf jeden Fall wird die Verantwortlichkeit während der irdischen Existenz ausgesagt, und auf deren Charakterisierung als einer leiblichen liegt dem Kontext entsprechend der Akzent", (Chr. Wolff, Der zweite Brief, 115); das Abhandengekommensein eben dieser irdisch-leiblichen Verantwortlichkeit verursachte die im l.Kor angesprochenen Mißstände, deren theologische „Begründung" (s.o. Anm. 45) Paulus in l.Kor 15 abschließend zu widerlegen versucht.

2. K o r 5 , 1

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Der „Sitz im Leben" der Formel wird somit in der frühchristlichen Lehre und Unterweisung anzunehmen sein. Ihr Traden tenkreis ist zu lokalisieren im frühen hellenistischen Christentum: Die Frage nach dem „Wie" der eschatologischen Existenzweise - ob hier das Dasein nach der allgemeinen Parusie oder ein Weiterleben nach dem „vorzeitigen", individuellen Tod gemeint ist, läßt das Logion offen - wird unter Aufnahme hellenistischer Terminologie ( ο ι κ ί α für den Leib) beantwortet. Auch dringt hellenistisches Denken in Form einer implizit dichotomen Anthropologie ein, da ein „Haus" als Metapher für den Körper die Seele als - mit dem Leibe nicht identischer - Bewohnerin letztendlich voraussetzt; zudem wird die qualitative Differenz von vergänglicher und himmlischer „ ο ι κ ί α " nicht klar von der platonischen Vorstellung einer Prävenienz der - im Hellenismus ja unsterblich gedachten - Seele gegenüber dem (irdisch-vergänglichen) Leib abgegrenzt. Da diese theologischen Problemstellungen, um deren Lösung zu einem späteren Zeitpunkt der Apostel Paulus zu ringen hat, noch außerhalb des Reflexionshorizonts des Logions liegen, dürfte das Wort einem noch frühen Stadium des Neu-Buchstabierens des Evangeliums im griechisch-hellenistischen Raum zuzuordnen sein. Hierfür spricht auch die der L X X entlehnte Formulierung οικία τοΰ ο κ ή ν ο υ ς , die trotz des faktischen Bezuges auf den Leib auch noch auf die Jerusalemer Heiligtumstradition hin interpretierbar ist und so die Verbindung zum alttestamentlich-jüdischen Hintergrund der Formel aufrechterhält; ähnliches gilt auch für die Wendung έν τοις ο ύ ρ α ν ο ΐ ς im Numerus des Plurals 51 sowie von der Verortung der dem neuen Aon zugeordneten Heils-Existenz im „Himmel" überhaupt 52 ; weiterhin weist auch noch das in 2.Kor 5, 1*S3 begegnende Diskontinuitätsschema auf die Herkunft der hier verarbeiteten Tradition aus der jüdischen Apokalyptik hin. 54 51 S.o. Anm. 33. 52 Zum Himmel als dem „Ort des Heils" vgl. G. von Rad/H. Traub, 5 0 7 - 5 0 9 ; freilich existiert auch im Griechentum die Vorstellung vom ο υ ρ α ν ό ς als Ort des Göttlichen, vgl. G. von Rad/H. Traub, 4 9 8 - 5 0 0 . 53 Hier und im weiteren Verlauf dieser Studie soll die literarkritisch eruierte Vorform eines Verses durch einen Asteriskus (*) gekennzeichnet werden. 54 So F.G. Lang, 184(f.)A346 unter Bezugnahme auf 4.Esr 10, 27.40-57 (bes. 5 3 - 5 5 ) und ApkBar 4, 3f.; ihm folgt C.M. Pate, 121f. samt 121A49; schon W. Bousset beobachtete in 2.Kor 5, 1 einen Rekurs „auf bestimmte apokalyptische Lehren und Uberlieferungen, die ihm und seinen Lesern wohlbekannt sind" (vollständiges Zitat samt Quellenangabe s.o. Anm. 13); ähnlich auch H. Windisch, Korintherbrief, 175; anders hingegen O. Michel, οίκος, 149f., der hier für eine iranische Herkunft der in 2.Kor 5, 1 verwandten Motive plädiert.

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Inhaltlich weicht die in 2.Kor 5, 1* tradierte Variante des Tempelwortes jedoch eklatant von dem im Markusevangelium überlieferten Logion ab: Thematisierte Mk 14, 58* die durch Jesu Handeln bewirkte endzeitliche Substitution des Jerusalemer Heiligtums - und damit des kollektiven religiösen Identifikationssymbols des Volkes Israel - durch ein umfassenderes, dem neuen Aon zuzuordnendes Äquivalent, so behandelt die vorpaulinische Formel - wenn auch in metaphorischer Redeweise — die Erneuerung des menschlichen Leibes — und damit eine je individuelle Frage des religiösen Subjekts. Unzweifelhaft liegt hier ein gegenüber der in Mk 14, 58 verarbeiteten Tradition sekundärer Gebrauch der Heiligtums-Begrifflichkeit vor. Zwar bleibt die eschatologische Ausrichtung des Logions erhalten, jedoch ist seine Aussage in 2.Kor 5, 1* nicht mehr eine apokalyptische, im Zuge einer (typisch „westlichen") Zuspitzung auf die Person gerät vielmehr das Schicksal der Einzelseele im Angesicht der Ewigkeit ins Blickfeld; hier „wurde ins Anthropologische übersetzt, was vordem primär Weltwende meinte, und ins zeitlos Typische gewandt, was ursprünglich zeitlich-teleologische Aussage war.«55 Die paulinische Redaktion Das redaktionelle Interesse des Paulus bei der Umgestaltung des Logions ist nicht vom Kontext V. 2-9 zu trennen. Zeichnet man die Argumentationsstruktur der genannten Verse nach, so wird deutlich, daß Paulus aas Wort 2.Kor 5, 1 als sowohl für ihn selbst als auch für seine Gemeinde verbindliche Lehraussage einführt; da der Apostel die Zustimmung der Korinther zu dem in V. 1 Gesagten voraussetzen kann, schließt er als inhaltliche Weiterführung (και γάρ έν τούτω) die Sehnsucht der im irdischen οΐκητήριον Lebenden nach einem Uberkleidetwerden 56 mit der zuvor angesprochenen himmlischen „Behausung" an. V. 3 grenzt sich sodann polemisch gegen die platonische Vorstellung der Nacktheit der Seele nach dem Tode, genauer

55 E. Käsemann, A p o k a l y p t i k , 121, zur Interpretation des christlichen Erlösungsgeschehens im Raum der hellenistischen Gemeinden. 56 „ W i e immer man die Position der Auferstehungsleugner in Korinth im einzelnen beschreiben mag, vermutlich haben sie eine dualistische Anthropologie vertreten und auf das Weiterleben der leiblosen Seele gehofft. Der Vorgang der Befreiung vom Leibe konnte mit έ κ δ ύ ο α ο θ α ι v4, der Zustand der leiblosen Seele mit γ υ μ ν ό ς ε ύ ρ ε θ ή ν α ι v3 beschrieben werden. Paulus scheint daran anzuknüpfen und setzt mit έ π ε ν δ ύ ο α ο θ α ι seine Erwartung einer neuen endzeitlichen durch Verwandlung bei der Parusie verliehenen Leiblichkeit (vgl. 1 K o r 1 5 , 5 4 f ) dagegen" G. Dautzenberg, .Glaube', 94.

2. Kor 5 , 1

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beim Gericht 57 , ab. V. 4 wiederholt die Gedankenführung von V. 2f., fügt dem Seufzen im irdischen „Zelt" jedoch als Begründung noch die kreatürliche Angst vor dem Sterben hinzu; indem auf diese Weise „Nacktheit" der Seele mit Tod und „himmlische Leiblichkeit" mit Leben assoziiert werden, gibt der Apostel seinem Votum von V. 3 ein solides Fundament. V. 5 schließlich nennt Gott als den Urheber des zuvor beschriebenen Geschehens, da Gott durch die Gabe seines Geistes als άρραβών in der Taufe Anfang und Grund der Heilserlangung der Christen gesetzt hat : „Da jedoch PI die gegenwärtige Geistesgabe als Angeld auf die Zukunft versteht..., liegt die Kontinuität bei dem Gott, der mit der gegenwärtigen Gabe des Geistes das Eschaton verbürgt. Von daher ist ein ,gratia perficit naturam'... ausgeschlossen." Die Verse 6-10 beinhalten die Anwendung der zuvor ergangenen Belehrung auf die Hörer. Die paulinische Intention wird deutlich durch die Reihung έν τω αώματι (V. 6), έκ του αώματος (V. 8) und δια του σώματος (V. 10). Der H ö r e r findet sich in der Situation wieder, daß er, solange er im (irdischen) Leibe wandelt, noch fern vom H e r r n (V. 6) ist; insofern begründet sich sein Lebensvollzug (V. 7) im Glauben (πίστις), noch nicht im schon Geschauten (είδος) 61 , und er hegt den verständlichen Wunsch, diesen Leib zu verlassen und προς τον κύριον zu gelangen (V. 8). Dies impliziert jedoch gerade nicht ein Vernachlässigen der gegenwärtig noch bestehenden Leiblichkeit, sondern ein Bemühen [betontes φιλοτιμούμεθα zu Beginn von V. 9], dem Herrn auch in diesem irdischen Existenzvollzug zu gefallen; denn (V. 10) dieser κύριος ist niemand anders als der endzeitliche Richter, vor dem gerade die Werke δια του δώματος zu bestehen haben. Indem Paulus den Gerichtsgedanken hier einführt, berichtigt er die Vorstellung der Korinther, die in der Erlösung einen sich wesentlich an der Seele vollziehenden, mit der Taufe (V. 5) begonnenen Prozeß sahen 62 , in dessen Verlauf

57 In Piatos Gorgias verbürgt gerade der postmortale Nacktheitszustand der Seele die Gerechtigkeit des über sie ergehenden Richtspruchs, vgl. die von Th.K. Heckel, 113, angeführten Belege. 58 „Das Seufzen ist... ausdrücklich als Grauen vor dem Akt des leiblichen Sterbens motiviert", G. Schrenk, βάρος, 558. 59 In der grundlegenden Bewertung der in der Taufe geschehenen Geistverleihung dürfte Paulus durchaus mit seinen korinthischen Widersachern übereinstimmen, jedoch betont der Apostel durch die Erwähnung Gottes in V. 5, daß seine Ausführungen kein prozeßhaftes Geschehen zum Gegenstand haben, sondern göttliches Heilshandeln. 60 F.W. Horn, Angeld, 404; Horn sieht in 2.Kor 5, 5 eine geprägte urchristliche Wendung vorliegen, die im gesamten Neuen Testament (so in Acta 5, 32; Rom 5, 5; l.Thess 4, 8; l.Joh 3, 24 u.ö.) begegnet, vgl. Angeld, 62-64. 61 Zur Übersetzung von είδος als „Gesehenes" vgl. K.-A. Bauer, 122f.; F.G. Lang, 190 samt Anm. 361; Th.K. Heckel, 121; daß πίοτις hier als defizitäre Weise des Erkennens erscheint, verrät wiederum den Einfluß platonischer Anschauungen, vgl. Heckel, 121f. samt der dort in Anm. 118 aufgelisteten Belege. 62 Vgl. die obigen Ausführungen zu l.Kor 15, 35ff.

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dem L e i b praktisch keine Bedeutung mehr zukam. Nicht nur, daß der Apostel das himmlische Sein als leibliche Existenz (V. lf.) beschreibt und die platonische „ N a c k t h e i t " der Seele regelrecht als Schrecknis darstellt, der korrekte U m g a n g mit dem Leib wird bei ihm geradezu Kriterium der Erlangung des endzeitlichen Heils, da Christi endzeitliches Gericht nichts anderes als das leibliche Sein des Menschen zum Gegenstand hat. 6 3 Nach dieser Korrektur der korinthischen Eschatologie, wie sie dem Apostel noch aus der im l . K o r geführten Kontroverse vor Augen war und zu der er sich durch die in 2 . K o r 4, 17f. geschehene Erwähnung seiner H o f f n u n g auf die „ewige Herrlichkeit" veranlaßt sah, gibt Paulus in 2 . K o r 5, l l f f . seinerseits Rechenschaft über seinen Dienst δια τοΰ οώματος und setzt die seit 2 . K o r 2 , 1 4 andauernde Apologie seines Apostolats fort.

Vor diesem Hintergrund der paulinischen Argumentation werden die redaktionellen Eingriffe des Apostels in den Textbestand der von ihm zitierten Lehrformel verständlich: Im Kontext seiner Argumentation führt Paulus das Logion mit der Wendung οι'δαμεν γαρ οτι, also als „ Wissensformel" 64 ein. Dem Rekurs auf die gemeinsame Lehrtradition, die der Apostel auch für die korinthische Gemeinde voraussetzen kann, kommt hier am Anfang der paulinischen Ausführungen die Funktion zu, den Konsens in der Frage einer endzeitlichen Erneuerung der Christen herauszustellen. 65 Von dieser Grundlage her kann dann im Verlauf der apostolischen Darlegungen auch der Dissens, der in der unterschiedlichen Bewertung von Leib und Seele besteht, thematisiert werden, was ab V. 3f. geschieht. Der Anpassung des Logions an den Kontext dient auch das redaktionelle αιώνιος, das das Stichwort der „ewigen Herrlichkeit" aus 2.Kor 4, 17f. aufnimmt und so den Exkurs des Apostels mit dessen vorheriger Ausführung verknüpft, sowie das ήμών, da Paulus im folgenden durchgängig in der 1. Person Plural redet. Die Apostrophierung des „Zelthauses" als έπίγειος trug der Apostel gewohnheitsmäßig-verdeutlichend in die Formel ein, da er ein im Gegensatz zum „himmlischen" Bereich stehendes Faktum üblicherweise

63 Die „besonderen Akzente (der paulinischen Argumentation, d. Verf.) bestehen einerseits in der auffallend dominierenden somatisch ausgerichteten Begrifflichkeit ... andererseits in dem Gerichtsgedanken als dem Zielpunkt des Abschnitts" J. Schröter, 248; zur Auseinandersetzung des Paulus mit der Eschatologie des hellenistischen Enthusiasmus vgl. weiter E. Käsemann, Apokalyptik, 119-131. 64 S.o. Anm. 8-10. 65 Ein identisches argumentatives Vorgehen des Apostels findet sich u.a. auch in l.Kor 8, 1 und l.Kor 15, 1-7.

2. Kor 5 , 1

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mit diesem Adjektiv tituliert. 66 Theologisch motiviert ist hingegen die redaktionelle Bezeichnung der Auferstehungsleiblichkeit als οικοδομή έκ θεοΰ, die notwendigerweise ein έ'χειν nach sich zieht: Die spezifisch paulinische Wendung έκ θεοΰ führt den hier beschriebenen Vorgang explizit auf ein Gotteshandeln zurück und vermeidet so eine Interpretation des Logions, nach der das Erlangen des himmlischen „Hauses" in einem quasi naturhaften Prozeß - und somit mehr oder weniger in den natürlichen Möglichkeiten der menschlichen Seele - begründet wäre. Inhaltlich ist mit diesem Eingriff des Apostels in die vorpaulinische Tradition jenes Anliegen vorweggenommen, das später in V. 5 ausführlich zur Sprache gebracht werden wird. Ähnlich erklärt sich auch die Bildung des paulinischen Theologumenons οικοδομή aus der vorpaulinischen Verbform φκοδομήθη: Im Zusammenhang von 2.Kor 5, 1 steht οικοδομή als Apposition zu οικία « χ ε ι ροποίητος und meint daher eindeutig das „Bauwerk" des (zukünftigen) menschlichen Leibes; üblicherweise gebraucht der Apostel die Vokabel jedoch exklusiv zur Bezeichnung der Gemeinde67, so l.Kor 3, 9: θ ε ο ΰ οικοδομή έοτε, wobei Gott als „das eigentliche Subjekt" 68 der Erbauung fungiert und das Theologumenon auch christologisch69 und eschatologisch70 konnotiert ist. J. Roloff bestimmt den theologischen Gehalt der paulinischen Erbauungsvorstellung folgendermaßen: „Die Kirche wird dadurch erbaut, daß die an Christus glaubenden Menschen dazu befähigt werden, als eine von der heilvollen Zuwendung Gottes geprägte Gemeinschaft in Erscheinung zu treten und die Herrschaft Jesu Christi vor der Welt und in Wort und Tat zu bezeugen. Der primäre Ort solcher .Erbauung' ist der Gottesdienst (IKor 14,26-33). Die .Erbauung' der Kirche ist also nach Paulus letztlich nichts anderes als ihre ständig neu erfolgende Konstituierung als .Leib Christi'."71 Indem nun Paulus das eschatologische Heilsgut nicht bloß als autonome οικία, sondern mit dem Terminus οικοδομή bezeichnet, den er vorrangig für die κ ο ι ν ω ν ί α der die Herrschaft Gottes in der Welt bezeugenden Kirche gebraucht, impliziert der Apostel, daß hier Gott selbst am Werk ist und daß es um die 66 Vgl. die oben durchgeführte vokabelstatistische Analyse. 67 So pointiert in der Korintherkorrespondenz l.Kor 3, 9; 14, 3.5.12.26, 2.Kor 10, 8; 12, 19; 13, 10; vgl. Ph. Vielhauer, Oikodome, 108f.; F.G. Lang, 181f.; I. Kitzberger, 291-297.304. 68 I. Kitzberger, 297. 69 Vgl. I. Kitzberger, 299f. 70 Vgl. I. Kitzberger, 302f. 71J. Roloff, Kirche, 116.

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Quellenkritischer Teil

Durchsetzung seiner - und nicht einer menschlich autonomen - Heilswirklichkeit geht; Kriterium der οικοδομή ist - wie in bezug auf die Lebenswirklichkeit der Gemeinde, so auch im Hinblick auf das endzeitliche Heil des einzelnen Gläubigen — Christus selbst und dessen Leben und Sterben für andere. Möglicherweise klingt hier der in 2.Kor 4, lOf. formulierte Gedanke der Schicksalsgemeinschaft mit Christus noch nach; für die innere Struktur von 2.Kor 5, 1-10 bedeutet dies, daß in der redaktionellen Wendung οίκοδομήν έκ θεοΰ εχομεν neben dem in V. 5 durchgeführten Rekurs auf die alleinige Begründung der Erlösung aus dem Handeln Gottes auch das in V. 10 die paulinische Argumentation abschließende Motiv von Christus als Grund und Maßstab des Letzten Gerichts auf sublime Weise enthalten ist.

ThEv Log 71

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1.7. ThEv Log 71 Abschließend soll hier auch auf das 71. Logion des Thomasevangeliums eingegangen werden. Sein Text lautet:

nexe ic xe fNAtgiupcyp Mneemei λγω ΗΝ λλλγ Νλφ κοτ°ι AN NKecon Jesus sagte: Ich werde dieses Haus zerstören, und niemand wird es ein weiteres Mal aufbauen können. Sowohl die traditionsgeschichtliche Einordnung des Logions als auch seine Auslegung ist nicht von der grundsätzlichen Frage nach den vom ThEv verwendeten Quellen zu trennen.1 So versteht B. Gärtner2 Log 71 als bewußte Polemik des ThEv gegen die Interpretation des Tempelwortes durch die kanonischen Schriften, die das Wort als Hinweis auf Jesu Auferstehung deuten; 3 denn nach dem Glauben der Gnostiker geschehe die Erlösung eben gerade dadurch, daß das materielle „Haus" des Leibes [bzw. des Kosmos] überwunden werde. Vorausgesetzt ist bei Gärtners Exegese des Logions also die Kenntnis der diesbezüglichen kanonischen Tradition. - S.J. Patterson hingegen möchte im Log 71 ein Zeugnis von „biting critique of kingship"4 sehen, die der „Thomas-Bewegung" zueigen war und sich gegen das „Haus" der Herodianer richtete ; nach dem Ende des Agrippa im Jahre 44 mußte sich diese Kritik eine andere mit den römischen Besetzern kollaborierende Institution als Ziel suchen und

1 Eine Zusammenfassung der Diskussion bieten Ph. Vielhauer, Geschichte, 6 2 4 - 6 2 9 , und S.J. Patterson, 9 - 1 6 ; die grundlegende Frage besteht darin, ob die Spruchsammlung des ThEv von den synoptischen Evangelien abhängig ist oder ob eine von den Synoptikern unabhängige Tradierung des Spruchgutes angenommen werden kann (=„Unabhängigkeitshypothese"). 2 B. Gärtner, Theology, 171-174. 3 Β. Gärtner, Theology, 173; ähnlich auch M. Fieger, 202f., und J.-E. Menard, 172f.; Gärtner rekurriert hier auf die johanneische Interpretation des Tempelwortes; nach dem in 1.6. Ausgeführten läge es im Sinne Gärtners näher, in der dem Vers 2.Kor 5, 1 zugrundeliegenden Variante des Tempelwortes den Bezugspunkt der gnostisierenden Polemik des Log 71 anzunehmen, zumal der frühchristliche Lehrsatz vom eschatologischen „Haus" (!) der Seele im Himmel immerhin die Erneuerung des menschlichen Leibes zum Gegenstand hat. 4 S.J. Patterson, 237; ebenso 53f. und 149f. 5 S.J. Patterson, 53.

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wurde im Jerusalemer Tempel fündig. 6 Nach Pattersons phantasievoller Darlegung wäre also die in Log 71 überlieferte Tradition die älteste für uns greifbare Fassung des Tempelwortes, aus der nach 44 n.Chr. sekundär das biblische Tempellogion gebildet worden wäre. Vorausgesetzt ist bei S.J. Patterson natürlich die Unabhängigkeitshypothese, auf deren Untermauerung die gesamten Kapitel 2 und 3 seiner Monographie hinzielen 7 : „Thomas is not linked to the synoptic gospels in any generative way. In this sense the Gospel of Thomas is to be considered the representative of an autonomous early Christian tradition." 8 Wesentlicher Gewährsmann Pattersons ist Η . Köster 9 , der in seiner Arbeit „ G N O M A I D I A P H O R O I : Ursprung und Wesen der Mannigfaltigkeit in der Geschichte des frühen Christentums" 1 am Anfang der zum T h E v hinführenden Tradition eine mit der synoptischen Quelle Q verwandte 11 , ja dieser vorausgehende 12 Sammlung jesuanischen Spruchguts sah; während die Quelle Q durch das Hinzuwachsen der Menschensohntradition redaktionell im Sinne einer besonderen frühchristlichen Apokalyptik umgestaltet worden sei 13 , habe in der Thomas-Tradition - durch die Erinnerung an den irdischen Jesus als den Lehrenderi14 - das theologische Prinzip des seine Vollmacht in sich selbst tragenden Weisheitswortes 15 ausgebildet, durch welches Jesus selbst als „Lebendiger" 1 6 aktuell zu Wort komme; freilich konnte dieses Prinzip aufgrund seiner Affinität zur Gnosis von der Großkirche nicht akzeptiert werden. 1 7 Beruft sich aber die Thomas-Tradition auf einen der Quelle Q möglicherweise vorausgehenden Ursprung, so darf die neutestamentliche Forschung den Wert der hier zugrunde liegenden Q u e l l e nicht unterschätzen. H . Kösters Aufsatz „Dialog und

6 S J . Patterson, ebd. 7 S.J. Patterson, 17-110. 8 S.J. Patterson, 93. 9 Vgl. S.J. Patterson, llf.; im dritten Kapitel der Monographie Pattersons dienen die Anmerkungen 25-46 ausschließlich der Wiedergabe von Belegen aus der von H. Köster und J.M. Robinson gemeinsam veröffentlichten Aufsatzsammlung „Trajectories Through Early Christianity" Philadelphia 1971. 10 In: Ders./J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, (deutsche Ausgabe der in Anm. 9 genannten Sammlung), 107-146. 11 H. Köster/J.M. Robinson, 121-124. 12 Vgl. Ders., Ein Jesus und vier ursprüngliche Evangeliengattungen, in: H. Köster/J.M. Robinson, 147-190, 172f. 13 H. Köster/J.M. Robinson, 128f., ebenso 173; daß die Tradition des Menschen(!)sohnes sich in einer in ihrer Endgestalt doch gnostischen Schrift wie dem ThEv nicht (mehr?) findet, mag allerdings auch auf andere Gründe zurückführbar sein. 14 H. Köster/J.M. Robinson, 129. 15 H. Köster/J.M. Robinson, 130. 16 Vgl. den Anfang des ThEv. 17 H. Köster/J.M. Robinson, 132-134.

T h E v L o g 71

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Spruchüberlieferung in den gnostischen Texten von Nag H a m m a d i " 1 8 , in dem durch die formgescnichtliche Klassifizierung der Nag Hammadi-Uberlieferung nochmals die diesbezügliche Sonderstellung des Thomasevangeliums 1 9 hervorgehoben wird, endet daher mit der Forderung Kösters, „diesem Uberlieferungszweig und seinem Zeugnis auch bei der Rekonstruktion der ältesten Uberliererungsgeschichte neben den synoptischen Sprüchen mehr Geltung (zu) ver1 ΓΓ «20 Mithin räumte schon H . - W . Bartsch in seiner Auseinandersetzung mit G. Quispel 2 1 das Zugrundeliegen von „älteren Sammlungen" 2 2 im T h E v ein, und O . Cullmann, der im gleichen Jahr seine sehr instruktive Arbeit „Das Thomasevangelium und die Frage nach dem Alter der in ihm enthaltenen Tradition" 2 3 verfaßte, kam, „was die Frage nach der Herkunft der Logien betrifft, die Varianten zu synoptischen Parallelen bieten, zu einem ähnlichen Schluss wie für den U r sprung der Sammlung: Es lässt sich nicht beweisen, dass einzelne von ihnen auf eine von den Synoptikern unabhängige alte Tradition zurückgehen. Aber verschiedene Indizien legen es nahe. Wenn das Thomasevangelium eine ältere nichtgnostische Logiensammlung zur Grundlage hätte, so wäre dies natürlich auch für die Überlieferungsgeschichte der Einzellogien wichtig" 2 4 . Jedoch hat W. Schräge in seiner 1964 erschienenen Habilitationsschrift 2 5 den Nachweis erbracht, „daß

18 H . Köster, Spruchüberlieferung, 5 3 2 - 5 5 6 . 19 Welches H. Köster hier - zumindest in einer „älteren Fassung" - auf die zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts datiert (Spruchüberlieferung, 554). 20 H. Köster, Spruchüberlieferung, 556. 21 Hier: G. Quisper, 2 7 6 - 2 9 0 ; Quispels Beiträge zur Erforschung des T h E v werden bei H. Köster/J.M. Robinson, 121f., aufgeführt und, wenn auch mit leicht ironischem Unterton, gewürdigt. 22 H . - W . Bartsch, Thomas-Evangelium, 261. 23 O . Cullmann, Thomasevangelium, 5 6 6 - 5 8 8 ; O . Cullmann erhebt im Bestand des ThEv aufgrund vorhandener Dubletten zwei Quellen, eine gnostisch-judenchristlich gefärbte und eine zweite, in stärkerem Maße gnostisch geprägte, die durch Überarbeitung und Weiterentwicklung der ersten Quelle entstanden ist (Thomasevangelium, 578f.); in der Endgestalt des ThEv stehen beide Quellen nebeneinander. Daß in der ersten Quelle nicht das homogene Werk eines gnostischen Verfassers vorliegt, sondern vielmehr eine gnostisierende Überarbeitung einer noch älteren judenchristlichen Spruchsammlung, ist für Cullmann aufgrund der hier vorgenommenen, oft nur oberflächlichen Gnostisierung ansonsten nicht-gnostischer Einzellogien wahrscheinlich (Thomasevangelium, 580f.). Nach O . Cullmann erscheint es also als plausibel, daß die Thomas-Tradition ursprünglich auf eine vom Charakter her der Quelle Q ähnliche, von dieser aber unabhängige Spruchsammlung zurückgeht, in der neben nicht-kanonischem Material auch Spruchgut tradiert wurde, das - wie das Tempelwort - im Bereich des N T ansonsten in verschiedenen Schichten und Traditionszusammenhängen verschriftlicht wurde. 24 O . Cullmann, Thomasevangelium, 586. 25 W. Schräge, Verhältnis; zur genau erwogenen Methodik der Analyse, die im folgenden auf über sechzig Logien des ThEv - leider nicht auf das Tempelwort Log 71 - angewandt wird, vgl. S. 1 - 2 7 ; - zum Verhältnis der in den Oxyrhinchus-Papyri

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Quellenkritischer Teil

das koptische T h E v nicht nur v o n der synoptischen Tradition u n d einer sekundär veränderten, mit Paralleleinflüssen durchsetzten Texttradition abhängig ist, sondern darüber hinaus auch die Vertrautheit mit einer koptischen Evangelienversion verrät" 2 6 ; demnach wäre es sehr unwahrscheinlich, daß das Thomasevangelium dort, w o es sich mit synoptischen Jesus-Logien berührt, eine eigenständige oder gar die bessere! - Tradition bietet.

Trotz der sehr gewichtigen Einwände W. Schräges gegen die von S.J. Patterson und anderen vorausgesetzte „Unabhängigkeit" des Thomasevangeliums kann jedoch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß sich in einem einzelnen Logion des ThEv, konkret in dem Tempelwort Log 71, möglicherweise eine eigenständige, dem neutestamentlichsynoptischen Material vorausgehende Tradition bewahrt hat. Während auf den mit der Genese der Thomas-Tradition zusammenhängenden Themenkomplex im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden kann, scheinen die von O. Cullmann gegebenen Anregungen für die Betrachtung des Tempelwortes eine Perspektive zu vermitteln: Können - unter der Voraussetzung einer von den Synoptikern unabhängigen Tradierung des Wortes im Bereich des ThEv — aus dem im Log 71 vorliegenden Text Informationen entnommen werden, die für unsere Sicht der Uberlieferungsgeschichte des Tempelwortes von Bedeutung sein könnten? Methodisch ist hier allerdings zu berücksichtigen, „dass unsere Sammlung als solche bereits eine Geschichte hinter sich hat."27 Wenn das Tempelwort im Verlauf seiner inner-neutestamentlichen Uberlieferung bis hin zu Acta 6, 14 zahlreiche, z.T. einschneidende Umgestaltungen erfahren hat, so dürfte dies auch für seine Tradierung bis hin zur Endgestalt des ThEv zu erwarten sein. M . E . findet dieser Umstand bei der v o n S.J. Patterson vorgeschlagenen D e u t u n g des Tempelwortes zu wenig Beachtung. D a ß beispielsweise „Haus" zu-

erhaltenen Fragmente einer griechischen Fassung des ThEv zur synoptischen Tradition vgl. W. Schräge, Evangelienzitate. 26 W. Schräge, Evangelienzitate, 251. - Schon die griechische Variante des ThEv erweist sich als vom unrezensierten „westlichen" Evangelientext abhängig (Evangelienzitate, 267), was ihr Zurückgehen auf eine Q vorausgehende Spruchquelle nicht gerade wahrscheinlich macht; bei der Übertragung ins Koptische scheint der Übersetzer zudem frei an eine ihm bekannte koptische Übersetzung der synoptischen Evangelien anzuknüpfen (267f.), was die vom ThEv gebotenen Varianten synoptischen Materials grundsätzlich eher als sekundär erscheinen läßt. 27 O. Cullmann, Thomasevangelium 576.

ThEv Log 71

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mal in der griechischen Form „οίκος" eine Dynastie meinen kann 28 , trifft sicherlich zu; daß dieser in platonistisch/gnostischen Kreisen gern metaphorisch gebrauchte Terminus - nicht umsonst widmet F. O h l y in seinem diesbezüglichen R A C - A r t i k e l 2 9 allein dem metaphorischen Gebrauch von „Haus" ganze 158 Spalten - jedoch in einer letztlich gnostischen Schrift wie dem ThEv sehr leicht redaktionell hinzugetreten sein könnte, sollte beachtet werden.

Von daher soll nun Log 71 selbst betrachtet werden, um so der Frage nachzugehen, ob dem im ThEv vorliegenden Text des Logions ein Hinweis auf eine ältere (uns möglicherweise aus kanonischem Zusammenhang bekannte) Vorlage entnommen werden kann oder ob umgekehrt ThEv Log 71 selbst als Vorlage für uns bekannte Traditionen gedient haben könnte. Beobachtungen am ThEv Log 71

Das Tempelwort wird hier ausdrücklich als Jesuswort eingeführt (Π6Χ6 IC X6). In der neutestamentlichen Tradition begegnet das Tempelwort nur bei Johannes als explizites Herrenwort - freilich wird das Subjekt des isoliert tradierten Logions, wie es in Mk 14, 58/Joh 2, 19* bewahrt ist, ebenfalls Jesus gewesen sein30; im Zusammenhang der in 2.Kor 5, 1 verarbeiteten vorpaulinischen Tradition begegnet das Tempelwort als gemeinchristlicher Lehrsatz mit passivischen Verbformen, im Kontext der Synoptiker und der Apostelgeschichte stellt das Tempelwort eine verleumderische Aussage falscher Zeugen dar, wobei ihr vom Evangelisten Matthäus ein gewisser Wahrheitswert eingeräumt wird. 31 Insofern das ThEv das Tempelwort als authentisches Herrenwort einführt, befindet es sich also entweder mit der frühesten neutestamentlichen Tradition oder aber mit den späten, redaktionellen Schichten des N T (Joh, Mt) in Ubereinstimmung. Das Tempelwort begegnet im Thomasevangelium als zweigliedriges, futurisch formuliertes [fNAtl)Op[ü)p]/NAÜ|] Logion. Sowohl in der Zweigliedrigkeit stimmt Log 71 somit mit den kanonischen Belegen 32 überein, als auch in seiner futurischen Formulierung. 33 Insofern man in dem (nicht zweigliedrigen) Logion Mk 13, 2* den beim irdischen Jesus selbst 28 S.J. Patterson, 53. 29 F. Ohly, 905-1063; kürzer Th.K. Heckel, 109f. 30 Vgl. Abschnitt 2.4. dieser Studie. 31 Vgl. Abschnitt 1.2. dieser Studie. 32 Auch Acta 6, 14; dort κ α τ α λ υ θ ε ί - α λ λ ά ξ ε ι . 33 Mit Ausnahme von Mt 26, 61.

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Q u e l l e n k r i t i s c h e r Teil

liegenden Ursprung der Tempelwort-Tradition im weiteren Sinne sieht (oder zumindest doch eine wesentliche Voraussetzung derselben ), setzt das Log 71 also den Ubergang zu einer zweigliedrigen Struktur bereits voraus, oder es liegt in ihm der früheste Beleg einer zweigliedrigen Konstruktion des Tempelwortes vor, aus welchem Joh 2, 19*/Mk 14, 58 abgeleitet wären. Am Log 71 des ThEv fällt die starke Verneinung des zweiten Gliedes (MN ... AN) auf; während sich in der gesamten kanonischen TempelwortTradition (mit Ausnahme von Acta 6, 14) καταλύω und οίκοδομέω als die das jeweilige Versglied regierenden Verben antithetisch gegenüberstehen, wird in der koptischen Variante das zweite Glied des Gegensatzpaares KOT nochmals verneint, so daß das zweite Glied die Aussage des ersten quasi bekräftigend weiterführt. Diese durch die Negation des zweiten Gliedes charakterisierte Konstruktion des Logions hat in der kanonischen Tempelwort-Uberlieferung keine Analogie und ist somit als Spezifikum der zum ThEv gehörigen Tradition anzusehen. Gegenüber der in Joh 2, 19*/Mk 14, 58 usw. begegnenden Struktur erscheint die des Log 71 als die kompliziertere und daher wohl spätere. Ferner scheint die betonte Negierung eines Wiederaufbaus KOT Η ... [NKGCOjn doch inhaltlich [bzw. traditionsgeschichtlich] vorauszusetzen, daß zuvor von einem möglichen Wiederaufbau die Rede war; sowohl von der Struktur als auch von der Aussage des ThEv Log 71 her erscheint es somit als die glaubhaftere Möglichkeit, daß dieses Logion aus einem älteren, der Fassung von Joh 2, 19*/Mk 14, 58 entsprechenden Tempelwort gebildet wurde. Unwahrscheinlicher wirkt demgegenüber, daß ein Redaktor quasi auf dem umgekehrten Weg aus der komplexeren Gestalt des Log 71 das biblische Tempelwort geformt hätte und somit aus der weiterentwickelteren Struktur die einfachere entstanden sei. In dieselbe Richtung geht auch die folgende Beobachtung: Im Log 71 des ThEv wird das dem Zerstören des „Hauses" gegenüberstehende (Wieder)aufbauen nicht nur negiert, sondern auch von dem Hilfsverb „können'Vü) regiert. Verneint wird also nicht nur, daß dieses Haus erneuert werden wird, sondern auch, daß dies für irgend jemanden (λλλγ) überhaupt möglich wäre. Im Bereich des Neuen Testaments begegnet eine ähnliche Konstruktion nur in Mt 26, 61, wo Mt beide Verben in Abhängigkeit von einem δύναμαι Jesu setzt. Dort liegt eindeutig matthäische Redaktion vor.35 34 Vgl. die Abschnitte 1.5. und 2.4. dieser Studie. 35 Vgl. Abschnitt 1.2. dieser Studie.

ThEv Log 71

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Selbst wenn man annimmt, die unabhängige Tradierung im Bereich der zum ThEv führenden Uberlieferung schließe eine Abhängigkeit der im Log 71 begegnenden Formulierung von dem matthäisch-redaktionellen Gut aus, und man demzufolge in der Ubereinstimmung von matthäischem und koptischem Gut einen Zufall sieht, so bestätigt dennoch die sich aufgrund des Gebrauchs von φ/,.können" ergebende kompliziertere Struktur des Log 71 die oben ausgesprochene Vermutung hinsichtlich einer gegenüber Joh 2, 19*/Mk 14, 58 sekundären Genese des im ThEv überlieferten Tempelwortes. Eine weitere augenfällige Besonderheit des ThEv Log 71 besteht in der Bezeichnung des zu zerstörenden Gebäudes als Haus/Hl, zumal in der neutestamentlichen Tempelwort-Überlieferung zumeist vom Tempel (ναός) die Rede ist.36 Innerhalb des Neuen Testaments begegnet indes auch einmal οικία als Objekt des vom Tempelwort angekündigten καταλύειν bzw. οίκοδομεΓν, und zwar in der vorpaulinischen Formel 2.Kor 5, 1*. Hier bezeichnet οικία die leibliche Wirklichkeit des Menschen. 37 Ein ähnliches Verständnis des Begriffes οίκος wird u.a. von B. Gärtner38 für Log 71 angenommen. Gärtner kann sich auf den - auch und gerade im platonistisch/gnostischen Raum — weitverbreiteten Gebrauch von „Haus" als Metapher für den Leib39 berufen. Der Jesus des ThEv redete dann, durchaus in Antithese zur gemeinchristlichen Verkündigung einer leiblichen Auferstehung, von der als gnostisches Heilsziel aufgefaßten Überwindung jedweder leiblicher Wirklichkeit. 40 Diese Interpretation des Logions scheint nun dem gnostischen Kontext des ThEv am ehesten gerecht zu werden. 41 Insofern ist es nicht unwahrscheinlich, daß im Zusammenhang der zum Thomasevangelium führenden Tradierung der Terminus „Haus" ein älteres „ναός" ersetzt hat; der derzeitige Kontext des Log 71 spricht jedenfalls dafür, daß diese Variante des Tempelworts auch an diesem Punkt sekundär ist. Ob hier

36 Wie oben bereits dargestellt, hält es J.S. Patterson, 53f., für möglich, daß hier im ThEv älteste, frühchristliche Polemik gegen das „Haus des Herodes" bewahrt wurde, während in der kanonischen Tradition redaktionell der Tempel an die Stelle des verhaßten „Hauses" trat. 37 Vgl. Abschnitt 1.6. dieser Studie. 38 B. Gärtner, Theology, 172f. 39 Vgl. F. Ohly, 949-958. 40 B. Gärtner, Theology, 173. 41 Man vergleiche hierzu auch den metaphorischen Gebrauch von Hl/Haus in den Logien 35, 64, 97 und 98.

Quellenkritischer Teil

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die Kenntnis von 2.Kor 5, 1 oder der dahinterstehenden mündlichen Tradition auf die ins ThEv mündende Uberlieferung eingewirkt hat, kann erwogen werden. Konsequenzen Wie die Betrachtung von ThEv Log 71 ergibt, weist die gegenüber Joh 2, 19*/Mk 14, 58 komplexere Form des zweiten Versgliedes auf eine sekundäre Gestaltung des im ThEv überlieferten Logions hin. Es ist ungleich wahrscheinlicher, daß das Log 71 aus einem Tempelwort in der Art von Joh 2, 19* gestaltet wurde, als daß in Log 71 ein sehr altes, in die Zeit vor 44 n. Chr. zurückreichendes Logion vorläge, das dem einfacher strukturierten Wort Joh 2, 19* als Vorlage gedient hätte. Das Vorkommen einiger Elemente, die im Bereich der neutestamentlichen Tradition in den späteren Stadien der Tempelwort-Überlieferung hinzutreten (δύναμαι, „Haus", evtl. auch ausdrückliches Jesuswon par Joh 2, 19), deutet darauf hin, daß die Endgestalt des Log 71 das gesamte N T voraussetzt; ansonsten müßten diese Ubereinstimmungen als zufällig angesehen werden. Der Nachweis einer eindeutigen Berührung der Endeestalt des ThEv mit den biblischen Texten bedeutet freilich noch nicht die Widerlegung der „Unabhängigkeitshypothese". Auch wenn die zum ThEv führende Überlieferung mit einer eigenständigen Tradierung frühester christlicher Logien begann, schließt dies nicht das Einwirken der weit verbreiteten kanonischen Tradition auf die Endgestalt des ThEv aus. J.S. Patterson 42 meint aus diesem Grunde: „It may therefore be preferable to speak of the Thomas tradition as an autonomous, rather than independent tradition." 43 Diese die Uberlieferungsgeschichte der Thomas-Tradition betreffenden Fragen können hier jedoch nur peripher berührt werden.

Sind aber die oben genannten Elemente sekundär zur an sich „auton o m " tradierten Tempelwort-Variante des ThEv hinzugetreten, so kann über das autonom tradierte Tempelwort der ältesten Quelle des ThEv nichts weiter ausgesagt werden, als daß es aus zwei Gliedern bestand, in denen sich die Verben „zerstören" und „aufbauen" jeweils in futurischer Formulierung auf ein Bauwerk bezogen. Demnach bot dieses Logion

42 S.J. Patterson, 91-93. 43 S.J. Patterson, 93 (Hervorhebung im Text).

ThEv Log 71

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nichts, was über Joh 2, 19* hinausgeht.44 Sollte also eine autonome, der Quelle Q ähnliche Spruchsammlung die Basis der Entwicklung des ThEv gewesen sein, so enthielt sie in unserem Zusammenhang nichts anderes als die für Joh 2, 19* ermittelte Fassung des Tempelwortes. Im Verlauf seiner weiteren Tradierung mutierte das Logion - unter dem Eindruck der gnostisierenden Tendenzen seines Trägerkreises und wohl auch unter dem Einfluß des NT - zu seiner heutigen Form. Da das in obiger Weise bestimmte, ursprünglichste Log 71* der Tradition Joh 2, 19* nahesteht, jedoch keines der Elemente aufweist, in denen Mk 14, 58 über Joh 2, 19* hinausgeht [so das Gegensatzpaar χειροποίητος — «χειροποίητος und den betonten Hinweis auf einen anderen Tempel], bestätigt die unter Voraussetzung der „Unabhängigkeitshypothese" durchgeführte Beobachtung von ThEv Log 71 immerhin die schon in 1.4. ausgesprochene These, daß die Fassung Joh 2,19* Κ α τ α λ υ θ ώ τον ν α ό ν τούτον κ α ι δια τριών ήμερων οΐκοδομήοω α ύ τ ό ν

ein gegenüber der vormarkinischen Tradition Mk 14, 58 älteres Stadium der Tempelwort-Uberlieferung darstellt. Denn wie die Analyse von ThEv Log 71 ergeben hat, lag ein Wort Joh 2, 19* offenbar schon in der frühesten christlichen Logientradition vor, deren Tradierung hin zum Spruchgut des ThEv führte, während die Fassung von Mk 14, 58 erst auf dem Weg über hellenisierende Kreise45 in die Evangelientradition eindrang. Weitere Ergebnisse hinsichtlich der Stadien der literarischen Genese des Tempelwortes bietet das ThEv nicht; der aus dem Neuen Testament selbst gewonnene „Stammbaum" der Tempelwort-Tradition wird lediglich um einen frühen Zweig reicher. In seiner heutigen Gestalt meint das Tempelwort des ThEv vermutlich den Leib.46 Möglich ist auch eine Deutung auf den Kosmos als οΐκος

44 Der bereits mehrfach erwähnten Vermutung von J.S. Patterson, 53f., in Log 71 habe sich eine frühchristliche Polemik gegen das Haus des Herodes bewahrt, ist somit jegliche Textgrundlage entzogen. 45 Zum hellenistischen Hintergrund der beiden Epitheta χειροποίητος/«χειροποίητος vgl. Abschnitt 2.5. dieser Studie; zur Einfügung des Logions Mk 14, 58 durch eine hellenistische, vormarkinische Redaktion des Passionsberichtes vgl. Abschnitt 1.1.3. dieser Studie; zu άχειροποίητος in 2.Kor 5, 1* vgl. Abschnitt 1.6. dieser Studie. 46 Mit B. Gärtner, Theology, 171-174 - auch Log 21 und Log 35: „Hausherr" dürfte in beiden Fällen der Gnostiker sein, der seinen Leib von Beeinträchtigungen durch die feindliche Welt schützen muß, vgl. W. Schräge, Verhältnis, 69.90 (dort weitere Belege).

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Quellenkritischer Teil

des Menschen 4 7 ; ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Deutungen besteht nicht, da das L o g 71 in beiden Fällen die in Jesus begründete Aufhebung aller materieller Bindung als das Heilsziel des Gnostikers beschreibt. 4 8 Insofern steht das L o g 71 in Spannung zu der in 2 . K o r 5, 1* formulierten frühchristlichen Zukunftshoffnung, erst recht zu deren Interpretation durch Paulus in 2 . K o r 5 und l . K o r 15 und der sich hierauf gründenden kirchlichen Tradition. Gleichfalls ist, da die irdisch-weltliche Geschichte für den Gnostiker ihre Bedeutung verloren hat, für das L o g 71 der konkrete Jerusalemer Tempel längst kein T h e m a

mehr.

Durchaus mit Berechtigung fand das T h E v und mit ihm die in L o g 71 erhaltene Fassung des Tempelworts ihren O r t nicht im N T , sondern in Nag Hammadi.

47 So Th. Fieger, 202f. 48 Die dem Log 71 zugrundeliegende Erlösungsvorstellung dürfte wohl der gnostischen Interpretation der Auferstehung entsprechen, die auch im - ebenfalls in Nag Hammadi gefundenen, freilich wesentlich jüngeren - Rheginusbrief begegnet. Dort heißt es (45, 16-40): „Denn er (Christus) legte die vergängliche Welt ab. Er verwandelte sich in einen unvergänglichen Aon und erstand auf, nachdem er das Sichtbare durch das Unsichtbare verschlungen hatte, und er gab uns den Weg unserer Unsterblichkeit. Dann aber, wie der Apostel gesagt hat: ,Wir haben mit ihm gelitten, und wir sind mit ihm auferstanden, und wir sind mit ihm zum Himmel gefahren.' Wenn wir nun in dieser Welt offenbar sind als solche, die ihn tragen, sind wir Strahlen von jenem, und wir werden umfaßt von ihm bis zu unserem Versinken, d.h. unserem Tod in diesem Leben. Wir werden von ihm zum Himmel gezogen wie die Strahlen von der Sonne, ohne durch irgend etwas zurückgehalten zu werden. Das ist die geistige Auferstehung (TANACTACIC ΝΠΝ6ΥΜΑ)" (Ubersetzung nach M.L. Peel, 40f.) Wie die Auferstehung Jesu als ein Ablegen der vergänglichen Welt, als Verwandlung (U|IB6, 16f.) verstanden wird, so bedeutet auch die geistliche Auferstehung des Gläubigen (40), daß dieser an einem von Christus ausgehenden Prozeß der Umwandlung Anteil bekommt und im Verlauf dieses Prozesses alle Bindungen an Welt und Materie hinter sich läßt, wie es im Bild der Sonnenstrahlen (36-39) zum Ausdruck kommt.

Ergebnisformulierung

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1.8. E r g e b n i s f o r m u l i e r u n g Die Sichtung der neutestamentlichen Belege des Tempelwortes Jesu hat ergeben, daß das Wort in Mk 14, 58 und 15, 29 von einer vormarkinischen, dem Jerusalemer Kultus feindlich gegenüberstehenden Redaktion in den Passionsbericht eingetragen wurde. Während es in Mk 15, 29 in Anpassung an seinen Kontext verkürzt erscheint, hat sich der Interpolator in Mk 14, 58 um die wörtliche Wiedergabe des Logions bemüht. In seiner dem Redaktor des vormarkinischen Passionsberichtes bekannten Form lautete das Tempelwort Jesu also: ( Έ γ ώ ) καταλύσω τον ναόν τούτον τον χειροποίητον και δια τριών ήμερων άλλον άχειροποίητον οικοδομήσω

Die Erwähnungen des Tempelwortes in Mt 26, 61; 27, 40 und Acta 6, 14 sind von der Markuspassion abhängig und können daher zur Erhellung der vormarkinischen Traditionsgeschichte des Tempelwortes nicht herangezogen werden. Hingegen ist der Vers Mk 13, 2* nicht in Abhängigkeit von Mk 14, 58 gebildet worden; insofern die Ähnlichkeiten von Mk 13, 2* und der Tempelworttradition nicht zufälliger Natur sein sollten, könnte das Logion eine alte, mutmaßlich jesuanische „Vorform" des Logions mit folgendem Wortlaut wiedergeben: Ού μή αφέθη ωδε λίθος επί λίθον δς ού μή καταλυθη

Ebenfalls unabhängig von Mk 14, 58 ist Joh 2, 19. Wie die Analyse der Perikope Joh 2, 13-22 ergeben hat, arbeitete der Evangelist hier ein älteres Logion in seine Schilderung der Tempelreinigung Jesu ein; dieses lautete: Καταλύσω τον ναόν τούτον και δια τριών ήμερών οικοδομήσω αύτόν

Gegenüber der vormarkinischen Fassung fällt auf, daß hier von ein und demselben Tempel die Rede ist, während in Mk 14, 58 der Gegensatz von „diesem" und „anderen" Heiligtum durch die Epitheta χειροποίητος — άχειροποίητος gerade betont wird. Dafür, daß diese Identität erst in der johanneischen Tradition hergestellt worden wäre, beispielsweise aus einem antidoketischen Interesse heraus, konnte bei der Analyse der johanneischen Tempelreinigungsperikope kein Anhalt gefunden werden; vielmehr dürfte die „lectio brevior" in Joh 2, 19 auf eine frühere Traditionsstufe des Tempelwortes hinweisen; sie wurde im Zusammenhang der johanneischen Uberlieferung bewahrt, aber auch in jenem Strom „autonomer" Tradierung frühchristlichen Spruchguts, der zum in Nag Ham-

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Quellenkritischer Teil

madi gefundenen Thomasevangelium (dort Log 71) hinführte. Hingegen war, wie die Betrachtung von 2.Kor 5, 1 ergeben hat, im Kreis der hellenistischen Gemeinden der paulinisch-vorpaulinischen Zeit eine sekundäre Variante des Logions verbreitet, die mit dem Adjektiv «χειροποίητος den Antagonismus von οικία του σκήνους und οικία έν τοις οΰρανοΐς beschrieb und sich somit eher mit der aus Mk 14, 58 bekannten Form des Logions berührt. Dies erscheint wenig verwunderlich, da sich in den paulinischen Gemeinden durchaus judentumskritische Tendenzen nachweisen lassen (vgl. z.B. l.Thess 2, 14f.), wie sie ja auch für die Tradenten von Mk 14, 581 offensichtlich sind, und da weiterhin die für die Interpolation von Mk 14, 58 verantwortliche vormarkinische Redaktion des Passionsberichtes gerade den hellenistischen Kreisen der frühen Gemeinde zuzuordnen sein dürfte, deren wesentliches theologisches Anliegen in der Uberwindung des jüdischen Tempelkultes durch Christus bestand. Für den weiteren Verlauf der Untersuchung ergibt sich somit, daß im 2. Kapitel zunächst auf die den Textbestand des Logions ausmachenden Motive, also die Dreitagesfrist, die Epitheta χειροποίητος — άχειροποίητος und die Vorstellung einer endzeitlichen Erneuerung des Tempels, eingegangen werden soll. Gerade das letzte der drei genannten Motive wird auf seinen Hintergrund in der zwischentestamentlichen Apokalyptik zu befragen sein. Sodann sollen die beiden frühesten, in der Urchristenheit als isolierte Logien tradierten Varianten des Tempelworts, Joh 2, 19* und Mk 14, 58, analysiert und erklärt werden. Hieran anknüpfend soll dann im 3. Kapitel auf die „Vorform" des Tempellogions, das Logion Mk 13, 2b, und seinen vermuteten jesuanischen Ursprung, eingegangen werden.

1 Freilich nicht für die Tradenten von 2.Kor 5, 1*!

2. Motivgeschichtlicher Teil Nachdem im ersten Teil dieser Untersuchung das Tempelwort Jesu unter quellengeschichtlichem Aspekt betrachtet wurde, soll nun im zweiten Teil eine motivgeschichtliche Analyse des Logions erfolgen. Das Wort hat den Jerusalemer Tempel bzw. genauer dessen Zerstörung und Erneuerung zum Gegenstand. Daher wird zu Beginn des Abschnitts kurz auf das Jerusalemer Heiligtum selbst einzugehen sein, speziell auf seine Bau- und Theologiegeschichte sowie seine ökonomische wie auch religiöse Bedeutung für die Zeitgenossen Jesu. Hier anknüpfend soll der Gedanke einer endzeitlichen Erneuerung des Tempels untersucht werden, sodann das Motiv der Dreitagesfrist, dessen Auftauchen im Kontext apokalyptisch bestimmten Traditionsmaterials zumindest ungewöhnlich ist.1 Hier wäre als ein erstes Ergebnis die Aussageintention der vorjohanneischen Variante des Tempelwortes, die zuvor als älteste Form dieses Logions ausgemacht wurde und deren Motivbestand nun vollständig erfaßt wäre, zu bestimmen. Das Tempelwort, wie Mk und die ihm vorausgehende Passionstradition es kennen, ist gegenüber Joh 2, 19* um das Gegensatzpaar χειροπ ο ί η τ ο ς - « χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς erweitert. Nach einer motivgeschichtlichen Untersuchung dieser Epitheta soll auch der gegenüber Joh 2, 19* nicht unwesentlich veränderte „Vollbestand" des Logions auf seine theologische Aussage und die Intention seiner Verfasser hin betrachtet werden. 2 . 1 . Das J e r u s a l e m e r H e i l i g t u m Der Jerusalemer Tempelplatz, heute im wesentlichen durch das omajjadische Qubbat as-Sahra bestimmt, stellt die wahrscheinlich älteste noch betriebene Kultstätte der Menschheit dar. Da die bis heute bestehende problematische politisch-religiöse Konstellation eine archäologische Un1 Vgl. R. Bultmann, Johannes, 88(f.)A7: „In dem Jesus-Wort überrascht nur die Angabe der ,drei Tage', die sich in parallelen jüdischen Weissagungen nicht findet, und die nicht wie die Zahl der ,drei und ein halb' ... zu den apokalypt. Terminangaben gehört."

Motivgeschichtlicher Teil

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tersuchung des Areals verhindert, ist man bei der Erforschung der Geschichte des Tempels vor allem auf die im Alten Testament enthaltenen diesbezüglichen Angaben angewiesen. Im folgenden (2.1.1.) soll daher in einem breiten Exkurs das Alte Testament sowohl auf seine (bau)geschichtlichen Angaben zum Jerusalemer Heiligtum hin untersucht werden als auch im Hinblick auf die Traditionen der theologischen Deutung des Tempels, wie sie sich in den Schriften Israels niederschlug. Sodann soll auf das Heiligtum und seinen Stellenwert im Bewußtsein der Zeitgenossen Jesu eingegangen werden (2.1.2.); neben der eminenten politischen und ökonomischen Relevanz des Tempels ist hier vor allem auf die religiöse Bedeutung des Heiligtums einzugehen, wie sie sich für Israel aus dem hier betriebenen Institut der kultischen Sühne ergab. 2.1.1. E x k u r s : A l t t e s t a m e n t l i c h e V o r a u s s e t z u n g e n

Der erste

Tempel

Nach den Angaben von l.Kön 6f. ist der erste Jerusalemer Tempel in den Jahren 961—954 v. Chr. von König Salomo nach dem Typos des syrischen Langhaustempels mit Anten errichtet worden. 2 Die vorgezogenen Seitenwände, die von zwei Säulen [l.Kön 7, 15—22] flankiert wurden, bildeten eine Vorhalle (D^TK, l.Kön 6, 3), die durch eine Flügeltür (l.Kön 6, 33f.) vom Langraum (iPD',n, l.Kön 6, 3.5.17.33) abgetrennt war; an dessen Ende befand sich wiederum das Allerheili^ste ( " P D - ! , l.Kön 6, 5.16.20—23.31), ein hölzerner Kubus von je 20 Ellen Seitenlänge (l.Kön 6, 20), in dessen Inneren der Cherubenthron (l.Kön 6, 23-28) sowie die 2 Zur „ausländischen" Bauform des Jerusalemer Staatsheiligtums vgl. V. Fritz, Tempel Salomos, 5 3 - 6 8 , sowie A . Kuschke, 1 2 4 - 1 3 2 . Literatur zum Salomonischen Tempel liegt in beachtlichem Umfang v o r ; verwiesen sei hier besonders auf die ausführliche Darstellung von T h . A . Busink, Bd. 1, ferner auf E. Vogt, 2 3 - 6 4 , C . Meyers, Temple, und die diesbezüglichen Monographien von R.J. Clifford, V. Fritz, Tempel und Zelt, und J.D. Levenson, sowie auf die im Aufsatzband v o n T.G. Madsen gesammelten Beiträge und nicht zuletzt auf die bereits 1896 erschienene Arbeit von C . Schick; zur Analyse von l . K ö n 5ff. vgl. K. Rupprecht, 1 8 - 4 0 . - Zur Frage der genauen Lokalisierung des Jerusalemer Tempels auf dem heutigen Tempelplatz und seinem Verhältnis zum „Heiligen Felsen" vgl. die Diskussion bei Th. A. Busink, Bd. 1, 1 - 2 0 , sowie E. Vogt, 2 4 - 4 1 . 6 1 - 6 4 , und E. Otto, Jerusalem, 5 1 - 5 4 ; w i e schon M. Noth, Könige, 109, geht auch E. O t t o von der Errichtung des Allerheiligsten des salomonischen Bauwerks direkt über dem älteren Felsheiligtum aus, während T h . A . Busink eher eine räumliche Trennung von Tempel und „Heiligem Felsen" annimmt. 3 ca. 10 Meter.

D a s Jerusalemer Heiligtum

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Bundeslade (l.Kön 8, 6) aufgestellt waren.4 Der architektonischen Gestaltung des Bauwerks5 liegt somit eine Konzeption zugrunde, die bei der Annäherung an das Göttliche mit einem schrittweisen Anwachsen des Heiligkeitsgrades rechnet. Auch über das Inventar des Salomonischen Tempels gibt der Baubericht l.Kön 6f. Auskunft. Es werden erwähnt: Im Debir der Cherubenthron6, weiter die ursprünglich aus Silo stammende Lade7, die hier im Kontext der salomonischen Sakralarchitektur wohl als Fußschemel der Gottheit fungierte.8 Nach einer These von H. Greßmann hatte auch die von Hiskia zerstörte Eherne Schlange9 im Debir Platz gefunden.10 Im Hekal befanden sich der vergoldete Altar aus Zedernholz11, der Schaubrottisch12 sowie die insgesamt zehn aus lauterem Gold gefertigten,

4 Grundriß und Längsschnitt des Bauwerks bei Th. A. Busink, Bd. 1, 165.167. 5 Grundsätzlich rechnet der Alte Orient mit einer Entsprechung von Tempel und himmlischer Wohnung Gottes, vgl. M. Metzger, Wohnstatt, 139-158. 6 l.Kön 6, 2 3 - 2 8 , verstanden als Ort der sakralen Gegenwart Gottes [vgl. hier nur die Wendung C P r n B H DKP ( Γ ή Κ α ΐ ί ΓΠΓΡ)], l.Sam 4, 4; 2.Sam 6, 2; 2.Kön 19, 15 par Jes 37, 16; Ψ'8'O, 2; 99, 1; „Der'Präsenz J H W H s im Himmel entspricht seine Gegenwart im irdischen Tempel. Ein prominentes Symbol dieser Entsprechung ist der gewaltige Kerubenthron, der - die irdische Präsenz des himmlischen Königs indizierend - Ausdruck der kosmologischen Symbolik des Tempels ist." B. Janowski, Keruben, 256; die Deutung von l.Kön 6, 2 3 - 2 8 als Beschreibung eines Cherubenthrones (grundlegend hier H. Schmidt, 120-144) wird auch in der jüngeren Forschung alternativen Interpretationen vorgezogen, vgl. B. Janowski, Keruben, 2 5 5 - 2 5 9 ; O . Keel/Chr. Uehlinger, 190f.; R. Albertz, Bd. 1, 198A20, dort weitere Literatur; anders T h . A . Busink, Bd. 1, 285-287, und M. Metzger, Königsthron, Bd. 1, 3 0 9 - 3 5 1 . 3 6 5 - 3 6 7 ; die von R. Albertz, Bd. 1, 198A20 als Parallelen angenommenen syrisch-palästinensischen Sphingenthrone sind dokumentiert bei M. Metzger, Bd. 1, 2 6 0 - 2 7 9 , sowie Bd. 2, 2 3 6 - 2 4 6 (Abbildungen 1181-1222). 7 ] Ί Ί Κ ; vgl. Jos 3, 1-17; Ri 4, 1-7, 1; l.Sam 4 - 6 ; 2.Sam 6, 1-19. 8 Vgl. V 99, 5; 132, 7; T h r 2, 1; l . C h r 28, 2; mit H. Schmidt, 131f.; R. Albertz, Bd. 1 , 1 9 8 ; gegen M. Metzger, Bd. 1, 3 5 8 - 3 6 5 , und T h . A . Busink, Bd. 1, 285. 9 2.Kön 18, 4; vgl. die Ätiologie derselben Num 21, 8f. 10 Vgl. H. Greßmann, Mose, 459 samt A6; H . H . Rowley, 113-141, hat weiterhin den Nachweis zu erbringen versucht, daß in der ehernen Schlange Nehushtan das zentrale Symbol des von Zadoq betriebenen jebusitischen Kultes zu sehen ist und die Schlange daher - gemeinsam mit der Lade - in das Debir einzog (138f.); zumindest die von beiden Exegeten angenommene Lokalisation des Kultbildes im Tempel ist überwiegend skeptisch aufgenommen worden, vgl. T h . A . Busink, Bd. 1, 287f., mit weiterer Diskussion. 1 1 Τ Ί Ν Π 3 Τ 0 (l.Kön 6, 20), bzw. ηΠ·ΤΠ Π 3 Τ 0 (l.Kön 7, 48). 12 d n r e r b 3 Π α π ' ? v b v Ί ϋ Ν ΙΠ^Κ?; i.Kön 7, 48; vom überwiegenden Teil der Exegeten wird l.Kön 7, 48f. allerdings als Nachtrag angesehen (vgl. die Dis-

126

Motivgeschichtlicher Teil

verzierten Leuchter. 13 D e m Bereich von Ulam sind die berits oben schon genannten Säulen Jachin und Boaz 1 4 , zuzuordnen, des weiteren wohl auch der Brandopferaltar 15 , das Eherne Meer 16 sowie die zehn dazugehörigen Kesselwagen. 17 Die ikonographische Ausgestaltung des Heiligtums entsprach dem im kanaanäischen bzw. syrophönizischen Raum zu dieser Zeit üblichen Standard. 18 Zur Vorgeschichte des salomonischen Heiligtums bietet das AT wenig Erhellendes. Das Deuteronomistische Geschichtswerk möchte das Bild einer völligen Neugründung des Tempels durch Salomo vermitteln; zuvor habe es keinen Kultbetrieb in Jerusalem gegeben19, da ja Davids Ansinnen, Jahwe ein Haus zu

kussion bei Th.A. Busink, Bd. 1, 288-298), so daß die Aufstellung des Schaubrottisches sowie der zehn Leuchter schon durch Salomo fraglich erscheint. 13 Γ Τ η 3 0 ; l.Kön 7, 49; vgl. aber das Anm. 12 Gesagte; Th.A. Busink, Bd. 1, 293-299. 14 T ü ' 3 ..·Τ 1 ?' 1 τ ... n e ? ' m Ε Γ - Π Β ϋ ; l.Kön 7, 15-22; 2.Kön 25, 17; über Bedeutung und Funktion der Säulen [vgl. K.Möhlenbrink, 113f.: modifizierte Mazzeben; W.F. Albright, 162: „riesige Leuchter"] und ihrer Namen [H. Ewald, Bd. 3/1, 44 samt A3: Namen vermutlich der jüngeren Söhne Salomos; M.J. Mulder, 25: Gebetsrufe des hier rituell agierenden (Priester-)Königs] können heute nur noch Vermutungen angestellt werden; auf die quasi staatstragende Bedeutung der Säulen, die sich aus ihrer Aufstellung an einem den Blicken des Volkes noch zugänglichen Ort ergibt, geht C . L . Meyers, Jachin and Boaz, 167-178, ein; zur weiteren Diskussion vgl. Th.A. Busink, Bd. 1, 299-321. 15 Im Tempelbaubericht l.Kön 6f. nicht genannt, aber in l.Kön 8, 64; 2.Kön 16, 14 u.ö. vorausgesetzt; K. Möhlenbrink, 36, fand den Brandopferaltar im zumindest seit David (2.Sam 24, 25) kultisch genutzten Heiligen Felsen wieder, den er östlich vom Tempel lokalisierte; M. Noth, Könige, 108f., hingegen, der die Umbauung des Heiligen Felsens durch das salomonische Tempelgebäude annahm, verortete den davidisch/salomonischen Brandopferaltar an separierter Stelle im Vorhof; von beiden abweichend und unter Berücksichtigung der jüngeren Diskussion Th.A. Busink, Bd. 1, 20.321-326. 16 p^TQ = „gegossenes Meer" l.Kön 7, 23-26, wohl ein ca. 46000 Liter fassender, auf Stierköpfen ruhender Wasserbehälter für den kultischen Gebrauch, vgl. Th.A. Busink, Bd. 1, 326-335; anders W.F. Albright, 166-168, der den mythologischen Symbolgehalt des Ehernen Meeres hervorhebt. 17 n ü ' n j Π ί ί Ο Ο ; l.Kön 7, 27-39; vermutlich dienten die jeweils ca. 920 Liter fassenden Geräte dem Transport des Wassers auf dem Tempelgelände; zu den die Kesselwagen betreffenden Fragestellungen und der weiteren Diskussion vgl. wiederum Th.A. Busink, Bd. 1, 337-352. 18 l.Kön 6, 18.29.32.35; 7, 24.29.36; vgl. O. Keel/Chr. Uehlinger, 195; genauer wiederum Th.A. Busink, Bd. 1, 257-275. 19 Nach l.Kön 3, 2b.4 mußte Salomo, um Jahwe ein Opfer darzubringen, bis nach Gibeon reisen.

D a s Jerusalemer Heiligtum

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bauen, abgelehnt worden war. 2 0 D i e Bundeslade sei daher von ihrer Ü b e r f ü h rung durch David bis zur Tempelweihe in einem Zelt untergebracht worden. 2 1 D i e s e Darstellung erscheint wenig glaubwürdig, zumal D a v i d und das mit ihm beginnende Großreich sowohl personell 2 2 als auch inhaltlich 2 3 an die religiösen Voraussetzungen Jerusalems anknüpfte; ferner spricht die in 2.Sam 12, 20 auffallende, beiläufige Erwähnung eines ΠΠΓΠ-ΓΡΙΙ1 für die Existenz eines fest installierten Jahwe-Tempels schon zur Zeit Davids. K . Rupprecht hat in seiner Untersuchung des Tempelbauberichtes l . K ö n 6f. nachzuweisen versucht, daß die dort gemachten Angaben eher auf den Ausbau eines vorhandenen Heiligtums als auf einen völligen N e u b a u schließen lassen 2 4 und daß weiterhin im ursprünglich von D t r G unabhängig überlieferten 2 5 Traditionsstück 2.Sam 24 Restbestände einer noch älteren Kultätiologie vorliegen, die den späteren Tempelplatz 2 6 schon vordavidisch als heiligen Boden qualifizierten. 2 7 Freilich ist die textkritische Inte-

20 2.Sam 7, 1-13. 21 2.Sam 6, 12-19; l.Kön 8, 1 - 7 ; nach der dtr Chronologie sollte dieser Zustand ca. 3 Jahrzehnte angedauert haben; die Historizität dieser Aussage wird in der Forschung zumeist unkritisch vorausgesetzt (vgl. V. Fritz, Tempel und Zelt, 94-99), erweisbar erscheint allerdings eher das Gegenteil, vgl. K. Rupprecht, 51-99. 22 Vgl. die Nennung Zadoqs als Priester in den Beamtenlisten 2.Sam 8, 17; 20, 25. 23 Vgl. zum „Jerusalemer Synkretismus" den jüngsten Beitrag von O. Keel, 439-502, sowie die ausführliche Untersuchung von F. Stolz. 24 Vgl. K. Rupprecht, 18-40; Rupprechts Argumentation basiert einerseits auf der Beobachtung M. Noths, daß die für einen ersten Bauabschnitt wesentlichen Angaben zur Fundamentierung usw. fehlen [Noth erklärte diesen Umstand seinerzeit mit der Existenz verschiedener Quellen, vgl. Könige, 102-106], andererseits auf dem Nachweis des redaktionellen Charakters der wirklich auf einen Neubau hinzielenden Verse l.Kön 6, l(-3).9.14.37f. [vgl. hierzu genauer K. Rupprecht, 27]; ferner läßt nach Rupprecht die Notiz V. 7, die verwendeten Steine seien zwecks Vermeidung von Lärmbelästigung schon im Steinbruch behauen worden, auf eine Fortdauer des Kultbetriebes auch während der Bauarbeiten schließen (25f.); aufgenommen wurde Rupprechts These von R. Albertz, Bd. 1, 196A15, O. Keel/Chr. Uehlinger, 189f., möchten sie zumindest nicht ausschließen. 25 Vgl. M. Noth, Studien, 62 samt A3. 26 Explizit wird die „Tenne des Arauna" erst 2.Chr 3, 1 mit dem Tempelplatz gleichgesetzt, jedoch hält die Forschung mit guten Gründen an dieser Identifizierung fest, vgl. grundlegend M. Noth, Könige, 108f., und C. Schick, 58 samt A l , sowie W. Fuß, 161; K. Rupprecht, 13-15; R. Albertz, Bd. 1, 196A12; zur Bedeutung von ] Ί > als „Kultplatz" vgl. G.W. Ahlström, 115f., der an alttestamentlichen Belegen Ri 6, 36ff.; l.Kön 22, 10; Gen 50, 10 [im Text fälschlich Gen 1, 10]; H o s 9, lf.; 2.Kön 6, 27; 2.Sam 6, 6 nennt; zur Wortbedeutung auch S. Smith, 42-45; es dürfte auf jeden Fall ein „open space" gemeint sein, vgl. J. Gray, 121. 27 K. Rupprecht, 5-17; ähnlich schon W. Fuß, 163 nach dessen Exegese in V. 20aaß.21a.22b Fragmente eines vorisraelitischen, zwischen dem Stadtkönig [164] Arawna und der Gottheit geführten Dialoges vorliegen.

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Motivgeschichtlicher Teil

grität der für K. Rupprechts diesbezügliche Argumentation wichtigen Wendung Π3 r i x Tj'PQn in V. 23 umstritten. 28

Daß man zur Zeit Davids und Salomos an für Israel bis dahin eher fremde religiöse Traditionen anknüpfte, wie sie u.a. auch im Tempelbau Salomos sichtbar werden, war die Folge der geschichtlichen Situation.29 War politische Führerschaft in Israel bisher allein charismatisch begründet worden30, so verlangten die veränderten Anforderungen eines Großreiches nach der Institution des Königtums. Dieses war jedoch in Israels altorientalischem Umfeld31 wie auch speziell in Jerusalem32 mit sakralen Implikationen behaftet. Es ist daher kaum verwunderlich, daß sich im Alten Testament Hinweise auf vom König selbst vollzogene Kulthandlungen finden lassen.33 Der Tempel in Jerusalem, baulich mit dem Königspalast verbunden34 und die Bindung Jahwes an Jerusalem architektonisch versinnbild-

28 Kritisch hier M. Naor, 155-61 [hebr. Zählung]; S. Landersdorfer, 86-93, hatte im biblischen Arawna sogar „Uruna oder Varuna" wiedergefunden, den „bekannte(n) indogermanische(n) Gott, dessen Name kürzlich ... in den hethitischen BoghazköiTexten gefunden wurde" (92); gemeint ist der Vertrag zwischen dem hethitischen Herrscher Suppiluliuma (1370-1336 v. Chr.) und dem Mittannifürsten Mattiwaza [ediert in: Keilschriftentexte aus Boghazköi, Bd. 1; Übersetzung siehe ANET 205f.], in dessen Götterliste neben Mitra auch Uruwna - als die hethitische Namensform des im Griechischen als Ουρανός bekannten indogermanischen Himmelsgottes genannt wird; ähnlich auch E. Brögelmann, 727; vgl. weiterhin F. Stolz, 9f.; freilich ist Arauna in 2.Sam 24 erst einmal ein Personenname. Zum zweifellos vorhandenen hethitischen Einfluß im vordavidischen Jerusalem vgl. l.Sam 26, 6; 2.Sam 11, 3; Ez 16, 3, sowie auch O. Keel, 492A143; S. Landersdorfer, 87-93; zur grundsätzlichen Problematik des indo-arischen Einflusses im vorderen Orient vgl. M. Mayrhofer, IndoArier, sowie Ders., Arier, und R. Hauschild. 29 Zur politischen Relevanz des „Jerusalemer Synkretismus" vgl. R. Albertz, Bd. 1, 172-212, sowie die Arbeiten von J. A. Soggin und E. Otto, El, 316-329; gerade E. Otto versteht es hierbei, die bedeutende theologische bzw. religiöse Leistung dieses Integrationsgeschehens angemessen zu würdigen. 30 So in den Jahwekriegen der Stämme, vgl. Ri 3, 10; 6, 34; 11, 29; l.Sam 10, 6f. 31 Umfangreiches Material zum nicht nur im frühen Israel begegnenden Phänomen des sakralen Königtums bietet der Kongreßband „The Sacral Kingship" von 1959. 32 Vgl. die Tradition von Melchisedeq, dem Priesterkönig von (Jeru)Salem, Gen 14, 18; Ψ 110, 4. 33 Neben 2.Sam 6, 17f. und l.Kön 8, 14.54f.62f. sei hier auch auf den Komplex der Thronbesteigungspsalmen sowie auf die oben in Anm. 14 erwähnte These M.J. Mulders verwiesen. 34 Vgl. l.Kön 7, 6-12 sowie deren Interpretation bei D. Ussishkin, 78-105.

Das Jerusalemer Heiligtum

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lichend 35 , geriet so zu einer in der Geschichte Israels bis dahin in dieser Form nicht gekannten Manifestation des Immanenzwillens Gottes, zugleich aber auch zum Inbegriff nationaler Macht und Identität. Dieser Aspekt der alttestamentlichen Tempeltradition wirkte in seiner nicht unproblematischen Doppelheit fort und in die Zeit des N T hinein.

Deuteronomistische Gegenwirkungen Als wirkungsgeschichtlich mindestens ebenso bedeutsam erwies sich jedoch die Gegenströmung, die der Jerusalemer Synkretismus heraufbeschwor: War in Syropalästina in der Zeit der assyrischen Hegemonie auch die autochtone Religion mit assyrischen Inhalten überfremdet worden 36 , wie es in der von Ahas bei seiner Unterwerfung unter Tilgat-Pileser vollzogenen Öffnung des Jerusalemer Tempels für den assyrischen Staatskultus seinen sichtbaren Ausdruck fand37, so sah das gesamtisraelitische Reformprogramm, das mit dem Namen Josias38 verbunden ist, auch eine Erneuerung der Religiosität des Volkes vor. 39 In diesem Zu-

35 Über das oben in Anm. 6 hinaus Gesagte sei hier verwiesen auf den Tempelweihspruch l.Kön 8, 12f., nach M. Noth, Könige, 181, authentisches und singuläres Zeugnis der Jerusalemer Tempeltheologie. 36 Vgl. zu diesem Thema die umfangreiche Monographie von H. Spieckermann; daß die von Josia am Jerusalemer Tempel beseitigten Geräte, die laut 2.Kön 24, 4 dem Kult kanaanäischer Gottheiten [Baal, Aschera, Himmelsheer] dienten, wahrscheinlich doch auf den Einfluß des assyrischen Kultes zurückgingen, wird in der Forschung seit H. Greßmann, Josia, 321-331, angenommen; Ahnliches dürfte auch insgesamt für das von der prophetischen Kritik bekämpfte Aufblähen „kanaanäischer" Frömmigkeit in Israel/Juda zur Zeit der Sargonidenherrschaft gelten. 37 Vgl. 2.Kön 16, 7-18; der in sich nicht einheitliche Text erwähnt verschiedene Tributleistungen und Eingriffe in die kultische Ausstattung des Jerusalemer Heiligtums „ " Π Β Κ Tj^Q Ί ] 3 0 " (V. 18) sowie vor allem die Errichtung eines Altars nach „damaszenischem'' Vorbild anstelle des alten Jahwe-Altars (2.Kön 16, 10-16), vgl. zur Exegese H. Spieckermann, 3 6 2 - 3 6 9 . 38 Eine nähere Analyse des vielschichtigen Phänomens der „deuteronomischen Reformbewegung" bietet R. Albertz, Bd. 1, 3 0 4 - 3 6 0 ; freilich bleibt die Einordnung der dtn Theologie grundsätzlich von der Frage nach einer literarischen Schichtung innerhalb des Dtn bzw. des dtn-dtr Traditionskomplexes abhängig, die R. Albertz ausblendet und auf die auch in diesem Exkurs nicht eingegangen werden kann. Vgl. zur literarischen Schichtung des Dtn G. Braulik, Deuteronomium, 9 - 1 4 , sowie die beiden Bände des Deuteronomiumkommentars von M. Rose, (zur literarischen Schichtung vgl. Bd. 1, 2 3 - 2 5 ) , und die jüngst erschienene diesbezügliche Arbeit von S. Owczarek. 39 Die Parole Dtn 6, 4: Ι Π Ν ΠΊΓΡ Ι Γ Π ' Ρ Κ ΓΠΓΡ ^ Κ Ί ϋ ΐ V Q t , gibt die doppelte Stoßrichtung der Reform gegen Synkretismus und Polyjahwismus, also das

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Motivgeschichtlicher Teil

sammenhang wurde die Bedeutung des Tempels gesteigert durch das Zentralisationsgesetz Dtn 12, das jeden Kultus außerhalb der Stadt Jerusalem praktisch verbot 40 und so der Bindung des Volkes an die (eine) Hauptstadt diente41; jedoch wurde die Jerusalemer Heiligtumstradition nur in abgewandelter Form weitergeführt: Diese deuteronomische Modifikation wird in der Rede vom dipQ/l • ü i D Ü CTB'p T p r f p « ΓΤ1ΓΡ "ΙΠΙΓ deutlich. 4 2 Jerusalem und der Tempel bleiben auf hervorgehobene Weise mit Jahwe verbunden, jedoch wohnt nicht mehr Jahwe selbst im Tempel, sondern lediglich sein N a m e (Difl); ferner ist die so bestimmte Bindung Gottes an den Zion nicht im kultisch-mythischen Sinne einfach gegeben, sondern beruht vielmehr auf dem Akt der Erwählung ("IPQ) des „Ortes", also auf Gottes geschichtlichem Handeln. „ D a m i t b e k o m m t die kultische Gottesgegenwart, die in der Zionstheologie völlig ungeschichtlich und unbedingt gegeben war, von vornherein eine geschichtliche und ethische D i m e n sion." 3 D e m entspricht auch die deuteronomische Interpretation der Lade als Behälter der Dekalogtafeln des Mose (Dtn 10, 2.5); „nur in Verbindung mit seinen Geboten ist Jahwe für Israel auch kultisch gegenwärtig." 4 4

Die grundlegende theologische Intention der dtn Reformer bestand im Hinblick auf den Jerusalemer Tempelbetrieb darin, der von der Zionstheologie vorausgesetzten Verfügbarkeit Jahwes im (Staats-)Kult einen Riegel vorzuschieben 45 ; ihre letzte Begründung fand sie aber in der von G. von Rad festgestellten „Skepsis an aller ungebrochenen Hingabe die Einheit des Volkes zersplitternde Nebeneinander verschiedener regionaler Jahwe-Kulte, an, vgl. R. Albertz, Bd. 1, 321f. 40 Vgl. Dtn 12,13-18. 41 Vgl. hier auch die in Dtn 16, 1 - 8 geschehende Umgestaltung der familiären Passafeier zu einem Wallfahrtsfest; R. Albertz bemerkt zur Zentralisation der zuvor in Familie oder Dorfgemeinschaft vollzogenen Mahlopferfeiern: „Alle diese Opfer waren nur noch am meist erheblich weiter entfernten Zentralheiligtum möglich, was ihre Darbringung auf wenige Male im Jahr beschränkte (vor allem während der Jahresfeste) und in der Folge davon ganz sicher reduzierte. Damit verlor die Familie ein gutes Stück ihrer kultischen Autonomie und die Ortsgemeinde die Möglichkeit häufiger kultischer Integration" (R. Albertz, Bd. 1, 330). 42 Dtn 12, 5.11.21; in „Kurzform" V. 14.18.26. 43 R. Albertz, Bd. 1, 353. 44 R. Albertz, ebd.; vgl. jedoch das oben in Anm. 38 zum von R. Albertz ausgeblendeten Problem einer literarischen Schichtung des Dtn Angemerkte; es gibt gute Gründe, die Tradition der Lade als Behälter der Tafeln und speziell Dtn 10, 2.5 erst in die nachexilische Zeit zu datieren, vgl. S. Owczarek, 141-173. 45 In diesem Zusammenhang ist auch auf das dtn Königsgesetz Dtn 17, 14-20 zu verweisen, das die für David und Salomo noch belegbaren (vgl. das oben hierzu Ausgeführte) kultischen Kompetenzen des Königs nicht mehr einräumt.

Das Jerusalemer Heiligtum

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an den Kult" 46 , die sich herleitet aus dem grundlegenden Anliegen des Dtn, der Verinnerlichung des Glaubens und seiner Ethisierung, in der das kultische Erleben keinen rechten Platz fand. So urteilt G. von Rad: „Zweifellos scheint ihm (dem Dtn, d. Verf.) die ethische Frage wichtiger als die kultische, ja man hat schon gesagt, das Dt. enthalte nur insoweit kultische Gesetze, als sie ethische Bedeutung umfaßten."47 Ähnlich meint R. Albertz: „Anstelle der reduzierten kultischen Verpflichtungen weisen die Reformer den einzelnen mit großem Nachdruck auf die ethische Verpflichtung hin, die aus ihrer [sie!] persönlichen Beziehung zu Jahwe entspringt."48 So stand dann auch das Insistieren auf der Zentralisation der israelitischen Kultfrömmigkeit an dem einen Ort, den Jahwe erwählt hatte, „im Dienst einer Verinnerlichung und ethischen Durchdringung der israelitischen Gottesbeziehung auf allen Ebenen und im Zusammenhang damit im Dienst einer stärkeren Verklammerung von persönlicher Frömmigkeit und offizieller Religion."49 Auch wenn die persönliche kultische Religiosität des einzelnen Gläubigen für die deuteronomischen Reformer faktisch kaum von Belang war, kam - auf der Ebene der „offiziellen Religion" - dem einen, die nationale Identität Gesamtisraels seit Salomo verbürgenden Zionsheiligtum eine eminente Bedeutung zu. Umso schwerer mußte jedoch die 587 v. Chr. geschehene Zerstörung des Tempels durch babylonische Truppen wiegen; die Vernichtung des Staatsheiligtums hätte durchaus als das offensichtliche Scheitern der dtn Reform gedeutet werden können. 50 Jedoch entfaltete der Entwurf des Dtn erst jetzt seine historisch weitestreichende Wirksamkeit, da die Verfasser des Deuteronomistischen Geschichtswerkes das Dtn zur theologischen Deutung der über Israel nun hereingebrochenen Katastrophe heranzogen: Diese war nicht auf eine Schwäche Jahwes, sondern al-

4 6 G . von Rad, 41; in seiner Untersuchung beobachtet v o n Rad das ambivalente Verhältnis des Dtn zum Jerusalemer Kultus: „Einerseits gebietet das Dt. eindringlichst die Durchführung der Zentralisation, andererseits wird, nachdem mit großer Plerophorie deren Wichtigkeit dargetan ist, verblüffend wenig Positives über den eigentlich zu vollziehenden Kult ausgesagt." (43); „Nirgends findet sich eine A n d e u tung, nach der der Kult in dem Vollzug als solchem seinen Sinn hätte." (44). 47 G. von Rad, 40. 48 R. Albertz, Bd. 1, 331. 49 R. A l b e r t z , Bd. 1, 330. 50 Jedoch bleibt fraglich, wie weit die dtn Reform vorexilisch überhaupt greifen konnte; zumindest in Ez 8 findet sich ein deutlicher Hinweis auf die Fortdauer des „Jerusalemer Synkretismus"

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lein auf die fortgesetzten kultischen Verfehlungen Israels zurückzufüh51 ren. Wie stark der dtr Entwurf das Bewußtsein des exilierten Volkes zu prägen vermochte, zeigt sich nicht zuletzt in der Tatsache, daß die Zentralisationsforderung nach der Rückkehr Israels aus dem Exil selbstverständlich befolgt wurde und offenbar in keiner Weise umstritten war. Wirkmächtig bis in die Zeit Jesu hinein erwies sich ebenfalls das dem Dtn eigene ethisierende Verständnis des Kultes, das sich auch in der der Thora verpflichteten pharisäischen Bewegung wiederfinden läßt.

Der Tempel als Symbol des in der in der Zukunft erwarteten Heils Ebenfalls in die Exilszeit fällt die Entstehung des sogenannten „Verfassungsentwurfs" der Ezechielschule (Ez 40—48). 52 Auch hier kreist die theologisch-literarische Reflexion um das Jerusalemer Heiligtum, jedoch ist ihr Anliegen nicht vorrangig die theologisch-heilsgeschichtliche Deutung der Vergangenheit53; vielmehr enthält der ezechielische Entwurf eines neuen Heiligtums ein Programm für die Neukonstitution Israels nach dem Exil. 54 In Ez 4 0 - 4 8 fungiert das Jerusalemer Heiligtum also

51 Vgl. 2.Kön 21, 10-15; 23, 26f.; jedoch wird der Bogen dieser einheitlichen dtr Geschichtsinterpretation auch bis (mindestens) Ri 2 zurückgeschlagen; zu dem hochinteressanten Phänomen des DtrG, auf das hier nicht weiter eingegangen werden kann, vgl. die jüngste Darstellung in R. Albertz, Bd. 2, 3 9 7 - 4 1 3 , mit weiterer Literatur; nach Albertz schwebte dem DtrG die Wiederherstellung des von Josia vorbildlich reformierten Staatskultes als „entscheidende Bedingung für einen Neubeginn" (413) vor. 52 Vgl. hierzu die Studie von H. Gese, Verfassungsentwurf, sowie - zur Verfasserfrage und zur Betrachtung des ezechielischen Tempelentwurfs unter vorrangig architektonischem Aspekt - T h . A . Busink, Bd. 2, 7 0 1 - 7 7 5 ; die neun Kapitel des E z sind in einem längeren literarischen Wachstumsprozeß entstanden, dessen Ausgangspunkt vermutlich eine in E z 40, lf. noch erhaltene Vision des Propheten Ezechiel darstellt. 53 Daß dies für das DtrG anzunehmen wäre, ist die seit M. Noth vertretene klassische Interpretation; vgl. hierzu jedoch die oben u.a. in Anm. 51 dargestellte Position von R. Albertz. 54 Als wesentlichster Punkt dieses Programms kann hier nur die strikte Trennung von Kult und weltlicher Macht genannt werden [so E z 46, 2.8: Der „Fürst" (nicht „König" vgl. hier die Kritik 43, 7b.) darf den inneren Vorhof nicht betreten; Ez 48, 15-21: Die Hauptstadt wird in einiger Entfernung vom Tempelareal errichtet]; dieser Trennung liegt die strikte priesterliche Distinktion von Sakralem und Profanem zugrunde (vgl. E z 42, 20; architektonisch schlägt sich dies auch in den monumentalen Toranlagen des Tempelentwurfs nieder, Ez 40, 6 - 3 7 ) .

D a s Jerusalemer H e i l i g t u m

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explizit als Kristallisationspunkt der Hoffnungen Israels auf ein in der Zukunft erwartetes Heil. Ähnlich kommt bei dem exilischen Heilspropheten Deuterojesaja zumindest der Zionstradition eine hervorragende Bedeutung zu. War dessen überschwängliche Heilsverkündigung darauf ausgerichtet, der im Exil verharrenden Gemeinde die Geschichtsmächtigkeit des Schöpfers Jahwe vor Augen zu führen, so verfolgten die frühen nachexilischen Propheten Haggai und Sacharja das konkrete Ziel, die zurückgekehrten Israeliten zur Wiedererrichtung des Jerusalemer Heiligtums zu bewegen56, wobei sie dieses Unternehmen deutlich in den Kontext nationaler und restaurativer Interessen rückten.57 Tatsächlich wurde der Zweite Jerusalemer Tempel in den Jahren 520-515 auf den Ruinen des ersten aufgebaut58; entsprechend blieb auch die salomonische Dreiteilung des Bauwerks in Debir, Hekal und Ulam erhalten.S9 Jedoch scheint die Vorderfront des Heiligtums zugunsten einer Angleichung an den babylonischen Tempelbau und unter Wegfall der Säulen Jachin und Boaz verbreitert worden zu sein.60 Nach Josephus (Bell 5, 219) blieb der Debir nach dem Verlust von Bundeslade61 und Cherubenthron völlig leer und wurde durch einen Vorhang ( κ α τ α π έ τ α ο μ α ) 6 2 vom Hekal abgetrennt. In letzterem befand sich in der Mitte ein Räucheraltar (θυμιατήριου) 6 3 sowie an den Seiten der sie-

55 Vgl. Jes 40, 9-11; 41, 27; 44, 28; 46, 13; 52, 7f„ sowie die sich durchhaltende Verarbeitung des Zions-Themas ab Jes 49, 13; da Dtjes in seiner Verkündigung auch an das priesterliche Heilsorakel anknüpft, wird auch für ihn eine Beheimatung im Kultbetrieb anzunehmen sein, vgl. hierzu J. Begrich, 81-92. 56 So Hag 1, 2-11; 2, 15-19; Sach 4, 6 - 1 0 ; 8, 9. 57 Diese verbanden sich vor allem mit dem für den Tempelbau verantwortlichen Davididen Serubbabel, vgl. Hag 2, 23; Sach 4, 7; 6, 12f.; Haggai erwartete eine völlige Umwälzung der politischen Machtverhältnisse (Hag 2, 21-23), in deren Folge die Heiden ihre Kostbarkeiten im Tempel abliefern würden; nach L. Waterman, 73-78, könnte das abrupte Abbrechen der Verkündigung beider Propheten noch vor der Fertigstellung des Zweiten Tempels sowie das plötzliche Verschwinden Serubbabels und das Fehlen eines zeitgenössischen Berichts von der Tempeleinweihung in den Quellen des Chronistischen Geschichtswerkes darauf hindeuten, daß die persischen Machthaber allen diesbezüglichen Bestrebungen ein gewaltsames Ende setzten. 58 Vgl. Esr 6, 7. 59 Mit Th. A. Busink, Bd. 2, 803.810; zum Folgenden vgl. Bd. 2, 811-827. 60 So Th. A. Busink, Bd. 2, 811-819, unter Berufung vor allem auf Esr 6, 3. 61 Vgl. Jer 3, 16. 62 Vgl. JosAnt 14, 72; l.Makk 4, 51 sowie 2.Chron 3, 14 [ Γ Ο Ί Β ] . 63 Bell 5, 216; Ant 3, 147f.; l.Makk 1, 23; wohl auch Ex 30, 1-10; gegen Th.A. Busink, Bd. 2, 1173 ist θυμιατήριον in Bell 5, 216 mit „Räucheraltar" wiederzugeben

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Motivgeschichtlicher Teil

benarmige Leuchter (λυχνία bzw. rniJD) 6 4 und der Schaubrottisch (τράπεζα)65; die Einrichtung deutet auf eine Zunahme der kultischen Bedeutung des Hekal hin. 66 An die Stelle des alten, wohl unter Ahas errichteten Brandopferaltars67 wurde nach Esr 3, 2f. noch vor Beginn der Tempelbauarbeiten ein neuer Altar von beachtlichem Ausmaß errichtet. 68 Einen Vorhof scheint der Tempel in der persischen Zeit noch nicht besessen zu haben. 69 Die Hoffnung Israels auf eine Wiedererrichtung des Jerusalemer Heiligtums war somit zwar erfüllt, an den hochgesteckten Erwartungen der exilisch-nachexilischen Prophetie gemessen, mußte der Zweite Tempel allerdings desillusionierend wirken; weder war durch seine Errichtung die von Dtjes angesagte Heilszeit angebrochen, noch war - gegen Hag 2, 9 - der neue Tempel wirklich herrlicher als der salomonische. Jedoch war die Tradition der Verknüpfung von Tempel und heilvoller Zukunft nun schon fest in den Glauben Israels eingewurzelt; ihre Hinterfragung durch das eher ernüchternde Ergebnis des Tempelbaus führte so zu einer Eschatologisierung der Tempel- bzw. Zionstradition. Diese begegnet zuerst bei Tritojesaja, der in Jes 60 eine gewaltige Epiphanie Jahwes über dem Zion beschreibt, in deren Folge die Heiden zum Zion wallfahren, um dort zu opfern und das Heiligtum zu schmücken 70 ; an-

(so auch die Ubersetzung der dreibändigen Ausgabe von O . Michel/O. Bauernfeind, 141); Busink hingegen möchte im bei Josephus genannten θυμιατήριον ein „Rauchfaß" sehen und betrachtet den l.Makk 1, 23 u.ö. genannten Altar als bereits zur Zeit des Josephus verschollen (Bd. 2, 1173). 64 Bell 5, 216f.; 2.Chr 13, 11; Ex 25, 31-40. 65 Bell 5, 216f.; l.Makk 1, 23; 4, 49.51; nach Ex 25, 2 3 - 3 0 aus Akazienholz gefertigt und mit Gold überzogen. 66 So Th.A. Busink, Bd. 2, 821. 67 Vgl. 2.Kön 16, 10-16. 68 Nach 2.Chr 4, 1 zwanzig mal zwanzig mal zehn Ellen; Th.A. Busink, Bd. 2, 830, weist darauf hin, daß diese Maße denen des Debir entsprechen. Zur genauen Lage des Altars auf dem Tempelareal vgl. Flavius Josephus, De Bello Judaico, Bd. 2/1, Übersetzung von O . Michel/O. Bauernfeind, 141A90; der Serubbabel-Altar wurde laut l.Makk 1, 57 im Dezember 168 v. Chr. von Antiochus IV. Epiphanes geschändet und später von Judas Makkabäus durch einen kultisch reinen ersetzt (l.Makk 4, 4 4 - 4 7 ) ; Josephus (Bell 5, 225) kennt einen Altar mit den Maßen fünfzig mal fünfzig mal fünfzehn Ellen. 69 So Th.A. Busink, Bd. 2, 831-838, unter Berufung auf Esr 10, 9 und Hekataios. 70 Jes 60, 7.13; präfiguriert erscheint die Idee einer Völkerwallfahrt zum Zion in der Verkündigung Deuterojesajas (Jes 45, 12-15; 49, 22f.). Zu den literarischen Problemen von Jes 60 und der vermutlichen Abhängigkeit des Grundbestandes von Jes

Das Jerusalemer Heiligtum

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ders als bei Haggai und Sacharja wird das sich am Zion ereignende Heil nicht mit der konkreten (politischen) Situation verbunden, sondern scheint einer anderen, die geschichtliche Empirie transzendierenden Wirklichkeit zuzuordnen zu sein.71 Neben der Sicht des Tempels als kultischem Heilsbesitz und nationalem Symbol 72 und der sich hieran entzündenden verinnerlicht-ethisierenden Kritik der deuteronomischen Tradition ist die religiöse Auffassung des Tempels als Fixpunkt des in der Zukunft erwarteten Heils die dritte und jüngste Variante der Rede des Alten Testaments vom Jerusalemer Heiligtum; zu ihrer vollen Ausgestaltung gelangt sie in der zwischentestamentlichen Apokalyptik, die auch den Hintergrund für das neutestamentliche Tempelwort bilden dürfte. 73 H i n g e g e n k ö n n t e man v e r m u t e n , daß die frühalttestamentliche A u f f a s s u n g des Tempels als nationalem H e i l s b e s i t z in neutestamentlicher Zeit e h e r im Sadduzäismus b e h e i m a t e t gewesen w a r , w ä h r e n d die Pharisäer in i h r e m Verhältnis z u m Tempel e h e r an die verinnerlichend(-kritische) Tradition des D t n a n k n ü p f e n konnten.

4 9 vgl. O . H . Steck, Grundtext, 2 6 1 - 2 9 6 , dem hier auch in der Frage der Datierung von Jes 60 [vgl. u.a. 2 7 9 A 7 4 ; 2 9 2 - 2 9 6 sowie für die Redaktion 2 6 9 - 2 7 2 ] gefolgt wird; zum Phänomen einer „Endtheophanie" bei Tritojesaja vgl. H.-J. Kraus, 3 1 7 - 3 3 2 ; eine Geringschätzung des Jerusalemer Heiligtums (so Kraus, 325), ist für Tritojesaja allerdings nicht belegbar. 71 Seine Fortführung findet dieser Gedanke in dem Zwei-Aonen-Schema der Apokalyptik. 72 Gerade dieses Verständnis wurde dem Volk Israel im Zuge der Makkabäerkriege verstärkt ins Bewußtsein gerufen. 73 Vgl. Abschnitt 2.2. dieser Studie.

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2 . 1 . 2 . Der Tempel zur Zeit Jesu Zur Zeit Jesu hatten die Anlagen des Tempelberges eine weitere Umgestaltung erfahren. Zwar hatte die Periode der römischen Vorherrschaft in Israel im Jahre 63 v. Chr. mit der Erstürmung des serubbabelschen Heiligtums und der zeichenhaften Entweihung des Debir durch Pompeius Magnus begonnen, die eminente Bedeutung des Tempels für Glauben und Leben des zeitgenössischen Judentums ließ sich auf diese Weise jedoch nicht beeinträchtigen.1 Herodes der Große, ab 37 v. Chr. rex socius des Imperium Romanum und somit innerhalb der römischen Herrschaftsstrukturen relativ autonom, entfaltete in seiner 41jährigen Regierungszeit eine ausgesprochen rege Bautätigkeit, die er im Jahre 19 v. Chr. 2 auch auf den Jerusalemer Tempel ausdehnte.3 Nach Josephus 4 wurde unter dem Idumäer die Fläche des ummauerten Tempelareals verdoppelt. Durch die Errichtung verschiedener Nebengebäude - genannt seien hier die Königliche Halle 5 una die Burg Antonia 6 — und durch die

1 Nicht umsonst läßt E.P. Sanders, Judaism, seine Darstellung des „Common Judaism" (45) mit einer mehr als einhundertseitigen Abhandlung über den Tempel und dem mit ihm verbundenen kultischen Vollzug beginnen (47-169); eine kompakte, allerdings z.T. einseitig an den talmudischen Quellen orientierte Beschreibung des Tempels und seines kultischen Lebens in neutestamentlicher Zeit gibt S. Safrai im siebzehnten Kapitel („The Temple" 8 6 5 - 9 0 7 ) von Safrai, S./Stern, M.; eine recht knappe, aber treffende Beschreibung des herodianischen Heiligtums samt seiner Vorgeschichte sowie der mit dieser verbundenen theologischen Entwürfe [nämlich Verbindung von Wohntempelkonzept und Altarheiligtumskonzept] bietet J. Maier, Beobachtungen, 175-182; eher archäologisch ausgerichtet ist der Beitrag von D.M. Jacobson, 3 6 - 6 6 . 2 So Josephus, Ant 15, 380; Bell 1, 401, nennt hingegen das Jahr 22 v. Chr.; die meisten Forscher geben der Datierung nach Ant 15 den Vorzug, vgl. die Diskussion bei Th.A. Busink, Bd. 2, 902A163 [dort aufgrund eines Druckfehlers „133"]. 3 Vgl. zum Folgenden auch D.M. Jacobson, 3 6 - 6 6 , sowie Th.A. Busink, Bd, 2, 1058-1251; eine Reihe weiterer Zeugen von „Herodes Bauwut" (Busink, Bd. 2, 1053) führt Josephus in Bell 1, 4 0 3 - 4 2 5 auf; vgl. hierzu wiederum Th.A. Busink, Bd. 2, 1017-1058. 4 Bell 1, 401. 5 Hierzu Th.A. Busink, Bd. 2, 1200-1232. 6 Vgl. Th.A. Busink, Bd. 2, 1233-1247; wahrscheinlich handelt es sich hier um die schon Neh 2, 8 genannte Burg, die bereits unter Johannes Hyrkanos I. (135-105 v. Chr.) eine bauliche Erweiterung erfahren hatte (vgl. Josephus, Ant 15, 403) und

Das Jerusalemer Heiligtum

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Ausstattung - auch des Innenheiligtums - mit mächtigen Torbauten gewann die Anlage ein prächtiges Erscheinungsbild, das zu beschreiben Josephus im 5. Kapitel des 5. Buches D e Bello Judaico nicht müde wird; zugleich nahm der Tempelberg jedoch auch den Charakter einer Festung an 8 , was für die Zukunft nicht ohne Folgen bleiben sollte. Auch am Tempelgebäude selbst 9 hat Herodes offenbar Baumaßnahmen vornehmen lassen. 10 Diese betrafen vor allem die Erhöhung des Gebäudes von 40 auf immerhin 100 Ellen 1 1 und die nochmalige Verbreiterung der Vorderfront auf ebenfalls 100 Ellen. 1 2 Nicht nachweisen läßt sich jedoch ein wesentlicher Eingriff in die mit einem stufenweisen Anstieg der Heiligkeit rechnende Sakralarchitektur des Tempels 1 3 oder etwa in den Bestand der Kultgeräte. 1 4 D a ß sich der Idumäer Herodes in diese, den jüdischen Kultus ja in existenzieller Weise berührenden Angelegenheiten einmischte, erscheint - zumal die unmittelbaren Machtinteressen des Königs hier nicht berührt wurden - auch wenig wahrscheinlich; die religiösen Belange des Tempelbetriebes verblieben in den Händen der Jerusalemer Priesterschaft.

Der massive Ausbau, den die Jerusalemer Tempelanlage nun erfuhr, entsprach nicht etwa nur dem königlichen Selbstbewußtsein des Herounter Herodes nochmals ausgebaut und nach dem römischen Feldherrn Antonius benannt wurde (Ant 15, 409). 7 Bell 5, 184-247; herausgegriffen sei hier 5, 222: „Die äußere Gestalt des Tempels bot alles, was sowohl die Seele als auch das Auge des Beschauers in großes Erstaunen versetzen konnte" (Ubersetzung nach O . Michel/O. Bauernfeind). 8 Vgl. Bell 5, 245. 9 Vgl. zum Folgenden die detaillierten Untersuchungen von Th.A. Busink, Bd. 2, 1105-1178. 10 Ant 15, 391, berichtet von der Erneuerung der Fundamente [θεμέλιοι], so daß mit Busink (Bd. 2, 1108) mit einem zumindest partiellen Neubau zu rechnen ist; Busink nennt als weiteres Indiz für einen Neubau die gegenüber dem serubbabelschen Bauwerk abweichenden Angaben der Innenabmessungen beispielsweise des Debir (ebd.). 11 Nach Ant 15, 385, berief sich Herodes bei dieser Maßnahme auf die angebliche Höhe des salomonischen Heiligtums. 12 Bell 5, 207. 13 Als Neuerung gegenüber dem Bau Serubbabels könnte lediglich die Bell 5, 211 genannte Tür zum Hekal angeführt werden. 14 Th.A. Busink, der auch (gegen Bell 5, 216) den l.Makk 1, 23 und Ex 30, 1-10 genannten Räucheraltar [θυμιατήριον] nicht mehr im herodianischen Tempel wiederfindet (vgl. die Anm 63 in Abschnitt 2.1.1. dieser Studie), rechnet (Bd. 2, 1164f.) mit einer Erneuerung der im Hekal befindlichen Leuchter durch Herodes, da die Erhöhung des Gebäudes auch höhere Leuchter erforderlich machte und da die unter Serubbabel gefertigten Leuchter wahrscheinlich mit den λυχνίαι δύο των κατά ιόν ναόν κειμένων παραπληοίαι identisch seien, die bis dahin von einem Priester verwahrt und nach der Zerstörung des Tempels wieder hervorgebracht worden seien.

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des15, sondern auch der tatsächlichen Bedeutung, die das Heiligtum für Jerusalem und Israel zur Zeit Jesu gewonnen hatte und über die S. Safrai16 einen ersten Überblick gibt. Hervorzuheben ist die politische Bedeutung, die dem Tempel als nationalem Integrationssymbol des weltweiten Judentums zukam: „Der Tempel, Kultstätte, Gebetshaus und Wallfahrtsort, aber auch Verwaltungsmittelpunkt, Nationalbank und Wirtschaftszentrum, bildet den religiösen und politischen Mittelpunkt des Judentums, nicht nur für Palästina, auch für die Diaspora (vgl. Philo LegGai 212). Er ist ein wichtiger Integrationsfaktor der jüdischen Gemeinschaft, und er ist das nach außen hin sichtbare Zeichen jüdischer Identität, dessen Integrität von der römischen Oberhoheit garantiert wird."17 Anzumerken ist ferner, daß in Jerusalem neben dem Tempel auch die Residenz des Königs lokalisiert war; weiterhin befand sich hier der Sitz der obersten jüdischen Behörde, des Synhedriums, sowie zeitweise auch der des römischen Statthalters (samt seiner Garnison), so daß sich die Interessenssphären der verschiedenen politisch relevanten Größen in dieser Stadt gewissermaßen überschnitten. Auf die wirtschaftlichen Folgen dieser Kumulation weist J. Jeremias18 hin. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht hatte sich der Tempel zu einem bestimmenden Faktor des jüdischen Lebens entwickelt. Seit Nehemia hatte sich die Erhebung einer Kopfsteuer etabliert, die in neutestamentlicher Zeit einen halben Scheqel betrug und dem Unterhalt des Jerusalemer Kultus diente.19 Diese Tempelsteuer wurde auch von den in der Diaspora lebenden Juden eingenommen20, die auf diese Weise ebenfalls

15 Josephus, Bell 5, 238, bezeichnet den Herodianischen Tempelumbau als „έργον ... του βασιλέως, εν ω μάλιοχα τό φύοει μεγαλώνουν έπεδείξατο." 16 S. Safrai, 1-7. 17 Th. Söding, 37f.; den „Tempel als nationales Symbol" würdigt auch J. Maier, vgl. J. Maier/J. Schreiner, 389. 18 J. Jeremias, Jerusalem, 3 1 - 3 3 . 6 3 - 6 6 . 8 4 - 8 9 . 19 Neh 10, 33f.; die Halbscheqel- bzw. Doppeldrachmensteuer wurde mit dem (nachexilischen) Ex 30, 11-16 auf einen mosaischen Ursprung zurückgeführt und ist natürlich auch Josephus (Bell 7, 218) bekannt. Im NT begegnet sie in Mt 17, 24; vgl. zur Tempelsteuer Strack/Billerbeck 1, 760-770, sowie J. Habbe, 61. 20 Die Verbindlichkeit der Halbscheqelsteuer auch für nicht in Israel lebende Juden bezeugt Josephus, Ant 14, 110; 16, 163; 18, 312; Bell 5, 187; 6, 335; sie diente als Vorbild für die nach 70 n. Chr. (freilich an das Kapitol) zu zahlende Kopfsteuer, die von Juden im gesamten Römischen Reich erhoben wurde. Philo, LegGai 315, rezitiert einen Brief des Gaius Norbanus Flaccus, nach dem der Kaiser den in der Diaspora lebenden Juden neben dem Recht auf Versammlungen auch das Recht auf Geld-

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a m Jerusalemer Tempelkult beteiligt waren. 2 1 Weiterhin ging auch ein Teil der Bodenerzeugnisse 2 2 an den Tempel, ebenso ein Teil der N u t z tierproduktion 2 3 ; ferner war das Volk gemäß N e h 10, 35 zur Lieferung v o n Brennholz für den Betrieb des Brandopferaltars verpflichtet. 2 4 Einnahmen ergaben sich für den Tempel auch n o c h durch Gelübde 2 5 und nicht zuletzt durch freiwillige Schenkungen in unterschiedspenden für den Tempel einräumt; LegGai 312 impliziert ferner den Transfer der jüdischen Erstlingsgaben nach Jerusalem. 21 Ungeklärt blieb in diesem Zusammenhang bisher die Frage, in welcher Währung diese Zahlungen an den Tempel entrichtet wurden; schließlich mußte das Heiligtum von der Verunreinigung durch Götzenbilder jeglicher Art geschützt werden. Nach A. Ben-David, 5 - 9 , war freilich der Tyrische Scheqel das einzige vom Tempel akzeptierte Zahlungsmittel; zwar waren auf dieser Münze der tyrische Stadtgott Melkart und der ptolemäische Adler dargestellt, sie sei aber wegen ihrer „einzigartigein) Wertbeständigkeit" (A. Ben-David, 8) akzeptiert, ja gefordert worden. Zweifel an Ben-Davids These entzündet sich freilich an dem relativ geringen Alter der von ihm angeführten talmudischen Belege, die zudem auch z.T. recht allgemeine Aussagen wiedergeben, vgl. TKet 13, 3: „Uberall, wo in der Thora von Geld gesprochen wird, ist es tyrische Währung." Vgl. hierzu jedoch auch P. Richardson, 514-518. 22 L. Strack/P. Billerbeck 4/2, fünfundzwanzigster Exkurs, 640-697, nennt: Die Erstlingsfrüchte nach Ex 23, 19; Num 18, 13; Dtn 26, 1-15; die Priesterhebe nach Num 18, 12; Dtn 18, 4; den „Zehnten"(nach Abzug von Erstlingsfrüchten und Priesterhebe) gemäß Num 18, 21-24; die Zehnthebe (nur für Leviten verbindlich) nach Num 18, 25-29; die Teighebe nach Num 15, 18-21; hinzu kamen der sog. „Zweite Zehnte" (Dtn 14, 22-26: Lev 27, 30f.) und die Früchte der vierjährigen Obst- und Weinpflanzungen (nach Lev 19, 23-25), die zwar im Besitz des Erzeugers verblieben, aber auf einer Wallfahrt in Jerusalem - und somit am Tempel - verbraucht werden mußten. Weiterhin hatte der Grundbesitzer noch die für sozial Schwache bestimmten Abgaben zu entrichten (Armenzehnter Dtn 14, 28f.; Feldrand-Abgabe und „Nachlese" Lev 19, 9f.; 23, 22; Dtn 24, 20f., sowie das „ Vergessene"Dtn 24, 19), die aber mit Tempel und Priesterschaft nicht organisatorisch verbunden waren. Eine ähnliche Auflistung findet sich bei J. Habbe, 60. 23 Vgl. J. Habbe, 60, sowie E. Schürer, Bd. 2, 308-310; E. Schürer nennt die Entrichtung der männlichen Erstgeburt [zur biblischen Grundlage vgl. Ex 13, lf.11-13; 22, 28f; 34, 19f.; Lev 27, 26f.; Num 18, 15-18; Dtn 15, 19-23; Neh 10, 37; vgl. auch Num 3, 44-51], die bei reinen und bei Opfertieren naturaliter geschehen konnte, bei unreinen Tieren und Menschen jedoch durch Geldzahlungen abgegolten wurde, sowie weiter die Entrichtung des priesterlichen Anteils an jedem geschlachteten Tier (Dtn 18, 3) und an der Schafschur (Dtn 18, 4). 24 Auch Neh 13, 31; Josephus berichtet in diesem Zusammenhang von einem „Fest des Holztragens" (των ξυλοφορίων έορτή), Bell 2, 425; zur Holzlieferung vgl. E. Schürer, Bd. 2, 316f. 25 Vgl. die Lev 27, 1-25 genannten Lösegeldsummen für durch ein Gelübde an Gott gebundene Menschen und Grundstücke; die Lev 27, 3f. genannten Summen des Lösegeldes (30 Scheqel für eine Frau, 50 Scheqel für einen Mann) werden von Josephus, Ant 4, 73, bestätigt.

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licher Höhe. 2 6 Die für den Tempel erbrachten Leistungen summierten sich nach J. Maier 27 auf insgesamt ein Drittel des Volkseinkommens. 28 Den verwalteten Finanzmitteln entsprechend verfügte die Tempelanlage auch über Schatzkammern. 29 A. Schwarz 30 meinte, sieben Kammern mit verschiedenen Funktionen unterscheiden zu können, aus Bell 5, 565 geht jedoch lediglich hervor, daß die Verwahrungsräume im Inneren Heiligtum lokalisiert waren. 31 Daß in diesen Schatzkammern auch nichtkultische Gelder aufbewahrt wurden, belegen Bell 6, 282 und 2.Makk 3, 7-15. V. Tcherikover schließt hieraus, der Tempel fungiere „as a sort of bank in the modern sense" 32 , jedoch weisen Ο. Michel/O. Bauernfeind 33 darauf hin, daß die in Bell 6, 282 erwähnte Anhäufung von privatem Eigentum in den γαζοφυλάκια des Tempels auf den in Jerusalem herrschenden Kriegszustand zurückzuführen sein dürfte, und 2.Makk 3, lOf. stellen klar, daß es sich bei den über den Tempelbedarf hinaus von den Priestern verwalteten Geldern zum einen um einen treu-

26 Das N T hebt das Scherflein der Witwe (Mk 12, 41-44) hervor; von einer außergewöhnlich wertvollen Sachspende berichtet Josephus in Bell 5, 205: der Abalarch Alexander, Bruder des Philo von Alexandrien und Vater des Statthalter Tiberius [zur Person des Alexander vgl. O. Michel/O. Bauernfeind, Der Jüdische Krieg, Bd. 2/1, 139A72], stiftete dem Heiligtum Gold und Silberbeschläge für neun Tore des Vorhofs; Philo, LegGai 319, erwähnt die Schenkung einer Reihe von Weihegaben an den Tempel durch Julia Augusta, die Frau des Augustus; zusammen mit einer großen Zahl (πολλά) weiterer Weihegeschenke und liturgischer Geräte wurden im Jüdischen Krieg auch die kaiserlichen Gaben von Johannes von Gischala eingeschmolzen, Bell 5, 562. 27 J. Maier/J. Schreiner, 375; von einem etwas geringeren Prozentsatz geht J. Habbe, 61, aus. 28 Freilich läßt es sich heute nicht mehr feststellen, ob wirklich alle geforderten Abgaben auch von allen Teilen der Bevölkerung tatsächlich entrichtet wurden (mit J. Habbe, 61); Jesus Sirach jedenfalls sieht es als notwendig an, seine Zuhörer zum rechten Vollzug von Opfer- und Abgabenpraxis zu ermuntern (35, 6-12). 29 γαζοφυλάκια; vgl. Bell 5, 200; 6, 282; in Bell 2, 175 bezeichnet Josephus den Tempelschatz als κορβών; unter architektonischen Gesichtspunkten setzt sich Th. A. Busink, Bd. 2, 1097-1101, mit der Frage der Schatzkammer(n) auseinander. 30 A. Schwarz, 236. 31 S. Lieberman, 172, hält es daher für wahrscheinlich, daß in Jerusalem die Tempelschätze - analog zur in heidnischen Tempelanlagen üblichen Praxis - im hinter dem Allerheiligsten gelegenen όπιοθόδομοι gelagert wurden. 32 V. Tcherikover, 155; ebenso, unter Berufung auf dieselben Belege, auch S. Lieberman, 169: „It is obvious from the Hellenistic sources that the Temple served as a depository for private citizens"; dieser amerikanischen Forschungsmeinung schließen sich auch J. Maier/J. Schreiner, 373, und Th.A. Busink, Bd. 2, 1097, an. 33 In ihrer Ausgabe von De bello Judaico, Bd. 2/2, 49A129.

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händerisch übernommenen Fond für Witwen und Waisen handele34, zum anderen um Besitztümer des Tobiaden Hyrkanos, also einer Person mit außergewöhnlichen Privilegien; daß am Jerusalemer Tempel Gelder von Privatleuten im Sinne des neuzeitlichen Bankwesens eingezahlt und verwaltet worden seien, ist von den beiden genannten Belegen her nicht zu untermauern. Jedoch weist V. Tcherikover35 weiter auf eine Äußerung des Josephus hin, nach der es unter den Juden keine öffentlichen Gelder außer denen des Tempels gäbe36; der Tempel habe somit die Funktion einer staatlichen Finanzbehörde übernommen, da eine solche in Judäa sonst nicht vorhanden war, und auf diese Weise erkläre sich auch die hohe politische Bedeutung des Hohepriesters.37 Auch wenn Tcherikover hier ebenfalls nicht ohne die - aus seinen Quellen nicht belegbare - Annahme auskommt, die Priesterschaft hätte Darlehen aus dem Tempelschatz ausgegeben38, wird ihm doch dahingehend zuzustimmen sein, daß, da τοοοΰτος ην πλούτος έν χω ... ίερω (Ant 14, 110), dem Tempel — und mit ihm seinen Repräsentanten, dem Hohepriester und der übrigen Priesterschaft - eine überragende Bedeutung im ökonomischen Leben der Stadt, und damit auch des ganzen Judentums, zukam. Getragen und begründet war das Abgabenwesen jedoch durch die religiöse Bedeutung, die dem Jerusalemer Heiligtum im Glauben des jüdischen Volkes zukam. Diese stand in der Tradition der alttestamentlichen Wertschätzung, die dem Tempel als dem zentralen Kultort Israels zukam, wie es sich aus der Zentralisationsforderung des Dtn ergab39; inhaltlich wurde das theologische Profil des Tempels zur Zeit Jesu jedoch nicht vom deuteronomisch/deuteronomistischen Verständnis des Heiligtums als Gebetsstätte40 bestimmt, sondern von der aus der Priesterschrift entwickelten Fassung, daß dem Tempel als einzigartigem Ort der Gottesgegenwart auch eine einzigartige Funktion als Sühnort für das Gottesvolk zukomme.41

34 π α ρ α κ α τ α θ ή κ α ς ε ί ν α ι τε κ α ι ο ρ φ α ν ώ ν (V. 10), also nicht unbedingt die einer „bank in the modern sense" entsprechende Klientel. 35 155. 36 ή μ ΐ ν δέ δημόοια χρήματα ο ύ κ εστίν η μόνα τά τ ο υ θεοΰ, Ant 14, 113. 37 V. Tcherikover, 155-157. 38 Ebd. 39 Dtn 12; vgl. das hierzu in Abschnitt 2.1.1. dieser Studie Ausgeführte. 40 Vgl. l.Kön 8; vgl. das hierzu in Abschnitt 2.1.1. dieser Studie Ausgeführte. 41 Zur zentralen Bedeutung des Sühnegedankens in Ρ vgl. B. Janowski, Sühne, 183-362; hingewiesen sei hier auch auf die Erlanger Habilitationsschrift von K. Koch, Sühneanschauung, sowie auf K. Kochs Aufsatz: Sühne, 217-239.

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Äußerlich schlug sich dies schon in der Erweiterung des täglichen Tamidkultes 42 nieder: Während DtrG noch ein morgendliches Brandopfer und ein Speisopfer am Abend kennt 43 , wurden in neutestamentlicher Zeit auf dem erheblich vergrößerten Brandopferaltar 44 insgesamt zwei Brandopfer dargebracht 45 , die jeweils zusammen mit bestimmten Speis- und Trankopfern vollzogen wurden 46 , wie es die priesterlichen Opfervorschriften verlangten. 47 Mit diesen Opfern verbunden war auch die Darbringung des täglichen hohepriesterlichen Speisopfers 48 sowie - im Hekal - die Darbrineung von Räucherwerk auf dem Räucheraltar und die Bereitung des Leuchters. Nach Lk 1, 10.21f. versammelten sich während dieser Darbringung die Laien zum Gebet in den Vorhöfen; Sir 50, 17-21 beschreibt die Gebete, Niederwerfungen und Segnungen des Volkes während der Opferzeremonie; mTam VII, 3 schließlich berichtet vom Sich-Niederwerfen des Volkes während des das Tamid-Opfer begleitenden Tempelgesangs. Wie aus diesen Belegen zu schließen ist, war aas tägliche Tamid-Opfer zu einem öffentlichen Gottesdienst ausgestaltet worden, um auf diese Weise den Israeliten Anteil am Kultgeschehen zu geben. Miteinbezogen in das kultische Leben des Heiligtums wurde das Volk auch durch die nachexilisch etablierte Institution des Sühnopfers (ΠΧΕΟΠ).50 War das Sühnopfer bei Ezechiel als ein jährliches Opfer zur Entsühnung des Heiligtums verstanden worden 51 , so wurde es im Verlauf der Weiterentwicklung der priesterschriftlichen Tradition als Sühnmittel zur Tilgung unbeabsichtigt begangener Sünden zuerst des Hohepriesters 52 und der Gesamtgemeinde 53 , dann aber des einzelnen Gläubigen praktiziert. 54 In dieser allmählichen, fortschreitenden Aplikation des Sühnopfers an den einzelnen Frommen „wird man ... wohl eine estimmte Entwicklung der kultischen Praxis am Jerusalemer Tempel zu sehen haben. Allerdings ist es schwierig zu ermitteln, wann die Entstehung der chattat

E

42 In der Mischna wird das „beständige Opfer" im Traktat Tamid beschrieben; zum Folgenden vgl. die detaillierte Darstellung von E. Schürer, Bd. 2, 345-357; P. Billerbeck, 1-17. 43 2.Kön 16, 15; auch l.Kön 18, 29. 44 Nach Josephus, Bell 5, 225, 50 mal 50 mal 15 Ellen; sein Feuer wurde - gemäß Lev 6, 12 - auch nachts nicht gelöscht, vgl. Bell 2, 425. 45 So Ex 29, 38-42; Num 28, 3-8. 46 Ex 29, 40-42; Num 28, 5-8. 47 Vgl. Num 15, 1-14. 48 Nach Lev 14-16. 49 Ex 30, 7f. 50 Hierzu grundlegend R. Rendtorff, 199-234.239-241; grob zusammengefaßt kommt Rendtorff bei seiner Analyse des Sühnopfers im AT zu dem Ergebnis, daß ein ursprünglich als Heiligtumsweihe verstandener Blutritus mit der Zeit als Entsühnungsopfer zugunsten eines Menschen interpretiert wurde (233f.). 51 Ez 45, 18f.; V. 20 geht bereits von einer halbjährlichen Feier aus. 52 Lev 4, 1-12. 53 Lev 4, 13-21. 54 Lev 4, 27-35.

D a s Jerusalemer H e i l i g t u m

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als S ü h n e o p f e r für Menschen anzusetzen ist." 5 5 D a das S ü h n o p f e r nicht nur zu Anlässen, die die Reinheit des Tempels selbst und seines Personals betrafen 5 6 , vollzogen w u r d e , sondern darüber hinaus auch im Z u s a m m e n h a n g der übrigen großen Feste seinen Platz f a n d 5 7 , schien praktisch der g e s a m t e Jahreszyklus des J e r u s a l e m e r Kultus unter den A s p e k t der T i l g u n g kultischer Unreinheit gestellt. Weiterhin w u r d e das S ü h n o p f e r am Tempel aber auch Bestandteil einiger v o m G e s e t z vorgeschriebener Reinigungsriten 5 , s o daß auch die alltäglichen L e b e n s vollzüge des f r o m m e n Israeliten auf das Jerusalemer H e i l i g t u m und die dort vollz o g e n e stellvertretende E n t s ü h n u n g ausgerichtet wurde. D i e überragende H e i l s w i r k s a m k e i t des Kultes bestaunt auch noch die Pesiqta R a b b a t i 5 9 , w e n n sie berichtet, daß jeder, der einen vollen Tag im Tempel verbrachte, aufgrund des fortwährenden O p f e r k u l t e s von allen S ü n d e n gereinigt w u r d e . 6 0 Ferner sei hier auf die von J . N e u s n e r 6 1 entwickelte T h e s e hingewiesen, daß die F r ö m m i g k e i t der pharisäischen K r e i s e d e m Kultbetrieb keineswegs skeptisch oder relativierend gegenüberstand, sondern vielmehr den am Tempel beheimateten G e d a n k e n der kultischen Reinwaschung konsequent rezipierte u n d in dessen F o r t f ü h r u n g zu der U b e r z e u g u n g gelangte, daß „die H e i l i g k e i t des T e m pels über seine Mauern hinaus ausgedehnt werden müsse u n d daß diese H e i l i g keit dann ihren locus in A n a l o g i e z u m K u l t am Tisch u n d im Bett haben sollte." 6 2

Seinen sichtbaren Ausdruck fand das Verständnis des Tempels als nationalem Sühnort in der Feier des VersöhnungstagesDurch den Vollzug verschiedener, z.T. älterer Kulthandlungen 6 4 wurde das Heilig-

55 R. Rendtorff, 239 [Hervorhebung im Text], 56 So dem Versöhnungstag (Lev 16, 3.9), der Priesterweihe (Ex 29, 14; Lev 8, 2.14) und der Levitenweihe (Num 8, 7f.l2). 57 So beim Neumondfest (Num 28, 15), beim Neujahrsfest (Num 29, 5), beim Laubhüttenfest (Num 29, 16.19.22.25.28.31.34.38) und beim Wochenfest (Lev 23,19). 58 Die Notwendigkeit eines Sühnopfers bestand nach priesterlicher Auffassung bei dem Reinigungsritual nach einer Schwangerschaft (Lev 12, 6.8), nach Aussatz (Lev 14, 13.22.31), nach Ausfluß (Lev 15, 15.30) und nach Sterbefällen in der Familie (Num 19, 17) sowie bei einem Nasiräer-Gelübde (Num 6, 11.14). 59 PesR 16, 7; ähnlich auch PesK 6, 2f. 60 Nach der Tempelzerstörung sei ferner das - ebenfalls fortwährende - Studium des Gesetzes an die Stelle des Tempelkultes getreten; diese Analogie von Thorastudium und Tempelbetrieb kommt nach PesR 16, 7 auch darin zum Ausdruck, daß die Thoralektüre der Kinder mit der Kultgesetzgebung des Buches Levitikus und nicht etwa mit Genesis einzusetzen habe. 61 So u.a. in: Judentum, .74-77.84f. 62 J. Neusner, Judentum, 84. 63 Nach Lev 16; vgl. hierzu die Untersuchungen von B. Janowski, Sühne, 265-276.347-350; W. Kraus, 45-91. 64 Zu nennen wären hier neben Darbringung von Räucherwerk (Lev 16, 12f.) und verschiedener Sünd- und Brandopfer (Lev 16, 3.5.9) vor allem die Übertragung

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tum von der Verunreinigung durch die von Priestern und Laien begangenen Sünden gereinigt65, zugleich wurde dem Hohepriester [als dem Repräsentanten der gesamten Priesterschaft] und dem ganzen Volk umfassende Sühne für die Sünden des vergangenen Jahres bereitet. 66 Durch den Vollzug der nach der Schrift korrekten heiligen Handlung am von Gott gesetzten Ort wurde das Gottesverhältnis Israels, welches sich hier, dem priesterlichen Denken entsprechend, mit Hilfe der kultisch-objektivierenden Kategorien von Rein und Unrein bestimmte, auf kultische Weise erneuert und neukonstituiert. Für das sich von seinem Glauben her verstehende Israel kam dem Tempel als von Gott selbst befohlenem Ort kultischer Versöhnung somit eine zentrale und unentbehrliche heilsmittlerische Funktion zu. Als direkte Folge dieses Sachverhaltes ist auch das hohe Ansehen zu betrachten, das die Priesterschaft in nachexilischer Zeit in weiten Teilen des jüdischen Volkes genoß. Entsprechend fanden sich in Einsetzung und Ornat des Hohepriesters Zitate der israelitischen bzw. vorderorientalischen Königssymbolik 6 7 , und ein Außenstehender wie Hekataios von Abdera 6 8 konnte „Judäa" als Theokratie unter der Leitung des von Gott gesandten und nach Gottes Weisheit erwählten Hohepriesters 6 9 beschreiben. Die allgemeine Wertschätzung des Tempels und der mit ihm verbundenen kultischen Sühnevorstellung zeigt sich auch dort, wo um die kultische Reinheit des Tempels gestritten wurde: So läßt sich im „ E i f e r " der Zeloten, wie aus den Schilderungen des Josephus indirekt zu entnehmen ist 7 0 , das Bestreben erkennen, das Jerusalemer Heiligtum von den zahlreichen Befleckungen, die es in den Au-

der Sünden der Israeliten auf den anschließend fortgetriebenen Asaselsbock (Lev 16, 7f.l0.20-22.26), die Besprengung der Γ Γ Ϊ 3 3 im Debir mit Opferblut (Lev 16, 14-17) und die anschließende Altarweihe (Lev 16, 18f.) 65 Diese Intention der Handlungen geben Lev 16, 16.18f.33a an. 66 So hingegen Lev 16, 17.20-22.24.33b. 67 Vgl. R. Albertz, Bd. 2, 490 samt A45; R. Albertz nennt die Salbung (Lev 4, 3.5.16; 6, 15; 8, 12; 21, 12) analog zur vorexilischen Königssalbung, den Turban (Ex 28, 4) entsprechend dem des Fürsten (Ez 21, 30), das edelsteinbesetzte Pektorale (Ex 28, 15-30) analog dem in einem Königsgrab in Byblos gefundenen und schließlich den Ex 28, 39 genannten Gürtel entsprechend dem des königlichen Beamten (Jes 22, 21); Josephus schildert die Festtagskleidung des Hohepriesters ausführlich in Bell 5, 231-235, sowie speziell das Schulterkleid samt Pektoral in Ant 3, 162-171 und den Gürtel Ant 3, 154-156. 68 Seine Beschreibung Judäas ist im vierzigsten Buch der Weltgeschichte des Diodor von Sizilien, Kap 3, 2-8, (Edition von F.R. Walton) erhalten. 69 X L . 3, 5. 70 Zur zelotischen Bewegung vgl. die Arbeit von M. Hengel, Zeloten; zum Motiv des Eifers dort 151-234, zum Heiligtum 211-229. Instruktiv zum Zelotentum auch die Untersuchung von O. Betz, Stadt, 96-109.

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gen des radikalen F r o m m e n in neutestamentlicher Zeit hatte erleiden müssen 7 1 , zu reinigen; in diesem Sinne ist das Niederbrennen der Burg Antonia 7 2 , die H i n richtung des amtierenden Hohepriesters 7 3 samt der mit den Römern kollaborierenden Oberschicht 7 4 sowie schließlich die Bestimmung des neuen Hohepriesters durch ein Gottesurteil 7 5 als der Versuch zu werten, mit radikalen Mitteln die Reinheit des Jerusalemer Kultes wiederherzustellen. Nicht zufällig nahm der militärische Aufstand der Zeloten damit seinen Anfang, daß Teile der Priesterschaft das Kaiseropfer verweigerten 7 6 , und nicht umsonst avancierte das Heiligtum im Verlauf der Kämpfe zum Hauptstützpunkt der Widerständler. 7 7 Ferner gewährleisteten die Zeloten - trotz der angespannten und teilweise undurchsichtigen militärischen Lage - die Fortdauer sowohl des offiziellen wie auch des privaten Opferdienstes. 7 8 Nicht zuletzt zeigte sich die religiöse Bindung der Aufständischen an das Heiligtum auch in ihrer fanatischen Verteidigung des Tempels gegen die römischen Truppen. Offenbar handelten die Zeloten aus der Gewißheit heraus, daß Gott selbst durch sein Eingreifen sein Heiligtum bewahren würde 7 9 , wie es bis zuletzt von prophetisch begabten Aufständischen vorausgesagt wurde. 8 0 Nach D i o Cas-

71 M. Hengel, Zeloten, 211-219, nennt u.a. das an einem Tempeltor angebrachte römische Adlerbild (Bell 1, 650), die von Pilatus nach Jerusalem (nach MegTaan 9 sogar in den Tempelvorhof!) mitgebrachten römischen Feldzeichen (Bell 2, 169-174) und vor allem die mit dem Tempel baulich verbundene, von den Römern besetzte Burg Antonia als Quell permanenter kultischer Unreinheit (vgl. Joh 18, 28 samt Strack/Billerbeck 2, 838f.); auch durch den in den Augen radikaler Frommer verweltlichten Führungsstil einiger Hohepriester konnte das Heiligtum verunreinigt werden, vgl. die scharfe Kritik an den „Söhnen Elis" (Pes 57a); da die Hohepriester als Sadduzäer die Vorschriften der „mündlichen Thora" nicht als verbindlich ansahen, waren Kontroversen, die die kultische Reinheit betrafen, nicht unüblich (Auflistung der diesbezüglichen Zeugnisse in Strack/Billerbeck 4, 3 4 7 - 3 4 9 ) . 72 Bell 2, 430. 73 Bell 2, 428f.441. 74 Bell 4, 138-146. 75 Bell 4, 153; M. Hengel bemerkt zu der von Josephus hier monierten Durchbrechung der an den Abstammungsverhältnissen orientierten Amtssukzession, daß die bis zum Aufstand amtierenden und nun von den Zeloten ihrerseits „entmächtigten Familien ihre Vorrangstellung erst durch Herodes I. und die Prokuratoren erhalten (hatten, d. Verf.), während die Zeloten - wie Josephus indirekt selbst zugibt versuchten, die seit der Seleukidenzeit unterbrochene, legitime, zadokitische Linie wieder zur Geltung zu bringen" Zeloten, 225. 76 Bell 2, 409. 77 Bell 4,151. 78 So Bell 5, 14-18; nach Bell 4, 94 wurden während der römischen Belagerung die Tamid-Opfer erst eingestellt, als keine unverletzten [also kultisch reinen!] Priester mehr zur Verfügung standen. 79 So Bell 5, 459; 6, 98. 80 Bell 6, 285f.312f.; zum Phänomen der zelotischen Prophetie vgl. M. Hengel, Zeloten, 235-251.

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sius 81 hielten die zelotischen Kämpfer selbst bei der aussichtslosen Verteidigung der Tempelanlage noch die kultischen Reinheitsvorschriften ein: Laien kämpften in den Vorhöfen, die Leviten im Innenhof 8 2 , die Priester im Tempelgebäude. Der den zelotischen Abwehrkampf bestimmende schrittweise Rückzug ins Tempelgebäude erinnert an die in mKelim I, 6 - 9 begegnende Vorstellung konzentrisch um das Jerusalemer Heiligtum geordneter Kreise mit nach außen hin abnehmendem Heiligkeitsgrad. In der Theologie der jüdischen Eiferer verbanden sich priesterliche und apokalyptische Motive miteinander; für den heiligsten, der Gottheit nächsten Bereich wurde auch finales, rettendes Eingreifen Gottes erwartet. 8 3

Auch für die separatistische Bewegung von Qumran bildete „eine grundsätzliche Bejahung des Kultes bei gleichzeitiger Verneinung der Legitimität des konkreten Jerusalemer Tempelbetriebes den Ausgangspunkt." 84 Schon die in 11QT vorliegende ausführliche Beschreibung des idealen Tempelheiligtums macht deutlich, daß die Essener zwar der Praxis des Jerusalemer Kultus Kritisch gegenüberstanden, daß dies aber nicht aus einer allgemeinen Kultverdrossenheit bzw. aufgrund eines alternativen Frömmigkeitsempfindens geschah; vielmehr gründete ihre Kritik in einer strengeren Auffassung der kultischen Reinheitsverordnungen Israels, aus der heraus das Jerusalemer Heiligtum als verunreinigt angesehen werden mußte. 8 5 Der für die Geschichte und das Denken der essenischen Bewegung zentrale „Lehrer der Gerechtigkeit" war vermutlich selbst ein ins Exil getriebener Hohepriester 8 6 , und auch nach dessen Tod

81 H i s t o r i a R o m a n a , 6 5 , 6. 8 2 Vermutlich sind mit οί δέ β ο υ λ ε υ τ ά ! έν τοΤς άνοφαομοΐς ( 6 5 , 6 , 2) Leviten gemeint. 8 3 E i n e auffällige Parallele bietet A p k 11, lf., da auch hier v o n der Verwüstung der weniger heiligen Bereiche des Tempels durch die H e i d e n b e r i c h t e t w i r d ; schon J. Wellhausen, Offenbarung, 15, v e r m u t e t e in A p k 11, lf. ein F r a g m e n t zelotischer P r o p h e t i e ; daß der Tempel selbst in den E n d z e i t w i r r e n v o r dem U n t e r g a n g b e w a h r t würde,

ist

ein

in

der jüdischen

Apokalyptik

häufiger

begegnendes

Motiv,

so

A e t h H e n 9 0 , 28f. 3 4 - 3 6 u . ö . ; hierauf wird im folgenden A b s c h n i t t 2 . 2 . einzugehen sein; z u r D e u t u n g v o n Apk 11, lf. im Z u s a m m e n h a n g der literarischen Endfassung der J o h a n n e s a p o k a l y p s e vgl. M. B a c h m a n n , H i m m l i s c h , 4 7 4 - 4 8 0 . 8 4 J. Roloff, K i r c h e , 113. 85 So u.a. l Q p H a b 12, 7 - 9 . 8 6 N e b e n weiteren Belegen für das H o h e p r i e s t e r a m t des L e h r e r s der G e r e c h t i g keit ist hier v o r allem die aktualisierende Auslegung von H a b lf. in l Q p H a b zu n e n n e n ; H . Stegemann, Essener, sieht in d e m Titel ρ " 1 2 ί Π Π~ΠΟ „den wichtigsten B e weis dafür, daß der L e h r e r der Gerechtigkeit ein in Jerusalem amtierender H o h e p r i e ster gewesen ist" (Essener, 2 0 5 ) , da dieser Titel nur e i n e m H o h e p r i e s t e r (als traditionell h ö c h s t e r L e h r a u t o r i t ä t ) z u k o m m e ; H . Stegemann, der in seiner jüngst erschienenen Veröffentlichung G e s c h i c h t e u n d L e b e n der E s s e n e r - B e w e g u n g auf den Seiten 1 9 8 - 2 9 1 beschreibt, sieht im L e h r e r der Gerechtigkeit den bis 152 v . C h r . a m t i e r e n -

D a s Jerusalemer Heiligtum

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kam den Priestern ein fester Platz in der Leitung der Gemeinschaft zu. 8 7 Auch nach ihrer Trennung von Jerusalem wurde daher von Seiten der Essener die grundsätzliche Gültigkeit der traditionellen israelitischen Kultvorschriften nicht in Zweifel gezogen 8 , jedoch gestaltete sich die Teilnahme am in den Augen der Essener inkorrekten Jerusalemer Kultus zunehmend schwieriger 89 , so daß die Essener ihren korrekten Kultbetrieb schließlich spiritualisierten 90 und ihre eigene Gemeinschaft als Tempel deuteten. 91

Auch in Qumran, wo man den Kultbetrieb des Jerusalemer Tempels aus religiöser Uberzeugung heraus ablehnte, wurde also die grundsätzliche Heilsnotwendigkeit des von Gott durch sein Gesetz dem Volk Israel befohlenen Heiligtums keineswegs bestritten. Neben dem hier begeg-

den, dann aber durch die Okkupation des Jonathan Makkabäus vertriebenen legitimen Hohepriester, dessen Name nicht überliefert wurde (Essener, 204); zum Leben speziell der Qumran-Gemeinschaft vgl. die Monographie von L.H. Shiffman. 87 1QS 8, 1-4. 88 So trifft C D 16, 13ff. Bestimmungen über freiwillige Kultabgaben; in C D 12, lf. findet sich ein Verbot von Geschlechtsverkehr innerhalb der Mauern Jerusalems, da der Stadt - wiederum analog zur in mKelim I, 8 begegnenden Vorstellung - aufgrund des in ihr verorteten Heiligtums ein höherer Heiligkeitsgrad als ihrem Umland zukomme. 89 So geht C D 11, 17-21 von der Darbringung essenischer Opfertiere auf dem Jerusalemer Brandopferaltar aus. Da jedoch am Tempel unter den Hohepriestern Menelaos (167 v. Chr.) und Jonathan Makkabäus (152 v. Chr.) der Mondkalender eingeführt worden war, während die Essener weiter dem Sonnenkalender und dazu noch den Vorschriften des Jubiläenbuches (CD 16, 3f.) folgten, konnte nach ihrem Verständnis der Jerusalemer Kultus den Vorschriften der Thora nicht entsprechen (vgl. hierzu weiter H. Stegemann, Essener, 242-245). Josephus (Ant 18, 19) erwähnt in diesem Zusammenhang, daß die Essener zwar αναθήματα zum Tempel sandten, ihre Opfer jedoch διαφορότητι άγνειών verrichteten und daher vom Tempelkult ausgeschlossen worden seien. 90 So beschreibt Philo die Essener als Gott verehrende Menschen „ού ζωα καταθύοντες, ά λ λ ' ιεροπρεπείς τάς έαυτών διανοίας καταοκευάζειν άξιοΰντες" (Quod omnis probus liber sit, 75); freilich ist dem Alexandriner weniger an dem religionspsychologischen Phänomen der Spiritualisierung gelegen als an dem in den folgenden Versen (76-87) geschehenden „Nachweis des vollkommenen und glücklichen (εΰδαίμονος) Lebens" (91) dieser in seinen Augen elitären jüdischen Gruppe; zur Spiritualisierung vgl. auch die Arbeit von G. Klinzing. 91 So u.a. 1 Q H 6, 25-30; 1QS 8, 5; 11, 7 - 9 ; vgl. hierzu auch Abschnitt 2.2.3. dieser Studie; zum Tempelverständnis der Qumrangemeinde vgl. auch D. Dimant, 184-189; analog zum zelotischen Vertrauen auf die Errettung des (Jerusalemer) Heiligtums im als Endzeitkampf gedeuteten Jüdischen Krieg nahmen auch die Essener von dem (aus ihnen selbst gebildeten) endzeitlichen Tempel an, er werde sich in den Anfeindungen der letzten Tage als unüberwindlich erweisen (4Q 174 MidrEschat A 3, 2-5).

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Motivgeschichtlicher Teil

nenden, sich vornehmlich in priesterlichen Kategorien formulierenden Verständnis des Tempels und seines die Gottesbeziehung ermöglichenden Kultes finden sich im Judentum der neutestamentlichen Zeit auch weitere, alternative Deutungen, die die einzigartige Relevanz des Jerusalemer Heiligtums für das Heil Israels auszusagen versuchen; so konnte der dem hellenistischen Geist näherstehende Josephus den Tempel als Abbild des Kosmos deuten. 92 Auch dies mag als ein weiteres Beispiel für die lebendige und vielgestaltige Beziehung zum Jerusalemer Heiligtum dienen, die das Judentum zur Zeit Jesu auszeichnete; sein Denken und seine Frömmigkeit verrät eine tiefe Prägung durch das dem Gottesgebot entsprechende Tempelheiligtum, wobei der hier praktizierten kultischen Heilsvermittlung eine zentrale Stellung im Bewußtsein des jüdischen Volkes zukam. Der Einschätzung W. Boussets93, nach der Tempelkult und Tempelfrömmigkeit auf das religiöse Leben des Judentums in neutestamentlicher Zeit nur noch äußerlich Einfluß nahmen, kann somit nicht zugestimmt werden. Waren das Jerusalemer Heiligtum und sein Kultus aber nicht Rudimente einer bereits überlebten religiösen Befind-

92 Vgl. Ant 3, 123.180; Bell 5, 212f.217f.; vorausgesetzt ist diese Deutung des Heiligtums auch im Hebräerbrief (9, 1); zur schon alttestamentlich wie auch altorientalisch [Bauurkunde des Königs Nabu-apla-iddin] begegnenden Vorstellung einer Entsprechung von himmlischem und irdischem Heiligtum vgl. M. Metzger, Wohnstatt, 139-158, bes. 141-149; sie ist schon im Codex Hammurapi [ C H Prolog Col II, 3Of.] belegbar. 93 W. Bousset, Religion, 97-118; nach W. Bousset war im späthellenistischen Judentum eine „Verdrängung des Kultes durch das Gesetz" (97, dort gesperrt) eingetreten; zwar sei der Tempel, „so lange er stand, äußerlich betrachtet, der Mittelpunkt der Frömmigkeit" (109) gewesen, jedoch habe im Zusammenhang der Makkabäerkriege „der führende Priesteradel ein für allemal das Vertrauen des jüdischen Volkes verloren" (114), und es kam „jener religiöse Individualismus" (115, dort teilweise gesperrt) auf, der mit einem „Mißtrauen gegen den Tempelkult" (115, dort gesperrt) verbunden war und zur Entstehung eines neuen Gottesdienstes „ohne Opfer und Priestertum und von reinerer geistigerer Haltung" (118) führte, nämlich dem Synagogengottesdienst samt Verschärfung der persönlichen Gesetzesobservanz. Die drei von Bousset, Religion, 113, zur Begründung angeführten „in die Augen fallende(n) Tatsachen" (ebd.) [Existenz der Essener und der Jesus-Verkündigung sowie die anscheinend nur geringe Erschütterung des Judentums durch die Tempelzerstörung] sind von M. Hengel, Zeloten, 230A2, kritisch hinterfragt worden; zum Verhältnis der Essener zum Tempelkult vgl. das oben Ausgeführte, zur Verkündigung des irdischen Jesus und ihrem Bezug zum Tempel vgl. Kapitel 3 dieser Studie; in seiner wirkungsgeschichtlichen Bedeutsamkeit nicht zu unterschätzen ist der Umstand, daß R. Bultmann die von W. Bousset gewonnene Sicht eines in Kultfragen nur äußerlich beteiligten Judentums mehr oder weniger unhinterfragt voraussetzte, so u.a. in: Theologie, 16f.

D a s Jerusalemer Heiligtum

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lichkeit des Volkes Israel, sondern die lebendige Mitte des zum jüdischen Tempelstaat neukonstituierten Gottesvolkes, dann mußte auch das junge Christentum zum Tempel und dem durch ihn vermittelten Gottesverhältnis Stellung nehmen.

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Motivgeschichtlicher Teil

2 . 2 . Die Erneuerung des Heiligtums Die eminente Bedeutung, die dem Jerusalemer Tempel in frühchristlicher Zeit zukam, ist im vorangehenden Abschnitt deutlich geworden. Das Tempelwort redet nun von Zerstörung und Erneuerung des Heiligtums. Daß, nachdem der Tempel im Jahre 70 n. Chr. in Flammen aufgegangen war, im jüdischen Volk die Hoffnung auf eine Wiedererrichtung des Tempels aufkeimte, belegt neben den Bitten 14 und 16 des Sch e mon-'Ezre 1 und anderen jüdischen Quellen 2 auch Mt 26, 61.3 Da das Tempelwort jedoch, wie die Belege in 2.Kor 5, 1 und im vormarkinischen Passionsbericht zeigen, bereits einige Zeit vor 70 n. Chr. formuliert wurde, stellt sich hier die Frage, ob sich der Gedanke der Installation eines neuen, besseren Heiligtums, womöglich durch ein Gotteshandeln und mit vorausgehender Beseitigung des alten Tempels, schon für jene Zeit belegen läßt, in der der Jerusalemer Tempel noch in Betrieb war und seine kultische Funktion erfüllte, und ob sich weiter von hier aus Schlüsse auf die Intention und den theologischen Gehalt des Tempelwortes ziehen lassen. Unter diesem Aspekt wird im folgenden die zeitgenössische jüdische Literatur zu betrachten sein. Die Darstellung des umfangreichen Materials soll in drei inhaltlich aufeinander aufbauenden Blöcken (Insuffizienz des „alten" Heiligtums - himmlisches Heiligtum - Substitution des alten Heiligtums durch das neue/himmlische) erfolgen. 2.2.1. Die kultische Insuffizienz des Jerusalemer Heiligtums Daß der Jerusalemer Tempel unter den Zeitgenossen Jesu als verunreinigt angesehen werden konnte, ist schon im vorangehenden Abschnitt 1 So besonders die babylonische Rezension, vgl. Strack/Billerbeck 4/1, 213. 2 Ein weiterer rabbinischer Beleg für die Erwartung eines neuen Heiligtums findet sich b . R H 30a, während b.Taan 5a die Existenz eines der irdischen Stadt entsprechenden „oberen" Jerusalems in den Himmeln postuliert; auch in der nach 70 n. Chr. verfaßten apokalyptischen Literatur (die für unsere Fragestellung nicht von unmittelbarem Interesse sein kann) läßt sich die Erwartung einer Erneuerung Jerusalems und des Tempels belegen, so SyrBar 6, 8f.; 32, 2 - 4 ; 4.Esr 7, 2 6 ; 8, 52; 10, 2 5 - 2 7 . 4 0 - 5 5 ; 13, 3 5 - 3 7 ; TDan 5, 12f.; auch Sib 3, 2 8 8 - 2 9 0 . 6 5 7 . 7 0 2 . 7 1 6 - 7 1 8 ; 5, 4 1 5 - 4 3 3 sind hier anzuführen. 3 Vgl. Abschnitt 1.2. dieser Studie.

Die Erneuerung des Heiligtums

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deutlich geworden. 4 Da sich die Gemeinde von Qumran aufgrund der liberalen Gesinnung der sadduzäischen Tempelpriesterschaft vom in ihren Augen verweltlichten Heiligtum distanzierte, verwundert es wenig, daß das auch in Qumran bekannte 5 Jubiläenbuch, das ansonsten auch den ewigen Bestand des israelitischen Heiligtums zusagen kann 6 , von einer Verunreinigung des Allerheiligsten durch das „böse Geschlecht" 7 redet. Ahnlich führen die Psalmen Salomos die Schändung von Stadt und Tempel 8 durch Fremdvölker auf die vorausgegangene Befleckung des Heiligtums durch die Söhne Israels zurück. 9 Entsprechende Aussagen finden sich auch in der zeitgenössischen apokalyptischen Literatur: Wie die Himmelfahrt Moses wissen will, kündigte der alternde Mose dem Josua die Berufung von israelitischen Königen zu Hohepriestern an, die „vom Allerheiligsten aus" Gottlosigkeit verüben würden 10 ; zuvor hatte die Schrift die Legitimität des nachexilisch — unter Duldung der Heiden! — wieder aufgenommenen Kultus im neu ummauerten Jerusalem bereits grundsätzlich bestritten: Nach AssMos 4, 6 - 9 hielten zwei der Stämme Israels11 an ihrer Treue zu Gott fest und brachten in der unter den Persern wiederaufgebauten Stadt keine Opfer dar12, während die übrigen Israeliten von der Vermischung mit den Heiden profitierten. Vorausgesetzt wird hier eine Tradition aus der älteren Tier-Apokalypse13, nach der der nachexilische Jerusalemer Kultus grundsätzlich als

4 Vgl. das in Abschnitt 2.1. dieser Studie zu den Zeloten und der Qumrangemeinde Ausgeführte. 5 Vgl. C D 16, 3f.; eine Liste der Berührungen von Jub und qumranischer Literatur bietet die als JSHRZ II/3 erschiene Textausgabe des Jub von K. Berger, 286. 6 So Jub 1, 27; 25, 21. 7 Jub 23, 21; wahrscheinlich bildet auch hier die Kalenderreform der hellenisierenden Hohepriester Menelaos und Jonathan Makkabäus den Hintergrund, vgl. Jub 2 3 , 1 9 ; entsprechend schon Jub 1, 10. 8 Angespielt wird hier auf die Eroberung Jerusalems im Jahre 63 v. Chr. sowie auf die anschließende Profanierung des Allerheiligsten unter der Regie des Pompeius, vgl. Josephus, Bell 1, 152; Ant 14, 71f. 9 PsSal 2, 1 - 3 . 10 AssMos 6, 1; gemeint sind natürlich die Makkabäer. 11 Vgl. auch AssMos 2, 3; aufgenommen wird hier die Zeichenhandlung des Achia von Silo, der durch die Ubergabe von zehn der zwölf Stücke seines Mantels dem Jerobeam die Herrschaft über die zehn späteren Nordreichstämme zuspricht (l.Kön 11, 2 9 - 3 9 ) . 12 AssMos 4, 8. 13 AethHen 85, 3 - 9 1 , 10.18f.; zumeist wird von einer Abfassung der Tierapokalypse während der Makkabäerkriege ausgegangen.

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Motivgeschichtlicher Teil

unrein gilt.14 Entsprechend findet die Schändung des Heiligtums durch Antiochus IV. Epiphanes in der Tierapokalypse überhaupt keine Erwähnung 15 , zumal der „Herr der Schafe", also Gott, den Tempel bereits vor dem Babylonischen Exil verlassen hatte16; weiter wird für das endzeitliche Eingreifen Gottes die Errichtung eines neuen, größeren „Hauses" erwartet, welches das alte ersetzt.17 Neben dieser zeitgeschichtlich-politisch motivierten Kritik am Tempel begegnet in der Apokalyptik vereinzelt die grundsätzliche Infragestellung des Kultes in der Tradition der Prophetie 18 ; so lehrt der Slavische Henoch, daß ein reines Herz Gott wohlgefälliger sei als alle kultischen Opfergaben. 19 Eine sehr deutliche Kritik am Jerusalemer Tempel findet sich im Testament Levi·. Das Heilige ist von den Priestern durch den Geist der Hurerei befleckt worden 20 , und der Tempel wird daher veröden 21 ; das Priestertum Israels wird geschändet werden, unreine Opfer werden dargebracht 22 ; es hat sich eine unaussprechliche Befleckung des Priestertums ereignet 23 , die Priesterschaft des neuerrichteten Tempels rekrutiert sich aus Götzendienern, Gesetzlosen, Lüstlingen usw. 24 , und infolge der Bestrafung durch Gott wird das Priestertum zugrundegehen. 25 Wahrscheinlich ist nicht einer der genannten Belege der nach 70 n. Chr. geschehenen christlich-redaktionellen Überarbeitung der Test XII zuzuschreiben. 26

14 S o AethHen 89, 73: Alles im neuerrichteten Tempel dargebrachte Brot war verunreinigt. 15 Anders z.B. Dan 11, 31. 16 AethHen 89, 56; vgl. auch 89, 50.67; möglicherweise spiegelt sich in der offensichtlichen Distanz der Tierapokalypse zum Kultus die Kritik ihres Trägerkreises an der von Priesterkreisen religiös begründeten (hier könnten Jub 1, 10.17.27-29; 23, 21 angeführt werden) Konzentration des Befreiungskampfes auf Jerusalem und das Heiligtum wider, so R. Albertz, Bd. 2, 668. 17 AethHen 90, 28f.36; hierauf wird in 2.2.3. einzugehen sein. 18 H o s 6, 6 u.a. 19 Hen(sl) 45, 3f. 20 T L e v 9, 9; ebenso 14, 5 - 8 . 21 T L e v 15,1. 22 T L e v 16, 1. 23 T L e v 17, 8. 24 T L e v 17, lOf. 25 T L e v 18,1. 26 Anders z.B. TBenj 9, 4, wo vom Zerreißen des Vorhanges im Tempel (par T L e v 10, 3) und vom Kommen des Geistes auch zu den Heiden die Rede ist; zu der literarischen Genese der Test XII vgl. die als J S H R Z III/l erschienene Ausgabe der Test X I I von J. Becker, 2 3 - 2 7 ; eine Analyse der literarischen Schichtung des T L e v

D i e E r n e u e r u n g des H e i l i g t u m s

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Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß im Judentum der vor- und frühchristlichen Zeit auch eine religiös begründete tempelkritische Strömung anzutreffen ist. Zum überwiegenden Teil wird hier nicht der Kultus an sich hinterfragt - die grundsätzliche Bedeutung des Tempelkultes für den religiösen Lebensvollzug wird nicht infrage gestellt27; die Kritik entzündet sich vielmehr an der konkreten Befindlichkeit des Jerusalemer Tempels, dessen Priesterschaft die gebotenen Kulthandlungen und -Vorschriften nur in unzureichender Weise durchführt bzw. umsetzt. Gerade aus einer verstärkten Wertschätzung des Kultes heraus wird der Vollzug der institutionalisierten Priesterschaft, und somit des konkreten Tempelbetriebes, verworfen. Historisch einzuordnen ist das Aufkommen dieser Tradition in den Zusammenhang der hellenisierenden Reformen der vormakkabäischen Hohepriester (TLev) sowie des politischen Priestertums der Makkabäer (AssMos); daß diese Tradition auch über die Makkabäerzeit hinaus fortbestand, wurde durch die Distanz radikaler frommer Kreise zum - zwangsläufig profanisierenden Tendenzen ausgesetzten - Tempelbetrieb gewährleistet. 2.2.2. Das himmlische Heiligtum/die himmlische Stadt Wenn Gott nach dem Zeugnis der Schrift — vor allem des alttestamentlichen Psalters — im Himmel wohnte28, lag es für den frommen Juden nahe, auch diesen himmlischen Wohnort Gottes in Analogie zum irdischen als eine Art Tempel aufzufassen.29

versucht Becker fernerhin in: Untersuchungen, 2 5 7 - 3 0 6 ; während Becker in dem Lasterkatalog des abtrünnigen Priestertums TLev 17, lOf. ein kaum datierbares, vom griechischen Geist beeinflußtes „versprengtes fragmentarisches Traditionsstück einer Sieben-Wochen-Apokalypse" (Untersuchungen, 289f.) sieht, rechnet er TLev 14 zu jenen „Partien im Grundstock der Test XII, die gegen eine Hellenisierung der Jerusalemer Priesterschaft polemisieren" (so in J S H R Z III/l, 25) und auf die er sich daher bei seiner Datierung des Grundbestandes der Test XII in die vormakkabäische Zeit ( 2 0 0 - 1 7 4 v. Chr.) beruft (ebd.). 27 Anders in der prophetischen Tradition, s.o. 28 Vgl. u.a. Ψ 2, 4; 8, 2; 14, 2; 3 3 , 1 3 ; 53, 3; 102, 20; 115, 3. 2 9 Einen ersten Einstieg in diesen Motivkomplex bietet H. Wenschkewitz, 4 5 - 4 9 (Exkurs „Das himmlische Heiligtum"); vgl. auch die prägnante Zusammenfassung der diesbezüglichen theologischen Problemstellung bei J. Maier, Beobachtungen, 1 8 2 - 1 8 6 , der die Vorstellung eines himmlischen Heiligtums besonders in H i n blick auf die Frage der Thoragültigkeit thematisiert.

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Motivgeschichtlicher Teil

Bereits in Ψ 11, 4 hat der Psalmist ein himmlisches Heiligtum vor Augen, wenn er G o t t im synonymen Parallelismus membrorum als i t ü ^ p ΓΠΓΡ Ί Κ 0 3 CPQBZl ΓΠΓΡ anruft. Das Wächterbuch schildert den visionären Aufstieg des H e n o c h zu einem himmlischen „großen Haus", in dem diesem zuletzt Gott begegnet ; dieselbe Tradition schlägt sich auch in den ca. 2 0 0 Jahre jüngeren Bilderreden Henochs in Henochs „Himmelreise" nieder. Nach T L e v 5, 1 thront Gott im H i m m e l inmitten seines heiligen Tempels (ναός) , entsprechend sind die dort anwesenden Engel mit kultischen Verrichtungen beschäftigt, wie sie vom Jerusalemer Tempelbetrieb her bekannt sind , und auch 4 Q S h a b S h i r kennt eine himmlische Liturgie der sieben höchsten Engel zum Lobpreis Gottes. Auf die weite Verbreitung des Motivs des himmlischen Tempels Gottes gerade in der Apokalyptik hat M . Himmelfarb hingewiesen. Ahnlich war schon H . Bietenhard der im antiken Judentum beheimateten Vorstellung eines dem Jerusalemer Kultwesen entsprechenden himmlischen Kultus nachgegangen: „Deutlich ist hier die Lehre von der Entsprechung von Irdischem und H i m m l i schem erkennbar: dem irdischen Jerusalem entspricht das himmlische, dem irdischen Tempel entspricht der himmlische Tempel, dem irdischen Altar der Altar im H i m m e l , dem irdischen (Hohe)Priester entspricht der himmlische (Hohe) Priester Michael."

Mit der Rede vom himmlischen Heiligtum zu einer „untrennbare(n) Einheit" verwoben ist in neutestamentlicher Zeit das Motiv des himmlischen Jerusalem. 38 D i e Vorstellung, der himmlische Bereich Gottes sei - analog zur irdischen Stätte des Heiligtums - als himmlische Stadt bzw. himmlisches Jerusalem zu be-

30 AethHen 14, 8 - 2 4 . 31 AethHen 71, 5-16. 32 Die Lesart erscheint in der Textausgabe von R.H. Charles, The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs, trotz guter Bezeugung lediglich im Apparat; jedoch können die von R.H. Charles angewandten textkritischen Entscheidungskriterien heute als von der Forschung überholt angesehen werden, vgl. J. Becker, J S H R Z III/l, 18-21. 33 Sühnopfer, Rauchopfer, Hymnen, vgl. TLev 3, 4 - 8 . 34 Vgl. hierzu weiter den Beitrag von A.M. Schwemer, 45-118. 35 M. Himmelfarb, 216: „One could argue that after the Book of Watchers the heavenly temple is so much a given of the world in which the authors of the later apokalypses lived that their use of it means no more than our assumption that the earth is round"; ähnlich bereits R. Knopf, Himmelsstadt, 215. 36 Η. Bietenhard, Welt, 123-137 (zum himmlischen Kultus). 37 Η . Bietenhard, 123f.; zentrale Bedeutung gewinnt das Urbild-Abbild-Verhältnis von himmlischem und irdischem Kult für Bietenhards Exegese des Hebräerbriefs, vgl. H. Bietenhard, 125-130; zum irdischen Tempel als „Abbild" des himmlischen Heiligtums vgl. auch H. Wenschkewitz, 46. 38 So u.a. B. E G O , Himmel, 16.

D i e Erneuerung des Heiligtums

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schreiben, läßt sich bereits in Hen(sl) 55, 2 feststellen, w o H e n o c h seinen Kindern seine baldige Auffahrt „in den H i m m e l in das oberste Jerusalem" 3 9 ankündigt; in der jüdischen Literatur der hellenistisch-römischen Zeit läßt sie sich bis hin zu ApcEl 2 1 , 1 - 6 - der Text meint offenbar einen Aufstieg der Gerechten zur himmliscnen Stadt - belegen, in neutestamentlich/nachneutestamentlicher Zeit gewinnt sie, wie W. Bousset 4 0 feststellte, gegenüber der Rede vom himmlischen Tempel die O b e r h a n d . W. Bousset f ü h r t e dies unter Verweis auf weitere Belegstellen auf die nach 70 n. C h r . a u f k o m m e n d e „ H o f f n u n g auf Erneuerung des irdischen Jerusalems" 4 1 zurück. D i e Tradition wirkt fort bis hin zur rabbinischen Rede vom „oberen Jerusalem" ( n ' p y o b v • i ?(ÖTV), dessen Schicksal mit dem seiner irdischen Entsprechung untrennbar verbunden sei [bTaan 5a]; nach B. Ego 4 2 garantierte die von den Rabbinen nachdrücklich geforderte lokale Entsprechung von himmlischem u n d irdischem Heiligtum quasi den ideellen Fortbestand des Jerusalemer Tempels u n d schuf somit einen religiös verankerten topographischen Bezugsp u n k t , der den dezentralisierenden Tendenzen innerhalb des über den gesamten Weltkreis zerstreuten jüdischen Gottesvolkes entgegenwirken sollte; ähnlich habe in der Zeit nach der Tempelzerstörung die Keduscha des Synagogengottesdienstes, indem sie die Kultgemeinschaft von Menschengemeinde u n d himmlischem Heerstaat begründete 4 3 , an diesem Punkt eine zentrale Funktion des zerstörten Tempels ü b e r n o m m e n - , freilich ohne diesen ersetzen zu wollen 4 4 - welche schließlich auch in dem christlichen Gottesdienst A u f n a h m e fand. 4 5 D i e Vermischung u n d gegenseitige Durchdringung der Motive „himmlische Stadt" und „himmlischer Tempel" erscheint als kaum verwunderlich, da sich Jerusalem im Zeitalter des Antiken Judentums im wesentlichen vom Zweiten Tempel her bestimmt. 4 6 D e r von L.R. Fisher 4 7 festgestellte Sachverhalt, daß in der alttestamentlich-jüdischen Tradition die Vokabel „ T U " sowohl die Stadt als auch den Tempelbezirk bezeichnen kann, mag dieser Vermischung Vorschub geleistet haben: „It usually means ,city', b u t it can mean .temple quarter' or even ,the hill

39 Übersetzung nach der 1896 in Berlin als AGWG.PH 1 erschienenen Ausgabe von Ν. Bonwetsch, 46. 40 W. Bousset, Religion, 285. 41 Ebd. 42 B. Ego, Himmel, 96-110. 43 Belege bei B. Ego, Himmel, 62-68. 44 Die „Hauptfunktion des Synagogengottesdienstes in diesem Kontext besteht vielmehr darin, an den zerstörten Tempel zu erinnern" B. Ego, Himmel, 72. 45 Als Beleg nennt B. Ego, 71, l.Clem 34, 5-7. 46 Mit der gleichen Begründung folgert H . Wenschkewitz, 47: „Hypothetisch wird man annehmen können, daß man zwar an einen himmlischen Tempel denken konnte, ohne ein himmlisches Jerusalem mitzudenken; ob man dagegen sich ein himmlisches, gar auf Erden herabkommendes Jerusalem ohne Tempel dachte, wird zu bezweifeln sein." 47 L.R. Fisher, Temple Quarter, 34-41.

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Motivgeschichtlicher Teil

of God/altar"' 4 8 ; wirkungsgeschichtlich betrachtet geht die genaue Differenzierung zwischen beiden Traditionen in nicht geringem Maße auf den Vers 21, 22 der Johannesapokalypse zurück, nach dem sich in der zukünftigen Gottesstadt kein Tempel mehr befindet, da dessen Funktion von Christus übernommen wird. Dieser christologische „Spitzensatz" 49 der Apokalypse dürfte dem Denken des Antiken Judentums jedoch kaum nahegelegen haben 5 0 ; insofern ist auch die Frage, ob beide Traditionen ursprünglich unvermischt vorlagen und inwiefern eine der beiden Traditionen aus der anderen abzuleiten ist, auf der Basis der heute vorliegenden Texte nicht zu entscheiden 51 und für unsere Fragestellung auch irrelevant. In neutestamentlicher Zeit können beide Motive zur Bezeichnung des himmlischen Heilsortes gebraucht werden. Ein bezeichnendes Beispiel dieser Durchdringung liegt in 4.Esr 10, 46 vor: Hiernach hat König Salomo die „Stadt" (!) erbaut, um in ihr Opfer darzubringen. „Stadt" und „Tempel" können als Synonyma gelten. 2 . 2 . 3 . Die E r n e u e r u n g des irdischen Heiligtums N a h m das J u d e n t u m also die Existenz eines himmlischen Heiligtums bzw. einer himmlischen Stadt an, m u ß t e es sich auch der Frage stellen, wie denn das Verhältnis v o n h i m m l i s c h e m und irdischem T e m p e l / H e i ligtum zueinander z u bestimmen sei. E i n e mögliche A n t w o r t war die, daß das himmlische H e i l i g t u m i m Bereich G o t t e s und v o r aller Zeit als eine A r t Urbild existierte, aus w e l c h e m i m irdischen Bereich der Jerusal e m e r Tempel i m Verlauf der Zeiten quasi abgeleitet war. Sie begegnet erstmalig in der v o m hellenistischen Geist durchdrungenen „Weisheit S a l o m o s " 5 2 , fand aber auch in die Apokalyptik Eingang. S o ist n a c h SyrBar 4, 2 - 7 die „ w a h r e " Stadt nicht mit d e m irdischen Jerusalem identisch, sondern sie existiert seit der Erschaffung der Welt bei G o t t und war auch d e m A d a m bekannt, w u r d e diesem aber -

in E n t s p r e c h u n g

z u m Paradies — entzogen. Auf die Nähe von himmlischem Jerusalem und Paradies weisen P. Volz 53 und H . Bietenhard 54 hin. In der Tat scheint sich auch hier das in der Apokalyptik verbreitete Motiv einer Entsprechung von mythischer Urzeit und Endzeit wiederzufinden, zumal eine Parallelisierung von Paradies und kommender himmli-

48 L.R. Fisher, Temple Quarter, 39. 49 J. Roloff, Offenbarung, 206; zum theologischen Gehalt der Stelle vgl. W. Kraus, 271-276. 50 Vgl. Strack/Billerbeck III, 852. 51 Mit B. Ego, Himmel, 15f. 52 SapSal 9, 8. 53 P. VOLZ, 373f. 54 H. Bietenhard, Welt, 193f.

D i e Erneuerung des Heiligtums

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scher Stadt auch in 4.Esra 8, 52 vorliegt und in ähnlicher F o r m auch in J u b 4, 2 6 s s ; 8, 19 durchgeführt wird. D a ß das neue Jerusalem als endzeitlicher Wohnort der Gerechten fungieren wird, w e i ß auch T D a n 5, 12; zugleich wird es hier mit dem Garten Eden parallelisiert. Ahnlich kennt auch A p c A b r den „schon lange bereiteten O r t " zu dem die Gerechten nach dem endzeitlichen Gericht eilen werden ( 2 9 , 15). 5 6 Gesehen wurde die Verwandtschaft beider Motive schon von W. Bousset. 5 7

Am von den Apokalyptikern erwarteten Ende der Weltzeit wird jedoch die ursprüngliche Heilsordnung restituiert werden, und Jerusalem wird durch ein Eingreifen Gottes prächtig und wunderbar erneuert (AethHen 90, 28-38; SyrBar 32 , 4 58 ), ja sogar , wie es die Verfasser von Jub 1, 29 und 11QT 29, 9 formulieren, neu geschaffen werden. Traditionsgeschichtlich läßt sich das Motiv einer Erneuerung der Heiligen Stadt auf die enthusiastische prophetische Verkündigung Deutero- und Tritojesaj a s 5 9 zurückführen. I n zwischentestamentlicher Zeit schlägt sie sich in der prophetischen Verheißung an Jerusalem am E n d e des Baruchbuches 6 0 und im L o b gesang des Tobias 6 1 nieder, wo ein schon überirdisch-wunderbares Bild der zukünftigen Herrlichkeit Jerusalems gezeichnet wird. Letztlich wirkt die Tradition fort bis hin zur talmudischen Schilderung eines zukünftigen Jerusalems 6 2 , das

55 Vgl. hierzu G.L. Davenport, 81-86, der diesen Vers - ebenso wie den unten betrachteten Vers 1, 29 - als Teil einer am Heiligtum orientierten Redaktion ansieht (G.L. Davenport, 16.75). 56 Hier ist auch der freilich viel jüngere Beleg ParJer 5, 34 zu nennen; wie Chr. Wolff auf beeindruckende Weise gezeigt hat, meint ή ανω πόλις Ίερουοαλήμ auch in den Paralipomena Jeremiae nicht einen zwischenzeitlichen Ruheort der Verstorbenen, wie ParJer 5, 34 vermuten lassen könnte; vielmehr formuliert sich auch hier eine innergeschichtlich bezogene Hoffnung auf „Teilhabe des Gerechten am Endheil im himmlischen Jerusalem" (Chr. Wolff, Jerusalem 157). 57 W. Bousset, Religion, 2 8 2 - 2 8 5 . 58 Innerhalb der syrischen Baruch-Apokalypse stellt die Perikope 32, 2 - 4 möglicherweise einen Nachtrag dar (vgl. die Diskussion bei F.J. Murphy, 682), zumal das Anliegen des SyrBar eher darin zu sehen ist, die Zerstörung des Tempels als Handeln Gottes zu deklarieren (SyrBar 7, 1 - 8 , 2) und dem Volk Israel über den Verlust des Tempels hinwegzuhelfen (so F.J. Murphy, 671.683); implizit mag sich die Hoffnung auf eine Erneuerung des Kultus jedoch in der Errettung der heiligen Kultgeräte (SyrBar 6, 7 - 1 0 ) formuliert haben, da diese „bis auf die letzten Zeiten" von der Erde aufbewahrt werden, bis Jerusalem „wiedererbaut wird in Ewigkeit." 59 Jes 40, 9-11; 41, 27; 44, 28; 46, 13; 52, 7f.; vgl. Abschnitt 2.1.1. dieser Studie. 60 Bar 4, 3 0 - 5 , 9; zur Exegese des Abschnitts vgl. O . H . Steck, Baruchbuch, 221-239. 61 Tob 13, 9 - 2 2 ; vgl. auch 14, 7f. 62 Vgl. b B B 75b; jedoch hat sich im rabbinischen Judentum, lange nach der Zerstörung des Tempels und dem Aufhören des Opferbetriebes, die Heilsbedeutung des

158

Motivgeschichtlicher Teil

sich vom irdischen völlig unterscheiden und nur den Erwählten zugänglich sein wird. I n „ H e n o c h s Epistel" steht das Errichten des Hauses für den „großen König in E w i g k e i t " am Anfang der letzten Ereignisse 6 3 ; nach PsSal 17, 30 wird Jerusalem nach den Endzeitkämpfen „durch Heiligung wie von Anfang a n " 6 4 gereinigt werden, und alle Welt wird hier ihre G a b e n G o t t darbringen. 6 5 J u b 1, 29 schließlich redet im Zusammenhang der endzeitlichen Erneuerung des H i m m e l s und der Erde von einem speziellen A k t der Neuschöpfung des Jerusalemer Heiligtums durch G o t t selbst. Der neue Tempel in Qumran: Auch im qumranischen Schrifttum wird das M o t i v der endzeitlichen Erneuerung auf Jerusalem bzw. den Tempel b e z o g e n . 6 6 So sieht die Kriegsrolle in „Jerusalem" einen wesentlichen F i x p u n k t im endzeitlichen K a m p f gegen die Söhne der Finsternis. 6 7 N a c h dem qumranischen M i drasch zur Eschatologie 6 8 wird G o t t am Ende der Tage (CPO^H Π Ή Π Χ 3 , 13, 2) ein Haus errichten, das - im Gegensatz zum von Sünde befleckten Heiligtum Israels ( ' Ρ Ν Π ϋ - 1 i ö ^ p P , V. 6) - sich als unzerstörbar erweisen wird; der Text b e richtet von dem Befehl, ein Heiligtum aus Menschen zu errichten ( D I X !ϋ"ΠΡΡ, V. 6), das als Rauchopfer Taten des Gesetzes darbringt, und weiterhin ist diese Erwartung verbunden mit dem Auftreten eines messianischen Davididen (V. 11), so daß auch die Verheißung aus A m 9 , 11 appliziert werden kann (V. 12). Nach D . D i m a n t 6 9 bezeichnen V. 2f. und V. 6 zwei verschiedene Heiligtümer; während V. 6 mit ί ϋ ΐ ΐ p D CHK das vielfach belegte Verständnis der Q u m r a n g e meinde ihrer selbst als einem heiligen Bauwerk/Tempel wiedergebe 7 0 , meine das

zu erneuernden Kultus notwendigerweise verschoben: „Das Studium der Thora ist bedeutender als der Bau des Tempels." (bMeg 16b). 63 AethHen 91, 13. 64 Übersetzung nach S. Holm-Nielsen, J S H R Z IV/2. 65 Zur kultisch-eschatologischen Orientierung der Psalmen Salomos vgl. die Untersuchung von P.N. Franklyn, 1-17. 66 Die apokalyptische Ausrichtung der Qumran-Gemeinde ist von F. Garcia Martinez in seiner diesbezüglichen Monographie ausführlich betrachtet worden. Nach A. Steudel, 211f., bestand der Abfassungszweck der von ihr aus den Fragmenten 4Q174 und 4Q177 rekonstruierten und in die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts vor Christus datierten Schrift 4 Q MidrEschat a b letztlich darin, durch Schriftforschung die Naherwartung der Gemeinde aufrechtzuerhalten. 67 1QM 1, 3; 3, 11; 7, 3f. 68 4 Q MidrEschat 2, 18-3, 13; zur Edierung s.o. Anm. 66. 69 D. Dimant, 184ff. 70 Vgl. J. Roloff, Kirche, 112f.; 1 Q H 6, 2 5 - 2 9 stellt die Gemeinde als „befestigte Stadt" aus „bewährten Steinen" (was die Gemeindeglieder meint) dar, 1QS 11, 7 - 9 nennt die Gemeinde „Kreis des heiligen Gebäudes" (tü^lip ΓΡΙΠΟ "110, V. 8); 1QS 9, 5f. beschreibt weiterhin den "ΊΓΓ der Gemeinde mit aus dem Tempelkult stammender Begrifflichkeit, und wenn in 1QS 8, 4 - 1 0 der Gemeinschaft in ähnlicher Form sogar eine sühnende Funktion zugesprochen wird, sieht J. Maier die „letzte Konsequenz ... gezogen: neben dem a m p " n o CP e m p steht ein

D i e Erneuerung des Heiligtums

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in V. 2f. genannte Haus Gottes ein von diesem Motiv strikt zu trennendes 71 konkretes Tempelheiligtum, dessen Errichtung durch Gott selbst die Gemeinde für die Endzeit erwartete. D . Dimants These kann sich auf die Qumran-Schrift „ D a s Neue Jerusalem" (= N J ) 7 2 berufen. In Anlehnung an die Kapitel 4 0 - 4 8 des Ezechielbuches wird hier das eschatologische Jerusalem 7 3 als Stadt von geradezu gigantischem Ausmaß geschildert 7 4 , in der in einem wunderbar erneuerten Tempel 7 5 der endzeitliche Kultus vollzogen wird. 7 6 Es ist recht wahrscheinlich, daß der hier bezeichnete Tempel mit dem Heiligtum identisch ist, dessen eschatologische Errichtung 4Q MidrEschat 3 3, 2 - 5 (und 1 1 Q T 29, 9f.) erwarten. 7 7 D a s Motiv der eschatologischen Erneuerung des irdischen Heiligtums ist in Q u m r a n ferner durch 1 1 Q T 29, 8b—10 belegt. Zum Abschluß der Opfervor-

(sie!) ü"T)p Γ Ρ 3 . Die Zuordnung zu Heiligtum und Allerheiligstem des Tempels ist vollkommen. Dabei konnte man durchaus sonst nur für den wirklichen Tempel passende Begriffe verwenden. So 1QS VIII, 8 Stätte, oder 1QS XI, 8 ü n p r P J 3 Q , heiliger Bau" (J. Maier, "IIT, 161); vgl. auch G. Klinzing, 75. 71 there is no textual basis for the assumption that the eschatological temple, namely the Temple of Yahweh, is identical with the Temple of Men, which consists of the sect" (D. Dimant, 184; zur näheren Begründung vgl. auch 184f.) 72 Unter diesem Kürzel veröffentlichte F. Garcia Martinez in dem mir nicht zugänglichen Beitrag: La „nueva Jerusalem" y el templo futuro de los MSS. de Qumran, in: Salvacion en la Parabla, FS A. Diez Macho, Madrid 1985, 563-590, die aus diversen Fragmenten rekonstruierte Schrift; in der Edition „Die aramäischen Texte vom Toten Meer samt den Inschriften aus Palästina, dem Testament Levis aus der Kairoer Genisa, der Fastenrolle und den alten talmudischen Zitaten" von K. Beyer, (dort S. 214-222) sowie dem Ergänzungsband von 1994, 95-104, wird die Schrift als „Das himmlische Jerusalem" (= J) bezeichnet und ist aus den Fragmenten 1Q32; 2Q24; 4Q554.555; 5Q15 und UQ18 rekonstruiert; NJ wird von F. Garcia Martinez im siebenten Kapitel seiner Arbeit, 180-213, betrachtet. 73 F. Garcia Martinez kommt nach seiner ausführlichen Analyse des Textes zu dem Schluß: „It may be concluded from this presentation of the NJ contents that what the work contained was not a description of the Heavenly Jerusalem or of the Celestial Temple in the sense of an ideal Jerusalem beyond the concept of time, .Urbild und Abbild', but of the city, the temple and the cult such as they will exist at the time of the final struggle ... a Jerusalem, a temple and a cult that we may term eschatological" (201); auch nach Κ. Beyer soll das vom Seher geschaute Jerusalem „offenbar dereinst an die Stelle des irdischen treten als Mittelpunkt der neuen Erde" (Die aramäischen Texte vom Toten Meer, 215). 74 NJ 1-4. 75 NJ 5; Text stark beeinträchtigt. 76 NJ 6f.; Text stark beeinträchtigt. 77 So F. Garcia Martinez, 207-211; Garcia Martinez begründet dies u.a. mit der allgemeinen Bekanntheit des Motivs des endzeitlich erneuerten Tempels auch in Qumran (auch Exemplare von AethHen und Jub wurden hier gefunden) sowie mit den inhaltlichen Berührungen von NJ 4, 37-54/4Q MidrEschat 3 3, 4 und 1QM 1, lf., die ihn berechtigen, auch in 1QM 2, 1-6 den Tempel von NJ wiederzufinden.

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Motivgeschichtlicher Teil

Schriften für den „idealen" Tempel 7 8 verheißt Gott, am „Tage des Segens" sein Heiligtum neu zu schaffen O i ö i p O ΠΝ K i n N ) (vgl. hier Jub 1, 29!) 7 9 für allezeit. Auch hier wird also ein eschatologisches Handeln Gottes angesagt, das wie in 4 Q MidrEschat 3 3, 2f. nicht den Bau der Gemeinde meint, sondern den Bau eines konkreten, endzeitlichen und ewigen Tempels, der dem „Urbild" 8 0 des Gottestempels, das sich nur in gebrochener Weise in den Beschreibungen von 11QT widerspiegelt, dereinst vollkommen entsprechen wird. Da der Jerusalemer Tempelbetrieb jedoch nicht einmal den Anordnungen von 11QT folgt, ist die Qumrangemeinde - trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer hohen Wertschätzung des Kultes 81 - dazu gezwungen, ihren als einen spiritualisierten Ersatz 8 2 des Heiligtums zu gestalten - bis sie in der Endzeit am eschatologischen Kult des erneuerten Tempels teilhaben wird. Wie schon in den oben genannten zwischentestamentlichen Belegen beobachtet, tritt also auch im Denken Qumrans in der Endzeit das wahre, am göttlichen „Urbild" orientierte Heiligtum

78 Mit D. Dimant, 187f., liegt in 11QT nicht ein in erster Linie die Kritik der Qumrangemeinde am Zweiten Tempel formulierender, utopischer Entwurf vor, den seine Verfasser in die Gestalt einer Gottesrede an Mose gekleidet hätten (so J. Maier, in der von ihm edierten Textausgabe: Die Tempelrolle vom Toten Meer, 67f.), sondern „this must have been intended as the idealic Temple of Israel, as it should have been build (sic!) according to the sectarian halakha. Perhaps it is for the reestablishment of such a temple that the sectarians hoped after their eschatological victory." (D. Dimant, 188; Hervorhebung im Text); ähnlich äußern sich auch B.Z. Wacholder, 8.22-24, und Y. Yadin (Textausgabe: The Temple Scroll, Bd. 1, 182-186); prinzipiell kommt auch F. Garcia Martinez, 205, zu diesem Ergebnis, er weist jedoch darauf hin, daß das in 11QT genannte Heiligtum nicht einfach mit dem eschatologischen Tempel identisch ist - schließlich soll ersteres ja neu geschaffen werden (V. 9) - ; vielmehr werde in 11QT „a normative temple and cult, a blueprint of the temple and the cult such as they must be" (ebd.) beschrieben. Diese doppelte Bestimmung von endzeitlichem und „idealem" Heiligtum in der qumranischen Eschatologie kommt dem in SapSal 9, 8 und SyrBar 4, 2 - 7 begegnenden Verständnis recht nahe, nach dem das bei Gott existierende „wahre" Heiligtum als eine Art Urbild für das irdische Heiligtum fungiert und nach dem letzteres in der Endzeit von jenem her erneuert wird. 79 Auf die Affinität von 11QT 29, 8-10 zu wesentlichen Passagen des Jub weist Y. Yadin, The Temple Scroll, 183f., hin. 80 Vgl. das unter Anm. 78 hierzu Gesagte. 81 Auch hier bekräftigt sich die in Abschnitt 2.2.1. dieser Studie getroffene Feststellung, daß in neutestamentlicher Zeit die Kritik am konkreten Jerusalemer Tempel zumeist in einer expliziten Wertschätzung des Heilsgeschehens begründet ist. Die - durchaus bejahte - Gegenwart Gottes im Kult wird vom institutionalisierten Betrieb des Jerusalemer Tempels gelöst. 82 ,,.. the community feels compelled to create a temporary substitute for this temple and this cult, while waiting to be capable of properly fulfilling these divine requirements in the future" F. Garcia Martinez, 206; ähnlich auch D. Dimant, 188f., die mit besonderem Nachdruck auf die priesterlichen Elemente in Theorie und Praxis des qumranischen Gemeindelebens hinweist.

D i e Erneuerung des Heiligtums

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an die Stelle des gegenwärtigen, irdischen, welches demgegenüber nur als defizitär erscheinen k a n n . 8 3 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung von A . M . S c h w e m e r 8 4 , nach der die in Q u m r a n gebräuchlichen Sabbatopferlieder ebenfalls die oben beschriebene Vorstellung eines himmlischen Heiligtums, dem das endzeitliche quasi nachgestaltet sein wird, voraussetzen 8 5 ; darüber hinaus hat die essenische G e m e i n d e durch ihren korrekt vollzogenen Kult jedoch schon jetzt an dem im himmlischen Heiligtum von den Engeln gefeierten Gottesdienst A n teil. 8 6 D e n n o c h wird trotz dieser schon in der Gegenwart geschehenden kultischen Partizipation am letztgültigen Heilsgut die Spannung zwischen himmlischem und eschatologischem Tempel nicht aufgelöst: D i e Kultgemeinde erwartet und erfleht weiterhin die Errichtung des endzeitlichen Heiligtums in ihrer Welt. Auf die strukturelle Analogie dieser qumranischen Vorstellung zu eschatologischen Entwürfen des Neuen Testaments weist A . M . Schwemer am E n d e ihrer Untersuchung h i n . 8 7

Daß das neue Heiligtum das alte ersetzt, wird in expliziter Weise nur in der Tier-Apokalypse des Äthiopischen Henochbuches dargestellt. Nachdem gegen Ende des apokalyptisch-symbolischen Geschichtsabrisses der Tier-Apokalypse 8 8 nach dem letzten Ansturm der Feinde ( A e t h H e n 9 0 ,

83 R.G. Hamerton-Kelly, der im übrigen das Verhältnis der apokalyptischen Literatur zum israelitischen Heiligtum sicherlich überzogen charakterisiert, wenn er ihr Feindschaft („hostility" so R.G. Hamerton-Kelly, 4) zum Jerusalemer Tempel attestiert, bemerkt durchaus zutreffend: „The true temple, to be revealed at the eschaton, was present in heaven. It had been seen by Ezekiel. Its eternal presence was a judgement on the temple of Zerubbabel" (13); ein ähnlicher Schluß liegt auch bei R.J. McKelvey, 40f., vor. 84 Vgl. zum Folgenden v.a. A.M. Schwemers Analyse des siebenten Sabbatopferliedes, 9 4 - 1 0 3 , sowie die Seiten 6 4 - 7 6 . 85 Vgl. besonders 74f., wo A.M. Schwemer auf D. Dimant Bezug nimmt. 86 Im Anschluß an C. Newsom vermutet A.M. Schwemer, daß in dieser „besonderen Heilsgabe" die ursprüngliche „Legitimation der qumranischen Priesterschaft" begründet lag (117). 87 Vgl. 117f.; an erster Stelle ist hier das Motiv eines himmlischen Gottesdienstes im Hebräerbrief und v. a. in der Johannesapokalypse zu nennen; darüber hinaus steht die gesamte Soteriologie des Paulus in einer vom „Noch nicht" des endzeitlichen Kommens Christi und „Schon jetzt" des Partizipierens am Heilswerk des Erlösers bezeichneten Spannung; das Postulat einer solch eklatanten Entsprechung von qumranischer und neutestamentlicher Eschatologie bzw. Soteriologie muß sich freilich die kritische Rückfrage gefallenlassen, ob hier nicht aus dem N T gewonnene Vorstellungen in die essenischen Texte hineingelesen werden. 88 AethHen 85, 1 - 9 0 , 42; als neuere Untersuchung zur Tier-Apokalypse ist der Kommentar von P.A. Tiller, zu nennen; darauf, daß Traditionen der Tier-Apokalypse auch in urchristlichen Kreisen bekannt waren, scheint das Motiv der „Schafe

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Motivgeschichtlicher Teil

13-19) auch das Gericht über die verblendeten Schafe vollzogen worden ist (90, 2 0 - 2 7 ) , wird das „alte H a u s " Gegenstand des endzeitlichen Geschehens (90, 28ff.). Schon W. Bousset 8 9 sah, daß hier unklar ist, ob „ H a u s " den Tempel oder Jerusalem als ganzes meint, zumal die Tier-Apokalypse den Tempel des öfteren als „Turm" des Hauses bezeichnet (AethHen 89, 50.73). C . C . Rowland hält es daher für möglich, daß „we might well be faced in this passage with a restored city without a Temple, as no new tower is mentioned in the new house" 9 0 , und P.A. Tiller 9 1 sieht im Fehlen auch eines erneuerten Turmes den Beleg für den Wegfall des Tempelkults im eschatologisch erneuerten Jerusalem („The tower simply disappears and its cultic function is not replaced" 9 2 ) und zieht daraus den Schluß, daß der Kult im Denken der Verfasser der Tier-Apokalypse eine mindere Form des Gottesverhältnisses darstelle 93 ; entsprechend ordnet er die Tier-Apokalypse einer jüdischen Sondergruppe zu, die eine vom Tempel unabhängige Frömmigkeit pflegte 9 4 , und findet die nächste Parallele zu AethHen 90, 28 in A p k 21, 22. 9 5 Nicht nur in der Verortung des Verfasserkreises kann man zu anderen Ergebnissen kommen 9 6 , es ist ferner auch gegen P.A. Tiller das bereits oben Gesagte zu wiederholen 9 7 , daß nämlich unsere genaue Distinktion von eschatologiscnem Jerusalem und eschatologischem Tempel aus dem christologischen „Spitzensatz" 9 8 A p k 21, 22 erwachsen ist und nicht von hier aus in die Texte des Antiken Judentums hineingetragen werden sollte, zumal in letzterem die beiden Traditionen bereits vermischt vorlagen. 9 9 Nicht zuletzt gibt auch der Text die TierApokalypse selbst Anlaß zu einer diesbezüglich nicht allzu überspannten Auslegung von AethHen 90, 28, zumal „ H a u s " in die Tier-Apokalypse auch die Stiftshütte bezeichnet. 1 0 0 Als nicht ganz hinreichend erscheinen daher auch die Voten von A. Dillmann 1 0 1 , der meinte, die Erneuerung des „ H a u s e s " impliziere selbstredend auch eine Erneuerung des „Turmes" 1 0 2 , und A. Hilgenfeld, der das

unter den Wölfen" hinzudeuten, das AethHen 89, 13-20 zur Umschreibung Israels in Ägypten (Gen 37-Ex 12) gebraucht und das auch in Q (Mt 10, 16 par Lk 10, 3) begegnet. 89 W. Bousset, Religion, 239. 90 C.C. Rowland, 186. 91 P.A. Tiller, 46-50. 92 P.A. Tiller, 47. 93 P.A. Tiller, 49. 94 P.A. Tiller, 115. 95 P.A. Tiller, 47. 96 P. Lampe, 90-92, rechnet die Tier-Apokalypse bewaffneten Kreisen innerhalb der (ländlichen) Priesterschaft zu. 97 Vgl. Abschnitt 2.2.2. dieser Studie. 98 J. Roloff, Offenbarung, 206. 99 Vgl. B. Ego, Himmel, 16. 100 So AethHen 89, 36. 101 Vgl. das 1853 von ihm edierte „Buch Henoch" 284. 102 Buch Henoch, ed. A. Dillmann, 284.

Die Erneuerung des Heiligtums

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„Haus" vornehmlich als neuen Tempel sehen wollte. 103 Es ist vielmehr H . Bietenhard dahingehend zuzustimmen, daß die Traditionen von eschatologischhimmlischem Tempel und eschatologischem Jerusalem hier ineinander übergehen 104 ; ähnlich sieht P. Volz 105 in AethHen 90, 28ff. Stadt und Tempel in ein Bild zusammenfließen. Henoch sieht, wie das „alte Haus" eingerollt 106 und seines Inventars entkleidet wird. Fernerhin wird es an einem „Ort im Süden" niedergelegt 107 , und der Herr der Schafe bringt ein neues, prächtigeres Haus herbei und piaziert es an der Stelle des alten Hauses (V. 29). Im folgenden wird das den Schafen für den Endkampf anvertraute Schwert 108 in dieses Haus zurück(!)gebracht und versiegelt (V. 34), und alle Tiere (= Völker) unterwerfen sich dem Wort der Schafe (V. 30). H i e r wird nun durchgeführt, was in den oben genannten Belegen zur endzeitlichen Erneuerung des Heiligtums zumindest angelegt war: k o m m t es zu einer direkten „Gegenüberstellung" v o n derzeitigem und endzeitlich-himmlischem

Heiligtum 1 0 9 ,

so

erweist

sich

das

irdische

Heiligtum trotz aller ihm durchaus entgegengebrachten Wertschätzung -

sein Inventar wird sorgfältig ausgeräumt, und das Haus selbst wird

„eingerollt" und sodann an einem (womöglich sicheren?) O r t aufbe-

103 A. Hilgenfeld, 123 samt Anm. 1; ähnlich heute auch M.E. Stone, 404. 104 Η. Bietenhard, Welt, 195. 105 P. Volz, 373. 106 So die Konjektur nach A. Dillmann, Buch Henoch, u.a.; S. Uhlig liest in: Das Äthiopische Henochbuch, JSHRZ V/6, mit der recht alten Handschrift Tänäsee „entfernen" was seiner Meinung nach dem Kontext besser gerecht wird; gerade dieses Argument spricht jedoch gegen die von den übrigen Handschriften abweichende Lesart von TS; zur Diskussion vgl. S. Uhlig, JSHRZ V/6, 702A28a. 107 In JSHRZ V/6, 702A28d, scheint S. Uhlig den „Ort im Süden" unter Rekurs auf AethHen 90, 26 und 27, 1-3 mit dem Tal Gehenna gleichsetzen zu wollen, vgl. auch JSHRZ V/6, 563Ala; diese Bestimmung würde ein endzeitliches Gericht auch über das Heiligtum insinuieren, sie scheint jedoch vom Wortlaut des Textes her nicht unbedingt zwingend. 108 AethHen 90,19. 109 Daß das endzeitliche Heiligtum mit dem himmlischen - nach SyrBar 4, 2-7 vor aller Zeit erschaffenen und bis zur endzeitlichen Erneuerung der ursprünglichen Heilsordnung (vgl. PsSal 17, 30!) bei Gott verbleibenden - Heiligtum identisch ist, vermutet mit gutem Grund auch H. Bietenhard, Welt, 195, zumal sich diese Tradition als recht verbreitet erweist (vgl. die Abschnitte 2.2.2. und 2.2.3. dieser Studie). In der Tier-Apokalypse spricht schließlich auch der Umstand, daß Gott das neue Haus bringt (nicht „erschafft" oder „baut"), für ein vorheriges Subsistieren des Heiligtums bei Gott im Himmel; ferner dürfte auch das Zurückbringen des Schwertes in das Haus Gottes (AethHen 34) darauf hindeuten, daß das „Haus" schon vor dem AethHen 90, 20ff. geschilderten Gericht als Wohnort Gottes diente.

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Motivgeschichtlicher Teil

wahrt110 — dem endzeitlich-eigentlichen Wohnort Gottes gegenüber als minderwertig. „The true temple, to be revealed at the eschaton ... was a judgement on the temple of Zerubbabel."111 Ähnlich dem oben beobachteten Impetus der qumranischen Heiligtumstraditionen verliert der irdische Tempel auch in der Tier-Apokalypse mit dem eschatologischen Kommen des „eigentlichen" Heiligtums zwangsläufig seinen ansonsten unüberbietbaren Anspruch; dieser Gedanke wird auch für die Auslegung des Tempelwortes festzuhalten sein. Wie jedoch schon oben112 festgestellt wurde, bedeutet die ersehnte Substitution des konkreten irdischen Heiligtums keineswegs auch eine Uberwindung des kultischen Gottesbezuges; es ist ja im Gegenteil gerade der „wahre", der eschatologische Kultus, der in der Endzeit aufgerichtet werden wird. Somit liegt auch dieser Tradition die bereits oben113 festgestellte Distinktion von Kultus - als elementarer, ewiger und grundlegender Form der Gegenwart Gottes in seinem Volk - und Tempel - als konkreter, historischer, und somit wandelbarer Ausgestaltung dieser Gottesbeziehung - zugrunde; unter eschatologischem Vorzeichen kann diese Trennung, wie in Qumran, auch eine adversative Wendung annehmen. 2.2.3.1. Ausblich: Die Fortführung des Motivs in 4.Esra In gewisser Weise fortgeführt wird die hier behandelte Tradition einer eschatologischen Erneuerung des Heiligtums auch in 4.Esra. Da diese Apokalypse die Tempelzerstörung jedoch bereits ausdrücklich voraussetzt 114 , kann sie nicht unmittelbar für die Herleitung der im Tempelwort Jesu begegnenden Traditionen herangezogen werden.

110 Möglicherweise spiegelt sich hier die auch für die zelotischen Aufständler vorauszusetzende [vgl. Bell V, 459; VI, 98, sowie das hierzu im Abschnitt 2.1.2. dieser Studie Angemerkte] und auch in Apk 11, lf. begegnende Vorstellung einer Bewahrung des Heiligtums in den Endzeitwirren wider. 111 Nochmals R.G. Hamerton-Kelly, 13. 112 Vgl. Abschnitt 2.2.1. dieser Studie. 113 Vgl. Abschnitt 2.2.1. dieser Studie. 114 Vgl. 4.Esra 3, 1: „30 Jahre nach dem Untergang der Stadt"; angespielt wird hier auf die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. Dem entspricht auch die theologische Intention des Verfassers, wie sie sich abschließend in 4.Esra 14, 3 1 - 3 6 niederschlägt: Gott hat dem Volk Israel den Landbesitz gegeben, aber, da er ein gerechter Richter ist, aufgrund der zahlreichen Verfehlungen der Juden auch wieder genommen. Wer aber „sein Herz in Zucht nimmt" (34), kann nach dem Tode Erbarmen erlangen, denn das endgültige (!) Gericht wird sich nach dem Tod ereignen; so wird das endzeitliche Heil in weite Ferne gerückt, bleibt dort aber ein sicherer Trost für das niedergeschlagene Volk.

Die Erneuerung des Heiligtums

165

Auch 4.Esra weiß, daß in der Endzeit die eben noch unsichtbare Stadt erscheinen wird (7, 26), und in 4.Esra 8, 52 findet sich ebenfalls die Parallelisierung von Paradies und endzeitlicher Stadt. Wenn aber der Seher, um die Vision der zukünftigen Stadt zu schauen (9, 27), auf unberührten - also kultisch reinen Boden geführt werden muß, da nämlich kein menschliches Bauwerk an dem Ort bestehen kann, w o sich die Stadt des Höchsten zeigen soll 115 (10, 51-54), wird hier in kultischen Kategorien ein unermeßlicher qualitativer Unterschied zwischen dem endzeitlichen Gottesort und einem jeden von Menschen errichteten Bauwerk (opus aedificii hominis, also in der Konsequenz auch jedem Tempel) zum Ausdruck gebracht. Entsprechend heißt es in 4.Esra 13, 36 von dem in den letzten Tagen „kommenden" Zion: „Sion autem uenit et ostendetur omnibus parata et aedificata, sicut uidisti montem sculpi sine manibus"nb\ auch hier wird der wunderbar in der Endzeit aufgerichtete Gottesort von jedem mit Menschenhänden errichteten Bau abgehoben. Diese Aussagen, die die letzte Konsequenz aus der zwischentestamentlichen Vorstellung eines „eigentlichen", bei Gott existierenden himmlischen Tempels ziehen und die zugleich dem Tempelwort Jesu ( κ α ι ... οίλλον άχειροποιητον οϊκοδομήοω, M k 14, 58b) recht nahe zu kommen scheinen 117 , waren dem jüdischen Verfasser des vierten Esrabuches jedoch erst möglich, nachdem in Jerusalem „unser Heiligtum verwüstet, unser Altar niedergerissen, unser Tempel zerstört" (4.Esra 10, 21) war. 2.2.4. Rückblick Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die H o f f n u n g auf eine Erneuerung des Heiligtums, wie sie sich schon in einigen Traditionssträngen des A l t e n Testamentes zeigte 118 , auch in zwischentestamentlicher Zeit fortlebt; w a r sie im A T ursprünglich aus der Tempelzerstörung im Jahre 587 v. C h r . erwachsen, entzündete sie sich in späterer Zeit z.T. an der Empfindung einer Insuffizienz des Jerusalemer Heiligtums 1 1 9 , v o r allem aber an der apokalyptischen Gespanntheit des zeitgenössischen J u d e n tums.

115 Nec enim poterat opus aedificii hominis sustinere in loco ubi incipiebat altissimi ciuitas ostendi (10, 54). Text nach der Edition von R.L. Bensly (The Fourth Book of Ezra, Cambridge 1895). 116 Text wiederum nach R.L. Bensly, dort ohne Hervorhebungen; der zweite Versteil (Motiv „Berg") bezieht sich auf ein in 13, 6 geschildertes Element einer Vision des Sehers, eine Entsprechung zum „sine manibus" [Im „Messias Judaeorum" wird diese Wendung von A. Hilgenfeld mit α ν ε υ χειρών par. Dan 2, 34f. übertragen (100)] findet sich dort jedoch nicht. 117 Aufgrund der Abfassungsverhältnisse des 4.Esra ist mithin nicht auszuschließen, daß Evangelientraditionen auf diese jüdische Apokalypse eingewirkt haben. 118 Vgl. Abschnitt 2.1.1. dieser Studie. 119 Vgl. Abschnitt 2.2.1. dieser Studie.

166

Motivgeschichtlicher Teil

Von wesentlicher Bedeutung ist hier das Aufkommen der Idee eines himmlischen Heiligtums120, bei der es sich um eine Ausziehung der kultischen Präsenz Gottes in den himmlischen Bereich handelt: Wie Gott im irdischen Zusammenhang im Tempel wohnt, so ist auch sein himmlischer Wohnort ein Tempel. Insofern die apokalyptische Erwartung, die das jüdische Volk in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten mehr und mehr ergriff, von einer Restitution des ursprünglichen Heilszusammenhanges am Ende der Tage ausging, mußte sie auch die endzeitliche Erneuerung des heiligen Ortes vom himmlischen Heiligtum her erwarten.121 Trotz der allgemein dem bestehenden Heilsort entgegengebrachten Hochachtung wird das irdische Heiligtum hierbei fast unvermeidlich in den Bereich des Defizitären gerückt. „Wenn dieses eschatologische Gotteshaus aber alles Bisherige vollendet, so ist es diesem (= dem Jerusalemer Kultus, d. Verf.) auch ein scharfer und unerbittlicher Feind, wie das Vollkommene immer Feind des Unvollkommenen ist."122 Für das Verständnis des Tempelworts läßt sich vorerst festhalten, daß das Logion im Strom der jüdischen Endzeiterwartung123 und deren Auseinandersetzung mit dem Tempel und seiner Sühnefunktion steht. Der näheren inhaltlichen Bestimmung des Wortes wird jedoch im folgenden nachzugehen sein.

120 Vgl. Abschnitt 2.2.2. dieser Studie; zur Bedeutung des himmlischen Heiligtums für das Verhältnis Israels zu seinem Kultus vgl. J. Maier, Zwischen den Testamenten, 197. 121 Vgl. Abschnitt 2.2.3. dieser Studie. 122 E. Lohmeyer, Kultus, 109; E. Lohmeyer redet hier freilich vom eschatologischen Gotteshaus der Kirche. Z u m Begriff der „Feindschaft" vgl. das oben unter A n m . 83 Gesagte. 123 Erinnert sei an E. Käsemanns bekannten Satz von der Apokalyptik als Mutter aller christlichen Theologie (Anfänge, 100).

Die Dreitagesfrist

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2 . 3 . Die D r e i t a g e s f r i s t Während die Vorstellung einer eschatologischen Tempelerneuerung ursprünglich in der jüdischen Apokalyptik beheimatet war, gilt dies für die ebenfalls im Tempelwort begegnende Zeitangabe έν τριοίν ήμέραις/διά τριών ήμερων nicht. So urteilte R. Bultmann: „In dem Jesus-Wort überrascht nur die Angabe der ,drei Tage', die sich in parallelen jüdischen Weissagungen nicht findet, und die nicht wie die Zahl der „drei und ein halb" (Dan 725 127 Apk llsn usw.) zu den apokalypt. Terminangaben gehört."1 In der Tat begegnet in der apokalyptischen Literatur eher der Hinweis auf sieben - und daher auch dreieinhalb - „Zeiten"2; der Zeitraum von drei Tagen ist hingegen kein belegbares Motiv der apokalyptischen Spekulation. Um den Sachgehalt dieses Bestandteiles des Logions zu erfassen, muß daher gefragt werden, ob sich die Dreitagesfrist von einer anderen im Umfeld des frühen Christentums beheimateten Tradition herleiten läßt und wie sie im übrigen Neuen Testament verstanden und gebraucht wird. Auf diese Frage sind in der neutestamentlichen Forschung verschiedene Antworten gegeben worden. So verstand J. Weiß 3 die drei Tage als recht kurze Frist, nach der Jesus nach Anbruch der Endzeit-Katastrophe [Tempelzerstörung] 4 - die Aufrichtung des Gottesreiches [Tempelneubau] erwartet habe. Ihm folgt in wesentlichen Zügen J. Jeremias 5 , der in der Dreitagesfrist des Tempelwortes einen Beleg für Jesu Erwartung einer dreitägigen Notzeit zwischen Hereinbrechen der Enazeitkatastrophe und eschatologischem Neubau des Heiligtums sah. 6 Weiter schlug sich nach Jeremias diese Tradition der jesuanischen Endzeiterwartung auch in den in S L k überlieferten Logien Lk 13, 32.33 sowie in Joh 16, 1 6 - 1 9 nieder. 7 Indes ist weder die Formulierung des markinischen Tempelwortes auf Jesus selbst zurück-

1 R. Bultmann, Johannes, 88(f.)A7, Hervorhebung im Text gesperrt; ähnlich äußert sich Bultmann auch in: Geschichte, 126f.: Die „drei Tage" sprächen eher für einen mythologischen als für einen apokalyptischen Hintergrund des Wortes. 2 Reichlich belegbar ist die Siebenzahl im Danielbuch: Dan 4, 13.20.22.29; 9, 24f. 3 J. Weiß, Die drei älteren Evangelien, 214. 4 „.. aber daß er selbst dabei Hand anzulegen gedacht hätte, widerspricht seiner ganzen Art vollkommen" (ebd.). 5J.Jeremias, Drei-Tage-Worte, 221-229. 6 J. Jeremias, Drei-Tage-Worte, 222. 7J.Jeremias, Drei-Tage-Worte, 222-226.

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Motivgeschichtlicher Teil

zuführen 8 , noch läßt sich ein jesuanischer Ursprung der übrigen genannten Logien wahrscheinlich machen9, so daß der von Jeremias gegebenen Deutung der Texte der Boden entzogen ist.10 Ferner bringt es die von Jeremias versuchte vorösterliche Datierung der Logien mit sich, daß Jeremias in Lk 13, 33 lediglich eine nur „von bitterer Ironie getragen(e)"11 Ankündigung des prophetischen Martyriums erkennen kann, weswegen er dieses Logion in der folgenden Diskussion geflissentlich übergeht. Die beiden Logien Lk 13, 32.33 sind jedoch in wechselseitiger Korrespondenz zu lesen (wozu formal durch die hier in besonderer Weise formulierte Dreitagesfrist Anlaß gegeben ist), die in V. 32 angesagte Vollendung meint nicht das Weltende - schließlich sagt Jesus hier von sich selbst, er werde vollendet sein - sondern das in V. 33 angekündigte Kreuzesschicksal, und somit den Gesamtzusammenhang von Passion und Ostern. Die Dreitagesfrist der Sondergutstradition Lk 13, 31-33 zielt somit letztlich auf das Ostergeschehen ab und scheint daher zumindest mittelbar vom urchristlichen Auferstehungskerygma l.Kor 15, 3b-5 abgeleitet zu sein. Als naheliegend erscheint die Deutung der Dreitagesfrist von der Auferstehung Christi am dritten Tage her, zumal schon der Evangelist Johannes das Tempelwort als Hinweis auf die Auferstehung interpretiert.12 Entsprechend sah H.E.G. Paulus13 im Tempelwort Jesu selbsteigene Ankündigung seiner Auferstehung nach drei Tagen, die von den Zeugen vor dem Synhedrium mißverständlich und verzerrt wiedergegeben worden sei. J. Weiß hielt es für möglich, daß vor Johannes auch schon der Evangelist Markus das Tempelwort als Hinweis auf die Auferstehung Jesu aufgefaßt habe - eben aufgruna der „drei Tage"14; nach G.

8 Vgl. die diesbezüglichen Untersuchungen im ersten Teil dieser Studie. 9 A. Denaux, L'hypocrisie, 2 4 5 - 2 8 5 , sieht nach eingehender Analyse der Perikope in Lk 13, 32.33 keine authentische Jesustradition vorliegen; vorsichtiger, wenn diesbezüglich auch ohne wirkliche Argumente gegen Denaux, formuliert M. Rese, 221, „daß Luk. X I I I , 3 1 - 3 3 auf keinen Fall in seinem gesamten Umfang authentisches G u t bietet." Ahnlich, ebenfalls in Auseinandersetzung mit A . Denaux, sieht J . A . Fitzmyer in den Versen „the picture of the Lucan Jesus, sketched with hindsight by the evangelist" (1030). Anders jetzt J. Becker, Jesus, 415f., der in L k 13, 33 (Prophetenschicksal) eine sekundäre, wohl lukanische Interpretation des authentischen Logions 13, 32 sehen möchte, mit dem Jesus die relative Unabhängigkeit seines - von ihm durchaus vorhergesehenen - Todes von den Nachstellungen des Herodes habe hervorheben wollen. Jedoch w i r k t die von J. Becker vorgenommene Rekonstruktion von Jesu selbsteigener Deutung seines bevorstehenden Todesschicksals, die im folgenden am eschatologischen Wort Mk 14, 25/Lk 22, 18 (vgl. J. Becker, Jesus, 4 1 8 - 4 2 1 ) orientiert ist, letztendlich wenig konkret, so daß mit den o.g. Exegeten auch für Lk 13, 32 besser von einer nachösterlichen Entstehung ausgegangen werden sollte. 10 So auch M. Rese, 222. 1 1 J . Jeremias, Drei-Tage-Worte, 224. 12 Joh 2, 1 8 - 2 2 ; vgl. Abschnitt 1.4. dieser Studie. 13 H.E.G. Paulus, 6 6 5 . 14 J. Weiß, Das älteste Evangelium, 314.

D i e Dreitagesfrist

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Delling 1 5 u n d L. Schenke 1 6 „dürfte" - sowohl im Kontext der vormarkinischen Redaktion des Passionsberichts als auch auf der Stufe der Tradierung des Tempelworts als isoliertes Logion - „mit der Zeitangabe klar auf die Auferstehung angespielt sein." 17 Wie die vormarkinische Redaktion intendiert habe, den Vollzug des Gerichts ü b e r den Tempel Israels mit d e m Kreuzestod Jesu zu identifizieren 1 8 , so meine der andere Tempel des Tempelwortes die in der neuen Heilsordn u n g an die Stelle des Jerusalemer Kultus getretene christliche Gemeinde, die sich in drei Tagen, also in der u n d durch die Auferstehung ihres H e r r n , begründet weiß. 1 9 Eine weitere Variante des Verständnisses der Dreitagesfrist bietet J.R. Sauer 2 0 : D i e Frist von drei Tagen stelle „einen Bezug z u m Osterereignis" 2 1 her u n d sei dem ursprünglichen Tempelwort (dessen Entstehung Sauer freilich erst k u r z vor dem Jahre 70 ansetzt ) redaktionell hinzugefügt worden, u m die konkreten, mit der Tempelzerstörung verbundenen H o f f n u n g e n der zeitgenössischen Christen in einem den „ekklesiologischen Aussagen im f r ü h e n Christentum konvergenten" Sinne zu korrigieren. 2 3 Leider f ü h r t Sauer für seine m. E. zutreffende 2 4 A n n a h m e eines redaktionellen Hinzuwachsens der „drei Tage" noch auf der vorliterarischen E b e n e keine überzeugende Begründung an - mit Ausn a h m e seiner Schwierigkeiten, dem Tempelwort (incl. der Dreitagesfrist) einen möglichen historischen u n d theologischen O r t in der Urchristenheit vor dem Jahre 70 zuzuweisen. 2 5 Hingewiesen werden soll hier jedoch darauf, daß Sauer im Z u s a m m e n h a n g seiner Argumentation gerade die Dreitagesfrist als geprägten u n d im frühen Christentum unmißverständlichen Verweis auf das Osterereignis auffaßt. Gegen einen Bezug der Dreitagesfrist auf die Ostertradition sind jedoch sprachliche A r g u m e n t e eingewendet worden. D a ß die „drei Tage" auf die Auferstehung Christi abzielten, ist nach R. Bultmann „sehr unwahrscheinlich; denn es wäre zu erwarten, daß es dann nicht hieße έν τρισί ήμέραις d.h. „im Verlauf von drei Tagen" (so auch M k 1529 par.; gleichwertig δια τριών ήμ. M k 14ss par.), sondern μετά τρεΤς ήμ. (Mk 831 93ΐ IO34) [sic!] M t 2763) bzw. τ. τρίτη ήμ. (IKor 154

15 G. Delling, 219, ordnet die gesamte Tempelwort-Tradition Mk 14, 58 par; Mk 15, 29 par den Aussagen über die Auferweckung Jesu zu. 16 L. Schenke, Christus; zu Schenkes Position vgl. Abschnitt 1.1.3. dieser Studie. 17 L. Schenke, Christus, 36; ihm folgen J. Gnilka, Markus, Bd. 2, 280, und U. Sommer, 141f. 18 Mk 15, 38; vgl. hierzu L. Schenke, Christus, lOOf. 19 L. Schenke, Christus, 142f. 20 J.R. Sauer, 443ff. 21 J.R. Sauer, 443A24. 22 In Kreisen enthusiastischer Propheten, J.R. Sauer, 451. 23 J.R. Sauer, 443; vgl. weiter 444f.451f. 24 Vgl. Abschnitt 2.4. dieser Studie. 25 Vgl. J.R. Sauer, 444; dieses Problem schafft sich Sauer mithin selbst, da er in einem καταλύειν des Jerusalemer Tempels nur dessen physische Vernichtung sehen kann.

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Motivgeschichtlicher Teil

Mt I621 u.s.w.)." 26 Entsprechend wird die Dreitagesfrist seit H . A . W . Meyer 2 7 lediglich als für einen Tempelbau überraschend kurze Zeitdauer verstanden. 28 Einen weiteren Rückhalt findet dieses Verständnis der Dreitagesfrist bei den Uberlegungen von J.B. Bauer 29 und J. Jeremias 30 : Da im hebräisch-aramäischen Spracnraum weder ein Äquivalent des deutschen Zahlwortes „einige" (bzw. des lateinischen „aliquot") existiere, noch ein Begriff zur Wiedergabe von „Zeit" im durativen Sinne, diene die Dreitagesfrist hier als gebräuchliche Wendung zur Umschreibung eines nicht allzu ausgedehnten, unbestimmten Zeitraumes; diese Zeitangabe sei stets als relative aufzufassen, d.h. es wird jeweils aus dem Kontext ersichtlich, ob die Zeitspanne als lang 31 oder als kurz 3 2 empfunden wird. Nach J.B. Bauer sind - mit Ausnahme von Acta 10, 40; 13, 30; l.Kor 15, 4 - alle neutestamentlichen Erwähnungen der Dreitagesfrist in diesem Sinne als relative Angaben zu interpretieren 33 , auch und gerade das Tempelwort; daß die Zeitangabe dieses Loeions an die von l.Kor 15, 4 erinnert, wäre nach Bauer also rein zufällig· 34 Schließlich ist noch die Interpretation der Dreitagesfrist von der Beheimatung der „Dreizahl in Mythus, Kult und Religion" 35 her zu nennen. Sie fand auf das Tempelwort bisher keine Anwendung, wohl aber auf die Auferweckungstradition l.Kor 15, 3b—5: Vor dem Hintergrund der immensen Belege der Drei in der Mythologie der Völker 36 suchte W. Bousset 37 nach einer möglichen Herleitung der in l.Kor 15, 4 gemachten Zeitangabe 38 und wurde im Osiris- bzw. At26 R. Bultmann, Johannes, 88(f.)A7; daß im markinischen Tempelwort nicht έν, sondern δ ι ά verwendet wird, macht für Bultmann also keinen Unterschied. 27 H . A . W Meyer, Matthäus, 447. 28 S o u.a. von B. Weiß, Matthäus, 525; E. Lohmeyer, Markus, 327; W . G . K ü m mel, Verheißung, 61; R. Pesch, Das Markusevangelium, 434. 29 J.B. Bauer, 3 5 4 - 3 5 8 . 30 J. Jeremias, Drei-Tage-Worte, 226f. 31 S o 2 . C h r 20, 25: die Kriegsbeute Josaphats war so umfangreich, daß man drei Tage (= langer Zeitraum) brauchte, um sie aufzuteilen. 32 So 2 . K ö n 20, 5: schon in drei Tagen wird Hiskia genesen sein und den Tempel aufsuchen können. 33 J.B. Bauer, 357. 3 4 Hingegen scheint J. Jeremias den Zusammenhang von - nach seiner Auffassung ja zur eschatologischen Verkündigung Jesu gehöriger - „relativ" gebrauchter Dreitagesfrist des Tempelworts und l . K o r 15, 3 b - 5 so zu sehen, daß Jesus auch eine Totenauferstehung nach drei Tagen angekündigt habe, vgl. Drei-Tage-Worte, 228f.; zu Jeremias' Argumentation vgl. das oben Ausgeführte. 35 J.B. Bauer, 354. 36 Einen ersten Überblick vermittelt A. Jeremias, 6 6 3 ; weiter vgl. R. Mehrlein, 2 6 9 - 3 1 0 ; vgl. auch K . - M . Beyse, lOOff. (Dreizahl im Märchen); auf die diesbezügliche zeitgenössisch-postmoderne Interpretation durch U. Eco, 4 2 4 - 4 2 6 , sei hier immerhin hingewiesen. 37 W. Bousset, K y r i o s Christos, 24f. 38 Deren in der Tradition selbst gegebenen Hinweis auf „die Schriften" und somit wohl auf Hos 6, 2 hielt W. Bousset allein für nicht tragend: „Daß aber dieses

D i e Dreitagesfrist

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tiskult fündig, wo die Auferstehung der zuvor verstorbenen Gottheit auf den dritten Tag fällt. Ahnlich versuchte F. Nötscher 3 9 , den altorientalischen InannaMythos für die Herleitung der neutestamentlichen Dreitagesfrist fruchtbar zu machen, verblieb jedoch „vorläufig ohne weiterführendes Ergebnis." 4 0 Generell dürfte der Verweis auf in der orientalischen Mythologie bestehende Analogien wenig für den neutestamentlichen Gebrauch der Dreitagesfrist sowie deren möglichen theologischen Gehalt austragen.

U m nun den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der im Tempelwort begegnenden Dreitagesfrist zu erhellen, ist eine Analyse der biblischen Belege41 erforderlich: Ahtestamentliche

Voraussetzungen

I m Alten Testament 4 2 begegnet eine Dreitagesfrist 26mal, ebenfalls 26mal ist von einem Geschehen am dritten Tage die Rede. A n Schwerpunkten und Schlaglichtern seien genannt: - Die Dreitagesfrist als Fastenzeit, vornehmlich in jüngeren Texten. 4 3 - D e r dritte Tag als Abschluß einer Notzeit durch Gottes heilschaffendes 44 Ein " r n. - F , das von einem Dankopfer übrig bleibt, darf vom dritten Tage an nicht mehr verzehrt werden. 4 5

ganze Datum aus jener einen verborgenen Stelle der alttestamentlichen Prophetie herausgelesen sein sollte, ist im höchsten Grade unwahrscheinlich" (Kyrios Christos, 24); heute anders G. Lüdemann, Auferstehung, 69f. 39 F. Nötscher, 313-319. 40 F. Nötscher, 319. 41 Daß hier, wie auch im folgenden, der Gebrauch einer Dreitagesfrist und die Angabe „am dritten Tage" zusammen betrachtet werden sollen, begründet sich aus dem synonymen Gebrauch beider Konstruktionen (vgl. Jos Ant 7, 280f. sowie die synoptischen Leidensankündigungen Mk 8, 31 par Mt 16, 21); dieser geht letztlich auf die Besonderheit der jüdischen Tageszählung zurück, nach der auch eine von einem Ereignis nur partiell betroffene Zeiteinheit zu einer Frist als ganze hinzugerechnet wird [so auch bNaz 5b: „Ein Teil des Tages gelte als ganzer"]; auf diese Weise summieren sich vom Abend des Karfreitags bis zum Morgen des Ostersonntags „drei Tage" während die Auferstehung zugleich als „am dritten Tage" geschehen ausgesagt werden kann.

26.

42 Hier inclusive der von der L X X gebotenen Apokryphen. 43 Ex 19, 10f.l4-17 sowie Esther 4, 16; Tob 3, 12; 2.Makk 13, 12; auch lQSa 1,

44 Gen 22, 4; 42, 17; Ex 19, 11.16; 2.Kön 20, 5.8; Esther 5, 1 - 3 ; Hos 6, 2; Jona 2, 1; betont wird diese Tradition von K. Lehmann, 176-181.262-290; neben den oben aufgeführten Belegen beruft sich Lehmann v.a. auf die rabbinische Interpretation dieser Texte in GenR 56.91 [„Niemals läßt Gott die Gerechten länger als drei Tage in Not" (GenR 91; vgl. K. Lehmann, 263)]. 45 Lev 7, 15-18; 19, 5 - 8 .

172

Motivgeschichtlicher Teil - Der Zweite Tempel ist laut Esra 6, 15 am dritten Adar des sechsten Jahres des Darius fertiggestellt worden. 46 - In neutestamentlicher Zeit läßt sich auch in der jüdischen Literatur die auch andersweitig begegnende 47 Vorstellung wiederfinden, daß die Seele eines Verstorbenen erst nach einer Frist von drei Tagen völlig vom Körper gelöst ist und entsprechend der Leichnam nun begraben werden kann. 48 - Ebenfalls in neutestamentlicher Zeit wird Hos 6, 2 („er wird uns am dritten Tage aufrichten") auf die allgemeine Totenauferstehung hin interpretiert. 49

In der nachösterlichen Tradition des Tempelwortes wirken die genannten alttestamentlichen Motive jedoch nur mittelbar fort.

Analyse des neutestamentlichen Bestandes In der Formulierung δια τριών ήμερων begegnet die Dreitagesfrist im N T

nur im Tempelwort (Mk 14, 58 par Mt 26, 61); ebenso begegnet die

46 Freilich liegt hier genau genommen keine Dreitages/r/if vor. 47 W. Bousset, Kyrios Christos, 25, verweist auf die „persische Eschatologie" redet aber von einem gemeinanthropologischen Phänomen. 48 TestHi 53, 7; TestAbrA 20; vgl. auch Joh 11, 39. 49 Belege hierzu bei H.K. McArthur, 197-200; der Vers ist Bestandteil eines prophetischen Umkehrliedes, in dem der Prophet dem Volk Heilung von den erlittenen Gebrechen verheißt. Gegen B.M. Metzger, 128f., ist in diesem Vers auch der alttestamentliche Bezugspunkt der in der Auferstehungs-Formel l.Kor 15, 3b-5 begegnenden Wendung έγήγερται tfj ήμερα trj τρίτη κατά τάς γραφάς zu sehen [mit G. Delling, 219; P. Stuhlmacher, Evangelium, '270f. samt 271A1; H.K. McArthur, 197-202; Chr. Wolff, Der erste Brief, 165; G. Lüdemann, Auferstehung, 70]; einen Uberblick über die geläufigen Interpretationen von l.Kor 15, 4b vermittelt Chr. Wolff, Der erste Brief, 162-165; die erste explizite Deutung von l.Kor 15, 4b auf Hos 6, 2 findet sich bei Tertullian [Adversus Marcionem, IV, 43 (CChr 1, 661); Adversus Judaeos, 13 (CChr 2, 1389)]; daß sich im gesamten Neuen Testament kein weiterer Beleg von Hos 6, 2 im Zusammenhang mit der Auferstehung Jesu nachweisen läßt, kann nicht als Einwand gegen eine Abhängigkeit von l.Kor 15, 4 von Hos 6, 2 angeführt werden (gegen B.M. Metzger, 128f.), da uns - sieht man von der Tradition l.Kor 15, 3b-5 und vielleicht wenigen anderen Logien ab - im Bereich des Neuen Testaments keine weiteren Zeugnisse von den Christen der allerfrühesten nachösterlichen Stunde und ihrer Gedankenwelt überliefert sind; in den nicht mehr vorliterarischen Kreisen, deren Glaubensaussagen sich in einem für uns heute noch faßbaren Rahmen literarisch niederschlugen, mag dann die zeitgenössische jüdische Interpretation von Hos 6, 2 in der Tat für die Deutung von Jesu Auferweckung keine Rolle mehr gespielt haben. - Freilich könnte der Plural „nach den Schriften" als Argument gegen eine Bezugnahme von l.Kor 15, 4b speziell auf Hos 6, 2 angeführt werden.

Die Dreitagesfrist

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Wendung έν τριοίν ήμέραις nur im Zusammenhang des Tempelwortes (Mk 15, 29 par Mt 27, 40; Joh 2,19f.) 50 Eine Dreitagesfrist kann weiterhin mit dem Akkusativ der Ausdehnung gebildet werden — τρεις ήμέρας bzw. ήμέρας τρεις (Mt 12, 40; Acta 9,9; 28, 7.12): - Mt 12, 40: - Acta 9, 9: - Acta 28, 7: - Acta 28,12:

Jona war drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches; entsprechend der Menschensohn im Schoß der Erde. Saulus kann drei Tage lang nicht sehen. Publius beherbergt Paulus drei Tage lang auf Malta. Paulus und seine Begleiter bleiben drei Tage lang in Syrakus.

Ebenfalls im Akkusativ, aber mit μετά konstruiert (μετά τρεις ημέρας b z w . μετά ήμέρας τρεις), begegnet die Dreitagesfrist in M t 27, 63; M k 8,

31; 9, 31; 10, 34; Lk 2, 46; Acta 25, 1; 28, 17: - Mt 27, 63: -

Nach Angabe des Hohepriesters hat Jesus angekündigt, nach drei Tagen aufzuerstehen. M k 8, 31; 9, 31; 10, 34: Leidensankündigungen; der Menschensohn wird nach drei Tagen auferstehen. Lk, 46: Nach drei Tagen finden Jesu Eltern ihr Kind im Tempil auf. Acta 25,1: Drei Tage nach seiner A n k u n f t in Judäa zieht Festus von Caesarea nach Jerusalem hinauf. Acta 28,17: Drei Tage nach seiner Ankunft in Rom ruft Paulus die N o tablen der Juden zusammen.

Äußerst spärlich belegt ist im Neuen Testament die nominativische Wendung ήμέραι τρεις (Mk 8, 2 par Mt 15, 32)S1; ebenso die im lukanischen Sondergut begegnende Konstruktion οήμερον και αυριον και τη τριτη/τη έχομένη (Lk 13, 32.33): - Mk 8, 2 par Mt 15, 32: Schon drei Tage hat das Volk bei Jesus ausgeharrt, ohne zu essen.

50 Acta 10, 40 noch έν τη τρίτη ήμέρα. 51 Nach J.C. Doudna, 74-76, geht der nominativische Gebrauch auf die wörtliche Übertragung einer ursprünglich semitischen Vorlage zurück.

Motivgeschichtlicher Teil

174 - Lk 13, 32: - Lk 13, 33:

Jesus will am dritten Tage vollendet sein. 52 Heute, morgen und am dritten Tag muß Jesus noch wandern, 53

um in Jerusalem umzukommen.

Sachlich in diesen Zusammenhang gehört auch die Rede v o m „dritten Tag", schon zumal sie in den synoptischen Varianten der Leidensankündigungen das μετά τρεις ήμέρας des M k substituiert hat S 4 ; die mit d e m dativus temporis gebildete Wendung xrj τρίτη ήμέρα bzw. τη ήμέρα τη τρίτη findet sich s s in M t 16, 21 par L k 9, 2 2 ; M t 17, 2 3 ; 2 0 , 19 par L k 18, 33;' M t 27, 6 4 ; L k 2 4 , 7.21.46; J o h 2, 1; A c t a 10, 4 0 ; 27, 19 5 6 ; l . K o r 15, 4: - Mt 16, 21 par Lk 9, 22: 1. Leidensankündigung; der Menschensohn wird am dritten Tage auferstehen. - Mt 17, 23:

2. Leidensankündigung; der Menschensohn wird am drit-

ten Tage auferstehen. - Mt 20, 19 par Lk 18, 33: 3. Leidensankündigung; der Menschensohn wird am dritten Tage auferstehen. - Mt 27, 64:

Pilatus soll bis zum dritten Tag das Grab Jesu bewachen

- Lk 24, 21:

lassen. Jesus hatte den Jüngern seine Auferstehung am dritten Tage vorhergesagt. Am dritten Tag nach der Kreuzigung reden die Emmaus-

- Lk 24, 46:

Jünger mit dem Auferstandenen. Nach der Schrift mußte Christus leiden und am dritten

- Joh 2 , 1 :

Tage auferstehen. Am dritten Tag [nach Jesu Gespräch mit Philippus] findet

- Acta 10, 40: - Acta 27,19:

die Hochzeit zu Kanaa statt. Gott hat Jesus am dritten Tage auferweckt [Petruspredigt]. Am dritten Tag des Unwetters wirft die Schiffsbesatzung

- l.Kor 15, 4:

Schiffsgerät über Bord. Urchristliche Auferweckungsformel: Christus wurde am

- Lk 24, 7:

dritten Tage auferweckt nach der Schrift.

52 Zur inhaltlichen Diskussion vgl. das oben zu J. Jeremias, Drei-Tage-Worte, Ausgeführte. 53 Zur inhaltlichen Diskussion vgl. das oben zu J. Jeremias, Drei-Tage-Worte, Ausgeführte. 54 Vgl. hier auch das oben Anm. 41 Angemerkte. 55 Kontextbedingt in leichter Variation in Mt 27, 64; Joh 2, 1; Lk 24, 7. 56 Nur τη τρίτη.

Die Dreitagesfrist

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Wie die Sichtung der Texte ergibt, wird die Dreitagesfrist im überwiegenden Teil der Belege im Zusammenhang mit dem Ostergeschehen gebraucht, so zweimal Mt 12, 40; 16, 21; 17, 23; 20, 19; 27, 63f.; Mk 8, 31; 9, 31; 10, 34; Lk 9, 22; 13, 32f.57; 18, 33; 24, 7.21.46; Acta 10, 40; l.Kor 15, 4. Ein rein „profaner" Gebrauch zur Bezeichnung einer eben dreitägigen Zeitdauer, die mit dem Osterereignis in keinerlei Zusammenhang steht, begegnet lediglich in Mk 8, 2 par Mt 15, 32; Lk 2, 46; Joh 2 , 1 sowie den genannten Belegen aus der Apostelgeschichte mit Ausnahme von Acta 10, 40, wo in der lukanischen Petruspredigt ältere Tradition verarbeitet worden ist.58 Berücksichtigt man, daß die Erwähnung des „dritten Tages" in Joh 2, 1 im Zusammenhang der das erste Kapitel des Joh gliedernden Tageszählung steht59 und daß dem Lukas ein Hang zur Dreizahl 60 und auch zu aus je drei Zeiteinheiten bestehenden Fristen61 nachzuweisen ist und ferner die oben genannten Stellen sämtlich auf die Redaktion des dritten Evangelisten zurückgehen dürften62, so verbleibt - von Joh 2, 1 und der lukanischen Redaktion abgesehen - als einziger Beleg eines profanen Gebrauchs der Dreitagesfrist im Bereich des frühen neutestamentlichen Christentums die zur Wundergeschichte Mk 8, 1 - 9 gehörige Notiz Mk 8, 2. Für die traditionsgeschichtliche Betrachtung des Hintergrundes der im Tempelwort begegnenden Dreitagesfrist bedeutet dies, daß dem Satz G. Dellings: „Für die Urchristen-

5 7 Vgl. hierzu das oben im Zusammenhang mit J. Jeremias, Drei-Tage-Worte, Angemerkte. 58 Vgl. R. Pesch, Apostelgeschichte, Bd. 1, 333.343f. 59 A m siebenten Tag findet auf der Hochzeit zu Kanaa das erste Wunder Jesu statt; gegen C . H . Dodd, 299f., und U. Schnelle, Tempelreinigung, 365, wird hier nicht auf die Auferstehung angespielt; J. Becker, Johannes, 1 2 7 - 1 2 9 , sieht in der Tagesangabe Joh 2, 1 „die kommentierende Hand von E" (127) am Werk und führt weitere Interpretationen der Zeitangabe an (129). Μ. E. sollte für das Verständnis der johanneischen „Woche" das Augenmerk verstärkt auf die übrigen (eine Rangfolge der Zeugen Christi begründenden) Zeitangaben gerichtet werden. 6 0 Den 24 Erwähnungen der Drei ( τ ρ ε ι ς ) im lukanischen Doppelwerk stehen bei M t , M k und Joh nur je 12, 6 und 3 entgegen; ähnlich τ ρ ί τ ο ς : 7 Belege bei Mt, 3 bei M k , 4 bei Joh, hingegen 10 bei L k und 4 in Acta. 61 Drei Jahre Lk 13, 7; drei Monate Lk 1, 56; Acta 7, 20; 19, 8; 20, 3; 2 8 , 1 1 ; drei Stunden Acta 5, 7; nach G. Delling, 219, verwendet die Apostelgeschichte in Verbindung mit einer Mehrzahl von Monaten ausschließlich die Dreizahl [mit Ausnahme v o n Acta 18, 11]. 62 Daß L k 2, 46 lukanisch-redaktionell ist, hat J. Jeremias, Sprache, 101.25f., gezeigt; recht ähnlich konstruiert ist beispielsweise auch Acta 28, 17 [zur Fortentwicklung diesbezüglicher lukanischer Sprache vgl. J. Jeremias, Sprache, 2 5 - 2 9 ] .

Motivgeschichtlicher Teil

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heit ist die Dreizahl durch die Ostertradition gegeben" 63 , zuzustimmen •

t

64

ist.

Unterteilt man den neutestamentlichen Befund in die Gruppen „Prosa" und „geprägtes Spruchgut" so wird dieses Ergebnis noch deutlicher: das neutestamentliche Spruchgut ist immer \on der Auferstehung her bestimmt 65 , in den erzählenden Passagen kann ein „profaner" Gebrauch der Dreitagesfrist vorliegen, insofern nicht auf das Osterereignis Bezug genommen wird. 66 Daß im Tempelwort geprägtes Spruchgut vorliegt, ist schon aufgrund der Einführung des Logions in Mk 14, 58 nicht zu bezweifeln. Es erscheint somit als durchaus berechtigt, die Auferstehung Jesu als tragenden Hintergrund der Dreitagesfrist des Tempelwortes anzusehen. N u n ist aber auf den Einwand R. Bultmanns 6 7 gegen eine christologische Deutung der Dreitagesfrist einzugehen, zumal Bultmanns diesbezügliche Gedanken die späteren Auslegungen des Tempelwortes nicht unwesentlich beeinflußten 6 8 : Wäre mit der Dreitagesfrist des Tempelworts auf die Auferstehung Christi angespielt, so könnte nach Bultmann mit dem neuerrichteten Tempel nur die christliche Gemeinde gemeint sein. 6 9 Jedoch hält es Bultmann für „senr unwahr-

63 G. Delling, 219. 64 Ein „relativer" Gebrauch der Dreitagesfrist, wie ihn J.B. Bauer, vertritt (s.o.), findet sich im N T also nur bei Lukas und evtl. in Mk 8, 2 par. 65 Tradition der Leidensankündigungen Mk 8, 31; 9, 31; 10, 34 samt synoptischen Parallelen; Mt 12, 40; Lk 13, 32f.; 24, 7.46; Acta 10, 40; l.Kor 15, 4. 66 So Mt 27, 63f.; Lk 24, 21 - daß die Dreitagesfrist (als Zeitangabe in Bezug auf die Auferweckung Jesu) hier mit der Erscheinung Jesu vor zwei Jüngern verbunden wird, zeigt, wie tief sich in der frühen Christenheit ein quasi synonymes Verständnis von Ostern und Dreitagesfrist einprägen konnte. 67 R. Bultmann, Johannes, 88(f.)A7. 68 So muß F. Hahn, Mission, zur Begründung seiner Interpretation der Dreitagesfrist als „einer kurzen eschatologischen Spanne" (29(f.)A3) lediglich auf R. Bultmanns im Johanneskommentar geäußerte Argumentation verweisen; neben den bereits oben genannten verstehen von den jüngeren Exegeten auch E. Lohse, χείρ, 426; Ε. Linnemann, 132, und W. Kraus, 228, die Dreitagesfrist des Tempelwortes lediglich als einen kurzen Zeitraum. 69 Demgegenüber ist auf W. Kraus, 163, zu verweisen, der in der vorpaulinischen Formel Rom 3, 25f.* eine frühchristliche, im Horizont des Judentums verbleibende Deutung des Ostergeschehens als Einsetzung Jesu zum endzeitlichen Heiligtum nachgewiesen hat. Auf den Zusammenhang dieser Tradition mit dem Tempelwort, den auch Kraus im zehnten Kapitel seiner Arbeit behandelt, soll in Abschnitt 2.5. dieser Studie kurz eingegangen werden; angemerkt sei hier nur, daß Bultmanns Schluß, ein von Jesu Auferstehung nach drei Tagen her verstandenes Tempelwort müsse die christliche Gemeinde als neuen Tempel im Blick haben, angesichts der von Kraus vorgelegten Ergebnisse keineswegs zwingend erscheint.

D i e Dreitagesfrist

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scheinlich" 7 0 , daß die Dreitagesfrist auf die Auferstehung abziele, da in diesem Fall die markinische Deklarierung des Logions als Falschzeugnis unverständlich wäre, da weiterhin die johanneische D e u t u n g des Wortes auf die Auferstehung in V. 21 belege, daß dieses Verständnis sekundär sei u n d da schließlich die Wendung έν τριοίν ήμέραις im Deutschen mit „im Verlauf von drei Tagen" wiederzugeben sei, die Auferstehung nach drei Tagen aber im N T gemeinhin mit μετά τρεις ήμέρας b z w . τη τρίτη ήμερα konstruiert werde. Indes erklärt sich die E i n f ü h rung des Tempelworts als Falschzeugnis aus der Eigenart der vormarkinischen Redaktion des Passionsberichts 71 , u n d die inhaltliche Interpretation einer Tradition durch die johanneische G e m e i n d e m u ß nicht ausschließen, daß diese Tradition schon auf einer früheren Stufe ihrer Uberlieferung ähnlich verstanden wurde. Zutreffend ist hingegen Bultmanns Feststellung, daß έν τριοίν ήμέραις mit „im Verlauf von drei Tagen" wiedergegeben werden m u ß . 7 2 Dies ist auch das Verständnis der johanneischen Perikope , in der der beachtlichen Zeitdauer des Tempelbaus von immerhin 46 Jahren die erstaunlich k u r z e Frist von drei Tagen gegenübergestellt wird. 7 4 Jedoch ist nicht nur der johanneische Kontext des Tempelwortes redaktionell, auch die Verwendung der Präposition ,,έν" geht auf die Redaktion des vierten Evangelisten zurück. 7 . Ursprünglich ist die Dreitagesfrist des Tempelwortes mit der Wendung δια τριών ήμερων angegeben worden, wie sie auch bei der vormarkinischen Rezitation des Logions in M k 14, 58 begegnet, δια mit Genitiv dient jedoch zur A n g a b e einer Zeitdauer unter finalem Aspekt; aus dem jeweiligen Kontext m u ß e n t n o m m e n werden, o b die durch das Verb bezeichnete H a n d l u n g während der Frist bis zu deren Ende 7 6 oder nach Verlauf der Frist 7 7 geschieht. 7 8 Es kann daher nicht behauptet werden, die im Tempelwort

70 R. Bultmann, Johannes, 88(f.)A7. 71 Die das Tempelwort keineswegs als unwahre Aussage verstanden sehen wollte, vgl. hierzu die Abschnitte 1.1.1.-1.1.3. dieser Studie. 72 Vgl. hierzu H.G. Liddell/R. Scott, 552; W. Bauer, 524f. 73 Und wohl auch das der vormarkinischen Redaktion des Passionsberichtes, die in Mk 15, 29 ,,έν" verwendet, während sie bei der wortgetreuen Wiedergabe des Tempelwortes in Mk 14, 58 ,,διά" gebraucht. 74 M.E. liegt - gegen die oben genannte Position v.a. von J.B. Bauer, - hier der einzige explizite neutestamentliche Beleg für den Gebrauch der Dreitagesfrist zur Bezeichnung eines „denkbar kurzen Zeitraum(s)" (E. Lohmeyer, Markus, 327) vor. 75 Vgl. Abschnitt 1.4. dieser Studie; Johannes konstruiert Zeitangaben vorzugsweise mit έν plus Dativ, so auch im folgenden Vers 20. 76 So Mk 5, 5; Acta 1, 3; Hebr 2, 15. 77 JosAnt 4, 209; Mk 2, 1; Acta 24, 17; Gal 2, 1. 78 Vgl. hierzu W. Bauer, 359f.; Liddell/Scott, 389; H. Menge, 166; auch nach J.Jeremias, Drei-Tage-Worte, 222, „kann δια τριών ήμερών sowohl den Zeit räum der drei Tage als auch den Zeitpunkt nach ihrem Ablauf meinen" [Hervorhebungen im Text], wobei im Zusammenhang des Tempelwortes sowohl der antithetische Parallelismus als auch mehr noch der apokalyptische Stil die Bedeutung ,nach Ablauf von drei Tagen' forderten (ebd.); vgl. auch J. Weiß, Die drei älteren Evangelien, 214: „Nur das ist klar: es heißt nicht, daß Jesus im Verlauf von drei Tagen einen neuen

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für die Zeitangabe gebrauchte Präposition schließe aus grammatikalischen Gründen eine Deutung auf die Auferstehung aus. Somit fällt aber auch der erwägenswerteste, freilich einseitig am johanneischen Text des Tempelworts gewonnene Einwand R. Bultmanns gegen die Annahme der Auferstehung Jesu als Hintergrund der hier begegnenden Dreitagesfrist dahin. 79 Ist es aber sprachlich möglich, daß die „drei Tage" des Tempelworts auf die Ostertradition anspielen, dann ist es auch wahrscheinlich, daß das Logion in seiner Zeitangabe bewußt auf die Auferstehung rekurriert, schon zumal die gesamte geprägte Spruchtradition des Neuen Testaments, der auch das Tempelwort angehört, die Dreitagesfrist nur im Zusammenhang der Auferweckung Jesu gebraucht. 80

Der traditionsgeschichtliche Hintergrund der Dreitagesfrist des Tempelwortes ist also die Auferstehung Jesu nach drei Tagen, wie sie auch in Mk 9, 31; Acta 10, 40; l.Kor 15, 4 u.ö. bezeugt wird. Somit ist G. Strecker darin beizupflichten, daß das Tempelwort „das christliche Bekenntnis zu Jesus Christus als dem nach drei Tagen Auferstandenen" reflektiert. 81 Damit ist bereits die inhaltliche Exegese des Logions angesprochen.

Tempel bauen werde, sondern nach Verlauf [Hervorhebungen im Text]; J. Weiß legt das Tempelwort hier freilich völlig anders aus. 79 Implizit war bei R. Bultmann scheinbar vorausgesetzt, daß zur Zeit der Abfassung des Tempelworts die Formulierungen der Tradition der Leidensankündigungen [μετά τρεις ήμέρας] oder des Auferstehungskerygmas [irj ήμερα irj τρίτη] bereits sprachprägend gewirkt hätten. Jedoch ist das Tempelwort, wie seine Gedankenwelt (Tempelerneuerung) verrät, sicherlich auf einer recht frühen Stufe christlicher Traditionsbildung anzusetzen; die Leidensankündigungen in ihrer jetzigen Gestalt sind jedoch durch das Hinzuwachsen der Auferstehungsaussage (samt Dreitagesfrist) zum Wort von der Dahingabe des Menschensohnes (Mk 9, 31a; vgl. auch Rom 4, 25) entstanden; daß sie zur Zeit der Abfassung des Tempelwortes auf die Formulierung der Dreitagesfrist hätten Einfluß nehmen können, ist somit höchst unwahrscheinlich. (Zur Genese von Mk 9, 31 vgl. W. POPKES, 163-165; sowie F. Hahn, Hoheitstitel, 46-53); auch l.Kor 15, 4 muß nicht sprachprägend auf die Formulierung der im Tempelwort begegnenden Dreitagesfrist gewirkt haben, zumal auch l.Kor 15, 3 b - 5 „bereits Ergebnis eines Abstraktions- und Reflexionsprozesses" (J. Roloff, Verantwortung, 125) ist und hier „bereits das verdichtete Ergebnis vorgängiger theologischer Denkprozesse" (ebd.) vorliegt, so daß „ein romantisches Wachstums- und Entfaltungsschema" (ebd.), nach dem sich quasi jede die Auferstehung Jesu betreffende Aussage von l.Kor 15, 3 b - 5 herleiten ließe, in die Exegese nicht hineingetragen werden sollte; grundlegend war für das frühe Christentum die Erfahrung der [nach drei Tagen geschehenen] Auferweckung Jesu; diese konnte in verschiedenen Formen und Zusammenhängen ausgesagt werden. 80 Vgl. das oben Ausgeführte. 81 G. Strecker, Passionsgeschichte, 237.

Exegese von Joh 2,19*

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2.4. Exegese von Joh 2, 19* N a c h d e m n u n die in ihm begegnenden Motive traditionsgeschichtlich verortet w o r d e n sind, kann die vermutlich älteste F o r m des biblischen Tempelwortes, die aus der vorjohanneischen, in J o h 2, 19 verarbeiteten Tradition 1 gewonnen wurde 2 und Καταλυθώ τον ναόν τούτον και δια τριών ήμερων οικοδομήσω αύτόν lautet, ausgelegt werden. Ein Rekurs auf die Forschungsgeschichte erweist sich f ü r die Auslegung von J o h 2 , 1 9 * als schwierig, da in der neutestamentlichen Forschung das Tempelwort in der Regel i m Z u s a m m e n hang eines übergreifenden T h e m e n k o m p l e x e s behandelt wurde; weiterhin w u r d e von den Verfassern zumeist auch eine v o m obigen Text abweichende Variante des L o g i o n s herangezogen und ausgelegt. E x e m p l a risch soll hier jedoch auf die Beiträge von R. A. H o f f m a n n und G. Theißen sowie die jüngeren Voten von K . Berger und F. Vouga eingegangen werden. R.A. Hoffmann veröffentlichte im Jahre 1914 in der Festschrift für G. Heinrici eine kurze Untersuchung zu Jesu Tempelwort , der ein grundsätzlicher apologetischer Zug - besonders im Hinblick auf die Interpretation des Logions bei E. Norden una J. Wellhausen4 - eignete. Aus den Varianten des Tempellogions bei Mt und Mk rekonstruierte Hoffmann eine dem oben für Joh 2,19* angenommenen Text sehr nahekommende Urfassung des Tempelwortes, die er allerdings der Quelle „Urmarkus" 5 zuordnete. Da Jesus jedoch offensichtlich wegen seines Messiasanspruchs hingerichtet worden sei6 und zudem im lukanischen Passionsbericht eine Zeugenanhörung vor dem Synhedrium fehle 7 , zog R.A. Hoffmann „die Geschichtlichkeit dieses ganzen Zeugenverhörs in Zweifel" 8 ; dennoch dürfte das Tempelwort durchaus als ein „Gerede unter den Juden" 9 publik gewe-

1 Im folgenden: Joh 2, 19*. 2 Vgl. Abschnitt 1.4. dieser Studie. 3 R.A. Hoffmann, 130-139. 4 R.A. Hoffmann, 136ff.; zu J. Wellhausens Position vgl. auch Abschnitt 1.1.1. dieser Studie. 5 R.A. Hoffmann, 131; weiter nahm Hoffmann eine unabhängige Tradierung des lukanischen Passionsberichtes von dieser „Matthäus-Markus-Tradition" (138) an. 6 R.A. Hoffmann, 137. 7 R.A. Hoffmann, 138. 8 R.A. Hoffmann, 139. 9 Ebd.

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sen sein, wie auch Mt 27, 40 par, das spätere Eindringen des Logions in den „Urmarkus" und schließlich die entschärfende bildliche Deutung des Wortes auf Jesu Leib 1 0 belegten. Einen Anhalt hatte das unter jüdischen Zeitgenossen verbreitete Tempelwort allerdings durchaus an der Verkündigung Jesu, da dieser sowohl das Ende des Tempels angekündigt hatte (Mk 13, 2 par) als auch die baldige Errichtung - in diesem Sinne interpretiert Hoffmann auch die Dreitagesfrist als kurzen Zeitraum 1 1 - eines neuen Tempels erwartete, da ein solcher aufgrund der alttestamentlichen Satzungen auch für das endzeitliche Gottesreicn konstitutiv sei. Wahrscheinlich habe auch ein Logion existiert, in dem Jesus diese beiden Hoffnungen zusammen geäußert habe 1 2 ; daß jedoch nicht Gott, sondern Jesus selbst Subjekt der bevorstehenden Tempelzerstörung und -erneuerung sein wollte, geht nach Hoffmann auf die Uberzeichnung durch die Juden zurück. 1 3 Neben der recht gelungenen Rekonstruktion der frühesten Form des Tempelwortes ist an Hoffmanns Ergebnissen hervorzuheben, daß auch er im Tempellogion kein authentisches Herrenwort sieht, wohl aber davon ausgeht, daß das Logion auf authentische Jesustradition rekurriert. Die Entstehung des eigentlichen Tempelwortes verortete Hoffmann, letztlich dem Kontext des Passionsberichtes (jüdische Zeugen und Spötter) folgend 1 4 , in jüdischen Kreisen, nicht zuletzt aufgrund der in seinen Augen bestehenden Anstößigkeit einer 1. Person Jesu; entsprechend wird auch der christlich-theologische Genalt der Dreitagesfrist übersehen. Unter einer eher soziologischen Fragestellung betrachtete G. Theißen das Tempelwort. D a es sich weder aus der jüdischen noch aus der frühchristlichen Tradition ableiten lasse 15 und da es andererseits gut zur Tempelreinigung und zur

10 Joh 2, 19-21; vgl. Hoffmann, R.A. Hoffmann, 132f. 11 R.A. Hoffmann, 135. 12 Hierfür beruft sich Hoffmann auf eine hinter den textkritischen Varianten von M k 13, 2 stehende authentische Tradition (R.A. Hoffmann, 135f.); vgl. hierzu kritisch den Beginn von Abschnitt 1.5. dieser Studie samt Anm. 1; daß ein solches verschollenes Logion als Vorlage für das Tempelwort gedient habe, vermutet unter Berufung auf Hoffmann auch H . Wenschkewitz, 100; überhaupt folgt Wenschkewitz bei der Betrachtung von Mk 14, 58 im wesentlichen Hoffmann, vgl. H . Wenschkewitz, 97-101. 13 „Erst der Unverstand oder der böse Wille seiner Gegner hat ihn diesen Gedanken aussprechen lassen. Freilich zeigt sich auch in dieser Verzerrung des wahren Sachverhalts, welches souveräne Machtbewußtsein man ihm zugeschrieben hat" ( R A . Hoffmann, 134). 14 Seine Abneigung gegen literarkritische Operationen innerhalb des Passionsberichtes scheint Hoffmann auf den Seiten 136f. zu dokumentieren. 15 G. Theißen, Tempelweissagung, 144f.; nach G. Theißen ist eine Formulierung des Wortes durch einen frühchristlichen Propheten bzw. als vaticinium ex eventu deswegen ausgeschlossen, weil sich der zweite Teil des Logions, die Errichtung eines neuen Tempels, nie erfüllt habe. Implizit vorausgesetzt wird von Theißen hier, daß der Sprecher des Tempelwortes mit καταλύειν die physische Vernichtung des Tempels meinte und die Dreitagesfrist nicht auf die Auferweckung Jesu hindeute.

Exegese von J o h 2 , 1 9 *

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späteren Rückkehr der Jünger nach Jerusalem als dem O r t der von Jesus angekündigten eschatologischen Erfüllung passe 16 , sei das Wort wahrscheinlich jesuanisch. D a T h e i ß e n s Interesse hier eher ein sozialgeschichtliches ist, kann er diese Frage im folgenden unentschieden lassen; vieimenr geht es ihm in der folgenden „Faktorenanalyse" 1 7 darum, das Tempellogion in das Spannungsfeld von tempeltreuer Stadtbevölkerung und ländlicher Tempelopposition zu stellen, um in der anschließenden „Funktionsanalyse" 1 8 nachzuweisen, „dass die Tempelweissaeung nicht nur in der Aristokratie, sondern auch im einfachen Volk als Angriff auf den religiösen und materiellen status quo verstanden werden musste" 1 9 , zumal sie offensichtlich auch im Gegensatz zu den Interessen der Scharen von am Tempel beschäftigten Bauarbeitern stand 2 0 , die auf einen nicht mit H ä n d e n gemachten Tempel begreiflicherweise keinen gesteigerten Wert legten. Während die Jerusalemer Führungsschicht primär durch den „politischen Aspekt der Jesusbewegung, der mit dem Messiasgedanken gegeben war" 2 1 , beunruhigt wurde, sprach aas Tempelwort im einfachen Volk ökonomisch bedingte Existenzängste an. „Falls etwas Richtiges daran ist, dass die Aristokratie die M e n g e mit Erfolg gegen Jesus aufgehetzt hat (Mark. 15,11), so hätte sie in der Tempelweissagung ein hervorragendes Mittel dazu besessen." 2 2 Falls diese Perikopen des Passionsberichtes jedoch unhistorisch seien, ließe sich die anhaltende Virulenz des Tempelwortes in der Urchristenheit durch die von T h e i ß e n dargelegten politischen und soziologischen Zusammenhänge erklären. T h e i ß e n s Fragestellung ist hier wie gesagt eine sozialgeschichtliche, eine mögliche christologisch-soteriologische Implikation des Tempellogions k o m m t in seiner Untersuchung daher nicht in den B l i c k . 2 3 Wenig er von Bedeutung ist für T h e i ß e n daher auch die Frage nach der frühesten Textform des Wortes oder nach dem speziellen Gehalt der in ihm begegnenden Motive, ebenso, zumindest nach eigenem Bekunden, auch die Frage nach dem historischen O r t des Logions, wiewohl T h e i ß e n s Einordnung des Tempelwortes freilich nur greifen kann, wenn das Wort in Jerusalem oder im nächsten U m k r e i s formuliert wurde, also vom irdischen Jesus oder der frühesten, noch mit Jerusalem verbundenen Gemeinde.

16 G. Theißen, Tempelweissagung, 145. 17 G . Theißen, Tempelweissagung, 144; vgl. 146-153. 18 G. Theißen, Tempelweissagung, 144; vgl. 153-157. 19 G. Theißen, Tempelweissagung, 144. 20 G. Theißen, Tempelweissagung, 155f. 21 G. Theißen, Tempelweissagung, 157. 22 Ebd. 23 Dem religiösen Gehalt des Tempelwortes kann Theißen aufgrund seiner Fragestellung nur wenige abschließende Zeilen widmen: „Abschließend sei betont, dass die Tempelweissagung ihrer Intention nach den skizzierten sozialen Kontext transzendiert. Denn in ihr wird ja gerade die Sehnsucht nach einem Tempel laut, der unmittelbar von Gott stammt und nicht in das Netz menschlicher Interessen verflochten ist. Es ist die radikaltheokratische Sehnsucht nach Unmittelbarkeit Gottes, die sich in der basilefa-Verkündigung in politischer Metaphorik, in der Tempelweissagung in kultischer Metaphorik artikuliert hat" (G. Theißen, Tempelweissagung, 158).

Motivgeschichtlicher Teil

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Während Theißen aufgrund des Ansatzes seiner Untersuchung mögliche sozialpolitische Wirkungen des Tempellogions klar erfassen kann, muß er den in der Dreitagesfrist enthaltenen Bezug des Logions auf die Auferweckung Jesu übergehen und kann daher auch eine Entstehung des Wortes im Raum der frühen nachösterlichen Christenheit nicht annehmen; insofern die Dreitagesfrist jedoch auf Ostern zielt, wird man neben der sozialgeschichtlichen Relevanz des Tempelwortes auch seine theologisch-christologische Aussageintention zu berücksichtigen haben. F. Vouga24 betrachtet das Tempelwort im Zusammenhang der hellenistischchristlichen Rezeption des Radikalismus Jesu, der hier seinen Ort vor allem „in Verbindung mit der Gesetzesproblematik" gefunden habe. Das Tempelwort stelle auf programmatische Weise „eine Verbindung zwischen der Person Jesu und der Tradition des Tempels"26 her. Das Wort läge in zwei Varianten vor27, von denen die erste von der Gegenüberstellung von iraischem und eschatologischem, nicht mit Händen gemachtem Tempel rede (Mk 14, 58; 15, 29; Joh 2, 19), während die zweite Variante (also Mk 13, 2; Acta 6,14; EvTh 71) als Verkürzung der älteren, ersten Fassung zu sehen sei und „an eine jüdische bzw. hellenistische Tradition"28 anschließe, „nach welcher der Tempel in Jerusalem durch den Bau eines neuen Hauses für die letzten Zeiten ersetzt werden soll (äthHen 90,28f; Jub 1,15-18; TestBeni 9,2; llQTempel 29,8-10; Sib 5,414-433)." 29 Während dieser traditionsgeschichtliche Anschluß impliziere, daß ein wahrer Tempel im Himmel existiere und die Jerusalemer Kultstätte als dessen irdisches Abbild zumindest eine vorübergehende, wenn auch zuletzt durch Christus überholte Existenzberechtigung aufweisen könne, sei das eigentliche Tempelwort (Mk 14, 58/Joh 2, 19) in doppelter Hinsicht radikaler, da der irdische Tempel hier betont durch einen anderen, nicht mit Händen gemachten ersetzt wira und da weiter der neue Tempel hier rein metaphorisch gemeint sei - „.. der alte Opferkult wird durch keinen neuen wiederaufgenommen. Der neue Tempel ist kein Tempel." 30 - und die eschatologische Realität der Auferstehung Jesu bezeichne, die in ihrer Konsequenz den alttestamentlichen Kultus aufhebe: „Für die Sünden, die im Tempel und im Opferkult ihre Vergebung fanden, ist Jesus gestorben, so daß die Osterereignisse als Ende des Tempels und der kultischen Gesetze verstanden werden. ... Das Jesusereignis wird als Heilsereignis so gedeutet, daß der Tempelkult und die Heiligkeits-, Reinheits- und Abgrenzungsgebote ihre Funktion verlieren".31

24 F. Vouga, 25 F. Vouga, 26 Ebd. 27 F. Vouga, 28 F. Vouga, 29 Ebd. 30 F. Vouga, 31 Ebd.

54-57. 55. 55f. 56. 57.

Exegese von Joh 2 , 1 9 *

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Kritisch anzumerken ist, daß F. Vouga aufgrund seiner Abneigung gegen überzogene literarkritische Operationen auf eine genauere Differenzierung innerhalb der zweigliedrigen Tempelworttradition ( M k 14, 58/Joh 2 , 1 9 ) verzichtet; die für seine Interpretation des Tempellogions so wichtige Bezeichnung des Tempels als άλλον άχειροποίητον findet sich ausschließlich in M k 14, 58 und ist gegenüber der in Joh 2 , 1 9 vorliegenden Fassung sekundär. 3 2 Positiv hervorzuheben ist, daß Vouga den Bezug des Logions auf die Auferstehung Jesu und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für den Tempelkult sieht; allerdings ergibt sich für Vouga eine einseitig antithetische Bezugnahme des Osterereignisses auf den Tempelkult, was in der Konsequenz seiner Bestimmung von M k 14, 58 als Hauptvariante der Tempelworttradition liegt; 3 3 ferner übersieht Vouga hier, daß die zwischentestamentliche Tradition einer eschatologischen Tempelerneuerung 3 4 nicht nur den Hintergrund der „Kurzform" des Tempellogions bildet, sondern auch den von M k 14, 58/Joh 2, 19, und daß in dieser Tradition sehr wohl unterschieden wird zwischen dem (zu erneuernden) konkreten Tempel und der weiterhin in Gültigkeit stehenden kultischen Gesetzgebung, zumal diese die von ihr beschriebene Art der Gottesgegenwart auch im kommenden, „anderen" Tempel verbürgt. Auch K . Berger behandelt das Tempelwort Jesu im Rahmen seiner Theologiegeschichte. 3 5 Wie F . Vouga unterscheidet Berger zwischen einer eingliedrigen una einer zweigliedrigen Variante des Wortes 3 6 ; zwar verzichtet er auf die explizite Herleitung einer der beiden Formen aus der anderen, jedoch scheint er die Authentizität von M k 14, 58 oder zumindest einer sehr ähnlichen Tradition vorauszusetzen: 3 7 In einer bestimmten Phase der Verkündigung Jesu, in die auch die Tempelreinigung fällt, gerät der Tempel zum zentralen „Demonstrationsobjekt der Botschaft Jesu und vor allem seiner Vollmacht An Zerstören und Wiederaufbauen des Tempels kann Jesus die Abfolge von Unheils- und Heilszeit zeigen ( M k 14,58)." 3 8 D e r Zwölferkreis steht nach Berger „(ähnlich wie in Qumrantexten) für eine kultisch orientierte Auffassung des Zentrums eines neuen Israel." 3 9 Nach Jesu 32 Vgl. Abschnitt 1.8. dieser Studie; zu den Epitheta χειροποίητος/άχειροποίητος vgl. Abschnitt 2.5. dieser Studie. 33 Vgl. zum bewußt polemischen Gehalt von Mk 14, 58 die Auslegung dieser Variante in Abschnitt 2.5. dieser Studie. 34 Vgl. Abschnitt 2.2. dieser Studie. 35 K. Berger, Theologiegeschichte; zum Folgenden v.a. 131-149. 36 K. Berger, Theologiegeschichte, 604f. 37 Vgl. K. Berger, Theologiegeschichte, 605.587.144. 38 K. Berger, Theologiegeschichte, 605. 39 K. Berger, Theologiegeschichte, 132; Berger beruft sich hier auf den kultischen Charakter des himmlischen Jerusalems der Johannesapokalypse, in welchem die Apostel als Fundamente agieren, sowie auf die - der Tempelmetaphorik zuzurechnende - urchristliche Bezeichnung der drei Apostel Petrus, Johannes und Jakobus als ,,οτΰλοι" (Gal 2, 9) (ebd.); zum analogen Zwölferkreis in Qumran vgl. 1 Q S 8.

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österlicher Auferweckung fand der Zwölferkreis daher seinen O r t am Jerusalemer Tempel 4 0 , wo er geradezu als „Vollstrecker der eschatologischen Hoffnungen" 4 1 fungierte. D e r Bruch mit dem hellenistischen Flügel der Urgemeinde lag nun darin begründet, „daß die Hellenisten einen Ersatz der bestehenden Kultpraxis mit der Nennung des Namens Jesu verbanden und damit den Tempel als Sühneo r t . . . überflüssig machten." 4 2 D i e Hellenisten griffen hier Topoi philosophischer Tempelkritik auf (zu ihrem Schlagwort geriet das auch im Tempelwort begegnende „«χειροποίητος" 4 3 ) und interpretierten das ursprünglich escnatologisch gemeinte und auf das zukünftige Gericht bezogene Tempelwort Jesu einseitig kultkritisch. 4 4 „Die theologische Position der Hellenisten verdankt sich somit an einem entscheidenden Punkt der Umdeutung einer Jesustradition auf der Basis jüdisch-hellenistischer Tempelkritik." 4 5 Anzumerken ist zu Bergers Herleitung des Tempelwortes, daß er dessen Ursprung zwar beim irdischen Jesus verortet, aber über Form und Intention dieses frühesten Logions keine weiteren Aussagen trifft. Positiv hervorzuheben ist, daß Berger auch die in der frühen Christenheit bestehenden Anknüpfungspunkte an die Traditionen des Jerusalemer Heiligtums benennt (Zwölferkreis, Benennung eines Sühnortes) und so die Polemik gegen den jüdischen Kultus für Berger nicht der einzige mögliche Hintergrund des Tempellogions bleibt. Folgerichtig erscheint somit der Gedanke eines wechselhaften Interpretationsprozesses der Tempelüberlieferung innerhalb der von verschiedenen Flügeln bestimmten Urgemeinde, in den auch das Tempelwort Jesu einzuordnen ist.

Konsequenzen Wie bei dieser kurzen Ubersicht über einige Interpretationen des Tempelwortes in der neutestamentlichen Forschung deutlich wird, verstärkt sich bei den neueren Exegeten die Tendenz, auf eine genaue textliche Fi40 K. Berger verweist hier darauf, daß der Tempel auch der Ort der letzten Wirksamkeit Jesu gewesen sei (Theologiegeschichte, 133); seine weiteren diesbezüglichen Ausführungen „sind von einem gewissen Vertrauen zu den Berichten in Act 2 - 7 bestimmt" welches jedoch seine Plausibilität aus der Stimmigkeit der von Berger gebotenen geschichtlichen Rekonstruktion bezieht (ebd.). 41 K. Berger, Theologiegeschichte, 134. 42 K. Berger, Theologiegeschichte, 142. 43 K. Berger, Theologiegeschichte, 143. 44 K. Berger, Theologiegeschichte, 144; inwiefern bei dieser Uminterpretation auch eine Neuformulierung des Textes des Logions stattgefunden haben soll, läßt Berger trotz seiner Betonung des „hellenistischen" Hintergrundes des Adjektivs „«χειροποίητος" letztendlich offen. 45 K. Berger, Theologiegeschichte, 144; die außerordentliche Bedeutung, die der urchristlichen Tradierung der jesuanischen Worte über den Tempel aus diesem Grunde zukommt, betont Berger auch Theologiegeschichte, 134; in der Linie von Bergers Argumentation gerät Acta 6 - 8 zur „Kultätiologie" (145) der kultlosen Praxis der antiochenischen Christen.

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xierung der (frühesten) Tradition zu verzichten bzw. sich auf die Unterscheidung von eingliedriger und zweigliedriger Variante zu beschränken - zumal diese „Unscharfe" auch einen gewissen Freiraum für die Interpretation eröffnet, wie es beim Rekurs von F. Vouga auf das nur von Mk 14, 58 gebotene «χειροποίητος deutlich wird. Insofern der Bezug der Dreitagesfrist des Logions auf die Auferwekkung Jesu übersehen wird, können die „drei Tage" als recht kurzer Zeitraum für einen Tempelbau interpretiert werden und bleiben daher für die weitere Auslegung des Wortes faktisch ohne Belang. Wird dieser Bezug aber gesehen (so bei F. Vouga und wohl auch bei K. Berger), erscheint das Tempelwort als im wesentlichen nachösterliches Logion, und es stellt sich die Frage nach einem möglichen Rückbezug auf die Verkündigung des irdischen Jesus sowie nach dem theologischen Gehalt des Wortes. Hier geht F. Vouga von einer eindeutig polemischen Intention des Logions aus46 und begründet dies vor allem mit der Verwendung des Adjektivs „«χειροποίητος", das nach den Ergebnissen dieser Studie jedoch in der ältesten Variante des Tempelwortes nicht begegnet.47 Dieser - vom derzeitigen Kontext des Tempelwortes vorgezeichneten - Einschränkung des Blickwinkels auf den adversativen Gehalt des Wortes wird entgegenzuhalten sein, daß das Tempelwort zwar explizit von der Überwindung des Tempels redet, nicht aber von der der „Heiligkeits-, Reinheits- und Abgrenzungsgebote"48, und daß in Joh 2, 19* mit der Wendung ,,οϊκοδομήοω αυτόν" doch immerhin die Wiedererrichtung des gleichen Tempels angesagt wird, wenn dieser auch zugleich mit der Person des Auferstandenen identifiziert wird. Der Gehalt des Tempellogions dürfte daher vorrangig in dieser Identifizierung zu suchen sein und nicht in einer ebenso radikalen wie allgemeinen Kultkritik. Zu einem differenzierteren Urteil hinsichtlich der urchristlichen Tempeltradition gelangt K. Berger, jedoch wird bei ihm der neue Tempel mit dem Zwölferkreis und somit letztlich mit der auf Christus gegründeten Kirche identifiziert; diese Identifikation mag für die paulinisch/nachpaulinische Christenheit zutreffen, die Aussage des Tempelworts geht aber zuerst einmal dahin, daß nicht die Kirche, sondern der

46 Auch für G. Theißen steht der polemische Impetus des Tempelworts im Vordergrund, wenn er das Logion vor allem in seiner Funktion als „Mittel zum Aufhetzen der Massen" betrachtet, vgl. G. Theißen, Tempelweissagung, 157. 47 Vgl. Abschnitt 1.8 dieser Studie. 48 F. Vouga, 57.

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Auferstandene selbst mit dem von Gott begründeten Heiligtum gleichgesetzt wird. Eigene Auslegung Am Anfang der eigenen Auslegung des vorjohanneischen Tempellogions soll eine kurze Betrachtung des Wortes stehen. Das Wort lautet Καταλύσω ιόν ναόν τούτον και διά τριών ήμερων οικοδομήσω αυτόν

Es liegt ein zweigliedriges Logion vor, in dem die Verben καταλύω und οίκοδομέω in Opposition zueinander stehen.49 Beide Verben sind jeweils im Futur der 1. Person Singular formuliert, beide Male ist der Tempel Objekt der Handlung. Der zweite Versteil ist durch die Angabe διά τριών ήμερών temporal bestimmt. Formgeschichtlich wird das Tempelwort am ehesten der Gruppe der neutestamentlichen Vaticinien° zuzurechnen zu sein, worunter epideiktische51 „Texte zumeist kürzeren Umfangs, die sich auf künftiges Heil oder Unheil beziehen,"52 zu verstehen sind, „Heils- und Unheilsansagen, sofern sie außerhalb des Tat-Folge-Zusammenhanges stehen"53, deren Gültigkeit vor dem Eintreffen des angesagten Geschehnisses „in besonderem Maße an die Autorität des Verkündigers gebunden"54 ist.

49 Interessanterweise begegnen die beiden Verben in der L X X gemeinsam nur in Esra 5, 11-13, wo ebenfalls von der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch das Gericht Gottes [V. 12; gemeint ist die Zerstörung durch Nebukadnezar 587 v. Chr.] die Rede ist. 50 So K. Berger, Formgeschichte, 292. Genauer ordnet Berger das Tempelwort in die Gruppe der Vaticinien ein, in denen Unheils- und Heilsansage aufeinander folgen (ebd.), und stellt es hier in eine Reihe u.a. mit Lk 13, 35; 21, 12f. und Mk 8, 31; 9, 31; 10, 33f. Grundsätzlich ist dem zuzustimmen, während R. Bultmanns formgeschichtliche Einordnung des Tempellogions in die Gruppe der prophetischen und apokalyptischen Herrenworte (Geschichte, 126f.) schon dadurch schwierig ist, daß das Tempelwort nur von der johanneischen Redaktion ausdrücklich als Jesus-Logion bezeichnet wird. Bemerkenswert erscheint an Bergers analoger formgeschichtlicher Klassifizierung von Tempelwort und Leidensankündigungen weiterhin, daß für Mk 8, 31; 9, 31; 10, 33f. ebenfalls eine Dreitagesfrist konstitutiv ist und daß auch in den Leidensankündigungen das für die Zukunft angesagte Heilsereignis sich faktisch bereits ereignet hat. 51 Vgl. K. Berger, Formgeschichte, 24. 52 K. Berger, Formgeschichte, 289. 53 Ebd. 54 Ebd.; vgl. auch Formgeschichte, 295.

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Traditionsgeschichtlich prägend für solch „prophetische" neutestamentliche Logien ss dürfte die im Alten Testament begegnende Gottesrede gewesen sein56, in der Gott sein selbsteigenes zukünftiges Handeln kundtut. 7 Hier stellt sich die von R.A. Hoffmann 58 indirekt aufgeworfene Frage nach dem Subjekt des Tempelwortes. Mit der - immerhin bis hin zum Thomasevangelium reichenden — Tradition wird man, obgleich das Logion das „Ich" seines Sprechers ja nicht ausdrücklich nennt, wohl Jesus als Subjekt des Tempelwortes Joh 2, 19* anzunehmen haben. 59 Weitaus weniger wahrscheinlich ist, daß das Tempelwort in seiner in Joh 2, 19* gebotenen Form ursprünglich als Gottesrede, vermittelt durch einen geistbegabten christlichen Propheten, verstanden sein wollte 60 ; denn eine Tradierung von expliziter Gottesrede findet im Bereich des Neuen Testaments fast gar nicht statt61, und weiterhin wäre - läge in Joh 2, 19* eine Gottesrede vor - die nachweisbare Übertragung einer ursprünglichen Gottesrede in ein Herrenwort (so ja dann wohl Mk 14, 58 oder spätestens Joh 2, 19) absolut analogielos im gesamten NT.

55 Über Bergers oben genannte Belege hinaus sind an eigenständig tradierten Logien, in denen sich Unheils- und Heilsansage gegenüberstehen, noch Lk 13, 28f.; 13, 30 und 14, 11 zu nennen. 56 So auch K. Berger, Formgeschichte, 292, der besonders auf die späten Redaktionen der alttestamentlichen Prophetenbücher hinweist. 57 Eine zweigliedrige Ankündigung von Unheils- und Heilswirken Gottes liegt beispielsweise in Ex 20, 5f. und Hos 1, 6f. vor; in der prophetischen Tradition des A T finden sich zahllose Belege dafür, daß - in der Kraft prophetischer Vollmacht ein zukünftiges Handeln Gottes in direkter Gottesrede angesagt wird, so u.a. l.Kön 11, 31f.; Jes 22, 1 9 - 2 3 ; Jer 19, 14f.; Ez 5, 8-11; Hos 1, 4f.; Am 3, 13f.; Sach 8, 7 - 9 ; zur Form prophetischer Rede vgl. E. Sellin/G. Fohrer, 3 8 4 - 3 8 9 ; K. Koch, Formgeschichte, 2 5 1 - 2 7 0 ; J. Schreiner, 210-217; zu prophetischen Worten im Neuen Testament und deren alttestamentlichen Hintergrund vgl. H. Zimmermann, Formen, 232-234. 58 R.A. Hoffmann, 134. 59 Mit diesem Sprecher wäre auch der nach K. Berger, Formgeschichte, 289, für ein Vaticinium konstitutiven „Autorität des Verkündigers" (ebd.) genüge getan. Hingewiesen sei hier auch auf die phantasievolle Alternative von H . Greßmann, Problem, 189, der das Tempellogion als ein Wort des Zeloten Menachem auffassen wollte, in dem sich das übersteigerte messianische Selbstbewußtsein des Freiheitskämpfers eindrucksvoll dokumentiert habe. 60 Daß das in der vorliegenden Form überlieferte Tempelwort ursprünglich als geistvermittelte Gottesrede aus dem Munde eines christlichen Propheten stammt, vermuten u.a. J.R. Sauer, 455, und Th. Söding, 53. 61 Zu den wenigen Ausnahmen gehören Apk 21, 5 - 8 und die Himmelsstimmen M k 1,11; 9, 7.

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Nimmt man aber Jesus als Sprecher und Subjekt von Joh 2, 19* an, so scheint in diesem Logion eine logische Spannung vorzuliegen. Denn verweist Jesus hier auf seine Auferstehung in drei Tagen, dann überrascht das im zweiten Versteil begegnende αύτόν, da es betont auf denselben Tempel zurückverweist, dessen Ende im ersten Versteil angesagt wird und dort in V. 19a* ist offensichtlich, wie auch in Mk 13, 2, von einem konkreten Bauwerk die Rede. Impliziert also das αύτόν, daß hier die Wiedererrichtung des zuvor zerstörten irdischen Heiligtums thematisiert wird, so steht es in einem gewissen Gegensatz zur Dreitagesfrist, die unzweifelhaft auf die Auferweckung Jesu — und somit auf ein „anderes" Heiligtum - verweist. In der vormarkinischen Variante des Logions (Mk 14, 58) wird diese Spannung dadurch aufgehoben, daß zwischen einem „mit Händen gemachten" und einem „anderen, nicht mit Händen gemachten" Tempel unterschieden wird, also von zwei betont verschiedenen Heiligtümern die Rede ist. Da die sachlichen Schwierigkeiten von Joh 2, 19* in der „einfacheren Fassung" M k 14, 58 durch Hinzufügung zweier Epitheta gelöst werden, belegt dies nochmals den sekundären Charakter von Mk 14, 58 gegenüber Joh 2,19*.

Die interne Spannung des zweiten Versteiles gibt Anlaß zu einer literarkritischen Überlegung: Nimmt man δια τριών ήμερων als späteren, das Logion sekundär auf das Ostergeschehen ausrichtenden Zusatz an, so verbleibt als „Grundbestand" von Joh 2, 19* ein „Ur-Tempelwort" in der Form Καταλύσω τον ναόν τοΐίτον και οικοδομήσω αύτόν63 62 Wenn in Joh 2, 19* ausdrücklich von demselben Tempel die Rede ist, der binnen dreier Tage (wieder)errichtet werden soll, und nicht von einem ναός άλλος άχειροποίητος wie in Mk 14, 58, kann auf die Tempelwort-Variante Joh 2, 19* daher auch nicht die im Zusammenhang mit Mk 14, 58 häufig vertretene Deutung angewandt werden, nach der das „andere" Heiligtum die christliche Gemeinde bezeichnet; vgl. hierzu Abschnitt 2.5. dieser Studie. 63 Daß die Dreitagesfrist nicht zur frühesten Fassung des Tempelworts gehörte, vermutet auch R. Sauer, 444f.; allerdings kann sowohl seiner Rekonstruktion des (aus Mk 14, 58) gewonnenen Ur-Tempelwortes als auch seiner Verortung der Redaktion (Ausbleiben der Errichtung eines neuen Tempels nach der Tempelzerstörung im Jahre 70 [444]) nicht zugestimmt werden. Ähnlich vermutete D. Dormeyer, Passion, 159, die Wendung δια τριών ήμερών müsse redaktionell sein, da die Auferstehungsfrist traditionell mit μετά τρεϊς ήμέραις umschrieben werde; vgl. hierzu das in Abschnitt 2.3. dieser Studie Gesagte. Anzumerken wäre weiterhin, daß auch Log 71 des Thomasevangeliums die Dreitagesfrist nicht bietet; allerdings braucht dies nicht darauf hinzudeuten, daß der zum Thomasevangelium hinführenden Tradierung ein

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Das Logion, als dessen Subjekt und Sprecher aus den oben bezeichneten Gründen wiederum Jesus angenommen werden muß, kündigt in klarem, zweigliedrigem Aufbau die in der Zukunft liegende Zerstörung und Erneuerung des Heiligtums durch Jesus an. Setzt man voraus, daß dieses Logion in Abhängigkeit vom älteren, vermutlich authentischen Herrenwort Mk 13, 2 gebildet wurde, so sind hier bei der Formulierung des „Ur-Tempelwortes" zwei bemerkenswerte inhaltlich-theologische Grundentscheidungen gefällt worden. Erstens ist in diesem Logion Jesus selbst zum Handelnden der Endzeitereignisse geworden. Kündigte Mk 13, 2* die Tempelzerstörung noch durch die Rede im passivum divinum als Tat Gottes an, so ist es nun Jesus selbst, der den Tempel zerstören (und erneuern) wird. Somit wird hier auf den Erhöhten nachösterlich65 eine Tradition übertragen, die ursprünglich ein Gotteshandeln bezeichnete. Ermöglicht wurde diese Übertragung wesentlich durch die Formulierung von Mk 13, 2* in der 3. Person. Daß in der 3. Person formulierte Traditionen nachösterlich auf Jesus als ihren ursprünglichen Sprecher bezogen wurden - und dieser

„Ur-Tempelwort" in der oben rekonstruierten Form zugrundegelegen hätte; ebensogut kann die Dreitagesfrist im Verlauf der gnostisierenden Uberzeichnung des Wortes getilgt worden sein. 64 Von dieser bereits in Abschnitt 1.5. dieser Studie geäußerten These soll im folgenden ausgegangen werden. Daß das (sicher vor dem Jahre 70 formulierte, vgl. Abschnitt 1.5.) Wort Mk 13, 2* durchaus mit der Verkündigung des irdischen Jesus in Einklang steht, wird in Kapitel 3 dieser Studie zu zeigen sein; hier, bei der Betrachtung von Joh 2, 19*, wird im folgenden lediglich vorausgesetzt, daß der Sprecher von Joh 2, 19* (bzw. seiner Vorform Joh 2, 19* W ) das Logion Mk 13, 2* kannte und wohl auch als Wort Jesu ansah, zugleich aber über die pneumatisch-theologische Freiheit verfügte, an dieses Logion anknüpfend eine eigene christologisch-apokalyptische Aussage zu formulieren. Im übrigen gelten die im folgenden zur theologischen Intention von Joh 2, 19* W gemachten Aussagen zumindest sinngemäß auch dann, wenn der Sprecher von Joh 2, 19*(*' das Logion Mk 13, 2* gar nicht gekannt bzw. nicht vorausgesetzt haben sollte und die Nähe von Mk 13, 2 und Tempelworttradition rein zufällig wäre. 65 Gegen die Annahme, das oben rekonstruierte Logion sei vorösterlich gebildet worden und somit ein authentisches Herrenwort, spricht vor allem, daß es von seinem Sachgehalt her in Spannung steht zu dem Logion Mk 13, 2* (in dem sicherlich mit besseren Gründen eine authentische Jesus-Tradition vermutet werden kann als im oben rekonstruierten Joh 2, 19* W ), zugleich aber mit Mk 13, 2* verwandt ist (was auf eine literarische bzw. vorliterarische Abhängigkeit schließen läßt). Die erste Person Jesu paßt, wie im folgenden gezeigt werden soll, eher in die nachösterliche Zeit. Zu Jesu eigener Erwartung eines eschatologischen Geschehens am Tempel vgl. Kapitel 3. dieser Studie.

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somit zugleich das Subjekt des Sprechakts als auch den wesentlichen Gegenstand der Ausführung darstellt —, ist in den frühesten neutestamentlichen Stadien christlich-theologischer Reflexion in verschiedenen Kontexten zu beobachten, so bei den Gleichnissen Jesu 66 und im Zusammenhang der Menschensohnworte. 67 Im Zuge der frühen nachösterli66 Als Ergebnis seiner ausführlichen Betrachtung der neutestamentlichen Gleichnisse konstatiert H. Weder in seiner diesbezüglichen Monographie [Traditionsgeschichtliche Analyse der Gleichnisse dort 99-274], daß die Gemeinde im nachösterlichen Licht „die Gleichnisse Jesu fast ausnahmslos christologisch ausgelegt" (276) hat, indem sie entweder Metaphern für Gott als Metaphern für Jesus interpretierte (276f.; Weder verweist hier besonders u.a. auf Lk 15, 5; 18, 8 und den Bräutigam von Mt 25, 1-13) oder die Gleichnisse „nicht mehr als Gleichnisse über das Gottesreich, sondern über Jesus Christus versteht" (277, dort hervorgehoben; H. Weder rekurriert hier auf Mk 4, 3-9). Nach Weder geschah diese Uminterpretation mit innerer Notwendigkeit, da schon Jesus selbst die in seiner Gleichnisverkündigung zur Sprache kommende Nähe der Gottesherrschaft implizit mit seiner eigenen Person verbunden hatte und da die Gleichnisse somit zwangsläufig zur Interpretation des Osterereignisses, das ja eine durch die Person Jesu bestimmte neue Qualität der Nähe Gottes zur Welt begründete, herangezogen werden mußten (93-96). 67 Zur Diskussion um die Menschensohnworte vgl. die Darstellung in der jüngst erschienenen Monographie von A. Vögtle, Gretchenfrage; Vögtle selbst geht davon aus, daß die Rede von einem Menschensohn erst nachösterlich in den mit Jesus verbundenen Kreisen Aufnahme fand und im Zusammenhang mit dem im Maranatha ausgesprochenen Glauben an die Wiederkehr des Erhöhten steht [Entfaltung der These Vögtles, Gretchenfrage, 122ff.]; mit den für die Authentizität der Menschensohnworte sprechenden Argumenten setzt sich Vögtle, Gretchenfrage, 168-175 kritisch auseinander]. Auch W. Schenk verneint in seiner jüngst erschienenen, von semiotischer Methodik bestimmten Studie (Ich-Idiom) einen jesuanischen Ursprung der Rede vom Menschensohn (226; zum Folgenden vgl. auch Ich-Idiom, 226-231); vielmehr stammt der Begriff nach W. Schenk aus der Polemik gegen Jesus („abwertende Fremdbezeichnung von Opponenten für einen gewöhnlichen Menschen [in Antithese zu einer Autorisierung durch Gott]" 226), und auch Q gebraucht ihn nicht im Sinne einer christologischen Prädikation. Erst von Markus wird die polemische Bezeichnung „Menschensohn" aufgrund ihrer eher zufälligen Anklänge an Dan 7 positiv umgedeutet und im Sinne einer „Vindicatio des verworfenen Jesus" (229) für die markinische Christologie nutzbar gemacht. Mt betont dann stärker den auf das Endgericht bezogenen apokalyptisch-eschatologischen Aspekt der Menschensohn-Aussage, während Joh den Begriff eher inkarnatorisch füllt. - In der Bestreitung jedweden Zusammenhangs der Menschensohnworte mit der Verkündigung des irdischen Jesus stehen A. Vögtle und W. Schenk in der Tradition von Ph. Vielhauer: „Kein Menschensohnwort ist authentisch; Jesus hat den Menschensohn nicht verkündigt weder so, daß er sich mit ihm identifiziert, noch so, daß er einen anderen als Menschensohn erwartet hat" (Menschensohn, 133). Als Gegenposition innerhalb der (seriösen) wissenschaftlichen Exegese sei hier H. Bietenhards in ANRW 2 veröffentlichte Arbeit: Menschensohn, 265-350, genannt. Nach Bietenhard war es gerade der irdische Jesus, der den Menschensohn aus Dan 7, 13f. nicht mehr kollektiv auf das

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chen Übertragung v.a. apokalyptischer Traditionen [Menschensohn] auf die Person des Auferstandenen [und daher auch endzeitlich Wiederkommenden] dürfte auch die jesuanische Ansage einer Tempelzerstörung, wie sie in Mk 13, 2* tradiert war, bald als Aussage Jesu über sein eigenes endzeitliches Handeln68 verstanden worden sein. Zweitens sagt Jesus hier aber nicht nur die Zerstörung des Tempels an, wie es auch Mk 13, 2* tut, sondern auch die Neuenichtung des Heiligtums, wie sie aus der apokalyptischen Tradition bekannt ist.69 Die Verbindung der Tradition M k 13, 2* mit diesem apokalyptischen Motiv stellt eine einschneidende Umgestaltung der ursprünglich reinen Zerstörungsandrohung dar; in dieser Umgestaltung wird man auch die wesentliche Aussageintention dieses frühesten Tempellogions zu sehen haben wahrscheinlich ist die Tradition Mk 13, 2* hier überhaupt nur appliziert und umgeformt worden, um die Tradition einer Tempel-Erneuerung hier anzuschließen und so auf Jesus beziehen zu können. Daß dieser zweite Versteil des Logions an der Verkündigung des irdischen Jesus wohl kaum einen Anhalt haben dürfte70, wird im letzten Kapitel dieser Untersuchung deutlich werden.71 Ein direktes Wort des irdischen Jesus,

Gottesvolk hin interpretierte, sondern die Menschensohn-Gestalt erstmalig im individuellen Sinne deutete - und auf sich selbst bezog (Menschensohn, 345): „aus dem Bewußtsein seiner Vollmacht hat er die Stelle Dan 7,13f. gedeutet und auf sich bezogen. Am Anfang steht also nicht ein schon bereitliegendes apokalyptisches Schema vom himmlischen oder zukünftigen Menschensohn, sondern am Anfang steht das Vollmachts-Bewußtsein Jesu" (Menschensohn, 346). Als realistische Lösung dürfte der Vorschlag von F. Hahn anzusehen sein, nach dem die Herkunft zumindest einiger Menschensohn-Logien „aus dem Munde Jesu sachlich nicht bestritten werden" (Hoheitstitel, 32) kann; gemeint sind hier Logien aus dem Bereich der Worte vom kommenden Menschensohn, zumal Hahn den Menschensohn-Begriff als terminus technicus „in festgeprägten apokalyptischen Zusammenhängen" (Hoheitstitel, 22) ansieht und daher dem christlichen Gebrauch der Menschensohnvorstellung in apokalyptisch-eschatologischem Kontext eine Priorität gegenüber den Worten vom gegenwärtigen und vom leidenden Menschensohn zukommen muß. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Menschensohnworte vgl. auch Th.B. Slater, 183-198; Für die Traditionsgeschichte des Tempelwortes ist hier lediglich von Belang, daß die frühe Gemeinde auch diese in der 3. Person formulierten Logien, die den Menschensohn zum Gegenstand hatten, als auf Christus bezogen auffassen konnte. 68 Zur frühchristlichen Interpretation der Person Jesu als exponierter Gestalt des Endzeit-Geschehens vgl. nur Mk 14, 62. 69 Vgl. Abschnitt 2.2. dieser Studie. 70 Gegen R.A. Hoffmann, 135f. 71 Vgl. Kapitel 3. dieser Studie.

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das die endzeitliche Erneuerung des Heiligtums angekündigt hätte, findet sich im Bereich des Neuen Testaments jedenfalls nicht. Die Aussage dieser frühesten Form eines Tempelworts ist, daß Jesus hier als der erwartet wird, der in der Endzeit den alten Tempel aufheben und einen neuen bringen wird. Dies erscheint als umso bemerkenswerter, als die zwischentestamentliche Tradition die Tempelerneuerung immer als ein Goffeshandeln beschreibt72 - das Tempelwort redet jedoch ausdrücklich von einer Aktion Jesu.13 Daß die Tempelerneuerung hier nun quasi von Gott an Jesus delegiert wird, überrascht jedoch wenig, da im frühen Christentum die Erwartung einer exponierten Figur des Endzeitgeschehens weit verbreitet war - verwiesen sei hier auf den ίοχυρότερος von Lk 3, 16™ und wiederum auf den „Menschensohn" - , ja Jesus selbst mit diesem Protagonisten des Endzeitdramas identifiziert

72 Vgl. Abschnitt 2.2. dieser Studie; daß das Judentum schon zur Zeit des Zweiten Tempels die Tempelerneuerung bereits vom Messias erwartet habe, wie die ältere Forschung (so E. Lohmeyer, Markus, 327, unter Berufung auf Strack/Billerbeck I, 1004f., und W. Bousset, Religion, 283ff.) meinte, kann heute nicht mehr behauptet werden; alle diesbezüglichen Belege setzen die Tempelzerstörung bereits voraus, vgl. E. Linnemann, 125-127; D. Dormeyer, Passion, 160; auch Tgjes 53, 5 läßt sich besser als Zeugnis des Judentums nach 70 verstehen. 73 Eine weitere, wenn auch weitaus weniger gravierende Differenz des „UrTempelworts" zur zwischentestamentlichen Tradition besteht darin, daß durch das αυτόν des zweiten Versteils quasi eine Objektgleichheit von altem und neuem, endzeitlichem Tempel behauptet wird, während die diesbezügliche zwischentestamentliche Tradition durchaus das Motiv der Ablösung des alten Heiligtums durch das neue betonen kann [AethHen 90, 28ff.!] Jedoch findet sich schon im qumranischen Schrifttum eine differenziertere Verhältnisbestimmung von irdischem, himmlischem und eschatologischem Tempel, nach der die genannten Heiligtümer durchaus nicht einfach miteinander identifiziert, aber auch nicht völlig voneinander geschieden werden können (vgl. das in Abschnitt 2.2.3. dieser Studie hierzu Ausgeführte samt der dort angegebenen Literatur von F. Garcia Martinez, D. Dimant und A.M. Schwemer). Für unseren Zusammenhang kann nur vermutet werden, daß der Sprecher des „Ur-Tempelwortes" sich in seinem apokalyptischen Denken eher einem der o. g. qumranischen Tradition formal nahestehenden System verpflichtet wußte und implizit die Ablösung des Jerusalemer Tempels eher im Sinne einer Uberbietung des irdischen Heiligtums durch das himmlische interpretierte; hierfür könnte zumindest die weitere Traditionsgeschichte des Tempelworts sprechen, in deren Verlauf das Handeln bzw. Schicksal Jesu als ein die Heilsvermittlung des Jerusalemer Tempel überbietendes soteriologisches Geschehen gedeutet wurde [vgl. hierzu das einige Seiten weiter unten zur Frage „Joh 2, 19* - eine soteriologische .Aussage.'" Ausgeführte], 74 Fraglich bleibt allerdings, ob diese Tradition der christlichen Gemeinde oder tatsächlich der Verkündigung Johannes des Täufers zugerechnet werden muß.

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wurde. 75 Im Rahmen des „nachösterlichen Enthusiasmus"76, also der unmittelbaren Naherwartung der Parusie Jesu, wurde auch die Erwartung einer apokalyptischen Tempel-Erneuerung auf den erhöhten Menschensohn übertragen, schon zumal die Parusie Jesu eben am Zion, also dem Berg des Heiligtums, erwartet wurde 77 und die Jünger aus diesem Grunde nachösterlich nach Jerusalem zurückgekehrt waren, um hier als „Vollstrecker der eschatologischen Hoffnungen" 78 zu fungieren. Zugleich geschah das In-Bezug-Setzen von Parusie Jesu und Schicksal des Tempels aber auch aus einer gewissen inneren Konsequenz heraus, denn wenn der Horizont der jungen Gemeinde solange zentral durch den Tempelkult bestimmt worden war, mußte das Jesus-Geschehen auch in diesen Mittelpunkt der jüdischen Frömmigkeit hineinwirken und zu ihm in Relation gesetzt werden. Zudem dürfte der frühesten Gemeinde sicherlich noch in Erinnerung geblieben sein, daß der irdische Jesus in seinen letzten Tagen eine Zeichenhandlung am Tempel vollzogen hatte79 und sodann inhaftiert und hingerichtet worden war, daß also das Schicksal Jesu und das des Tempels offensichtlich miteinander verbunden waren. Daß also der erhöhte Jesus in einem apokalyptisch geprägten Christentum zum Subjekt auch der allgemein erwarteten Tempel-Erneuerung werden konnte, ging auf verschiedene Ansätze zurück und erscheint daher als wenig überraschend.

75 So sind die Worte vom „kommenden Menschensohn" zumindest in ihrer heutigen Form sämtlich auf Jesus Christus hin interpretierbar; eine - vermutlich mit der Menschensohntradition traditionsgeschichtlich verwandte - exponierte Rolle im Endzeitgeschehen gesteht Paulus dem υιός in l.Kor 15, 2 3 - 2 8 zu. Daß diese nachösterliche christologische Tradition eventuell in einem eschatologischen Selbstbewußtsein des irdischen Jesus wurzeln könnte, möchte E.P. Sanders, Jesus, wahrscheinlich machen, so S. 319: „Jesus saw himself as God's last messenger before the establishment of the kingdom." 76 Nach Ε. Käsemann, Apokalyptik, 110. 77 Vgl. Jes 2, 2 - 4 ; 60.62; Joel 3, 5; 4, 20; Mi 4, 1 - 4 ; Sach 2, 14; 8, 22; AethHen 10, 20f.; 53, 6; 90, 1 8 - 3 3 ; 1QM 12, 13ff.; 1QH 6, 12; TBenj 9, 2; TNaph 8, 3; daß der Berg Zion in der Apokalyptik als zentrale Lokalität verstanden wurde, ist angesichts der nach Jerusalem hin ausgerichteten (Heils-)Geschichte Israels verständlich [vgl. hierzu die Abschnitte 2.1.1. sowie 2.2. dieser Studie]; traditionsgeschichtlich kommt dem bei Tritojesaja begegnenden Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 60; vgl. auch Sach 8, 22) tragende Bedeutung zu. 78 So K. Berger, Theologiegeschichte, 134. 79 Mk 11, 1 5 - 1 7 par Joh 2, 1 3 - 2 2 ; vgl. hierzu Abschnitt 3.2. sowie Abschnitt 1.4. dieser Studie.

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Joh 2, ίΨincl. der Dreitagesfnst Der gleichen inneren Konsequenz verdankt sich auch die redaktionelle Hinzufügung der Dreitagesfnst, durch die das Logion ein in theologischer Hinsicht noch schärferes Profil gewann. Für die frühe Christenheit ist die Dreitagesfrist unlöslich mit dem Ostergeschehen verbunden80, und in diesem Sinne wurde die Dreitagesfrist auch hier eingefügt. Indem die Ankündigung der (Wieder-)Errichtung des Heiligtums durch die Zeitangabe δια τριών ήμερων81 determiniert wird, wandelt sich das Tempelwort von einer ursprünglich futurisch-apokalyptischen Aussage zu einem Satz über die — durch das Christus-Geschehen eschatologisch82 bestimmte - Gegenwart. Denn die von Christus erwartete Erneuerung des Tempels ist nach Joh 2, 19* nun - in Jesu Auferweckung - bereits geschehen, sie ist nach Joh 2, 19* nicht mehr ein Akt des erwarteten Endzeitdramas, sondern bestimmt die aktuelle Realität der Gemeinde in ihrer konkreten nachösterlichen Situation. D a ß in Joh 2,19* im grammatischen Sinne weiterhin eine futurische Aussage vorliegt, tut dem keinen Abbruch. Als Wort des Erhöhten kann Joh 2,19* durchaus auch in das Wirken des irdischen Jesus zurückdatiert werden - und so als eine Aussage aufgefaßt werden, durch die Jesus sein dort noch zukünftiges österliches Schicksal interpretiert, welches für die Gemeinde bereits ein Geschehen der Vergangenheit darstellt, als eschatologisches Geschehen jedoch ihre Gegenwart (und Zukunft) bestimmt; weitere, das Drama von Kreuz und Auferweckung betreffende Worte des Erhöhten, die eine futurische Formulierung aufweisen und von den Evangelisten daher in die Zeit des irdischen Jesus zurückversetzt wurden, finden sich in der Tradition der Leidensankündigungen. Weiterhin erklärt sich auch die Merkwürdigkeit, daß hier in einem Herrenwort in aktivischer Verbform von der Auferweckung Jesu die Rede ist, durch die oben aufgestellte literarkritische These eines späteren Hinzuwachsens der auf das Ostergeschehen anspielenden Dreitagesfrist. Höchstwahrscheinlich wird auch der Sprecher von Jon 2, 19*, nicht anaers als die übrigen frühen neutestamentlichen Zeugen, die Auferweckung nicht als Jesu eigenes Werk, sondern als Tat Gottes verstanden haben; jedoch hat er das aktivische καταλύσω bzw. οικοδομήσω des „Ur-Tempelworts" Joh 2, 19*(*' - das dort ja, wie oben gezeigt, gerade das theologische Novum eines endzeitlichen Handelns Jesu aussagen wollte -

80 Vgl. Abschnitt 2.3. dieser Studie. 81 Die Konstruktion der Zeitangabe mit έν plus Dativ geht ja erst auf die Endredaktion des Evangelisten zurück, vgl. Abschnitt 1.4. dieser Studie. 82 Zur Distinktion von „apokalyptisch" und „eschatologisch" vgl. die ebenso kurzgefaßte wie treffende Definition von J.D. Crossan, 324.

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einfach stehen lassen, als er die Worte δια τριών ήμερων83 hinzufügte. 84 Als „Restbestand" der frühesten Fassung des Logions wurde die aktivische Verbform in dieser Phase der Redaktion nicht korrigiert - wiewohl sie in gewisser Hinsicht zur Intention des Redaktors querstand; dieses Versäumnis des Sprechers von Joh 2, 19* gab im weiteren Verlauf der Tradierung des Tempelwortes Anlaß zu den diversen Neuinterpretationen des Logions.

Durch das Hinzufügen der Dreitagesfrist vollzieht sich also die Umformulierung des apokalyptisch bestimmten „Ur-Tempelwortes" zu einer die gegenwärtige Wirklichkeit des Christen betreffenden christologisch-eschatologischen Aussage. Denn genau jenes mit dem endzeitlichen Tempel verbundene Heil, das die Gemeinde - letztlich noch ganz in der Tradition der Endzeiterwartung Israels verbleibend - von der eben noch ausstehenden Parusie Jesu erwartet, wird von Joh 2, 19* als schon jetzt gegenwärtig ausgesagt, da es sich ein für allemal im österlichen Drama von Kreuz und Auferweckung der Gemeinde erschlossen hat. Die Erneuerung des Heiligtums geschah zu Ostern. Weiterhin - auch diese zweite Uminterpretation wird durch die Hinzufügung der Dreitagesfrist evoziert - ist dieses neue Heil des eschatologischen Tempels nach Joh 2, 19* nicht nur von Jesus schon gebracht worden und somit nicht mehr rein zukünftig; der Auferstandene wird darüber hinaus auch notwendigerweise und mit letzter theologischer Konsequenz mit dem neuen Tempel identifiziert, er ist das neue Heiligtum. Schon aus rein äußerlichen Gründen wurde diese spiritualisierende Umdeutung dadurch notwendig, daß auch nach Ostern der Jerusalemer Tempel noch durchaus unbeschadet existierte85; wenn die Erneuerung

83 Zum Wortlaut vgl. oben Anm. 81. 84 Streng genommen wird somit Jesus als der auctor seiner eigenen Auferwekkung „nach drei Tagen" ausgesagt - und somit die Identität von Auferwecker und Auferwecktem behauptet. Dies dürfte jedoch wohl kaum auf die Absicht des Sprechers von Joh 2, 19* zurückzuführen sein, sondern eher auf dessen Ungenauigkeit beim Umgang mit der ihm vorgegebenen Tradition. - Bestenfalls könnte erwogen werden, ob in diesem Zusammenhang ein übergreifendes Interesse an der Identität des Auferstandenen mit dem irdischen Jesus eine Rolle gespielt haben könnte, wie es sich z.B. aus einer antidoketischen Frontstellung ergäbe; jedoch ist diese Überlegung wahrscheinlich weniger im Hinblick auf den Sprecher von Joh 2, 19* angebracht als auf die weitere Tradierung des Logions im Johanneischen Kreis, der die diesbezügliche antidoketische Spitze von Joh 2, 19* möglicherweise gesehen und das Wort vielleicht deswegen in dieser Form behalten und weitertradiert hat. 85 Die vormarkinische Redaktion der Passionsgeschichte erreichte den diesbezüglichen Abstraktionsgrad von Joh 2, 19* nicht mehr und konkretisierte die im Tempelwort beschriebene Aufhebung des Heiligtums durch das Zerreißen des Vor-

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des Heiligtums laut Joh 2, 19* bereits δια τριών ήμερων, also zu Ostern geschehen sein sollte, dann konnte hiermit also nicht die Errichtung eines neuen Bauwerks gemeint sein; vielmehr ist der Auferstandene selbst das eschatologische Heiligtum, zumal er durch sein österliches Schicksal für die Gemeinde zum eschatologischen Ort der Gottesgegenwart geworden ist.86 Im auferweckten Christus begegnet Gott in letztgültiger Weise; er ist somit der neue und vollkommene Ort unverbrüchlicher Gottesgemeinschaft, der in der zwischentestamentlichen Tradition als das „neuerschaffene Heiligtum"87 umschrieben werden konnte. Joh 2, 19" — eine soteriologische Aussage? Kann das Tempelwort Joh 2, 19*, wenn es den auferweckten Christus als Ort der eschatologischen Gottesgegenwart aussagen wollte und dies mit dem traditionellen Bild des endzeitlichen Tempels tat, von den frühen Christen auch als soteriologische Aussage verstanden worden sein? Auf der logischen Ebene scheint dieser Schluß nahezuliegen: wenn der auferstandene Christus als das eschatologische Heiligtum verstanden wird, dann muß er auch die Funktionen des Heiligtums an sich ziehen, und er muß weiterhin diese Funktionen auf vollkommenere Weise erfüllen, als der Jerusalemer Tempel hierzu in der Lage ist. Denn wie in der zwischentestamentlichen Tempelerneuerungstradition vorgegeben, ist dem eschatologischen Heiligtum ein letztgültiges und somit weitaus höheres Maß an heilswirksamer Gottesgegenwart zueigen als dem irdischen Tempel, der bloß als dessen zeitlich-vergängliches Abbild fungiert.88 Daher übertrifft auch die Heilstat Gottes, die in Kreuz und Auferweckung Jesu Gestalt annahm, das mit dem Jerusalemer Tempel verbundene heilsschaffende Tun Gottes um ein Vielfaches. Im Kontext des Kultus ist diese Zuwendung Gottes zum Menschen aber konkret als Sühne bestimmt, als Tilgung der Sünden durch den von Gott selbst bestimmten Heilszusammenhang.89 Entsprechend muß auch

hangs (Mk 15, 38), das den Tempel zumindest im kultischen Sinne ruinierte; vgl. Abschnitt 1.1.3. dieser Studie. 86 Ähnlich meinte H. Wenschkewitz, 101, der auferstandene Christus des Tempelwortes „war sich bewußt, mehr als der Tempel, d. h. eine überlegene Bezeugung der Gnadengegenwart Gottes zu sein." 87 Vgl. Jub 1, 29; 11QT 29, 8b-10. 88 Zum interimistischen Charakter des irdischen Tempels vgl. Abschnitt 2.2.3. dieser Studie. 89 Vgl. Abschnitt 2.1.2. dieser Studie.

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der auferweckte Christus als Ort der eschatologischen Entsühnung verstanden werden; Christus, den die Gemeinde als Ort der eschatologischen Gottesgemeinschaft erfährt, hat als wahrer Tempel Gottes auch die diese Gottesgemeinschaft ermöglichende Entsühnung geleistet, die im Kultus des Jerusalemer Tempels nicht erbracht werden konnte. 90 Indem Gott Jesus zu Ostern zum Ort der eschatologischen Gottesgemeinschaft machte, hat er ihn für die Gemeinde auch zum vollgültigen Sühnort eingesetzt, zum eschatologischen Tempel, dessen Sühne den Kultus des Jerusalemer Tempels praktisch aufhebt. 51 In diesem Sinne wäre das Tempelwort Joh 2, 19* als eine Interpretation des österlichen Heilsereignisses in den Kategorien des kultisch-soteriologischen Denkens Israels zu verstehen; dennoch ist es nicht sicher, ob hier in Joh 2, 19* das Schicksal Jesu wirklich bereits als Sühne, und somit soteriologisch, gedeutet werden soll — zumal die zuletzt dargelegten Schlußfolgerungen nicht eindeutig vom Text des Logions her abzusichern sind. Denn das Tempelwort redet zwar von einem (eschatologischen) ναός92, ein eindeutig dem Bereich des Kultopfers zuzuordnender Topos wie z.B. ίλαστήριον wird vom Tempellogion jedoch nicht geboten. Insofern man die These einer bereits im Tempelwort Joh 2, 19* geschehenden, frühen soteriologischen Deutung des Todes Jesu in den kultisch-soteriologischen Kategorien des jüdischen Tempelkultes — wie sie in Rom 3, 25f.*93 sicherlich vorliegt — allein an der Umschreibung des Auferstandenen als ναός festmachen möchte, bedarf dies einer weiteren Untermauerung. Zwei Beobachtungen könnten hierzu angeführt werden. - Zum einen geht eine Tradition der kultischen Deutung des Jesus-Geschehens vom Tempelwort aus, so Rom 3, 25f.*; Hebr 9, l l f . 2 3 - 2 8 ; A p k 21, 22. Nach W. Kraus 4 kündigte der irdische Jesus durch das Tempellogion, das Kraus als ein zweigliedriges, Joh 2, 19* ähnliches, allerdings im passivum divinum for-

90 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, daß der Sprecher von Joh 2, 19*, der sich hier gegen den Kult des Jerusalemer Tempels wendet, das mit dem Jerusalemer Heiligtum verbundene kultisch-soteriologische Denken inhaltlich ungebrochen voraussetzt. 91 Dieses κ α τ α λ ύ ε ι ν des Jerusalemer Heiligtums hat sich für die Gemeinde ebenfalls zu Ostern bereits vollzogen - anders als in der zuvor betrachteten ältesten Fassung des Tempelworts ohne Dreitagesfrist oder in Mk 13, 2*. 92 Der, wie gezeigt, vorrangig als Ort der Gottesgegenwart zu verstehen ist. 93 Zur Rekonstruktion von Rom 3, 25f.* vgl. W. Kraus, 1 0 - 2 0 (Text S. 20). 94 W. Kraus, 194-229 (zum Tempelwort).

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muliertes Logion rekonstruiert 9 5 und in sachliche N ä h e zur Tempelreinigung rückt 9 6 , das eschatologische K o m m e n Gottes an, welches den Tempelkult in seiner bisherigen Form überflüssig machen würde. 9 7 D a sich Jesu diesbezügliche Erwartung nicht erfüllte, setzte in der nachösterlichen Gemeinde ein Uminterpretationsprozeß ein, in dessen Folge Jesu Reich-Gottes-Verkündigung mit seiner Haltung zum Tempel verbunden und schließlich zu einer soteriologischen Deutung des Todes Jesu fortentwickelt wurde, nach der Jesus selbst als endzeitlicher Tempel 9 8 und sein Tod als die endzeitliche Weihe ebendieses Heiligtums verstanden wurde. 9 9 Zur Herleitung dieser soteriologischen Tradition aus der - nach seiner Einschätzung auch und gerade durch ein zweigliedriges Tempelwort gekennzeichneten - Verkündigung Jesu meint Kraus: „Wenn Jesus mit einer eschatologischen Neuwerdung der Stätte der göttlichen Heilsgegenwart, mit dem sichtbaren Anbrechen des Reiches Gottes rechnete und dies so nicht geschah, sondern auf sich warten ließ, dann könnte Jesu Erwartung für den Tempel (einschließlich der Tatsache, daß dessen Zerstörung nicht sogleich stattfand) nach Kreuz und Auferstehung zum Auslöser geworden sein, seinen Tod mit der Errichtung eines neuen Heiligtums zu verbinden, wie dies in Rom 3,25f; H e b r 9,23f; Joh 2,19.21; A p k 21,22 geschieht. Hier könnte dann ein Ansatz liegen, den Tod Jesu im Rahmen kultischer Kategorien zu deuten." 1 0 0 Indes wird nicht das zweigliedrige Tempelwort in der von Kraus rekonstruierten Form auf die Verkündigung des irdischen Jesus zurückzuführen sein - dagegen spricht schon die christologisch bestimmte Dreitagesfrist 1 0 1 - , sondern bestenfalls das Wort M k 13, 2*. 1 0 2 Wenn aber im zweigliedrigen Tempelwort in der Art von Joh 2, 19* bereits eine nachösterliche, christologisch (!) reflektierende Aussage vorliegt, aus der sich, traditionsgeschichtlich betrachtet, ein breiter Strom der kultisch-soteriologischen Deutung des Jesusgeschehens herleitet, dann ist zu fragen, ob nicht auch das am Anfang dieser Entwicklung stehende Logion christlicher Theologen bereits auf die gleiche Weise verstanden wurde bzw. verstanden werden wollte. D a natürlich mit einer beständigen Fortentwicklung der Reflexion über das Schicksal Jesu zu rechnen ist, wird diese Frage mit letzter Eindeutigkeit wohl weder bejaht noch verneint werden können; zu beachten sind

95 W. Kraus, 228A157. 96 W. Kraus, 201-210. 97 W. Kraus, 227f. 98 So nach den Ergebnissen dieser Studie ja auch im Tempelwort. 99 Vgl. W. Kraus' Interpretation von Rom 3, 25f.* (163): „Wir verstehen somit die vorpaulinische Formel als Ausdruck dafür, daß Jesus in seinem Kreuzestod von Gott als eschatologisches Heiligtum eingesetzt wurde ... Der Tod Jesu wird damit im Horizont der im Frühjudentum vorhandenen Erwartung eines neuen (endzeitlichen) Tempels, als eines Ortes der Sühne, der Epiphanie und der Präsenz Gottes verstanden. Die Formel sagt: dies ist Jesus in Person, Gott selbst hat ihn dazu gemacht. Der eschatologische Jom Kippur hat am Karfreitag stattgefunden." 100 W. Kraus, 228f. 101 Vgl. Abschnitt 2.3. dieser Studie. 102 Vgl. Kapitel 3. dieser Studie.

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auch die inhaltlichen Differenzen, die zwischen dem Tempelwort und der späteren soteriologischen Tradition bestehen.103 Das traditionsgeschichtliche Argument weist somit lediglich auf die Möglichkeit eines soteriologischen Verständnisses von Joh 2,19* hin. - Zum anderen erscheint es als auf der sachlichen Ebene naheliegend, daß die frühen Christen, die den auferweckten Christus als den neuen Tempel und somit als den eschatologischen Ort der Gottesgegenwart aussagten, mit diesem neuen Tempel auch einen sie selbst betreffenden soteriologischen Vollzug verbanden, zumal ja im zeitgenössischen Judentum der Tempel vor allem als Ort der Entsühnung des gläubigen Israels verstanden wurde. 10 Daß die Christen, die hier das Motiv des Tempels zur Beschreibung des Christus-Geschehens gebrauchten, an dieser Stelle in strikter Diskontinuität zur - ansonsten ja nicht verlassenen - jüdischen Tradition ständen und aus der Bezeichnung des Auferweckten als ναός jegliches kultisch-soteriologisches Implikat bewußt ausgeklammert hätten, während die spätere Tradition - Rom 3, 25f.*, s.o. - dieses wieder eingetragen und sogar in den Vordergrund gerückt hätte, ist weniger wahrscheinlich. Eher dürfte für die Christen, die Jesus im Tempelwort Joh 2, 19* als eschatologischen Tempel und somit als eschatologischen Ort der Gottesgeeenwart aussagten, wohl auch schon die - für spätere Traditionen durchaus belegbare - Interpretation des Auferweckten als eschatologischem Sühnort impliziert gewesen sein, was dann möglicherweise auch mit einer entsprechenden Praxis verbunden war. 105 Für die frühesten Christen, die im Osterereignis die eschatologische Erneuerung ihrer Existenzbezüge erfahren hatten, mußte dieses Ostergeschehen auch für das Verständnis der - ihr religiöses Denken bis dahin wesentlich bestimmenden - kultischen Soteriologie bzw. Sühne Folgen zeitigen - in diesem Sinne wurde später in Rom 3, 25f.* Christus als ίλαοτήριον aussagbar. Daß für sie aber ein völliger Bruch mit ihrer jüdischen Tradition der Reinigung von Sünden eingetreten sein sollte, die Vergebung der Sünden also für diese frühesten Christen kein Thema mehr war [und es demzufolge erst in den paulinischen Gemeinden wieder wurde], ist nicht anzunehmen, zumal das Tempelwort wie gezeigt noch durchaus im Rahmen des jüdischen Denkens verbleibt. Wenn aber für die Christen des Tempelwortes weiterhin ein Bedarf nach Tilgung der Sünden durch das Wirken Gottes bestand, dann mußte diese Tilgung der Sünden für sie auf irgendeine - hier vielleicht noch nicht inhaltlich genau bestimmte - Weise mit dem als neuen, vollkommenen Ort der Gottesgegenwart erfahrenen Auferstandenen verbunden sein. In diesem Sinne konnte Dereits ein Tempelwort Joh 2, 19*, das am

103 Zu beachten ist hier vor allem, daß sowohl Rom 3, 25f.* als auch Hebr 9, 22-25 klar auf das Opferblut Jesu, also seinen Tod abzielen, während die Dreitagesfrist des Tempelwortes das Ostergeschehen als ganzes, eher noch die Auferweckung Jesu im Blick hat. 104 Vgl. Abschnitt 2.1.2 dieser Studie; daß der Tempelkult im wesentlichen Entsühnung ist, weiß immerhin auch noch Hebr 9f. 105 K. Berger, Theologiegeschichte, 142, denkt hier an die Nennung des Namens Jesu, vgl. Rom 10,13; l.Kor 1, 2.10; 5, 4; Phil 2, 9f.

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A n f a n g der E n t w i c k l u n g hin z u r R e d e v o n C h r i s t u s als ί λ α ο τ ή ρ ι ο ν ( R o m 3, 25) u n d als ά ρ χ ι ε ρ ε ύ ς τ ω ν γ ε ν ο μ έ ν ω ν ά γ α θ ω ν ( H e b r 9 , 11) stand, als i m p l i z i t soteriologische Aussage ü b e r den ν α ό ς C h r i s t u s aufgefaßt w e r d e n . 1 0 6

Daß das Tempelwort Joh 2, 19* für die frühen Christen auch eine soteriologische Deutung des Schicksals Jesu zumindest implizierte, ist also durchaus möglich und keineswegs unwahrscheinlich. Nimmt man aber eine implizite soteriologische Konnotation von Joh 2, 19* an, dann kann auch die Bestimmung des historischen Ortes der christologisierenden Umgestaltung des Tempelworts versucht werden. Wenn K. Bergers Vermutung zutrifft, daß der tiefere Anlaß für die Verfolgung des hellenistischen Flügels des Jerusalemer Gemeinde „nicht in einer allgemeinen philosophischen Tempel- oder Kultkritik"107 zu sehen ist, „sondern darin, daß die Hellenisten einen Ersatz der bestehenden Kultpraxis mit der Nennung des Namens Jesu verbanden und damit den Tempel als Sühneort ... überflüssig machten"108, dann dürfte diesen Kreisen auch die Umformung des apokalyptischen „Ur-Tempelworts" in ein christologisches Logion zuzutrauen sein, welches den auferweckten Christus als unüberbietbaren Ort der endzeitlichen Heilsgegenwart - und somit wohl auch als alternativen Heilsweg zum traditionellen Gottesort, dem Tempel aussagte. Am ehesten wäre die Entstehung eines Tempelwortes in der Form von Joh 2, 19* daher in der frühen hellenistischen Judenchristenheit Jerusalems denkbar. Während dem traditionell judenchristlich geprägten Teil der Jerusalemer Christengemeinde die fortwährende Partizipation am Tempelkult offenbar keine Probleme bereitete109, betrachteten die Hellenisten, in deren Kreisen das Tempelwort auch späterhin tradiert wurde110, den Jerusalemer Tempelkult als mittlerweile vom Christusgeschehen überholt und sahen sich dem fortdauernden jüdischen Tempelbetrieb gegenüber zu einer christologisch verantworteten Stellungnahme 106 Selbst wenn die Behauptung einer (impliziten!) soteriologischen Deutung des Todes Jesu schon für das frühe Tempelwort nicht ohne Vorbehalte aufgestellt werden kann, sollte doch die mitunter auch noch in der jüngeren Forschung vertretene These, nach der eine soteriologische Deutung des Todes Jesu ursächlich aus dem von Mysterienkulten bestimmten hellenistischen Geist herzuleiten wäre (so noch Ph. Vielhauer, Weg, 1 6 2 - 1 6 5 ; K. Wengst, 131ff.), als überholt angesehen werden. 1 0 7 K. Berger, Theologiegeschichte, 142. 108 Ebd. 109 Neben den zahlreichen diesbezüglichen Belegen aus Acta könnte hierfür auch M t 5, 23f. sprechen. 110 So ja in der vormarkinischen Redaktion des Passionsberichtes, vgl. Abschnitt 1.1.3. dieser Studie; ebenso das Logion Mk 14, 58, vgl. Abschnitt 2.5. dieser Studie.

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genötigt. In schärferer Form liegt ihre Stellungnahme in der Tempelwort-Variante Mk 14, 58 vor, die nun ebenfalls betrachtet werden soll." 1 Die - trotz der gemeinsamen Annahme einer christologisch-soteriologischen Implikation - zwischen der Betrachtung des Tempelworts bei F. Vouga112 und den Ergebnissen dieser Studie bestehende Differenz ist darin zu sehen, daß Vouga für die zweigliedrige Variante des Tempellogions eben nicht das Motiv einer endzeitlichen Tempelerneuerung als tragenden Hintergrund annimmt und unter dieser Voraussetzung dem irdischen Tempel, seinem Kultus und den hier verbindlichen kultischen Ordnungen jegliche - auch nur vorübergehende - Berechtigung absprechen kann.113 Nach Vouga kann daher nichts, was den irdischen Tempel auszeichnete, auch noch für den „neuen Tempel" in irgendeiner Weise konstitutiv sein. Doch im Gegensatz hierzu hat der Sprecher von Joh 2, 19* die Rede vom „neuen Tempel" eben nicht bloß in Analogie zur „Auslegungstradition von Ex 25,40 und 1 Chr 28,19 ... als Metapher einer himmlischen bzw. eschatologischen Wirklichkeit"114 (hier: der Auferstehung) gebraucht, ohne daß ein über das rein adversative hinausgehender innerer Bezug von Christusgeschehen und Tempelkult intendiert gewesen wäre [so ja Vouga: „Der neue Tempel ist kein Tempel"115] - höchstwahrscheinlich besteht für die Hörer von Joh 2, 19* durchaus eine Kontinuität von altem und neuem Heiligtum in ihrer sühnenden Funktion, sicherlich besteht eine Kontinuität aber darin, daß sowohl altes als auch neues Heiligtum als Ort der Gottesgegenwart angesehen werden und sie gerade deswegen im Tempelwort nebeneinandergestellt werden können. Daher bedeutet das Östergeschehen für den Sprecher des Tempelwortes nicht einfach nur antithetisch das „Ende des Tempels und der kultischen Ge-

111 Vgl. den folgenden Abschnitt 2.5. 112 F. Vouga, 55-57, (s.o.). 113 So F. Vouga, 56f: D a s „Verständnis des Tempels als A b b i l d eines himmlischen Urbildes bietet die Möglichkeit verschiedener Auslegungen. Ihnen ist gemeinsam, daß sie den Tempel in Jerusalem als Antitypos von himmlischen Wirklichkeiten betrachten, und daß der Tempel durch eine metaphorische oder allegorische Interpretation als zeitliche und irdische Entsprechung geistlicher, ethischer oder eschatologischer Realitäten verstanden ist. ... Impliziert ist dabei, daß der Tempel seine Funktion und seine Berechtigung hat, selbst wenn dies nur für eine begrenzte Zeit und nur im Rahmen eines bestimmten Bereichs gilt. - Die Aussage und die Voraussetzungen des Tempellogions sind radikaler ... Im Tempellogion wird der neue Tempel ... rein metaphorisch verstanden, und der alte Opferkult wird durch keinen neuen wiederaufgenommen. Der neue Tempel ist kein Tempel. ... Im Tempellogion bedeutet ... die Erscheinung der neuen Realität, das heißt die Auferstehung J e s u , die Aufhebung ihrer bisherigen, irdischen Entsprechung ... D a s Jesusereignis wird als Heilsereignis so gedeutet, daß der Tempelkult und die Heiligkeits-, Reinheits- und A b grenzungsgebote ihre Funktion verlieren". 114 F. Vouga, 57. 115 E b d .

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setze"116, vielmehr finden diese Gebote im Auferstandenen ihre eschatologische Erfüllung, der gegenüber das irdische Jerusalemer Heiligtum nun freilich nur als defizitär angesehen werden kann.

116 Ebd.

A u s l e g u n g v o n M k 14, 58

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2.5. A u s l e g u n g von M k 14, 58 Wie die literarkritische Betrachtung der Perikope Mk 14, 55-65 ergeben hat1, ist das Tempelwort Mk 14, 58 von einer vormarkinischen Redaktion in den Text der Synhedriumsperikope eingefügt worden; während die gleiche Redaktion das Wort in Mk 15, 29 in einer der Situation angepaßten Form bietet und mit Mk 15, 38 auch die Erfüllung der im Tempelwort ausgesprochenen Drohung hinzufügt, hat sie sich in Mk 14, 58, wie die umständliche Einleitung des Wortes verrät (ήκούοαμεν αύτοΰ λ έ γ ο ν τ ο ς ott), um die wörtliche Wiedergabe eines zuvor vermutlich eigenständig tradierten Logions bemüht, welches ( Έ γ ώ ) κ α τ α λ υ θ ώ τον ναόν τοΰτον τον χειροποίητον κ α ι δια τριών ήμερων ά λ λ ο ν άχειροποίητον οικοδομήσω 2

lautet. Vergleicht man diese Variante des Tempelwortes mit der zuvor betrachteten Form Joh 2, 19*, so fällt auf, daß die Spannung, die in Joh 2, 19* zwischen der Neuerrichtung desselben (αυτόν) Heiligtums und der auf die Auferweckung Jesu abzielenden Dreitagesfrist bestand 3 , in Mk 14, 58 getilgt ist. Das Wort Mk 14, 58 redet betont von einem anderen Tempel, der nach drei Tagen errichtet sein wird. Freilich bleibt diese sprachliche und sachliche Glättung der Vorlage Joh 2, 19* nicht ohne inhaltliche Konsequenzen: Ließ sich für Joh 2, 19* eine gewisse Kontinuität zur kultisch-soteriologischen Heiligtumstradition Israels feststellen, die materialiter als die Interpretation des auferweckten Christus als dem von Gott gesetzten Sühnort zu bestimmen versucht wurde 4 , so streicht das Logion Mk 14, 58 demgegenüber die Diskontinuität von zu zerstörendem und zu erneuerndem Tempel heraus. Dem entspricht auch die Näherbestimmung der beiden Heiligtümer durch das antagonistische Adjektivpaar χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς / ά χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς . U m die theologische Intention

1 Vgl. Abschnitt 1.1. dieser Studie. 2 Daß die Epitheta χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς / ά χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς schon zum Bestand des vormarkinischen Logions gehörten und nicht, wie seit F . C . Baur, Untersuchungen, 556, oft angenommen wird [so u.a. D . Dormeyer, Passion, 161], auf die markinische Endredaktion zurückgehen, belegt das paulinische Zitat des Tempelworts in 2.Kor 5 , 1 , das das Adjektiv „ « χ ε ι ρ ο π ο ί η τ ο ς " bereits bietet, vgl. Abschnitt 1.6. dieser Studie. 3 Vgl. hierzu Abschnitt 2.4. dieser Studie; dort gab diese Spannung Anlaß zu einer literarkritischen Operation. 4 Vgl. hierzu Abschnitt 2.4. dieser Studie.

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des Tempelworts Mk 14, 58 zu erheben, ist es daher notwendig, den Gehalt dieser beiden Epitheta zu bestimmen. Wie der Blick in die Forschungsgeschichte 5 zeigt, war bzw. ist die Diskussion im wesentlichen von der Frage bestimmt, ob der ναός άλλος «χειροποίητος des Tempelworts die Gemeinde als „geistlichen Tempel" 6 meint, deren λογική λατρεία (Rom 12, 1) im Gegensatz steht zum „von allem kultischen Wesen, von Blut und O p f e r " 7 bestimmten Jerusalemer Tempelkult. S o meinte B. Weiß, der Evangelist Markus habe bei der Hinzufügung des Epithetons „άχειροποίητος" „nach bekannter apostolischer Anschauung an die neue Gottesgemeinde" 8 gedacht. Weiß spielt hier auf die in der paulinischen Tradition belegte Rede von der Gemeinde als Tempel Gottes (l.Kor 3, 16f.; 2.Kor 6, 16; Eph 2, 2 0 - 2 2 ) 9 an. Sein Sohn J. Weiß betrachtete die Hinzufügung der Epitheta χειροποίητος/ άχειροποίητος im Zusammenhang der seiner Meinung nach auch bei den übrigen Evangelisten festzustellenden Bemühung, dem Tempelwort seine Schärfe zu nehmen 1 0 ; während Johannes das Tempelwort auf den Leib Jesu bezog und Lukas das ganze Zeugenverhör verschwieg, „hat nun auch Markus wenigstens das Aufbauen des Tempels in geistigem Sinne gedeutet, indem er ,dem mit Händen gemachten' einen ,nicht mit Händen gemachten' Tempel gegenüberstellt; er denkt dabei wohl an den Tempel der Gemeinde" 1 1 ; zugleich hörte J. Weiß im Tempelwort aber auch die „alte apokalyptische Weissagung ... vom Bau eines Tempels in der Endzeit, von der auch sonst Spuren vorhanden sind" 1 2 , nachklingen. Diese Interpretation des ναός άχειροποίητος auf die endzeitliche Tempelerneuerung hin führte J. Jeremias weiter. D a Tempelerneuerung und Inthronisation des Messias nach Jeremias 1 3 zusammenhängen, habe Jesus in Tempelreinigung und Tempelwort seinen messianischen Anspruch formuliert 14 ; jenes nicht mit Händen gemachte Heiligtum, dessen Aufrichtung Jesus in seinem „Hoheits-

5 Eine markante Zusammenstellung der diesbezüglich vertretenen Positionen bietet R.E. Brown, Bd. 1, 440-444. 6 E. Linnemann, 122. 7 E. Lohmeyer, Markus, 327; E. Lohmeyer redet in diesem Zusammenhang von einer eschatologischen Befreiung von den gesamten Konstitutiva des jüdischen Religionswesens. 8 B. Weiß, Marcusevangelium, 472. 9 Vgl. hierzu W. Strack, 221-272, sowie J. Roloff, Kirche, 110-117.238f. 10 J. Weiß, Die drei älteren Evangelien, 213; ähnlich auch in: Ders., Das älteste Evangelium, 313f.; dieser Einschätzung ist in der nachfolgenden Exegese bis hin zu E.R Sanders, Jesus, 72, gern gefolgt worden; zur Kritik hieran s.u. 11 J. Weiß, Die drei älteren Evangelien, 213f.; seine Abhängigkeit von diesem Gedankengang von J. Weiß dokumentierte G. Bertram, 57 samt Anm. 3. 12 J. Weiß, Die drei älteren Evangelien, 214. 13 J. Jeremias, Jesus, 38, unter Rekurs auf vorangehende Ausführungen aus der Säkulargeschichte und auf AethHen 90, 28ff. 14 J. Jeremias, Jesus, 39-44.

Auslegung von M k 14, 58

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bewußtsein als Weltvollender in der Herrlichkeit" 1 5 angekündigt habe, das sei die verklärte und vollendete Gemeinde. 1 6 I h m folgt O . Michel in seinem Artikel zu „ναός" 1 7 , wenn er den ναός άχειροποίητος des markinischen Tempelworts mit „dem neuen wunderbaren Bau der Endgemeinde" 1 8 identifiziert; zuvor war Jeremias' Interpretation schon von E . Lohmeyer 1 9 aufgenommen worden: D e r Evangelist „versteht diesen Tempel dann wohl als die eschatologische Gottesgemeinde, die Ekklesia, deren Vergleich mit einem Bau oder Tempel ein vertrautes Bild jüdischer Eschatologie ist ...; in Allem spricht sich nur die Eine Tatsache aus: Ich bin der Vollender der Endzeit und inrer Gottesgemeinde." 2 0 Gegen die Jeremias'sche Auffassung sieht Lohmeyer die Epitheta χειροποίητος/άχειροποίητος jedoch als sekundäre „Zusätze" 2 1 an, durch die der Evangelist „eine andersartige und ursprüngliche Überlieferung ... um ihre Schärfe gebracht hat." 2 2 F . H a h n sieht in der Hinzufügung der Epitheta χειροποίητος/άχειροποίητος „eine ekklesiologische Umdeutung" 2 3 des ursprünglich eschatologisch gemeinten Tempelworts; allerdings sei die „Spiritualisierung des Nachsatzes auf die neue Heilsgemeinde und ihren wahren Gottesdienst" 2 4 hin schon von einem vormarkinischen Redaktor vorgenommen worden 2 5 , dem Evangelisten Markus verdanke das auf diese Weise umgestaltete Tempelwort lediglich seine Einfügung in die Synhedriumsperikope. 2 6 Eine Deutung des markinischen ναός άχειροποίητος hin auf die Gemeinde vertreten auch E . Schweizer 2 7 und D . Dormeyer 2 8 , jeweils unter Verweis auf die von B. Weiß angeführte paulinische Tradition der Kirche als Tempel Gottes. 2 9 I m folgenden tritt in dieser Auslegungstradition eine Differenzierung ein: Während

15 J. Jeremias, Jesus, 81. 16 So J. Jeremias, Jesus, 40.81 unter Rekurs auf Joh 4, 23f. 17 O. Michel, ναός, 8 8 4 - 8 9 5 ; seine Abhängigkeit von Jeremias bei der Betrachtung des Tempelworts dokumentiert Michel in der Fußnote 888(f.)A16. 18 O . Michel, ναός, 888. 19 Ε. Lohmeyer, Markus, 326f. 20 E. Lohmeyer, Markus, 327; explizit wird der Bezug auf Jeremias hier freilich nicht erwähnt; vgl. weiter Ders., Reinigung, 257-264, wo E. Lohmeyer den hier skizzierten Ansatz einer eschatologischen Sammlung und Vollendung des Gottesvolkes auch auf den irdischen Jesus selbst zurückzuführen versucht - wiederum im Zusammenhang eines Konflikts Jesu mit dem Kultus Israels. 21 E. Lohmeyer, Markus, 327. 22 Ebd.; so schon J. Weiß, s.o. Anm. 10. 23 F. Hahn, Mission, 100; vgl. auch Mission, 65, sowie 29(f.)A3. 24 F. Hahn, Mission, 65. 25 Ebd. 26 F. Hahn, Mission, 100A5. 27 E. Schweizer, Markus, 180. 28 D. Dormeyer, Passion, 161; dort mit einer m.E. nur teilweise überzeugenden Bestreitung der von E. Linnemann [s.u., bes. Anm. 49ff.] gegen diese Auffassung vorgebrachten Argumente (Dormeyer, Passion, 160-162). 29 l.Kor 3, 16f.; 2.Kor 6, 16 sowie Eph 2, 2 0 - 2 2 , vgl. oben Anm. 8f.

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G. Klinzing in Bezug auf Mk 14, 58 durchaus unter Berufung u.a. auf O. Michel die Meinung vertritt, der Evangelist habe bei der Charakterisierung des neuzuerrichtenden Tempels als .nicht mit Händen gemacht' „aller Wahrscheinlichkeit nach an die christliche Gemeinde gedacht"30, ordnet er - ausdrücklich gegen O. Michel - das Wortpaar χειροποίητος/άχειροποίητος sachlich bzw. traditionsgeschichtlich nicht der Apokalyptik, sondern der Götzenpolemik des [hellenistischen] Judentums zu: „der Begriff χειροποίητος ist nur im hellenistischen Judentum geläufig und ohne direkte Entsprechung in der Apokalyptik. In Mk 14, 58 kommt er auch zu dem vorgegebenen eschatologischen Moment erst sekundär hinzu." 31 Auf dem anderen Flügel der auf B. Weiß und J. Jeremias zurückgehenden Auslegungstradition von Mk 14, 58 wird nach F. Vouga durch das Adjektiv «χειροποίητος gerade „der eschatologische Charakter der neuen Wirklichkeit ... hervorgehoben" 2\ mit dem ναός «χειροποίητος ist nach Vouga jedoch ausdrücklich der Auferstandene selbst gemeint 33 und nicht etwa die Gemeinde. Von der eschatologischen Gottesgemeinde nach Lohmeyer verbleibt hier nur das eschatologische Moment. In einer zweiten Linie der Forschungsgeschichte wird die Interpretation des ναός «χειροποίητος als Gemeinde bestritten. H . Wenschkewitz34 sah in den markinischen Epitheta χειροποίητος/άχειροποίητος lediglich eine redaktionelle „Verdeutlichung"35 des Evangelisten, zumal die Epitheta nur kenntlich machen sollten, daß der neue Tempel nicht von Menschen, sondern durch Gott gegründet würde, was durch die wunderbar kurze Zeitdauer der drei Tage freilich schon impliziert sei. Im Gegensatz zum vierten Evangelisten habe Markus also auf eine eigene Interpretation des Tempelworts, das Wenschkewitz im übrigen nach R.A. Hoffmann deutet36, verzichtet. Entsprechend verwirft Wenschkewitz auch die von B. und J. Weiß vertretene Deutung des zweiten Versteils auf die Gemeinde: ,,Άχειροποίητος charakterisiert den neuen Tempel als nicht menschlichen, also himmlischen Ursprunges, vgl.

30 G. Klinzing, 203. 31 G. Klinzing, 203f. 32 F. Vouga, 57. 33 Ebd. 34 Vgl. zum Tempelwort H. Wenschkewitz, 97-101. 35 H. Wenschkewitz, 98A2. 36 H. Wenschkewitz, 100 samt Al; zu R.A. Hoffmann vgl. die Darstellung im forschungsgeschichtlichen Teil des Abschnitts 2.4. dieser Studie; nach Wenschkewitz ist ein Wort Jesu, das die Zerstörung und Erneuerung des Tempels ankündigte, aufgrund des expliziten messianischen Anspruchs des irdischen Jesus von jüdischen Hörern zum in der 1. Person Jesu formulierten Tempelwort umgeformt und so als „falsches Zeugnis" im Prozeß gegen Jesus verwendet worden; das dem Tempelwort vorausliegende Herrenwort hat Jesus nach Wenschkewitz in dem Bewußtsein formuliert, „eine überlegene Bezeugung der Gnadengegenwart Gottes zu sein. Mit dem Rätselwort von Zerstörung und Wiederaufbau des Tempels hat er auf seinen Tod und seine Auferstehung hingewiesen" (101) [vgl. hierzu das als Ergebnis der Exegese von Joh 2, 19* (Abschnitt 2.4.) Formulierte],

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Lietzmann 2 1923, S. 117, zu II. Kor. 5ιι ,«χειροποίητος ist, was nicht menschlicher, sondern unmittelbarer göttlicher Schöpfertätigkeit seinen Ursprung verdankt'. D e r Gegensatz ist also nicht ein materieller und ein geistiger Tempel, d. h. Jerusalemer Tempel und Gemeinde." 3 7 „ D a ß Jesus d a m i t . . . die Entstehung der christlichen Gemeinde gemeint haben sollte, ist unwahrscheinlich. Der Gedanke der Gemeinde als Tempel ist erst seit Paulus im Urchristentum sicher nachweisbar". 38 Nach Wenschkewitz wird die Deutung des „nicht mit Händen gemachten" Tempels auf die Gemeinde also vom Wortsinn der Adjektive χειροποίητος/άχειροποίητος, der für die sich auf B. Weiß begründende Äuslegungstradition weniger von Bedeutung war als die Korrespondenz des in M k 14, 58 begegnenden Tempelmotivs mit l.Kor 3,16f./2.Kor 6,16, nicht gedeckt. Wenschkewitz' Sicht wurde von E. Lohses Artikel ,,χείρ, χειραγωγέω, χειραγωγός, χειρόγραφον, χειροποίητος, «χειροποίητος, χειροτονέω" 39 gestützt. Während χειροποίητος nach Lohse im üblichen hellenistischen Gebrauch „den Gegensatz des von Menschen gefertigten Werkes zum natürlich Gewordenen" 4 0 hervorhebe, bezeichne es im Neuen Testament „an allen Stellen, an denen es verwendet wird, den Gegensatz des von Menschenhänden Errichteten zum Werk Gottes" 41 ; daß in M k 14, 58 mit dem ναός «χειροποίητος die christliche Gemeinde gemeint sein müsse, ergibt sich für Lohse daher nicht zwangsläufig, zumal auch in H e b r 9, 11.24 der Gegensatz von irdischem Tempel und himmlischem Heiligtum durch den Gebrauch von χειροποίητος angegeben werden kann. 4 2 E. Linnemann ging im Zusammenhang ihrer Bestreitung der Historizität des Tempelwortes 4 3 auf die markinische Variante des Logions und speziell auf die Epitheta χειροποίητος/άχειροποίητος ein, um die seit J. Weiß vertretene These 4 4 zu widerlegen, die Evangelisten hätten ein schroff gegen das Heiligtum gerichtetes authentisches Tempelwort Jesu auf verschiedene Weise zu „entschärfen" versucht, und im Falle von M k sei dies durch die Hinzufügung der genannten Adjektive geschehen. Da E. Linnemann ähnlich wie E. Lohse den Wortsinn von «χειροποίητος als „durch außermenschliche Kräfte zustande gekommen" 4 5 bzw. als „von Gott gewirkt" 46 bestimmt, sei, wie Linnemann durch das Anführen weiterer neutestamentlicher Belege von χειροποίητος/άχειροποίητος begründet, im Tempelwort durchaus eine eindeutige Wertung zuungunsten des „mit Händen gemachten" Heiligtums ausgesagt: „Lohmeyer ist deshalb im Unrecht mit seiner Behauptung, daß der Gegensatz χειροποίητος — «χειροποίητος ,der Anklage je-

37 H. Wenschkewitz, 98A2; Hervorhebung im Text. 38 H. Wenschkewitz, 100. 39 E. Lohse, χείρ, 413-427. 40 Ε. Lohse, χείρ, 425. 41 Ε. Lohse, χείρ, 426. 42 Ebd. 43 Ε. Linnemann, 116-127. 44 J. Weiß, Die drei älteren Evangelien, 213, s.o. Anm. 10. 45 E. Linnemann, 121. 46 E. Linnemann, 122.

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des Gewicht n e h m e n würde'." 4 7 Wenn aber selbst das markinische Tempellogion als strikt adversative Aussage gegen das Jerusalemer Heiligtum verstanden werden will, m u ß L i n n e m a n n auch die seit B. Weiß 4 8 vertretene „ D e u t u n g des ά λ λ ο ς ναός M k . 14, 58 auf die G e m e i n d e als .geistlichen Tempel'" 4 9 widerlegen; entsprechend läßt sich diese D e u t u n g nach L i n n e m a n n „aus d e m Begriff « χ ε ι ρ ο ποίητος ... auf keinen Fall entnehmen." 5 0 D e n n der Wortsinn 5 1 verrät keinen Bezug auf die christliche Gemeinde, u n d w o „die Begriffe άχειροποίητος oder χ ε ι ροποίητος außerhalb von M k . 14, 58 im N T v o r k o m m e n , wird nirgends die G e meinde als .nicht mit H ä n d e n gemachter Tempel' bezeichnet oder in den Blick genommen" 5 2 , wie sich L i n n e m a n n im folgenden zu zeigen b e m ü h t . Des weiteren sei die den H i n t e r g r u n d der Interpretation von B. Weiß 5 3 bildende „Vorstellung von der Gemeinde als Tempel Gottes ... im N T zwar zu finden, aber keineswegs so häufig nachzuweisen, wie man angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der sie zur Auslegung von M k . 14, 58 herangezogen wird, erwarten sollte." 5 4 L i n n e m a n n schließt: „ D i e geringe Verbreitung dieser Anschauung erlaubt es nicht, sie für M k . 14, 58 vorauszusetzen u n d unter dem Tempel, der nicht mit H ä n d e n gemacht ist, die G e m e i n d e zu verstehen, zumal das Tempelwort u n d sein Kontext dafür keinen Anhalt bieten." 5 5 Nach L i n n e m a n n spricht für eine Interpretation des Tempelworts M k 14, 58 auf die christliche G e m e i n d e also weder das Vorliegen einer geprägten diesbezüglichen Tradition innerhalb der frühesten Christenheit, noch kann der Wortsinn der Epitheta χειροποίητος/άχειροποίητος hierfür in Anspruch g e n o m m e n werden. D i e in diesem Z u s a m m e n h a n g notwendige traditionsgeschichtliche Verortung der Epitheta leistete M . Hengel 5 6 , indem er das Motiv des mit H ä n d e n gemachten Tempels als verbreiteten „Topos gemäßigter griechischer wie jüdischer Kultkritik" 5 7 bestimmte. Konsequent angewendet w i r d dieses Ergebnis von K. Berger bei der Entfaltung seiner Sicht der frühesten hellenistischen Gemeinde 5 8 :

47 E. Linnemann, 121. 48 B. Weiß, Marcusevangelium, 472, vgl. das oben hierzu Angemerkte. 49 E. Linnemann, 122. 50 Ebd. 51 E. Linnemann: „von Gott gewirkt" 122. 52 E. Linnemann, 122. 53 B. Weiß redete von einer „bekannte(n) apostolische(n) Anschauung" Marcusevangelium, 472. 54 E. Linnemann, 123; E. Linnemann widerlegt im folgenden die diesbezügliche Relevanz einiger mitunter für ein Verständnis der Gemeinde als Tempel angeführter Belege, so u.a. Mt 12, 6; 16, 18; Mk 12, 10; Acta 4, 11; l.Petr 2, 4 - 8 ; zu Linnemanns Exegese von l.Kor 3, 16f.; 2.Kor 6, 16; Eph 2, 20-22 vgl. die Kritik von D. Dormeyer, Passion, 160-162; daß diese Belege auf den paulinischen Raum beschränkt sind, hatte schon H . Wenschkewitz, 100, gesehen. 55 E. Linnemann, 124f. 56 E. Hengel, Jesus, 192A138. 57 Ebd. 58 K. Berger, Theologiegeschichte, 140-149.

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Die Jerusalemer Hellenisten, die „einen Ersatz der bestehenden Kultpraxis mit der Nennung des Namens Jesu verbanden und damit den Tempel als Sühneort... überflüssig machten" 59 , griffen das „Schlaewort .nicht von H ä n d e n gemacht'" 60 als einen Topos „philosophischer Tempelkritik" 6 1 auf 6 2 und deuteten ein ursprünglich eschatologisch konnotiertes Drohwort Jesu (Mk 14, 58) gegen den Tempel 6 3 in ihrem Sinne christologisch-kultkritisch. „Die theologische Position der Hellenisten verdankt sich somit an einem entscheidenden Punkt der Umdeutung einer Jesustradition auf der Basis jüdisch-hellenistischer Tempelkritik." 64 Das theologische Anliegen der Hellenisten bei der Formulierung ihres mit dem Tempelwort bzw. mit dem Schlagwort „«χειροποίητος" verbundenen Standpunktes basierte also auf ihrer vom Tempel gelösten, christologisch orientierten Soteriologie und bestand letztlich in der Entgrenzung Gottes vom Jerusalemer Heiligtum: „Die Position der Hellenisten ist..., daß das ganze Weltall, besonders der H i m m e l , Haus Gottes sei." 65 Auch nach K. Berger hat das Tempelwort M k 14, 58 also nicht die christliche Gemeinde im Blick 66 , allerdings kann weder seine - aus Acta 6f.l7 und H e b r 9 gewonnene - Interpretation des ναός «χειροποίητος auf den H i m m e l überzeugen 67 , noch seine Annahme, das Adjektiv «χειροποίητος sei schon von Jesus aus-

59 K. Berger, Theologiegeschichte, 142. 60 K. Berger, Theologiegeschichte, 143. 61 K. Berger, Theologiegeschichte, 142. 62 Eine Systematisierung der „Tradition rationalistischer Institutionen-Kritik im frühen Christentum" soweit sie mit den Adjektiven χειροποίητος/άχειροποίητος in Zusammenhang steht, bietet Berger, Theologiegeschichte, 143f.; fraglich erscheinen m.E. Interpretation und Einordnung von Kol 2, 11. 63 Allerdings scheint Berger das Adjektiv «χειροποίητος hier aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen zum authentisch-jesuanischen Bestand des Logions zu rechnen (Theologiegeschichte, 143f.); daß die Frage einer durch literarkritische Operationen aufweisbaren Genese des Tempelworts offenbar ausgeklammert werden soll [vgl. hierzu auch das in Abschnitt 2.4. zu Berger Angemerkte], erweist sich hier nicht als hilfreich. Die „Umdeutung von Jesu Tempelwort" durch die Hellenisten muß Berger - da er eine Redaktion am Tempelwort methodisch ausklammert - entsprechend an Acta 6, 13f.; 7, 48 festmachen (Theologiegeschichte, 144); im Abschnitt 1.3. dieser Studie wurde der rein lukanische Charakter dieser Belege gezeigt, authentische Zeugnisse der Jerusalemer Christenheit liegen hier somit nicht vor. 64 K. Berger, Theologiegeschichte, 144. 65 K. Berger, Theologiegeschichte, 146; neben Acta 7, 48; 17, 24 zieht Berger als diesbezüglichen Beleg auch Hebr 9, 11.24 heran, vgl. Theologiegeschichte, 143f. 66 Allerdings wird Mk 14, 58 von Berger auch nicht im Kontext der markinischen Endredaktion betrachtet, wie dies bei B. Weiß und E. Lohmeyer der Fall war, sondern letztlich als authentisches Herrenwort, s.o. Anm. 63. 67 Zumindest für Mk 14, 58 nicht; zur Interpretation des „nicht mit Händen gemachten" Zeltes von Hebr 9, 11 auf den Himmel vgl. P. Andriessen, 83ff.; skeptisch demgegenüber H.-F. Weiß, 486 samt A14.

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gesprochen worden. 6 8 Als recht hilfreich ist jedoch Bergers Verortung der E p i theta bei einer philosophischen (hellenistischen) Tempelkritik anzusehen, die v o m hellenistischen Flügel der Gemeinde aus christologisch-soteriologischen Motiven heraus rezipiert wurde. Diese Zuordnung würde sowohl in den Rahmen dessen passen, was im vorangegangenen Abschnitt dieser Untersuchung zur älteren Fassung des Tempellogions J o h 2 , 1 9 * postuliert wurde, als auch zum Kontext der vormarkinischen Redaktion des Passionsberichtes, welche das Tempelwort erst in den Leidensbericht eintrug. U m also das Logion M k 14, 58 auslegen zu können, muß zuerst Klarheit über die Wortbedeutung der diese Variante des Tempelworts bestimmenden, sekundären Epitheta gewonnen werden; wie der Blick auf die Forschungsgeschichte zeigt, hat gerade die Deutung des ναός άχειροποίητος entscheidenden Einfluß auf das Verständnis des gesamten Logions. D i e traditionsgeschichtliche Bestimmung der Epitheta χειροποίητος/άχειροποίητος entscheidet somit auch darüber, ob der oben skizzierten Anregung Bergers gefolgt werden kann.

Das Adjektiv «χειροποίητος ist dem vor-ntl. Griechisch unbekannt 69 , eine Negierung von χειροποίητος, wie sie im N T in Hebr 9, 11.24 vorliegt, oder eine Wortverbindung wie das in Dan 2, 34f. ( L X X ) begegnende ανευ χειρών können freilich sachlich das Gleiche aussagen. Der Begriff χειροποίητος bezeichnet seit Herodot das vom Menschen Angefertigte im Gegensatz zum auf natürliche Weise Gewordenen. So kann Josephus den die Festung Herodeion tragenden Hügel als χειροποίητος qualifizieren, da Herodes ihn zu diesem Zweck extra hatte aufwerfen lassen. 70 Dieser Gebrauch wird von der L X X auf spezifische Weise abgewandelt. χειροποίητα begegnet hier als Äquivalent zum hebräischen •"'!?",i?i