Das Schicksal der Erde. Katastrophenzukünfte in skandinavischer Science Fiction des Anthropozäns [1. ed.] 9783968219028, 9783968219035

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Das Schicksal der Erde. Katastrophenzukünfte in skandinavischer Science Fiction des Anthropozäns [1. ed.]
 9783968219028, 9783968219035

Table of contents :
Cover
1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän
Das Konzept des Anthropozäns
Anthropozän und Science Fiction
Über dieses Buch
Teil I: Das Ende der Welt
2 Apokalypse im Anthropozän
Aniara
Das Epos im Anthropozän
Eine Revue vom Menschen in Zeit und Raum
Kassandrarufe
3 Nuklearer Holocaust
Mima
Der Geist in der Maschine
Inferno
Nuklearer Winter
4 Die Einzigartigkeit der Erde
Eine Reise durch den Kosmos
Ein Universum aus Kristall
Gyralität
Raumschiff Erde
Teil II: Die Wiederentdeckung der Erde
5 Klimakatastrophen im Anthropozän
Space With No Time
Zukunftsarchäologie
Globale Erwärmung
Globale Verdunkelung
6 Planetarische Imagination
Die Erde von oben
Technosphäre
Der Raum ohne Zeit
Cyborgs
7 Schluss: Der Anfang vom Ende
Literaturverzeichnis

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Philipp Martin

Das Schicksal  der Erde Katastrophenzukünfte in skandinavischer Science Fiction des Anthropozäns

nordica

Philipp Martin Das Schicksal der Erde

Katastrophenzukünfte in skandinavischer Science Fiction des Anthropozäns

RO MBACH W I S S EN S C H A F T • R E I H E NO R D ICA herausgegeben von Annegret Heitmann und Joachim Schiedermair Band 30

Philipp Martin

Das Schicksal der Erde Katastrophenzukünfte in skandinavischer Science Fiction des Anthropozäns

Auf dem Umschlag: NASA, Foto-ID: AS11-36-5339, entstanden am 16. Juli 1969 im Rahmen der ersten bemannten Mondlandung. Nachträglich mit verbesserter Bildqualität veröffentlicht am 21. Juli 2014. Für die Förderung der Drucklegung danke ich dem Institut für Nordische P ­ hilologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: München, LMU, Diss., 2022 ISBN 978-3-96821-902-8 (Print) ISBN 978-3-96821-903-5 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2022 © Rombach Wissenschaft – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

»You wonder, if you could get everyone in the world up there, wouldn’t they have a different feeling – a new perspective? It’s almost as if you have come back from the future. You wonder, if only everyone could relate to the beauty and the purposefulness of it, the reality of the infinity of time and space.« (NASA-Astronaut Eugene Cernan im Interview mit Frank White, 3. Dezember 1985)

Dank

Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die 2022 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Entstanden ist sie im Rahmen meiner Mitgliedschaft im DFG-Gra­ duiertenkolleg »Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisie­ rung« zwischen 2018 und 2021. Für die finanzielle Förderung, die die Verwirklichung meiner Arbeit möglich gemacht hat, danke ich der Deut­ schen Forschungsgemeinschaft. Mein größter Dank gilt meiner Doktormutter Prof. Dr. Annegret Heit­ mann, die mich von Anfang bis Ende auf meiner gedanklichen Reise durch Raum und Zeit fachlich sowie persönlich begleitet und auch bei der Navigation durch die schwierigsten Passagen unterstützt hat. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Joachim Schiedermair für die Ermutigung, mein Vorhaben in dieser Form umzusetzen und die Möglichkeit, meine Annahmen zum Weltuntergang zu erproben. Ebenso danke ich Prof. Dr. Robert Stockhammer für den kritischen Blick und die wichtigen Impulse zur Frage, was es heißen kann, sich nun in einer neuen Epoche zu befin­ den. Darüber hinaus gilt mein Dank den Mitgliedern des Graduiertenkol­ legs und den Angehörigen des Instituts für Nordische Philologie der LMU, die mir als Inspirationsquelle und Weggefährten zur Seite standen. Und schließlich danke ich meiner Familie und meinen Freunden, die mir als Fixpunkte am Horizont die Rückkehr auf den Erdboden gewiesen haben.

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Inhalt

1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän Das Konzept des Anthropozäns Anthropozän und Science Fiction Über dieses Buch

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Teil I: Das Ende der Welt 2 Apokalypse im Anthropozän Aniara Das Epos im Anthropozän Eine Revue vom Menschen in Zeit und Raum Kassandrarufe

49 50 56 64 69

3 Nuklearer Holocaust Mima Der Geist in der Maschine Inferno Nuklearer Winter

79 79 87 94 103

4 Die Einzigartigkeit der Erde Eine Reise durch den Kosmos Ein Universum aus Kristall Gyralität Raumschiff Erde

111 111 120 128 134

Teil II: Die Wiederentdeckung der Erde 5 Klimakatastrophen im Anthropozän Space With No Time Zukunftsarchäologie Globale Erwärmung Globale Verdunkelung

145 146 152 160 168

9

Inhalt

6 Planetarische Imagination Die Erde von oben Technosphäre Der Raum ohne Zeit Cyborgs

179 179 188 196 204

7 Schluss: Der Anfang vom Ende

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Literaturverzeichnis

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

Science Fiction hat sich in Zukünfte hinausgewagt, in denen die Erde kaum noch wiederzuerkennen ist: Eine globale Katastrophe hat den Pla­ neten heimgesucht und zum ökologischen Kollaps geführt. Sie hat die Beschaffenheit weiter Teile der Planetenoberfläche und die Bedingungen für sämtliches Leben drastisch verändert, sodass die Habitabilität und der Fortbestand der Arten bedroht werden. Mal näher der Gegenwart, mal ferner schildert Science Fiction, wie die Erde Gefahr läuft, ihre sin­ guläre Eigenschaft als der einzige bekannte Ort im Weltraum, an dem Leben nachweislich existiert, für immer zu verlieren. Aus heutiger Sicht wenig überraschend ist der Weltuntergang in derartigen Zukunftsszenari­ en nicht auf außerirdische Ursachen zurückzuführen, sondern auf eine einzelne terrestrische Spezies: Homo sapiens. Anhand menschengemachter globaler Katastrophen buchstabiert Science Fiction aus, auf was es im Anthropozän – wie die Bezeichnung lautet, die für das aktuelle Kapitel in der Erdgeschichte vorgeschlagen wurde – im schlimmsten Fall hin­ auslaufen könnte: Die Erreichung eines systemischen Umschlagpunkts, die Übertretung einer kritischen Schwelle und damit eine fundamentale und in der geologischen Vergangenheit nie dagewesene Transformation des Erdsystems. Abgeleitet von den altgriechischen Wörtern ánthrōpos (ἄνθρωπος), ›Mensch‹ und kainos (καινός), ›neu‹ beschreibt das Konzept des Anthropozäns als das ›Zeitalter des Menschen‹ eine neue, von anthro­ pogenen Einflüssen dominierte erdgeschichtliche Epoche und die damit einhergehenden planetarischen Konsequenzen. Die Greifbarmachung des gegenwärtigen Epochenwechsels geschieht auch über den Rückgriff auf vormoderne Erzählformen, die einen existen­ ziellen Zusammenhang zwischen dem Schicksal des Menschen und der Erde herstellen. Zwar ist die Vorstellung vom Ende der Welt1 so alt wie

1 Der Begriff der Welt ist aufgrund seiner oszillierenden Bedeutung unscharf. Als Ska­ lierungsgröße für eine in sich geschlossene Ganzheit kann er auf unterschiedlichen Ebenen angesetzt werden und meint beispielsweise die Gesamtheit der menschlichen Wirklichkeit oder aber den gesamten Weltraum. Zusätzliche Unschärfe erhält er durch die synonyme Verwendung mit dem Begriff der Erde, der im Kontext des Anthropozäns ebenfalls durch die Kategorien des Globus und des Planeten unscharf geworden ist. Hier bezeichnet der Begriff Welt die Lebenswirklichkeit des Menschen und die Erde als existenzielle Lebensgrundlage gleichermaßen. Der Begriff Erde wird grundsätzlich in seiner astronomischen und erdsystemischen Bedeutung als Planet verstanden.

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

die menschliche Zivilisation selbst. Doch während dafür lange Zeit eine natürliche beziehungsweise übernatürliche Ursache imaginiert wurde, zeichnet sich am Horizont des Anthropozäns ein anderes Bild ab. Heute besteht Konsens darüber, dass vom Menschen das größte Risiko für die zukünftige Bewohnbarkeit der Erde ausgeht, weil menschliche Aktivitäten – angetrieben von einem unaufhaltsamen Fortschritt – seit 1950 begonnen haben, unseren Planeten flächendeckend und tiefgreifend umzugestalten. 2 Aus dem Konzept der neuen geologischen Epoche, das den Menschen so­ wohl in den Mittelpunkt rückt als auch in den Gesamtzusammenhang des Erdsystems einordnet, ergibt sich eine elementare Verstrickung: Mensch und Erde gehen im Anthropozän als eine Schicksalsgemeinschaft hervor (Lewis und Maslin 2018, 16). Statt einen Ereignisverlauf ohne menschli­ ches Zutun zu implizieren, ist der Schicksalsbegriff im Kontext planetari­ scher Zukunftsprognosen durch den anthropogenen Einfluss umgedeutet worden. Im Anthropozän ist der Mensch zur größten planetarischen Kraft geworden und bestimmt – wenn auch unbeabsichtigt und unfreiwillig – die Entwicklungen des Lebenserhaltungssystems der Erde in einem bisher unübertroffenen Maß. Jonathan Schell hat die prekäre Situation, in der sich die Menschheit seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befindet, 1982 in seinem Buch The Fate of the Earth eindringlich zum Ausdruck gebracht (Schell 1982). Obwohl es Schell in erster Linie um eine Warnung vor den möglichen katastrophischen Folgen eines nuklearen Holocaust geht, antizipiert er im gleichen Moment auch andere globale ökologische und klimatische Gefahrenpotenziale und formuliert in seiner Risikoabschätzung ein ent­ scheidendes Bewusstsein für die Verstrickung des Menschen innerhalb des planetarischen Gefüges. Im Titel meines Buchs hallt nicht nur Schells Buchtitel wider, sondern auch dessen nachdrücklicher Aufruf zum Han­ deln, der angesichts der drohenden Apokalypse im Anthropozän erneute Relevanz erhalten hat: In weighing the fate of the earth and, with it, our own fate, we stand before a mystery, and in tampering with the earth we tamper with a mystery. We are

2 Natürlich bleibt das Szenario eines Weltuntergangs insofern einem gewissen Anthropo­ zentrismus verhaftet, als dass es in erster Linie an dem Aussterben der Menschheit gemessen wird. Dass dies nicht notwendigerweise ein Ende aller Lebewesen bedeutet, sondern auch eine posthumane beziehungsweise nichtmenschliche Perspektive auf die Zukunft des Anthropozäns eröffnet, stellt einen weniger beachteten Aspekt der neuen Epoche dar. Dennoch liegt der Schwerpunkt dieser Untersuchung auf den Implikationen der Katastrophenzukunft für die Überlebenswahrscheinlichkeit aus menschlicher Sicht.

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän in deep ignorance. Our ignorance should dispose us to wonder, our wonder should make us humble, our humility should inspire us to reverence and cau­ tion, and our reverence and caution should lead us to act without delay to withdraw the threat we now pose to the earth and to ourselves. (95)

Der Diskurs um den Vorschlag zur Neubenennung der aktuellen erdge­ schichtlichen Epoche, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten sowohl in wissenschaftlichen als auch in nichtwissenschaftlichen Kreisen ein starkes Echo ausgelöst hat, ist unmissverständlich auf die Zukunft ausgerichtet. Gleichzeitig muss das Anthropozän als Kulminationspunkt einer lange im Entstehen begriffenen Bewusstwerdung über den destruktiven anthro­ pogenen Einfluss verstanden werden, die sich ab der Mitte des 20. Jahr­ hunderts im Kontext zunehmender Globalisierungsprozesse intensiviert (Bonneuil und Fressoz 2017, 170). Daraus ergeben sich auch die Ausgangskoordinaten von Science Fic­ tion-Erzählungen, die die Ermächtigung des Menschen durch die Technik in den Zusammenhang mit der radikalen Umschreibung des modernen Selbst- und Weltbilds bringen. Als narrativer Möglichkeitshorizont sind Zukunftsszenarien in der Lage, die räumlichen und zeitlichen Dimension dieses grundlegenden Wandels wirkungsvoll ins Bild zu setzen. Dieses Buch untersucht die Funktion von Science Fiction für die Reflexion des Anthropozäns, indem es seinen Fokus einerseits auf die Katastrophenima­ gination richtet und andererseits die damit verbundenen Herausforderun­ gen für die Erzählbarkeit in den Blick nimmt. Die literarische Ausein­ andersetzung mit dem gegenwärtigen epochalen Umbruch datiert weit vor die Einführung des Konzepts des Anthropozäns. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen Texte, die mit erstaunlicher Weitsicht auf den Anthropozän-Diskurs des 21. Jahrhunderts vorgreifen. Vor diesem Hintergrund unternimmt dieses Buch eine Neulektüre zweier skandinavischer Texte, die exemplarisch für die Antizipation der Implika­ tionen einer gemeinsamen Zukunft von Mensch und Erde gesehen wer­ den können: Das 1956 veröffentlichte Epos Aniara. En revy om människan i tid och rum (Aniara. Eine Revue vom Menschen in Zeit und Raum) des schwe­ dischen Schriftstellers Harry Martinson und die zwischen 1983 und 1989 erschienene Romantetralogie Rummet uden tid (Der Raum ohne Zeit) der dänischen Schriftstellerin Inge Eriksen. Beide Skandinavier sind in erster Linie nicht für das Schreiben von Science Fiction bekannt. Harry Martinson, der Mitglied der Svenska Aka­ demien (Schwedischen Akademie) war, ist für seinen Beitrag zur schwe­ dischen Literatur des 20. Jahrhunderts – vor allem für seine lyrischen

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

Naturschilderungen – hoch angesehen. Nichtsdestotrotz war ausgerechnet sein Science Fiction-Epos Aniara ausschlaggebend dafür, dass er 1974 den Nobelpreis für Literatur erhielt.3 Aniara ist sowohl als »atomålderns första stora epos« (das erste große Epos des Atomzeitalters) (Hall nach Lagerroth 1990, 6), als auch als »den teknologiska tidsålderns första versepos om människan i rymden« (das erste Versepos des Technologiezeitalters über den Menschen im Weltraum) (Wrede 1965, 13) beschrieben worden, und hat von Anfang an eine enorme Popularität in Schweden genossen. Inter­ nationale Aufmerksamkeit erhielt das Werk jedoch erst durch Karl BirgerBlomdahls schwedische Opernversion von 1959 mit einem Libretto von Erik Lindgren, an dem Martinson beteiligt war. Seitdem sind zahlreiche weitere Adaptionen von Aniara entstanden, unter anderem in Form einer schwedischen Verfilmung durch das Regieduo Pella Kågerman und Hugo Lilja im Jahr 2018. Bei Aniara fällt unmittelbar dessen ungewöhnliche Form ins Auge. Das Epos besteht aus 103 in Versen verfassten Gesängen, wobei Versmaß und vor allem Verszahl teils deutlich variieren. Aufgrund des Umfangs des Texts ist mitunter auch die Rede von einem Gedichtepos beziehungsweise einem epischen Gedicht. Der Rückgriff auf die Form des Epos ist mit dem Anspruch verbunden, die Welt in ihrer Gesamtheit abzu­ bilden, die Menschliches und Nichtmenschliches einschließt. Der Univer­ salanspruch wird zusätzlich durch die innovative sprachliche Gestaltung unterstrichen, mit der Martinson unterschiedliche literarische Stilelemen­ te vermischt und zahlreiche Wortneuschöpfungen einbringt. Inge Eriksen – die wiederholt von Science Fiction Gebrauch machte und mit dem dazugehörigen Diskurs vertraut war – hat sich zeitlebens als Autorin in Dänemark politisch engagiert und Literatur stets als Aushand­ lungsort für gesellschaftliche Entwicklungen und mögliche Alternativen gesehen. Ihre Science Fiction-Romantetralogie Rummet uden tid ist zwar treffenderweise als eine »samtidshistorie om utopiens umulighed« (Zeitge­ schichte über die Unmöglichkeit der Utopie) (Tang 2003) bezeichnet wor­ den. Der Text hat in der Forschung jedoch so gut wie keine Beachtung ge­ funden und wird höchstens im gleichen Atemzug mit anderen Texten von Eriksen erwähnt. Dabei nimmt die Romantetralogie einen prominenten Platz in Eriksens Werk ein und stellt einen der wichtigsten Beiträge zur dänischen Science Fiction dar. Für die ersten drei Bände erhielt Eriksen 1986 den Science Fiction Cirklen-Preis des gleichnamigen und führenden 3 Martinson wurde der Nobelpreis für Literatur zusammen mit seinem Landsmann Eyvind Johnson verliehen.

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

dänischen Science Fiction-Vereins. Rummet uden tid scheint auf den ersten Blick – abgesehen von dessen enormem Umfang von fast 1.700 Seiten – einer, auch für Science Fiction üblicheren, konventionellen Prosaform zu entsprechen. Erst bei genauerem Hinsehen wird klar, dass Eriksens sich über vier Bände erstreckende Romanreihe keiner geradlinigen Erzählung folgt, sondern in mehrere Erzählebenen zerfällt. Aufgrund der Fragmen­ tierung lässt sich der Gesamtzusammenhang der Tetralogie nur schwer er­ schließen. Die Lektüre erzwingt eine Perspektivierung jenseits des beinahe unüberschaubaren Figurenarsenals, um die räumlichen und zeitlichen Di­ mensionen des beschriebenen Zusammenfalls von Menschheitsgeschichte und Erdgeschichte nachvollziehen zu können. Dass Rummet uden tid bis heute nahezu ungelesen geblieben ist, liegt also sicherlich auch an der durchaus beabsichtigten Unlesbarkeit des Texts. Martinsons und Eriksens Erzählungen können als Versuche gelesen werden, Science Fiction für die Problematisierung der Wahrnehmbarkeit und Darstellbarkeit der Katastrophenzukunft im Anthropozän zu funktio­ nalisieren. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Texte ihre Ziele auf unterschiedlichen Wegen erreichen: Aniara strebt die Übersetzung der von schwer greifbaren Phänomenen geprägten Wirklichkeit in der neu­ en Epoche durch eine metaphorische Bildsprache an, während sich Rum­ met uden tid deren Komplexität bis zur Widersetzung der Lesbarkeit ver­ schreibt und damit metareflexiv auf die Erzählproblematik der Geschichte verweist. Dadurch ergeben sich viele zentrale Gemeinsamkeiten in Bezug auf die thematische Ausrichtung, die naturwissenschaftliche Fundierung und die ästhetische Theorie. Beide Texte schildern, wie der anthropogene Einfluss in der Zukunft eine ökologische Katastrophe herbeiführt, die im Verlust der Erde als Lebensraum resultiert. Während in Aniara unser Planet infolge eines nuklearen Holocaust unbewohnbar wird, geschieht dies in Rummet uden tid durch die Eskalation des anthropogenen Klima­ wandels. Die Katastrophenursache ist jeweils dem historischen Kontext geschuldet: Martinson reagiert auf die wachsende Bedrohung durch den sich zuspitzenden Kalten Krieg, in dem die Vernichtung der Erde durch Kernwaffen nur eine Frage der Zeit scheint. Eriksen stützt sich hingegen auf die frühen Erkenntnisse über das Zusammenwirken der menschlichen Aktivitäten mit dem Erdsystem und die katastrophischen Auswirkungen auf die Atmosphäre. Auf diese Weise wird in beiden Zukunftsszenarien die Bewusstwerdung des Menschen als planetarische Kraft in der neuen Epoche und dessen Eintritt in die Katastrophengeschichte der Erde nach­ gezeichnet. 15

1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

Aniara und Rummet uden tid lassen sich darüber hinaus auch vor dem Hintergrund der Selbstinszenierung und Fremdwahrnehmung der skandi­ navischen beziehungsweise nordischen Länder4 lesen, für die literarische Texte eine entscheidende Rolle spielen (Hennig et al. 2018). Oft wird diesen Ländern eine Sonderposition in global- und umweltpolitischen Angelegenheiten attestiert, gelten sie doch als Vorbilder bei der Lösung weltweiter Herausforderungen, die – wenn überhaupt – nur noch mit gemeinsamen Anstrengungen gelingen kann.5 Die Katastrophenursachen in Martinsons und Eriksens Texten – die nukleare Bedrohung und der anthropogene Klimawandel – knüpfen an die Notwendigkeit einer Glo­ bal Governance an, die nicht an Ländergrenzen Halt macht. Im Kalten Krieg waren die skandinavischen Länder, trotz gewisser Einschränkungen, grundsätzlich um Neutralität bemüht und haben sich für eine globale Friedenssicherung eingesetzt. Daneben gilt ihr Engagement vor allem einer ökologischen Zukunftsgestaltung. Einen Höhepunkt bildet zum einen die erste Konferenz der Vereinten Nationen zum anthropogenen Einfluss auf die Umwelt, die auf Initiative Schwedens hin in Stockholm 1972 stattfand und als Startpunkt für eine globale Umweltpolitik gilt. Zum anderen der zukunftsweisende Bericht Our Common Future der Ver­ einten Nationen aus dem Jahr 1987 für nachhaltige Entwicklung, der auch als ›Brundtland-Bericht‹ bezeichnet wird, benannt nach der ehemali­ gen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, die als Vorsitzende der dafür verantwortlichen Weltkommission für Umwelt und Entwicklung fungierte (World Commission on Environment and Deve­ lopment 1987). Das Konzept des Anthropozäns

Der Begriff Anthropozän wurde im Jahr 2000 von Paul Crutzen und Eugene Stoermer vorgeschlagen, um die gegenwärtige erdgeschichtliche

4 Während unter Skandinavien normalerweise die Länder Dänemark, Norwegen und Schweden verstanden werden, schließt der Begriff des Nordens auch die Länder Finn­ land, Island und Grönland sowie die Ålandinseln und die Färöer mit ein. 5 Die Ministerpräsidenten beziehungsweise Premierminister der nordischen Länder haben sich 2017 zusammengeschlossen, um Lösungsansätze für die Herausforderungen des globalen Wandels zu formulieren, die vor allem dazu beitragen sollen, die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen bis 2030 zu erreichen (Nordic Council of Ministers).

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Das Konzept des Anthropozäns

Epoche neu zu benennen (Crutzen und Stoermer 2000).6 Auslöser waren nach Auffassung der Naturwissenschaftler die nicht mehr zu übersehen­ den Spuren menschlicher Aktivitäten auf unserem Planeten, die in der bisherigen geologischen Zeitskala unberücksichtigt bleiben. Nach der offi­ ziellen Zeitrechnung befinden wir uns noch immer im Holozän,7 einer in­ terglazialen Warmzeit, die vor etwa 11.700 Jahren nach der letzten Eiszeit einsetzte, und innerhalb derer sich der Großteil der menschlichen Zivilisa­ tionsgeschichte abgespielt hat. Während das Holozän von ungewöhnlich stabilen ökologischen Verhältnissen und – zumindest aus heutiger Sicht – von äußerst günstigen Lebensbedingungen gekennzeichnet ist, lässt sich seit der jüngsten geologischen Vergangenheit ein fundamentaler globaler Wandel beobachten, der von Veränderungen im Klima bis zum Verlust der biologischen Vielfalt reicht. Im Rückblick betrachtet hat das Holozän – wie Crutzen und Stoermer festhalten – der Menschheit den Weg als eine ernstzunehmende geologische Kraft gebahnt, deren Wirkung heute auf der gesamten Erde erkennbar ist. Das Konzept des Anthropozäns markiert deswegen nicht nur einen epochalen Umbruch, sondern bringt diesen gleichzeitig in einen direkten Zusammenhang mit dem zunehmenden weltweiten anthropogenen Einfluss: Considering […] major and still growing impacts of human activities on earth and atmosphere, and at all, including global, scales, it seems to us more than appropriate to emphasize the central role of mankind in geology and ecology by proposing to use the term »anthropocene« for the current geological epoch. The impacts of current human activities will continue over long periods. (Crutzen und Stoermer 2000, 17)

Die Vorstellung von einer geologischen Epoche menschlicher Prägung ist bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder aufge­ griffen worden (Steffen et al. 2011). Obwohl sich Crutzen und Stoermer für ihren bahnbrechenden Vorschlag auf eine Reihe an konzeptuellen Vorläufern berufen können, gestaltet sich die Festlegung eines konkreten Startdatums für das Anthropozän alles andere als einfach. Wie Eva Horn und Hannes Bergthaller in ihrer Einführung zum Anthropozän betonen, hängt die Verortung des anthropogenen Einflusses in der Erdgeschichte

6 Zwei Jahre später verhalf Crutzen dem Vorschlag endgültig zum Durchbruch, als er das Konzept des Anthropozäns noch einmal in seinem Aufsatz »Geology of mankind« rekapitulierte (Crutzen 2002). 7 Sinngemäß lässt sich die Bezeichnung als ›das ganz Neue‹ übersetzen, von altgriechisch hólos (ὅλος), ›ganz‹ und kainós (καινός), ›neu‹.

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

im Wesentlichen davon ab, ob die anthropogenen Ursachen des globalen Wandels oder aber die daraus entstehenden Folgen stärker gewichtet wer­ den (Horn und Bergthaller 2020, 46). Die Spannung »zwischen einem his­ torisierenden und einem aktualisierenden Verständnis des Anthropozäns« (46) führt wiederum dazu, dass in dem Diskurs um den Epochenvorschlag unterschiedliche Narrative aufeinandertreffen. Crutzen und Stoermer sind sich dieser grundlegenden Schwierigkeit bewusst und schließen deswegen zukünftige, alternative Datierungen nicht im Vorhinein aus. Mit einem Fokus auf die Veränderung der chemischen Zusammensetzung der Atmo­ sphäre setzen sie selbst den Beginn des Anthropozäns an den Beginn der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Crut­ zen und Stoermer 2000, 17). Ab diesem Zeitpunkt lässt sich der Ausstoß klimawirksamer Treibhausgase – allen voran Kohlenstoffdioxid (CO2) und Methan (CH4) – durch den Einsatz fossiler Brennstoffe nachweisen, die als Hauptverursacher für die globale Erderwärmung aufgeführt werden.8 Angesichts der Tatsache, dass heute in der globalen Erderwärmung die größte Bedrohung für die zukünftige Bewohnbarkeit der Erde gesehen wird, überrascht besonders die mit Crutzen und Stoermers Vorschlag verbundene Aussicht in die Zukunft: Bleibt unser Planet von einer globa­ len Katastrophe, wie beispielsweise einem weltweiten Nuklearkrieg, ver­ schont, – so die optimistische Vorhersage – wird die Menschheit auch für die kommenden Jahrtausende, wenn nicht sogar Jahrmillionen, ihre Sonderrolle weiter behaupten (18). Crutzen und Stoermers Datierungsvorschlag erfüllt grundsätzlich die Voraussetzungen der International Commission on Stratigraphy (ICS), die für die hierarchische Unterteilung der Erdgeschichte zuständig ist. Der Beginn eines neuen geologischen Zeitabschnitts wird normalerwei­ se an bedeutenden globalen Umweltveränderungen festgemacht, die in einem gleichen Zeitraum auftreten und sich im Nachhinein stratigrafisch bestimmen lassen. Vorzugsweise wird der Übergang von einer vorherigen Epoche in die nächste mit einem repräsentativen Global Boundary Strato­ type Section and Point (GSSP), auch ›golden spike‹ genannt, markiert. Oft gibt eine Epochenschwelle Aufschluss über das Erscheinen oder das Verschwinden ganzer Spezies. Damit das Anthropozän als eigenständiger Zeitabschnitt in die geologische Zeitskala aufgenommen werden kann,

8 Beispielsweise ist die Kohlenstoffdioxidkonzentration in der Atmosphäre seit 1750 um fast 50 Prozent angestiegen und liegt heute höher als in den vergangenen zwei Millionen Jahren (Masson-Delmotte 2021, 8).

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Das Konzept des Anthropozäns

müssen sich die menschlichen Aktivitäten in den Schichten der Erdober­ fläche – wie beispielsweise im Sedimentgestein oder im Gletschereis – als eindeutiges, global messbares Signal identifizieren lassen (Lewis und Maslin 2015, 173). Die Bedeutung einer Umbenennung der erdgeschicht­ lichen Gegenwart in das Anthropozän liegt auf der Hand. Sie würde einen in der bisherigen Menschheitsgeschichte einzigartigen Moment der Selbstreflexion zum Ausdruck bringen: »Not only would this represent the first instance of a new epoch having been witnessed firsthand by advanced human societies, it would be one stemming from the consequences of their own doing« (Waters et al. 2016). Im Jahr 2009 wurde von der International Commission on Stratigra­ phy eine Anthropocene Working Group (AWG) mit Jan Zalasiewicz als Vorsitzendem einberufen, um die Voraussetzungen für eine Formalisie­ rung des Anthropozäns zu untersuchen. 2016 hat sich die Anthropocene Working Group mehrheitlich, zunächst informell, und 2019 schließlich formell für die stratigrafische Formalisierung einer neuen Epochenschwel­ le ausgesprochen, die den Entscheidungsträgern in absehbarer Zukunft vorgelegt werden soll (Zalasiewicz 2017/Subcommission on Quaternary Stratigraphy 2019). In der Zusammenfassung des gegenwärtigen Erkennt­ nisstands um den Epochenvorschlag wird der Beginn des Anthropozäns von der Anthropocene Working Group in die Mitte des 20. Jahrhunderts gelegt (Zalasiewicz et al. 2019). Die Grundlage für den Startzeitpunkt bildet die als ›Great Acceleration‹ bezeichnete exponentielle Zunahme der menschlichen Aktivitäten auf der Erde.9 Diese Schubphase ist auf Glo­ balisierungsprozesse zurückzuführen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Explosion der Weltbevölkerung und des weltweiten Wirtschafts­ wachstums sowie zu einem nie dagewesenen Energie-, Ressourcen- und Flächenbedarf geführt haben. Bis heute erreicht die Great Acceleration in vielen Bereichen neue Höhepunkte, wobei sich die Auswirkungen un­ terschiedlich niederschlagen. Als Spitzenkandidat für einen gemeinsamen Global Boundary Stratotype Section and Point werden künstliche radioak­ tive Stoffe in den Erdschichten und der Atmosphäre aufgeführt, die bei

9 Für den Zeitraum zwischen 1750 und 2010 wurde der sprunghafte Anstieg anschaulich in Graphen abgebildet, deren Kurvenverlauf der Form eines Eishockeyschlägers ähnelt (Steffen et al. 2015a). Die Darstellungen der erdumspannenden Dynamiken beziehen sich einerseits auf Indikatoren sozioökonomischer Trends und andererseits auf mit die­ sen korrelierenden Indikatoren für die Entwicklung des Erdsystems.

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

Kernwaffenexplosionen ab 1945 freigesetzt wurden.10 Wenn auch diese sogenannten Radionuklide – in erster Linie handelt es sich dabei um die Isotope von Kohlenstoff (14C) und Plutonium (239Pu) – für sich allein genommen kein weltveränderndes Ereignis darstellen, besitzen sie doch den Vorteil eines äußerst exakten historischen Wendepunkts (Zalasiewicz et al. 2014, 6). Der Vorschlag, eine Epochenschwelle sozusagen »mitten in der Gegen­ wart« (Horn und Bergthaller 2020, 11) festzulegen, ist von einem geolo­ gischen Standpunkt aus betrachtet revolutionär. Normalerweise erfolgt die Einteilung der geologischen Zeitskala in Zeiträume von mehreren tausend Jahren. Erst aus ausreichendem zeitlichem Abstand werden Um­ brüche in der Erdgeschichte, die nicht immer sofort global nachweisbar sind, sichtbar. Das Anthropozän dagegen stellt einen nahezu plötzlichen Einschnitt dar, dessen ganzes Ausmaß sich aus stratigrafischer Sicht erst in der Zukunft offenbaren wird. Eva Horn und Hannes Bergthaller heben in ihrer Einführung von Anfang an hervor, dass es am Ende nur eine untergeordnete Rolle spielt, ob das Anthropozän als offizielle geologische Zeiteinheit anerkannt wird oder nicht (12). Entwicklungen wie die Gre­ at Acceleration sind – auch wenn sie nicht als Startdatum einer neuen geologischen Epoche gesehen werden – zumindest im menschlichen Zeit­ horizont der Beginn einer grundlegenden Veränderung der Erde und des Verhältnisses des Menschen zu ihr. Aus diesem Grund ist das Konzept des Anthropozäns jenseits der Geologie längst zu einer Gegenwartsdiagnose geworden und damit nicht mehr wegzudenken (12). Seit der Einführung des Begriffs hat die Vorstellung, dass der Mensch zu einer planetarischen Kraft mit weitreichenden Konsequenzen geworden ist, kontinuierlich Nachdruck erhalten. In einem entscheidenden Punkt weicht die Debatte allerdings von dem vorgezeichneten Kurs der ursprünglichen Konzeption des Anthropozäns ab: Die katastrophischen Folgen des anthropogenen Einflusses können, auch wenn sie nicht beabsichtigt sind, in Zukunft nicht relativiert werden.

10 Um diesen präzisen ›bomb peak‹ konkurrieren drei Varianten: a) Die erste Detonation einer Kernspaltungsbombe 1945, wobei deren radioaktiver Niederschlag kein globales Ausmaß besitzt. b) Die global messbare Radionuklidkonzentration infolge der ersten und weitaus stärkeren Detonation einer Kernfusionsbombe 1952. c) Deren Maximum in den beiden Jahren unmittelbar nach dem 1963 in Kraft tretenden Atomstoppabkom­ men zum Verbot von überirdischen Kernwaffentests (Treaty Banning Nuclear Weapon Tests in the Atmosphere, in Outer Space and Under Water) (Waters et al. 2015).

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Das Konzept des Anthropozäns

Unter anderem wurde das Konzept des Anthropozäns von der Erdsys­ temwissenschaft aufgegriffen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Geschichte und die Zukunft unseres Planeten ganzheitlich zu beschrei­ ben, und die ebenfalls den Ausgangspunkt für Crutzen und Stoermers anfänglichen Verortungsversuch des anthropogenen Einflusses bildet. Als ein disziplinenübergreifendes Forschungsfeld, das sich bereits seit den 1960er-Jahren formiert, hat sich die Erdsystemwissenschaft als richtungs­ weisend für das Verständnis globaler Zusammenhänge erwiesen. Wie der Name vermuten lässt, beruht die Erdsystemwissenschaft auf dem Modell von der Erde als ein einziges, zusammenhängendes System (Steffen et al. 2007, 615). Das Erdsystem umfasst die Komplexität aller terrestrischen Prozesse und ihrer Wechselwirkungen, von der Lithosphäre über die Hy­ drosphäre und die Atmosphäre bis hin zur Biosphäre. Es vereint in erster Linie die globalen physischen, chemischen und biologischen Stoffkreisläu­ fe und Energieflüsse auf der Erdoberfläche. Auch das Leben auf der Erde, inklusive des Menschen, stellt einen integralen Bestandteil des Erdsystems dar.11 Die rund 4,5 Milliarden Jahre lange Geschichte des Erdsystems ist seit jeher von gravierenden Zustandsänderungen, sowohl aufgrund von externen als auch von internen Ursachen, gekennzeichnet. Was im Verlauf der Erdgeschichte jedoch gleichgeblieben ist, ist die Eigenschaft der Selbstregulation, mit der ein dynamischer Gleichgewichtszustand auf­ rechterhalten wird. Angetrieben von der Sonne als Hauptenergiequelle bildet das Erdsystem die Voraussetzung für das Leben auf unserem Plane­ ten. Dementsprechend kann es auch als Lebenserhaltungssystem bezeich­ net werden, das die Erde im ansonsten unbelebten Weltraum einzigartig macht. Ohne das Modell des Erdsystems sind die Implikationen des Konzepts des Anthropozäns in ihrem vollen Umfang nicht zu begreifen. Aus erdsys­ temischer Sicht lässt sich der globale Wandel definieren als die Verände­ rung der Struktur und Funktionsweise des Erdsystems (Steffen et al. 2007, 615). Diese Veränderung besitzt inzwischen ein derartiges Ausmaß, dass in Hinblick auf die zukünftige Entwicklung des Erdsystems ein gewaltiger Richtungswechsel erwartet wird. Im schlimmsten Fall geht damit eine Aufhebung des Gleichgewichts des Erdsystems einher, wodurch schluss­ endlich die Singularität der Erde aufs Spiel gesetzt wird. Im Kontext des Anthropozäns drängt sich die Frage auf, zu welchem Grad mensch­ 11 Ein Modell des Erdsystems mit dem Menschen als Komponente wurde bereits 1986 popularisiert (NASA Advisory Council. Earth System Sciences Committee 1986, 19).

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

liche Aktivitäten dafür verantwortlich sind. Als die Auswirkungen des globalen Wandels auf das Erdsystem umfassend von internationalen For­ schungsprogrammen – angeführt vom International Geosphere-Biosphere Programme (IGBP) – im Jahr 2001 festgehalten wurden, lautete die Ant­ wort eindeutig: Der anthropogene Einfluss führt zu Veränderungen, die zuvor nur natürlichen Faktoren vorbehalten waren. Der Mensch ist nun zur hauptverantwortlichen Triebkraft des globalen Wandels avanciert und hat das Potenzial, das Erdsystem nachhaltig zu destabilisieren. Deswegen werden die kommenden Jahrzehnte die Weichen für die zukünftige Habi­ tabilität unseres Planeten endgültig stellen: Earth System dynamics are characterised by critical thresholds and abrupt changes. Human activities could inadvertently trigger such changes with severe consequences for Earth’s environment and inhabitants. […] Human activities have the potential to switch the Earth System to alternative modes of operation that may prove irreversible and less hospitable to humans and other life. […] In terms of some key environmental parameters, the Earth System has moved well outside the range of the natural variability exhibited over the last half million years at least. The nature of changes now occurring simultaneously in the Earth System, their magnitudes and rates of change are unprecedented. The Earth is currently operating in a no-analogue state. (Steffen et al. 2005, 298)

Dass das Erdsystem in einen Zustand versetzt worden ist, der keine Ent­ sprechung in der Erdgeschichte hat, das ist das radikale Novum der neuen Epoche. Natürlich bedeutet dies nicht, dass die Spezies Homo sapiens in ihrer bisherigen 300.000-jährigen Geschichte keinen Einfluss auf die Erde ausgeübt hätte. Der Mensch steht mit seiner Umwelt in Wechselbezie­ hung von dem Moment an, als er zum ersten Mal seinen Fuß auf den Planeten setzte. Für den Großteil dieser Zeit waren menschliche Aktivitä­ ten – auch wenn sie noch so massive räumliche und zeitliche Auswirkun­ gen hatten – allerdings insofern begrenzt, als dass sie die Erde nicht in ihrer Gesamtheit betrafen. Erst aus erdsystemischer Perspektive lässt sich beschreiben, dass der anthropogene Einfluss eine kritische Masse erreicht hat, die die Lebensbedingungen auf der gesamten Erde in kürzester Zeit verändern. Das entscheidende Kriterium für das Anthropozän als neuer Abschnitt auf der geologischen Zeitskala ist die Tatsache, dass sich der Zustand des Erdsystems nicht mehr mit demjenigen des Holozäns verglei­ chen lässt (Waters et al. 2016). Weil sich im Zeitraum der letzten 70 Jahre die Kopplung des menschlichen Einflussbereichs mit dem Erdsystem in nie dagewesener Größenordnung vollzogen hat, sieht auch die Erdsystem­

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Das Konzept des Anthropozäns

wissenschaft in der Great Acceleration das überzeugende Startdatum für eine neue geologische Epoche (Steffen et al. 2015a, 81). Der exponentielle Charakter, der der Great Acceleration innewohnt, verweist nicht nur auf die rasante Geschwindigkeit, mit der sich das Erdsystem verändert, sondern auch auf dessen Eskalation. Eine zentrale Frage der Erdsystemwissenschaft ist deswegen, was passiert, wenn der vom Menschen in Gang gesetzte globale Wandel weiter Fahrt aufnimmt und das Erdsystem somit zunehmend ins Wanken gerät. Eine Modellie­ rung der Zukunft, auf die unser Planet zusteuert, hat von Diskontinuitä­ ten, das heißt sprunghaften Veränderungen, als wesentliche Parameter auszugehen. Nichtlineare Übergänge in einem System werden anhand von sogenannten ›tipping points‹, auf Deutsch Umschlagpunkte oder Kipppunkte, festgemacht, an denen eine Entwicklung abbricht, umschlägt oder beschleunigt wird. Umschlagpunkte beschreiben also eine kritische Schwelle, deren Überschreitung die Funktionsweise des Systems qualita­ tiv verändert (Lenton et al. 2008, 1786). Bereits kleine Veränderungen reichen aus, um eine große Wirkung nach sich zu ziehen. Und auch wenn sich eine Überschreitung nicht sofort bemerkbar macht, kann sie Kaskadeneffekte auslösen. Bezogen auf die Erde lassen sich unterschied­ liche Umschlagpunkte identifizieren, die alle das Potenzial haben, das Erdsystem aus seinem Gleichgewichtszustand zu bringen. Grund dafür sind selbstverstärkende Prozesse, sogenannte Rückkopplungsschleifen, die – einmal angestoßen – zu nicht kontrollierbaren, nicht vorhersehbaren und nicht umkehrbaren Entwicklungen führen können. Bei einem unver­ änderten globalen Wandel wird das Erreichen kritischer Schwellen inner­ halb des 21. Jahrhunderts prognostiziert (Lenton et al. 2008, 1792). Angesichts der Bedrohung für die Bewohnbarkeit unseres Planeten durch die Zustandsänderung des Erdsystems wird der Ruf nach einer Verminderung der Auswirkungen des globalen Wandels und einer An­ passung an die daraus resultierenden Lebensbedingungen immer lauter. Einen Vorschlag liefert das Konzept der planetarischen Belastungsgren­ zen, das erstmals 2009 von einer Forschergruppe um Johan Rockström und Will Steffen ausgearbeitet und 2015 noch einmal aktualisiert wurde (Rockström et al. 2009/Steffen et al. 2015b). Abgeleitet von dem Kon­ zept des Umschlagpunkts, stellt es den Versuch dar, nicht verhandelbare Grenzwerte für Erdsystemprozesse festzulegen, um damit »a safe operating space for humanity« (Rockström et al. 2009) zu schaffen. Als Grundlage dieses Bezugsrahmens dienen neun Grenzwerte – an der Spitze stehen Klimawandel und Biodiversität –, die, wenn sie nicht eingehalten werden, 23

1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

zur Aushebelung der Selbstregulation des Erdsystems führen können. Die Extrapolation der Risiken einer Übertretung dieser Grenzwerte, die mit vorindustriellen Werten verglichen werden, ist mit großer Unsicherheit verbunden. Während einerseits noch nicht alle planetarischen Belastungs­ grenzen bekannt sind, gilt andererseits ein Drittel von ihnen bereits als überschritten (Steffen et al. 2015b). Problematisch ist auch die mit dem Konzept verbundene Vorstellung von einer »stewardship of the entire Earth System« (Steffen et al. 2018, 8252), die als einzige Möglichkeit für die Bewahrung der Habitabilität der Erde einen massiven Eingriff durch Technik – zusammengefasst unter dem Begriff Geo-Engineering – rechtfertigt. Dennoch haben die planetarischen Belastungsgrenzen ent­ scheidend zur Bewusstwerdung über die geopolitische Dimension des Anthropozäns beigetragen, die eine erst noch zu etablierende Form der Global Governance verlangt. Eine wichtige Erkenntnis, die sich aus der Perspektive der Erdsystem­ wissenschaft auf die neue Epoche ergibt, betrifft unser Verständnis von der Natur. Die feste Verankerung der menschlichen Aktivitäten im plane­ tarischen Gefüge versinnbildlicht die elementare Verstrickung zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem. Gleichzeitig wird klar, dass es sich beim Anthropozän nicht um ein anthropozentrisches Konzept in dem Sinn handelt, dass sich die Erde von nun an einzig und allein um den Menschen drehen wird. Auch wenn das Anthropozän dem Men­ schen eine Sonderrolle zuschreibt, unterstreicht es doch vor allem, dass die Entwicklung der Erde und die der Spezies Homo sapiens nicht mehr getrennt voneinander betrachtet werden können. Der nicht zuletzt in der Debatte um den Epochenvorschlag instabil gewordene Naturbegriff ist in der Erdsystemwissenschaft einer folgenreichen Neuperspektivierung unterzogen worden. Während die Stabilität der Ökologie unseres Plane­ ten im Holozän noch die Vorstellung von der Natur als ein statischer Hintergrund, vor dem sich die Menschheitsgeschichte abspielt, begünstigt hat, verdeutlicht das Modell des Erdsystems dagegen, dass das, was lange Zeit für unveränderlich angesehen wurde, nur eine Momentaufnahme in einer Reihe von anhaltenden Transformationen ist. Deswegen ist die Abwendung vom Holozän auch eine Abwendung von traditionellen Vor­ stellungen der Natur als eines ereignislosen und geschichtslosen Raums (Horn und Bergthaller 2020, 72). Das Anthropozän führt unweigerlich zur Politisierung der nun endgül­ tig in die Belange der Menschheit miteinbegriffenen natürlichen Welt und damit zu einer Neubestimmung menschlicher und nichtmenschli­ 24

Das Konzept des Anthropozäns

cher Handlungsmacht beziehungsweise Wirkmacht, für die sich im Deut­ schen auch der englische Begriff agency durchgesetzt hat, in einem nie dagewesenen Ausmaß. Den Umstand, dass der Mensch buchstäblich Erd­ geschichte schreibt, hat Dipesh Chakrabarty wegweisend in seinem Auf­ satz »The Climate of History: Four Theses« beleuchtet (Chakrabarty 2009). Anhand der durch den anthropogenen Klimawandel hervorgerufenen globalen Erderwärmung – die Chakrabarty als Stellvertreter für den Zu­ sammenfall der Geschichten im Anthropozän dient – zeigt er auf, was es für die Geschichtsschreibung heißt, einen Blick auf die Gesamtheit unseres Planeten und seiner Bewohner zu werfen. Weil wir im Anthro­ pozän mit räumlichen und zeitlichen Skalen konfrontiert werden, die sich nicht ohne Weiteres mit dem menschlichen Horizont vereinbaren lassen, kommt Chakrabarty zu dem Schluss, dass etablierte Geschichtsnar­ rative – wie die Geschichte der Globalisierung – nicht ausreichen, um die Menschheitsgeschichte als Teil der Geschichte des Lebens auf der Erde erzählen zu können (213). Der Zusammenfall der Geschichten erzwingt eine Neuperspektivierung, die sowohl eine planetarische als auch eine tie­ fenzeitliche Dimension miteinschließt. Chakrabartys zentrale These lautet deswegen, »that anthropogenic explanations of climate change spell the collapse of the age-old humanist distinction between natural history and human history« (201).12 Weil das Anthropozän vor allem das Ergebnis unbeabsichtigter menschlicher Aktivitäten ist, tut sich im Hinblick auf die neuerlangte kol­ lektive agency des Menschen ein Zwiespalt auf zwischen einer intentiona­ len Handlungsmacht einerseits und einer nicht-intentionalen Wirkmacht andererseits (Horn und Bergthaller 2020, 222). Um sich vor Augen führen zu können, wie die Menschheit zu einer geologischen Kraft geworden ist, hält es Chakrabarty für unumgänglich, »to scale up our imagination of the human« (Chakrabarty 2009, 206). Dazu bringt er die für die Geschichts­ schreibung nicht unproblematische Kategorie der Spezies ins Spiel: We may not experience ourselves as a geological agent, but we appear to have become one at the level of the species. […]

12 Hierbei handelt es sich um eine künstliche, vom Menschen geschaffene Trennung, die eng mit der Vorstellung einer ›Selbsterschaffung des Menschen‹ im Holozän verbunden ist, und die Eva Horn und Hannes Bergthaller auf den »Ursprung der Ausdifferenzie­ rung von Geistes- und Naturwissenschaften am Anfang des 19. Jahrhunderts« (Horn und Bergthaller 2020, 204) datieren.

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän Species may indeed be the name of a placeholder for an emergent, new univer­ sal history of humans that flashes up in the moment of the danger that is climate change. (221)

Chakrabarty ist sich der Problematik des Speziesbegriffs – der in der Erd­ systemwissenschaft oftmals unhinterfragt verwendet wird – bewusst, weil dadurch eine homogene Handlungsmacht suggeriert wird, die der tatsäch­ lichen Komplexität des anthropogenen Einflusses nicht gerecht wird.13 In den zahlreichen, auf seinen Aufsatz folgenden Publikationen hat Chakrab­ arty deswegen wiederholt auf die Ungleichheiten und Ungleichzeitigkei­ ten hingewiesen, die bei der Übersetzung der Menschheit von einer geo­ physikalischen Kraft in eine geopolitische Macht berücksichtigt werden müssen (Chakrabarty 2018). Die Aufhebung der Trennung zwischen der Geschichte der Erde und der Geschichte der Menschheit hat weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis von Natur und Kultur. Bruno Latour hat sich damit eingehend in seiner Vortragsreihe Facing Gaia. Eight Lectures on the New Climatic Regime beschäftigt (Latour 2017). Latour geht es in erster Linie um die Formulierung eines gemeinsamen Rahmens für das Miteinander mensch­ licher und nichtmenschlicher Akteure. Wie auch Chakrabarty stützt sich Latour für seine gemeinsame Geschichtsschreibung im Anthropozän auf die globale Erderwärmung, die er als »a profound mutation in our relation to the world« (8) beschreibt. Diese hat in der Gegenwart zu einer Instabilität der Natur im doppelten Sinn geführt: Einerseits ist damit die Destabilisie­ rung der ökologischen Verhältnisse auf der Erde gemeint. Andererseits bezeichnet sie die Erschütterung in unserer Vorstellung von der Natur (35). Das Anthropozän bedeutet insofern ein Ende des Konzepts der Na­ tur, als dass der Mensch nicht länger über die beziehungsweise außerhalb der Natur positioniert werden kann und damit auch nicht zur Natur zurückkehren kann. Daraus folgt, dass der Beginn der neuen Epoche eine Abwendung von einem – vorwiegend für eine westliche Denkweise charakteristischen – Dualismus aus Natur und Kultur markiert. Die Un­ trennbarkeit des Menschen von der belebten wie unbelebten Natur und damit die Sprengung der Dichotomie ›Natur/Kultur‹ verweist auf die Hy­

13 Am Speziesdenken setzt die grundlegende Kritik am Konzept des Anthropozäns an: Der Vorwurf, nicht angemessen zwischen Verursachern des anthropogenen Einflusses zu differenzieren, und der Vorschlag von Varianten zum Begriff Anthropozän, wie beispielsweise dem ›Capitalocene‹ (Moore 2016).

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Das Konzept des Anthropozäns

bridisierungstendenzen des Anthropozäns, wodurch gängige Kategorien infrage gestellt und neu geordnet werden. Vor dem Hintergrund der Vorstellung einer von Vielfalt an Akteuren geprägten Welt, aufgrund derer nicht mehr von einem klar definierba­ ren Außen gesprochen werden kann, sieht Latour die Unterscheidung zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem ebenso überkommen wie die zwischen Natur und Kultur (Latour 2017, 58). Für die Revision der Vorstellung von der Erde greift Latour auf James Lovelocks ›Gaia-Hy­ pothese‹ zurück, die dieser zusammen mit Lynn Margulis Anfang der 1970er-Jahre popularisierte (Lovelock und Margulis 1974). Gaia – benannt nach der personifizierten Erde – verkörpert als eine Art Superorganismus die Gesamtheit der alle Lebensbereiche umfassenden Biosphäre und ihre Wechselwirkungen mit dem Erdsystem.14 Die Gaia-Hypothese stellt zwar einen Meilenstein in der Entwicklung des Modells des Erdsystems dar, weil sie erstmals den Blick auf das Zusammenspiel organischer und an­ organischer Komponenten in planetarischem Maßstab wirft. Die Vorstel­ lung, dass die Fähigkeit der Erde zur Selbstregulation der Existenz des Lebens zu verdanken ist, dass sich das Leben seine Lebensbedingungen also selbst schafft, ist heute jedoch sehr umstritten. Dennoch dient sie Latour als Erklärungsmodell für den im Anthropozän herrschenden Zu­ stand unentrinnbarer planetarischer Verstrickung. Für ihn ist Gaia eine säkulare Metapher für die Natur, in der die Vorstellung einer existenziel­ len Verbundenheit und eines speziesübergreifenden Zusammenwirkens Gestalt annimmt (Latour 2017, 75). Gaia ersetzt demnach begrenzte Kon­ zepte der Mensch-Umwelt-Beziehung und erlaubt eine Umverteilung von Handlungsmacht auf nichtmenschliche Bereiche (114).15 Die fundamentale Wende, in deren Zeichen das Anthropozän steht, bildet auch den Ausgangspunkt für Clive Hamiltons Kontrastierung eines gradualistischen mit einem katastrophistischen geologischen Prinzip in seinem Aufsatz »The Anthropocene as rupture« (Hamilton 2016). Für Ha­

14 Entgegen seinem Ursprung in der griechischen Mythologie und der landläufigen Miss­ interpretation der Gaia-Hypothese im Zuge deren Rezeption repräsentiert Gaia in diesem Zusammenhang nicht die harmonische Vorstellung von einer ›Mutter Natur‹ beziehungsweise ›Mutter Erde‹. 15 Basierend auf diesem weitgefassten agency­Begriff, der den Unterschied zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem verwischt, wird auch versucht, den anthropo­ zentrischen Exzeptionalismus ganz aufzugeben zugunsten einer multispeziesistischen Perspektive. Donna Haraway schlägt dafür beispielsweise den Begriff ›Chthulucene‹ statt Anthropozän vor (Haraway 2016).

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

milton stellt die Genese der Erdsystemwissenschaft nichts Geringeres als einen Paradigmenwechsel dar, infolgedessen sich das Anthropozän nicht bloß als ein Umbruch in der jüngsten Erdgeschichte, sondern zugleich als ein Bruch mit unserem bisherigen Geschichtsverständnis liest (93). Weit mehr als die Neubenennung auf den ersten Blick vermuten lässt, verbirgt sich hinter ihr eine epistemologische Wende. Hamilton betont nachdrücklich, dass ein Festhalten an einem gradualistischen Zeitkonzept im Anthropozän nicht mehr möglich ist, weil dieses zu kurz greift und somit Gefahr läuft, die Bedeutung des Konzepts der neuen geologischen Epoche herunterzuspielen (104). In Wirklichkeit handelt es sich beim Anthropozän um eine deutliche Zäsur, die einen vermeintlich gleichför­ migen und vorhersehbaren Verlauf – einschließlich der Prinzipien, die diesem zugrunde liegen – unterbricht: The Anthropocene […] is not a continuation of the past but a step change in the biogeological history of the Earth. […] Geologically speaking, the Anthro­ pocene event, occurring over an extremely short period, has been a very abrupt regime shift, closer to an instance of catastrophism than uniformitarianism. […] The Earth has now crossed a point of no return […] and nothing humans can do now, even ending the burning of fossil fuels in short order, can turn the geological clock back to the Holocene. (100)

In ähnlicher Form wie Hamilton untersucht auch Jeremy Davies das An­ thropozän in seinem Buch The Birth of the Anthropocene unter dem Vorzei­ chen des seit den 1980er-Jahren wiederaufgegriffenen Konzepts des Neo­ katastrophismus (Davies 2016). Dieses Erklärungsmodell geht davon aus, dass die Evolution und das Aussterben von Lebewesen maßgeblich von plötzlichen, extremen Naturereignissen geprägt sind. Durch die Aufgabe eines gradualistischen zugunsten eines katastrophistischen Geschichtsver­ ständnisses lässt sich die Geschichte des Lebens auf unserem Planeten im Rückblick als eine Abfolge abrupter Wechsel und unvorhersehbarer Wendungen interpretieren. Der zentrale Vorschlag von Davies lautet, auch das Anthropozän als »another product of that neocatastrophist turn« (9) zu verstehen, um den anthropogenen Einfluss in eine Reihe gravieren­ der geologischer Transformationsfaktoren mit verheerenden Auswirkun­ gen einzuordnen. Davies geht es in seinem großangelegten Überblick nicht darum, die unabwendbaren Folgen der menschlichen Aktivitäten vor dem Hintergrund geologischer Tiefenzeit zu relativieren. Vielmehr sieht er im Konzept des Neokatastrophismus eine Möglichkeit zur Po­ sitionsbestimmung inmitten des gegenwärtigen epochalen Übergangszus­ tands: »Against the facile amorality of the truism that nature will not

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Anthropozän und Science Fiction

miss humankind after humans’ inevitable demise, the idea of the Anthro­ pocene may yield above all a sense of locatedness in time, a sense of being caught in one particular historical moment« (8). Dies ist der Moment, in dem der Mensch erstmals in der langen Katastrophengeschichte der Erde auf den Plan tritt. Anthropozän und Science Fiction

»Stories matter for the Earth. […] [T]he kind of stories we tell ourselves today about the Anthropocene can shape the kind of geohistorical future we will inhabit« (Bonneuil 2015, 17). Mit diesen Worten beginnt Christo­ phe Bonneuil seinen Aufsatz zum ›geological turn‹ in der Gegenwart, in dem er die Bedeutung von Narrativen für das Selbstbild und Weltbild des Menschen im Anthropozän hervorhebt. Narrative ermöglichen es, sich in einen historischen Zusammenhang einzuschreiben, sie dienen der Veror­ tung in der Geschichte und liefern eine Orientierung für die Zukunft. Im Kontext des Anthropozäns, dessen Anfänge bereits zurück-, dessen mögliche Ausgänge aber noch vorausliegen, kommt ihnen eine zentrale Funktion zu. Mithilfe von Narrativen kann auf eine Zukunft reagiert wer­ den, die – so unklar sie auch sein mag – nicht mehr von der Gegenwart getrennt werden kann. Erzeugt doch erst die Imagination der Erde in der Zukunft ein Bewusstsein für die sich in der Gegenwart formende Gestalt der neuen Epoche. Eva Horn und Hannes Bergthaller betonen deswegen, dass eine Reflexion der Gegenwart im Anthropozän – die aus erdsystemischer Sicht auch immer schon die ferne Zukunft jenseits des menschlichen Zeithorizonts impliziert – eine besondere Perspektivierung voraussetzt: Wo Zukunft aufgrund ihrer zeitlichen Ferne unauslotbar wird, werden übli­ cherweise narrative Techniken eingesetzt […], die es ermöglichen, die Gegen­ wart aus einer antizipierten Zukunftsperspektive zu betrachten. Solche Narrati­ ve ›setzen‹ eine mögliche Zukunft, um von diesem epistemischen Standpunkt aus rückwärtsschauend einen Blick auf die Gegenwart werfen zu können. (Horn und Bergthaller 2020, 209–210)

Die Zukunft im Anthropozän zu erzählen – das machen die Prognosen der Erdsystemwissenschaft klar – bedeutet vor allem, mögliche globale Katastrophen zu erzählen, die durch den anthropogenen Einfluss ausge­ löst werden und oft ein Ausmaß annehmen, das nur schwer vorstellbar ist. Eva Horn hat die Funktion von Narrativen für die Inszenierung der

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Katastrophe umfassend in ihrem Buch mit dem vielsagenden Titel Zukunft als Katastrophe untersucht (Horn 2014). Horns Kernaussage lautet, dass die Imagination der Katastrophe – sei es in der Risikoforschung oder in fik­ tionalen Zukunftsszenarien – seit dem Anbruch der neuen erdgeschichtli­ chen Epoche zum unauslöschlichen Bestandteil der Gegenwart geworden ist: Ein Wissen von der Zukunft, ebenso wie eine Verständigung über sie, ist nicht möglich ohne Rückgriff auf Erzählungen, die von der Zukunft aus auf die Gegenwart ›zurückblicken‹ oder die aus der Kenntnis bisheriger Verläufe eine Voraussage über das Kommende extrapolieren. Solche Narrative strukturieren die Art und Weise, wie wir Künftiges antizipieren, planen, aber vor allem auch zu verhindern suchen. Das Verhältnis zur Zukunft ist daher nicht denkbar ohne Metaphern, Bilder, Visionen oder hypothetische Szenarien möglicher künftiger Welten. (22)

Horn geht es in ihrem Buch nicht nur darum, das breite Spektrum unterschiedlicher Katastrophenszenarien – das heißt den Weltuntergang in irgendeiner Form – aufzuzeigen, sondern auch darum, die Herausfor­ derungen sichtbar zu machen, die mit der Erzählbarkeit einer Zukunft verbunden sind, in der der Mensch im schlimmsten Fall nicht mehr vor­ kommt. Horn demonstriert, dass die Katastrophenimagination im Anthropozän nicht nur besonders produktiv in narrativen Auseinandersetzungen, wie in der Literatur und im Film, ist, von denen viele der Science Fiction zuzuordnen sind. Sie macht auch klar, dass sich sämtliche Erzählungen grundsätzlich mit Begriffen fassen lassen, die der Narratologie entstam­ men. Ursprünglich bezeichnet das Wort Katastrophe – von altgriechisch katastrophè (καταστροφή), ›Umwendung‹ – das Ergebnis eines Verlaufs, während dessen sich die Handlung einer Erzählung in ihr unumkehrbares Gegenteil wendet. Welchen Ausgang die katastrophische Wende – die heute fast ausschließlich in negativer Bedeutung als Sturz ins Unglück verstanden wird – auch nimmt, entfaltet sie ihre volle Wirkung doch immer erst aus einer Perspektive im Nachhinein: »Die Katastrophe ist ein Ende, ein Abschluss, etwas, das gekommen sein wird. […] Erst vom Ende her überschaut man sie« (Horn 2014, 15). Mit der Übertragung des Katastrophenbegriffs auf die Gegenwartsdiagnose im Anthropozän erhält er jedoch insofern eine zusätzliche Dimension, als dass er nun nicht mehr nur ein vorübergehendes Ereignis bezeichnet. Vielmehr wird die Katastrophe zur Zustandsbeschreibung einer sich von der Gegenwart in die Zukunft erstreckenden katastrophischen Wende, die früher oder

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Anthropozän und Science Fiction

später eintreten wird. In Bezug auf das Konzept des Umschlagpunkts als die Bezeichnung für die Übertretung einer kritischen Schwelle schreibt Horn zum Zusammenhang von Latenz und Emergenz der Katastrophe: »Zukunft als Katastrophe ist heute die exakte Verbindung von Kontinuität und Bruch, die Vorstellung, dass gerade die Fortführung des Gegenwärti­ gen auf einen Umschlag, eine katastrophische Wendung zuläuft« (17). Im Kontext von katastrophischen Zukunftsszenarien ist oft die Rede von der Apokalypse, um radikale Veränderungen im Sinne eines Unter­ gangs oder eines Zusammenbruchs zu beschreiben. Darüber hinaus be­ tont Horn aber auch die dem Begriff der Apokalypse zugrundeliegende Bedeutung als Offenbarung, von altgriechisch apokálypsis (ἀποκάλυψις), ›Enthüllung‹. Die Katastrophe als Apokalypse besitzt wortwörtlich eine apokalyptische, das heißt eine enthüllende Funktion, die die über den Ereignishorizont der Gegenwart hinausweisende Zukunft auslotet und somit eine epistemische Funktion erhält: Genau darum erhebt die kommende Katastrophe immer den Anspruch, etwas bereits in der Gegenwart Gegebenes zutage treten zu lassen. […] Etwas, das sonst nur in Hypothesen, statistischen Wahrscheinlichkeiten oder Prognosen eine bestenfalls unscharfe Kontur hat, bekommt plötzlich eine klar greifbare Ge­ stalt. […] Zukunftsvisionen der Katastrophe […] treten mit dem Anspruch auf, etwas freizulegen, etwas zu entdecken, das unterhalb der Oberfläche der Gegenwart noch verborgen ist. (Horn 2014, 25)

Im Unterschied zu ihrer klassischen Bedeutung steht die säkulare Apo­ kalypse heute aber nicht mehr im Zeichen einer himmlischen Heils-, sondern im Zeichen einer irdischen Unheilsgeschichte. Diente die Apoka­ lypse in der biblischen Eschatologie noch der Verkündung vom Ende der Welt und des Anbruchs einer neuen göttlichen Ordnung, verweist sie im Anthropozän auf eine Zukunft, die nicht im Vorhinein festgeschrieben ist, sondern maßgeblich von unseren Entscheidungen in der Gegenwart geformt wird (28). Vermutlich nirgendwo außerhalb der Geologie haben sich Geschich­ ten über die Zukunft der Erde so stark angehäuft und nirgendwo sind Katastrophen im Anthropozän – noch bevor sie vollständig an die Ober­ fläche gedrungen sind – so eindrucksvoll erzählbar gemacht worden wie in Science Fiction. In seinem Buch The Seven Beauties of Science Fiction beschreibt Istvan Csicsery-Ronay Science Fiction als einen Imaginations­ raum für die Auseinandersetzung mit einer Welt, die fundamentalen Transformationen unterzogen wird, als Möglichkeitshorizont für die Aus­

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lotung von Zukünften, die vorrangig vom Menschen bestimmt werden, und als ein Reflexionsmedium, das ein breitgefächertes Spektrum an ge­ sellschaftlichen, philosophischen und wissenschaftlichen Konzepten ver­ eint: »This range is why sf [science fiction] is not a genre of aesthetic entertainment only, but a complex hesitation about the relationship be­ tween imaginary conceptions and historical reality unfolding into the fu­ ture« (Csicsery-Ronay 2008, 4). Aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit und Wan­ delbarkeit schlägt Csicsery-Ronay vor, Science Fiction als »a particular, recognizable mode of thought and art« (5) aufzufassen, dessen Fokus sich – wie der Bezeichnung Science Fiction bereits zu entnehmen ist – in erster Linie auf die Erprobung der mit dem technowissenschaftlichen Fortschritt einhergehenden Implikationen richtet. Der realitätsformende und -verän­ dernde Fortschritt bildet den entscheidenden Nexus in der Auseinander­ setzung von Science Fiction mit dem Anthropozän, lässt sich doch an ihm der Aufstieg der Spezies Homo sapiens zur planetarischen Kraft überhaupt erst erklären und der anthropogene Einfluss am deutlichsten ablesen. Genauso, wie Science Fiction an Fortschrittsnarrativen und Globalisie­ rungsnarrativen mitgewirkt hat, ist sie auch selbst von der Geschichte im Anthropozän seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geformt worden. Zeitgleich mit der Beschleunigung durch die Great Accelerati­ on entsteht auch in Science Fiction der Eindruck, dass die Gegenwart die Zukunft bereits zu einem gewissen Grad eingeholt hat, sodass beide nicht mehr klar voneinander abgegrenzt werden können. Der massive Umbruch in dem gewohnten Koordinatensystem von Zukunftsszenarien betrifft am stärksten deren Erzählperspektive und Zeitstruktur, weil nun die Zukunft nicht mehr von der Gegenwart isoliert betrachtet werden kann. Aufgrund der Verschränkung von Gegenwärtigem und Zukünfti­ gem hat Fredric Jameson in seinem Aufsatz »Progress versus Utopia, Or, Can We Imagine the Future?« die Konsequenz gezogen, dass sich die historische Orientierung von Science Fiction grundlegend umgepolt hat: In reality, the relationship of this form of representation, this specific narrative apparatus, to its ostensible content – the future – has always been more complex than this. For the apparent realism, or representationality, of SF has concealed another, far more complex temporal structure: not to give us »images« of the future – whatever such images might mean for a reader who will necessarily predecease their »materialization« – but rather to defamiliarize and restructure our experience of our own present, and to do so in specific ways distinct from all other forms of defamiliarization. (Jameson 2005, 286)

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Anthropozän und Science Fiction

Die eigentliche Funktion von Science Fiction besteht – so Jameson – darin, uns den gegenwärtigen und in stetiger Veränderung befindlichen Moment, der sich normalerweise ganzheitlicher Betrachtung verwehrt, vor Augen zu führen. Im Einklang mit der bereits erwähnten Argumenta­ tion von Horn und Bergthaller ist dies laut Jameson nur möglich durch eine Historisierung der Gegenwart, die durch eine ausreichende zeitliche Distanznahme mithilfe einer Zukunftsperspektive erreicht wird: [T]he most characteristic SF does not seriously attempt to imagine the »real« fu­ ture of our social system. Rather, its multiple mock futures serve the quite different function of transforming our own present into the determinate past of something yet to come. It is this present moment – unavailable to us for contemplation in its own right because the sheer quantitative immensity of ob­ jects and individual lives it comprises is untotalizable and hence unimaginable […] – that upon our return from the imaginary constructs of SF is offered to us in the form of some future world’s remote past, as if posthumous and as though collectively remembered. […] SF thus enacts and enables a structurally unique »method« for apprehending the present as history. (288)

Es ist erstaunlich, wie treffend das von Jameson beschriebene Moment der Überwältigung – mit der er zwar durchaus eine weltgeschichtliche, aber nicht zwingend eine geologische Dimension im Sinn hat – der Zustands­ beschreibung für die Wirklichkeit im Anthropozän entspricht. Denn die Perspektivierung unüberschaubarer Zusammenhänge ist ja gerade das, was die gemeinsam gewordene Geschichte in der neuen Epoche verlangt. Seitdem das Konzept des Anthropozäns Einzug in die Geistes- und Kul­ turwissenschaften gehalten hat, sind wieder und wieder die grundlegen­ den ontologischen und epistemologischen Herausforderungen hervorge­ hoben worden, die sich für dessen Darstellbarkeit und Wahrnehmbarkeit ergeben. Timothy Morton beschreibt das Anthropozän als eine ontologi­ sche Erschütterung, die sämtliche Wirklichkeitsebenen betrifft (Morton 2013). In seinem Buch Hyperobjects. Philosophy and Ecology After the End of the World problematisiert er die Darstellung einer Wirklichkeit, die durch eine Konfrontation mit Dimensionen jenseits des menschlichen Erfahrungsbereichs um ein Vielfaches angewachsen ist. Für die Komplexi­ tätssteigerung verwendet Morton den Begriff Hyperobjekt: »[H]yperobjects […] refer to things that are massively distributed in time and space rela­ tive to humans« (1). Hyperobjekte sind Dinge, die nicht greifbar, aber allgegenwärtig sind, die nirgendwo festgemacht und überall vorgefunden werden können, und die nicht objektivierbar sind, weil man sich ihnen gegenüber nicht positionieren kann, obgleich der Mensch stets Bestandteil

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ihrer Realität ist. Sie reichen von den kleinsten Phänomenen, wie der mo­ lekularen Zusammensetzung der Atmosphäre und der bei Kernwaffenex­ plosionen als ionisierende Strahlung freigesetzten Energie, bis hin zu den größten, wie dem alle planetarischen Prozesse umfassenden Erdsystem und der Gesamtheit des die Raumzeit in sich vereinenden Universums. Gemeinsam ist Hyperobjekten eine Latenz, sind sie doch grundsätzlich nicht, nicht unmittelbar, oder aber nur in Bruchteilen sichtbar, und kann eine Annäherung an sie nie direkt, sondern immer nur indirekt erfolgen (1–2). Mortons Überlegungen verdeutlichen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Anthropozän – trotz Bemühungen der Überwindung des An­ thropozentrismus durch einen wie auch immer gearteten Posthumanis­ mus – an eine alternativlose menschliche Perspektive gebunden ist. Hy­ perobjekte sind Dinge, die unsere Vorstellungskraft herausfordern, weil ihre Dimensionen unsere Lebenswirklichkeit drastisch übersteigen oder unterschreiten. Aufgrund der aus den Skalenunterschieden entstehenden Widersprüche entziehen sie sich nicht nur der Darstellbarkeit, sondern grundsätzlich auch der Wahrnehmbarkeit (14). Morton hält fest, dass die Koexistenz mit Hyperobjekten das Ende des Konzepts der Welt – im Sinne einer existenziellen Verortung – herbeigeführt hat: »Hyperobjects are what have brought about the end of the world. Clearly, planet Earth has not exploded. But the concept world is no longer operational, and hy­ perobjects are what brought about its demise« (6). Das Ende der Welt und damit der Wegfall eines begrenzenden Horizonts steht in Korrelation mit dem Zusammenfall der Menschheitsgeschichte mit der Erdgeschichte im Anthropozän. Am stärksten äußern sich Hyperobjekte in der der neuen Epoche inhärenten Katastrophenzukunft, deren größte Herausforderung darin besteht, dass diese nicht von der Gegenwart aus überblickt werden kann. Weil sich die Katastrophe weit über den menschlichen Zeithori­ zont hinaus erstreckt, erfordert sie eine Perspektive nach dem eigenen Ende: »Futurality is reinscribed into the present, ending the metaphysics of presence: not through some neat philosophical footwork, but because the very large finitude of hyperobjects forces humans to coexist with a strange future, a future ›without us‹« (94). Timothy Clark verfolgt in seinem Buch Ecocriticism on the Edge. The Anthropocene as a Threshold Concept dagegen eine Problematisierung des Anthropozäns aus einem epistemischen Standpunkt (Clark 2015). Clark argumentiert, dass der Eintritt der Erde in eine neue Epoche gleichzei­ tig den Übertritt in ein neues Bezugs- und Vorstellungsystem markiert, 34

Anthropozän und Science Fiction

das ein Denken in einer neuen Größenordnung sowie in einer neuen Proportionalität voraussetzt (22). Für Clark hängt die Sichtbarmachung des Anthropozäns von den Übergängen zwischen unvereinbaren Dimen­ sionen, sogenannten Skaleneffekten, ab: »The most difficult challenge for critical reevaluations in the Anthropocene is represented by scale effects, that is, phenomena that are invisible at the normal levels of perception but only emerge as one changes the spatial or temporal scale at which the issues are framed« (22). Skaleneffekte werden also vor allem von einer Emergenz, von einem Schwellenverhalten gekennzeichnet und un­ tergraben deswegen ein herkömmliches Kausalitätsverständnis, das auf einer direkten Korrelation zwischen Ursache und Wirkung beruht. Am eindrucksvollsten lässt sich dieser Umstand am anthropogenen Einfluss ablesen, der nicht auf der Ebene der individuellen, sondern erst auf der Ebene einer kumulierten menschlichen Wirkmacht gemessen werden kann: »The Anthropocene is itself an emergent ›scale effect‹. That is, at a certain, indeterminate threshold, numerous human actions, insignificant in themselves […] come together to form a new, imponderable physical event, altering the basic ecological cycles of the planet« (72). Clark beschreibt das Anthropozän als das Aufeinandertreffen inkom­ patibler Skalen, weshalb gängige Zeit- und Raumkonzeptionen, die ur­ sprünglich auf den menschlichen Maßstab abgestimmt sind, nicht mehr ausreichen, um die Wirklichkeit angemessen behandeln zu können. Die Herstellung eines gemeinsamen Referenzrahmens vergleichbarer Größen­ ordnungen, die konstitutiv für jegliche Darstellung ist, nennt Clark »scale framing« (73). Da Skaleneffekte diesen Rahmen häufig sprengen, zeigt die Auseinandersetzung mit dem Anthropozän aus Clarks Sicht im besten Fall die strukturelle Unzulänglichkeit unseres Vorstellungsvermögens auf (176). Entsprechend dem Titel seiner Untersuchung bezieht Clark die He­ rausforderungen für die Darstellung explizit auf das interdisziplinäre Feld des Ecocriticism, das sich mit ökologisch orientierter Literatur beschäftigt, die versucht, das Verhältnis des Menschen zur natürlichen Welt abzubil­ den. Innerhalb des Ecocriticism lässt sich in letzter Zeit eine verstärk­ te Konzentration auf Zukunftsszenarien beobachten, die ihren Ausgangs­ punkt in den Vorhersagen katastrophischer klimatischer Entwicklungen nimmt, und für die sich – in variierendem Überschneidungsgrad mit Science Fiction – der Sammelbegriff Climate Fiction etabliert hat (Milner und Burgmann 2020). Ungeachtet der Produktivität von Climate FictionSzenarien betont Clark, dass diese oft – wenn auch unbeabsichtigt – in einem begrenzten Maßstab verhaftet bleiben und dadurch riskieren, die 35

1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

Komplexität von Skaleneffekten zu reduzieren: »Such approaches evade most of the present-day moral, political dilemmas by simply jumping ahead to some far more straightforward depiction of future disaster« (Clark 2015, 79). Die Auseinandersetzung mit dem Anthropozän in der Literatur ist nicht nur auf die globale Erderwärmung beschränkt – auch wenn diese oft vorschnell als Synonym für den globalen Wandel verwendet wird –, sondern verhandelt auch andere Aspekte, in denen die menschliche mit der nichtmenschlichen Sphäre aufeinandertrifft. Auf der einen Seite wird ›anthropozäne Literatur‹ als narrative Experimentalanordnung ver­ standen, die das Anthropozän denkbar und erfahrbar machen soll (Ver­ meulen 2020). Dies motiviert entweder eine Neubestimmung bestehender Ausdrucksformen oder die Suche nach neuen, wobei sowohl Roman als auch Lyrik auf ihr Potenzial hin untersucht werden (Trexler 2015/Bristow 2015). Dabei sind auch Texte, die vor der Einführung des Begriffs des An­ thropozäns entstanden sind, relevant (Dürbeck und Nesselhauf 2019). Auf der anderen Seite machen Eva Horn und Hannes Bergthaller klar, dass die Auseinandersetzung von Literatur und Kunst mit dem Anthropozän oft zu kurz greift und zu oberflächlich bleibt: »Eine genuine Ästhetik des Anthropozäns muss aber über die Rhetorik der politischen Mobilisierung und über bloße Thematisierungen hinausgehen. Sie hat zu fragen, was es eigentlich heißen könnte, sich dem Befund des Anthropozäns in der Form ästhetischer Darstellung zu stellen« (Horn und Bergthaller 2020, 118). An erster Stelle steht hier die radikale Transformation der Wirklichkeit, durch die das, was einst vertraut war, nun grundlegend anders erscheint: »Eine Ästhetik des Anthropozäns […] muss sich weniger mit der Entfremdung von Mensch und Natur als mit deren fundamentaler Verfremdung ausein­ andersetzen, einem ›Unheimlich-Werden‹ von Lebenswelt« (125). Mit der Problematisierung der Form von Erzählungen im Anthropo­ zän lässt sich auf die für Science Fiction zentrale Frage nach der Dar­ stellbarkeit zurückkommen. Immerhin bildet die Auseinandersetzung mit der Verfremdung der Wirklichkeit die Quintessenz von Science Fiction. Darko Suvin hat in seinem Buch Metamorphoses of Science Fiction. On the Poetics and History of a Literary Genre diesen Umstand in seiner berühmten Definition von Science Fiction als »literature of cognitive estrangement« (Su­ vin 2016, 15) ausgedrückt.16 Mit Kognition (Science) und Verfremdung 16 Suvin bezieht sich lose auf Viktor Šklovskijs Begriff ›ostranenie‹ und Bertolt Brechts Begriff ›Verfremdungseffekt‹ (Suvin 2016, 18).

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Anthropozän und Science Fiction

(Fiction) legt Suvin zwei wesentliche Parameter fest, anhand derer Science Fiction eine Reflexion der sich im Umbruch befindlichen Gegenwart er­ möglicht. Science Fiction, schreibt Suvin, ist »a literary genre whose necessa­ ry and sufficient conditions are the presence and interaction of estrangement and cognition, and whose main formal device is an imaginative framework alternative to the author’s empirical environment« (20). Unter Kognition ver­ steht Suvin eine Neubewertung der Wirklichkeit: »As used here, this term implies not only a reflecting of but also on reality. It implies a creative approach tending toward a dynamic transformation rather than toward a static mirroring of the author’s environment« (22). Die Transformation der Wirklichkeit, die zur Verfremdung führt, entsteht laut Suvin durch ein sogenanntes Novum, das via Kognition im Text plausibilisiert wird: »SF is distinguished by the narrative dominance or hegemony of a fictional ›novum‹ (novelty, innovation) validated by cognitive logic. […] A novum of cognitive innovation is a totalizing phenomenon or relationship deviating from the author’s and implied reader’s norm of reality« (79–80).17 Suvins Definitionsvorschlag ist eng gefasst, weil es ihm einerseits um die Abgrenzung von Science Fiction von anderen Genres und andererseits um die Aufwertung von Science Fiction als eigenständiges Genre geht. Dennoch liefert er wichtige Impulse für die bis heute anhaltende Formu­ lierung einer Poetik von Science Fiction.18 Carl Freedman hat in seinem Buch Critical Theory and Science Fiction Suvins Überlegungen zum An­ lass genommen, um die Repräsentationsstrategie von Science Fiction zu elaborieren (Freedman 2000). Freedman bezeichnet die Wechselwirkung zwischen Kognition und Verfremdung als Dialektik, die es ermöglicht, Science Fiction von realistischen und fantastischen Erzählungen zu unter­ scheiden, die entweder auf einer Deckungsgleichheit der dargestellten Welt mit der Wirklichkeit beziehungsweise auf deren Unvereinbarkeit beruhen (16–17). Freedman konzentriert sich dabei auf das grundlegende Verhältnis zwischen Repräsentation und ihren Referenten und betont, dass die Dialektik zwischen Kognition und Verfremdung – ungeachtet des Grads an Fiktionalität – die Grundlage für jegliche Repräsentation

17 Simon Spiegel schlägt vor, statt von einer Verfremdung als Repräsentationsstrategie von einer ›Vernatürlichung‹ zu sprechen, um Missverständnisse zu vermeiden (Spiegel 2008). 18 Obwohl sich seit der Herausbildung von Science Fiction im ausgehenden 19. Jahrhun­ dert gemeinsame Konventionen und Vorstellungsbilder etabliert haben, existiert bis heute keine überzeugende formale Genre­Definition (Rieder 2010).

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

bildet (21–22). Das entscheidende Kriterium für Science Fiction ist dem­ nach nicht, ob die dargestellte Welt aus kognitiver Sicht plausibilisiert werden kann, sondern, wie sich ein Text zu der durch diesen abgebildeten Transformation der Wirklichkeit verhält. Freedman schlägt deswegen vor, statt nur von Kognition, von einem ›Kognitionseffekt‹ zu sprechen und schreibt: »The crucial issue for generic discrimination is not any epistemo­ logical judgment external to the text itself on the rationality or irrationali­ ty of the latter’s imaginings, but rather […] the attitude of the text itself to the kind of estrangements being performed« (18). Vor dem Hintergrund des Anthropozäns hat sich der Ausgangspunkt der Verfremdung seit Suvins ursprünglicher Konzeption fundamental ver­ lagert. Während Suvin noch auf der Fiktionalität des Novums als Genera­ tor einer alternativen Welt beharrt, die zur kognitiven Verfremdung führt, ist es nun die Wirklichkeit selbst, der aufgrund ihrer Veränderung ein Moment der Verfremdung innewohnt. Gemeinsam mit der von Jameson diagnostizierten zeitlichen Umorientierung von Science Fiction hat sich auch das Verhältnis zwischen Repräsentation und Referenten verändert. Seo-Young Chu argumentiert in ihrem Buch Do Metaphors Dream of Literal Sleep? A Science-Fictional Theory of Representation, dass die Vorstel­ lung, Science Fiction würde ausschließlich jenseits der Mimesis – also der Darstellung und Nachahmung der Wirklichkeit – verfahren, nicht mehr haltbar ist (Chu 2010). Sie schlägt deswegen eine bahnbrechende »science­fictional theory of mimesis« (2) vor, die sich zwar ebenfalls auf das Begriffspaar von Kognition und Verfremdung stützt, jedoch deutlich von bisherigen Konzeptionen von Science Fiction abweicht: Science fiction […] operates fully within the realm of mimesis. The objects of science­fictional representation, while impossible to represent in a straightfor­ ward manner, are absolutely real. My reconceptualization of science fiction can be understood, more specifically, as Suvin’s definition turned inside out. Instead of conceptualizing science fiction as a nonmimetic discourse that achieves the effect of cognitive estrangement through »an imaginative framework«, I concep­ tualize science fiction as a mimetic discourse whose objects of representation are nonimaginary yet cognitively estranging. (3)

Chu listet eine ganze Reihe solcher real existierender, aber nicht ohne Weiteres realistisch darstellbarer Referenten auf, wie zum Beispiel Glo­ balisierung und globale Erderwärmung. Wenn auch Chus Referenten nicht exklusiv auf Phänomene der Interaktion von Mensch und Natur beschränkt sind, passt die beschriebene Verfremdung ausgesprochen gut auf die allgemeinen Herausforderungen für eine Ästhetik im Anthropo­

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Über dieses Buch

zän. Im Gegenteil zu Suvin und Freedman basiert die Dialektik zwischen Kognition und Verfremdung in Chus Augen nicht auf den Unterschieden zwischen Darstellung und Dargestelltem, sondern auf deren Gemeinsam­ keiten (5). Während die Referenten der Wirklichkeit eine Verfremdung erzeugen, weil sie sich der Wahrnehmbarkeit und Darstellbarkeit entzie­ hen, gelingt Science Fiction laut Chu die Greifbarmachung durch eine be­ sondere metaphorische Gestaltung: In Science Fiction dienen Metaphern nicht nur der Versinnbildlichung abstrakter Zusammenhänge. Die Bedeu­ tungsübertragung dient gleichzeitig der Herstellung eines neuen Bedeu­ tungszusammenhangs, weil sich Metaphern konkret als ontologische Be­ standteile der dargestellten Welt manifestieren (10–11). Das Novum in Zukunftsszenarien, das Chu als »science­fictioneme« bezeichnet, fungiert folglich nicht als Katalysator einer Verfremdung der Wirklichkeit, son­ dern als Medium, um die Verfremdung darstellbar zu machen: »The basic unit of SF – what one might call a ›science-fictioneme‹ – is a literalized figure of speech (or system of literalized figures of speech) through which a cognitively estranging referent becomes available for representation« (68). Science Fiction lässt sich aufgrund dieser epistemischen Funktion besonders effektiv für eine Auseinandersetzung mit dem Anthropozän instrumentalisieren.19 Über dieses Buch

Wie andere literaturwissenschaftliche Beschäftigungsfelder ist auch die Science Fiction-Forschung noch im Begriff, ihre Aufmerksamkeit auf die Auseinandersetzung mit dem Anthropozän zu richten. Fest steht, dass dabei nicht nur Texte20 aus dem 21. Jahrhundert von Interesse sind, son­ dern dass Science Fiction vor allem innerhalb der letzten 70 Jahre – und somit auch vor der nominellen Einführung des Begriffs des Anthropozäns

19 Chu schließt ihre innovativen Überlegungen mit einem Hinweis auf die Etymologie der Bezeichnung Science Fiction ab: »›Science‹ comes from the Latin verb ›sciere‹, to know. ›Fiction‹ comes from the Latin verb ›fingere‹, to make by shaping. Science fiction, in other words, equals the making of knowledge. This equation calls attention to the crucial epistemological work that science fiction performs. To make something available for representation is to make it knowable« (Chu 2010, 75). 20 Der Textbegriff wird hier – nicht zuletzt aufgrund der Transmedialität von Science Fiction – auch in einer erweiterten Bedeutung verstanden und schließt nichtliterarische Werke wie Filme und Videospiele mit ein.

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1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

– Pionierarbeit im Hinblick auf die Konstruktion und Dekonstruktion anthropozäner Zukünfte geleistet hat (Canavan und Robinson 2014). Im Unterschied zu anderen literaturwissenschaftlichen Beschäftigungsfeldern kann die Science Fiction-Forschung auf eine lange Tradition zurückgrei­ fen, die literarische Texte auf ihr Potenzial hin untersucht, eine sich in einer fundamentalen Wende befindende Gegenwart unter Einnahme einer planetarischen und tiefenzeitlichen Perspektive erzählen zu können. Bereits die erste großangelegte Geschichte zu Science Fiction von Brian Aldiss – zuerst 1973 erschienen und dann 1986, zusammen mit David Wingrove, ergänzt – verweist auf das zentrale Katastrophenbewusstsein für eine Verortung in einer sich wandelnden Welt: Science fiction is the search for a definition of mankind and his status in the universe which will stand in our advanced but confused state of knowledge (science) […]. The definition takes for granted that the most tried and true way of indicating man’s status is to show him confronted by crisis, whether of his own making […], or of science’s […], or of nature’s. (Aldiss und Wingrove 1988, 25 und 27)

Für eine Auseinandersetzung mit dem Anthropozän gewinnen insbeson­ dere Texte an Bedeutung, in denen die Krisenursachen, die Aldiss und Wingrove noch als eigenständig voneinander aufführen, ineinander ver­ schränkt werden. Dies trifft auf die beiden Untersuchungsgegenstände dieses Buchs, Harry Martinsons Epos Aniara und Inge Eriksens Romante­ tralogie Rummet uden tid, zu. Obwohl zum Veröffentlichungszeitpunkt von Martinsons und Eriksens Zukunftsszenarien noch nicht das gefes­ tigte Wissen existiert, sich in einem geologischen Epochenwechsel zu befinden, antizipieren beide Texte das Ausmaß und die Konsequenzen des anthropogenen Einflusses, die seither immer deutlichere Spuren auf unserem Planeten hinterlassen. In diesem Sinne fügen sich Aniara und Rummet uden tid früh in die im 21. Jahrhundert unverzichtbar gewordene Erzählung der Katastrophengeschichte der Erde ein. Auch wenn beide Texte einen vorausschauenden Beitrag zur Katastrophenimagination des Anthropozäns leisten, geht es in diesem Buch weniger um die Eintritts­ wahrscheinlichkeit und spezifische Art des jeweils geschilderten Weltun­ tergangs, sondern mehr darum, wie die Verfremdung der Wirklichkeit und wie das Selbst- und Weltbild des Menschen in der neuen Epoche greifbar und erzählbar gemacht werden. Dabei kommt Science Fiction eine zentrale Funktion zu, um mit Ausblicken in die Zukunft Einblicke in die Gegenwart ermöglichen zu können. Aufgrund ihrer hohen Komplexität und Dichte lassen sich beide Erzäh­ lungen sehr gewinnbringend für die Frage nach der Funktion von Science 40

Über dieses Buch

Fiction als Reflexionsmedium des Anthropozäns heranziehen. Für die Untersuchung zentraler Aspekte in Aniara kann auf eine umfangreiche Forschungsliteratur zurückgegriffen werden. Nichtsdestotrotz erzeugt die Perspektivierung im Kontext des Anthropozäns zusätzliche Einsichten und stellt neue Zusammenhänge her, um das Epos als beeindruckendes Zeitdokument der Geburtsstunde der neuen Epoche auszuweisen. Zu Rummet uden tid existieren dagegen keinerlei spezifische wissenschaftliche Stellungnahmen. Die Untersuchung soll einen Zugang zur Romantetralo­ gie eröffnen und diese als Vorboten der Prognosen zum globalen Wandel und der Transformation des Erdsystems im Anthropozän lesbar machen. Dieses Buch zeigt, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Anthropo­ zän in Aniara und in Rummet uden tid nicht nur auf die Katastrophen­ imagination beschränkt, sondern sich auch in der Suche nach neuen Ausdrucksformen widerspiegelt. Diese Suche ist untrennbar mit Science Fiction verbunden, weil Martinson und Eriksen darin einen Weg sahen, um den Übergang in eine neue Epoche einzufangen, der dazu neigt, unser Vorstellungsvermögen zu sprengen und nicht von der Gegenwart aus überschaubar ist. Wie aus der Konzeption des Epochenwechsels und der Auseinander­ setzung der Geistes- und Kulturwissenschaften mit diesem hervorgeht, wird man dem Anthropozän nicht durch eine Anhäufung von thematisch entsprechenden Texten allein gerecht. So aufschlussreich ein Überblick über eine anthropozäne Literatur auch sein mag, tendiert er doch dazu, auf der Oberfläche zu verharren und so die weniger offensichtlichen Im­ plikationen der neuen erdgeschichtlichen Epoche nicht zu erfassen. Trotz des breit angelegten theoretischen Kontexts zielt diese Untersuchung des­ wegen auf eine tiefgehende Lektüre ab, um herauszuarbeiten, was es heißen kann, das Anthropozän überhaupt erst erzählbar und lesbar zu machen. Daraus ergibt sich schließlich die auf Text- und Diskursanalyse gleichermaßen beruhende Methode, die diesem Buch zugrunde liegt. Die durch die Implikationen des Konzepts des Anthropozäns aufgerufenen Fragen und die Möglichkeiten von Erzählungen, ästhetisch darauf zu ant­ worten, zeigen nicht nur, dass mit der neuen Epoche eine neue Art des Erzählens, sondern auch eine neue Art des Lesens einhergeht. Als diskur­ siver Rahmen bestimmt eine Lesart Ausgangspunkte und Ergebnisse der Textinterpretation. Im Hinblick auf das Anthropozän bedeutet dies die Einbeziehung nicht nur von kultur-, sondern auch von naturwissenschaft­ lichen Diskursen, die im Konzept der neuen Epoche eine wechselseitige und bisweilen widersprüchliche Verbindung eingehen. 41

1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

Timothy Clark schreibt, dass die Intention eines ›anthropozänen Le­ sens‹ darin bestehe, Texte in verschiedenen Kontexten und unterschiedli­ chen Maßstäben zu lesen und sie einem Blick zu unterziehen, der neue Dimensionen sichtbar macht (Clark 2015). Nicht nur ergeben sich auf die­ se Weise Einsichten in die ungeahnte Komplexität eines neuen Weltver­ hältnisses, die – selbst, wenn sie nicht expliziert wird – dennoch im Groß­ teil von Texten enthalten ist. Durch eine anthropozäne Lesart erscheinen vor allem auch Texte vor der Einführung des Begriffs des Anthropozäns aus einer Retrospektive in einem anderen Licht. Clark zufolge schafft eine Relektüre in der Gegenwart einen neuen Textzugang, der in einem Bedeu­ tungswandel beziehungsweise in einem Bedeutungsgewinn resultiert: What is singular to the text now becomes not what may or may not have been unique to its specific time or space, but what, in the emergent retrospect of the Anthropocene, may now appear as significant or increasingly significant for the first time. Reading cannot pretend to be just some act of retrieval; it also becomes a measure of an intractable break in consciousness and understanding. (53–54)

In Clarks Augen können nahezu alle Texte im Nachhinein vor der Folie des Anthropozäns gelesen werden, weil in ihnen das Aufeinandertreffen und die Verstrickung des Menschen mit der natürlichen Welt immer schon implizit angelegt sind. Von Clarks These ist es nur ein kleiner Schritt zur Untersuchung von Aniara und Rummet uden tid, die zwar vor den Vorschlag zur Neubenen­ nung der aktuellen erdgeschichtlichen Epoche aus dem Jahr 2000 datie­ ren, aber erst nach dem rückwirkend festgesetzten Beginn des Anthropo­ zäns um 1950 entstehen. Im Rahmen eines anthropozänen Lesens veror­ tet dieses Buch deswegen Martinsons und Eriksens Zukunftsszenarien innerhalb des Anthropozän-Diskurses nach dem heutigen Wissensstand. Dementsprechend ist die Untersuchung nicht rein literaturwissenschaft­ lich ausgerichtet, sondern mit anderen (natur­)wissenschaftlichen Diszipli­ nen angereichert. Neben literaturtheoretischen Ansätzen zu Erzählformen von Katastrophe, Apokalypse, Epos und Utopie, zur Hochskalierung und Transzendierung gängiger Raum- und Zeitkonzepte, zum Verhältnis von Repräsentation und Referenten in der Fiktion sowie vor allem zu Science Fiction und der Verfremdung der Wirklichkeit werden auch relevante As­ pekte aus folgenden Forschungsfeldern herangezogen: Atmosphärenche­ mie, Computertechnologie, Cyborgisierung, Erdsystemwissenschaft, Geo­ wissenschaft, Geschichtswissenschaft, Globalisierung, Kern-, Atom- und Astrophysik, Klimatologie, Kosmologie, Künstliche Intelligenz, Ökologie, 42

Über dieses Buch

planetarische Belastungsgrenzen, Quantenmechanik, Relativitätstheorie, Selbstregulation, Technoscience, Technosphäre, Thermodynamik, Welt­ raumforschung. Obwohl die Untersuchung einen ganzheitlichen Blick anstrebt, um die in den Titeln der Texte bereits enthaltenen Dimensionen von Raum und Zeit der Wirklichkeitserfahrung und des Weltbezugs gerecht zu wer­ den, beschränkt sie sich doch in erster Linie auf die Implikationen der neuen Epoche. Aus diesem Grund bleiben unterschiedliche Aspekte der Erzählungen ausgespart. Bei Aniara betrifft dies sowohl die dichterische Gestaltung als auch die intertextuellen Bezüge, die bereits einschlägig in der Forschungsliteratur behandelt worden sind und auf die an entspre­ chenden Stellen hingewiesen wird. Mit der Untersuchung von Rummet uden tid betritt dieses Buch zwar gänzlich Neuland, dennoch gibt der Fokus eine gewisse Begrenzung vor. Die gesellschaftspolitische Dimension der Kritik am Wohlfahrtsstaat und des Feminismus-Diskurses, die einen nicht zu übersehenden Bestandteil des Texts ausmacht, findet hier weni­ ger Berücksichtigung. Folglich erhebt dieses Buch weder den Anspruch, Eriksens Romantetralogie komplett zu erschöpfen, noch ist die ungleiche Kapitelverteilung im Vergleich zu Martinsons Epos als ein Indiz für die literarische Wertung oder Aussagekraft zu verstehen. Verbindet Aniara und Rummet uden tid auch eine gemeinsame Katastrophenimagination, teilt sich dieses Buch dennoch auf, um die unterschiedlichen Perspektiven auf den Weltuntergang in der Zukunft zu untersuchen: »Teil I: Das Ende der Welt« beschäftigt sich mit Martinsons Epos, »Teil II: Die Wiederentde­ ckung der Erde« mit Eriksens Romantetralogie. In Kapitel 2, »Apokalypse im Anthropozän«, wird der Apokalypse-Be­ griff aufgegriffen, der in der Auseinandersetzung mit der Zukunft in der neuen Epoche wiederbelebt worden ist und der sowohl von literarischen Erzählstrategien Gebrauch macht als auch in nichtliterarischen Kontexten Verwendung findet. Die in Aniara geschilderte Konfrontation mit einem möglichen Weltuntergang, die durch die Erfindung und den Einsatz von Kernwaffen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erzwungen wird, ist unmissverständlich als eine Warnung vor der durch die Technik erlang­ te Macht des Menschen gedacht. Neben dem Eingriff in die Kernkräfte lassen sich in Martinsons Epos auch weitere, ähnlich folgenreiche Um­ wälzungen infolge der Durchbrüche in den Naturwissenschaften ab der vergangenen Jahrhundertmitte feststellen. Dieses Kapitel zeigt auf, dass die Auseinandersetzung mit dem Aufstieg des Menschen zu einer Natur­ gewalt in Aniara nicht nur eine Warnung vor einem Dritten Weltkrieg, 43

1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

sondern auch eine Reflexion darüber ist, welche Rolle Erzählungen bei der Vergegenwärtigung – sowie bei der Verhinderung – des Endes der Welt spielen. Hier wird deswegen auch auf die Funktion der Verschrän­ kung von Epos und Science Fiction in Aniara eingegangen, die als zwei für das Anthropozän wesentliche Erzählformen herangezogen werden. In Kapitel 3, »Nuklearer Holocaust«, wird die in Aniara verhandelte Möglichkeit der totalen Vernichtung durch die Entfesselung der Kern­ energie im Detail untersucht. In der Zukunft des Epos wird die während der 1950er-Jahre zunehmend real erscheinende unwiderrufliche Zerstö­ rung der Erde Wirklichkeit. Die Schilderung des Kernbombeninfernos sowie eines nuklearen Winters verleihen dem Text Züge einer fundierten Technikfolgenabschätzung, die aus dem Kontrollverlust über die Technik den Verlust des irdischen Paradieses ableitet. Dieses Kapitel verortet Ania­ ra innerhalb Martinsons allgemeinerer Technikkritik und Technikethik, mit der sich sowohl Aussagen über die für Science Fiction typische Wech­ selwirkung von Fortschritt und Katastrophe, als auch über die für das Anthropozän kennzeichnende Unvorstellbarkeit der Dimensionen des an­ thropogenen Einflusses treffen lassen. Abgesehen von der Kerntechnik wird in Aniara auch anhand der in den 1940er-Jahren aufkommenden und eng mit der Berechnung der Machbarkeit und Vermeidbarkeit eines Nuklearkriegs verknüpften Computertechnologie die Darstellung der Ka­ tastrophe zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit reflektiert. Kapitel 4, »Die Einzigartigkeit der Erde«, bringt schließlich noch ein­ mal die für Martinsons Zukunftsszenario ausschlaggebenden Erzählfor­ men Science Fiction und Epos zusammen. Beide tragen in Aniara zu dem Motiv der kosmischen Reise durch Raum und Zeit bei, mit dem der Verlust der Erde als Lebensraum und der lebensfeindliche Weltraum kontrastiert werden. Unter Bezug auf die Andersartigkeit des Weltraums untersucht dieses Kapitel Martinsons Problematisierung der Übertragbar­ keit des modernen naturwissenschaftlichen Weltbilds auf die Lebenswirk­ lichkeit des Menschen. Im Text bildet die Betrachtung des atom- bezie­ hungsweise kernphysikalischen Mikrokosmos und des astrophysikalischen Makrokosmos zwei Pole, von denen aus ersichtlich wird, dass der Zugang zur natürlichen Welt selbst auf dem Weg der Wissenschaft an seine Gren­ zen stößt. Martinsons Versuch, Aniara als eine Übersetzung nichtmensch­ licher Phänomene zu funktionalisieren, lässt sich im Spannungsfeld des menschlichen Erfahrungshorizonts einerseits und der für das Anthropo­ zän charakteristischen Skaleneffekte und Hyperobjekte andererseits inter­ pretieren. Darüber hinaus bringt dieses Kapitel die in Aniara formulierte 44

Über dieses Buch

Singularität der Erde in den Zusammenhang mit Martinsons naturphilo­ sophischer ›Gyralitätstheorie‹, die deutliche Parallelen zu dem Modell der Erde als Lebenserhaltungssystem und der Vorstellung von der Erde als Raumschiff beziehungsweise Gaia aufweist. In Kapitel 5, »Klimakatastrophen im Anthropozän«, wird Eriksens Rummet uden tid in der in den 1970er- und 1980er-Jahren aufkommenden Debatte um die Funktion von literarischen Zukunftsszenarien situiert. Die Vielschichtigkeit des Texts, der weit über eine bloße Geschichte der Zukunft hinausgeht, lässt sich erst im Kontext der Problematisierung der Erzählbarkeit der Zukunft in Science Fiction durchdringen. Wesent­ lich für Rummet uden tid ist die Vorstellung, dass die Zukunft nicht mehr ohne Weiteres ausgelotet werden kann, weil sie nicht mehr in direkte Relation zur Gegenwart gebracht werden kann. Dieses Kapitel konzentriert sich zunächst auf die Historisierung der Gegenwart durch eine Zukunftsperspektive, die untrennbar an den Erzählrahmen des Texts als fiktive Geschichtsschreibung und die Notwendigkeit eines tiefenzeit­ lichen Geschichtsbewusstseins für die Auseinandersetzung mit der Kata­ strophenwirklichkeit im Anthropozän gebunden ist. Anschließend wird dargestellt, wie in Rummet uden tid der Zusammenfall der Geschichte der Menschheit und der Geschichte der Erde in der neuen Epoche erzählt wird. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Bewusstwerdung über den Menschen als planetarische Kraft und der Unwägbarkeit der Folgen des anthropogenen Einflusses, die erst im Nachhinein und aus einer erdsyste­ mischen Perspektive sichtbar werden. Kapitel 6, »Planetarische Imagination«, verhandelt die in Rummet uden tid evozierten neuen Vorstellungen von der Erde und der Natur im An­ thropozän. Eriksen stützt sich auf das mit dem beginnenden Weltraum­ zeitalter entstehende planetarische, ökologische Bewusstsein. Im Text wird anhand des Blicks auf die Erde aus dem Weltraum der Zusammenhang zwischen der Verstrickung des Menschen mit der natürlichen Welt und der Transformation des Planeten aufgezeigt. Dieses Kapitel untersucht zum einen sowohl die Schilderung der Koevolution des Menschen mit der Technik als auch die Umgestaltung der Erdoberfläche durch eine sys­ temische Technisierung. Zum anderen geht es auf die in Rummet uden tid diskutierte Handlungsfähigkeit für eine Zukunftsgestaltung in der neuen Epoche ein, die entscheidend an einen kollektiven Speziesbegriff geknüpft ist. Darüber hinaus behandelt dieses Kapitel die zentrale Bedeutung der Geschichtsschreibung für eine Verortung im Raum und in der Zeit der Katastrophenwirklichkeit des Anthropozäns, die im Text auch auf der 45

1 Einleitung: Zukünfte im Anthropozän

Ebene der Erzählung reflektiert wird. Die Geschichtsrekonstruktion in Eriksens Zukunftsszenario lässt sich als eine Rekontextualisierung des Verhältnisses des Menschen und der Erde sowie als eine Rekonfigurati­ on des Zukunftsbegriffs interpretieren, die außerdem im Rahmen eines feministischen Cyborg-Diskurses eine Reflexion über die Utopie und ihre Unmöglichkeit beinhaltet.

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Teil I: Das Ende der Welt

2 Apokalypse im Anthropozän

Am 16. Juli 1945 schreiben die Wissenschaftler des US-amerikanischen militärischen Manhattan-Projekts Geschichte, als sie die erste Kernwaffen­ explosion1 im Rahmen eines aufwendigen Tests durchführen. Um 05:29 Uhr Ortszeit wird unter dem Projektnamen Trinity in der Wüste von New Mexico eine Atombombe gezündet, deren Sprengkraft ein Äquivalent von etwa 25.000 Tonnen Trinitrotoluol (TNT) besitzt (Selby et al. 2021). Die zunächst für unmöglich gehaltene militärische Nutzbarmachung der sie­ ben Jahre zuvor entdeckten Kernspaltung hat eine Zerstörungskraft, die die vorausgehenden Schätzungen um das Zwei- bis Vierfache übertrifft. Zuerst erscheint ein gleißender Lichtblitz – heller als das Licht der Sonne –, bevor die Umgebung in einem bunten Farbspektrum illuminiert wird. Die Explosion setzt so viel Energie frei, dass in die Erdoberfläche ein fast 1,5 Meter tiefer und rund 80 Meter breiter Krater gesprengt wird. Die Druckwelle ist als ohrenbetäubender Knall auch noch in 160 Kilometern Entfernung zu spüren. Im Zentrum der Explosion verwandelt die weit über 8.000 Grad Celsius messende Hitze des Feuerballs in einem Radius von 300 Metern den Wüstensand in ein neues Material, ein künstliches und schwach radioaktives Glas, das später den Namen Trinitit erhält (Her­ mes et al. 2005). Anschließend erhebt sich eine gigantische Wolke aus gif­ tiger Asche und Staub in Form eines Pilzes über 12 Kilometer hoch in den Himmel, bevor sie als radioaktiver Niederschlag – sogenannter Fallout – auf die Umgebung niedergeht und sämtliche Lebewesen auslöscht. Robert Oppenheimer, der Leiter des Manhattan-Projekts, erinnerte sich 1965 in einem Interview an das bis dahin unvorstellbare Ausmaß des Vernich­ tungspotenzials und beschrieb die Entfesselung der Kernenergie in An­ spielung auf die Bhagavad Gita, einer zentralen Schrift des Hinduismus, wortgewaltig mit dem Satz: »Now, I am become Death, the destroyer of worlds« (Oppenheimer 1965). Trotz Vorbehalten wird vor dem Einsatz von Kernwaffen zu Kriegszwe­ cken am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht zurückgeschreckt. Drei Wo­ chen nach dem Trinity-Test und im Abstand von drei Tagen, am 6. und

1 Im Deutschen wird die Nuklearenergie und deren Nutzbarmachung umgangssprachlich oft durch Komposita mit dem Wort ›Atom‹ beschrieben. Wenn nicht explizit zwischen der Art von Kernprozessen unterschieden wird, wird hier korrekterweise von Kernener­ gie und Kernwaffen gesprochen.

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2 Apokalypse im Anthropozän

am 9. August 1945, wirft die US-amerikanische Luftwaffe zwei vergleich­ bare Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki ab. Die Explosionen machen in ihrem Zentrum die Gebäude dem Erdbo­ den gleich und entfachen kilometerweit Brände. Die Menschen, die nicht durch die Explosionen und die Feuerstürme umkommen, sterben später an den Langzeitfolgen der zu akuten Zellschädigungen führenden ionisie­ renden Strahlung, die bei der Kernspaltung frei wird. Insgesamt sterben unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 130.000 und 230.000 Menschen, die meisten darunter Zivilisten. Die Entwicklung von Kern­ waffen bildet den Auftakt zu einem nuklearen Wettrüsten während des Kalten Kriegs zwischen den USA und der Sowjetunion, deren Arsenal am Ende insgesamt eine Menge von mehr als 70.000 Nuklearsprengköpfen mit einer Sprengkraft von mehr als 800.000 Hiroshima-Bomben zählt (Norris und Kristensen 2006, 66/Smil 2003, 118). Das Prinzip der Kern­ spaltung (Atombombe) als die Nutzbarmachung der Kernreaktion für eine Explosion wird währenddessen von dem Prinzip der Kernverschmel­ zung (Wasserstoffbombe) abgelöst. Mit der Herstellung von immer effek­ tiveren Bomben wird bis 1961 die Entwicklung der Kernwaffentechnik auf die Spitze getrieben und so die Zukunft der gesamten Menschheit durch die ständige nukleare Bedrohung überschattet. Die Gefahr der Zer­ störungskraft befördert dabei die Vorstellung von einer totalen Vernich­ tung durch einen globalen Nuklearkrieg, der aufgrund der Eskalation des Interessenskonflikts zwischen den Nuklearmächten in den 1950er-Jahren nur eine Frage der Zeit scheint. Aniara

Die bis zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2022 fast vergessene nukleare Bedrohung und die mit ihr verbundene Möglichkeit eines Kriegs nie dagewesener Größenordnung bildet den Auslöser für Harry Martinsons Epos Aniara. En revy om människan i tid och rum (Aniara. Eine Revue vom Menschen in Zeit und Raum) aus dem Jahr 1956. In dem bald nach seiner Veröffentlichung zu einem Klassiker der schwedischen Gegenwartsliteratur gewordenen Text wird eine ferne Zukunft entworfen, in der ein nuklearer Holocaust die als Doris bezeichnete Erde auf nicht absehbare Zeit unbewohnbar macht. Das Epos setzt ein, als der Planet be­ reits weitgehend verwüstet und strahlenverseucht ist. Angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Katastrophe werden globale Anstrengungen

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unternommen, die verbleibende Menschheit auf Flüchtlingskolonien auf die Planeten Mars und Venus zu evakuieren, auch wenn die Überlebens­ chancen dort aufgrund extremer Lebensbedingungen äußerst gering sind. Als eines von vielen tausend anderen soll das Raumschiff Aniara einen Teil der Menschen von ihrem dem Untergang geweihten Heimatplaneten retten. Was als Routinefahrt beginnt wird jedoch jäh unterbrochen, als das Raumschiff einem zuvor unbekannten und später Hondo2 getauften Asteroiden ausweichen muss, in den Meteorstrom der Leoniden gelangt und dadurch stark beschädigt und manövrierunfähig wird. Durch das Ausweichmanöver kommt die Aniara von ihrem ursprünglichen Kurs zum Mars ab und wird unaufhaltsam auf den Weg hinaus aus dem heimi­ schen Sonnensystem in Richtung des Sternbilds der Lyra katapultiert. Die überlebenswichtigen Funktionen des Raumschiffs bleiben zwar intakt, Rückkehr und Rettung sind ab diesem Zeitpunkt allerdings ausge­ schlossen. Auch kann kein Kontakt zu anderen Raumschiffen mehr herge­ stellt werden. Fortan schildert Martinson das schwere Schicksal der 8.000 Menschen an Bord und ihre Versuche, so lange wie möglich am Leben inmitten der unendlichen Leere des Weltraums festzuhalten. Im Verlauf des Epos wird immer deutlicher, dass das Raumschiff den Reisenden frü­ her oder später zu ihrem Grab werden wird. Der Text endet, als 24 Jahre der Fahrt ins kosmische Nichts verstrichen sind und auch der letzte Pas­ sagier gestorben ist. Obwohl sich das Raumschiff unmittelbar nach dem Start fernab seines Ausgangspunkts befindet, dreht sich Aniara im Kern um den unwiederbringlichen Verlust der Erde, die den Passagieren bald im Kontrast zum leblosen Weltraum als irdisches Paradies erscheint. Die Zerstörung der Existenzgrundlage des einzigen Orts, an dem Leben auf Dauer möglich war, erhält nicht nur durch die Darstellung des nuklearen Holocaust Nachdruck, der immer wieder im Bewusstsein der Reisenden aufblitzt. Das Ausmaß der Katastrophe wird vor allem mit fortschreiten­ der Entfernung des Raumschiffs zur Erde immer präsenter. Die Menschen an Bord der Aniara lassen sich schließlich repräsentativ für die gesamte Menschheit und ihr gemeinsames Ende lesen, wodurch die Reise ohne Wiederkehr zum Sinnbild des Menschen auf seinem selbstverdammten Weg in den Tod wird. Auf diese Weise beschreibt das Epos die Zerstörung der Erde und die Selbstzerstörung des Menschen als ultimative Katastro­ phenzukunft im Anthropozän. 2 Hondo ist die historische Bezeichnung für die größte japanische Insel Honshū, auf der sich Hiroshima befindet.

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2 Apokalypse im Anthropozän

Geschildert werden die Geschehnisse an Bord der Aniara in erster Linie aus der Sicht eines namenlosen und lediglich als »Mimarob« (Gesang 34) bezeichneten Ich-Erzählers. Erst ein selbstreferenzieller Kommentar des Mimarob am Ende des Texts zeigt, dass dieser die Reise im Nachhinein erzählt. Zusammengenommen können die Gesänge des Epos als eine Art Logbuch verstanden werden, das die wichtigsten Stationen und Eindrücke während der langen Irrfahrt festhält, ohne dabei allerdings den Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität zu erheben. Neben den Geschehnis­ sen an Bord nehmen hauptsächlich Erinnerungen an das Leben auf der Erde einen großen Platz in der Erzählung ein. Die Distanz des Mimarob zum Geschehen variiert, je nachdem ob er auf sich bezogen erzählt oder sich in das Kollektiv der Passagiere miteinbezieht. Nur an Stellen, wo er anderen Erzählstimmen vorübergehend das Wort überlässt oder wo kein Sprecher erkennbar ist, tritt der Mimarob gänzlich als Erzählinstanz zurück und führt kommentarlos Protokoll. Namentlich taucht nur eine Handvoll anderer Figuren im Text auf. Die beiden wichtigsten darunter sind der die Befehlsgewalt innehabende Chefone, der sich bald zum Dik­ tator aufschwingt und dessen Schreckensherrschaft das Leid der Reisen­ den auf ihrer ohnehin schweren Fahrt zusätzlich verschlimmert, und die Pilotin und Mathematikerin Isagel, zu der der Mimarob sein einziges dauerhaftes persönliches Verhältnis hat und mit der er vergeblich nach einer wissenschaftlichen Errettung aus dem gemeinsamen Unglück sucht. Die Bezeichnung Mimarob leitet sich von dessen Tätigkeit als verant­ wortlicher Techniker für die Mima ab, einem hochleistungsfähigen und über künstliche Intelligenz verfügenden Bordcomputer des Raumschiffs (Gesang 6). Darüber hinaus klingen in der Bezeichnung Mimarob auch die Wörter ›Robe‹ für ein festliches Gewand und ›Roboter‹ für eine ma­ schinelle Apparatur – in Science Fiction oft in der Gestalt eines Androiden – an (Tideström 1975, 80). Die Mima bestimmt anfangs entschieden den Alltag der Fahrt, weil sie den Passagieren durch eine virtuelle Realität die gedankliche Flucht aus ihrem trostlosen Dasein ermöglicht. Oft zielt die Realitätsflucht in die Traumwelten des Computers auf die Vergangenheit auf der Erde ab. Als die Mima im sechsten Jahr der Reise allerdings uner­ wartet zu Bruch geht, ereilt die Reisenden der zweitgrößte Rückschlag seit dem Abkommen von ihrem ursprünglichen Kurs. Dass die Mima grundlegend für die ursprüngliche Konzeption von einer Erzählung über den Aniara­Stoff war, geht aus dem Titel »Sången om Doris och Mima« (»Der Gesang von Doris und Mima«) hervor, unter dem die ersten 29 Gesänge des Epos bereits 1953 als Teil von Martinsons Gedichtsammlung 52

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Cikada (Zikaden) veröffentlicht wurden. »Sången om Doris och Mima« – das mit der vollständigen Zerstörung der Erde im Kernwaffeninferno endet – bildet eine in sich geschlossene Erzählung, die im Gegensatz zum eher losen Zusammenhalt der folgenden, erweiterten Gesänge steht. Aus diesem Umstand erklärt sich, weshalb vieles, was im ersten Teil von Aniara noch vage bleibt, erst im weiteren Verlauf konkretere Gestalt erhält oder später aber zu gewissen inhaltlichen Brüchen und Widersprüchen führt (Nolte 2001, 144). Die Rezeption von Aniara orientiert sich oft – wie das unfreiwillige Ziel, auf das das Raumschiff zusteuert – am Sternbild der Lyra als Sym­ bol für die Dichtkunst. Johan Wrede beispielsweise, der mit Sången om Aniara. Studier i Harry Martinsons tankevärld die umfangreichste Untersu­ chung zum Text vorgelegt hat, liest das Epos in erster Linie als Ausdruck einer poetischen, »kosmisk helhetsvision« (kosmischen Universalvision) (Wrede 1965, 177). Wenn auch Aniara aufgrund der Konfrontation des Menschen mit seiner eigenen Vergänglichkeit zu Recht als zeitloses Werk von existenzieller Dimension angesehen werden kann, so markiert es doch im gleichen Moment einen entscheidenden historischen Wendepunkt in der vergangenen Jahrhundertmitte. Der Text verhandelt die folgenreichen Durchbrüche des technowissenschaftlichen Fortschritts und die grundle­ genden Umwälzungen im naturwissenschaftlichen Weltbild, die sich ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts angebahnt haben und mit der begin­ nenden Great Acceleration ab 1950 mit voller Wucht eintreffen. In Aniara nimmt Martinson Bezug auf eine ganze Reihe naturwissenschaftlicher Re­ volutionen, deren Ausgangspunkte von den kleinsten bis zu den größten Bestandteilen des Universums reichen und die den Übergang von einem mechanischen zu einem mathematischen Modell des Kosmos repräsentie­ ren. Die mit der Rekonfiguration des Verständnisses von der natürlichen Welt einhergehende Erschütterung der Fundamente der klassischen Phy­ sik betrifft vor allem die Vorstellung über die Beschaffenheiten atombeziehungsweise kernphysikalischer3 und astrophysikalischer Phänomene. Zwischen diesen beiden Polen lässt sich Aniaras Kosmos und der darin geschilderte Weltuntergang aufspannen.

3 Es ist grundsätzlich zwischen den Teilbereichen der Atomphysik, die sich mit physikali­ schen Vorgängen in der Atomhülle beschäftigt, und der Kernphysik, die sich mit dem Aufbau und Verhalten des Atomkerns beschäftigt, zu unterscheiden, auch wenn die Kernstruktur eine Auswirkung auf die Atomhülle hat.

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2 Apokalypse im Anthropozän

Martinson hat die Fahrt durch den Weltraum in einer weit entfernten Zukunft selbst als Gegenwartsdiagnose ausgewiesen. Im Vorwort zur Ta­ schenbuchausgabe von Aniara von 1963 – sieben Jahre nach ununterbro­ chener Neuauflage des Texts – spricht er vom Epos als Auslotung des Platzes des Menschen, der sich angesichts der Veränderungen nun mit einer Welt konfrontiert sieht, die aus den Angeln geraten ist: Aniara kan sägas vara en fantasiprodukt som är skriven av tiden. Därigenom är den i viss mening en anonym skapelse. Den handlar om allas vår gemensamma egendom av världsförhoppning, sorg och besvikelse, men också om våra försök att skapa frister eller att med fantasiens hjälp fördröja eller uppskjuta obönhörli­ ga förlopp. […] Att vi måste göra det bästa av denna totalsituation är en gammal sanning eller truism. Men vår värld, och vår bild av den, har på mindre än ett århundrade växt ut på ett sätt som skakat också självklarheterna. Det som förr tillhörde det hanterligt självklara har svällt ut till att sammanfalla med det gåtfulla och oerhörde. Med alla våra skyddsramar omkring oss har vi slungats ut mot oändli­ gheten. (Martinson 1997, 191) (Aniara kann als ein Fantasieprodukt bezeichnet werden, das von der Gegen­ wart geschrieben worden ist. In gewissem Sinne handelt es sich somit um eine anonyme Schöpfung. Es handelt von unserer gemeinsamen Hoffnung, Sorge und Enttäuschung in der Welt, aber auch von unseren Versuchen, Fristen zu schaffen oder mithilfe der Vorstellungskraft unaufhaltsame Verläufe hinauszu­ zögern oder aufzuschieben. […] Dass wir das Beste aus dieser Gesamtsituation machen müssen, ist eine alte Wahrheit oder Binsenweisheit. Aber unsere Welt und unser Bild von ihr ist in weniger als einem Jahrhundert auf eine Weise angewachsen, die auch das Offensichtliche erschüttert hat. Was früher zu dem greifbaren Offensichtlichen gehörte, ist mit dem Unerklärlichen und Ungeheuerlichen zusammengefallen. Wir sind mit all unseren Schutzrahmen um uns herum in die Unendlichkeit hinausgeschleudert worden.)

Die Erschütterung des Weltbilds und Selbstbilds und die Verfremdung der Wirklichkeit durch grundlegende Perspektivenverschiebungen betref­ fen in Aniara einerseits die tiefgreifende Entdeckung und Nutzbarma­ chung der Kernenergie und andererseits die Erkenntnisse über die Einzig­ artigkeit der Erde als Lebensraum in Anbetracht der immer weitreichen­ deren Erforschung des Weltraums. In dem im Epos entworfenen Szenario des nuklearen Holocaust stoßen beide Bereiche aufeinander, weil die Kernwaffenexplosionen in der Zerstörung der Habitabilität des Planeten resultieren. Die Überwältigung durch die Transformation des naturwis­ senschaftlichen Denkens sowie die Bewusstwerdung über die gewaltige Macht des Menschen als geologische Kraft, wie sie Martinson in Aniara

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Aniara

aufgreift, liefert ein frühes Zeugnis über den seit der Mitte des vergange­ nen Jahrhunderts beobachtbaren epochalen Wandel. Jörg Hienger, der in der Forschung als einer der wenigen den Vorstellungshorizont des Epos konkret mit dem Reflexionspotenzial von Science Fiction verbindet, weist in seinem Aufsatz »Aniara auf dem Weg zu Leier. Bemerkungen zu Harry Martinsons Weltraumdichtung« richtig auf das Moment des Umbruchs hin, wenn er Aniara als eine »Ortsbestimmung der Gegenwart« (Hienger 255, 1969) in einer Zeit gravierender Beschleunigung und Umwälzung und die im Text verhandelten Aspekte als »eindrucksvollste Vorzeichen eines Abschieds von der bisherigen Geschichte« (256) beschreibt. Aus heu­ tiger Sicht ist dieser Abschied die Geburtsstunde des Anthropozäns, über die Aniara ein monumentales Zeitdokument liefert. Der Text verhandelt die Formierung eines vom Menschen als planetarische Kraft dominierten Zeitalters und dessen gemeinsame Zukunft mit der Erde, in der die globa­ le Katastrophe vorprogrammiert ist. Martinson geht es dabei insbesondere um die Übersetzung naturwis­ senschaftlicher Erkenntnisse, mithilfe derer die Beschaffenheit des Univer­ sums – von dessen Entstehung bis zu dessen Ende – zwar immer deut­ licher hervortritt, die aber nicht ohne Weiteres einem Laienpublikum zugänglich sind. In der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit aus einem physikalisch-mathematischen Standpunkt zeigt sich, dass das Koor­ dinatensystem der Naturwissenschaft vor allem jenseits der menschlichen Sphäre durch die Perspektivenverschiebung sowohl auf das unendliche Kleine geschrumpft als auch auf das unendlich Große angewachsen ist. Weil die neuen Erkenntnisse zum Mikrokosmos und Makrokosmos den Rahmen der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit sprengen und für den Menschen keinen Halt mehr bieten, wird in Martinsons Augen die Frage aufgeworfen, wie die Dichtkunst in den modernen Kosmos hineinpasst, in dem ein unmittelbarer Zugang zur natürlichen, nichtmenschlichen Welt nicht mehr selbstverständlich ist. Aniara ist deswegen eng verbunden mit Martinsons Suche nach neuen Erklärungsmodellen für eine sich wandeln­ de Wirklichkeit, die eine alternativlose anthropozentrische Perspektive nicht einfach so hinter sich lassen kann. Der Text bildet einerseits einen Teil eines weitaus größeren dichterischen Universums, in dem Martinson den Versuch einer Verortung des Menschen unternimmt und auf die He­ rausforderungen für die Herstellung und Darstellung eines neuen Welt­ zugangs eingeht. Andererseits bildet Aniara einen Kristallisationspunkt in Martinsons naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Über­ legungen, die lange vor der Veröffentlichung des Epos ihren Ausgang 55

2 Apokalypse im Anthropozän

nehmen und sich aus essayistischen und lyrischen Texten gleichermaßen zusammensetzen. Tord Hall, der den Entstehungsprozess von Aniara aus der Nähe mitverfolgte und mit seinem Buch Naturvetenskap och Poesi. Viktor Rydberg. August Strindberg. Harry Martinson maßgeblich an der Auf­ arbeitung der im Epos aufgerufenen naturwissenschaftlichen Interpreta­ tionen beteiligt war, liest deswegen in »Aniaras alltomfattande spektrum« (Aniaras allumfassendem Spektrum) (Hall 1981, 153) Martinsons Bestre­ ben einer perspektivischen Überwindung der sich entziehenden physikali­ schen Wirklichkeit durch die Dichtkunst. Das Epos im Anthropozän

In der Debatte um die Erzählbarkeit des Anthropozäns und seiner Kata­ strophenzukunft ist in letzter Zeit wiederholt auf die Reaktualisierung des Epos für die Reflexion eines neuen Selbst- und Weltbilds hingewie­ sen worden. Gilt es vor dem Hintergrund des Zusammenfalls der Erd­ geschichte mit der Menschheitsgeschichte doch, einen ganzheitlichen Blick auf unseren Planeten zu werfen, der auch die räumlichen und zeit­ lichen Dimensionen außerhalb des menschlichen Erfahrungsbereichs mit­ einschließt. Oft wird im Hinblick auf die durch Skalenunterschiede ent­ stehenden Herausforderungen für die Form von Erzählungen auf Amitav Ghoshs Buch The Great Derangement: Climate Change and the Unthinkable verwiesen (Ghosh 2016). Ghosh stellt darin die Frage, welche narrativen Strategien am besten geeignet sind, um eine Wirklichkeit abzubilden, die dazu tendiert, unseren gewohnten Bezugsrahmen zu sprengen. Anhand des anthropogenen Klimawandels – der Ghosh als Paradigma für die Katastrophenzukunft in der neuen erdgeschichtlichen Epoche dient – pro­ blematisiert er die Fähigkeit von realistischer Literatur, auf die sich im Begriff befindlichen globalen Veränderungen zu reagieren. Ghosh geht es in erster Linie um den modernen Roman und die Voraussetzung, dass die Natur im Anthropozän, die vormals nur als unbeweglicher Hintergrund für die menschliche Geschichte hergehalten hat, nun wieder neben den Menschen in den Vordergrund des Geschehens tritt. Die Wirklichkeit globaler Katastrophen, die eine Konfrontation mit ungeheuren Raumund Zeithorizonten sowie mit den immer schon bestehenden Wechselbe­ ziehungen der menschlichen mit der nichtmenschlichen Sphäre vorausset­ zen, haben in Ghoshs Augen letztendlich zu einer Krise der Imagination geführt (9).

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Das Epos im Anthropozän

Ghosh argumentiert, dass der anthropogene Klimawandel schlichtweg nicht in das Weltbild des realistischen Romans passt, der sich geradezu durch seine maßstäbliche Begrenzung auf den Menschen und dessen In­ nenwelt sowie seine Abgrenzung von nichtmenschlichen Größenordnun­ gen auszeichnet. Zunächst stellt Ghosh dem Roman das Epos gegenüber, in dem die Natur nicht nur zum bloßen Setting verkommt, sondern einen entscheidenden Weltzusammenhang herstellt. Für ihn stellt das Epos eine Erzählform dar, die die für die Darstellung globaler Katastrophen not­ wendigen geologischen Zeiträume und planetarischen Maßstäbe grund­ sätzlich berücksichtigt. Im Vergleich zum Roman gelingt es dem Epos, den durch die Skalenunterschiede herbeigeführten Unüberschaubarkeiten im Anthropozän beizukommen, weil darin sowohl eine longue durée für die Beschreibung langanhaltender Veränderungen angesetzt (59), als auch die unheimliche und unentrinnbare Verstrickung des Menschen mit der nichtmenschlichen Welt vorausgesetzt wird (63). Auch in Aniara lässt sich der folgenschwere Zusammenprall des Menschen mit der Natur, der sei­ nen Ausgangspunkt in den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nimmt und sich buchstäblich in der Kernwaffenexplosion manifestiert, auf die Erzählstrategie und Zeitstruktur übertragen. Martinson reagiert auf die Herausforderungen für die Erzählbarkeit der gemeinsamen Ge­ schichte von Mensch und Erde, indem er eine Zukunftsperspektive ein­ nimmt, die den Planeten in seiner Gänze in den Blick nimmt und das systemische Zusammenwirken des anthropogenen Einflusses mit der glo­ balen Ökologie in einer tiefengeschichtlichen Zusammenschau abbildet. Auf diese Weise findet der nukleare Holocaust Eingang in die geologische Katastrophengeschichte der Erde. Erstaunlicherweise erachtet Ghosh – abgesehen vom Epos – die Tran­ szendierung der menschlichen Perspektive und damit einen Ausweg aus der von ihm postulierten Imaginationskrise dort, wo es am meisten zu erwarten ist, kaum als möglich: in nichtrealistischen, fiktionalen Texten. Zwar übersieht Ghosh nicht die zunehmenden Versuche, das Anthropo­ zän auch außerhalb des modernen Romans darstellbar und erzählbar ma­ chen zu können. Immerhin mehren sich in der jüngsten Vergangenheit Texte, die auf die Transformation der Erde und das Ende der Welt durch globale Katastrophen mit neuen Formexperimenten reagieren (Horn und Bergthaller 2020, 136). Für Ghosh steht allerdings fest, dass die Auslage­ rung der Auseinandersetzung mit dem anthropogenen Klimawandel – um bei dem Kernproblem seiner Argumentation zu bleiben – vom rea­ listischen Roman auf die in seinen Augen weniger respektablen Genres 57

2 Apokalypse im Anthropozän

spekulativer Fiktion unglaubwürdig bleibt. Für aus seiner Sicht ernstzu­ nehmende literarische Erzählungen gelten – bis auf wenige Ausnahmen – nahezu unüberwindbare Hürden, wenn es um die Greifbarmachung der Implikationen der globalen Erderwärmung außerhalb des unmittelba­ ren menschlichen Einzugsbereichs geht. Diese Aussage überrascht umso mehr, weil sich Ghosh in seinem Buch mehrmals auf Science Fiction beziehungsweise auf die von ihm synonym dazu verstandene Climate Fiction bezieht, der er – zusammen mit anderen nichtrealistischen Erzähl­ formen – ihr Reflexionspotenzial für den anthropogenen Klimawandel von vornherein abspricht: Is it the case that science fiction is better equipped to address climate change than mainstream literary fiction? This might appear obvious to many. After all, there is now a new genre of science fiction called »climate fiction« or cli­fi. But cli­fi is made up mostly of disaster stories set in the future, and that, to me, is exactly the rub. The future is but one aspect of the age of human-induced global warming: it also includes the recent past, and, most significantly, the present. In a perceptive essay on science fiction and speculative fiction, Margaret Atwood writes of these genres that they »all draw from the same deep well: those imag­ ined other worlds located somewhere apart from our everyday one: in another time, in another dimension, through a doorway into the spirit world, or on the other side of the threshold that divides the known from the unknown. Science Fiction, Speculative Fiction, Sword and Sorcery Fantasy, and Slipstream Fiction: all of them might be placed under the same large ›wonder tale‹ umbrella.« This lays out with marvellous clarity some of the ways in which the era of global warming resists science fiction: it is precisely not an imagined »other« world apart from ours; nor is it located in another »time« or another »dimension«. By no means are the events of the era of global warming akin to the stuff of wonder tales; yet it is also true that in relation to what we think of as normal now, they are in many ways uncanny; and they have indeed opened a doorway into what we might call a »spirit world« – a universe animated by non-human voices. (72)

Ghosh unterstellt der Auseinandersetzung von Science Fiction mit dem Anthropozän die Untergrabung des Gegenwarts- und Wirklichkeitsbe­ zugs. Spielen sich deren Szenarien – wie er meint – doch in einer fiktiven ›Anderswelt‹ ab und nehmen den radikalen und äußerst realen Verände­ rungen durch die Katastrophe ihre Dringlichkeit, weil sie das Hier und Jetzt aus den Augen verlieren würden. So überzeugend Ghoshs Überle­ gungen zum Roman und Epos auch sind, erweisen sie sich im Hinblick auf Science Fiction doch als kurzsichtig und von gravierenden Missver­ ständnissen gekennzeichnet sowie von den immer noch hartnäckigen akademischen Vorbehalten gegenüber Science Fiction in die Irre geleitet. Natürlich generieren längst nicht alle Science Fiction-Erzählungen das

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Das Epos im Anthropozän

Potenzial für eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit der Katastro­ phenwirklichkeit im Anthropozän. Ghoshs verallgemeinernde Kritik an fiktionalen Zukunftsszenarien über den anthropogenen Klimawandel, de­ nen eine Auseinandersetzung nur oberflächlich gelingt, weil sie das Aus­ maß und die Folgen der Katastrophe herunterspielen oder die Katastrophe darin lediglich zu einem Handlungsgenerator und einem spektakulären Hintergrund herabgestuft wird, ist durchaus gerechtfertigt (7). Aber den­ noch verkennt er mit seinem Vorwurf – dass Science Fiction nicht die Gegenwart einbeziehen würde – ausgerechnet deren Grundintention. Die­ se besteht ja gerade darin, das, was nicht ohne Weiteres erzählt werden kann und zur Verfremdung der Wirklichkeit führt, aus einer anderen Perspektive in den Blick zu bekommen. Martinson weist im Vorwort zu Aniara ausdrücklich auf die Reflexion der Gegenwart auf dem Umweg einer fiktiven Zukunftsperspektive – wie sie als Erzählstrategie für moderne Science Fiction-Erzählungen charakte­ ristisch ist – hin. Hier heißt es, dass die Fiktion der Wirklichkeit den Spiegel vorhalten soll (Martinson 1997, 192). Und auch im Programmheft zur Opernversion des Epos von 1959 betont Martinson diese Reflexionsab­ sicht: [Aniara] berättar om en resa i världsrymden i en mycket avlägsen framtid. Dock är detta i grunden en förevändning. Vad den vill ge är framför allt en vision av vår egen tid, av livsresan genom vår egen tomhet. Dess perspektiv är den utvid­ gade eftertankens, med berättarens instrument förflyttat in i en symbolvärld där diktens symboler anknyter till den moderna naturvetenskapens. […] Aniara vill i konstens spegling ge en bild av vårt moderna kosmos, där glädjen dansar med skräcken, medan framtiden symboliserad i Aniaras världsrymd vän­ tar oss, som förintare eller förlosare, vilket det blir vet ännu ingen. (Martinson 1959, 6 und 16) ([Aniara] erzählt von einer Reise in den Weltraum in einer weit entfernten Zukunft. Doch ist dies im Grunde ein Vorwand. Was es vermitteln will, ist vor allem eine Vision unserer eigenen Zeit, unserer Lebensreise durch unsere eigene Leere. Dessen Perspektive ist die der erweiterten Nachbetrachtung, wobei die Erzählinstanz in eine Symbolwelt versetzt wird, in der die Symbole des Gedichts an die der modernen Naturwissenschaft anknüpfen. […] Aniara möchte im Spiegel der Kunst ein Bild unseres modernen Kosmos ver­ mitteln, in dem die Freude mit dem Schrecken tanzt, während die in Aniaras Weltraum versinnbildlichte Zukunft auf uns wartet, als Vernichter oder Erlöser, was es auch wird, weiß noch niemand.)

Entsprechend der sich im Anthropozän als unabdingbar herausstellenden Notwendigkeit einer Neuperspektivierung aus der Zukunft kommt auch

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2 Apokalypse im Anthropozän

in Aniara die Historisierung der Gegenwart zum Greifen, die die Verge­ genwärtigung der Katastrophenzukunft und deren möglichen Endpunkt überhaupt erst erlaubt. Martinsons Epos, das offensichtlich als Warnung vor der beschriebenen Zukunft fungieren soll, erhält deshalb Nachdruck, weil es vorführt, aus welcher Gegenwart diese Zukunft hervorgehen wird. Dabei verhandelt der Text die wohl stärkste Verfremdung der Wirklich­ keit, die vorstellbar ist: Die Zerstörung der Bewohnbarkeit der Erde als Folge einer größtmöglichen Katastrophe, die den Menschen nicht nur mit einer Veränderung der Erde konfrontiert, sondern ihn vollständig aus seinem Bezugssystem – aus seiner Welt – herausschleudert. Weil der Verlust der Habitabilität der Erde eine planetarische und tiefenzeitliche Perspektive voraussetzt, bietet sich für die Erzählung der Rückgriff auf Epos und auf Science Fiction gleichermaßen an. Somit manifestiert sich in Aniara unter den Bedingungen der aufgrund der räumlichen und zeit­ lichen Skalenunterschiede erzeugten Herausforderungen für die Darstel­ lung und Vorstellung der Katastrophe sowie der Sichtbarmachung der Verfremdung angesichts der globalen Veränderungen Science Fiction in der Form des Epos. Ursula Heise geht dem Zusammenhang zwischen der Verschränkung von Science Fiction und Epos und der Formfindung in fiktionalen Ausein­ andersetzungen mit dem Anthropozän unter anderem in ihrem Buch Ima­ gining Extinction: The Cultural Meanings of Endangered Species nach (Hei­ se 2016). Sie bezieht darin epische Erzählstrategien sowohl konkret auf Science Fiction, als auch – in einem erweiterten Sinne – auf spekulati­ ve Fiktion. Heise sieht Science Fiction-Erzählungen als besonders privile­ giert für eine Auseinandersetzung mit dem Anthropozän, weil diese mit den massiven Veränderungen des Gewohnten – oft induziert durch den technowissenschaftlichen Fortschritt – grundsätzlich besser zurechtkom­ men als nichtfiktionale Texte. Denn als Imaginationsraum bildet Science Fiction in Heises Augen eine literarische Experimentalanordnung, die mithilfe spezifischer Zeitstrukturen und Erzählperspektiven die radikale Transformation der Wirklichkeit auslotet und in eine große Erzählung einbettet. Aufgrund ihrer großangelegten Handlungsverläufe, der Hochs­ kalierung des Verhältnisses des Menschen zur natürlichen Welt und ihrer nichtmenschlichen Kontexte rückt Heise Science Fiction unmittelbar in die Nähe des Epos und der damit verbundenen Abbildung der Welt: One of the hallmarks of science fiction in many if not all of its manifestations has been the engagement with the fate of planet Earth as a whole, in far futures on Earth itself, in humans’ migration to extraterrestrial habitats, or in their

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Das Epos im Anthropozän encounters with civilizations from other planets. In terms of literary history, indeed, it makes sense to think of science fiction as the genre that perpetuates the epic mode in the age of the novel, precisely in that it seeks to tell the story of the world as a whole. (215)

Für Heise sind es gerade die imaginative Kraft und die narrativen Stra­ tegien, die Science Fiction-Erzählungen dazu befähigen, Veränderungen in einem planetarischen und tiefenzeitlichen Maßstab reflektieren und beschreiben zu können. Heise, die um die Vielgestaltigkeit und Wandel­ barkeit von Science Fiction weiß, bindet dabei die Zuschreibung epischer Eigenschaften nicht an starre Gattungskonventionen. Vielmehr ist es die umfassende und flexible Annäherung an eine sich im Wandel befindende Wirklichkeit, die Science Fiction zu einem Reflexionsmedium für eine gemeinsame Weltgeschichte im Anthropozän macht. Heise betont außer­ dem, dass vor allem im Rahmen der Katastrophenimagination andere literarische und nichtliterarische, nichtfiktionale Katastrophennarrative mittlerweile längst auf Methoden zurückgreifen, die – wie die Perspek­ tivierung aus der Zukunft und die Loslösung von der unüberschaubar gewordenen Gegenwart – kennzeichnend für Science Fiction-Erzählungen sind. Kommt die Katastrophenimagination in der neuen geologischen Epoche doch nicht umhin, sich trotz ihres Realitätsanspruchs maßgeblich auf hypothetische und extrapolierte Szenarien zu stützen, um Aussagen über Verläufe treffen zu können, die über die Gegenwart hinausreichen und die vor ihrem Eintreten greifbar gemacht werden müssen (215). In ihrem Aufsatz »Science Fiction and the Time Scales of the Anthropo­ cene« greift Heise ihre Überlegungen zur Tradierung des Epos in Form von Science Fiction noch einmal im Detail auf (Heise 2019). Heise argu­ mentiert auch hier, dass Science Fiction als Teil eines modernen epischen Impulses eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem Epos aufweist, weil es in beiden Fällen um einen gravierenden Übergang im Weltbild und Selbst­ bild geht (300). Den Schwerpunkt legt sie dabei nun auf die Kategorie der Zeit und die Imagination der Endzeit in literarischen Katastrophen­ zukünften, die – ähnlich dem Epos – einen übergreifenden Geschichtsver­ lauf abbilden, der nicht mehr an den Aktionsradius des Individuums oder den menschlichen Zeithorizont gebunden ist. Heise liest Science Fiction vor der Folie des Epos als moderne Ursprungs- und Enderzählung, die im geologischen Kontext des Anthropozäns tief in der Katastrophengeschich­ te der Erde und des Lebens auf ihr verankert ist. Dass sich allerdings keine vollständige Deckungsgleichheit durch die Affinität zwischen Epos und

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2 Apokalypse im Anthropozän

Science Fiction ergibt, präzisiert Heise in Bezug auf die Intention, die dem jeweiligen Weltentwurf zugrunde liegt: To call [science fiction texts] modern epics is not to understate the magnitude of their differences with older kinds of epic: most of them do not invoke a transcendental order to legitimize their moral ideas, and typically they do without extraordinary human protagonists. But considering these works in the tradition of epic and in the context of other novelistic experiments with epic elements foregrounds the way in which they take up premodern forms of nar­ rative: cosmologies, myths, origin stories, and narratives about the emergence and eventual disappearance of species, places, or civilizations. Since telling such stories has always formed part of the repertoire of science fiction, it is not surprising that such fiction has now emerged as one of the major genres for narratives about the Anthropocene. (300–301)

Heises Differenzierung zwischen dem Rückgriff auf Erzählweisen des Epos einerseits und der Abweichung von der Vorstellungswelt des Epos in Science Fiction andererseits lässt sich auch für Aniara beanspruchen. Denn auch in Martinsons Epos geht es nicht um eine tragische Heldenge­ schichte oder gar einen göttlichen Eingriff in die Geschicke der Mensch­ heit. Im Gegenteil verdeutlicht der Text, dass der Mensch sein eigenes Ende heraufbeschworen hat. Aniara als Epos im Anthropozän zeigt, dass das Schicksal für die gesamte Schöpfung nun nicht mehr in den Hän­ den einer höheren Macht, sondern in denen des durch den technowissen­ schaftlichen Fortschritt ermächtigten Menschen liegt. Der Text zeichnet auf diese Weise den prometheischen Aufstieg des Menschen zur Naturge­ walt und Schicksalsmacht sowie dessen scheinbar vorherbestimmten und unausweichlichen Fall nach. Stephanie Langer hat die Wiederbelebung des Epos und den damit einhergehenden Totalitätsanspruch, mit dem die gemeinsame Geschichte der Erde und des Menschen erzählbar gemacht werden soll, in ihrem Aufsatz »Das Epos vom Anthropozän. Zu Raoul Schrotts Erste Erde. Epos« behandelt (Langer 2020). Anhand von Schrotts Epos – das Langer »als säkulare Schöpfungserzählung mit dem ambitionierten Anspruch, ein all­ umfassendes Wissen von der Erd- und Lebensgenese zu schildern« (64) beschreibt – arbeitet sie heraus, was es heißen könnte, eine am Epos ori­ entierte Poetik des Anthropozäns zu formulieren, die die Koexistenz des Menschen mit der natürlichen Welt darstellen kann. Langer geht es dabei vor allem um die Herstellung eines Gesamtzusammenhangs, der – weil er sich über enorme Zeiträume und unterschiedliche Akteure erstreckt – nur noch durch die Darstellung von einzelnen Episoden möglich ist. Sie versteht dabei das Epos als ›Weltgenre‹, das die Verschränkung des 62

Das Epos im Anthropozän

Universellen mit dem Partikularen verfolgt (72), und innerhalb dessen das Zusammenspiel zwischen Ganzheit und Fragmentierung, zwischen Ho­ mogenität und Heterogenität, keinen Widerspruch darstellt. Die Form des Epos und das Konzept des Anthropozäns weisen insofern Parallelen auf, als dass sie eine großangelegte gemeinsame Geschichte erzählen, wobei die Abbildung einer Ganzheit nur durch die Einzelteile erreicht werden kann (74). Langer legt schließlich dar, dass diese Bruchstückhaftigkeit – die beim Übergang vom Holozän in das Anthropozän auf mehreren Ebe­ nen zu Brüchen und Umbrüchen führt – in Schrotts Epos formal durch ein Gemenge an Erzählstimmen und Erzählformen ausgedrückt wird (75). Auch in Aniara lässt sich der Totalitätsanspruch der Erzählung nur einlösen, indem das Ganze – die Geschichte über den Untergang des Menschen und der Erde – aus mehreren Perspektiven zusammengefügt wird. Das Einschreiben in einen größeren Zusammenhang – hier in den kosmischen als den größten denkbaren – gelingt dem Text durch eine übergeordnete Erzählperspektive, die die Vielstimmigkeit der Erzählun­ gen im Logbuch des Mimarob in Einklang bringt. Nicht nur vermittelt die historische Zusammenschau während der Fahrt über die Geschichte der menschlichen Zivilisation und der Erde den Eindruck, dass Zeit und Raum zusammenströmen (Gesang 72). Auch durch die metaphori­ sche und assoziationsreiche Sprache, die vom Poetischen bis zum Um­ gangssprachlichen reicht, wird Aniara zu einem Konglomerat ganz un­ terschiedlicher Stile und Stimmungen. Vor allem ergeben sich durch die sprachlichen Anspielungen – in erster Linie sind es die zahlreichen Neologismen, die aufgrund ihrer Ambiguität einen weiten Interpretati­ onsspielraum zulassen – eine Vielzahl von direkten und indirekten inter­ textuellen Bezügen, sodass Martinsons Epos auch eine Reise durch das kulturgeschichtliche Erbe der menschlichen Zivilisation, von der Antike bis zum Atomzeitalter, wird (Tideström 1975, 73). In Aniara klingt ein Spektrum unterschiedlicher literarischer Einflüsse an, darunter berühmte Epen wie Homers Odyssee, Dantes Divina Commedia und Miltons Paradise Lost, westliche und östliche Mythologie, das Alte Testament sowie schwe­ dische Literatur von der Nationalromantik im 19. Jahrhundert bis zur Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt dienen aber auch internationale Science Fiction-Texte als maßgebliche Inspiration für Martinsons Epos, vor allem solche, die – wie beispielsweise Camille Flammarions La Fin du Monde – die säkulare Apokalypse zu ihrem Thema machen, und solche, die den menschengemachten Weltuntergang in den

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2 Apokalypse im Anthropozän

kosmischen Kontext des zum Greifen nahen Weltraumzeitalters rücken (Hedman 1996, 164).4 Eine Revue vom Menschen in Zeit und Raum

Martinsons Aniara und Schrotts Erste Erde. Epos nehmen beide die Vergan­ genheit in den Blick. Anders als Schrotts Epos, das in Übereinstimmung mit antiken Epen die Entstehung der Welt erzählt, handelt es sich bei Ani­ ara aber in erster Linie nicht um eine Kosmogonie: Nicht vom Ursprung, sondern vom Untergang der Welt kündet der Text, der aus einer fiktiven Zukunftsperspektive aus der Rückschau überblickt wird. Auf die Retro­ spektive sowie die Komposition des Epos spielt auch der Untertitel von Aniara an: Eine Revue vom Menschen in Zeit und Raum. Der Begriff Revue beschreibt normalerweise eine artistische Gesamtdarbietung aus Musik, Tanz und Text, die durch eine lose Rahmenhandlung zusammengehalten wird. Tatsächlich findet sich das Tanzmotiv an vielen Stellen im Aniara wieder. Der Tanz dient den Passgieren als Unterhaltung und steht als Ausdruck von Lebendigkeit und Lebenslust im krassen Kontrast zu der dem Untergang geweihten Fahrt des Raumschiffs. Dennoch kommt im Verlauf der Reise unter dem lustigen Treiben des Tanzes immer mehr die von der Einsicht über den unabwendbaren Tod begleitete harsche Wirklichkeit zum Vorschein. So konkurriert die oft von Musik vermittelte Leichtigkeit der tanzenden Menschen mit der allmählich überhandneh­ menden Schwere der ausweglosen Situation. Tanz und Tod sowie die damit einhergehende Bewegung und Erstarrung bilden eines der vielen typischen Komplementärpaare im Text. Im Tanzmotiv klingt außerdem sowohl die Vorstellung vom Totentanz an, die in der schwedischen Lite­ ratur vor allem durch August Strindberg verbreitet worden ist, als auch die Vorstellung des kosmischen Tanzes als Kreislauf aus Werden und Vergehen, den Martinson in und außerhalb von Aniara einerseits auf die kosmischen Gebilde des Weltraums und andererseits auf die elementaren Bestandteile des Atomkerns und seiner Hülle überträgt.

4 Jerry Määttä hat in seinem historischen Abriss über die Science Fiction-Produktion und ‑Rezeption in Schweden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darüber hinaus darauf hingewiesen, dass Aniara – insbesondere gegenüber den literaturgeschichtlichen Kanonisierungsversuchen der anfänglichen Forschung – auch als ein Ausdruck des ab 1950 einsetzenden Booms in der Vermarktung von schwedischen und internationalen Science Fiction-Erzählungen gelesen werden muss (Määttä 2006, 134).

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Eine Revue vom Menschen in Zeit und Raum

Darüber hinaus lässt sich der Begriff Revue aber auch in seiner Bedeu­ tung als Reflexion lesen. Der Vorführungscharakter von Aniara, der am deutlichsten in der Erzählperspektive durch den Mimarob als überwie­ gend externer Beobachter Gestalt annimmt, lässt sich auf die Rezeptions­ ebene des Epos beziehen. In Aniara wird das Raumschiff selbst zur Bühne, auf der sich das Geschehen abspielt. Aus der fiktiven Zukunftsperspektive wird im Nachhinein ermöglicht, die eigene Gegenwart und Geschichte Revue passieren zu lassen. Was in Aniara dabei vorgeführt wird, sind vor allem die Fehlbarkeiten des Menschen und ein Nachsinnen über die Fra­ ge, wie es zu dieser schlimmen Situation kommen konnte. Durch die Erzählung als Logbuchführung liest sich der Text so, als würde darin noch einmal die gesamte Menschheitsgeschichte rückblickend – von ihrem Hö­ henflug bis zu ihrem Absturz – präsentiert werden. Zur Inszenierung des Geschehens trägt außerdem der Wechsel zwischen Präsens und Präteritum bei, durch den der Eindruck vermittelt wird, dass der Mimarob entweder stets die Ereignisse miterlebt oder diese aber unmittelbar im Anschluss in das Logbuch notiert. Das gilt auch für die aus nächster Nähe geschilderten Erinnerungen an längst Vergangenes wie das Leben vor der Evakuierung. Aniara wird so zu einer Reflexion, sowohl der Außenwelt – des Weltraums und seiner unbegreifbaren Beschaffenheit – als auch der Innenwelt – des Seelenlebens der diesem Weltraum ausgesetzten Passagiere. Jörg Hienger bezieht das für die Revue kennzeichnende Zusammen­ spiel aus Fragmentierung und Ganzheit, das den Totalitätsanspruch von Aniara als Epos widerspiegelt, zusätzlich auf die Hybridität des Texts zwi­ schen Lyrischem und Epischem: Da nichts Geringeres als das vom Menschengeschlecht in Zeit und Raum aufge­ führte Drama von dessen Ende her überblickt werden soll, ist es nach traditio­ nellen Vorstellungen angemessen, die epische Form zu wählen und wenn auch keine Göttliche Komödie, so doch eine Menschliche Tragödie zu schreiben. […] Da aber die zum Fall gewordene Fahrt nicht wie im Epos, das seit je des Motivs der Reise sich bedient hat, eine Welt erschließt, sondern ins Nichts führt, sind die Fahrenden nicht, wie es der Epenform entspräche, Handelnde, sondern Leidende […]. Da aber andererseits die vorwiegend lyrischen Partien größeren Raum beanspruchen […], nähert sich das epische Gedicht der Form eines Ge­ dichtzyklus und löst auf diese Weise ein, was sein Untertitel hinsichtlich seiner Form versprochen hat. (Hienger 1969, 270)

Aufgrund des fortschreitenden lyrischen Einschlags, durch den die Hand­ lung im Verlauf immer mehr durch Eindrücke aufgelöst wird, wird Raum geschaffen für eine Kontemplation über die Situation. Durch das Verwischen der Zeitebenen im Logbuch und die Unschärfe zwischen 65

2 Apokalypse im Anthropozän

Epischem und Lyrischem taucht die Erzählung in Bewusstseins- und Er­ fahrungsräume ein, die die unterschiedlichen Reaktionen der Reisenden auf ihr Schicksal zwischen Euphorie und Apathie widerspiegeln. Auf diese Weise ergibt sich erneut ein Gegensatz zwischen äußerer Beweglichkeit und innerer Bewegungslosigkeit. Zeitgleich mit der Stagnation, die die Handlungslosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Passagiere unterstreicht, vollzieht sich die ungewollte, ununterbrochene Fortbewegung in den Weltraum. Das Geschehen während der Reise lässt sich grob in vier Abschnitte zu je sechs Jahren einteilen (Oberholzer 1976, 47). Im Gegenteil zum ersten Viertel der Reise (Gesang 1 bis 29), das vom abrupten Kursabkom­ men geprägt ist, folgt der restliche Verlauf von Aniara ereignisloser und die Handlung kommt über die lange abgebildete Zeit zunehmend zum Erliegen. Dies schlägt sich strukturell in einer Raffung der Erzählung bei immer größerem zeitlichem Abstand der Gesänge nieder, sodass die wichtigsten Stationen der Reise nur noch sporadisch aufgegriffen werden. Zunächst wird der Versuch unternommen, mithilfe von Technik die Lee­ re des Weltraums auszublenden (Gesang 30 bis 69). Nachdem dies jedoch scheitert, besteht der einzige Lebensinhalt der Passagiere im Schwelgen in Erinnerungen an ein Leben auf der Erde (Gesang 70 bis 80). Das letzte Viertel von Aniara schildert schließlich die Realisierung über das unaus­ weichliche Ende (Gesang 81 bis 103). Die Auflösung der Handlung wird im Reiseverlauf durch die erdrückende Leere widergespiegelt, sodass das Geschehen zusehends Situationsbeschreibungen weicht. Auf die Ereignis­ losigkeit weist der Name Aniara selbst hin, der sich unter anderem auf das altgriechische Wort aniarós (ανιαρός), ›langweilig‹ zurückführen lässt (Hall 1981, 106). Aniara wird insgesamt von einem für die epische Dichtung kennzeichnenden Blankvers mit rhythmischen Variationen bestimmt, wo­ bei im Verlauf die Endreimfrequenz zunimmt. Ab Gesang 80 behält das Epos eine strikte Reimform und eine rhythmische Monotonie bei, die das unabwendbare Schicksal der Passagiere unterstreicht. Der Mimarob selbst tritt am Ende des Epos als letzter Überlebender auf, nachdem er beobachtet hat, wie die Jahre und die Menschenleben auf der Reise vorübergezogen sind. In den beiden abschließenden Gesän­ gen bezieht er Stellung zum Dargebotenen und beschließt das kosmische Trauerspiel wie folgt:

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Eine Revue vom Menschen in Zeit und Raum Jag hade tänkt ett paradis för dem men sen vi lämnat ett som vi förstörde blev tomma rymdens natt vårt enda hem ett ändlöst svalg där ingen gud oss hörde. […] Jag skruvar lampan ner och bjuder frid. Vårt sorgespel är slut. Jag återgav med sändebudets rätt från tid till tid vårt öde speglat i galaxens hav. (Martinson 1997, 187–188) (Ich hatte ein Paradies für sie gedacht, doch seit wir eins verließen, das wir zerstörten, wurde die leere Weltraumnacht unser einziges Zuhause, ein endloser Abgrund, wo kein Gott uns hörte. […] Ich schraube die Lampe herunter und biete Frieden. Unser Trauerspiel ist zu Ende. Ich gab wieder mit dem Recht des Gesandten von Zeit zu Zeit unser Schicksal, gespiegelt im Meer der Galaxie.)5

Gunnar Tideström, der neben Johan Wrede am ausführlichsten den in­ tertextuellen Bezügen in Aniara nachgespürt hat, weist in seinem Buch Ombord på Aniara. En studie i Harry Martinsons rymdepos darauf hin, dass der selbstreflexive Gesang 103 eine Anspielung auf eine Äußerung der Figur des Prospero in Shakespeares Drama The Tempest ist, in dem es – abgesehen von einem Schiffbruch – um die Reflexion der Inszenierung des Werks und das Theater als Illusion sowie deren Auflösung geht (Ti­ deström 1975, 160). Passenderweise hat sich Martinson im Vorwort zu seinem Epos selbst als Mimarob seiner Gegenwart bezeichnet, »som ett medium och som en rapportör ur sin egen tid« (als ein Medium und als ein Berichterstatter aus seiner eigenen Zeit) (Martinson 1997, 193), und damit noch einmal die Wichtigkeit einer Vergegenwärtigung der Katastrophe unterstrichen, auf die die Menschheit mit dem entfachten Kalten Krieg nun zuzusteuern drohte. In Aniara fällt der Weltuntergang mit dem Ende der Erzählung zusam­ men, wobei hervorzuheben ist, dass der Mimarob als Erzählinstanz direkt

5 Die Übersetzung des Epos stellt aufgrund der besonderen sprachlichen Gestaltung eine Herausforderung dar. Herbert Sandberg hat zwar die bisher einzige deutsche Über­ setzung von Aniara vorgelegt, allerdings wird darin der ursprüngliche Charakter oft zugunsten einer Poetisierung und eines Endreims aufgegeben, sodass sich – wenn auch unbeabsichtigt – teils deutliche semantische Abweichungen ergeben. Meine eigene Über­ setzung hier zielt dagegen in erster Linie auf die sinngetreue Wiedergabe ab.

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in dieses Ende involviert ist. Eva Horn zeigt in ihrem Buch Zukunft als Katastrophe, dass sich die Erzählperspektive aus Sicht des letzten Überle­ benden besonders für die Bewusstwerdung einer bevorstehenden katastro­ phischen Wende in der Gegenwart eignet (Horn 2014). Führt sie doch dem Leser eine Zukunft vor Augen, die sich bereits im Katastrophenver­ lauf immer deutlicher abzeichnet und dann endgültig aus nächster Nähe eintritt. Horn bezeichnet die tragische Figur, die stellvertretend für die gesamte Menschheit wird, als den ›Letzten Menschen‹: Die fiktionale Figur, an der sich diese enthüllende Funktion des Weltendes am prägnantesten verkörpert hat, ist der »Letzte Mensch« […]. Er ist in der paradoxen Position, zugleich Zeuge und Opfer des Untergangs zu werden: Er blickt auf den Untergang der Menschheit als Teil dieser Menschheit; aber er ist auch in der Position, diese zu beobachten und zu reflektieren. Er ist die Figur, die den Untergang erzählbar und ›erlebbar‹ macht. […] Der Letzte Mensch verkörpert so den »letzten Blick« des Menschen auf eine zerstörte Erde und auf eine ausgelöschte Spezies Mensch. Er ist damit eine spezifisch moderne Figur der Reflexion, die unmittelbar ins Geschehen verwickelt ist: ein Blick, der vom Ende her etwas begreift, das in der Gegenwart verschleiert erscheint und dennoch immer schon da war und nur hätte entziffert werden müssen […]. Er verkörpert die Figur eines Wissens von der Zukunft, das auf ganz spezifisch moderne Weise prekär ist: ein säkulares Wissen, das verfügbar ist – aber das ein­ fach zu spät kommt. […] [E]ine Figur, die die Paradoxie eines Wissens von der Zukunft verkörpert, das nicht dazu gedient haben wird, diese Zukunft anders zu gestalten. Der Letzte Mensch ist die Antizipation einer späten, endgültigen Einsicht, deren ganze Trostlosigkeit darin liegt, dass diese Einsicht nichts mehr nützt. (Horn 2014, 28–29)

Auch der Mimarob wird in Aniara buchstäblich zum letzten Menschen, der auf das verhängnisvolle Schicksal zurückblickt, ohne daran etwas än­ dern zu können. Überhaupt dient der gesamte Reiseverlauf der Erkennt­ nis über die vollständige Zerstörung der Erde als Lebensraum. Was in Martinsons Epos am Ende sichtbar wird, ist nicht nur die Gewissheit über das Ende der Welt, sondern auch, dass dieses Ende längst besiegelt ist. Der Text ist durchzogen von den letzten Blicken auf die Erde und der niederschmetternden Einsicht über den selbstverschuldeten Verlust. Als Revue stellt der Text durch die Imagination der Folgen für den gesamten Planeten eindringlich zur Schau, wohin das nukleare Wettrüsten und der Einsatz von Kernwaffen ungewollt führen können. Martinson problemati­ siert in seinem Epos, dass der Mensch nicht mit dem Fortschritt Schritt halten kann, der ihn zu überholen und dessen Kontrolle ihm zu entglei­ ten droht. Dies findet Ausdruck in dem sich selbst dem Nichts ausgesetz­ ten Menschen, der erkennt, dass er fernab der Erde nicht überleben kann. 68

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Aniara liefert auf diese Weise einen Ausblick in die schlimmste Zukunft, die im Anthropozän auf uns wartet: Den Moment, an dem es überhaupt keine Zukunft mehr gibt. Kassandrarufe

Die Gefahr eines globalen Nuklearkriegs ist bis heute nicht gebannt. Seit dem Ende des Kalten Kriegs scheint eine militärische Auseinander­ setzung in großem Maßstab, die zur vollkommenen oder zumindest wei­ testgehenden Auslöschung der menschlichen Zivilisation führt, allerdings unwahrscheinlich.6 Nichtsdestotrotz lässt sich das hypothetische Szenario eines nuklearen Holocaust als ein existenzielles Risiko klassifizieren. Nick Bostrom definiert in seinem Aufsatz »Existential Risk Prevention as Glob­ al Priority« ein existenzielles Risiko als ein Ereignis, »that threatens the premature extinction of Earth-originating intelligent life or the perma­ nent and drastic destruction of its potential for desirable future develop­ ment« (Bostrom 2013, 15). Entgegen der bisherigen Geschichte, in der die Menschheit natürlichen existenziellen Risiken gegenübergestanden hat, gelten neue anthropogene existenzielle Risiken im Anthropozän zwar als unerprobt, ihre erwartbaren Folgen gestalten sich jedoch unverhältnis­ mäßig gravierender. Auch Bostrom betont nachdrücklich, dass die Verge­ genwärtigung der Katastrophenzukunft im Anthropozän mit enormen Herausforderungen verbunden ist. Die Gefahr der zur existenziellen Kata­ strophe gewordenen existenziellen Risiken rührt in seinen Augen nicht nur daher, dass dadurch das gesamte Leben auf unserem Planeten bedroht wird, sondern auch daher, dass die Auswirkungen globaler existenzieller Risiken nur schwer vorstellbar sind. Dieses Problem, das auch der Kata­ strophenimagination während des Wettrüstens im Kalten Krieg zugrunde liegt, bildet einen entscheidenden Aspekt in der Katastrophenzukunft in Martinsons Aniara. Bostrom sieht die Dringlichkeit einer Auseinandersetzung mit anthro­ pogenen existenziellen Risiken im Kontrast zu der Aufmerksamkeit, die

6 In einer informellen Umfrage des Future of Humanity Institute der University of Oxford aus dem Jahr 2008 wurde die Wahrscheinlichkeit eines Aussterbens der gesamten Menschheit infolge eines globalen Nuklearkriegs innerhalb des 21. Jahrhunderts auf 1 %, die Wahrscheinlichkeit von 1 Milliarde Toten auf 10 % und die Wahrscheinlichkeit von 1 Million Toten auf 30 % geschätzt (Sandberg und Bostrom 2008, 1).

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ihnen eigentlich zustehen müsste. Die Bedrohung durch existenzielle Ri­ siken, die – wie Bostrom es nüchtern formuliert – letztendlich darin be­ steht, »that they would destroy the future« (Bostrom 2013, 17), bringt vor allem Herausforderungen für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit sich. Denn neben den unzureichenden Methoden für eine Darstellung, die der Katastrophenwirklichkeit von existenziellen Risiken gerecht wer­ den könnte, wird die Auseinandersetzung auch grundsätzlich konfrontiert mit »deeper epistemological issues […] that make it difficult to think clearly about issues such as the end of humanity« (26). Im Gegensatz zur rein wissenschaftlichen Szenariotechnik versuchen literarische Zukunfts­ szenarien – und darunter in erster Linie Science Fiction – im Anthropo­ zän, diese durch die Unwägbarkeit und Unvorstellbarkeit der globalen Katastrophe entstehende Lücke zu schließen. Vor allem im Kontext der Zuspitzung des Kalten Kriegs, währenddessen fiktionale und militärische Szenarien zur Mach- und Vermeidbarkeit eines nuklearen Holocaust nicht mehr auseinanderzuhalten sind, werden in Erzählungen Versuche unter­ nommen, das Ende der Welt greifbar zu machen (Horn 2014, 95). In Science Fiction wird die Zerstörung durch ›die Bombe‹ lange vor deren Verwirklichung antizipiert.7 Ab 1945 lässt sich dann eine regelrechte Ex­ plosion in der Darstellung eines möglichen Dritten Weltkriegs feststellen, der in Form eines nuklearen Holocaust heraufbeschworen wird (Brians 1987). Auch Bruno Latour geht in seiner Vortragsreihe Facing Gaia. Eight Lec­ tures on the New Climatic Regime auf die zentrale Funktion von Fiktion ein, um die unausweichliche Katastrophenwirklichkeit erzählbar zu machen (Latour 2017). In seinen Überlegungen zu einer Neuperspektivierung der Untrennbarkeit von Natur und Kultur im Anthropozän nimmt die Katastrophenimagination – Latour bezieht sich in erster Linie auf die glo­ bale Erderwärmung – einen prominenten Platz ein. Während das gemein­ same Schicksal von Mensch und Erde es notwendig macht, zukünftige Bedrohungen schon in der Gegenwart zu denken, scheitert die Folgenab­ schätzung in Latours Augen jedoch oft an der zeitlichen Ausdehnung der globalen Erderwärmung. Denn um sich die Katastrophenzukunft zu

7 Herbert Wells hat in seinem Science Fiction-Roman The World Set Free bereits 1914 das ungeheure und unkontrollierbare Zerstörungspotenzial durch die zukünftige nukleare Bedrohung antizipiert und den Begriff der Atombombe zwei Jahrzehnte vor der Entde­ ckung der Kernspaltung geprägt. Schon hier wird eine totale gegenseitige Vernichtung durch Kernwaffen als Garantie für einen Weltfrieden verhandelt (Rhodes 1986, 24).

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vergegenwärtigen, muss ein Zeithorizont aufgerufen werden, dessen Ende das Ende der Geschichte auf der Erde markiert (183). Wie Bostrom sieht auch Latour die größte Gefahr in der Auseinandersetzung mit der Kata­ strophenzukunft im Anthropozän darin, dass der Weltuntergang – nach dem es keine Zukunft mehr geben kann – erst dann in Erscheinung tritt, wenn es bereits zu spät ist. Latour argumentiert, dass das Katastrophen­ bewusstsein in der Gegenwart untrennbar an ein Geschichtsbewusstsein gebunden ist, das verhindert, sich das Ende und die Zukunftslosigkeit nach der Katastrophe wirklich eingestehen zu können. Für die Auseinan­ dersetzung mit den Konsequenzen des anthropogenen Einflusses stützt sich Latour schließlich auf das Wiederauftauchen des Begriffs der Apoka­ lypse in einer säkularen Bedeutung (193). Für Latour ist der Rückgriff auf apokalyptische Erzählungen im An­ thropozän die einzige Möglichkeit, um den Weltuntergang als die größt­ mögliche, vom Menschen verursachte Katastrophe rechtzeitig vergegen­ wärtigen zu können. Den immer wieder auftauchenden Vorwurf ge­ gen apokalyptische Zukunftsszenarien – der Katastrophismus würde der Handlungsfähigkeit in der Gegenwart im Weg stehen – weist Latour deswegen entschieden zurück. Nicht von der Apokalypse zu sprechen impliziere, dass die Katastrophe bereits überstanden sei (206). Um das Ausmaß und die Endgültigkeit der Zukunft als Katastrophe zu begreifen, führt aus Latours Sicht kein Weg daran vorbei, sich das Ende der Welt schon jetzt vor Augen zu führen: It may seem paradoxical, but to shatter the Apocalypse […] we have to return to apocalyptic language, we have to become present again to the situation of terrestrial rootedness, and this no longer has anything to do, as you will have understood, with a return to (or respect for) »nature«. To become sensitive – that is, to feel our responsibility, and thus to turn back on our own action – we have to position ourselves, through a set of totally artificial steps, as though we were at the End of Time. (212–213)

In der Katastrophenimagination besteht für Latour demnach die einzige Chance, um in der Gegenwart handlungsfähig zu bleiben und eine Zu­ kunft abwenden zu können, bevor diese Wirklichkeit wird. Gelingen kann die Katastrophenprävention nur durch eine Historisierung der Ge­ genwart aus einer fiktiven Zukunftsperspektive, die sich als Erzählstrategie direkt auf Science Fiction-Szenarien wie Martinsons Aniara übertragen lässt. Genauso wie das Zukunftsszenario des nuklearen Holocaust im Kal­ ten Krieg soll sich die Apokalypse in Gestalt der globalen Erderwärmung als selbstzerstörende Prophezeiung selbst verhindern:

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2 Apokalypse im Anthropozän Without making the threat artificially visible, there is no way to get us to move into action. […] [W]e must first of all give up hope – which projects us from the present toward the future – in order to be able to turn ourselves around – being reoriented by some powerful representation of the future in order to transform the present. […] The apocalypse is a call to be rational at last, to have one’s feet on the ground. Cassandra’s warnings will be heard only if she addresses people who have their ears attuned to the racket made by the eschatological trumpets. (218)

Es ist kein Zufall, dass Latour an dieser Stelle auch eine Parallele zwischen der Katastrophenimagination des Kalten Kriegs und der Katastrophenima­ gination der globalen Erderwärmung zieht (218). Tatsächlich ähnelt sich das apokalyptische Begriffsarsenal des nuklearen Holocaust und des an­ thropogenen Klimawandels, wenn es um die Abwägung der Folgen des anthropogenen Einflusses in der Zukunft geht (Bostrom 2013, 29). Para­ doxerweise steht das Wettrüsten im Kalten Krieg stets im Zeichen der Verhinderung eines Nuklearkriegs, weil sich von Anfang an abzeichnet, dass – wenn der Erstschlag gegen den Feind erst einmal erfolgt – auch die eigene Auslöschung unmittelbar danach eingeleitet werden würde. Es ist ausgerechnet das nie dagewesene Vernichtungspotenzial, mit dem sich die Nuklearmächte gegenseitig in Schach zu halten versuchen, und das ab Anfang der 1960er-Jahre den bezeichnenden Namen Mutual as­ sured destruction (MAD) erhält, das die Friedenssicherung von nun an garantieren wird. Vor dem Hintergrund dieses fragilen ›Gleichgewichts des Schreckens‹, das darauf basiert, dass der Einsatz von Kernwaffen in globalem Maßstab zu verheerend wäre und niemand als Sieger hervorge­ hen würde, verdichtet sich im Bild der Kernwaffenexplosion ein starkes Endzeitbewusstsein. So gesehen bildet der nukleare Holocaust den ersten Höhepunkt in der Katastrophenimagination des Anthropozäns, in der der durch den Menschen ausgelöste Weltuntergang zu einer realen Möglich­ keit geworden ist (Jaspers 1982). Die Garantie der gegenseitigen Auslöschung angesichts eines mögli­ chen nuklearen Dritten Weltkriegs verdeutlicht nach 1945 die existenziel­ le Notwendigkeit, sich mit der Katastrophenzukunft durch ein existenzi­ elles Risiko auseinanderzusetzen. Bis es zum Einsatz der Atombomben zu Kriegszwecken kommt, sind der Fantasie über das lange herbeigesehn­ te Atomzeitalter allerdings keine Grenzen gesetzt. Die Vorstellung von einem globalen Nuklearkrieg ist von einer Ambivalenz geprägt, die sich einerseits als Trivialisierung des an Größenwahn anheimgefallenen un­ aufhaltsamen Fortschritts – als eine Übermacht des Menschen über die Naturgesetze – bemerkbar macht, und sich andererseits in der Unvorstell­ 72

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barkeit der gemeinsamen Auslöschung – in der Form eines Endes der Welt – niederschlägt. Eva Horn zeigt in ihrem Buch Zukunft als Katastro­ phe, dass die Imagination der Bombe als eine zur Realität gewordene Fiktion auch nach den Atombombenabwürfen auf Japan weiterhin von einer starken Ambivalenz gekennzeichnet ist (Horn 2014, 82). Zwar kann die reale Möglichkeit eines Weltuntergangs in Form des nuklearen Holo­ caust, durch den sämtliches Leben auf der Erde sein Ende findet, nicht mehr ignoriert werden. Das Spannungsverhältnis zwischen der theoreti­ schen Konzeption von Kernwaffen und ihrer praktischen Umsetzung trägt jedoch weiter zur Fiktionalität des nuklearen Holocaust bei: Die in der Wirklichkeit existierende Bombe hat nicht eine Fiktion vom möglichen Untergang abgelöst, vielmehr ist die Bombe sowohl in ihren frühesten Entwür­ fen als auch in ihrer politischen Funktionalisierung selbst eine Fiktion. Was nicht heißt, dass es sie nicht wirklich gäbe. Es heißt, dass die Bombe vor allem als Imagination, als Rechengröße, Hypothese und Gedankenexperiment ihre eigentliche Wirkung entfaltet. Nicht indem sie eingesetzt wird, sondern indem dieser Einsatz imaginiert, d.h. berechnet, simuliert, antizipiert und angedroht wird, prägt sie das Zeitgefühl und politische Gefüge der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Rede über sie ist so in mehrfacher Hinsicht durchdrungen von Fiktionalität – einer Fiktionalität, die sie […] zugleich reflektiert und als eigenen blinden Fleck verdrängt. (81–82)

Passend zu den von Bostrom und Latour angesprochenen epistemologi­ schen Herausforderungen für die Abwägung und Sichtbarmachung der Katastrophe, denen auch die Auseinandersetzung mit der Bombe ent­ springt, steht auch für Horn die Katastrophenimagination des Weltun­ tergangs im Kalten Krieg im Zeichen einer Latenz. Horn bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Günther Anders’ Problematisierung, dass die Folgen eines erneuten Einsatzes von Kernwaffen unsere Vorstellungs­ kraft an ihre Grenzen bringen. Anders hat sich seit den 1950er-Jahren umfassend mit den Implikationen einer Katastrophenzukunft aus einem technikethischen Standpunkt auseinandergesetzt. In seinen Thesen zum Atomzeitalter verhandelt er im Hinblick auf das Grauen von Hiroshima die Gefahr eines gemeinsamen Aussterbens infolge eines Kontrollverlusts über die Technik (Anders 2003). Die Entwicklung und der Einsatz von Kernwaffen markieren in Anders’ Augen den Beginn eines neuen und zugleich finalen Zeitalters: Hiroshima als Weltzustand. Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshimatage, hat ein neues Zeitalter begonnen: das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblicke jeden Ort, nein unsere Erde als ganze, in ein Hiroshima verwandeln können. Seit die­ sem Tage sind wir modo negativo allmächtig geworden; aber da wir in jedem Au­

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2 Apokalypse im Anthropozän genblick ausgelöscht werden können, bedeutet das zugleich: Seit diesem Tage sind wir total ohnmächtig. Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen wird, die­ ses Zeitalter ist das letzte: […] die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung, kann niemals enden – es sei denn durch das Ende selbst. (93)

Aus Anders’ Gegenwartsdiagnose geht nicht nur der nukleare Holocaust als ein Musterbeispiel für die Möglichkeit der Selbstauslöschung des Men­ schen hervor. Aufgrund des planetarischen Ausmaßes der Zerstörung und ihren Langzeitfolgen lässt sich der Anbruch dieses Endzeitalters auch als der Beginn der verhängnisvollen und bis heute anhaltenden Situation im Anthropozän lesen, in dem Zeitenwende und Weltende zusammen­ zufallen drohen. Anders führt den Weltuntergang auf die rasanten tech­ nowissenschaftlichen Entwicklungen zurück, durch die der Mensch in der neuen Epoche ungeplant zu einer geologischen Kraft geworden ist. Aus seiner Sicht kann zwischen Allmacht und Ohnmacht an dem Punkt nicht mehr unterschieden werden, wo der Fortschritt – allem voran die Kernwaffentechnik – unhinterfragt eingesetzt wird: Die Apokalypsegefahr, in der wir leben, erreicht den Höhepunkt ihrer Bedroh­ lichkeit dadurch, daß wir nicht darauf eingerichtet, also unfähig sind, uns die Katastrophe auszumalen. […] Aber da wir als homines fabri dieser Leistung fähig sind, das heißt: da wir das totale Nichts herstellen können, darf uns die Begrenztheit der Kapazität unserer Vorstellung, also unserer »Beschränktheit«, nichts angehen. Wir müssen es mindestens versuchen, das Nichts auch vorzu­ stellen. (96)

Für Anders führt die Fortschrittsgläubigkeit zu einem paradoxalen Zu­ stand, den er in seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution ›Apokalypse-Blindheit‹ nennt: Ein fatales Versagen, sich die Konsequenzen der Vernichtung wirk­ lich vor Augen zu halten (Anders 2018). Die Ursache für die Apokalyp­ se-Blindheit stellt für Anders ein ›prometheisches Gefälle‹ dar, wonach es zu einer Diskrepanz kommt zwischen der Fähigkeit des Menschen, Kernwaffen als Mittel der Auslöschung herzustellen, und der Unmöglich­ keit, sich die Folgen des globalen Atomkriegs vorzustellen (307). Eva Horn führt als Einwand gegen Anders’ Behauptung, dass eine Auseinan­ dersetzung mit dem Ende der Welt im Kalten Krieg nicht hinreichend stattfinde, die zahlreichen fiktionalen Zukunftsszenarien auf, die genau diesen Versuch unternehmen. Die hellsichtigsten unter ihnen greifen die Apokalypse-Blindheit deutlich auf, indem sie ihr Augenmerk weniger auf die von Anders beschriebene technische Hybris legen, sondern mehr auf die Paradoxie, dass die Menschheit zwar um die nukleare Bedrohung

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weiß, in Wirklichkeit aber nicht daran glaubt (Horn 2014, 88–89). Lässt man jedoch die technischen Aspekte eines potenziellen nuklearen Holo­ caust außer Acht, laufen auch die klarsichtigsten Auseinandersetzungen Gefahr, den von Anders definierten Kern der Apokalypse-Blindheit – die Tatsache, dass es Kernwaffen überhaupt gibt (Anders 2018, 327) – aus den Augen zu verlieren. Die Herausforderung, sich den Weltuntergang durch einen nuklearen Holocaust einzugestehen, liegt schon in der Natur der Bombe selbst begründet. Die Apokalypse-Blindheit entspringt einer Unvorstellbarkeit und Undarstellbarkeit, die sich aus der Komplexität der Kernphysik der Kernwaffen ergibt und die oft in der Katastrophenimagination ausgespart bleibt. Bereits ein kleiner Einblick in die Grundlagen der physikalischen Vorgänge der Kernspaltung beziehungsweise Kernverschmelzung macht dies deutlich: 1938 wird die einige Jahre zuvor antizipierte Kernspaltung nachgewiesen, indem zunächst Uran- (235U) und später auch Plutonium­ isotope (239Pu) mit Neutronen beschossen werden und so leichtere Spalt­ produkte infolge eines Ungleichgewichts der Kernbestandteile entstehen. Im Vergleich zur bereits seit 1919 künstlich herbeigeführten Umwand­ lung des Atomkerns – einer Transmutation eines Elements in ein anderes mit vergleichbarer Masse – ist nun die bis dahin für unmöglich gehaltene Spaltung des Atomkerns und die Aufhebung der starken Kernbindungs­ kräfte selbst gelungen. Durch die Kernspaltung kommt es zu einer Verrin­ gerung der Masse, einem sogenannten Massendefekt, wodurch enorme Energiemengen freigesetzt werden. Es dauert nicht lange, um die Zer­ fallsreaktion der Kernspaltung – einem Prozess, der in den anfänglichen Versuchsanordnungen zum Nachweisen noch begrenzt war – durch eine Kettenreaktion ins Vielfache zu erweitern. Das Funktionsprinzip der Nu­ klearwaffen basiert schließlich auf einer unkontrollierbaren Kettenreakti­ on, die exponentiell Partikel und riesige Mengen an Energie freisetzt. Noch gewaltiger als die Kettenreaktion durch eine Kernspaltung ist die­ jenige einer Kernverschmelzung. Im Gegenteil zur Atombombe werden bei einer Wasserstoffbombe zwei oder mehr Elemente zu einem anderen verschmolzen, um eine umso größere Energiefreisetzung zu erreichen. Weil die Kernfusion auf natürliche Weise nur im Inneren von Sternen vorkommt, wo die dafür benötigten Kräfte groß genug sind, muss für eine Wasserstoffbombe die Energie zur Kernfusion zuvor durch eine Atombombenexplosion erzeugt werden. Martinson war sich über dieses nahezu unvorstellbare Vernichtungspotenzial, über dass die Menschheit nun verfügt, bewusst. Als die ersten 29 Gesänge von Aniara unter dem 75

2 Apokalypse im Anthropozän

Titel »Sången om Doris och Mima« 1953 erscheinen, sind sowohl die USA als auch die Sowjetunion gerade dabei, die ersten Wasserstoffbom­ ben zu testen, die im Vergleich zu den bisherigen Atombomben um mehrere Größenordnungen stärker sind.8 Martinson war mit den natur­ wissenschaftlichen Durchbrüchen seit dem Anfang des 20. Jahrhundert gut genug vertraut, um sich ein Bild von einem immer wahrscheinliche­ ren und vermutlich allesvernichtenden Nuklearkrieg machen zu können. Bereits zum Zeitpunkt, als neue Atommodelle die für lange Zeit gültige physikalische Vorstellungswelt auf den Kopf stellen, verfolgt er die immer unglaublicher wirkenden Fortschritte. Seine Beschäftigung mit der Kern­ energie, beginnend mit der Entdeckung der Kernspaltung, deren Nutz­ barmachung und schließlich deren Einsatz zur Beendigung des Zweiten Weltkriegs, reicht dabei noch vor die Veröffentlichung von »Sången om Doris och Mima« zurück. Unmittelbar nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Na­ gasaki im Jahr 1945 hält er seine Reaktion auf die ungeheure Energie, die der Mensch den atomaren Kernkräften abgewinnen konnte, in einem Zeitschriftenartikel fest. Hier erinnert er sich an einen Besuch bei Niels Bohr in dem damals weltweit führenden Institut für Atom- und Quanten­ physik an der Universität in Kopenhagen anlässlich einer ›Schwedischen Woche‹ im Jahr 1941. Bohr, der Grundlagen für die Modellierung der Struktur von Atomen und der von ihnen ausgehenden Strahlung lieferte und die Realisierung von Kernwaffen anfangs als unmöglich erachtete, war später im Exil selbst an der Entwicklung der Atombombe auf Sei­ ten der USA beteiligt und hegte die Hoffnung, dass die Vergrößerung des Zerstörungspotenzials alle Weltkriege in Zukunft ein für alle Mal beenden würde (DeGroot 2005, 56). Martinson und weiteren Zuschauern demonstrierte er eine Versuchsanordnung, mit der ionisierende Strahlung radioaktiver Stoffe sichtbar gemacht werden kann. Dazu wird in einem als Nebelkammer bezeichneten Teilchendetektor der als Kondensations­ streifen indirekt sichtbar werdende Weg von Elektronen, die aus der Atomhülle herausgelöst werden, abgebildet. Martinson deutete das Expe­ riment im Nachhinein als eine düstere Vorahnung von der möglichen

8 1961 wurde durch die Sowjetunion die stärkste Wasserstoffbombe in der Geschichte ge­ zündet. Die Sprengkraft dieser später als ›Zar-Bombe‹ bekannten Bombe war auf un­ glaubliche 100 Megatonnen ausgelegt, das Viertausendfache der Trinity-Bombe. Aus Angst vor dem enormen radioaktiven Fallout wurde die Detonation nur mit knapp 60 % der Sprengkraft ausgeführt (DeGroot 2005, 253).

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Kassandrarufe

Zerstörungskraft einer Kernspaltung in großem Maßstab. Er sei Zeuge eines Epochenwechsels geworden: Vi ha bevittnat en atomsprängning, eller rättare en atomskalning, ty någon kärnsprängning var det inte fråga om. Skillnaden mellan dessa två saker är – kan man våga förmoda – så stor som skillnaden skulle vara mellan en bortsprängning av några kubikmil av jordskorpan och en totalsprängning av planeten. […] För en gångs skull överdriver ingen som påstår att en ny epok i jordens histo­ ria nu börjar, och i längden kan inte krigets verklighet och onda slagskugga förmörka detta faktum, såvitt vi alls fortleva som organiska varelser på denna jord. (Martinson 1989, 32–33) (Wir sind Zeugen einer Atomsprengung geworden, oder besser gesagt einer Atomschälung, weil von einer Kernspaltung nicht die Rede war. Der Unter­ schied zwischen diesen beiden Dingen ist – wie man anzunehmen wagen darf – so groß wie der Unterschied zwischen einer Wegsprengung einiger Kubikkilo­ meter der Erdkruste und einer Totalsprengung des Planeten sein müsste. […] Ausnahmsweise übertreibt niemand, der darauf besteht, dass jetzt eine neue Ära in der Geschichte der Erde beginnt, und auf lange Sicht können die Wirklich­ keit des Kriegs und der böse Schlagschatten diese Tatsache nicht verschleiern, solange wir als organische Geschöpfe auf dieser Erde weiterleben.)

Der folgenreiche ›nukleare Urknall‹ in Form der Kernspaltung wird später als ein Kandidat für den Beginn des Anthropozäns aufgeführt. Dabei ist es vor allem die Symbolkraft der Kernwaffenexplosion, die von der unglaublichen Macht des Menschen und von der imminenten Gefahr für das gesamte Leben auf der Erde zeugt. Noch vor dem Bild der Erde aus dem Weltraum, das im Zuge der Raumfahrtmissionen ab Ende der 1960er-Jahre einfangen wird, vermittelt der Anblick des Atompilzes die Vorstellung von einem gemeinsamen planetarischen Schicksal. Von der Versuchsvorführung in Kopenhagen bis zur Veröffentlichung von Aniara steigt die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Auslöschung. In einem Zeitschriftenartikel von 1949 problematisiert Martinson, dass die größte Gefahr darin bestehe, dass die Menschen sich nicht über die damit verbundenen Langzeitfolgen bewusst sind. Neben den offensichtlichen Auswirkungen einer Kernwaffenexplosion ist es die dabei freiwerdende intensive Neutronen- und Gammastrahlung, die auf lange Zeit ein Todes­ urteil für die Bewohnbarkeit der Erde darstellt. Martinson greift hier die von Latour angesprochene mythologische Figur der Kassandra und ihren Warnruf auf, dessen Verhängnis darin besteht, dass er zwar Gewissheit darüber besitzt, dass das Schlimmste bevorsteht, bei den Menschen aber kein Gehör findet:

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2 Apokalypse im Anthropozän Katastrofen blir kanske en mörk katastrof. Ty det är inte sagt att planeten spränges, flammar upp eller förgasas. Katastrofen kan likaväl bli en död som inte syns utåt. En hängning i tysthet. En stråldöd, som strömmar runt under några århundraden kring en mörk planets yta. Kanske kommer inte ens månen att påverkas utan att fortsätta som förut att gå sin bana kring en planet, vars innevånare tog till fortlöpande vana att inte lyssna till Kassandra. (Martinson 1989, 50) (Die Katastrophe wird vielleicht eine dunkle Katastrophe sein. Denn es ist nicht die Rede davon, dass der Planet gesprengt wird, in Flammen aufgeht oder ver­ gast wird. Die Katastrophe kann genauso gut ein Tod sein, der von außen nicht sichtbar ist. Ein Lauern in der Stille. Ein Strahlentod, der einige Jahrhunderte lang die Oberfläche eines dunklen Planeten umströmt. Vielleicht wird nicht einmal der Mond davon betroffen sein, sondern wie bis­ her weiter seine Bahn um einen Planeten ziehen, dessen Bewohner sich daran gewöhnt haben, nicht auf Kassandra zu hören.)

Auch in Aniara wird der ungehörte Kassandraruf vor dem Weltuntergang ein zentrales Motiv. Das Epos lässt sich als vorausschauende Problematisie­ rung lesen, dass die Latenz der Katastrophe eines nuklearen Holocaust der Grund ist, warum dem Wettrüsten der Nuklearmächte erst spät Einhalt geboten wurde. Nicht nur wird durch die anfängliche Fehlkalkulation des Ausmaßes der Strahlenverseuchung die Gefahr der nuklearen Bedro­ hung nach 1945 weiter unterschätzt. Auch die Verbannung der nicht en­ denden Testexplosionen von Wasserstoffbomben unter die Erdoberfläche beziehungsweise unter den Meeresspiegel ab 1963 sowie die Verlagerung des Weltuntergangs in den virtuellen Raum von hypothetischen Compu­ tersimulationen machen den Nuklearkrieg zu einem immer unwirklicher anmutenden Szenario. In Aniara wird dagegen die Austestung der Bombe, die vor der völligen Zerstörung der Erde nicht zurückschreckt, bildgewal­ tig in Szene gesetzt.

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3 Nuklearer Holocaust

Mima

Aniara kann vor dem Hintergrund von Martinsons scharfsichtiger Tech­ nikkritik und Technikethik gelesen werden, die sein Interesse an den technowissenschaftlichen Durchbrüchen um die vergangene Jahrhundert­ mitte begleiten. Der Begriff der Technowissenschaft beziehungsweise der Technoscience, wie er auch im Deutschen gebräuchlicher ist, besagt, dass beide Komponenten – die reine Wissenschaft und die angewandte Tech­ nik1 – nicht mehr voneinander getrennt und nicht mehr von Politik und Gesellschaft isoliert werden können (Latour 1987, 174). Die Etablierung einer wechselseitigen Abhängigkeit von Wissenschaft und Technik fällt mit der Entstehung eines militärisch-industriell-akademischen Komplexes nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen und ebnet unter anderem den Weg für das Atom-, Raumfahrt- und Computerzeitalter (Channell 2017, 87). In der Aniara-Forschung ist zwar wiederholt auf die Intention des Epos aufmerksam gemacht worden, die Fortschritts- und Technikgläubig­ keit seiner Gegenwart infrage zu stellen. Der Schwerpunkt liegt dabei allerdings auf einer zivilisationskritischen Perspektive, aus der die Ursache für den Weltuntergang in der Zukunft auf ein gesellschaftspolitisches Ver­ sagen infolge einer Konditionierung unter einer totalitären Technokratie zurückgeführt wird (Nolte 2002, 100). Mit dem Begriff der Technoscience lässt sich dagegen der zeitdiagnostischen Dimension in Aniara gezielter nachgehen, als es der bisher in der Forschung aufgerufene Technikdis­ kurs vermag. Vor allem anhand der Entwicklung und des Einsatzes von Kernwaffen wird in Martinsons Epos die kaum mehr zu schulternde Ver­ antwortung problematisiert, die mit dem Eingriff des Menschen in die Naturkräfte entsteht. Jutta Weber hat der Konstituierung der Technoscience eine umfassende Untersuchung in ihrem Buch Umkämpfte Bedeutungen. Naturkonzepte im Zeitalter der Technoscience gewidmet (Weber 2003). Sie schreibt, dass die Technoscience maßgeblich an der Produktion von Wirklichkeit beteiligt

1 Die Begriffe Technik und Technologie tendieren im Deutschen – vor allem in Anleh­ nung an den englischen Begriff technology – zunehmend dazu, synonym verwendet zu werden. Hier wird zwischen dem künstlich Hergestellten (Technik) und dem übergeord­ neten Wissen von diesem Herstellungsprozess (Technologie) unterschieden.

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ist, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts »zwischen Science und Fiction« (17) entfaltet und aus dem Fortschritt die Möglichkeit für eine von der Gegenwart aus gestaltete Zukunft ableitet. Weber betont da­ bei die zentrale Bedeutung der Verschmelzung von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft für einen umfassenden Paradigmenwechsel: In [dem Begriff der Technoscience] verbindet und verdichtet sich die diagnos­ tizierte eminente Bedeutung der Technisierung von Wissenschaft, die neue Effi­ zienz industrieller Technik durch die Neukonstruktion von Organischem, die Amalgamierung einer systemischen Technik mit dem Sozialen, die Umschrei­ bungen der symbolischen Ordnung durch die technowissenschaftlichen Prakti­ ken und Rhetoriken als auch die Ausbildung eines Technoimaginären. Diese enormen Umwälzungen scheinen es zu rechtfertigen, Technoscience auch im Sinne eines Epochenbegriffs zu formulieren. (116)

Die epochemachende Durchschlagskraft der Technoscience ergibt sich aus der Rekonfiguration der Kategorien des Natürlichen und des Menschen­ gemachten, die die Neukonzeption von Natur und Kultur im Anthropo­ zän ergänzt. Deutlich wird dies unter anderem in den Bereichen der Kernphysik und der Computertechnologie, die in Aniara im Rahmen der Problematisierung der Ermächtigung des Menschen durch die Technik sowie deren unvermeidlichen Kontrollverlusts eine folgenreiche Fusion eingehen. Insbesondere der Bordcomputer Mima verkörpert sowohl die für die Technoscience kennzeichnende Technisierung der Natur als auch die Ver­ lebendigung der Technik. Die immer wieder in Aniara aufgeworfene Fra­ ge nach der Schuld an der Zerstörung der Bewohnbarkeit der Erde und nach der Erlösung davon steht in direktem Zusammenhang mit der Ma­ schine und deren Zusammenbruch im sechsten Jahr der Reise. Als Mittel zur Wirklichkeitsbewältigung und -verdrängung bildet die Mima anfangs das gemeinsame Zentrum während des ansonsten nahezu ereignislosen Reiseverlaufs. Ihre Visionen – wenn es sich dabei auch nur um einen blas­ sen Abglanz des wirklichen Lebens handelt – bilden einen scharfen Kon­ trast zum Raumschiff, auf dem die Lebenskraft selbst allmählich erlischt. Auf diese Weise verbindet die Mima die Welt des Raumschiffs mit dem, was unwiederbringlich verloren ist: Das Leben auf der Oberfläche eines Planeten und damit die Hoffnung auf eine Zukunft für das Fortbestehen der Menschheit. In Räumen, die an Kinosäle erinnern, führt der hochleis­ tungsfähige Supercomputer den Passagieren Episoden aus vergangenen Zeiten in Form von Bildern, Tönen und Gerüchen vor:

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Mima I miman fick vi in att det finns liv på flera håll. Men var ger miman ej besked om. […] Hon fiskar bildligt talat sina fiskar i andra hav än dem vi nu befara, och fångar lika bildligt sina rymdfynd ur skog och dal i oupptäckta riken. (13) (In der Mima bekamen wir zu sehen, dass es Leben gibt an mehreren Orten. Aber wo, darüber gibt die Mima nicht Bescheid. […] Sie fischt bildlich gesprochen ihre Fische in anderen Meeren als wir sie nun befahren, und fängt ebenso bildlich ihren Weltraumfund aus Wald und Tal in unentdeckten Reichen.)

Unter den »prover ifrån andra världars liv« (Proben aus dem Leben ande­ rer Welten) (19) befinden sich sowohl Sequenzen, die das Leben auf der Erde, als auch das an anderen, nicht weiter definierten Orten zeigen. Ob­ wohl die Mima keine Aussage zur Herkunft ihrer Quellen machen kann, erfindet sie nichts, sondern liefert »en redbar förevisning av allt skapat« (eine treue Abbildung der ganzen Schöpfung) (39). Der Mimarob, der den Bordcomputer gleich einem Filmvorführer täglich für das Publikum ein- und ausschaltet, weiß um die Wichtigkeit der Visionen für die Pas­ sagiere. Die Darbietung »av mimans drömkonserver« (von Mimas Traum­ konserven) (42) bildet die einzige Ablenkung von der ununterbrochenen Ereignislosigkeit und der unausweichlichen Todesgewissheit. Da die Auf­ gabe des Mimarob die Vermittlung der Sinneseindrücke ist, kommt ihm eine entscheidende zeremonielle Schlüsselposition als »mimans blå liturg« (Mimas blauer Liturg) (49) zu. Während er in der Lage ist, mit dem Computer via einer, »ur högre avancerad tensorlära« (aus der höheren fortschrittlichen Tensorlehre) (52) – also aus einer fiktiven, aus der höhe­ ren Mathematik abgeleiteten Sprache – direkt zu kommunizieren, bleibt die Mima den meisten Passagieren ein Mysterium. Es dauert nicht lange, bis die Reisenden die Maschine, die das Schicksal vorübergehend erträg­ lich macht, als »ett heligt väsen« (ein heiliges Wesen) (17) zu verehren beginnen, auch wenn die Mima sich ihres Kults nicht bewusst ist, wie der Mimarob distanziert bemerkt. Auf die Funktion der Mima, die Wirklichkeit abzubilden, verweist ihr Name: ›Mima‹ lässt sich auf das altgriechische Wort mîmos (μῖμος) für

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›Schauspieler‹ zurückführen, von dem sich wiederum das Wort ›Mimesis‹ für die künstlerische Nachahmung ableitet. Martinson selbst beschreibt im Vorwort zu Aniara die theatrale Inszenierung durch die Mima, im Zuge deren die Passagiere zugleich Mitspieler und Zuschauer werden: Som symbol för alla utvidgade ansträngningar i den vägen står den gåtfullt konstruerade miman, den stora infångerskan och återgiverskan av allt som flyr och förgår, allt som strålar vidare i allriktade utflöden mot tomheten och glöms­ kan. I entropien, i värdeförskingringen samlar hon på nytt och på nytt in i sin spegel allt det som har flytt och som inte mer är. Därför representerar hon också Minnet, den obotliga saknaden, världselegien, men också Historien, skulden. (Martinson 1997, 192–193) (Als Symbol für alle erweiterten Anstrengungen auf diese Weise steht die rätsel­ haft konstruierte Mima, die große Empfängerin und Wiedergeberin von allem, was entschwindet und vergeht, alles, was in alle Richtungen in die Leere und Vergessenheit ausstrahlt. In der Entropie, in der Unterschlagung von Werten, sammelt sie in ihrem Spiegel immer wieder aufs Neue all das, was vergangen ist und was nicht mehr ist. Deshalb repräsentiert sie auch die Erinnerung, die unheilbare Sehnsucht, die Weltelegie, aber auch die Geschichte, die Schuld.)

Erfahren die Passagiere den Weltraum, den sie durchreisen, auch lebens­ leer und unnahbar, so stellt die Mima doch eine Möglichkeit dar, um zumindest auf virtuelle Weise Kontakt mit dem herzustellen, was außer­ halb der hermetischen Abgeschlossenheit des Raumschiffs und jenseits der unmittelbaren Wahrnehmung der Menschen liegt. Wasser- und wellenlos wie der Weltraum ist auch das Meer, das die Mima durchschifft, und mit dem das Reisemotiv in Aniara aufgriffen wird. Allerdings handelt es sich dabei statt um eine äußere Reise durch den Weltraum um eine innere Reise durch die Zeit. Als kollektiver Erinnerungsspeicher, der Ein­ blicke in die Vergangenheit eröffnet, ist die Mima entscheidend für die Rekapitulation der Geschichte der menschlichen Zivilisation auf der Erde. Die Übertragungen lassen den abgedeckten Zeitraum im Epos gewaltig anschwellen, sodass sich ein umfangreiches Bild über die Tiefengeschichte des Planeten ergibt, dessen älteste Episode ganze vier Millionen Jahre in die Vergangenheit zurückreicht (Gesang 52). Im gleichen Moment unterstreichen sie – wie Martinson selbst hervorhebt – die Vergänglichkeit alles Seienden: »Dessa rundblickar i tidens oceaner bidrar hela tiden att symboliserar situationen. De suggererar läsaren att alltmer fördjupat erfara omfattningen av dödens välde och den aktuella tidens relativitet« (Diese Rundblicke in die Ozeane der Zeit tragen stetig dazu bei, die Situation zu symbolisieren. Sie vermitteln dem Leser die immer vertieftere Erfahrung

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des Ausmaßes der Todesherrschaft und der Relativität der gegenwärtigen Zeit) (Martinson nach Wrede 1965, 103). Alan Swanson hat in seinem Aufsatz »Aniara as a libretto« auf die zentrale Funktion des Rückblicks in die Vergangenheit durch die Mima hingewiesen, mithilfe dessen die räumliche Dimension der Reise im Epos auf eine zeitliche übertragen wird: »Hence, though this poem moves inevitably forward in Time, its greater part looks backward at what has been. In this, it distinguishes itself from classical epics, for its theme is Memory« (Swanson 1996, 75). Dementsprechend ist die Mima in der Forschung einerseits als ein metareflexiver Verweis auf das Epos Aniara selbst interpretiert worden. Johan Wrede beschreibt sie in seinem Buch Sången om Aniara. Studier i Harry Martinsons tankevärld als »den visionära diktens och konstens symbol« (das Symbol des visionären Gedichts und der Kunst) (Wrede 1965, 169) und sieht in ihr die Verwirklichung eines dichterischen Ideals und des Prinzips von ewigen Wahrheiten. Anderer­ seits ist der Computer als Ausdruck eines kosmischen Mediums gelesen worden, das die begrenzte Perspektive auf dem Raumschiff transzendiert und einen Kontakt zur Außenwelt ermöglicht. Peter Nilson legt die Mima in seiner Essaysammlung Rymdljus. En bok om katastrofer och underverk als Schnittstelle zwischen dem Menschen und dem Kosmos aus (Nilson 1992, 110). Er sieht in der Maschine die Verkörperung der Vorstellung einer Empfängerin eines kosmischen Bewusstseinsfelds, durch das die Welt er­ schlossen werden kann.2 In diesem Sinne lassen sich die Visionen der Mima als der Wunsch der Menschen nach Beständigkeit angesichts des Verlusts der Erde deuten. Gleichzeitig ist die durch den Computer erzeugte Virtualität aber auch ein Sinnbild für die Unerreichbarkeit, die die Reise der Passagiere kenn­ zeichnet. Indem durch die Visionen das Raumschiff »av ekon från sitt eget liv« (von Echos des eigenen Lebens) (8) erfüllt wird, wird gerade das sicht­ bar gemacht, was nicht länger ist und was nicht mehr wiederhergestellt werden kann. Diese Tatsache wird auch den Zuschauern schmerzlich be­ wusst, als die Mima im sechsten Jahr der Reise die aktuellen Geschehnisse

2 Nilson sieht in der Figur der Makarie aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden eine Vorgängerin der Mima, weil beide einen kosmischen Blick auf das Universum durch die Einbildungskraft evozieren. Entgegen Makarie, die von der Erde entbunden scheint und sich auf ihrer inneren Reise vom tiefen Weltraum zur Sonne begibt, richtet die Mima aber ihren Blick auf Szenen, denen allen gemeinsam ist, dass sie vom Leben auf der sich immer weiter entfernenden Erde handeln (Nilson 1992, 108–109).

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auf der Erde einfängt. Gilt es seit Fahrtantritt doch, den Schrecken des immer noch tobenden Nuklearkriegs, der den Reisenden nur allzu gut in Erinnerung ist, auszublenden. Der Umstand, dass die Mima als »ett sanningsfilter utan egna fläckar« (ein Wahrheitsfilter ohne eigene Flecken) (21) gar nicht anders kann, als die Wirklichkeit unverändert wiederzuge­ ben, führt zu dem vergeblichen Versuch des Mimarob, die Übertragun­ gen zu stoppen, indem er den Computer kurzerhand herunterfährt. Die Mima, die sich auf unerklärliche Weise selbst zur Erde hingezogen zu fühlen scheint, offenbart ab diesem Zeitpunkt ausschließlich die Zerstö­ rung des Planeten im Kernwaffeninferno, die das Ende der Menschheit einläutet. Während zu Beginn der Reise der Aniara bereits feststeht, dass die Erde auf unabsehbare Zeit unbewohnbar geworden ist, macht erst die Übertragung der Eskalation des nuklearen Holocaust die Endgültigkeit des Verlusts deutlich. Den Höhepunkt der Zerstörung bildet der Moment, als die Stadt Dorisburg – die ihrem Namen nach als Stellvertreterin der als Doris bezeichneten Erde in Aniara verstanden werden kann – den Bombenexplosionen anheimfällt (Gesang 26). Bis zu diesem Moment gestaltet sich das Verhältnis der Zuschauer zur wirklichkeitsgetreuen Abbildung der Mima mehr und mehr problema­ tisch. Während das Kriegsgeschehen im Widerspruch zu dem ursprüngli­ chen Bedürfnis der Reisenden steht, ihrer eigenen Wirklichkeit zu entflie­ hen, gewöhnen sie sich schnell an die Übertragungen und schrecken bis zum Zusammenbruch des Computers als Schaulustige vor den schlimms­ ten Szenen nicht zurück (Gesang 43). In der Mima trifft ein Weltgewissen, das die Gräueltaten der Kriegsverbrechen ungeschönt reflektiert, auf eine emotionale Taubheit der Zuschauer, solange sie keinen direkten Bezug zum Dargestellten haben. Auf diese Weise verdeutlicht Aniara, dass sich hinter der vermeintlich harmlosen Unterhaltung eine folgenschwere Tri­ vialisierung des Leids verbirgt, wodurch die Gefahr des nuklearen Holo­ caust gerade dann ihren Schrecken verliert, wenn sie eigentlich nicht mehr ignoriert werden kann. Martinson selbst hat die Mima ausdrücklich in die Nähe moderner Kommunikationstechnologien gerückt und damit die ambivalente Haltung hervorgehoben, die mit der Vermittlung der Katastrophenimagination verbunden ist (Martinson 1989, 80). Im illusori­ schen Charakter der modernen Massenmedien – in der »stora trolleriföre­ ställning« (großen Zaubereivorstellung) (60) – sah er die Befeuerung einer naiven Technikgläubigkeit, die zur gefährlichen Unterschätzung der Kon­ sequenzen des technowissenschaftlichen Fortschritts führt und dadurch der Erfindung der Atombombe überhaupt erst den Weg gebahnt hat. 84

Mima

Die Ambivalenz der Katastrophenimagination in Aniara wird zusätzlich durch den Umstand verstärkt, dass auch der Zusammenbruch der Mima untrennbar mit der Schilderung des nuklearen Holocaust verbunden ist. Denn ausgerechnet dem Supercomputer selbst werden dessen Übertra­ gungen am Ende zum Verhängnis, weil er dadurch irreparable Schäden davonträgt. Die hoffnungslose Bitte der Mima »om befrielse från synen« (um eine Befreiung von dem Anblick) (52) wird von heftigen Funktions­ störungen begleitet, bevor sie für immer verstummt. In den Augen des Mimarob verweigert die Mima ihren Dienst, weil sie an dem Gewissen zugrunde geht, das sie in Eigenregie erlangt hat und das sie dazu befähigt, mehr wahrzunehmen und mehr zu empfinden als lebendige Kreaturen. Vonseiten des Mimarob, der zunächst noch vergeblich versucht, »Mimas verk för konst och tröst« (Mimas Werk für Kunst und Trost) (56) wieder in Gang zu setzen, wird die Selbstabschaltung als Reaktion auf die nicht mehr zu ertragenden Übeltaten der Menschheit ausgelegt: »Gudinnan död av sorg« (Die Göttin starb vor Sorge) (102). Vor diesem Hintergrund hat Eric Johannesson den Zusammenbruch der Mima in seinem Aufsatz »Aniara: Poetry and the Poet in the Modern World« als das Versagen der Kunst interpretiert, die angesichts des Weltuntergangs keinen Trost mehr spenden kann: If the Mima represents an ideal for the poet and for poetry, the breakdown of the Mima must be considered an event of considerable significance. The breakdown of the Mima is the expression of a poet’s despair over the hazards and the dilemmas of modern poetry. The poet’s elusive faith in uncertainty, in vagueness, in feelings and dreams, cannot withstand the onslaught of reality, cannot animate the waste land of certainty created by the intellect. Simultane­ ously he must report the truth as he sees it, but faces the problems that the immensity of the evil in the world has reached such proportions that he is unable to cope with it: he lacks the images he needs to render it. (Johannesson 1960, 198)

Während Johannesson die Kapitulation des Mimesis-Prinzips, dem Dasein keinen lebenswerten Sinn mehr abringen zu können, im breiteren Kon­ text des mit der Zerstörung der Erde einhergehenden verlorenen Zugangs zur natürlichen Welt liest (201), lässt sich der Zusammenbruch der Mima konkret mit der Auslöschung im Kernwaffeninferno zusammenbringen. Jörg Hienger hat auf die Undarstellbarkeit und Unvorstellbarkeit der Vernichtung in seinem Aufsatz »Aniara auf dem Weg zur Leier. Bemer­ kungen zu Harry Martinsons Weltraumdichtung« hingewiesen (Hienger 1969). Für Hienger liegt die Diskrepanz des Vermögens der Mima, nach­

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zuahmen, darin begründet, dass sie zwar die Wirklichkeit so gut wie mög­ lich abbildet, das ganze Ausmaß der Zerstörung den Zuschauern jedoch lediglich indirekt beigebracht werden kann. Um die Problematisierung des mimetischen Prinzips in Aniara genauer zu erfassen, nimmt Hienger eine entscheidende Abgrenzung zwischen Kunst und Computer, das heißt zwischen der künstlerischen und der künstlichen Darstellung, vor. Er beschreibt die Mima als die Erweiterung des menschlichen Wahrnehmungs- und Erinnerungsfeldes mit dem Ziel, den Menschen über seine zeitlich und räumlich unüberschaubar gewordene Welt wieder ins Bild zu setzen. Auf dem zur Erreichung des Ziels eingeschlagenen Weg kommt die Technik weiter als die Kunst, die ihn nur beschreitet, wenn sie in Verkennung ihrer Möglichkeiten und Grenzen jede Deutung zu vermeiden und mit Abbildung sich begnügen zu können glaubt. Andererseits verfehlt gerade Mima, die ebenfalls nur im Rahmen ihrer Möglich­ keiten und Grenzen wirkt und beider in wachsendem Maße sich bewusst wird, mit dem Verfahren, das sie perfekt beherrscht, das erwünschte Ziel. Über die Stelle der von ihr reproduzierten Wirklichkeitsstücke im Ganzen der universa­ len Wirklichkeit kann sie nichts aussagen. Sie sendet Bilder, ohne ins Bild zu setzen, liefert nur den Stoff, nicht dessen Ordnung. Vor allem aber kann sie das nicht mehr abbildbare irdische Chaos, das ihre Hersteller vollenden, indem sie Dorisburg zersprengen, und begreifen müßten, wenn sie ihre eigenen Taten verstehen wollten, nur dadurch zeigen, daß sie selber zerspringt. (273–274)

Im Kontext von Hiengers Unterscheidung zwischen Poetologie und Com­ putertechnologie erscheint der Zusammenbruch der Mima in einem an­ deren Licht. Er signalisiert die fehlende Herstellung eines Sinnzusammen­ hangs, ohne den die Zerstörung der Bewohnbarkeit der Erde nicht be­ griffen werden kann. Die selbstausgeführte Beendigung des mimetischen Prinzips kann demnach als der Ausdruck einer Vollendung der maschinel­ len Nachahmungseigenschaften verstanden werden. Dass der Supercom­ puter seinen Dienst versagt, ist dann weniger als Kapitulation der Kunst beziehungsweise Technik vor dem Nicht-Abbildbaren zu verstehen, son­ dern als der logische Endpunkt der Imitation vom Ende, zu dem die Maschine programmiert ist. In diesem Sinne verweist die Zersprengung der Mima also – wenn auch in dem gleichen Prozess, wie Hienger ihn dar­ stellt, jedoch mit entgegengesetzter Absicht – nicht auf ihre Begrenztheit, sondern auf die Perfektion der Mimesis. Sie bildet die Unerzählbarkeit der ultimativen, alles zerstörenden Vernichtung durch den Abbruch der Erzählung selbst ab. Alles was nach dem Zusammenbruch der Mima übrig bleibt, sind »mimaskärvor« (Mimascherben) (101), Fragmente der Episoden, an die

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sich die Passagiere bis zum Ende ihrer Reise weiter festklammern. Octavia Cade hat in ihrem Aufsatz »›I Close the Mima‹: The Role of Narrative in Harry Martinson’s Aniara« argumentiert, dass der Zusammenbruch des Computers nicht das vollständige Ende des Mimesis-Motivs in Aniara bedeutet, sondern dass sich dieses auf der Ebene der Erzählstruktur weiter­ hin beobachten lässt (Cade 2015). Zum einen sieht Cade in der Erzählung der Mima, die an sich selbst zugrunde geht, eine Parallele zu den Passagie­ ren, die anschließend vergeblich versuchen, das Leben zu imitieren und zu bewahren, aber nur feststellen müssen, dass ihre Existenz fernab der Erde sinnentleert geworden ist: »There is never any chance for new stories to be made; all the passengers can do is act out the old ones, knowing that they are acting. That knowledge delegitimizes their parts, and further encourages the perception of life upon the spaceship as a pale echo of a prior story« (106). Zum anderen versteht Cade das Zerspringen der Mima als eine Parallele zur Fragmentation der Erzählung des Epos, womit sich auch die allgemeine Verschiebung weg vom Epischen – als Form einer kollektiven Geschichte – und hin zum Lyrischen – als Form individueller Schilderungen – deckt. Während die Mima die anfängliche Erzählung des Epos strukturiert, markiert ihr Zusammenbruch einen Übergang in dem Gesamtzusammenhang der einzelnen Gesänge des Epos. Als Personi­ fizierung der gemeinsamen Erzählung kommt sie anschließend durch ihre Abwesenheit zur Geltung, weil sich die kollektive Geschichte von nun an auf unterschiedliche Gruppen und einzelne Figuren zerstreut (107). Der Geist in der Maschine

Die Tatsache, dass es sich bei der Mima um eine hochentwickelte Maschi­ ne handelt, ist in der Forschung größtenteils entweder ganz ausgespart geblieben oder aber als Spielerei abgetan worden, um Aniara von der Ten­ denz von Science Fiction zur Spekulation abzugrenzen. Dabei ist unüber­ sehbar, dass Martinson mit der Mima einen für Science Fiction typischen Topos vom ›denkenden Computer‹ bedient. Der hybride Charakter der Mima – zwischen Kunst und Technik, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Wirklichkeit und Abbildung – knüpft an die Imagination eines übermenschlichen Computers an, aus der sich in Science Fiction Diskur­ se zur Entmenschlichung des Menschen und der Vermenschlichung der Maschine gleichermaßen ergeben. Die Computertechnologie hat ihren Ursprung in den ab 1941 entwickelten Großrechnern, von denen von

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Anfang an eine übermenschliche Aura auszugehen scheint, und deren Weiterentwicklung im Zuge der Great Acceleration ab 1950 weiter Fahrt aufnimmt. Johan Lundberg hat in seinem Aufsatz »Simulering, spegling och cybernetik. Om sång nio i Harry Martinsons Aniara« nachgezeichnet, dass sich Martinson auch hier an den technowissenschaftlichen Revolutio­ nen seiner Gegenwart und im Speziellen an dem Beginn des Computer-, Informations- und Datenzeitalters orientiert (Lundberg 2002). Martinson war einer der ersten, die in der schwedischen Öffentlichkeit die Com­ putertechnologie thematisierten und sich gemäß der überschwänglichen initialen Wahrnehmung die baldige Übersteigerung des menschlichen Denkvermögens und einen Paradigmenwechsel in der Verarbeitung und Wiedergabe von Rechenaufgaben, Informationen und Daten versprach (281). Anstoß für diese Vorstellung gab der erste universell programmierba­ re Großrechner namens Electronic Numerical Integrator and Computer (ENIAC) der USA im Jahr 1946, der die Grundlage für immer optimisti­ schere Gedankenexperimente lieferte, die teilweise bis heute nicht Wirk­ lichkeit geworden sind. Bereits zu diesem Zeitpunkt malt sich Martinson einen zukünftigen Computer als ultimative »minnesmaskinen, fantom­ hjärnan, elektronhjärnan« (Erinnerungsmaschine, Phantomhirn, Elektro­ nenhirn) (Martinson nach Lundberg, 281) aus. Eine Maschine als künst­ licher Erinnerungsspeicher und die populäre Vorstellung der zwischen 1940 und 1960 entwickelten Röhrencomputer als ›Elektronenhirne‹ – die statt eines biologischen ein elektronisches neuronales Netzwerk aufweisen – finden später Eingang in die Konzeption von »mimans cellverk« (Mimas Zellenwerk) (36). Bis zur Veröffentlichung von »Sången om Doris och Mima« beziehungsweise Aniara werden Computer zu immer leistungsfä­ higeren weiterentwickelt, die schließlich auf Halbleitertechnik basieren und so die Rechenkapazität um ein Vielfaches steigern. Allerdings bleiben sie deutlich hinter den Eigenschaften der Mima zurück, von der es im Epos heißt, dass ihre enorme Rechenleistung die des Menschen um das Dreitausendachtzigfache übersteigt (Gesang 6). Der Kapazität der Mima wohnt dennoch mehr inne, als diese aus heutiger Sicht unscheinbar wir­ kende Beschreibung vermuten lässt. Immerhin sind die übermenschlichen Eigenschaften der Maschine ein Teilprodukt ihrer Selbsterschaffung: Det finns hos miman vissa drag som kommit med i den och verkar där i banor av en sådan art att människans tanke aldrig vandrat dem.

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Der Geist in der Maschine […] Uppfinnaren var själv fullständigt slagen den dag han fann att hälften av den mima han funnit upp låg bortom analysen. Att hälften funnits upp av miman själv. (20) (Die Mima weist gewisse Züge auf, die in ihr angelegt sind und dort wirken, in Bahnen einer solchen Art, dass das menschliche Denken sie nie beschritt. […] Der Erfinder war selbst vollständig fassungslos, am Tag, als er entdeckte, dass die Hälfte der Mima, die er erfunden, jenseits der Analyse lag. Dass die Hälfte erfunden wurde von der Mima selbst.)

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Sphäre, in der die Mima waltet und aus der sie ihre Daten bezieht, in Aniara nicht für die Menschen verständlich ist. Johan Lundberg verweist in diesem Zusam­ menhang darauf, dass der denkende Computer sein Vorbild auch in der zeitgleich mit der Technologie aufkommenden Debatte um künstliche Intelligenz hat (Lundberg 2002, 281). Mit dem nicht eindeutig definierten Begriff der künstlichen Intelligenz werden in der Informatik Eigenschaf­ ten beschrieben, die einen Computer dazu befähigen, autonom zu agieren und maschinell zu lernen. Wegweisend für dieses neue Forschungsfeld war Alan Turing, der 1950 in seinem Aufsatz »Computing Machinery and Intelligence« die Frage aufwarf, ob Maschinen denken können (Tu­ ring 1950, 433). Dazu ersann er ein »Imitation Game«, den sogenannten Turing-Test, in dem ein Computer anderen Menschen vortäuscht, selbst menschlich zu sein. Zwar war es für Turing in der Theorie möglich, dass ein Punkt erreicht wird, an dem Mensch und Maschine nicht mehr aus­ einanderzuhalten sind, wenn letztere ein Bewusstsein imitiert. Aufgrund der beschränkten Hardware-Fähigkeiten musste sein Imitationsspiel aber ein Gedankenexperiment bleiben (Nebel 2019, 304). Nichtsdestotrotz hat Turing die entscheidenden Impulse für das Verständnis von künstlicher Intelligenz geliefert, die – obzwar sie ihren Ursprung in den Kalkulatio­ nen ihrer menschlichen Schöpfer hat – letzten Endes aber eine Eigendyna­ mik entwickelt, die nicht mehr vollständig nachvollzogen werden kann (Turing 1950, 458). Martinsons Mima, die neben künstlicher Intelligenz auch über ein Bewusstsein verfügt, hat ihre geistigen Vorgänger – wie sie Turing noch vorschwebten – dagegen längst überholt, weil sie auch auf einer emotionalen Ebene den Menschen übertrifft.

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Lundberg bezieht die Übersteigerung des menschlichen Vorstellungs­ vermögens durch die Mima vor allem auf ihre Nachahmungseigenschaf­ ten (Lundberg 2002, 283). Wie wirkmächtig die Visionen des Computers sind, lässt sich nicht nur an dessen Fähigkeit ablesen, die Menschen selbst zu imitieren, sondern auch daran, dass die erzeugte Virtualität der Wirklichkeit als Ersatz dient. Der Mimarob hält wieder und wieder die Suggestivkraft der Mima fest, wenn die Passagiere aufgrund ihres »brist på verklighet« (Wirklichkeitsentzugs) Zuflucht in der vielgestalti­ gen »förkonstling« (Künstlichkeit) (18) der Traumwelten suchen. Das Eintauchen der Reisenden in den computergenerierten Cyberspace wird als eine »räddning genom tankeflykt« (Rettung durch Gedankenflucht) (37) beschrieben, durch die dem Dasein auf dem Raumschiff zeitweise ausgewichen werden kann. Lundberg betont, dass die durch die Mima er­ öffnete Welt nicht nur ein virtuelles Anderswo gegenüber dem farblosen Raumschiffalltag darstellt oder eine beliebige Szenerie, sondern dass sie eine strukturelle Imitation von Natürlichem ist, deren Polarität bereits im Titel »Sången om Doris och Mima« anklingt. Auf diese Weise rückt er das Mimesis-Prinzip in den Kontext einer technischen Repräsentation der Wirklichkeit: Aniara i dess helhet låter sig utifrån detta perspektiv läsas som en berättelse om en i teknologiens artificiella värld fången mänsklighet, vilken fåfängt försöker bygga upp en heltigenom simulerad värld, där det jordiska på konstgjord väg återskapas i så hög grad det är möjligt med de resurser som finns ombord på rymdskeppet. Vad Martinson riktar sökarljuset mot i Aniara är ett slags attrapptillvaro, där människan lever i fiktionen i stället för verkligheten, i teknologiskt konstruerade världar i stället för i naturen. På skeppet tillhandahålls ett slags spegeltillvaro där man rör sig allt längre bort från det som speglas – allt längre in i spegelbilden. (Lundberg 2002, 284–285) (Aus dieser Perspektive kann Aniara in seiner Gesamtheit als eine Erzählung über eine in einer künstlichen Welt der Technik gefangenen Menschheit gele­ sen werden, die vergeblich versucht, eine vollständig simulierte Welt zu erschaf­ fen, in der das Irdische so genau wie möglich mit den Ressourcen künstlich nachgebildet wird, die an Bord des Raumschiffs verfügbar sind. Auf was Mar­ tinson sein Augenmerk in Aniara legt, ist eine Art Scheindasein, in dem der Mensch in der Fiktion anstelle der Wirklichkeit lebt, in technisch konstruierten Welten anstelle der Natur. Auf dem Schiff wird eine Art Spiegeldasein erzeugt, in dem man sich immer weiter vom Gespiegelten entfernt – immer weiter ins Spiegelbild hinein.)

Der Unterschied zwischen Sein und Schein wird im Epos einerseits durch die die Gegenüberstellung der Erde mit den Kinosälen der Mima hervor­

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Der Geist in der Maschine

gehoben, die in mehreren Gesängen formelhaft als Endreim-Paar »Doris dalar« (Doris’ Täler) und »Mimas salar« (Mimas Säle) auftauchen (Hienger 1969, 273). Andererseits wird die Spiegelmetaphorik auch nach dem Zu­ sammenbruch der Mima aufrechterhalten, als der Mimarob, der anschlie­ ßend die »ansvaret för alla illusioner« (Verantwortung für alle Illusionen) (64) innehat, Versuche unternimmt, weitere – wenn auch weniger wirksa­ me – Illusionen zu erzeugen. Dazu verwandelt er zunächst das Innere des Raumschiffs in eine »spegelvärld« (Spiegelwelt) (61), die durch die zahllo­ sen ein- und ausfallenden Lichtstrahlen die optische Täuschung eines sich ins Unendliche reflektierenden Kaleidoskops ergeben. Später wird die be­ drückende Leere der ewigen Weltraumnacht mithilfe einer holografischen Bildprojektion um das Raumschiff herum ausgeblendet (Gesang 61). Was die Mima abbildet, ist – entgegen ihrer Interpretation als Kontakt­ medium zu der Welt außerhalb des Raumschiffs – also nicht die Wirk­ lichkeit, sondern eine künstliche Welt, eine Simulation. Die Mima kann als Sinnbild für die Revision des Naturbegriffs im Rahmen der Techno­ science gesehen werden, nach der die Abbildung der natürlichen Welt immer schon die Herstellung von Natur selbst darstellt. Die Nachahmung der Wirklichkeit durch die Computertechnologie im Sinne einer Produk­ tion und Beherrschung von Natur ist mustergültig für die wissenschafts­ gesteuerten und technikgestützten Entwicklungen seit der vergangenen Jahrhundertmitte (Weber 2003, 47). Im Epos wird an mehreren Stellen ersichtlich, dass die technische Nachbildung der Natur und des Lebens, in der die Denaturalisierung und Entmaterialisierung der Wirklichkeit als irdisches Paradies anklingt (74), das Dasein auf dem Raumschiff zu einer Scheinwelt macht. Jutta Weber betont, dass die Verwissenschaftlichung und Technisierung der Lebenswelt verantwortlich für die Rekonfigurati­ on vormals gültiger Ordnungskategorien und die Grenzverwischung »zwi­ schen dem Organisch-Natürlichen und dem Maschinell-Artefaktischen« (142) sind. In der Mima taucht einerseits die für die Technoscience kenn­ zeichnende »Systematisierung der Wissensproduktion« (124) auf, die – beruhend auf einem neuen und wandelbaren Naturbegriff – den Compu­ ter als Erklärungsmodell für organische Prozesse und Zusammenhänge präsentiert (230). Andererseits wird an ihr ersichtlich, wie grundlegend die Computertechnologie mit der Militarisierung im Kalten Krieg verbun­ den ist. Die Verschaltung zwischen der Mima und Kernwaffen in Aniara lässt einen konkreten Bezug auf die Konstituierung der Technoscience zu, die ohne die Notwendigkeit militärischer Zwecke während des Wettrüstens 91

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der Nuklearmächte undenkbar ist. Die Entwicklung der Atombombe 1945 gab den Anstoß für die Herausbildung einer Big Science, also ei­ nes gigantischen Netzwerks, das unterschiedliche wissenschaftliche, wirt­ schaftliche und politische Kräfte mobilisiert. Anschließend war die Com­ putertechnologie aufgrund der Echtzeitdatenverarbeitung wesentlich an der Machbarkeit eines nuklearen Weltkriegs beteiligt. Tatsächlich waren die ersten Großrechner wie ENIAC in erster Linie dafür bestimmt, das theoretische Ausmaß der Vernichtung eines nuklearen Holocaust und die Ballistik der Flugrouten von raketengetragenen Kernwaffen zu berechnen. Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg wurde wesentlich geschürt durch die Vorstellung einer ›Auslöschung per Knopfdruck‹ durch computerge­ stützte, selbstständige Systeme, mit denen nun Ziele auf dem gesamten Globus erreicht werden konnten.3 Nicht nur erinnert in Aniara die Über­ tragung des Nuklearkriegs durch die Mima an Computerszenarien, die den Weltuntergang simulieren. Neben ENIAC diente vielleicht auch das Semi-Automatic Ground Environment (SAGE) der USA aus dem Jahr 1952 Martinson als Inspiration. Dabei handelte es sich um das größte jemals gebaute Computersystem, das zur Verteidigung vor Luftangriffen gedacht war und das erstmals eine komplexe Mensch-Computer-Schnitt­ stelle aufwies, um einfacher bedienbar zu sein. Die in Aniara problematisierte Verblendung, die mit der Technisierung der Lebenswelt einhergeht, bildet einen zentralen Aspekt in Martinsons Technikkritik. In dem gleichen Jahr, in dem sein Artikel zu ENIAC er­ scheint, schreibt Martinson an anderer Stelle, dass die technische Verein­ nahmung der Erde dazu führt, dass es bald keinen Bereich mehr gebe, der noch vom Menschen unberührt sei (Martinson 2012). In seinen Au­ gen ist die Menschheit aufgrund der fundamentalen und systematischen Durchdringung des Alltags durch die Fortschrittsimpulse der Quantifi­ zierung, Verselbstständigung und Beschleunigung auf dem besten Weg, in die Irre eines »tekniska trickens tillvaro« (Daseins einer technischen Trickserei) (41) geleitet zu werden. Martinson beschreibt die Verdichtung von Raum und Zeit – eine Formulierung, die später als Metapher für Globalisierungsprozesse popularisiert wird – als die Transformation der

3 Auf diesen Umstand lässt sich der sogenannte ›Sputnik-Schock‹ in der Westlichen Welt zurückführen, der die potenzielle globale Reichweite von Nuklearschlägen 1957, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Aniara, durch den ebenfalls im Zeichen des Wettrüstens stehenden Beginn des Raumfahrtzeitalters demonstrierte, als die Sowjetunion den ersten künstlichen Erdtrabanten gleichen Namens in den Orbit schickte.

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natürlichen Welt in die künstliche Bühne des technowissenschaftlichen Fortschritts. In Aniara ergibt die Abbildung der Erde durch die Mima auf virtuelle Weise eine Parallele zu dem Bild von unserem Planeten, der in Gestalt eines Globus zu einem technisch­artifiziellen Artefakt ob­ jektiviert wird. Diese planetarische Perspektive steht zwar im Hinblick auf einen drohenden Dritten Weltkrieg im Zeichen eines ökologischen Katastrophenbewusstseins. Gleichzeitig befördert sie aber auch die Vor­ stellung einer totalen Beherrschbarkeit durch die Technik. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei es laut Martinson verheerend, sich eine Zukunft auszumalen, in der sämtliche politischen Probleme technische Lösungen haben: Det kan synas underligt att så här mitt i en värld, som till stora delar ligger i ruiner, tala om en framtid som ligger långt bortom de rena nödproblem, som först och främst måste lösas […]. Men dels kommer vi inte att kunna lösa mer än en bråkdel av de nu näraliggande nödproblemen, ty döden kommer fortare än vi att lösa dem i denna dödsvinter, då millioner människor i Europa inte har något annat att se fram emot än undergången, och dels kommer utvecklingen hän mot det helt nya att försiggå i en sådan takt att vi med lavinens fart går in däri, och då fruktar jag att människorna åtminstone i början kommer att vara förblindade av förtjusning och upphäva höga rop om en helig och allmännelig teknisk frälsning, en världsfrälsning genom maskinen och uppfinningarna. (41) (Es mag seltsam erscheinen, dass wir inmitten einer Welt, die größtenteils in Trümmern liegt, über eine Zukunft sprechen, die weit über die reinen Notpro­ bleme hinausgeht, die zuallererst gelöst werden müssen […]. Aber einerseits werden wir nicht mehr als einen Bruchteil der nun unmittelbaren Notprobleme lösen können, denn der Tod wird sie schneller lösen als wir es in diesem Todes­ winter vermögen, in dem Millionen Menschen in Europa nichts anderem entge­ genzusehen haben als dem Untergang. Und andererseits wird die Entwicklung hin zum ganz Neuen in einem derartigen Tempo vor sich gehen, dass wir mit der Geschwindigkeit einer Lawine dort hineingeraten, und dann befürchte ich, dass die Menschen zumindest am Anfang vor Begeisterung geblendet werden und laute Schreie nach einer heiligen und universellen technischen Erlösung ausstoßen, einer Erlösung der Welt durch Maschinen und Erfindungen.)

Für Martinson sind Fortschritt und Zukunft nur vereinbar, wenn der Technik ein »för alla gemensam och universell mening« (für alle gemein­ samer und universeller Sinn) (Martinson 1989, 60) zugeschrieben wird, anstatt sie sich selbst zu überlassen. Die Mima, die sich ihr Gewissen selbst angeeignet hat, macht dagegen deutlich, dass eine ›Beseelung‹ der Technik vonseiten des Menschen versäumt worden ist. Vor allem versinnbildlicht sie in Aniara den blinden Einsatz der Technik und die verhängnisvolle Abhängigkeit der Menschen von ihr. Die Mima-Visionen reflektieren und 93

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verdrängen im gleichen Moment ein Schuldeingeständnis, zu dem die Reisenden nicht mehr fähig sind. In diesem Sinne wird der Zusammen­ bruch der Mima nicht nur repräsentativ für die falsche Hoffnung einer technischen Erlösung, sondern auch zum Sinnbild für den Kontrollverlust über die Technik, der seinen gewaltigsten Ausdruck in der Entfesselung der Kernwaffen findet. Die Mima bringt so die paradoxale Situation der Katastrophenimagination im Kalten Krieg auf den Punkt, deren letzte Konsequenz es ist, dass sich die Menschen die Auswirkungen der Atomund Wasserstoffbombe nicht mehr vorstellen können. Inferno

Obwohl Martinsons Epos in der Forschung unschwer als Warnung vor einem Dritten Weltkrieg gelesen worden ist, bleibt das darin entworfene Szenario eines nuklearen Holocaust im Detail unberücksichtigt. Zwar wird die Ursache für den unwiederbringlichen Verlust der Erde als einzi­ ge Lebensgrundlage in der technischen Hybris gesehen, die zur Selbstver­ nichtung des Menschen führt und das gesamte Leben auf dem Planeten mit sich in den Tod reißt. Ulrike Nolte geht dem Kassandraruf in ihrem Buch Schwedische »Social Fiction«. Die Zukunftsphantasien moderner Klassi­ ker der Literatur von Karin Boye bis Lars Gustafsson am weitesten nach, in dem sie Aniara konkret innerhalb der Katastrophenimagination von Science Fiction im Kalten Krieg verortet (Nolte 2002, 151). Der nuklea­ re Holocaust – Nolte verwendet den Begriff selbst nicht – wird hier in den Zusammenhang mit der Überlebenswahrscheinlichkeit im Weltraum gerückt und so im zweipoligen entstehungsgeschichtlichen Kontext von Aniara zwischen Atomzeitalter und Raumfahrtzeitalter diskutiert. Was bei Nolte und anderen dagegen keine Beachtung findet, sind die genauen Umstände, die zur Vernichtung der Bewohnbarkeit der Erde führen. Das Offensichtliche – das Ausmaß der Zerstörung des Planeten im Nuklear­ bombeninferno, die weitreichenden Auswirkungen auf die Ökologie und die unumgehbare globale Strahlenverseuchung – bleiben unerwähnt. Da­ bei lässt sich aus der Schilderung des Nuklearkriegs ausgesprochen präzise der Prozess der Kernwaffenexplosion und deren fatale Folgen rekonstruie­ ren und der Text damit vom Großteil der Zukunftsszenarien abgrenzen, die zwar die nukleare Bedrohung zum Anlass nehmen, in den ersten Jahren nach 1945 der Wirklichkeit des Weltuntergangs jedoch ausweichen (Brians 1987, 83).

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Im Zentrum der Katastrophendarstellung in Aniara steht zunächst die für die Technoscience paradigmatische Nutzbarmachung der Kernenergie. Der Eingriff des Menschen in die Kernbindungskräfte und die dadurch herbeigeführte Umwandlung von Materie in Energie verwischt die Gren­ zen zwischen Natürlichem und Künstlichem. Auch wenn sich der Mensch mit der Kernspaltung nicht über die Naturgesetze hinwegsetzt, unterwirft er die elementaren Bestandteile der Materie doch seiner Intervention. In seinem bereits erwähnten Zeitschriftenartikel über den Besuch bei Niels Bohr in Kopenhagen im Jahr 1941 verdeutlicht Martinson, dass es nun möglich ist, bis in das Innerste der physikalischen Wirklichkeit vorzudrin­ gen: I det förhållandet att följderna av ett missbruk av atomkrafter i längden inte kan isoleras men drabba hela jorden, följer redan från början likt en skugga som ingen kan fly ifrån, kravet om ett lika världsansvar för alla inför denna nya kraft, eller rättare: den äldsta av alla krafter – universums egen konstitutionella. Ty det oerhörda i atomfysikens bragd är inte, att den är en bragd i tiden, men en bragd över tiden, en inbrytning in den universella konstitutionen själv. Ett universum som hittills har arbetat slutet har blivit öppnat: dess hittills ofattbara konstitutionella insegel brutet. (Martinson 1989, 32–33) (Dem Umstand, dass die Folgen eines Missbrauchs von Atomkräften auf Dauer nicht isoliert werden können, sondern die ganze Erde betreffen, folgt bereits von Anfang an wie ein Schatten, dem sich niemand entziehen kann, die Forde­ rung nach einer entsprechenden Weltverantwortung für alle angesichts dieser neuen Kraft, oder besser gesagt: der ältesten aller Kräfte – der eigenen konstitu­ tionellen des Universums. Denn das Ungeheuerliche an der Errungenschaft der Atomphysik ist nicht, dass sie eine Errungenschaft in der Zeit ist, sondern eine Errungenschaft über die Zeit, ein Eingriff in die universelle Konstitution selbst. Ein Universum, das bisher in sich geschlossen gewirkt hat, ist geöffnet worden: Sein bisher unfassbares konstitutionelles Siegel ist gebrochen.)

Auch Aniara lässt sich als eine Technikfolgenabschätzung über die Entfes­ selung der Kernenergie lesen. Wie schon bei Martinsons Versuch, die astrophysikalischen Phänomene – wie die Beschaffenheit des Weltraums – während der Reise im Epos zugänglich zu machen, werden die kaum mehr zu begreifenden Auswirkungen des Einsatzes der Kernenergie zu Kriegszwecken durch eine poetische Bildsprache sichtbar gemacht. Ein Grund, warum in der Forschung – mit Ausnahme des oben genannten Aufsatzes von Jörg Hienger – nicht hinreichend auf die Herausforderun­ gen eingegangen worden ist, sich den Weltuntergang vorstellen zu kön­ nen, ist vielleicht, dass die endgültige Zerstörung der Erde nicht aus erster

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Hand geschildert wird. Die Besonderheit der Katastrophendarstellung in Aniara besteht immerhin darin, dass die Passagiere auf dem Raumschiff den globalen Nuklearkrieg in seinem totalen Ausmaß selbst nicht erleben, auch wenn sie durch den Habitabilitätsverlust ihres Heimatplaneten di­ rekt Opfer seiner Folgen werden. Nur durch die Visionen der Mima ist es den Reisenden möglich, sich ein ungefähres Bild von der vollständigen Vernichtung der Erde zu machen. Im gleichen Moment verdeutlichen die Übertragungen – wie es am Funktionsversagen der Mima abgelesen werden kann – die Schwierigkeit, sich den Dimensionen der Zerstörung bewusst zu werden und diese in Worte zu fassen. Allem voran die verheerenden Folgen der im Epos als »Fototurben« (Gesang 26) bezeichneten Kernwaffen entziehen sich aufgrund ihrer Un­ geheuerlichkeit und Unheimlichkeit lange Zeit der Vorstellungskraft der Passagiere. Der Begriff Fototurbe, der sich lose mit ›Lichtsturm‹ über­ setzen lässt, spielt auf den Lichtblitz der Nuklearwaffenexplosion einer Atom- beziehungsweise Wasserstoffbombe an, in der eine enorme Strah­ lungsenergie in Form von Photonen frei wird. Der Text setzt den Vorgang der Freiwerdung der unglaublichen Zerstörungskraft bildgewaltig um, als die Mima den Moment der Sprengung von Dorisburg schildert. Dazu gibt sie die Perspektive eines durch die Explosion Taubstummgewordenen und eines allem Anschein nach an der Helligkeit Erblindeten wieder: Den stenstumt döve började att skildra det värsta ljud han hört. Det hördes inte. Jo, just när örats hinnor sprängdes sönder kom som ett sus av sorgsen säv, det sista – när fototurben sprängde Dorisburg. Det hördes inte, slutade den döve. Mitt öra hann ej vara med när själen söndersprängdes, när kroppen sönderslängdes när en kvadratmil stadsmark vrängde sig ut och in då fototurben sprängde den stora stad som hetat Dorisburg. […] Sen började den blinde att berätta om det ohyggligt starka skenet som bländat honom. Han kunde inte skildra det. Han nämnde bara en detalj: han såg med nacken. Hela huvudskålen blev ett öga

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Inferno som bländades utöver sprängningsgränsen lyftes och for bort i blind förtröstan på dödens sömn. Men den blev ingen sömn. (47–48) (Der stockstumme Taube fing an zu schildern den schlimmsten Laut, den er gehört. Er war unhörbar. Ja, gerade als das Trommelfell platzte, kam wie ein Sausen von Trauerschilf, das Letzte – als die Fototurbe Dorisburg sprengte. Er war unhörbar, schloss der Taube. Mein Ohr schaffte es nicht, dabei zu sein, als die Seele gesprengt wurde, als der Körper zerrissen wurde, als eine Quadratmeile Stadtboden drehte sich heraus und hinein, als die Fototurbe sprengte die große Stadt, die Dorisburg hieß.) […] (Dann begann der Blinde zu erzählen von dem entsetzlich starken Schein, der ihn geblendet. Er konnte es nicht schildern. Er erwähnte nur ein Detail: Er sah mit dem Nacken. Die ganze Schädelhöhle wurde ein Auge, das über die Explosionsgrenze hinaus geblendet wurde, hochgehoben wurde und in blindem Vertrauen davonfuhr an einen Todesschlaf. Doch wurde es kein Schlaf.)

Entgegen der Außenperspektive ihrer Zuschauer versucht die Mima der Vernichtung so nahe wie möglich zu kommen. Neben den Schreien beider Explosionsopfer vernimmt sie auch die Schreie, die aus den im Bombeninferno zerberstenden Steinen hervorbricht: »Så ropar de ur ste­ nar med Kassandra« (So rufen sie aus den Steinen mit Kassandra) (48). Die Schilderung der Zerstörung aus der Perspektive des Taubstummen und des Blinden verweist im doppelten Sinne auf die Unvorstellbarkeit der Explosion. Nicht nur sprengen die physikalischen Vorgänge den menschlichen Erfahrungshorizont. Die Beschreibung zeugt auch von der Verdrängung gegenüber dem zur Wirklichkeit gewordenen Weltunter­ gang durch Kernwaffen. Während der Taubstumme auf den paradoxalen Umstand hindeutet, dass der Kassandraruf vor dem nuklearen Holocaust ungehört geblieben ist, macht der Blinde klar, dass die Menschen die Folgen des Nuklearkriegs nicht vorausgesehen haben. Der von Günther Anders geprägte Begriff der Apokalypse-Blindheit (Anders 2018), der die

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Unfähigkeit signalisiert, sich eine globale nukleare Auslöschung vorzustel­ len und einzugestehen, lässt sich wortwörtlich in Aniara auf die gravieren­ de Verblendung der Menschen übertragen. Weil deren Machtgier größer als die damit verbundenen Gefahren sind, führt das Wettrüsten im Epos nicht nur dazu, dass der Entwicklung der Kernwaffen, sondern auch deren schonungslosem Einsatz tatenlos zugesehen wird. Jörg Hienger argumentiert, dass die scheinbar widersprüchlichen Bilder aus der Perspektive des Taubstummen und des Blinden auf die Unabbild­ barkeit der Vernichtung hinweisen und damit ein Ausdruck für Mimas Mimesis-Problem sind (Hienger 1969, 274). Demgegenüber kann die Schilderung aber auch als der Versuch gelesen werden, den gewaltigen kernphysikalischen Vorgängen aus einer materiellen Innenperspektive habhaft zu werden. Nur, indem sich die Mima auf die Ebene der materiel­ len Desintegration begibt, kann die Explosion, die nicht mit den mensch­ lichen Sinnesorganen wahrgenommen werden kann, in eine Bildsprache übersetzt werden. Mehr als nur im übertragenen Sinne basiert die Greif­ barmachung der Zerstörung darauf, dass die Mima den skalaren Heraus­ forderungen der Phänomene aus unmittelbarer Nähe begegnet. Dass der Computer so »samvetsöm / som stenarna« (empfindsam / wie die Steine) (53) wird, ist weniger ein Beweis für das Mitgefühl gegenüber unbelebten Dingen, als vielmehr die Fähigkeit, der Zergliederung auf atomarer Ebene nachzuspüren. Die Aufhebung der Kernbindungskräfte wird schließlich auf den Menschen übertragen, indem die Spaltung des Atomkerns als die Zerspaltung der Seele beschrieben wird. Am Ende bleibt weder von der Stadt Dorisburg noch von der menschlichen Existenz etwas mehr übrig, weil sie allesamt »av fototurben plånats ut till intet« (von der Fototurbe zu Nichts gemacht worden sind) (50). Die Explosionsdarstellung kann deswegen als das Bestreben interpretiert werden, die totale Abstraktion der Vorstellung des Nichtseins (Anders 2003, 96) zu reflektieren. Die in Aniara aufgegriffenen Herausforderungen für die Darstellung des nuklearen Holocaust beruhen auf der Kernphysik der Fototurbe. Das Einbrennen des unbeschreiblich hellen Lichtblitzes der Explosion in die Netzhaut des Blinden entspricht der Tatsache, dass die Strahlung aus ausreichender Nähe selbst bei geschlossenen Augen wahrgenommen wird. Die eindringliche Stelle, in der sich die Hirnschale des Beobachters in ein Sehorgan verwandelt, erinnert stark an die echten Augenzeugenberichte einer Kernwaffenexplosion. Schon die an der Entwicklung der Kernwaffen beteiligten Wissenschaftler, die die Bombe bis zum Trinity-Test nur als theoretisches Konstrukt kannten, waren von der Erscheinung überwältigt. 98

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Sie zogen den Vergleich der Leuchtkraft der Explosion mit einem künst­ lichen Sonnenaufgang auf der Erde und sahen in dem überirdisch anmu­ tenden Anblick eine nukleare Sublimität, die die Vorstellung von der Bombe zwischen einem zweiten Schöpfungsakt und dem jüngsten Tag beförderte. Unter den am Manhattan-Projekt beteiligten Wissenschaftlern, die beim Trinity-Test anwesend waren, findet sich unter anderem folgende eindrucksvolle Beschreibung: Suddenly, there was an enormous flash of light, the brightest light I have ever seen or that I think anyone has ever seen. It blasted; it pounced; it bored its way right through you. It was a vision which was seen with more than the eye. It was seen to last forever. You would wish it would stop; altogether it lasted about two seconds. Finally it was over, diminishing, and we looked toward the place where the bomb had been; there was an enormous ball of fire which grew and grew and it rolled as it grew; it went up into the air, in yellow flashes and into scarlet and green. It looked menacing. It seemed to come toward one. A new thing had just been born; a new control; a new understanding of man, which man had acquired over nature. (Rhodes 1986, 672)

Die Nutzbarmachung der Kernenergie wird zum Sinnbild für den Grad des Eingriffs des Menschen in die natürlichen physikalischen Gesetzmä­ ßigkeiten. Während bereits aus Sicht der Technoscience die künstliche Energieumwandlung die Grenzen zwischen Artefakt und Naturkraft un­ scharf macht, haftet der Kernwaffenexplosion außerdem etwas Unheimli­ ches und Überirdisches an, das sie – in Timothy Mortons Terminologie – zu einem Hyperobjekt werden lässt (Morton 2013). Die Explosion zeich­ net sich danach vor allem durch ihre Nichtlokalisierbarkeit aus, weil bei der Kernspaltung beziehungsweise Kernverschmelzung auf mehreren Ebe­ nen gängige Raum- und Zeitdimensionen unterlaufen werden. Morton argumentiert, dass die Ungreifbarkeit der Umwandlung von Materie in Energie der Tatsache geschuldet ist, dass man sich zum Ausmaß der Explo­ sion nicht wirklich positionieren kann, weil man entweder zu nah oder zu weit weg ist. Um die Ambivalenz zu beschreiben, bezieht er sich auf die verhältnismäßig gut dokumentierten Augenzeugenberichte des Atom­ bombenabwurfs auf Hiroshima: Each witness gives a unique account of the bomb. No single witness experiences the entire bomb. No witness was too close to the bomb: otherwise they would have been evaporated, or quickly incinerated, or blown to pieces. There is a core of human silence around which the witnesses give their testimony. Each testimony is a local manifestation […] of the bomb. Some witnesses assume that they are very close to a powerful conventional bomb, when they are relatively far away from the first nuclear bomb. Each story is told in a narrative present

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3 Nuklearer Holocaust that is necessarily different from the moment at which the bomb hit. The constraints of human physicality and memory displace the bomb. It becomes distant and close at the same time and for the same reasons. Possibly the most uncanny aspect of the bomb is the energy flash that the witnesses experienced as a silent, sudden bathing of everything in light so intense that they couldn’t quite see. Light ceases to be a neutral, transparent medium in which everything is illuminated, and becomes a potent force. (49)

Dass die Bombe sämtliche Vergleiche obsolet macht und – wenn über­ haupt – nur noch indirekt beschrieben werden kann, wird auch in Ania­ ra durch die Problematisierung der Distanz zum Geschehen verhandelt. Nicht nur die Passagiere an Bord des Raumschiffs befinden sich zu weit entfernt, um sich ein Bild von der Auswirkung der Kernwaffenexplosion machen zu können. Auch diejenigen unter ihnen, die in der Vergangen­ heit eine Detonation aus sicherer Entfernung selbst miterlebt haben, sind nicht in der Lage, den Vorgang richtig einzuordnen. Am augenschein­ lichsten wird dies anhand der Beschreibung einer Blinden, in der das Motiv der Apokalypse-Blindheit noch einmal buchstäblich auftritt. Als diese die Vernichtung für ihre Mitreisenden rekapituliert, beschreibt sie die Bombenexplosion als einen umgekehrten Wechsel der Jahreszeiten im Zeitraffer, in dem auf die Eiseskälte des Winters plötzlich die »frukt­ ansvärda svarta hettan« (fürchterliche schwarze Hitze) (93) des Sommers folgt. Im Gegensatz zur Blinden können der weiter oben erwähnte Blinde und die Mima keine Distanz zu dem Abgebildeten einnehmen, sondern erfahren die Explosion beide am eigenen Leib. In dem Augenblick, in dem die Mima die Vernichtung von Dorisburg im Lichtblitz schildert, blitzen auch ihre Bildschirme ein letztes Mal auf, sodass sich eine Parallele zwischen der gleißend hellen Zersprengung und dem Zusammenbruch des »av ett blixtblått sken« (von einem blitzblauen Schein) (49) geblende­ ten Computers ergibt. In Martinsons Augen sind vor allem die am Wettrüsten während des Kalten Kriegs maßgeblich beteiligten Wissenschaftler blind gegenüber ihrer Verantwortung, wenn sie ihre Arbeit in den Dienst eines militäri­ schen Kalküls stellen. Für ihn lassen sich die Durchbrüche in der Kern­ technik angesichts der realen Möglichkeit des Weltuntergangs nicht mehr vom reinen Wissenserwerb trennen (Martinson 2012, 62). Martinson schreibt, dass der Eingriff in die Kernbindungskräfte von einer Wissens­ gier bis in den Tod angetrieben ist (36), die am Ende auch die eigene Auslöschung in Kauf nimmt. Entgegen den Wissenschaftlern des Manhat­ tan-Projekts, die die von ihnen geschaffenen Vernichtungswerkzeuge als

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die Erhabenheit des Menschen über die Naturkräfte auslegten, wird die Bombe in Aniara zum Inbegriff der Selbstvernichtung des Menschen. Im Epos führt die für die Technoscience grundlegende Verflochtenheit von Wissenschaft und Technik zu dem von Günther Anders prognostizierten prometheischen Gefälle (Anders 2018, 307) als die Diskrepanz zwischen der Herstellbarkeit von Kernwaffen und der Unvorstellbarkeit ihrer Kon­ sequenzen. Die Pervertierung des Wissens um die Kräfte der Kernphysik besteht darin, dass der Einblick in die innersten Geheimnisse der Physik die nukleare Bedrohung Wirklichkeit werden lässt. In Aniara gelangen die Menschen durch die Herstellung der als unglücksverheißender »Vishetens sten« (Stein der Weisen) (127) bezeichneten Bombe – in dem auf die kern­ prozessuale Umwandlung von Materie in Energie angespielt wird – deswe­ gen nicht zur Unsterblichkeit, sondern entfachen durch ihren Einsatz die unumkehrbare und vollständige Vernichtung der Erde im Weltenbrand. Die Macht, die der Mensch mit der Kernenergie in den Händen hält, führt unweigerlich zu einer Gradwanderung zwischen Leben und Tod. In Aniara gelangen die Passagiere erst zu dieser Einsicht, als es bereits zu spät ist und keiner der Verantwortlichen mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann (Gesang 67). Die Vorstellung des Weltuntergangs durch die nukleare Bedrohung, die durch den Trinity-Test und die Atombombenab­ würfe auf Japan zumindest eine grobe Kontur erhält und im Kalten Krieg weiter Gestalt annimmt, wird im Epos zu einer unumgehbaren Tatsache. In Martinsons Zukunftsszenario gehört die scheinbar immerwährende mi­ litärische Auseinandersetzung – in Gesang 15 ist vom Zweiunddreißigsten Weltkrieg die Rede – zum traurigen Alltag. Der globale Nuklearkrieg wird im Text zwischen den beiden Staaten Gond und Rind ausgetragen, die sich bis zur völligen Auslöschung erbarmungslos bekämpfen und als die Eskalation des Ost­West­Konflikts verstanden werden können. Auf die Bombenexplosionen folgen gewaltige Feuerstürme, durch die ganze Land­ striche in Flammen aufgehen. Unter den Opfern des Kernwaffeninfernos befindet sich auch die in Aniara mehrmals beklagte Stadt Xinombra, die Martinson als Sinnbild für die Vernichtung Hiroshimas und Nagasakis erklärt hat (Martinson 1989, 79) und von der es heißt, sie sei vom »urtids­ lågan« (Urzeitfeuer) (77) verschlungen worden. Vor der Feuersbrunst, die über die Erde hinwegfegt, gibt es kein Entkommen: Allt som kunde brinna blev aska. Och stenarna glaserades intill ett djup av fyra tum. I vissa trakter gick det djupare:

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3 Nuklearer Holocaust en smältfot eller mera av granitens yta kokade. Men det slapp folk att se. De hade virvlat före, runt och runt som lyftad aska. […] Allt gick för hastigt för att riktigt hända. Tänk er en klocka på ett nattduksbord som ställd att mäta tiden i sekunder blir överrumplad av sin egen smältning och kokar upp och virvlar bort som gas allt på en milliondel av sekunden. (132–133) (Alles, was brennen konnte, wurde Asche. Und die Steine wurden glasiert, bis zu einer Tiefe von vier Zoll hinein. In manchen Gegenden ging es tiefer: Ein Schmelzfuß oder mehr der Granitoberfläche kochte. Aber das brauchten die Leute nicht anzusehen. Sie waren vorausgewirbelt, ringsherum, wie hochgewirbelte Asche. […] Alles ging zu schnell, als dass es richtig geschehen konnte. Stellt euch eine Uhr auf dem Nachttisch vor, die eingestellt, die Zeit in Sekunden zu messen, überrumpelt wird von ihrem eigenen Zerschmelzen, und verkocht und davonwirbelt als Gas, alles in einem Millionstel der Sekunde.)

Auch an dieser Stelle begibt sich die Mima, um die Distanz zur Zerstö­ rung überwinden zu können, mitten in den Feuerball hinein. Die un­ glaubliche Hitze, die so enorm ist, dass sogar Gestein schmilzt, ist auf die bei den Kernprozessen freiwerdende elektromagnetische Strahlung – genauer gesagt thermische Röntgenstrahlung – zurückzuführen, durch die Temperaturen von über 100 Millionen Grad erzeugt werden.4 Die ledig­ lich Sekundenbruchteile dauernde Veränderung der Aggregatszustände reicht bis in die atomare Ebene hinein, sodass Mensch und Materie in

4 Johan Stenström weist an dieser Stelle auf den konkreten Bezug zum Inferno von Hiroshima hin. Laut einer eigenhändigen Notiz von Martinson im Manuskript zu Ani­ ara bezieht sich die Darstellung auf die realen Explosionsopfer der japanischen Stadt, deren Überbleibsel lediglich als Röntgenschatten in das Gestein eingebrannt wurden (Stenström 2006, 66).

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Nuklearer Winter

einer unheimlichen Metamorphose vergasen und verschmelzen. Die Un­ vorstellbarkeit und Undarstellbarkeit der Intensität der Umwandlung von Materie in Energie werden hier vor allem in Bezug auf die Zeitlichkeit ausgedrückt, in dem sich ein Kontrast auftut zwischen dem kurzen, blitz­ artigen Moment der Zerstörung und der Zeitdehnung, durch den dieser Augenblick erzählbar gemacht wird. Dieselbe Funktion hat auch die letz­ te Übertragung der Mima, die anhand eines als »Den söndersprängde« (Der Zersprengte) (54) bezeichneten Todesopfers den Moment der kaum wahrnehmbaren Dauer der Annihilation beschreibt. Mit der Verbindung der Mima und der Darstellung des nuklearen Holocaust wird noch ein­ mal deutlich, dass der Computer vor allem die Flüchtigkeit und Vergäng­ lichkeit demonstriert, die in den Übertragungen insgesamt präsent sind. Nicht das unsterbliche Wissen um die ewigen Dinge, sondern die Gewiss­ heit von der endgültigen Auslöschung wird dadurch offenbart. Nuklearer Winter

In Aniara wird der nukleare Holocaust zum Sinnbild für die irreversi­ ble Vernichtung des Lebens auf der Erde. Neben der Zerstörung der Erdoberfläche im Kernwaffeninferno wird im Epos auch der anschließen­ de flächendeckende und tiefgreifende ökologische Kollaps geschildert. Martinson hat den Einsatz der Kernwaffen als paradigmatisch für den destruktiven anthropogenen Einfluss in einem planetarischen Maßstab ausgewiesen: Fototurben som spränger Dorisburg är symbol inte bara för atombomben utan för människans tendens att förstöra jorden på alla sätt, genom sina föroreningar, genom kemikalieförstöring, kalhyggen, utrotning av växter och djurarter, allt som rubbar den naturliga balansen och världsvälståndet. Mot allt detta vill Ania­ ra vara en Kassandra-varning. Men som Kassandra vet jag att jag varnar förgäves. Människorna lyssnar kanske till Kassandra för en tid, men sen glömmer de hennes varning. (Martinson 1989, 81). (Die Fototurbe, die Dorisburg sprengt, ist nicht nur ein Symbol für die Atom­ bombe, sondern für Neigung des Menschen, die Erde in jeder Hinsicht zu zerstören, durch dessen Verschmutzung, durch Chemikalienzerstörung, Kahl­ schlag, das Ausrotten von Pflanzen und Tierarten, alles, was das natürliche Gleichgewicht und den weltweiten Wohlstand erschüttert. Vor all dem will Aniara eine Kassandrawarnung sein. Aber wie Kassandra weiß ich, dass ich vergeblich warne. Die Menschen hören Kassandra vielleicht für eine Weile zu, aber dann vergessen sie deren Warnung.)

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3 Nuklearer Holocaust

Die indirekten Folgen des nuklearen Holocaust bestehen in Aniara in erster Linie aus globalen klimatischen Veränderungen, die sich im Rah­ men des untrennbar mit der Katastrophenimagination des Kalten Kriegs verbundenen Szenarios eines ›nuklearen Winters‹ deuten lassen. Während die immer stärkeren Explosionen bei Bombentests während des Wettrüs­ tens einen Eindruck des Ausmaßes der Sprengkraft vermittelten, waren weitere damit einhergehende Konsequenzen nicht sofort sichtbar. Erst im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde es mit dem Aufkom­ men der Computertechnologie möglich, die komplexen Ereignisse einer Nuklearexplosion und deren Auswirkungen auf das Klima zu simulieren. Bald stellte sich heraus, dass die globalen klimatischen Auswirkungen eines flächendeckenden Einsatzes von Kernwaffen weitaus schlimmer sind als die Zerstörungskraft der Explosionen selbst. Denn auf lange Sicht sind vor allem die Begleiterscheinung gefährlich für die Bewohnbarkeit der Erde, wenn diese sich in Form eines nuklearen Winters entfalten. Das Szenario eines nuklearen Winters beruht darauf, dass durch Kernwaf­ fenexplosionen enorme Mengen von Staub, Ruß, Rauch und Asche in die Atmosphäre gelangen und sich dort lange halten, sodass sie Sonnen­ einstrahlung teilweise absorbiert und reflektiert wird. Die Folge ist ein Temperaturabfall auf der Erdoberfläche, der gravierend die natürlichen Kreisläufe des Erdsystems beeinflusst und über mehrere Jahre zu Ernteaus­ fällen führt (Robock 2010, 422).5 Aus heutiger Sicht wurde die Gefahr eines nuklearen Winters im Verlauf des Kalten Kriegs unterschätzt. Obwohl der Begriff des nuklearen Winters erst Anfang der 1980er-Jahre popularisiert wurde, wird bereits im Rahmen der Tests von thermonuklea­ ren Wasserstoffbomben ab dem Anfang der 1950er-Jahre die Sorge über den Einfluss der Kernwaffenexplosionen auf das globale Klima geäußert. Die extreme Sprengkraft, die nicht mehr mit konventionellen Bomben verglichen werden kann, zeugt zwar von der gewaltigen Macht durch die Technik. Eine Vorahnung von der planetarischen Kraft des Menschen vermitteln aber erst die hypothetischen Hochrechnungen eines anthropo­ genen Klimawandels durch Computermodelle. Die technowissenschaftli­ che Verschmelzung von Militär und Klimatologie liefert die Grundlage

5 Als historische Ereignisse für plötzliche und verheerende klimatische Folgen einer atmo­ sphärischen Veränderung sind beispielsweise die Vulkaneruption auf dem Krakatau-Ar­ chipel 1883 und der Asteroideneinschlag auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán vor circa 66 Millionen Jahren, der als Ursache für das Aussterben der Dinosaurier verant­ wortlich gemacht wird, zu nennen (Robock 2010, 423).

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Nuklearer Winter

für eine systemische Beschreibung der Erde sowie der Rolle von mensch­ lichen Aktivitäten und macht das Szenario eines nuklearen Winters zu einem unmittelbaren Vorläufer für das Konzept des Anthropozäns (Rind­ zevičiūtė 2016, 153). Entsprechend sind es in Martinsons Epos die Lang­ zeitfolgen, die den zunächst noch Überlebenden des Nuklearkriegs auf der Erde zum Verhängnis werden. Der Verlust der Habitabilität des Pla­ neten ergibt sich aus den Nachwirkungen der Kernwaffenexplosionen, die in erster Linie in der dabei aufgewirbelten Asche bestehen, die Land und Wasser unter sich begräbt. Jahrelang legt sie sich schneegleich auf die Planetenoberfläche, sodass Böden und Meere vergiftet werden und Flora und Fauna umkommen. Die Beschreibung der sich in den Himmel erhebenden »pelare av aska« (Aschepfeiler) (126) erinnert dabei auch an das bedrohliche Bild der Pilzwolke nach einer Kernwaffenexplosion. Mit der Inszenierung des nuklearen Winters greift Martinson »das an­ schaulichste und wirkmächtigste Bild eines neuartigen Katastrophenwis­ sens« (Horn 2014, 156) im Anthropozän auf. 1956 hielten Wissenschaftler sogar eine neue Eiszeit als maximale Ausprägung des nuklearen Winters für möglich (Dörris 2011, 203). Auch wenn das Szenario in dieser Extrem­ form bald darauf verworfen wurde, zeugt es doch von einem Bewusstsein für das Ausmaß einer menschengemachten Klimakatastrophe. Für die Vorstellung, dass ein nuklearer Holocaust zu einer neuen Eiszeit führen könnte, finden sich in Aniara konkrete Anhaltspunkte, als in einem Rück­ blick auf die Vergangenheit der Dauerzustand des globalen Kriegs plötz­ lich durch die Ankunft eines kosmischen Nebels unterbrochen wird. In Anspielung auf die erneuten militärischen Auseinandersetzungen nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs wird von einer plötzlichen Verglet­ scherung im 23. Jahrhundert berichtet: Köldnebulosan Golmos mötte solen och solen började en genomgång av Golmos natt vars skuggspel svårt betryckte vår värld med istidsvindars hårda sång. Kalotten bredde ut sig över jorden cirkumpolärt. Allt större länders ytor av kilometertjocka isar täcktes. Det dalade ej bara arktisk snö – ett djupt förstelnat kretslopps hexagoner – men också kosmisk snö ur nebulosan som sammanförde vintrar till eoner. (119)

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3 Nuklearer Holocaust (Der Kältenebel Golmos traf die Sonne, und die Sonne begann eine Durchquerung von Golmos’ Nacht, dessen Schattenspiel schwer bedrückte unsere Welt mit dem harschen Gesang der Eiszeitwinde. Die Kalotte breitete sich über die Erde aus, zirkumpolar. Die Oberflächen der größten Länder wurden von kilometertiefem Eis bedeckt. Es fiel nicht nur arktischer Schnee – ein tief erstarrter Kreislauf aus Hexagonen –, sondern auch kosmischer Schnee aus dem Nebel, der Winter zu Äonen zusammenfügte.)

Infolge der Sonnenverdunkelung und des massiven Schneefalls wird die Erde von Eisschilden überzogen, sodass die Menschheit an den Rand der Vernichtung gebracht wird. Es kommt zu einer sechzehntausendjährigen Eiszeit, bevor der Nebel weiterzieht und der Frühling vorerst zurückkehrt. Mehr als nur eine Metapher für die Lähmung während des Kalten Kriegs symbolisiert die eiszeitliche Erstarrung die gewaltigen Folgen, die für das gesamte Leben auf der Erde auf dem Spiel stehen. Der wiederentfachte Krieg, dessen Zeugen die Passagiere im Epos werden, unterscheidet sich allerdings gravierend von dem vorhergegangenen. Denn es handelt sich dabei um den letzten Krieg überhaupt. Um dies zu unterstreichen, wird das Szenario des nuklearen Winters im Text mit Metaphern der Jahres­ zeiten und des dazugehörigen Lebenskreislaufs der Natur beschrieben. Mit dem nuklearen Holocaust findet im Epos nicht nur die menschliche Zivilisation ihr Ende, sondern auch die Fähigkeit der Erde, Leben zu ermöglichen: »Det var den sista vår naturen levde« (Es war der letzte Frühling, in dem die Natur lebte) (77). Der Winter, den die Menschheit nun herbeigeführt hat und der selbst den unglaublich langen natürlichen Zyklus der Eiszeiten übertrifft, beendet die Jahreszeiten. Die Vorstellung einer in Dunkelheit und Kälte eines ewigen Winters gehüllten Erde, auf der der Sommer für immer vergangen ist, wird durch das inmitten des kalten und sterilen Weltraums erlöschende Leben auf dem Raumschiff widergespiegelt. Die Endgültigkeit der Zerstörung der Bewohnbarkeit der Erde beruht darauf, dass ihre Voraussetzungen als Lebensgrundlage zunichte gemacht werden. Die Unterbrechung des Kreislaufs des Lebens auf der Erde wird im Epos einerseits dadurch vermittelt, dass der Prozess der Photosynthese durch die Verdunkelung außer Kraft gesetzt wird. In der Darstellung des ökologischen Kollapses der Ozeane findet sich in dieser Hinsicht noch

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Nuklearer Winter

einmal ein konkreter Bezug zu der in die Atmosphäre beförderten Asche, die sich »som vattenblomning / av död på haven« (wie eine Wasserblüte / des Todes auf den Meeresspiegel) (126) legt. In der metaphorischen Erwei­ terung der Photosynthese zu einem natürlichen Kreislauf des organischen Lebens wird klar, dass kein Leben mehr aus dem Toten hervorgehen kann (Gesang 86). Dass ein Neuanfang – in Gestalt eines neuen Frühlings – ausgeschlossen ist, wird andererseits durch die Auflösung der ebenfalls metaphorisch aufgeladenen Vorstellung von der Reinkarnation beschrie­ ben (Gesang 72). An mehreren Stellen im Epos wird die Seelenwanderung besungen, in der sich die Hoffnung auf eine Wiedergeburt mit dem Wunsch nach der Rückkehr zur Erde verbindet, und die nur noch in den Erinnerungen der Passagiere existiert (Wrede 1965, 261). Auf diese Weise wird der Nuklearkrieg in Aniara zum Mahnmal dafür, in welcher kurzen Zeit die Menschen den scheinbar immerwährenden Kreislauf der Schöpfung aus Werden und Vergehen – und damit das Lebenserhaltungs­ system der Erde – aufgehoben haben. Die Latenz der Langzeitfolgen eines nuklearen Holocaust wird in Ania­ ra darüber hinaus durch die Strahlenverseuchung vermittelt. Die weitaus unscheinbareren Konsequenzen des radioaktiven Fallouts, der durch die bei den Kernprozessen freiwerdende ionisierende Strahlung entsteht, stellt in der absehbaren Zukunft ein Todesurteil für die Bewohner der Erde dar. Diese unweigerlich mit einer Kernwaffenexplosion einhergehende Strahlung ist von Anfang an in Aniara präsent. Schon in Gesang 1 ist die Rede davon, dass die Erde »för strålförgiftnings skull« (aufgrund der Strahlenvergiftung) (5) auf unbestimmte Zeit in einen Winterschlaf ge­ schickt wird. Der Lagebericht in der Ausgangssituation wirkt wie eine Verharmlosung, weil daraus nicht der unwiderrufliche Verlust des Hei­ matplaneten hervorgeht, der durch die unfruchtbar machende Strahlenbe­ lastung lebensfeindlich geworden ist. Erst an späterer Stelle beginnt das Ausmaß der »strålningskatastrofer« (Strahlenkatastrophen) (30) ersichtlich zu werden, als auf die gefährliche hochenergetische Gammastrahlung Be­ zug genommen und die Erde als »gammagiftig dal« (gammagiftiges Tal) (80) beschrieben wird. Mehr als noch bei den klimatischen Veränderun­ gen wird anhand des radioaktiven Zerfalls die unglaubliche Zeitspanne deutlich, die die Katastrophe nach sich zieht. Die enorme Halbwertszeit, die verstreichen muss, bis Radionuklide ihre schädliche Wirkung verlie­ ren, macht jegliche Hoffnung auf eine Rückkehr zur Erde zunichte. Der Mensch hat das irdische Paradies in Schutt und Asche gelegt:

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3 Nuklearer Holocaust Vi kom från Jorden, Doris land, klenoden i vårt solsystem, det enda klot där Livet fått ett land av mjölk och honung. Beskriv de landskap som där fanns, de dagar som där grydde. Beskriv den människa som i glans sitt släktes likdräkt sydde tills Gud och Satan hand i hand i ett förstört, förgiftat land kring berg och backar flydde för människan: askans konung. (155) (Wir kamen von der Erde, Doris’ Land, das Kleinod in unserem Sonnensystem, der einzige Planet, auf dem es Leben gab, ein Land von Milch und Honig. Beschreib die Landschaft, die es dort gab, die Tage, die dort anbrachen. Beschreib den Menschen, der im Glanz das Leichentuch seines Geschlechts webte, bis Gott und Satan Hand in Hand in einem zerstörten, vergifteten Land über Berge und Hügel flohen vor dem Menschen: Aschenkönig.)

In der Diskussion um das Konzept des Anthropozäns wird zu Recht davor gewarnt, den Übergang in die neue erdgeschichtliche Epoche nicht vor­ schnell als säkularen Sündenfall zu deuten, weil dadurch das Trugbild von einem früheren Zustand permanenter Stabilität des Erdsystems suggeriert wird (Davies 2016, 7). In Aniara wird zwar durchaus die Vorstellung von einer paradiesischen Erde evoziert, die durch die menschliche Vermessen­ heit bedroht wird. Statt der Aufhebung eines scheinbar ewigen Naturzu­ stands wird jedoch der Verlust der Einzigartigkeit der Erde im Universum beklagt. Aus der Katastrophenschilderung des Epos geht hervor, dass der Mensch zu einer planetarischen Kraft geworden und gleichzeitig aber von der lebensspendenden und lebenserhaltenden Fähigkeit der Erde abhän­ gig ist. Die Inszenierung des nuklearen Holocaust, mit dem zum ersten Mal die Möglichkeit besteht, dass der Mensch sich selbst mitsamt dem restlichen Leben auslöscht, wird so zu einem vorausschauenden Blick in die Katastrophenzukunft des Anthropozäns. Entsprechend dem Datie­ rungsvorschlag, den Beginn des Anthropozäns auf die Kernwaffentests in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu legen, geht es in Aniara vor allem um die Symbolwirkung, dass die Menschheit zu einer Naturgewalt ange­ 108

Nuklearer Winter

wachsen ist. Im Epos wird die Bewusstwerdung über die historische Irre­ versibilität des Aufstiegs der Spezies Homo sapiens durch das unauslöschli­ che Wissen um die Nutzbarmachung der Kernenergie unterstrichen, das trotz der nuklearen Abrüstungsbemühungen seit der Veröffentlichung des Texts bis heute weiter besteht.

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4 Die Einzigartigkeit der Erde

Eine Reise durch den Kosmos

Einen weitaus größeren Teil als der Untergang der Erde im nuklearen Ho­ locaust nimmt in Aniara die Darstellung der Reise durch den Weltraum ein. Die dabei aufgerufenen Bilder über die kosmische Beschaffenheit fernab des Sonnensystems zählen zu den eindrucksvollsten Passagen im Epos. Hierzu stützt sich Martinson ein weiteres Mal auf die seit dem Be­ ginn des 20. Jahrhunderts gewonnenen naturwissenschaftlichen Erkennt­ nisse über die natürliche Welt. Im Gegensatz zu der auf der Kernphysik beruhenden Auseinandersetzung mit der nuklearen Bedrohung orientiert sich die Darstellung des Weltraums an der Astrophysik, die das moder­ ne naturwissenschaftliche Weltbild nicht minder stark erschüttert hat. Wie der neu erschlossene Mikrokosmos der Atome verlangt auch der Ma­ krokosmos des Weltraums ein Hantieren mit neuen Größenordnungen jenseits des menschlichen Erfahrungshorizonts. Auch die Astrophysik er­ öffnet einen Blick in eine Welt, die immer unsichtbarer und unbestimm­ barer wird, je weiter der Mensch in sie vordringt. Dass Mikrokosmos und Makrokosmos in Martinsons Vorstellungswelt zusammenhängen, lässt sich seinem Zeitschriftenartikel zum Besuch von Niels Bohr in Kopenha­ gen aus dem Jahr 1941 entnehmen. Die darin beschriebene Versuchsan­ ordnung zur Sichtbarmachung von ionisierender Strahlung evoziert für Martinson die Vorstellung von den Lichtstreifen von Sternschnuppen, so­ dass auch er eine in der Physik beliebte Parallele zwischen der Atomhülle und dem Sternenhimmel zieht (Martinson 1989, 32). Auch in Aniara bilden Mikrokosmos und Makrokosmos keine Gegen­ sätze, sondern bedingen einander. Die Auseinandersetzung mit der Her­ unterskalierung auf eine atomare und subatomare Ebene einerseits und der Hochskalierung auf eine superplanetarische und interstellare Ebene andererseits teilen eine gemeinsame Bildsprache im Epos. Bereits die auf das Jahr 1938 datierende Genese des Begriffs Aniara verdeutlicht, wie eng die Vorstellungswelt des Epos mit Martinsons Auseinandersetzung mit den bahnbrechenden physikalischen Entdeckungen zum Aufbau von Atomen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verknüpft ist. Martinson eignete sich das Wissen um die Physik unter anderem durch die Publika­ tionen von Arthur Eddington an, der entschieden zur Popularisierung na­ turwissenschaftlicher Erkenntnisse beitrug (Martinson 1989, 17). Edding­ 111

4 Die Einzigartigkeit der Erde

tons Versuch, die atom- und astrophysikalische Beschaffenheit von Raum und Zeit verständlich zu machen, lässt sich direkt auf Martinsons lebens­ lange Beschäftigung mit der naturwissenschaftlichen Durchdringung der natürlichen Welt übertragen. Inspiriert von Eddingtons Lektüre schreibt Martinson, er habe Aniara gewählt »som namn för den rymd atomerna rör sig i. Så småningom blev det världsrummet och samlingsbegrepp för hela vår moderna världsbild« (als Namen für den Raum, in dem sich die Atome bewegen. Schließlich wurde er zum Weltraum und Sammel­ begriff für unser gesamtes modernes Weltbild) (78). Die Faszination für die Physik und der Wunsch, diese dichterisch zu erschließen, legen den Grundstein für Martinsons Gedankengebäude. Martinsons Wahl eines poetischen Ausdrucks, zuerst für atom- und dann für astrophysikalische Zusammenhänge, ist kein Zufall. Eddington selbst hatte in seinem Buch The Nature of the Physical World auf die Not­ wendigkeit neuer Begrifflichkeiten für die bisher ungekannten Welten hingewiesen, die die Naturwissenschaften im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eröffneten (Eddington 1948). Angesichts der schwer vor­ stellbaren Naturphänomene und ihrer Gesetzmäßigkeiten, für die es keine vertrauten Referenzen gab, behalf sich Eddington mit einer poetischen Umschreibung, um die Bewegung der Elektronen in der Atomhülle veran­ schaulichen zu können (146).1 In gleicher Weise adaptiert Martinson mit dem erdichteten Begriff Aniara »den moderna astrofysikens formelspråk« (die moderne Formelsprache der Astrophysik) (Martinson 1989, 17), um der Beschaffenheit physikalischer Phänomene abseits der menschlichen Erfahrungswelt eine bildliche Gestalt zu verleihen. Tord Hall hat nach­ gezeichnet, dass Martinson in zahlreichen Gedichten den Versuch der Modellierung des Mikrokosmos unternommen hat, indem er sich auf eine Gedankenreise in die Atomhülle hineinbegibt (Hall 1981, 97). Unter anderem wird eine Beobachterperspektive, die auf den kleinstmöglichen Raum zusammenschrumpft, in dem unveröffentlichten zusätzlichen Ma­ terial zu Aniara eingenommen, das Martinson Hall überließ und das die­ ser in einer Auswahl aus thematisch zueinander passenden Gedichten und Essayfragmenten unter dem Namen Doriderna (Die Nachfahren von Doris) herausgab (Martinson 1980). Wenn auch nicht als Fortsetzung von Aniara im strengen Sinne zu verstehen, so handelt es sich bei Doriderna zumindest um eine bruchstück­ 1 Eddington bediente sich dazu des Nonsens-Gedichts »Jabberwocky« aus Lewis Carolls Roman Through the Looking Glass.

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Eine Reise durch den Kosmos

hafte Komplementierung des Universums des Epos. Obwohl sich von den laut Martinson angeblich bereits 1959 existierenden 80 Gesängen sowie 50 weiteren geplanten in Halls Auswahl nur ein geringer Bruchteil wiederfin­ det, werden darin die physikalisch-philosophischen Überlegungen, die in Aniara bereits angelegt sind, erneut aufgegriffen. Dass es nie zu einer Voll­ endung von Doriderna kam, liegt daran, dass Martinson – wie Hall zitiert – im Laufe der langen Beschäftigung schließlich gänzlich ›aus Aniara ausgestiegen‹ sei (Martinson 1980, 6). Nichtsdestotrotz führt Doriderna die Annäherung an das naturwissenschaftliche Weltbild auf dem Umweg der Dichtkunst fort. In Hinblick auf Martinsons poetologische Vorstellungen liest man darin unter anderem: När man diktar om kosmos får man inte dikta hållningslöst. Man måste hålla sig så nära man kan till vad vetenskapen funnit och naturlagarna kan tänkas tillåta. Först därifrån bör man ha licens att sväva ut i sökande spekulation. Även då bör man emellertid vara skyldig sig själv och logiken att i det längsta undvika paradoxer. Lika viktigt är att man ser upp för tautologier. Allt detta tillsamman­ taget och till sina delar uppfattat och tillämpat, bör vara den kosmiska diktens verslära och prosodi. (73) (Wenn man über den Kosmos dichtet, darf man nicht haltlos dichten. Man muss sich so nah wie möglich daran halten, was die Wissenschaft herausgefun­ den hat und die Naturgesetze zu denken erlauben. Nur von dort aus sollte man die Erlaubnis erhalten, sich in die suchende Spekulation zu begeben. Aber auch dann sollte man sich selbst und der Logik schuldig bleiben, um Paradoxien bis zuletzt auszuweichen. Ebenso wichtig ist es, auf Tautologien zu achten. All dies zusammengenommen und in seinen Teilen wahrgenommen und angewendet, sollte die Verslehre und Prosodie des kosmischen Gedichts sein.)

Martinsons Forderung, dass die Dichtkunst ihren Ausgangspunkt in der naturwissenschaftlichen Plausibilisierbarkeit zu nehmen habe, um an­ schließend einen Möglichkeitshorizont zu extrapolieren, deckt sich mit der Methodik moderner Science Fiction. Obwohl Martinson aufgrund seiner Faszination für das neue astrophy­ sikalische Weltbild früh vorschwebte, ein »rymdepos« (Weltraumepos) (Martinson 1989, 79) zu verfassen, kam es dazu erst 1953, als er die Andro­ medagalaxie durch ein Opernfernglas zu sehen bekam. Dieser spontane Zufall, den Martinson im Nachhinein als eine Art kosmische Eingebung beschreibt, markiert den Anfang einer Konzeption zur verhängnisvollen kosmischen Reise, die zunächst mit »Sången om Doris och Mima« startet und drei Jahre später mit Aniara endet. Die der Milchstraße nächstgele­ gene Andromedagalaxie liefert ein eindrucksvolles Beispiel für die unvor­ stellbaren astronomischen Entfernungen, die im Weltraum herrschen. 113

4 Die Einzigartigkeit der Erde

Lange bis in das 20. Jahrhundert hinein wurden die Dimensionen des Universums aufgrund von unzureichenden Vermessungsmethoden dras­ tisch unterschätzt. Erst 1920 wurde durch den Einsatz des Hubble-Tele­ skops klar, dass es sich bei Andromeda – die am Nachthimmel auch mit bloßem Auge als schwacher Lichtfleck zu erkennen ist – überhaupt um eine ganze Galaxie handelt. Während zuvor noch davon ausgegangen worden war, dass der Abstand der Milchstraße zur Andromedagalaxie zwi­ schen 500.000 und 1,5 Millionen Lichtjahre beträgt – also der Strecke, die das Licht innerhalb eines Jahres im Vakuum zurücklegt (9,46 Trillionen Kilometer) –, wuchs diese Zahl bald auf das nahezu Doppelte an. Heute beträgt die geschätzte Entfernung 2,5 Millionen Lichtjahre (Ribas et al. 2005). Die ungeheure plötzliche ›Verdoppelung‹ der Größe des Universums, in dem der Mensch so klein wie ein Staubkorn erscheint, machte gewal­ tigen Eindruck auf Martinson (Martinson 1989, 68). Vor allem für ein Laienpublikum, das nicht im Umgang mit den astronomischen Größen­ ordnungen vertraut ist, sah er nicht die Möglichkeit, sich diese Wirklich­ keit vorstellen zu können.2 Weil sich das gigantische Ausmaß der Vorstel­ lungskraft entzieht, erzeugt der Anblick in Martinsons Augen mindestens genau so viel Verfremdung wie Bewunderung. Indem der Wissenshori­ zont durch den Blick »i universums bottenlösa stjärngård« (in den boden­ losen Sternenhimmel des Universums) und die »svindlande världsdjupen« (schwindelerregende Welttiefe) (13–14) gesprengt wird, ist eine Schwelle überschritten worden, wo der Mensch weder zu seinem gewohnten Be­ zugssystem zurückkehren noch in dem neuen vollständig aufgehen kann. Die Überwältigung durch die scheinbar grenzenlose Unendlichkeit läuft laut Martinson auf die Frage hinaus, ob sich der Mensch abseits seiner Erfahrungs- und Empfindungswelt noch in einen Sinnzusammenhang einordnen kann. Auch die Passagiere in Aniara kommen nicht umhin, sich mit dem kosmischen Vakuum jenseits der hermetischen Abgeschlos­ senheit des Raumschiffs auseinanderzusetzen. Vor allem nach dem Zu­ sammenbruch der Mima, nachdem die Reisenden ihren Blick nach innen wenden und dieser lediglich die eigene Leere offenbart, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf die unerreichbaren Weiten des Kosmos.

2 Carl Sagan hat die unermessliche Größe des Universums in einem berühmten Vergleich veranschaulicht, dass es mehr Sterne im Weltraum gibt als Sandkörner auf der Erde (Sagan 2013, 207).

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Eine Reise durch den Kosmos

Mit der Raumfahrt wird ein beliebter Science Fiction-Topos aufgegrif­ fen, der ein Jahr nach der Veröffentlichung von Martinsons Epos beginnt, Wirklichkeit zu werden, als es der Sowjetunion 1957 gelingt, den ersten künstlichen Erdsatelliten mit dem Namen Sputnik in die Erdumlaufbahn zu befördern.3 Darüber hinaus verschränkt Martinson mit dem Motiv der Reise in Aniara einmal mehr Epos und Science Fiction. Hinausgeschleu­ dert aus dem Sonnensystem – »hän mot den lysande Lyran« (der leuch­ tenden Lyra entgegen) (159) – wird die Fahrt ungewollt zur »livtidsresa« (Lebensreise) (24). Entsprechend der Intention des antiken Epos dient die Reise in Aniara der Erkenntnis. Allerdings führt die Reflexion über die verfahrene Situation nicht zu einer Überwindung existenzieller Herausfor­ derungen. Zwar handelt es sich um eine Entdeckungsreise, in der die Menschheit so weit in den Weltraum vorstößt wie nie zuvor. Die Sublimi­ tät, die Martinson erfuhr, als er die Andromedagalaxie erblickte, hat ihren Reiz für die Passagiere in Aniara allerdings verloren. Sie wird schnell von dem Schrecken vor der Leere des Weltraums überlagert. Was anfangs noch den Anschein einer »pionjärfärd« (Pionierfahrt) (19) hat, wird bald zu einer »hadesfärd« (Hadesfahrt) (57) in den bodenlosen Abgrund des Weltraums umgedeutet. In Aniara kehrt sich der uralte Menschheitstraum von der Überwindung der Schwerkraft der Erde deswegen in den unwie­ derbringlichen Verlust des einzigen Orts um, an dem Leben möglich war. Das Reisemotiv wird in Aniara durchgehend mit Metaphern der See­ fahrt ausgedrückt, die auch Martinsons frühere Texte durchzieht. Von der darin beschriebenen Reiselust und dem Fernweh ist im Epos allerdings nichts mehr übrig (Nolte 2002, 116). Im Gegenteil offenbart sich der in Science Fiction häufig heraufbeschworene Mythos von einer letzten kos­ mischen Grenze, die es zu überwinden gilt, im Epos als Trugbild. Als der Mimarob sich zu einem Kontrollgang außerhalb des fast 8.000 Meter im Radius messenden Raumschiffs begibt, eröffnet sich ihm ein gewaltiger Anblick auf den bereits von der Erde zurückgelegten Weg und das erdrü­ ckende Schicksal, das die Menschen nun ereilt hat. Das Raumschiff wird hier als verschwindend winziger Punkt inmitten der unnahbaren Tiefe des Weltraums beschreiben (Gesang 17). Von der Tatsache, dass es sich bei der Aniara um ein Raumschiff – genauer gesagt um eines vom sogenannten Typ Goldonder – handelt, einmal abgesehen, wird im Text der Weltraum

3 Sputnik bildet den Startschuss des lange antizipierten Raumfahrtzeitalters, das neben der Eroberung des Weltraums bald im Zeichen des Wettrüstens während des Kalten Kriegs stand.

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durchgehend als kosmischer Ozean beschrieben, in dessen unendlichen Weiten die Passagiere ihre vielbedeutende »haveri« (Havarie) (8) erleiden. Die Reise vollzieht fortan, wie das Raumschiff aus dem heimischen Son­ nensystem ausgeschlossen wird, jenseits dessen für unglaublich lange Zeit keine Anziehungskraft mehr existiert, die groß genug wäre, um den Kurs des Fahrzeugs beeinflussen zu können: Så gick det till när solsystemet stängde sitt grindvalv av den renaste kristall och skiljde rymdfartyget Aniaras folk från solens alla sammanhang och löften. Och överlämnade åt skräckstel rymd förspred vi anropsordet Aniara i glasklar ändlöshet men nådde intet. (10) (So ging es zu, als das Sonnensystem schloss sein Gittertor aus lauterstem Kristall und die Leute des Raumfahrtzeugs Aniara trennte von allen Zusammenhängen der Sonne und der Verheißung. Und überlassen dem vor Schreck starren Weltraum verbreiteten wir den Notruf Aniara in glasklarer Endlosigkeit, doch erreichten niemanden.)

Vor allem liefert die Fahrt ohne Ziel keine Anhaltspunkte im nahezu ununterscheidbaren Außen, in dem aufgrund der für kosmische Größen­ ordnungen verhältnismäßig geringen durchschnittlichen Fortbewegungs­ geschwindigkeit des Raumschiffs von rund 30 Kilometern pro Sekunde – das entspricht der Geschwindigkeit der Erde um Sonne – nur in seltens­ ten Ausnahmefällen ein anderes Himmelsobjekt passiert wird (Hall 1981, 118). Die enorme Zeitspanne, die während der Reise verstreicht, wird vor allem in den zurückgelegten räumlichen Abstand von der Erde übersetzt und bedient damit die typische Verschränkung der Dimensionen von Raum und Zeit im Raumfahrtzeitalter (Geppert 2015, 222). Während der fortschreitenden Entfernung vom Heimatplaneten wird dessen unwie­ derbringlicher Verlust immer präsenter. An die Stelle des heimischen Sonnensystems rückt unaufhaltsam die kosmische unnahbare Leere, der theoretisch nur an einer Stelle entkommen werden kann, als die Pilotin Isagel in die Versuchung gerät, das Raumschiff absichtlich in das Schwe­ refeld eines vorbeiziehenden, halberloschenen Sterns zu steuern, um die Menschen endlich von ihrem Schicksal zu erlösen (Gesang 87). Am En­ de verschwindet die Erde – zwar poetisch wirksam, aber astronomisch inkorrekt als ›Dorisstern‹ und »stjärnors stjärna« (Stern der Sterne) (40) bezeichnet – endgültig aus dem Blickfeld der Passagiere. Nach 24 Jahren, 116

Eine Reise durch den Kosmos

als die Piloten längst gestorben sind, ist der Planet nicht mehr mit bloßem Auge in den kosmischen Weiten auszumachen, sondern verschwimmt in einer Ansammlung nicht mehr unterscheidbarer Lichtpunkte: Sitt tjugofjärde år goldondern drog med oförminskad fart mot Lyrans bild, och Doris stjärna var förblandad nu bland tusen andra i en stjärnemängd som skenbart flockad som till sällskap låg men som i verkligheten rörde sig så glest och utspritt i en evig köld att varje sol var tomhetens martyr. Allt mera tyst och dött låg Aniaras skepp: en stolt goldonder förr, men nu en sarkofag som utan egen kraft i tomma rymder föll längs med den loxodrom hon med sitt fall behöll. (183) (Sein vierundzwanzigstes Jahr zog der Goldonder mit unverminderter Geschwindigkeit dem Bild der Lyra entgegen, und Doris’ Stern war nun vermischt mit tausend anderen in einer Sternenmenge, die scheinbar versammelt wie eine Gesellschaft lag, doch sich in Wirklichkeit bewegte, so spärlich und verstreut in einer ewigen Kälte, dass jede Sonne Märtyrer der Leere war. Und immer stiller und toter lag Aniaras Schiff: ein stolzer Goldonder einst, doch nun ein Sarkophag, der ohne eigene Kraft in leere Räume fiel, längs mit der Loxodrome, die er mit seinem Fall beibehielt.)

Peter Nilson weist in seiner Essaysammlung Rymdljus. En bok om katastro­ fer och underverk darauf hin, dass die zurückgelegten Dimensionen des Raumschiffs zu hoch angesetzt sind, weil auf dem Weg von der Erde zur Lyra weder andere Sterne passiert werden, noch die Sonne dermaßen weit aus dem Sichtfeld gerät (Nilson 1992, 93–94). Demgegenüber beschleu­ nigt die der poetischen Freiheit geschuldete Abstandskürzung das Tempo des Epos beträchtlich, sodass die Reise zu einem Bewusstwerdungsprozess über die enormen astronomischen Skalen wird.4

4 Der während der Reise der Aniara evozierte Blick zurück auf die Erde fand 1990 in der Wirklichkeit seine Entsprechung, als die bereits 1977 aufgebrochene NASA-Raumsonde

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4 Die Einzigartigkeit der Erde

Die Gegenüberstellung der verhältnismäßig kleinen irdischen Zeit- und Raumdimensionen mit den als unendlich wahrgenommenen kosmischen wird in Aniara vor allem dadurch verdeutlicht, dass die Menschen noch lange an ihren gewohnten Rhythmen des Lebens auf der Erde – wie dem Tag- und Nachtzyklus – festhalten, während die ewige Nacht des Weltraums den Eindruck erweckt, dass die Zeit nicht verstreicht. Selbst die fernsten Erinnerungen verschwimmen im Gedächtnis der Passagiere, weil die Reise zu einem ununterscheidbaren Schwebezustand führt, in dem die Zeit angehalten zu sein scheint. Die im Weltraum herrschenden Dimensionen von Tiefenzeit und Tiefenraum werden den Menschen erst richtig vor Augen geführt, als die Schiffsführung eine Feier anlässlich des 20. Jahres der Fahrt veranstaltet. Hier wird der Vergleich gezogen, dass das Licht, das mit annähernd 300.000 Kilometern pro Sekunde die höchste Geschwindigkeit im Universum aufweist, für die vom Raumschiff zurück­ gelegte Strecke nur 16 Stunden bräuchte. Die Aussicht, dass die geringe Geschwindigkeit des Raumschiffs die Reisenden vielleicht erst in »tusen eller myriader år« (tausend oder Myriaden Jahren) (45) ins Schwerefeld eines anderen Himmelskörpers bringt, vermittelt die Vorstellung lebendig begraben zu werden: »Ett ljusår är en grav« (Ein Lichtjahr ist ein Grab) (162). Der Lyra als Sternbild des nördlichen Sternenhimmels, dem die Men­ schen zutreiben, wohnt zwar anfänglich noch der Hoffnungsschimmer inne, irgendwann wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Im­ merhin befindet sie sich für eine Sternenkonstellation relativ nahe der Erde. Die Wega, ihr Hauptstern, liegt ca. 25 Lichtjahre vom heimischen Sonnensystem entfernt und galt früher neben der Sonne als wichtigster Punkt am Himmel, der zur Kalibrierung astronomischer Beobachtungen verwendet wurde. Im Epos signalisiert das Sternbild aber im Gegenteil dazu die Ziellosigkeit und Endlosigkeit der Reise, während der es keinen Hafen mehr gibt, der innerhalb der Lebensspanne der Passagiere angesteu­

Voyager 1 die Erde aus einer Entfernung von etwa 6 Milliarden Kilometern aufnahm. Nicht nur handelt es sich bei dieser als Pale Blue Dot bekannten Aufnahme um das bis heute aus der größten Entfernung gemachte Foto der Erde. Voyager 1 ist das erste von Menschen geschaffene Objekt, das sich so weit wie kein anderes von seinem Ausgangs­ punkt entfernt hat und 2012 in den interstellaren Raum eintrat. Unter den auf den kupfernen und vergoldeten Datenplatten von Voyager 1 und 2, den ›Goldenen Schall­ platten‹, gespeicherten Bild- und Audioinformationen der Menschheit für außerirdisches Leben ist auch Martinsons Gedicht »Besök på observatorium« (»Besuch im Observatori­ um«) als repräsentatives Stück (irdischer) Weltliteratur verewigt (Nilson 1992, 95).

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Eine Reise durch den Kosmos

ert werden kann.5 In der unfreiwilligen Endstation klingt außerdem das Totenreich an, in das die Fahrt des Raumschiffs buchstäblich führt. Der leere und leblose kosmische Ozean trägt deswegen die weitaus passende­ ren Bezeichnungen »dödsrymd« (Todesweltraum) (8) und »dödens hav« (Totenmeer) (185). Zwar knüpft Aniara auf diese Weise an die archetypi­ sche Vorstellung der Reise als ein Übergang vom Diesseits ins Jenseits an (Wrede 1965, 261). Allerdings vollzieht sich während der Fahrt eine Umkehrung in der Bedeutung des Himmels in Hölle, kommen die Rei­ senden doch nicht umhin, die Erde im Gegenteil zum toten Weltraum als das eigentliche Paradies zu verstehen, zu dem es kein Zurück mehr gibt. Somit dient die Reise als Vehikel für die Erkenntnis, dass es für den Menschen keine Zukunft fernab der Erde geben kann. Der unumkehrbare Kurs der Aniara steht unmittelbar nach dem an­ fänglichen Ausweichmanöver fest und lässt sich metaphorisch als das Abkommen der Menschen von ihrem rechten Weg deuten. Der säkulare Sündenfall wird im gleichen Moment buchstäblich durch den Fahrtver­ lauf ausgedrückt. Dazu dient das geometrische Bild einer Hyperbelkurve, die aus zwei zueinander symmetrischen und unendlichen Ästen besteht (Gesang 39). Damit lässt sich die Reise auf einer nicht mehr endenden Bahn vorstellen, die sich – nach dem Überschreiten des Scheitelpunkts der Kurve – unaufhaltsam dem Untergang entgegenneigt. Neben der Hy­ perbel wird die Bahnkurve des Raumschiffs auch mit einer ebenso für die Navigation in der Seefahrt verwendeten Loxodrome – einer Kurve auf einer Kugeloberfläche – beschrieben. So wird der Kurs des Raumschiffs, nachdem dies über den Rand der irdischen Welt hinüber und in den Weltraum hinausgestürzt ist, zum freien Fall. Besonders eindrucksvoll wird dies geschildert, als die künstliche und überlebenswichtige Schwer­ kraft auf dem Raumschiff, zuerst infolge einer Kollision mit einer Wolke aus interstellarem Eis (Gesang 69), und später noch einmal aus diesmal unerklärlichen Gründen aussetzt, wodurch der Flug zum regelrechten Absturz wird. Die Schwerelosigkeit wird zum Sinnbild der fehlenden Gra­ vitationskraft der Erde, ohne die es keinen existenziellen Halt mehr gibt. Albtraumartig erzeugt die Störung des Gleichgewichtssinns das Gefühl, kopfüber den Boden unter den Füßen zu verlieren (Gesang 91).

5 Tatsächlich plante Martinson zunächst einen anderen Ausgang von Aniara, in dem die Reisenden auf einem erdähnlichen Planeten namens Proxima Centauri – so heißt auch der dazugehörige, unserer Sonne nächstgelegene Stern im Sternbild Alpha Centauri – ankommen, verwarf die Idee eines ›glücklichen Endes‹ jedoch (Wrede 1965, 38).

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4 Die Einzigartigkeit der Erde Ein Universum aus Kristall

Bereits der verhältnismäßig kurzsichtige Blick über den irdischen Hori­ zont hinaus, den die Reisenden in Aniara erhalten und der lediglich auf einen winzigen Ausschnitt der Milchstraße inmitten eines unvorstellbar größeren Ganzen begrenzt bleibt, reicht aus, um zu demonstrieren, dass der Weltraum weder hinreichend sinnlich wahrnehmbar noch vollständig intelligibel ist. Die Problematik der Unvorstellbarkeit und Undarstellbar­ keit des Weltraums nimmt explizit Bezug auf die wissenschaftliche Durch­ dringung von Makrokosmos und Mikrokosmos. In seinem Zeitschriften­ artikel zur Genese des Begriffs Aniara von 1938, der den vielsagenden Titel »Stjärnsången« (Sternengesang) trägt, betont Martinson den parado­ xalen Umstand, dass astrophysikalische Phänomene nur noch innerhalb eines Eigenschaftsbereichs begreifbar werden, »som ligga utanför varje slag av mänsklig föreställningsförmåga« (der außerhalb jeglicher Art des menschlichen Vorstellungsvermögens liegt) (Martinson 1989, 14). Zwar ist in Martinsons Augen die Mathematik die beste Möglichkeit, um der natürlichen Welt jenseits der Erde nahezukommen. Gleichzeitig birgt die damit einhergehende Abstraktion aber die Gefahr, dass der Mensch keinen Platz mehr in dieser Wirklichkeit findet. Eine Komplexitätsredu­ zierung im Hinblick auf die Unvereinbarkeit von Bereichen, die unserem Erfahrungshorizont entschwinden oder diesen übersteigen, kann dagegen nur durch die »sammankrympande funktion« (zusammenschrumpfende Funktion) (19) der bildlichen Imagination gelingen. Der Dichtkunst kommt in Martinsons Überlegungen eine zentrale Rol­ le zu, um das naturwissenschaftliche Weltbild übersetzen zu können. Die Vorstellung von der Greifbarmachung der Verfremdung der Wirklichkeit weist eine wesentliche Gemeinsamkeit mit Seo-Young Chus Konzeption von Science Fiction auf. Chu rückt in ihrem Buch Do Metaphors Dream of Literal Sleep? A Science-Fictional Theory of Representation die mimetischen Herausforderungen in den Mittelpunkt, die dazu führen, dass die Darstel­ lung das Darzustellende nicht direkt abbilden kann (Chu 2010). In ihren Augen ergibt sich die Übersetzungsleistung von Science Fiction in erster Linie aus ihrer Affinität zur Lyrik: [O]nly a narrative form thoroughly powered by lyricism possesses enough torque – enough twisting force, enough verse (from »vertere«, Latin for »to turn«) – to convert an elusive referent into an object available for represen­ tation. Only a form in which poetic tropes (from »tropos«, Greek for »turn«) are systematically turned into narrative literalities can accommodate referents ordinarily averse to representation. By literalizing poetic figures, science fiction

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Ein Universum aus Kristall transcends the literal/figurative dichotomy. In transcending the literal/figurative dichotomy, science fiction provides a representational home for referents that are themselves neither purely literal nor purely figurative in nature. (14–15)

Aufgrund der Konzentration lyrischer Eigenschaften in Science Fiction – selbst, wenn diese sich nicht in Versform niederschlägt – spricht Chu von einer absenten Omnipräsenz von Lyrik (63). Der Zusammenhang von Naturwissenschaft und Poesie, also von Science und Fiction, lässt sich besonders gut auf die Reflexion astrophysikalischer Phänomene in Aniara übertragen. Einerseits verweist Martinsons Problematisierung der Darstel­ lung auf die Konfrontation des Menschlichen mit Nichtmenschlichem im Anthropozän. Wie die Schilderung des nuklearen Holocaust zeigt auch die Schilderung des Kosmos die Grenzen eines epistemischen Zugangs zur natürlichen Welt auf, die nun nicht mehr nur die Erde, sondern auch den Weltraum betrifft. Andererseits knüpft die Auseinandersetzung mit dem Weltraum gleichzeitig an den ökologischen Kollaps auf der Erde an. Überhaupt wird der Weltuntergang in Aniara erst durch die Einbettung in den kosmischen Kontext sichtbar, weil dadurch den Reisenden die Singularität der Erde im Weltraum vor Augen geführt wird. Auf die Problematisierung der Erzählbarkeit wird an mehreren Stellen im Epos eingegangen, wenn beschrieben wird, dass der Weltraum eine eigene Dynamik besitzt, in der der Mensch ein verschwindend geringer Faktor ist. Die Konfrontation mit den unendlichen kosmischen Weiten führt dazu, dass zentrale Begriffe ihre Bedeutungskraft verlieren, weil die Unbeschreibbarkeit der Größe des Weltraums die Sprache selbst an ihre Grenzen bringt (Gesang 10). Weder reicht der Wortschatz aus, um die un­ ermesslichen Dimensionen der Milchstraße zu erfassen (Gesang 85), noch können die naturwissenschaftlichen Formeln für die astrophysikalischen Gesetzmäßigkeiten popularisiert werden (Gesang 31). Auf diese Weise entsteht eine Diskrepanz zwischen der Deutungshoheit des wissenschaftli­ chen Diskurses an Bord einerseits und der Notwendigkeit der Abstraktion andererseits, mit der der Großteil der Passagiere von einer Annäherung an die Wirklichkeit außerhalb des Raumschiffs ausgeschlossen wird. Am deutlichsten zeigt sich die Übersetzung des naturwissenschaftlichen Welt­ bilds in eine poetische Bildsprache in Gesang 13, der zu den meistzitierten Passagen des Epos zählt. Der eindrucksvolle Versuch, die astronomischen Entfernungen in eine anschauliche Form zu bringen, besteht in einem Gleichnis, das die Reise durch den Weltraum schon relativ am Anfang vorwegnimmt. Hier erhalten die Passagiere erstmals eine vage Vorstellung von den Größenordnungen, denen sie nun unterworfen sind, als der 121

4 Die Einzigartigkeit der Erde

Chefastronom die Reise des Raumschiffs mit einer in eine Glasschale eingeschlossenen Luftblase vergleicht, die unglaublich lange – über 1.000 Jahre – braucht, um ihr Medium allmählich einmal zu umrunden: Vårt rymdskepp Aniara färdas fram i någonting som ingen hjärnskål har och heller ingen hjärnsubstans behöver. Hon färdas fram i någonting som är men ej behöver vandra tankens väg: en ande som är mer än tankens värld. Ja, genom Gud och Död och Gåta går vårt rymdskepp Aniara utan mål och spår. O, kunde vi nå åter till vår bas, nu när vi upptäckt vad vårt rymdskepp är: en liten blåsa i Guds andes glas. (27–28) (Unser Raumschiff Aniara bewegt sich fort in etwas, das keine Hirnschale hat und auch keiner Hirnsubstanz bedarf. Es bewegt sich fort in etwas, das ist, doch nicht den Weg des Gedankens zu wandern braucht: ein Geist, der mehr ist als die Gedankenwelt. Ja, durch Gott und Tod und Rätsel geht unser Raumschiff Aniara ohne Ziel und Spur. Oh, könnten wir unsere Basis wieder erreichen, nun, da wir entdeckt, was unser Raumschiff ist: eine kleine Blase im Glas von Gottes Geist.)

Diese Stelle liefert ein Musterbeispiel für die Übertragung des Erklärungs­ modells des Mikrokosmos auf den Makrokosmos. Laut Tord Hall ließ sich Martinson von Paul Diracs theoretischem Modell zur Antimaterie inspi­ rieren, mit dem negative Energiezustände beschrieben werden (Hall 1981, 117). Das Modell des Dirac-Sees beziehungsweise Dirac-Meers, das auch als Diracsche Löchertheorie bekannt ist, beschreibt, dass zu allen Teilchen im Universum entsprechende Antiteilchen existieren, wie beispielsweise das Positron als Antiteilchen zum Elektron. Aufgrund der Erhaltung eines Ladungsgleichgewichts verwandeln sich Elektron und Positron in andere Teilchen durch die sogenannte Paarvernichtung oder Annihilation. Nach Diracs Modell kann ein positives Elektron bei der Energieabgabe in ein negatives Loch fallen. Nicht nur wird im Verlauf von Aniara das faszinie­ rende Bild des Universums als ein Sternenmeer von Abermilliarden von Galaxien – wie es in Gesang 70 der Fall ist – durch das ernüchternde Bild von einem leeren Weltraum berichtigt. In dem Vergleich des Chefas­ tronomen wird das Raumschiff selbst zu einem negativen Energiezustand, 122

Ein Universum aus Kristall

der dadurch als kosmische Anomalie innerhalb des Weltraums, das heißt des eigentlich Existierenden, verwandelt wird (Tideström 1975, 35). Die Gleichsetzung des Menschen mit einer Ausnahmeerscheinung in dem um das Raumschiff herum herrschenden Normzustand versinnbildlicht die durch die Revolution der Sicht auf die Materie herbeigeführte ›Verunei­ gentlichung‹ des kaum fassbaren Weltalls. Die Beschreibung der Reise, während der das Raumschiff auf nahezu verschwindend geringe Winzigkeit komprimiert wird, erinnert an die von Martinson an anderen Stellen unternommene Reise ins Atom, nur dass sich nun die Maßstäbe umgekehrt haben, weil der Mensch selbst unvor­ stellbar klein geworden ist. Die in Aniara beschriebene Irrealität des Vaku­ ums des Weltraums kann als das ultimative Hyperobjekt schlechthin gese­ hen werden (Morton 2013, 32). Neben der Dimension des Raums geht es vor diesem Hintergrund auch um die Dimension der Zeit. Zusätzlich zur Anspielung auf die Entdeckung der Antimaterie, die die Grundfesten der modernen Physik erschütterte, bringt Tord Hall das Gleichnis auch in den Zusammenhang mit der ebenso schwer begreifbaren Vorstellung des Universums als vierdimensionale Raumzeit, die nicht mehr mit der klassischen Physik erklärt werden kann (Hall 1981, 117). Der 13. Gesang wird so zur bildlichen Darstellung der von Albert Einstein in seiner Re­ lativitätstheorie beschriebenen Raumkrümmung, mit der die Form und Expansion des Universums als gekrümmte Fläche ausgedrückt wird, um den dreidimensionalen Raum um die Dimension der Zeit zu erweitern. Ausgehend von Einsteins Überlegungen zur Raumzeit ergibt sich aus der Darstellung des Raumschiffs als in der Zeit eingefrorene Materie die Pa­ rallele zur Vorstellung von einem als Zeitkristall bezeichneten Quanten­ system, in dem die raumzeitliche Vierdimensionalität eingefangen wird. Vereinfacht ausgedrückt liefert ein Zeitkristall als ein neuer Aggregatszu­ stand, der sich mit der Zeit periodisch ändert, eine Momentaufnahme der Anordnungsstruktur der kleinsten physikalischen Partikel, die sich nor­ malerweise in ständiger Bewegung befinden (Shapere und Wilcek 2012). An den Vergleich mit der Glasschale schließen weitere Gesänge an, die die Beschaffenheit des Weltraums beschreiben als »meningslösas genom­ siktlighet« (die Bedeutungslosigkeit der Durchsichtigkeit) (148). Hier lässt sich eine Ambivalenz des Begriffs der Klarheit feststellen, die einerseits die wissenschaftliche Durchdringung der Wirklichkeit meint, andererseits aber auch deren ergebnislose Ernüchterung zum Vorschein bringt. Letzt­ endlich zeigt die Betrachtung des Schicksals »i vetenskapens klara ljus« (im klaren Licht der Wissenschaft) (24) nur die Ausweglosigkeit der 123

4 Die Einzigartigkeit der Erde

Reise in Aniara auf. Je deutlicher die Menschen die Beschaffenheit des Universums durchschauen, desto klarer wird, dass sie sich nicht mehr als Teil dieser Wirklichkeit begreifen. Denn der tote und leere Weltraum wirkt umso bedrückender, je deutlicher hervorgeht, dass hier kein Leben möglich ist. Die gewonnene Klarheit über die Vergeblichkeit des Lebens inmitten des kosmischen Nichts zeigt, dass der immerwährende Kosmos vom Menschen unberührt bleibt. Die Darstellung des Weltraums im Epos führt vor Augen, dass der Mensch mit seinen Erfahrungsmöglichkeiten auf sich selbst zurückgeworfen wird. Entsprechend beruht die Problemati­ sierung des Weltzugangs in Aniara auf der Veranschaulichung, dass die Reisenden dem aus ihren Augen sinnentleerten Weltraum keine tiefere Bedeutung abringen können. Die Unzulänglichkeit wissenschaftlicher Erklärungsmodelle für eine Annäherung an die Außenwelt wird auch anhand der Mathematik verhan­ delt. Vor allem die Pilotin Isagel – »den rena tankens drottning« (die Königin des reinen Gedankens) (170) versucht, die Wirklichkeit mithilfe von mathematischen Abstraktionen zu beschreiben. Anhand einer auf der Relativitätstheorie beruhenden Differentialgeometrie zu »De stora talens lagar« (Den Gesetzen der großen Zahlen) (170) stellt sie eine umfassende Formel in Gesang 62 auf, die Tord Hall als eine Art ›Weltformel‹ zur Beschreibung eines ganzheitlichen Modells des Universums deutet (Hall 1981, 108). Er verweist auf Eddingtons zentrale Beschreibung der Naturge­ setze, die sich auf die Kernformel aus der Heisenbergschen Unschärferela­ tion bezieht, mit der Werner Heisenberg beabsichtigte, eine anschauliche Darstellung quantenphysikalischer Zusammenhänge zwischen Masse, Ort und Geschwindigkeit in Raum und Zeit zu schaffen. Während diese Welt­ formel laut Eddington »the root of everything in the physical world« (Eddington 1929, 104) erklären werde und auf eine noch nicht vollständig begriffene Transzendenz hinweise, scheint sie in Aniara verwirklicht zu sein. Und doch nützt die größte naturwissenschaftliche Errungenschaft den Reisenden nichts, weil sie diese nicht aus ihrer Notlage befreien kann. Die Erkenntnis ist »blott ett teorem« (bloß ein Theorem) (70–71) und damit ein weiteres Bekenntnis der Unfassbarkeit des Kosmos, in der der Mensch jenseits der Erde keinen Platz hat.6

6 Die von Isagel aufgestellte und für den Leser des Epos unscheinbar wirkende Formel »gopta genom qwi« (gopta durch qwi) (61) übersetzt Tord Hall frei mit dem geflügelten Wort Credo quia absurdum est (Hall 1981, 108).

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Ein Universum aus Kristall

Die Infragestellung des Materiebegriffs sowie ihre (Un-)Bestimmbarkeit lässt sich in den größeren Kontext der neuen kosmologischen Modelle für die Beschaffenheit des Weltraums rücken. Martinson nimmt in Ania­ ra Bezug auf die folgenreichste Revolution im physikalischen Weltbild, in der die naturwissenschaftlichen Leitlinien des Determinismus und In­ determinismus aufeinanderprallen (Hall 1981, 121). Der Determinismus geht davon aus, dass die Bedingungen für sämtliche Ereignisse im Univer­ sum im Vorhinein bestimmt sind. Auch der Indeterminismus hat zur Voraussetzung, dass jegliche Ereignisse unveränderlichen Naturgesetzen gehorchen. Im Gegenzug zum Determinismus besagt er jedoch, dass nicht alle Ereignisse durch Vorbedingungen genau bestimmbar sind. Wenn auch der Determinismus nicht auf ein uneingeschränktes Kausalitätsprin­ zip reduziert werden kann, ist er doch als Erklärungsmodell für viele neuentdeckte physikalische Gesetzmäßigkeiten vom Indeterminismus ab­ gelöst worden. Als indeterministisch gelten beispielsweise die quanten­ mechanischen Ereignisse, bei denen sich Ursache und Wirkung nicht mehr eindeutig zuordnen, sondern lediglich probabilistisch, das heißt auf Wahrscheinlichkeiten basierend interpretieren lassen. Die Heisenbergsche Unschärferelation besagt, dass die komplementären Eigenschaften von Materie – wie beispielsweise Position (Ort) und Impuls (Bewegung) – nicht gleichzeitig genau bestimmbar sind. In Aniara lässt sich diese Unbestimmbarkeit einerseits metaphorisch auf die Verlorenheit des Raumschiffs im Weltraum übertragen. Andererseits spielt das Epos auch in Bezug auf Aussagen und Vorhersagen über die physikalische Beschaffenheit des Universums auf sie an. Die Kollision zwi­ schen den Erklärungsmodellen des Determinismus und Indeterminismus für die Entstehung des Kosmos und seine seitherige Entwicklung dreht sich vor allem um die Frage, ob das Universum zufällig entstanden ist oder aber von vornherein eine festgelegte Ordnung besitzt. Auch in der Astrophysik gilt es nun, die Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, nach denen Ereignisse eintreten können, die nicht reduzierbar, sprich nicht aus Bestehendem ableitbar oder auf dieses zurückführbar sind. Die Vorstel­ lung, dass manche Ereignisse im Endeffekt nur durch den Zufall bedingt sind, weil Ursache und Wirkung nicht mehr in Relation zu bringen sind, nahmen selbst die an den Fortschritten des modernen physikalischen Gedankengebäudes beteiligten Wissenschaftler nicht leichtfertig hin. Die Debatte verdichtete sich in dem größten Zufallsereignis aller Zeiten: dem Urknall. Die Urknall-Theorie geht davon aus, dass das Universum vor ca. 13,8 Milliarden Jahren in einem einzigen Moment urplötzlich aus dem 125

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›Nichts‹ entstanden ist. Anfangs noch eine unvorstellbar hohe Dichte und Temperatur aufweisend breiten sich Energie und Materie seitdem mit beschleunigender Geschwindigkeit aus und ergeben die vierdimensionale Raumzeit. Tord Hall verweist in seiner Lektüre von Aniara in diesem Zusammen­ hang auf Einstein, der nicht hinnehmen wollte, dass das neue quanten­ physikalische Modell die Entledigung sämtlicher tieferliegender Struktu­ ren zur Voraussetzung hat (Hall 1989, 120). Obwohl er selbst maßgeb­ lich zur Erschließung des modernen naturwissenschaftlichen Weltbilds beitrug, sträubte sich Einstein bis zu seinem Tod gegen die Vorstellung eines dem Zufall gehorchenden Universums.7 Das von Einstein geprägte Bild, dass Gott nicht um die Beschaffenheit des Universums würfle, taucht in Aniara in Gesang 55 auf. Die Streitfrage zwischen Urknall versus Zufall wird im Epos allerdings zugunsten des letzteren entschieden. Obwohl sich die Wissenschaftler an Bord der Aniara die Köpfe über die »idén att Gå­ tan har struktur« (Vorstellung, dass das Universum eine Struktur aufwei­ se) (27), zerbrechen, erhalten sie keine befriedigende Antwort. Während der Berechnung der »underverksfrekvensen« (Wunderwerkfrequenz) des als »talmängdsuniversum« (Zahlenmengenuniversum) (89) bezeichneten Weltraums kommen sie zu dem Schluss, dass das Leben auf der Erde das Ergebnis eines kosmischen Zufalls sein muss. Denn auch die Kalkulation der geringsten Überlebenswahrscheinlichkeit zeigt als Resultat nur die Singularität der Erde auf (Gesang 45). Die Einsicht über die Unbedeut­ samkeit der Reisenden gegenüber dem Weltraum ist vor allem eine Ein­ sicht über die lebensspendenden und lebensermöglichenden Eigenschaf­ ten unseres Planeten als fragile Ausnahme im Universum. Im vorletzten Gesang von Aniara kommt der Mimarob auf diesen Umstand noch einmal zu sprechen, als er die Indifferenz des Weltraums gegenüber dem Leben unterstreicht (Gesang 102). Neben dem Ursprung des Universums wird in Aniara auch auf des­ sen mögliches Ende aus naturwissenschaftlicher Sicht eingegangen. Die Zukunft des Universums wird im Rahmen der Thermodynamik, auch

7 Als repräsentativ für die Debatte um die materielle Wirklichkeit kann die Auseinander­ setzung zwischen Albert Einstein und Niels Bohr ab dem Ende der 1920er-Jahre betrach­ tet werden. In der sogenannten Bohr-Einstein-Debatte ging es um die fundamentale Deutungshoheit für neuentdeckte physikalische Phänomene. Während Bohr die sich später durchsetzende und bis heute gültige Auffassung vertrat, quantenmechanische Phä­ nomene seien vom Zufall geprägt, widersprach Einstein vehement. Später wurden seine Gegenbeweise zur Quantenmechanik schließlich widerlegt.

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Ein Universum aus Kristall

Wärmelehre genannt, und der dazugehörigen Zustandsgröße der Entropie beschrieben. Die Thermodynamik erklärt das Verhalten und die Vertei­ lung von Energie und Materie in geschlossenen Systemen. Das Universum selbst wird als ein solches thermodynamisches System betrachtet und kann anhand der Energieerhaltung – wonach die Energie konstant bleibt – und anhand der Energieumwandlung – wonach sich Umwandlungspro­ zesse nicht umkehren lassen – beschrieben werden. Diese irreversiblen Prozesse, in denen feste Ordnungen in immer freiere Strukturen über­ gehen, nennt man Entropiezunahme. In thermodynamischen Systemen strebt die Entropie stets nach ihrem Maximum. Das höchstmögliche Maß an Unordnung ist dann erreicht, wenn komplexe, unwahrscheinliche For­ mationen in chaotische, wahrscheinliche übergegangen sind. Bezogen auf das Universum bedeutet dies, dass irgendwann ein Zeitpunkt erreicht sein wird, an dem sämtliche physikalische Prozesse zum Erliegen kommen. Die Entropie hat im übertragenen Sinne eine allgemeinere Bedeutung er­ halten als der Übergang von Ordnung in Chaos. In der Aniara-Forschung ist wiederholt auf das Motiv der Entropie hingewiesen worden, das sich von Anfang an in der immer weiter fragmentierten Struktur des Epos niederschlägt (Oberholzer 1976, 39). Im gleichen Moment wird die Irreversibilität des durch die Entropie herbeigeführten thermodynamischen Gleichgewichts – wenn keine Tem­ peraturänderung mehr möglich ist – durch die bildliche Beschreibung von Stillstand und Starre im Weltraum ausgedrückt (Hall 1989, 122). Die Darstellung des lebensleeren, dunklen und kalten Kosmos entspricht der Beschreibung des finalen Zustands des Universums. Martinson fängt die Vorstellung von der Leblosigkeit und Bewegungslosigkeit dieses als Wärme- beziehungsweise Kältetod bezeichneten Schicksals zum einen in der Kristallmetaphorik ein (Gesang 10). Zum anderen wird die Entro­ pie durch eine Lichtmetaphorik unterstrichen. Sinnbildlich zum Anblick einer erlöschenden Sonne inmitten der »ändlös natt på rymdens kyrkogår­ dar« (endlosen Nacht auf den Friedhöfen des Weltraums) (152) gehen in Aniara zum Schluss auch die Lichter auf dem Raumschiff aus. Schließ­ lich lässt sich auch das Vergänglichkeitsmotiv vor dem Hintergrund entropischer Veränderungen lesen (Hienger 1969, 262). Die Auflösung der materiellen Struktur auf der Erde im Nuklearkrieg findet am Ende ihre Entsprechung in dem Zerfall der menschlichen Fantasie und Vorstel­ lungskraft, bevor die Reisenden in der poetisch als »Nirvanas våg« (Nirva­ nas Welle) (188) umschriebenen Energienivellierung durch die Entropie verwehen (Lagerroth 1990, 37). 127

4 Die Einzigartigkeit der Erde Gyralität

Entgegen dem Kontext seiner Entstehungsgegenwart hat Erland Lagerroth Martinsons Epos in seinem Aufsatz »En dikt av sin tid eller I tingens natur har människan sin lag. Harry Martinsons Aniara läst år 1990« vor einem aktualisierten naturwissenschaftlichen Hintergrund der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelesen (Lagerroth 1990). Lagerroth sieht in Aniara den Zeitgeist der naturwissenschaftlichen Ernüchterung der 1950er-Jahre, die ganz im Zeichen einer analytischen und reduktionistischen Weltanschau­ ung steht und den Höhepunkt einer langen Tradition der Entfremdung von der natürlichen Welt und deren Zerlegung in ihre Bestandteile bildet. Während der Reise in Aniara durch den Weltraum nimmt der Mensch eine Betrachtungsposition ein, die er sonst der Natur gegenüber einnimmt, und durch die er selbst aus jeglichem Sinnzusammenhang enthoben wird, weil Menschliches und Nichtmenschliches unvereinbar erscheinen. Dass im Epos außerhalb des menschlichen Erfahrungshori­ zonts kein tiefer liegender Sinn erkannt wird und der Zugang zur natür­ lichen Welt somit ausgeschlossen bleibt, interpretiert Lagerroth als die Beharrung auf einer Perspektive, die sämtliche Welterfahrung außerhalb des Menschen ausschließt und höchstens deren Grenzen aufzeigen kann. Für ihn ist Aniara deswegen der Ausdruck einer »total underkastelse av människan under den döda stjärnrymden« (totalen Unterwerfung des Menschen unter den toten Weltraum) (35). Für Lagerroth zeugt die Darstellung des Weltraums in Aniara von der Krise der modernen Naturwissenschaft als eine alternativlose Sackgasse, die den Blick aufs Ganze verloren hat. Im Gegenzug nennt er mehrere naturwissenschaftliche Paradigmenwechsel, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage systemtheoretischer Modelle eine ganzheitliche Betrachtungsposition wiedergewonnen haben (54). Aniara als Kapitulation vor der Ausweglosigkeit naturwissenschaftlicher Erkennt­ nis zu lesen, auf die Lagerroth in seiner Auslegung vehement insistiert, ist nicht ohne Vorbehalte möglich. Nicht nur schwingt eine gewisse Polemik in der Neuperspektivierung aus einer aktualisierten naturwissen­ schaftlichen Warte mit, mit der sich Lagerroth dezidiert von früheren Interpretationen von Aniara abzugrenzen versucht. Lagerroth weist in sei­ nem Aufsatz auch selbst darauf hin, dass Martinson in seiner naturwissen­ schaftlichen Beschäftigung durchaus alternative Überlegungen anstellte, um den Menschen beziehungsweise das Leben mit der Beschaffenheit des restlichen Kosmos in Einklang zu bringen. Insbesondere zieht Lagerroth

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Gyralität

eine entscheidende Parallele zwischen Martinsons ›Gyralitätstheorie‹ und dem modernen Systemdenken für komplexe Zusammenhänge (46), die Martinson zu einer eigenständigen Kosmologie in seiner bereits 1947 fertiggestellten naturphilosophischen Essaysammlung mit dem Namen Gyro ausgebaut hat (Martinson 2012). Erst 1986, nach Martinsons Tod, erscheint das Werk – ähnlich wie schon die Auswahl Doriderna – auf Initiative Tord Halls hin. In Gyro finden sich Martinsons zentrale Überlegungen über die Einzig­ artigkeit des Lebens im Weltraum und damit die Grundlage für seine umfangreiche Auseinandersetzung mit der möglichen Bedrohung der Er­ de durch den technowissenschaftlichen Fortschritt. Die Gyralitätstheorie kann als eine Reaktion auf die Abstraktionsimpulse durch die Umbrüche im naturwissenschaftlichen Weltbild in der Mitte des 20. Jahrhunderts verstanden werden, die in Martinsons Augen keine ganzheitliche Welt­ deutung mehr ermöglichen. Als die Betrachtung des Universums und seiner Gesetzmäßigkeiten ist das gyrale Weltbild in erster Linie »en bio­ centrisk världsbild« (ein biozentrisches Weltbild) (Martinson 2012, 74), also eines, dass auf die Erfahrungswirklichkeit und die Bedürfnisse des Le­ bens und des Menschen abgestimmt ist. Dennoch verfolgt Martinson mit seiner Gyralitätstheorie nicht, den naturwissenschaftlichen Erklärungsmo­ dellen den Rang abzulaufen. Vielmehr handle es sich dabei ausdrücklich um eine Perspektivierung durch das Medium der Dichtkunst: »Min gyrali­ tetsteori inordnar jag med glädje bland de teorier som uppstått framför relativitetsteoriens väldiga tankebyggnad. Detta är allt jag kan säga om en teori som inte är en matematisk teori, inte heller någon strängt filosofisk, men en poets teori och en poets tankesystem« (Meine Gyralitätstheorie ordne ich mit Freude in die Theorien ein, die vor dem enormen Gedan­ kengebäude der Relativitätstheorie entstanden sind. Dies ist alles, was ich über eine Theorie sagen kann, die weder eine mathematische noch eine streng philosophische Theorie ist, sondern die Theorie und das Denksys­ tem eines Dichters) (75). Ihren Namen verdankt die Essaysammlung dem Gyroskop, einem Kreiselinstrument, das aufgrund der Drehimpulserhaltung eine stabile Lage gegenüber äußeren Faktoren beibehält. Aufmerksam auf die Anwen­ dungsmöglichkeiten gyroskopischer Effekte wurde Martinson während seiner Jahre auf hoher See, wo der sogenannte Gyrokompass eine ent­ scheidende Rolle bei der Navigation spielt. In Anspielung darauf beruht das Funktionsprinzip der Raumschifftechnik in Aniara auf einer durch Eigenrotation herbeigeführten Kreiselstabilisierung. Beim Abheben des 129

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Raumschiffs wird die Überwindung der Erdanziehungskraft beispielsweise als eine »gyromatisk fältavlösning« (gyromatische Feldablösung) (7) be­ schrieben. In Gyro überträgt Martinson die Vorstellung eines rotierenden Gyrokompasses zur Beibehaltung eines Gleichgewichts auf die sich um sich selbst drehende Erde. Basierend auf der mechanistischen Metaphorik des Gyroskops baut Martinson das gyromatische Funktionsprinzip zwar zu einem universellen Grundprinzip sämtlicher Ordnungen und Anord­ nungsformen der belebten wie unbelebten Natur aus. Die Bedeutung erhält das Gyralitätsprinzip aber vor allem dadurch, weil sich in ihm der Übergang von abiotischen hin zu biotischen Erscheinungen manifestiert. Unter anderem erklärt sich daraus, dass es überhaupt Leben im Univer­ sum gibt: Genom detta gyro, som förmodligen gör sig gällande redan i de livsviktiga grun­ dämnena, tar universum steget från ett kvantitativt kosmos till ett kvalitativt. […] Vad som organiserar dessa inre rumstider till vad vi kallar Liv och Livstid är någonting annat än bara atomgrupperingar eller kringirrande svärmar av fria elektroner. Det kvalitativas värld kan inte förklaras med kvantitativa värden. Det märkliga ligger i omställningsförmågan: Livets förmåga att leva fram livet ur det indifferenta fysikaliska flödet. I detta ligger centralt sett det som gör Livets värld till ett mäktigt och eget gyralitetsfenomen i en relativ värld. (Martinson 2012, 65) (Durch dieses Gyro, das sich wahrscheinlich schon in den lebenswichtigen Grundbausteinen äußert, vollzieht das Universum den Schritt von einem quan­ titativen Kosmos zu einem qualitativen. […] Was diese inneren Raumzeiten zu dem organisiert, was wir Leben und Lebens­ zeit nennen, ist etwas anderes als nur Atomgruppierungen oder herumirrende Schwärme freier Elektronen. Die qualitative Welt lässt sich nicht durch quanti­ tative Werte erklären. Das Wesentliche liegt in dem Umwandlungsvermögen begründet: Das Vermögen des Lebens, sich selbst aus dem gleichgültigen physi­ kalischen Fluss hervorzubringen. Darin besteht im Kern betrachtet das, was die Welt des Lebens zu einem mächtigen und eigenen Gyralitätsphänomen in einer relativen Welt macht.)

Mit Gyralität bezeichnet Martinson also etwas, das den Dingen innewohnt und aus dem das Wunder des Lebens entspringt. Das Lebensgyro ist der Grund dafür, dass scheinbar aus dem Nichts heraus Leben entsteht, sich vervielfacht und weiterentwickelt. Die Gyralität basiert auf dem Zu­ sammenspiel von Werden und Vergehen, doch während das Universum diesem Kreislauf gegenüber gleichgültig ist, verweist Martinson auf die existenzielle Einsicht, dass die Erde nur eine Ausnahme im ansonsten un­ belebten Weltraum darstellt, und dass ihre Zukunft durch den Menschen 130

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nicht leichtfertig verspielt werden darf. Das Gyralitätsprinzip steht deswe­ gen in engem Zusammenhang mit der Katastrophenimagination der nu­ klearen Bedrohung. Motiviert von der Gefahr durch die Entwicklung der Atombombe schreibt Martinson, dass im Endeffekt auch das menschliche Dasein – und das verdeutlicht in Aniara die Auseinandersetzung mit der unentrinnbaren eigenen Vergänglichkeit – zu einer Randerscheinung in einem unvorstellbar größeren kosmischen Gefüge zählt (Martinson 1989, 48). Die Erhaltung der Bedingungen, die das Leben auf der Erde ermög­ lichen, ist die existenzielle Herausforderung angesichts des unwiderrufli­ chen Ausmaßes einer möglichen Zerstörung dieser Lebensgrundlage. Die Notwendigkeit der Übernahme einer Verantwortung des Menschen »för hela sin planet och dess totala liv« (für seinen gesamten Planeten und dessen gesamtes Leben) (48) wird durch die Gewissheit von der Erde als die Manifestation eines »kosmiskt-lokalt specialfall« (kosmisch-lokalen Sonderfalls) (49) deutlich. Die Gyralität als Strukturprinzip lässt sich außerdem auf die Auseinan­ dersetzung mit der Konstitution des Kosmos zwischen Determinismus und Indeterminismus übertragen. Während Aniara zum Indeterminismus neigt, war Martinson in Doriderna laut Tord Hall stark von Fred Hoyles Kosmologie beeinflusst, der als Mitbegründer der Steady-State-Theorie, auch Gleichgewichtstheorie genannt, den Urknall mit einer alternativen Interpretation zu widerlegen suchte (Hall 1981, 174–175). Die Vorstellung von einer konstanten Materiedichte bei gleichzeitiger Expansion des Uni­ versums findet sich zwar bereits bei Einstein. Dennoch bildete sich bald ein Konsens um die Urknall-Theorie heraus. Obwohl Hall die kosmolo­ gische Grundlage für Martinsons Gyralitätstheorie ebenfalls beim Deter­ minismus sieht, stellt er überraschenderweise keinen Zusammenhang zwi­ schen Hoyles Kosmologie und Martinsons Gyralitätsprinzip her. Dabei findet sich eine Parallele zwischen Hoyles Gleichgewichtstheorie und Martinsons Gyralitätstheorie als kosmisches Prinzip von der Unveränder­ lichkeit und Unvergänglichkeit des Universums. In seiner Essaysammlung nimmt Martinson deutlichen Bezug auf James Jeans, einem Vorreiter der Steady-State-Theorie, der von einer kontinuierlichen Materieproduktion im Weltraum ausging (Martinson 2012, 66). Dies lieferte Martinson mit­ unter die Grundlage für seine Konzeption von einem stetig nach Gyralität strebenden Universum, dessen Kontinuität sich im Bild der ununterbro­ chenen Kreiselbewegung des Gyrokompasses wiederfindet. In seinem Vorwort zu Gyro nennt Tord Hall zwei Gründe, warum es zu Martinsons Lebzeiten nicht zu einer Veröffentlichung der Essaysammlung 131

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kam. Einerseits habe sich die Prosaform nicht als das richtige Ausdrucks­ mittel für Martinsons naturphysikalische und naturphilosophische Über­ legungen herausgestellt. Andererseits habe sich Martinson gegen die Ver­ öffentlichung von Gyro entschieden, weil er zur Einsicht über den stellen­ weise spekulativen Charakter seiner Überlegungen gelangte (Martinson 2012, 13). Dagegen weist Erland Lagerroth darauf hin, dass die Gyralitäts­ theorie – wenn auch nicht in Bezug auf ihre spezifische Konzeption, so doch in Bezug auf ihren ganzheitlichen Anspruch – im Grunde einen bemerkenswerten Schritt in die Richtung eines modernen zusammenhän­ genden Systemdenkens macht (Lagerroth 1990, 49). Aus seiner Sicht ist die Verwerfung dem Umstand geschuldet, dass die Konzeption zu fort­ schrittlich für ihre Zeit war, obwohl sie grundsätzlich eine Brücke zu späteren Vorstellungen wie der Selbstorganisation als spontane Struktur­ bildung in dynamischen, nichtlinearen Systemen und der Kybernetik als deren Steuerung und Regelung darstellt. Wie weit Martinson mit seinen Gedanken zur Selbstorganisation von Mikrokosmos und Makrokosmos und zur Singularität der Erde seiner Gegenwart voraus war, lässt sich an dem fast zehn Jahre vor Gyro veröffentlichten Artikel zur Wortschöpfung des Begriffs Aniara von 1938 ablesen. Darin spricht er bereits von einem »självbevarelsedrift […] och därmed sammanhållningsdrift […]« (Selbster­ haltungstrieb […] und damit Zusammenhaltungstrieb […]), die aus der Kategorie des Lebens neben Zeit und Raum »en egen (en femte) specifik dimension« (eine eigene (eine fünfte) spezifische Dimension) (Martinson 1989, 19) machen. Lagerroth überträgt die Verbindung zwischen Gyralität und System­ denken allerdings nicht auf Aniara, das er im Gegenteil als Abwendung von Martinsons naturphilosophischen Überlegungen in Gyro deutet. Da­ bei kann das Gyralitätsprinzip, das wie die anderen naturwissenschaftli­ chen Aspekte im Epos seinen Ausgangspunkt in den physikalischen Neu­ verortungsversuchen nimmt, durchaus im Text nachgezeichnet werden. Den Zusammenhang der später formulierten Gyralitätstheorie mit dem Kosmos um Aniara expliziert Martinson selbst. In Gyro findet sich ein Hinweis, dass er während der Konzeption seiner Gyralitätstheorie an dem Verfassen seines Weltraumepos arbeitete (Martinson 2012, 33). Die Vor­ stellung von der Gyralität als die Hervorbringung komplexer Anordnun­ gen und letztlich des Lebens taucht in Aniara deswegen sehr wohl auf, wenn auch in erster Linie durch ihre Zerstörung: in der Zergliederung und im Zerfall der gyralen Ordnung. Verantwortlich dafür ist die Kern­ spaltung als Eingriff in das Innerste der Naturgesetze. Die Kernbindungs­ 132

Gyralität

kräfte sah Martinson als Musterbeispiel für die Gyralität, weil dadurch der Desorganisation der Materie getrotzt wird (30). Der Eingriff in die Materiekonstitution durch die Kernspaltung ist dagegen die Auflösung der konstitutionellen Bindungskräfte im Universum und entspricht damit der Aufhebung des gyralen Gleichgewichts. Der künstlich herbeigeführte Atomzerfall durch den Prozess der Kernwaffenexplosion führt das Gegen­ teil der Gyralität herbei, weil dadurch die Umwandlung von Energie zu Materie umgekehrt wird. In der Forschung ist auf den intrinsischen Zusammenhang zwischen der Aufhebung der Gyralität und dem Strukturzerfall in Aniara hinge­ wiesen worden (Nolte 2002, 111). Der Paradiesverlust kann als die Auf­ hebung des gyralen Gleichgewichts durch den anthropogenen Einfluss gelesen werden (138). Vor der Folie der Gyralität wird dem Ausmaß der Zerstörung des nuklearen Holocaust im Epos Nachdruck verliehen, weil der Habitabilitätsverlust damit in einen kosmischen Kontext einge­ bettet wird. Die Gegenüberstellung der Singularität der Erde mit dem lebensfeindlichen Weltraum findet eine Parallele in der Gleichsetzung der Aufhebung der Gyralität mit dem Ende des Universums im Kältetod. Die Gyralität als Herausbildung und Aufrechterhaltung der Ordnung bildet den komplementären Gegenpol zum dauerhaften Verfall durch die Entro­ pie. Dabei lassen sich die zahlreichen aufgezählten Dualismen im Epos – wie Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte, Bewegung und Erstarrung – in einen übergeordneten Zusammenhang bringen. Dem thermodynami­ schen Gleichgewichtszustand steht die gyrale Gleichgewichtserhaltung ge­ genüber. Beide, das thermodynamische Prinzip der Dissipation und Mar­ tinsons strukturgebendes Anordnungsprinzip der Gyralität, bilden zwei Pole auf einem Spektrum zwischen Kontinuität und Diskontinuität der Beschaffenheit und Entwicklung des Kosmos. Der entropische Tod des Universums wird in Aniara nicht nur zum Sinnbild für das Erlöschen des Lebens auf dem Raumschiff. Er ist der Ausdruck der totalen Auslöschung einer kosmischen Ordnung, die das Leben hervorgebracht hat und die durch den Menschen für alle Zeit vernichtet ist. Sieht man von dem spekulativen Charakter von Martinsons Gyralitäts­ theorie im Detail ab, ergibt sich dennoch aus ihr eine vorausschauende Auseinandersetzung mit der Verstrickung des Menschen mit dem Erdsys­ tem. Vor dem Hintergrund der Gyralitätstheorie lässt sich Aniara inner­ halb des Diskurses um den Übergang in eine neue erdgeschichtliche Epoche verorten. Nicht nur wird im Epos ein Wissen um die Einzigartig­ keit der Erde im ansonsten leblosen Weltraum durch den Weltuntergang 133

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im nuklearen Holocaust problematisiert. Die Katastrophenimagination formuliert auch eine Bewusstwerdung über den folgenreichen anthropo­ genen Einfluss auf die grundlegende Eigenschaft des Erdsystems, ein dyna­ misches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Das zum Habitabilitätsverlust der Erde führende Zusammenwirken menschlicher Aktivitäten und plane­ tarischer Prozesse, das sich in Aniara in der Nutzbarmachung der Kern­ energie entlädt, wird mit der Gyralität um eine systemische Perspektive erweitert. Die im Text entworfene Katastrophenzukunft macht aus der nuklearen Bedrohung eine existenzielle Bedrohung, die den Menschen in die Katastrophengeschichte des Anthropozäns einreiht. Die Imagination vom Ende unterstreicht noch einmal den kurzen Augenblick, in dem der Mensch einen weitaus längeren Zustand außer Kraft zu setzen droht. Im Hinblick auf das Gyralitätsprinzip lässt sich deswegen die skalare Diskre­ panz feststellen, die aus dem denkbar kleinsten Effekt – der Energiefreiset­ zung in Kernprozessen – die Aushebelung des Erdsystems als das denkbar größte Unheil hervorbringt. Raumschiff Erde

Die Verbindung des Weltuntergangs als die ultimative Katastrophe mit der ultimativen Einsicht über die Einzigartigkeit der Erde verleiht Ania­ ra eine bis heute anhaltendende Reichweite. Die Auslotung der Überle­ benschancen für die Menschheit jenseits ihres Heimatplaneten als Lebens­ erhaltungssystem macht das Epos zu einer vorausschauenden astronomi­ schen Versuchsanordnung, auf die mit dem beginnenden Raumfahrtzeit­ alter immer häufiger zurückgegriffen wird. Die Erprobung der Habitabili­ tät fernab der Erde wird vor allem vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs ein ernsthaftes Anliegen. Der Flug von Sputnik 1957 als erste Etappe im ›Wettlauf ins All‹ deutet an, dass die Weltraumeroberung und der Weltun­ tergang der Erde eng miteinander verknüpft sind. Martinson antizipiert in einem Interview aus dem gleichen Jahr die sich in den Startlöchern befindliche Raumfahrt als welthistorisches Ereignis. Kennzeichnend für die Perspektivenumkehrung durch die planetarische Imagination infolge der Weltraumerforschung richtet auch er den Blick zurück auf die Erde als Ausgangspunkt und spricht von der Notwendigkeit einer Bewusstwer­ dung, att världen genom tekniken har förändrats och nått en utveckling så stor, att vi har inte någon annat att jämföra med från tidernas begynnelse. Vi står inför en

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Raumschiff Erde helt ny situation och därför måste, menar jag, allting revideras och tänkas om, inte minst frågan om skuld, vem som har skulden till att olycka sker genom de väldiga krafter, som människan genom tekniken har möjlighet att frammana. […] Om sådan här rymdnavigering sker under former som har med mänskligt ans­ var att göra, så kan jag inte inse annat än att den är utvecklad av mänsklighetens möjligheter både att förstå sig själv och sin placering i universum. […] Vi är skapade för vår planet och vi har inte med de andra att göra. (Martinson 1989, 73–74) (dass sich die Welt durch die Technik verändert und eine so große Entwicklung erreicht hat, dass wir seit Anbeginn der Zeit nichts haben, um dies damit zu vergleichen. Wir stehen vor einer völlig neuen Situation und daher muss, glaube ich, alles revidiert und überdacht werden, nicht zuletzt die Schuldfrage, wer die Schuld daran hat, dass Unglücke durch die enormen Kräfte geschehen, die der Mensch durch die Möglichkeit der Technik hervorrufen kann. […] Wenn diese Art der Weltraumnavigation in einem Rahmen stattfindet, der mit menschlicher Verantwortung zu tun hat, dann kann ich nichts anderes darin sehen, als dass sie von den Möglichkeiten der Menschheit entwickelt worden ist, um sowohl sich selbst als auch ihren Platz im Universum zu verstehen. […] Wir sind für unseren Planeten geschaffen und haben mit den anderen nichts zu tun.)

Zusammen mit der Erforschung des Weltraums ab den 1960er-Jahren ergibt sich auch ein immer deutlicheres Bild über die planetarischen Zusammenhänge der Erde. Die Wahrscheinlichkeit globaler existenzieller Risiken, die im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre neben der Gefahr eines nuklearen Holocaust auch andere drohende Klima- und Umweltka­ tastrophen einschließen, markiert den Beginn eines ganzheitlichen und systemischen Blicks auf das Erdsystem. Einerseits befördert die nun ge­ wonnene planetarische Perspektive ein globales ökologisches Bewusstsein, das zu einer Dezentrierung des Menschen führt. Andererseits prägt der technowissenschaftliche Fortschritt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts umso stärker das Weltbild einer zunehmend globalisierten Erde, die im Rahmen einer Neukonzeption der Natur durch die Technoscience neue Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung verspricht. In Anlehnung an die Raumfahrt wird dabei das Modell von der Erde als Raumschiff von be­ grenzten Ressourcen inmitten eines bedrohlichen und lebensfeindlichen Weltraums popularisiert. Der Begriff Spaceship Earth geht auf Richard Buckminster Fuller zurück, der diesen Anfang der 1950er-Jahre im Zu­ sammenhang mit dem 1946 gestarteten Raumfahrtprogramm der USA verwendet, das ab 1958 zur National Aeronautics and Space Administrati­ on (NASA) wird. Flächendeckende Bekanntheit erhält das Modell vom

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Raumschiff Erde jedoch erst durch die Veröffentlichung von Buckminster Fullers Operating Manual for Spaceship Earth aus dem Jahr 1969, in dem an die technowissenschaftliche Lösung globaler Umweltprobleme appelliert wird (Buckminster Fuller 1969). Während das Modell vom Raumschiff Erde auch in nichtwissenschaft­ lichen Kreisen eine starke Resonanz erzeugte und aufgrund der Schiffs­ und Reisemetaphorik als Sinnbild für das gemeinsame Schicksal einer geeinten Menschheit angesichts der nuklearen Bedrohung wurde, hatte Buckminster Fuller selbst einen viel pragmatischeren Zweck im Sinne. Im Raumschiff Erde wird vor allem der Zusammenhang der Technoscience mit dem sich herausbildenden Systemdenken ersichtlich. In erster Linie ist es die Thermodynamik, die eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung des kybernetischen Naturverständnisses liefert, das von der Kompatibilität alles Seienden ausgeht und die Neudefinition des Lebens­ begriffs in Gang setzt (Weber 2003, 162). Die Umdeutung der Natur durch die Technoscience in eine wandelbare Größe unter gleichbleiben­ den Naturgesetzen hat einen Paradigmenwechsel ausgelöst. Aus einem kybernetischen Naturverständnis ist vor allem die Steuer- und Kontrollier­ barkeit und damit die Konstruktion und Produktion von Natur – sowie des Lebens selbst – abgeleitet worden (43–44). Die Erkenntnisse über die Energieerhaltung und -umwandlung suggerieren einen dynamischen Na­ turbegriff, der die Grenzen zwischen Lebendigem und Totem, zwischen Natürlichem und Technischem verwischt. Buckminster Fuller nimmt des­ wegen in seiner ›Gebrauchsanleitung‹ für die Erde als Raumschiff Bezug auf den Zusammenhang zwischen der Selbsterhaltung eines Systems und dessen Auflösung durch die Entropie: Spaceship Earth was so extraordinarily well invented and designed that to our knowledge humans have been on board it for two million years not even know­ ing that they were on board a ship. And our spaceship is so superbly designed as to be able to keep life regenerating on board despite the phenomenon, entropy, by which all local physical systems lose energy. So we have to obtain our biological life-regenerating energy from another spaceship the sun. (15)

Das Modell des Raumschiffs Erde weist wesentliche Parallelen zu Martin­ sons Überlegungen zur Gyralität auf. Beide beruhen auf der Übertragung mechanistischer Vorstellungen auf lebendige Dynamiken. Insbesondere die von Buckminster Fuller angesprochene Bedeutung der Sonne als Hauptenergiequelle für die Erde und das Leben auf ihr stellt auch einen zentralen Aspekt in der Gyralitätstheorie dar. In der Sonne sah Martinson die stärkste Ausprägung der Gyralität, weil an ihr das Umwandlungspo­ 136

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tenzial von indifferenten kosmischen Vorgängen in lebensermöglichende und -erhaltende am besten beobachtet werden kann (Martinson 2012, 84). Die Vorstellung, dass im Endeffekt nahezu alle Erscheinungen auf der Erde das Ergebnis umgewandelter Sonnenenergie sind, wird in Aniara am Beispiel des Vorgangs der Photosynthese geschildert. Hier greift Mar­ tinson das in Gyro viel beschworene Bild einer Blume auf, die aus der gefährlichen Lichtstrahlung und ihrer hohen Geschwindigkeit die Grund­ lage für Leben auf der Erde hervorbringt: Mitt i den brinnande solen finns en pupill, en kärna som med sin gåtfulla virvel gör den till kärlekens stjärna. Var gång den ser på jorden uppstår en äng och blommar dag efter dag och fröar glad genom lycklig sommar. (156) (Mitten in der brennenden Sonne gibt es eine Pupille, einen Kern, der mit seinem rätselhaften Wirbel diese zum Stern der Liebe macht. Jedes Mal, wenn diese auf die Erde sieht, entsteht eine Wiese und blüht Tag für Tag und keimt heiter durch einen glücklichen Sommer.)

In dem Modell von der Erde als Raumschiff treffen sowohl die Vorstel­ lung der Ganzheit und Verbundenheit als auch der Endlichkeit und Verletzlichkeit der Erde aufeinander, die während des Raumfahrzeitalters wirkmächtig in Fotos eingefangen wird. Sabine Höhler hat das Modell vom Raumschiff Erde zwischen Mythos und Machbarkeit in ihrem Buch Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960–1990 untersucht (Höhler 2017). Darin betont sie, dass sich in der Vorstellung Weltuntergangs- und Weltrettungsprognosen gleichermaßen manifestieren: Spaceship Earth represented crisis and progress at once, enabling environmen­ talists and technocrats, doomsayers and technological optimists to argue seem­ ingly opposite positions in the same terms. Spaceship Earth was not simply a metaphor of perceived environmental problems but also presented possible environmental solutions by opening up new discursive trajectories for future living spaces. Spaceship Earth imagined a global, sustainable, natural­scientific environment, closed and controlled like a space capsule. In the high times of the Space Age the spaceship seemed appropriate to com­ bine the notion of life’s fragility on the one hand and of the triumph of science

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4 Die Einzigartigkeit der Erde and technology on the other. Inside this discursive frame, it took only a small step to imagine the newly discovered planet earth as a spaceship. (16–17)

Höhler betont gleichzeitig, dass das Raumschiff Erde ein ideales, techni­ sches Modell der Natur darstellt, das in erster Linie deren Steuerbarkeit suggeriert. Aufgrund des Hybridcharakters aus Organischem und Techni­ schem spricht Höhler von einem planetarischen Cyborg (18), der – mus­ terhaft für die Rekonfiguration vormals gültiger Ordnungskategorien im Anthropozän – eine Revision des Naturbegriffs verkörpert. Die Hybridität des Modells zwischen Vorstellung und Verwirklichung bildet auch die Inspiration für zahlreiche Science Fiction-Erzählungen. Vor allem, weil darin unweigerlich die Vorstellung einer raumfahrenden Arche Noah als letzte Rettung der dem Untergang geweihten Erde anklingt, wird es zen­ tral innerhalb der Katastrophenimagination, die sich nicht mehr vor der Einsicht verschließen kann, dass die Erde gegenüber anderen Planeten – zunächst im heimischen Sonnensystem und dann auch darüber hinaus – merklich abhebt. Der Diskurs um die Kontrolle über den zukünftigen Kurs der Erde wird zum Kern für die Problematisierung der Bewohnbar­ keit im Weltraum und der Bewahrung des Lebens darin. Die Vorstellung von der Erde als Rettungsmittel des technowissen­ schaftlichen Fortschritts eröffnet eine zusätzliche Perspektive auf Martin­ sons Epos. Martinson hat sich in Anbetracht der mit der Verwirklichung der Kernwaffen einhergehenden nuklearen Bedrohung mit der Machbar­ keit einer Errettung der Menschheit durch eine technowissenschaftliche Intervention auseinandergesetzt, noch bevor die Vorstellung von der Erde als Raumschiff Fahrt aufgenommen hatte. Er stand in direktem Kontakt zu dem 1946 ins Leben gerufenen, technowissenschaftlich­philosophisch ausgerichteten Verein Atom-Noak (Atom-Noah), dessen futuristisches An­ liegen in der Evakuierung der Menschheit auf den Mars – ausgerechnet mit einem durch Kernenergie betriebenen Raumschiff – im Falle eines nuklearen Holocaust bestand (Holm 1960, 299). Wenn auch schwer abzu­ schätzen ist, wie wahrscheinlich der Verein die Machbarkeit eines solchen Unterfangens sah, scheint Martinsons Kontakt zu Atom-Noak dennoch insofern einen wesentlichen Impuls für die Konzeption von »Sången om Doris och Mima« beziehungsweise Aniara geliefert zu haben, als dass er darin die reale Möglichkeit des Weltuntergangs mit der Unmöglichkeit der Evakuierung durch ein Raumschiff kombiniert. Allerdings ist die von Atom-Noak für möglich gehaltene interplanetarische Reise in der nahen Zukunft im Epos nicht mehr plausibel, wie die Manövrierunfähigkeit des Raumschiffs Aniara und die Ohnmacht der Wissenschaftler und Ingenieu­ 138

Raumschiff Erde

re, dessen volle Funktionstüchtigkeit wiederherzustellen, zeigen. Hat bei­ des in Aniara doch das Gegenteil dessen herbeigeführt, was der eigentliche Grund der Fahrt war: Statt die Menschen – wie Noahs Arche – vor dem Weltuntergang zu bewahren, reißt das Raumschiff die Menschen mit sich in den Tod. Das Raumschiff Aniara trägt in vielerlei Hinsicht Züge des Raumschiffs Erde, wenn es auch von Anfang an zum Scheitern verdammt ist. Im über­ tragenen Sinne spricht dafür die allgemeine Schiffsmetaphorik und die in erster Linie durch die Mima verkörperte Vorstellung des Fahrzeugs als kollektiver Erinnerungsspeicher. Darüber hinaus lässt sich auch die Pro­ blematisierung der Lebenserhaltung im Weltraum konkret an Bord nach­ zeichnen. Zwar ist das Raumschiff eigentlich nicht darauf ausgelegt, für eine unbegrenzte Zeit auf sich allein gestellt zu sein. Doch gerade durch den Schiffbruch, der der Aniara widerfährt, wird diese abgeschlossene und begrenzte Sphäre mit den wichtigsten Herausforderungen konfrontiert, auf die das Modell des Raumschiffs Erde reagiert. Indem der Text verdeut­ licht, dass das Leben nicht einfach in den Weltraum verfrachtet werden kann, markiert er die scharfe Trennung zwischen der Erde und dem, was außerhalb liegt. Vor allem wird das sterile Raumschiff Aniara zum Sinnbild für die im nuklearen Holocaust unfruchtbar gewordene Erde. Das Leben fortan künstlich in der Größenordnung zu bewahren, die die Evakuierung der gesamten Menschheit verlangt, kann nicht gelingen. Mit den wenigen Ressourcen, mit denen die Reisenden ausgestattet sind, lässt sich der Kreislauf des Lebens nicht aufrechterhalten. Von den einstigen lebensspendenden und lebenserhaltenden Eigenschaften der Erde sind auf der Aniara lediglich ein paar, von der ionisierenden Strahlung verschont gebliebene Kubikmeter Humus pro Passagier übrig (Gesang 1). Zwar wird damit ein Garten auf dem Raumschiff angelegt, auf die Frage, »hur skydda Den eviga våren?« (wie dieser Ewige Frühling zu bewahren sei?) (107), gibt es aber keine Antwort. Die unfreiwillige Evakuierung von der Erde zeugt deswegen von einer Unvereinbarkeit von Technik und Natur. Die Darstellung des Raum­ schiffs als ewiges Grab entspricht einer Perversion des Ziels einer Kon­ servierung durch das Raumschiff Erde. Dementsprechend verkündet der letzte Gesang des Epos auch den Ausblick auf den unaufhaltsamen Weg des mittlerweile ebenso lebensleer wie der Weltraum gewordenen Raum­ schiffs in seine museale Erstarrung: Med oförminskad fart mot Lyrans bild i femton tusen år goldondern drog

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4 Die Einzigartigkeit der Erde likt ett museum fyllt av ting och ben och torra växter ifrån Doris skog. Bisatta i vår stora sarkofag vi fördes vidare i öde hav där rymdens natt oändligt skild från dag en glasklar tystnad välvde kring vår grav. (188) (Mit unverminderter Geschwindigkeit dem Bild der Lyra entgegen zog der Goldonder fünfzehntausend Jahre gleich einem Museum, gefüllt von Dingen und Gebeinen und verdorrten Pflanzen aus Doris’ Wald. Beigesetzt in unserem großen Sarkophag wurden wir weiter in öde Meere geführt, wo Weltraumnacht unendlich getrennt vom Tag, ein glasklares Schweigen wölbte sich um unser Grab.)

Das Raumschiff Erde steht in Aniara im Zeichen des Verlusts der Erde als Lebensraum sowie des Kontrollverlusts über den anthropogenen Einfluss, der der gemeinsamen Zukunft des Menschen und der Erde ein Ende bereitet. Es ist die finale bemannte Raumfahrt der Menschheit. Das Modell vom Raumschiff Erde war nur für eine begrenzte Zeit in Umlauf. Mit dem Ende des ab 1960 entstandenen Umweltzeitalters und dessen begrenztem Wissen um planetarische Zusammenhänge konnte es ab 1990 angesichts der zu geringen Kapazität für neue globale Herausfor­ derungen seinen utopischen Totalitätsanspruch nicht mehr aufrechterhal­ ten (Höhler 2017, 25). Fortan wurde die Hoffnung in Pläne gelegt, die Erde in der Zukunft zu verlassen.8 Die Auslotung der Möglichkeit, andere Planeten zu besiedeln, wird bereits in den 1960er-Jahren im Zuge der Erforschung des Weltraums immer interessanter. Der Blick richtet sich zunächst auf die Planeten Mars und Venus als unmittelbare Nachbarn der Erde. Die Suche nach erdähnlichen Bedingungen wirft dabei die ent­ scheidende Frage auf, wie die Erde selbst in der Lage ist, Leben zu ermög­ lichen, indem sie dem nach einem thermodynamischen Gleichgewicht strebenden Universum widersteht. Ein wichtiges Erklärungsmodell für den Zufall der Herausbildung des Lebens und die Entwicklung der Erde hin zu immer komplexeren Formen hat James Lovelock ab den 1970erJahren in seiner Gaia-Hypothese – die später zur Gaia-Theorie aktualisiert

8 Im Kontext des Anthropozäns ist das Modell noch einmal aufgegriffen worden, um die Botschaft zu verdeutlichen, dass wir nur eine Erde haben und dass dieses Raumschiff über keinen Notausgang verfügt (Crutzen et al. 2011).

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Raumschiff Erde

wurde – geliefert (Lovelock 2000). Den Ausgangspunkt von Lovelocks Überlegungen bildete der Umstand, dass die in der Erdgeschichte beob­ achtete Erhöhung der Sonneneinstrahlung nicht zu einer erwartbaren Erwärmung auf der Erde geführt hat. Die Entstehung von Leben inmitten der Lebensfeindlichkeit kann nur dadurch erklärt werden, dass sich die Lebensbedingungen auf der Erde aus einem Zusammenwirken der orga­ nischen und anorganischen Sphäre – ähnlich einem Klima-Thermostat – selbst reguliert haben. Diese Selbstregulation bildet den Schlüssel zur Ha­ bitabilität unseres Planeten und zu den Wechselwirkungen im Erdsystem. Zwar hat Lovelocks Vorstellung von der Homöostase der Erde, also die Beibehaltung eines gleichbleibenden Zustands, mittlerweile ausgedient. Besser ist es, das Erdsystem als instabiles und dynamisches Gleichgewicht zu sehen. Wenn auch die Gaia-Hypothese beziehungsweise die Gaia-Theo­ rie ihre Gültigkeit bis heute nicht vollständig bewahren konnte, stellt sie doch einen wesentlichen Schritt in der Vorstellung der Erde als System dar. Sie eröffnet einen ganzheitlichen Blick auf die Verstrickung der un­ belebten und belebten Natur und auf die Konfrontation des Menschen mit der natürlichen Welt, die im Laufe des 21. Jahrhunderts musterhaft für ein Verständnis vom Konzept des Anthropozäns werden. Und obwohl – stellvertretend für die Technisierungsimpulse durch die Technoscience – mathematische Computermodelle ausschlaggebend für Lovelocks Über­ legungen waren, hat er diese als einen dezidierten Gegenpol zu der tech­ nisch­artifiziellen Vorstellung einer Steuerbarkeit der Erde verstanden: If Gaia exists, the relationship between her and man, a dominant animal species in the complex living system, and the possibly shifting balance of power be­ tween them, are questions of obvious importance. […] The Gaia hypothesis is for those who like to walk or simply stand and stare, to wonder about the Earth and the life it bears, and to speculate about the consequences of our own presence here. It is an alternative to that pessimistic view which sees nature as a primitive force to be subdued and conquered. It is also an alternative to that equally depressing picture of our planet as a demented spaceship, forever travel­ ling, driverless and purposeless, around an inner circle of the sun. (Lovelock 2000, 11)

Mit Lovelocks Gaia-Hypothese lässt sich die Parallele zwischen dem mo­ dernen Systemdenken für planetarische Prozesse und Martinsons Gyrali­ tätstheorie auf den Punkt bringen. Die Gemeinsamkeit beider Modelle liegt vor allem darin, die Entstehung des Lebens und dessen Erhaltung als komplexen Zusammenhang zu beschreiben. Martinson liefert ein ganzheitliches System, innerhalb dessen die unbelebte und die belebte

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4 Die Einzigartigkeit der Erde

Natur wechselwirken und das durch Emergenz gekennzeichnet ist. Die Autopoiesis der Gyralität lässt sich gleichsetzen mit dem Konzept der Ökopoiesis als die Erschaffung der Bedingungen für immer komplexere Lebensformen. Es ist beeindruckend, wie weit Martinson mit seiner Gyra­ litätstheorie auf eine Betrachtung des Lebens in einem kosmischen Maß­ stab und damit auf die grundlegenden Erkenntnisse in der neuen Epoche vorgreift, um die Einzigartigkeit der Erde zu unterstreichen, die erst in einem Blick von außen sichtbar wird. In Aniara erschließt die Raumfahrt deswegen keine neuen Welten, sondern vermittelt den Einblick in das nahezu unvorstellbare kosmische Nichts, in dem der Mensch fernab des unglaublichen Zufalls des Lebens unmöglich überdauern kann.

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Teil II: Die Wiederentdeckung der Erde

5 Klimakatastrophen im Anthropozän

Wie in keiner anderen erdgeschichtlichen Epoche zuvor ist dem Men­ schen im Anthropozän das eigene Ende von Anfang an eingeschrieben. Denn dessen Vorherrschaft als größte planetarische Kraft, die dem neuen Erdzeitalter seinen Namen verleiht, wird nicht ewig währen. Im Gegenteil droht der Mensch angesichts der anhaltenden Zerstörung eines gemeinsa­ men Lebensraums eher früher als später von der Erde zu verschwinden. Während der Planet danach weiterhin seinen gewohnten Lauf nehmen wird, wird das Anthropozän jedoch nicht spurlos an ihm vorübergehen. Unter anderem in den Gesteinsschichten wird sich noch für Millionen von Jahren ablesen lassen, wie stark die Spezies Homo sapiens Raum und Zeit einer Epoche geprägt hat, in der Erdgeschichte und Menschheits­ geschichte miteinander konglomerieren. Aus einem posthumanen Stand­ punkt betrachtet handelt die Zukunft der Erde deshalb vor allem davon, was von ihren menschlichen Bewohnern übrigbleiben wird. Jan Zalasie­ wicz hat ein derartiges Szenario, das sich – nicht ungleich Science Fiction – in weiter zeitlicher Ferne abspielt, in seinem Buch The Earth After Us. What legacy will humans leave in the rocks? entworfen (Zalasiewicz 2008). Zalasiewicz nimmt darin die geologische Zukunft der Erde in den kom­ menden 100 Millionen Jahren aus der fiktiven Perspektive außerirdischer Archäologen in den Blick. Innerhalb dieser unvorstellbar langen Zeit wird sich das materielle Erbe der menschlichen Zivilisation im Erdstratum zu einer Geschichte rekonstruieren lassen, die das schicksalhafte Verhältnis des Menschen zu seinem Planeten sowie die möglichen Ursachen für seinen selbstverschuldeten Untergang zutage fördert. Zalasiewicz ist mit seinem futuristischen Gedankenexperiment aus der Perspektive außerirdischer Besucher heute längst nicht der einzige. Im Anthropozän ist die Archäologie der Zukunft zu einem festen Bestandteil für die Reflexion der Gegenwart geworden, in der unaufhaltsam der Weg des Erdsystems vorgezeichnet wird. Science Fiction nimmt darin eine zentrale Rolle ein, hat sie sich doch in der von anthropogenen Einflüssen dominierten erdgeschichtlichen Epoche als unverzichtbarer Möglichkeits­ horizont herausgestellt, um die gemeinsam gewordene Geschichte des Menschen und der Erde an die Oberfläche zu befördern. Eine Zukunftsar­ chäologie im Anthropozän ist dabei immer auch eine Offenbarung über die möglichen vorausliegenden Katastrophenzukünfte, die sich bereits in der Gegenwart anbahnen und deren Verlauf sich am besten durch 145

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Erzählungen antizipieren lässt. Im Vorwort ihres Essays The Collapse of Western Civilization: A View from the Future beschreiben Naomi Oreskes und Erik Conway genau dieses Unterfangen als eine Art ›Präkonstruktion‹ der Geschichte der Zukunft. Dabei betonen sie die Gemeinsamkeit von Science Fiction und Geschichtsschreibung: »Science fiction writers construct an imaginary future; historians attempt to reconstruct the past. Ultimately, both are seeking to understand the present. […] [We] blend the two genres to imagine a future historian looking back on a past that is our present and (possible) future« (Oreskes und Conway 2014, ix). Space With No Time

Die Methode der Historisierung der Gegenwart durch eine Zukunftsper­ spektive lässt sich auch für Inge Eriksens Romantetralogie Rummet uden tid (Der Raum ohne Zeit) beanspruchen, die zwischen 1983 und 1989 ver­ öffentlicht wurde. In Form einer fiktiven Geschichtsschreibung schildern die vier Bände Luderen fra Gomorra (1983, Die Hure von Gomorra), Nord for tiden (1985, Nördlich der Zeit), Dinosaurernes morgen (1986, Der Morgen der Dinosaurier) und Paradismaskinen (1989, Die Paradiesmaschine) den Habi­ tabilitätsverlust unseres Heimatplaneten infolge eines fatalen anthropoge­ nen Klimawandels in mehr als 3.000 Jahren. Im Universum von Rummet uden tid ist die Menschheit längst in andere Planetensysteme fernab ihres terrestrischen Ursprungs – der als Terra bezeichneten Erde – ausgewandert und formt neue Welten nach ihren Vorstellungen. Entgegen diesen strah­ lenden Aussichten spielt sich Eriksens Zukunftsszenario hauptsächlich aber weder in der Zeit noch im Raum dieser extraterrestrischen Födera­ tion ab. Die Geschehnisse auf den sogenannten acht Tochterplaneten, deren Anzahl an die Konstellation des heimischen Sonnensystems vor der Neuklassifizierung Plutos zum Zwergplaneten erinnert und die sich näher dem Mittelpunkt der Milchstraße befinden, tauchen höchstens am Rand auf. Im Zentrum verharrt dagegen Terra, von dessen Schicksal das auf Tarr’s Planet beheimatete wissenschaftliche Team Capricorn im histori­ schen Forschungsprojekt Space With No Time berichtet. Space With No Time soll als fünfter Teil der nicht näher beschriebenen planetargeschichtlichen Untersuchungsreihe Planet Profiles/Reconstruction den Schleier der terranischen Vergangenheit lüften. Aus dem Rückblick geht hervor, dass Terra bereits im 47. Jahrhundert aufgrund extremer klimatischer Verschlechterungen unbewohnbar geworden ist. Nachdem

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die Aufgabe des Planeten vorübergehend zur Auflösung des interplanetari­ schen Staatenbunds sowie zum Zusammenbruch der interplanetarischen Kommunikation geführt hatte, sind von dort seither keine Lebenszeichen mehr empfangen worden. In der wiedererstarkten und sich auf dem Hö­ hepunkt ihres Fortschritts befindlichen Föderation des 55. Jahrhunderts bietet sich erstmals die Gelegenheit, wieder zu Terra zurückzukehren, ohne einen Fuß auf den Planeten zu setzen. Team Capricorn ist in der Lage, mithilfe neuartiger technischer Methoden die Erinnerungen von Menschen unmittelbar vor dem terranischen Kollaps »ad kunstigt stimule­ ret telepatisk vej« (auf künstlich stimulierte telepathische Weise) (Eriksen 1989b, 105) anzuzapfen. Während ein echter Telepath in Rummet uden tid als eine »person med højt udviklet evne til at ›læse‹ og meddele tanker, sanseindtryk osv uden brug af talt sprog« (Person mit hochentwickelter Fähigkeit, Gedanken, Sinneseindrücke usw. ohne Verwendung gesproche­ ner Sprache zu ›lesen‹ und mitzuteilen) (Eriksen 1983 = I, 360) definiert ist, erreichen die Forscher von Team Capricorn den Bewusstseinszustand für die Informationsübertragung durch die operative Erweiterung ihrer kognitiven Fähigkeiten und die anschließende mehrwöchige Einlagerung in einen Tank mit lebenserhaltender Flüssigkeit. Obwohl die vier Bände der fiktiven Geschichtsschreibung auf der Textebene die einzelnen Bände der Tetralogie strukturieren, folgt die Wiedergabe der Ereignisse nicht einer erwartbaren historischen Darstel­ lung. Denn auch wenn in dem einleitenden Vorwort zum ersten Band eine übergeordnete und damit ordnende Erzählinstanz suggeriert wird, verschwindet diese im weiteren Textverlauf. Stattdessen setzten sich die einzelnen Kapitel aus den gänzlich unkommentierten Erlebnissen schein­ bar zufällig ausgewählter und auf unterschiedliche Weise mit dem Schick­ sal der Erde verstrickter Menschen zusammen, die jedoch nicht immer gleich als solche kenntlich markiert sind. Das Ergebnis ist eine Aneinan­ derreihung unterschiedlich langer Zeiträume, die aus der Sicht von über 20 sich abwechselnden und teilweise wiederkehrenden Figuren erzählt werden. Die historischen Aufzeichnungen folgen zwar insgesamt einer Chronologie, weisen untereinander aber keine durchgehende Kontinuität auf, sondern werden von häufigen Aussparungen und eingestreuten Rück­ blenden unterbrochen. Außerdem liefert die Geschichtsschreibung durch Space With No Time – wie bereits dessen Name vermuten lässt – keine An­ haltspunkte für eine zeitliche Orientierung innerhalb der Kapitel, die fast ausschließlich mit Figurennamen überschrieben sind. Lediglich der erste Band enthält zusätzlich Angaben über die abgedeckten Zeiträume, die al­ 147

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lerdings nicht trennscharf zwischen Tagen, Wochen, Monaten und Jahren oszillieren. Aufgrund der zahlreichen Perspektivenwechsel ergibt sich der historische Zusammenhang der enormen Zeitspanne des Forschungspro­ jekts erst im Nachhinein. Die zunächst für Space With No Time hauptverantwortlichen Zwillinge Mnomele und Thelemone Bridgex, die den Namenszusatz 314/315 tragen, sind besonders gut geeignet, sich in ihre unwissenden Probanden hinein­ zuversetzen. Zwar eröffnet sich ihnen durch den individualisierten Zu­ gang zur Vergangenheit ein eindringliches Geschichtsbild, das als eine Art Bewusstseinsstrom ebenso intim wie unzusammenhängend für den Leser ist. Weil die Rekonstruktion die Biografien der Probanden nicht vollstän­ dig umfasst, betonen die Historikerinnen aber vorab, dass der Mangel an Daten »brugernes evne til meddigten« (die Fähigkeit der Benutzer hinzuzudichten) (I, 12) voraussetzt. Während das Forschungsprojekt im ersten Band, Luderen fra Gomorra, in erster Linie einerseits das Leben von Fey – einer Prostituierten für Cybersex in einem Bordell für Astronauten auf dem als Luna bezeichneten Mond – und andererseits von Tukhalele – einer der globalen terranischen Administration unterstellten Koordina­ torin – verfolgt, erweitert sich das Figurenarsenal über die restlichen drei Bände drastisch. Einen gemeinsamen Nenner bildet dabei nur die vierköp­ fige Besatzung des Raumschiffs Jezabel II, das sich am Ende von Band I ein letztes Mal von Terra aufmacht, bei dessen Sprung durch die Raumzeit jedoch in ein ›Wurmloch‹1 gerät und auf demselben Planeten strandet, den es mehr als 700 Jahre zuvor zu verlassen geplant hatte. Was Mnomele und Thelemone zu Beginn nicht ahnen ist, dass Space With No Time im Verlauf der Tetralogie Veränderungen erfahren wird, die sich als ebenso turbulent herausstellen, wie die Ereignisse, von denen es berichtet. Der genaue Startzeitpunkt von Space With No Time wird nicht genannt. Unter Bezugnahme auf spätere Datierungen während des Verlaufs der Tetralogie fällt er vermutlich in den Anfang der 5420er-Jahre. Die Ge­ schichtsrekonstruktion durch Team Capricorn setzt zehn Jahre vor der endgültigen Schließung der Raumhäfen auf Terra im Jahr 4694 ein, als klar ist, dass den Terranern aufgrund der immer schlechteren Lebensbe­ dingungen nur noch die Evakuierung von ihrem Planeten bleibt. Der

1 Ein ›Wurmloch‹ beschreibt eine spekulative Theorie, wonach eine Strecke durch den Raum durch eine Reise durch das Raum-Zeit-Kontinuum abgekürzt wird, um giganti­ sche astronomische Distanzen rascher überwinden zu können. Dabei kann es auch zu Zeitverschiebungen in Richtung Vergangenheit oder Zukunft kommen.

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Endzeitpunkt der Aufzeichnungen steht hingegen am Anfang des ersten Bands noch nicht fest. Mnomele und Thelemone weisen in diesem Zu­ sammenhang auf die Tatsache hin, dass es in dem untersuchten Zeit­ raum zwischen den bewohnten Planeten häufig zu Zeitverschiebungen gekommen ist, sodass eine Synchronisation der Zeitrechnungen auf die übliche terranische Standardzeit ungenau bleiben muss (I, 8). Was für den Leser nicht hinreichend erklärt wird, lässt sich als Relativität der Zeit interpretieren, die abhängig von der Geschwindigkeit und Position in zwei sich relativ zueinander bewegenden Bezugssystemen ist. Entgegen einer absoluten Zeit beschreibt die Relativitätstheorie diesen sogenannten Effekt der Zeitdilatation als die Unbestimmbarkeit der Gleichzeitigkeit von räumlich getrennten Ereignissen.2 Der Zeitsprung des Raumschiffs Jezabel liefert das beste Beispiel für eine derartig entstehende Ungleichzei­ tigkeit. Der unvorhergesehene Kurswechsel wirkt sich gravierend auf die Geschichtsschreibung aus, weil dadurch das Forschungsprojekt am Ende von Band I in eine Zeit jenseits seines ursprünglichen Untersuchungszeit­ raums befördert wird. Aus der Perspektive der Raumschiffbesatzung wird Team Capricorn im zweiten Band, Nord for tiden, Zeuge der Entdeckung einer neuen mensch­ lichen Zivilisation im Jahr 5423. Ausgerechnet eine »lille forbrændte lom­ me på Terras nordlige halvkugle« (kleine verbrannte Region auf Terras nördlicher Halbkugel) (Eriksen 1986 = III, 267), die aufgrund hoher radio­ aktiver Kontamination zuvor als Todeszone galt, beheimatet nun wieder Menschen. Bei den Bewohnern dieser ökologischen Anomalie auf dem totgeglaubten Planeten handelt es sich um die Nachfahren der Überleben­ den der Klimakatastrophen des 47. Jahrhunderts. Isoliert vom Rest der Welt und nichtsahnend von ihrer Position im Universum – die einzige historische Überlieferung führt die eigene Abstammung fälschlicherweise auf einen anderen Planeten zurück, der in einer globalen Katastrophe untergegangen ist – haben die Menschen ihren Heimatplaneten Beta De­ centia getauft. Während das Aufeinandertreffen friedlich verläuft, ist der Schock der schiffbrüchigen Besatzung darüber, dass es sich bei Decentia in Wahrheit um Terra handelt, mindestens so groß wie der Schock der Decentianer, die nun Gewissheit darüber erlangen, dass sie tatsächlich

2 Zur Veranschaulichung der Zeitdilatation wird häufig auf das Beispiel zurückgegriffen, dass die gleiche Entfernung – je nach Beobachtungsstandpunkt – in zwei Bezugssyste­ men unterschiedlich lange Zeit benötigt und somit bewegte Uhren langsamer als unbe­ wegte gehen.

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nicht allein im Universum sind. Neuankömmlinge und Neubewohner verständigen sich auf den Wunsch, Kontakt zur restlichen Menschheit wiederherzustellen, auch wenn nicht sicher ist, ob die Föderation in der Zwischenzeit immer noch existiert. Jezabel macht sich im dritten Band, Dinosaurernes morgen, erneut von Terra auf und erreicht – nach einem weiteren unvorhergesehenen Zeitsprung – den föderativen Hauptplaneten Annar mit vierjähriger Verspätung im Jahr 5427. Die Rekonstruktion durch Space With No Time hat nicht nur die ver­ loren gegangene Geschichte des Untergangs Terras, sondern auch die für nicht existent gehaltene menschliche Zivilisation auf dem Planeten wiederbelebt. Der Sensationsfund macht die Geschichte Terras plötzlich lebendig: Durch die Wiederentdeckung der Erde kommt es zu einer Vergleichzeitigung der Gegenwart der Föderation und der Geschichte, die Space With No Time zu erzählen begonnen hatte, weil nun die ge­ samte Zeit überbrückt worden ist, die die im 47. Jahrhundert gestartete Raumschiffbesatzung ursprünglich von Team Capricorn in der Mitte des 55. Jahrhunderts getrennt hatte. Durch die Einleitung des unverhofften Erstkontakts zwischen den Decentianern und der Föderation kommt es zu einer grundlegenden zeitlichen Umpolung des Forschungsprojekts von der Vergangenheit auf die Gegenwart. Vor allem für Mnomele und Thelemone sind die Auswirkungen enorm, treffen sie nun doch auf die Zeitreisenden, die bisher nur als Fiktionen in ihren Aufzeichnungen exis­ tierten. Von nun an steht das Forschungsprojekt nicht mehr im Zeichen eines rein historischen Interesses. Die Wiederentdeckung Terras zieht weitreichende politische Folgen nach sich, weil der allumfassende inter­ planetarische Staatenbund, der kein Außen mehr kennt, die Assimilation des Planeten anstrebt. Space With No Time wird unweigerlich zum Aus­ tragungsort für die neuentfachten imperialen Zukunftsbestrebungen der Föderation, die gegen den Willen der Bewohner nun auch den letzten Flecken stabiler Ökologie der ursprünglichen Heimatwelt der Menschheit bedrohen. Bis zum Schluss des vierten Bands, Paradismaskinen, ist die auf zuneh­ menden Widerstand stoßende Assimilation Decentias noch nicht abge­ schlossen. Mnomele und Thelemone geraten aufgrund ihrer Involvierung mit den Zeitreisenden und den Decentianern zwischen die Fronten des Konflikts, weshalb ihnen – ohne dass sie selbst oder der Leser es anfangs mitbekommen – von Lu Barrington, der die Historikerinnen von An­ fang an als Mentor begleitet hat, in Eigenregie die Kontrolle über das Forschungsprojekt im dritten Band entzogen wird. Lu, der Space With 150

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No Time zunächst für die Assimilation Decentias zu instrumentalisieren versucht, und dazu auch vor dem obersten Tabu der Historiker nicht zurückschreckt, den Geschichtsverlauf mithilfe verbotener Methoden zu manipulieren, erlebt den Abschluss des Forschungsprojekts nicht. Nach seinem Tod fallen seine gesammelten Daten in die Hände Mnomeles, die sie und ihre eigenen Aufzeichnungen einem unbeteiligten Decentianer überlässt. Dieser fasst das Material über 20 Jahre später, im Jahr 5449, im Asyl zum letzten Band mit einem ungewissen Ausblick auf die Zukunft Decentias zusammen. Eriksen verkompliziert die Erzählung in Rummet uden tid vor allem dadurch, dass die Inhaltsebene ab der zweiten Hälfte der Tetralogie in die Erzählebene einbricht, wodurch die Verfasser von Space With No Time selbst Teil der Geschichtsschreibung werden. Erzähl­ tes und Erzählung korrelieren in der Romantetralogie insofern auf beson­ dere Weise, als dass die erzählten geschichtlichen Ereignisse konstitutive Bestandteile der Erzählung als Geschichtsschreibung darstellen. Eriksens Bemerkung, Rummet uden tid sei einfach zu lesen, »selvom tiden – hovedpersonen – skaber sig i forhold til både uret og Einstein« (obwohl die Zeit – die Hauptperson – im Verhältnis sowohl zur Uhr als auch zu Einstein eigenen Gesetzen gehorcht) (Eriksen 2017a, »Rejsen i indre og ydre tid«), ist irreführend. Auch wenn der drohende Verlust der Bewohnbarkeit der Erde im Anthropozän eindeutig als das zentra­ le Thema der Tetralogie hervorgeht, erschwert vor allem die komplexe Zeitkonzeption den Zugang zum Text. Tatsächlich lassen sich die auf­ einandertreffenden Zeiträume nicht nur für den Leser von Space With No Time, sondern auch für den Leser von Rummet uden tid nur schwer zu einem Ereignisverlauf synchronisieren, weil die Zeit selbst darin mit unterschiedlicher Geschwindigkeit zu verlaufen scheint. Die Konzeption als Geschichtsschreibung wirft nicht nur die Frage auf, wie sich Geschich­ te im Spannungsfeld zwischen Produktion und Rezeption ereignet, son­ dern auch, von welchem Wirklichkeitsanspruch die Geschichtsdeutung ausgeht. Durch den Erzählrahmen ergibt sich die besondere Selbstreferen­ zialität des Texts, die das Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion problema­ tisiert und Rummet uden tid zu einer Metareflexion »om fortællingen og fortolkningen af historien« (über die Erzählung und die Interpretation der Geschichte) (Richard 2011) macht. Die Authentizität der Geschichts­ schreibung wird nicht nur textintern durch die spezifische Beschaffenheit des Erzählrahmens gesprengt, sondern auch durch intertextuelle und para­

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textuelle Elemente wie Vorworte, Glossar, Personenregister, Zitate und Mottos.3 Wegweisender für eine Annäherung an den Text sind hingegen Eriksens poetologische Überlegungen zur Extrapolation in Science Fic­ tion. In Eriksens Augen muss die Gegenwart in einen Zukunftsentwurf einbezogen werden, damit dieser bedeutungsvoll wird. Autoren, die von ihren gänzlich von der Gegenwart losgelösten Zukünften so sehr einge­ nommen seien, »at det ikke strejfede dem at tænke samtidshistorisk« (dass es ihnen nicht in den Sinn kam, zeitgeschichtlich zu denken) (Eriksen 2017a, »Cyberpunk«), warf sie hingegen vor, nicht relevant zu sein. Umge­ kehrt bedeutet dies aber auch, dass der Zusammenhang zwischen Gegen­ wart und Zukunft verkompliziert wird, weil die Zukunft schon immer zu einem Teil in der Gegenwart enthalten ist. Danach kann die Zukunft auf­ grund der zunehmend undurchsichtigen Verstrickung mit der Gegenwart nicht mehr vollständig vorgefunden, sondern nur noch nach und nach von der Gegenwart aus freigelegt werden. Gleichzeitig schlägt sich die Lückenhaftigkeit dieser sich allmählich sedimentierenden Zukunft in der formalen Gestaltung eines Zukunftsszenarios nieder (Eriksen 2017a, »Cy­ berpunk«). Die fragmentierte Erzählweise von Rummet uden tid ergibt sich also aus der Materialität eines aus Bruchstücken synthetisierten zukünfti­ gen Geschichtsverlaufs. Ein Jahr nach der Veröffentlichung des letzten Bands und in Anlehnung an die Science Fiction-Rezeption der damali­ gen Zeit4 ordnet Eriksen ihre Romantetralogie dementsprechend in eine Reihe »som futuristisk arkæologi« (als futuristische Archäologie) (Eriksen 2017a, »Cyberpunk«) bezeichnete Zukunftsszenarien ein, die maßgeblich durch ihre äußere Beschaffenheit bestimmt werden. Zukunftsarchäologie

Eriksens Forderung, dass es mindestens genauso wichtig ist, wie uns un­ sere mögliche Zukunft aufzuzeigen, uns unsere eigene Gegenwart vor Augen zu führen, rückt Rummet uden tid in die unmittelbare Nähe des

3 Vermutlich war Doris Lessings komplexes Science Fiction-Romanexperiment Re: Colonis­ ed Planet 5, Shikasta eine wichtige Inspiration für Eriksens Tetralogie. 4 Die Bezeichnung ›Archaeology of the Future‹ nennt konkret Ursula Le Guin in ihrem Roman Always Coming Home, auf den Eriksen in ihrem Aufsatz »Cyberpunk« Bezug nimmt (Eriksen 2017a, »Cyberpunk«).

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sich ab den 1970er-Jahren etablierenden literaturtheoretischen Diskurses um Science Fiction. Mit Eriksens Selbstbeschreibung ihrer Tetralogie als Zukunftsarchäologie lässt sich insbesondere an Fredric Jamesons Essay­ sammlung Archaeologies of the Future. The Desire Called Utopia and Other Science Fictions anknüpfen (Jameson 2005). In seinem Aufsatz »Progress versus Utopia, or, Can We Imagine the Future?« argumentiert Jameson, dass Science Fiction als Reflexionsmedium über den Umweg einer fiktiven Zukunftsperspektive Einsichten in die im Entstehen begriffene Gegenwart ermöglicht. Im Einklang mit Eriksens Problematisierung spricht Jameson von einem gewandelten Zukunftsbegriff, der nicht mehr in einem direk­ ten Verhältnis zur Gegenwart steht, sondern sich eher – wie eine Art ›Zu­ kunftsgegenwart‹ – mit dieser überlappt (286). In den Fokus von Science Fiction rückt laut Jameson deswegen nichts Geringeres als »the ultimate object and ground of all human life, History itself« (287). Weil die Gegen­ wart in Jamesons Augen keine historische Orientierung mehr zwischen dem, was davor, und dem, was danach kommt, liefert, ist eine Reflexion der Geschichte erst aus ausreichender zeitlicher Entfernung möglich, wo­ durch die Zukunftsgegenwart in eine Zukunftsvergangenheit verwandelt wird. Die Vorstellung von Science Fiction als Historisierung der Gegenwart lässt sich sehr passend auf Eriksens vielschichtigen Text übertragen, der weit über eine bloße Geschichte der Zukunft hinausgeht. In Rum­ met uden tid wird durch den erzählerischen Rahmen ein zukünftiger archäologischer Horizont aufgespannt, innerhalb dessen die Gegenwart als Vergangenheit verortet und der Geschichtsverlauf aus der Retrospek­ tive erschlossen wird. Durch die Konzeption der Tetralogie als fiktive Geschichtsschreibung, in der die Ereignisse buchstäblich als Geschichte aus der Rückschau erzählt werden, liefert Eriksen ein Musterbeispiel für die Historisierung. Die Funktionalisierung des Erzählrahmens schafft in erster Linie eine umfassende Reflexionsebene für die Zukunft als Katastrophe, in der die Erde als Lebensraum ausgedient hat. Im Kontext des Habitabili­ tätsverlusts der Erde wird in Rummet uden tid das Ende der Geschichte zum Ende der Welt. Das aufschlussreichste Ergebnis des Texts besteht in der Verankerung eines Katastrophenbewusstseins in der Gegenwart. Rum­ met uden tid führt vor Augen, wie befremdlich die Vorstellung von einer Zukunft ist, lange nachdem die Menschheit vom Erdboden verschwunden ist. Nicht nur, weil die Erde der einzige Planet ist, auf dem es heute Men­ schenleben gibt und aller Wahrscheinlichkeit nach jemals geben wird, sondern auch, weil die enorme Zeitspanne, die dafür notwendig ist, un­ 153

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serem gängigen Geschichtsverständnis zuwiderläuft. Immerhin beginnen sich die Umrisse des rasanten Aufstiegs der Spezies Homo sapiens aus geologischer Sicht gerade erst abzuzeichnen. Die Schwierigkeit, sich ein derartiges Szenario vorzustellen, bildet auch den Ausgangspunkt von Dipesh Chakrabartys wegbereitendem Aufsatz »The Climate of History: Four Theses« zur Kollision von Menschheits­ geschichte und Erdgeschichte im Anthropozän (Chakrabarty 2009). In Bezugnahme auf Alan Weismans Sachbuch The World Without Us – in dem der Frage nachgegangen wird, was passieren würde, wenn es die Menschheit plötzlich nicht mehr gäbe – argumentiert Chakrabarty, dass eine solche Zukunft nicht mehr in einen selbstverständlichen historischen Zusammenhang mit der Gegenwart gebracht werden kann. Die globale Erderwärmung – die Chakrabarty in seinem Aufsatz stellvertretend für die drohende Katastrophenzukunft im Anthropozän aufführt – untergräbt un­ ser Geschichtsbewusstsein und sprengt unseren gewohnten Zeithorizont. Weismans Gedankenexperiment demonstriere, how the current crisis can precipitate a sense of the present that disconnects the future from the past by putting such a future beyond the grasp of historical sensibility. The discipline of history exists on the assumption that our past, present, and future are connected by a certain continuity of human experience. We normally envisage the future with the help of the same faculty that allows us to picture the past. Weisman’s thought experiment illustrates the historicist paradox that inhabits contemporary moods of anxiety and concern about the finitude of humanity. To go along with Weisman’s experiment, we have to insert ourselves into a future »without us« in order to be able to visualize it. Thus, our usual historical practices for visualizing times, past and future, times inaccessible to us personally – the exercise of historical understanding – are thrown into a deep contradiction and confusion. Weisman’s experiment indi­ cates how such confusion follows from our contemporary sense of the present insofar as that present gives rise to concerns about our future. Our historical sense of the present, in Weisman’s version, has thus become deeply destructive of our general sense of history. (197–198)

Die Erde ohne uns – eine Vorstellung, die sich wie eine Zeitreise in die Zukunft liest –, trägt also wesentlich zur Überschaubarkeit des Anthropo­ zäns bei, das in geologischen Zeiträumen gedacht werden muss. Der Ver­ such, sich das ganze Ausmaß des anthropogenen Einflusses auszumalen – das vor dem Hintergrund einer globalen Katastrophe im Extremfall das Ende der Menschheitsgeschichte impliziert – verweist darüber hinaus auf die Herausforderung, überhaupt in der Größenordnung der gesamten Menschheit denken zu können. Chakrabarty nimmt hier bereits das größ­

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te Problem vorweg, das das Konzept des Anthropozäns mit sich bringt: Dass das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Zeitskalen, die die Ausein­ andersetzung mit Phänomenen wie dem anthropogenen Klimawandel kennzeichnet, von Natur aus zu einer historischen Verfremdung führt: The discussion about the crisis of climate change can thus produce affect and knowledge about collective human pasts and futures that work at the limits of historical understanding. We experience specific effects of the crisis but not the whole phenomenon. […] Yet climate change poses for us a question of a human collectivity, an us, pointing to a figure of the universal that escapes our capacity to experience the world. It is more like a universal that arises from a shared sense of a catastrophe. (221–222)

Die sich durch diese Historisierung ergebende fiktionale Retrospektive generiert ihr Reflexionspotenzial, indem sie die Gegenwart als denjenigen Moment im geschichtlichen Verlauf identifiziert, aus dem die geschilder­ ten Zukünfte hervorgehen werden. Sie zeigt, dass die unüberschaubare Geschichte nicht einfach linear erzählt werden kann, sondern einen neu­ en Bezugsrahmen verlangt. Sich dem Anthropozän durch seine spezifische Zeitlichkeit zu nähern, bedeutet – wie Eva Horn und Hannes Bergthaller in ihrer Einführung zum Anthropozän argumentieren –, bestehende und bevorstehende Verwerfungen in den Blick zu nehmen und – ganz im Sin­ ne der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs der Epoche als »Ausharren im Ungewissen« (Horn und Bergthaller 2020, 22) – die sich dabei abzeich­ nenden Brüche und Umbrüche »in unserem gegenwärtigen Welt- und Selbstverständnis als solche sichtbar zu machen – nicht: sie aufzulösen« (23). Der Versuch, die Zukunft in Relation zu ihrem Ausgangspunkt zu stellen, indem die Gegenwart historisiert wird, ist – wie das eingangs er­ wähnte Beispiel außerirdischer Archäologen zeigt – nicht nur zur etablier­ ten Strategie von Zukunftsszenarien geworden, in denen die »Geologie des Anthropozäns zur Katastrophengeschichte der Erde« (212) wird. Viel­ mehr ist die Perspektivenverschiebung ein Kernbestandteil zahlreicher Science Fiction-Erzählungen, deren Zukunftsszenarien die Ausformung der neuen erdgeschichtlichen Epoche bereits in der Gegenwart extrapolie­ ren. Ursula Heise hat in ihrem Aufsatz »Science Fiction and the Time Scales of the Anthropocene« auf wesentliche Erzählstrategien und Zeitkonzep­ tionen aufmerksam gemacht, mit denen Science Fiction den durch die Kollision der Erdgeschichte mit der Menschheitsgeschichte entstehenden Ungleichzeitigkeiten bei der Auseinandersetzung mit dem Anthropozän

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begegnet (Heise 2019). Im Fokus steht dabei die Differenz zwischen Er­ zählzeit und erzählter Zeit, die durch die Darstellung einer gemeinsamen Geschichte der menschlichen Zivilisation und planetarischer Vorgänge aufs Äußerste strapaziert wird (283). Um die Zeitskalen des Anthropozäns erzählbar zu machen, behilft sich Science Fiction laut Heise vor allem da­ mit, lineare Zeitstrukturen aufzubrechen und diese in fragmentierter oder parallel verlaufender Form wiederzugeben. Durch den Rückgriff auf Zeit­ reisen, Zeitsprünge, aufeinanderfolgende Protagonisten, Speziesnarrative, Zeitkollagen und Palimpseste verfügt Science Fiction über ein wirkungs­ volles Repertoire, das die geologische Tiefenzeitlichkeit des Anthropozäns mit dem menschlichen Zeithorizont vereinbar macht. Insbesondere den durch die fiktive Zukunftsperspektive als Retrospektive hergestellten Zu­ sammenhang aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verortet Heise nicht nur an der Wurzel von Science Fiction-Erzählungen in der neuen Epoche, sondern gleichzeitig als grundlegende Voraussetzung für die Her­ stellung eines überschaubaren historischen Zusammenhangs: Indeed, the themes, tropes, and strategies of science fiction have increasingly migrated into mainstream fiction and into environmental nonfiction in recent years, and in a certain sense, the Anthropocene idea itself relies on a science fiction conceit by inviting us to look at our present through the eyes of a future geologist studying the Earth’s strata millions of years hence. This anterior future, now standard in narratives about the future of the planet, has always been the purview of science fiction as a genre. (301)

Mehrere der Strategien, die Heise in ihrem Aufsatz aufführt, lassen sich direkt auf die Erzählstruktur und die Zeitkonzeption von Rummet uden tid übertragen. Der archäologische Horizont, den Eriksen in ihrem Text über die zukünftige Geschichte der Erde aufspannt, besitzt zwar nicht so ein gigantisches Ausmaß, wie es in den jüngsten geologischen Gedanken­ experimenten der Fall ist. Er reicht aber aus, um die geologische Tiefenge­ schichte mit dem Verschwinden der menschlichen Zivilisation in einen fundamentalen Zusammenhang zu bringen. Eriksen liefert mit ihrem Zu­ kunftsszenario nicht nur ein frühes Beispiel für eine Zukunftsarchäologie, die – auch wenn sie zunächst im Kontext der gesellschaftspolitischen Debatte um Science Fiction entsteht – doch klar auf den zunehmenden anthropogenen Einfluss Bezug nimmt, der verstärkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins öffentliche Bewusstsein tritt. Was Eriksen durch die Konzeption von Rummet uden tid als Zukunftsarchäologie in erster Linie verfolgt, ist die Erschließung des folgenreichen Zusammenfalls von Menschheitsgeschichte und Erdgeschichte in der neuen Epoche, um zu

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zeigen, dass sich beide nicht mehr unabhängig voneinander denken las­ sen. Darüber hinaus unterstreicht gerade die verhältnismäßig nahe Zu­ kunft der Romantetralogie, dass die darin entworfene Katastrophe – die für lange Zeit von den Terranern unterschätzt wird –, wenn sie einmal eingetreten ist, unumkehrbar und unaufhaltsam über den Planeten her­ einbrechen wird. Dass der Versuch, das Aufeinandertreffen der Entwicklungen der menschlichen Zivilisation und der Veränderungen im Erdsystem erzähl­ bar zu machen, untrennbar mit dem Erzählrahmen durch die fiktive Ge­ schichtsschreibung verbunden ist, geht aus dem einleitenden Vorwort von Mnomele und Thelemone hervor. Darin heißt es, dass Team Capricorn mit der Rekonstruktion der in Vergessenheit geratenen Vergangenheit Terras durch Space With No Time nicht bloß versucht, eine Lücke in der gemeinsamen Geschichte der Föderation zu schließen, sondern uni­ versal gültige Erkenntnisse über die Dynamik der Menschheitsgeschichte vor dem Hintergrund des ökologischen Kollapses des Planeten zu gewin­ nen. Aus diesem Grund erklären Mnomele und Thelemone die bisher in der Föderation geltende strikte Trennung zwischen der Beschäftigung mit der Vergangenheit einerseits und der Beschäftigung mit der Zukunft andererseits für überwunden: Det er ikke længe siden Federationens historikere udviklede de forsknings­ metoder Team Capricorn benytter i sit projekt. Før det skete, havde historikerne og Explorerflådens udforskere ment, at deres arbejde adskilte dem i tid og at der bestod afgørende forskelle mellem dem: udforskerne i Explorerflåden opsøgte nye muligheder, hvor historikerne beskæftigede sig med spildte muligheder. Men for-tid og front-tid er ikke adskilt, menneskers smerte samler tiderne til TID, vi er støvkorn i vinde uden navn og vi navngir dem med vores skrøbelige aktiviteter. Team Capricorns projekt er koncentreret om brudflader i det historiske rum og vi har som så mange andre spurgt os selv og hinanden: skal en kultur måles på sit højeste eller sin begyndelse? Eller måske på sit forfald? I princippet kan der ikke skelnes, som man gjorde dengang tænkning og videnskab var bundet til begreber som årsag og virkning, i princippet findes begyndelse, højdepunkt og forfald i alle mennesker og alle tider. (I, 7) (Es ist nicht lange her, seitdem die Historiker der Föderation die Forschungs­ methoden entwickelten, die Team Capricorn in seinem Projekt verwendet. Bevor dies geschah, hatten die Historiker und die Erforscher der Explorerflotte gedacht, dass ihre Arbeit sie in der Zeit trennte und dass entscheidende Unter­ schiede zwischen ihnen bestanden: Die Erforscher in der Explorerflotte suchten nach neuen Möglichkeiten, während sich die Historiker mit vertanen Möglich­ keiten beschäftigten. Aber Vor-Zeit und Front-Zeit sind nicht getrennt, der

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5 Klimakatastrophen im Anthropozän Schmerz der Menschen fügt die Zeiten zur ZEIT zusammen, wir sind Staubkör­ ner in Winden ohne Namen und wir benennen sie mit unseren zerbrechlichen Aktivitäten. Team Capricorns Projekt konzentriert sich auf Bruchflächen im historischen Raum, und wir haben, wie so viele andere, uns selbst und einander gefragt: Soll eine Kultur an ihrem Höhepunkt oder ihrem Beginn gemessen werden? Oder vielleicht an ihrem Verfall? Im Prinzip kann dabei nicht unterschieden werden, wie man es tat, als Denken und Wissenschaft an Begriffe wie Ursache und Wirkung gebunden waren, im Prinzip gibt es Beginn, Höhepunkt und Verfall in allen Menschen und zu allen Zeiten.)

Die Notwendigkeit einer Auffaltung historischer Bruchflächen zu einem Reflexionsraum ergibt sich aus der Geschichtslosigkeit von Team Capri­ corns Gegenwart, die von einem zukunftsgerichteten Fortschrittsdrang beherrscht wird und sich mit hoher Geschwindigkeit von ihrem Aus­ gangspunkt wegbewegt. Während die Föderation ihre Bestimmung in den unendlichen Weiten des Weltraums sieht, soll der Vergangenheit durch die Geschichtsrekonstruktion neues Leben eingehaucht werden, um daraus Handlungsanweisungen für »de kommende store beslutninger i vores nu-tid« (die kommenden großen Beschlüsse in unserer Jetzt-Zeit) (I, 7) abzuleiten. Einerseits sollen aus der Aufarbeitung historischer Um­ brüche zeitlose Einsichten in das von Leid geprägte und mit seiner eigenen Vergänglichkeit konfrontierte menschliche Dasein gewonnen werden. An­ dererseits verweist das titelgebende, raumzeitliche Paradoxon – obwohl es im Verlauf von Rummet uden tid tatsächlich zu einer physikalischen Ano­ malie kommt, die die Frage aufwirft, »hvordan Einstein havde haft uret« (wie sich Einstein geirrt hatte) (I, 221), – gerade auf Ereignisse, die im Dunkeln der Geschichte verschwinden. So meint der zeitlose Raum, der besser als geschichtsloser Raum bezeichnet wird, einen in die Vergessenheit versunkenen Geschichtsraum. Unter anderem wird der ›Raum ohne Zeit‹, dem das Forschungsprojekt seinen Namen verdankt, zum Ausdruck für den in der Föderation irrelevant gewordenen, ehemaligen gemeinsamen Heimatplaneten Terra. Vor allem soll der Rückblick die Ambivalenz des technowissenschaftli­ chen Fortschritts aufzeigen, der trotz gescheiterter Besiedelungsversuche neuer Planeten mit katastrophischen Folgen für die Bewohner unhin­ terfragt bleibt. Als das einschneidendste Ereignis in der Menschheitsge­ schichte demonstriert der Untergang Terras eindrücklich, wie der anthro­ pogene Einfluss zur ökologischen Destabilisierung und zum Entzug der eigenen Überlebensgrundlage führen kann. Entgegen der scheinbar gren­ zenlosen Möglichkeiten der hochentwickelten Astrokultur, die neben den 158

Zukunftsarchäologie

Sternen sogar nach der eigenen Unsterblichkeit greift, verweisen Mnome­ le und Thelemone vorausschauend auf die Relativität der Vormachtstel­ lung des Menschen im Weltraum und stellen den föderativen Zukunftsbe­ strebungen von Anfang an ein Bewusstsein für ein unausweichliches Ende der menschlichen Existenz gegenüber: »Hvad vi måske også kan minde om er, at vi magter meget uden dog at beherske universet og at vi med den teknologi vi råder over endnu ikke – måske aldrig – kan bringe en mulig entropi eller varmedød under kontrol, at vi kort sagt er forgængeli­ ge og derfor må være overbærende« (An was wir vielleicht auch erinnern können ist, dass zwar viel in unserer Macht liegt, wir das Universum aber nicht zu beherrschen vermögen, und dass wir mit der Technologie, die uns zur Verfügung steht, immer noch nicht – vielleicht nie – eine mögli­ che Entropie oder einen Wärmetod unter Kontrolle bringen können, dass wir, kurz gesagt, vergänglich sind und daher nachsichtig sein müssen) (I, 7–8). Aus dem Rückgriff auf den Entropiebegriff, der das theoretische Modell eines thermodynamischen Gleichgewichts als finaler Zustand im Univer­ sum aufruft und im Glossar des ersten Bands metaphorisch als »metafysisk ord for kosmisk selvødelæggelse« (metaphysisches Wort für kosmische Selbstzerstörung) (I, 359) aufgeführt wird, wird ein Gleichnis für das den menschlichen Aktivitäten innewohnende Potenzial zur Selbstvernichtung. Nicht nur geht aus Mnomele und Thelemones Vorwort hervor, dass das Wissen um die Menschheitsgeschichte untrennbar mit einem neuartigen Katastrophenbewusstsein über den Menschen als planetarische Kraft ver­ bunden ist. Sie betonen dabei auch die Bedeutung der Geschichtsschrei­ bung als notwendiges Bindeglied, um Aussagen über die Menschheit als Spezies – und damit in einem Zeitraum, der die individuelle Lebensspan­ ne deutlich übersteigt – treffen zu können. Im Vorwort zum zweiten Band wiederholen die Zwillinge den Stellenwert eines kollektiven Geschichts­ bewusstseins als die Voraussetzung für eine Vergegenwärtigung eines ge­ meinsamen Schicksals und der Verortung des Menschen innerhalb der Tiefengeschichte seiner Lebenswelt: Sie appellieren, »at vi […] må bevare og styrke den forestillingsevne uden hvilken universet ophører at eksistere som en fælles virkelighed« (dass wir […] die Vorstellungskraft bewahren und stärken müssen, ohne die das Universum nicht mehr als gemeinsame Realität existiert) (Eriksen 1985 = II, 13).

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5 Klimakatastrophen im Anthropozän Globale Erwärmung

Viele Szenarien sind denkbar, in denen der Mensch in der Zukunft von seinem angestammten Platz im Universum verschwindet. Am wahrschein­ lichsten ist, dass er seinen eigenen Untergang selbst verantwortet, weil ihm die Einsicht und die Kontrolle über die Folgen seines Handelns ent­ gleiten. In dem Diskurs um das Konzept des Anthropozäns ist deswegen wiederholt der Vergleich des Menschen mit einer blinden Naturgewalt ge­ zogen worden, um dem Ausmaß des anthropogenen Einflusses innerhalb des planetarischen Gefüges der Erde Rechnung zu tragen: Human activities have become so pervasive and profound that they rival the great forces of Nature and are pushing the Earth into planetary terra incognita. The Earth is rapidly moving into a less biologically diverse, less forested, much warmer, and probably wetter and stormier state. The phenomenon of global change represents a profound shift in the relation­ ship between humans and the rest of nature. (Steffen et al. 2007, 614)

Umso deutlicher sich die Spuren menschlicher Aktivitäten auf der Erde auch abzeichnen, bleibt die Wahrscheinlichkeit einer damit einhergehen­ den Katastrophenzukunft in der neuen Epoche doch oftmals unterschätzt. Die Ambivalenz des anthropogenen Einflusses trägt selbst entscheidend zu einer Fehleinschätzung bei, weil – wie Eva Horn und Hannes Bergthal­ ler betonen – oft aus der »Handlungsmacht als Nebeneffekt eine nicht-in­ tendierte Wirkmacht entsteht« (Horn und Bergthaller 2020, 222). Das beste Beispiel für eine solche unbeabsichtigte und dennoch nicht zu ignorierende Nebenwirkung menschlicher Aktivitäten im Erdsystem ist der anthropogene Klimawandel. Der Klimawandel auf der Erde stellt ein Hauptmerkmal des globalen Wandels dar und befindet sich in Wech­ selwirkung mit anderen Transformationsfaktoren des Erdsystems. Entge­ gen der natürlichen Dynamik des Klimasystems handelt es sich beim anthropogenen Klimawandel seit der vergangenen Jahrhundertmitte um eine ungewöhnlich starke und schnelle Zustandsänderung. Der anthropo­ gene Einfluss auf das Erdklima wirkt sich in erster Linie auf die Energiebi­ lanz unseres Planeten aus, weil er zu einer veränderten Zusammensetzung der Atmosphäre infolge der Emission von Gasen und Aerosolen sowie eines veränderten Strahlungsantriebs der Erde infolge der Absorption und Reflexion von Sonnenlicht führt. Die größte Gefahr des anthropogenen Klimawandels für die Habitabilität unseres Planeten wird in der Erwär­ mung der Erdoberfläche und der daraus resultierenden Destabilisierung der globalen Ökologie gesehen. Der weltweite Temperaturanstieg zieht

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Globale Erwärmung

schon heute schwerwiegende Konsequenzen nach sich, auch wenn die­ se nicht immer direkt, noch nicht vollständig und noch nicht für alle Menschen gleichermaßen spürbar sind. Selbst wenn zeitnah ausreichend Maßnahmen zur Abschwächung ergriffen würden, wird die Erwärmung aufgrund der Langzeitfolgen klimatischer Prozesse für Jahrhunderte an­ halten (Solomon et. al. 2007, 16). Die Gefahr eines ökologischen Kollapses durch einen anthropogenen Klimawandel besteht auch darin, dass er nicht rechtzeitig als existenzielles Risiko erkannt wird. Die Latenz der Klimakatastrophe entsteht durch eine fehlende direkte Kausalität von Ursache und Wirkung, die sie von anderen Szenarien im Anthropozän – wie beispielsweise einem nuklearen Holocaust – entschieden abhebt. Während der Weltuntergang im Nukle­ arkrieg aufgrund der sinkenden Wahrscheinlichkeit einer globalen mili­ tärischen Auseinandersetzung von anderen Bedrohungsszenarien in der Katastrophenimagination im Laufe des 20. Jahrhunderts abgelöst worden ist, besteht die von globalen klimatischen Risiken ausgehende Gefahr weiterhin. Doch obwohl das Ergebnis des Weltuntergangsszenarios des Kalten Kriegs und der Klimakatastrophe insofern vergleichbar ist, als dass beide die Stabilität der globalen Ökologie und den Fortbestand der biolo­ gischen Artenvielfalt bedrohen, lässt sich letztere nicht mehr eindeutig an konkreten Ereignissen festmachen. Die durch den anthropogenen Kli­ mawandel hervorgerufene globale Erderwärmung setzt ein neues Katastro­ phenbewusstsein voraus, das den nur schwer überschaubaren Zeitraum der Veränderungen in eine nachvollziehbare Form bringt. Der verstärkten Tendenz sowohl in fiktionalen als auch in nichtfiktionalen Zukunftssze­ narien, die, ausgehend von den klimaökologischen Prognosen zur Erder­ wärmung, globale Katastrophenzukünfte entwerfen, wird deswegen im gleichen Moment die Kritik gegenübergestellt, ob die räumlichen und zeitlichen Dimensionen mit gängigen Erzählstrategien vereinbar sind. Timothy Clark hat in seinem Buch Ecocriticism on the Edge. The Anthro­ pocene as a Threshold Concept darauf hingewiesen, dass die Dringlichkeit, sich mit der besorgniserregenden Aussicht von Klimakatastrophen ausein­ anderzusetzen, in scharfem Kontrast zu den Herausforderungen für die literarische Darstellung steht: [T]he twenty­first century has seen an increased awareness of forms of environ­ mental destruction that cannot immediately be seen, localized or, by some, even acknowledged. Phenomena such as ocean acidification, climate change, the general effects of incremental forms of ecological degradation across the planet, global overpopulation and resource depletion do not present any obvi­

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5 Klimakatastrophen im Anthropozän ous or perceptible target for concern or protest at any one place, or often any immediate antagonist perceptible at the normal human scale. The largely benumbed recognition of this reality has become one feature of life in the so-called Anthropocene, to use the currently still informal term for the epoch at which largely unplanned human impacts on the planet’s basic ecological systems have passed a dangerous, if imponderable, threshold. One major new effort at work in contemporary literary and artistic practice and criticism is to find some way of usefully or authentically engaging such crucial but elusive concerns, precisely when it is acknowledged that they resist representation at the kinds of scale on which most thinking, culture, art and politics operate. (Clark 2015, x)

Der Klimawandel lässt sich – mit Clarks Vorstellung des Anthropozäns als Schwellenkonzept und Skaleneffekt – als paradigmatisch für das Auf­ einandertreffen inkompatibler Skalen in der neuen erdgeschichtlichen Epoche verstehen, weil dessen Größenordnung nicht mit dem begrenzten Zeit- und Raumhorizont der menschlichen Lebensspanne vereinbar ist. Auch Hannes Bergthaller zieht in seinem Aufsatz »Climate Change and Un-Narratability« aus seiner Problematisierung der literarischen Dar­ stellung des Klimawandels die Konsequenz, dass sich narrative Ausdrucks­ formen dem Problem einer inhärenten Unerzählbarkeit stellen müssen (Bergthaller 2017). Bergthaller beginnt mit der Behauptung, dass der Kli­ mawandel von sich aus über keine narrativen Eigenschaften verfügt, die ihn zu einem in sich geschlossenen Ereignisablauf machen (1). Denn als Geschichte lassen sich Klimaveränderungen erst lesen, wenn sie in einen Sinnzusammenhang mit Anfang und Ende gebracht werden, den sie von sich aus nicht besitzen. Die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel ist deswegen zutiefst an eine Sinnzuschreibung aus einer menschlichen Perspektive gebunden, die der Gleichgültigkeit der natürlichen nicht­ menschlichen Welt grundsätzlich gegenübersteht (3). Bergthaller betont ausdrücklich, dass er mit der von ihm diagnostizierten Unerzählbarkeit nicht Klimamodelle in Zweifel zieht, die datenbasiert die Entwicklung klimatischer Veränderungen nachvollziehbar machen. Sein Hauptaugen­ merk liegt vielmehr darauf, that natural processes do not present themselves in the form of a narrative, but as an open-ended, unbroken series of occurrences. This need not imply that there are no beginnings and endings in the natural world before it is narra­ tivized […], but it does mean that such beginnings and endings as there are do not compel us to choose among them in any particular way […]. To configure a set of events into a narrative is to endow them with a meaning that they do not possess as long as they are merely considered as a temporal sequence. It is not that the world is somehow amorphous or featureless, yielding to whatever

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Globale Erwärmung order human symbol-making would impose on it; rather, it contains a surfeit of features, but lacks inherently binding criteria of relevance. The production of narrative meaning is a way of reducing this overwhelming complexity and of making it manageable. […] In order to turn such a temporal sequence into a fully­fledged narrative, how­ ever, the selection of a discrete beginning and a definite endpoint is not quite enough – it must also be indicated how the ending stands in a meaningful relationship to the beginning, how the story’s conclusion was in a sense already implicit in the situation with which it opened. (6)

Im Gegensatz zu Clark, für den eine Auseinandersetzung mit dem An­ thropozän bisher größtenteils noch an unserem unzureichenden Vorstel­ lungsvermögen scheitert, macht für Bergthaller die alternativlose anthro­ pozentrische Perspektive Erzählungen über den Klimawandel nicht obso­ let, auch wenn damit notgedrungen eine Reduktion dessen Komplexität einhergeht (7). Für ihn verlieren die kontinuierlichen Versuche, narrative Ausdrucksformen zu finden, durch die damit verbundenen Herausforde­ rung deswegen nicht ihre Daseinsberechtigung. Auch Eriksens Zukunftsszenario, in dem die Geschichte der terrani­ schen Zivilisation mit der Geschichte des Klimawandels zusammenfällt, kann als Versuch gelesen werden, die globalen Transformationsprozesse erzählbar zu machen. Der umfassende Erzählrahmen durch Team Capri­ corns Space With No Time schafft eine Möglichkeit, um die planetarischen und tiefenzeitlichen Dimensionen klimatischer Veränderungen und ihre Konsequenzen nachvollziehbar zu machen. Durch die fiktive Geschichts­ schreibung wird der Klimawandel auf der Erde in eine Erzählung einge­ bettet, die – indem sie die Ursachen und die Folgen aufeinander bezieht – ein klares Bild von der durch den Menschen verschuldeten Katastrophe ergibt. Dass Eriksen mit ihrer Tetralogie jedoch nicht den Anspruch er­ hebt, die sich abzuzeichnen beginnende Katastrophenzukunft vollständig im Detail abzubilden, schließt die Komposition des Texts als Zukunftsar­ chäologie von vornherein aus. Vielmehr wird in Rummet uden tid eine Re­ aktion auf die überwältigende Komplexität des Klimawandels formuliert, infolge derer erst aus der Rückschau ersichtlich wird, wie sehr der Mensch in das Erdsystem verstrickt ist und wie gewaltig die Einwirkung des Men­ schen auf das Klima und damit die Ökologie der Erde ist. Es überrascht deswegen nicht, dass die eigentliche Schilderung der Klimakatastrophe auf Terra im Forschungsprojekt von Team Capricorn nur einen Bruchteil einnimmt, während der Großteil den unmittelbaren Auswirkungen für die Terraner gewidmet ist.

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5 Klimakatastrophen im Anthropozän

Dieses Ungleichgewicht lässt sich als ein Ausdruck für die Dispropor­ tionalität zwischen den Ursachen und Folgen des anthropogenen Einflus­ ses im Anthropozän – zwischen bewusster Handlungsmacht und unbe­ wusster Wirkmacht – interpretieren. Der Anfang der globalen Verände­ rungen des Klimasystems auf Terra datiert weit vor den eigentlichen Untersuchungszeitraum von Space With No Time im 47. Jahrhundert. Wie es überhaupt zur Aufgabe Terras kommen konnte, fassen Mnomele und Thelemone im Vorwort des ersten Bands in einem aus ihrer Sicht prähistorischen Überblick zusammen. In erster Linie führen sie den Habi­ tabilitätsverlust des Planeten auf einen lange im Entstehen begriffenen an­ thropogenen Klimawandel zurück. Obwohl die gravierende Verschlechte­ rung der Bewohnbarkeit Terras lediglich im Zeitraffer wiedergeben wird, geht daraus eindrucksvoll die nachhaltige ökologische Destabilisierung des Lebensraums hervor. Konkret identifizieren die Historikerinnen zwei als Treibhauseffekte bezeichnete Phasen menschengemachter, globaler kli­ matischer Veränderungen, die in einem Zeitraum von knapp 2.700 Jah­ ren aufeinanderfolgen und die Bewohnbarkeit des Planeten letztendlich zunichtemachen. Den ersten Treibhauseffekt verorten sie in der für sie un­ vollständigen Vorgeschichte Terras im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die Erklärung für die klimatischen Veränderungen geschieht zunächst unter Vorbehalt, weil diese mit einem Richtungswechsel der Erdrotationsachse zusammenfallen: Hen mod slutningen af det 20. århundrede var der tegn på, at Terras akse ville begynde at tippe, som den gør med cirka 25.000 års mellemrum. Samtidig var den økologiske balance alvorligt forstyrret. Hvad der skyldtes aksens ændre­ de hældning og hvad der skyldtes civilisationens forstyrrelser af økologien er endnu ikke afklaret, en [...] rapport beskriver kun resultaterne af den kosmiske og menneskelige aktivitet. Under alle omstændigheder kom Terra ind i det 21. århundrede under en tørkens økologi, som medførte ubeskrivelige omkost­ ninger for alt organisk liv på kloden og som tvang terranerne til at lægge deres industrier grundlæggende om. Befolkningstallet blev drastisk reduceret både af en storkrig og af langvarige hungerperioder; men opdagelserne på samme tid af de første beboelige planeter uden for solsystemet gav terranerne håb om at kunne overleve under de nye livsbetingelser. (I, 8) (Gegen Ende des 20. Jahrhunderts gab es Anzeichen dafür, dass Terras Achse zu kippen beginnen würde, wie dies in einem Abstand von etwa 25.000 Jahren der Fall ist. Zum gleichen Zeitpunkt war das ökologische Gleichgewicht ernsthaft gestört. Was der veränderten Neigung der Achse und was der Störung der Ökologie durch die Zivilisation geschuldet war, ist noch nicht geklärt, ein […] Bericht beschreibt nur die Resultate der kosmischen und menschlichen Aktivität. Unter den Bedingungen kam Terra im 21. Jahrhundert in eine Dürreökologie,

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Globale Erwärmung die dem gesamten organischen Leben auf dem Planeten Unbeschreibliches abverlangte und die Terraner dazu zwang, ihre Industrien grundlegend zu verändern. Die Bevölkerung wurde sowohl durch einen Weltkrieg als auch durch langwährende Hungerperioden drastisch reduziert; aber die Entdeckun­ gen der ersten bewohnbaren Planeten außerhalb des Sonnensystems gaben den Terranern die Hoffnung, unter den neuen Lebensbedingungen überleben zu können.)

Tatsächlich ändert die Rotationsachse der Erde in einem Zeitraum zwi­ schen 19.000 und 23.000 Jahren graduell ihre Richtung. Zusammen mit weiteren zyklischen Variationen der Erdachse und der Erdumlaufbahn hat diese sogenannte Präzessionsperiode Auswirkungen auf Warm- und Kaltzeiten. Aus klimatologischer Sicht lässt sich mit den sogenannten Mi­ lanković-Zyklen beschreiben, wie die Erdbewegungen die Intensität der Sonneneinstrahlung und damit die Energiebilanz des Planeten verändern und natürliche Klimaschwankungen über sehr lange Zeiträume zwischen 10.000 und 100.000 Jahren verursachen (Solomon et al. 2007, 56). Anhand der Zyklen lässt sich einerseits die Begünstigung der Lebensbedingungen seit der letzten Eiszeit vor ca. 12.000 Jahren erklären. Andererseits dienen sie als wesentliches Abgrenzungskriterium für den Zustand des Erdsys­ tems im Holozän: »The Anthropocene represents the beginning of a very rapid human-driven trajectory of the Earth System away from the glacial– interglacial limit cycle toward new, hotter climatic conditions and a pro­ foundly different biosphere« (Steffen et al. 2018, 8253). In Rummet uden tid hat der Richtungswechsel der Erdrotationsachse deswegen nichts mit dem ersten Treibhauseffekt auf Terra zu tun. Die auf dem Planeten inner­ halb kürzester Zeit sprunghaft auftretenden und gravierenden Verände­ rungen gegenüber den zuvor herrschenden, langwährenden und stabilen Klimaverhältnissen lassen sich nicht anhand der natürlichen Variabilität durch den Zyklus der Präzession, sondern nur anhand des anthropogenen Einflusses erklären. Zu diesem Schluss kommen auch Mnomele und Thelemone und be­ gründen den abrupten Klimawechsel mit dem mit der industriellen ter­ ranischen Zivilisation einhergehenden rasanten Kohlenstoffdioxidanstieg in der Atmosphäre. Dass die Terraner trotz ihres spürbaren Einflusses auf ihren Heimatplaneten nicht rechtzeitig auf die Verschlechterung der Lebensbedingungen reagiert haben, bewerten die Historikerinnen als »et overmod, der førte til at terranerne fortrængte deres bitre for-tid og igen kastede sig ud i en ukontrollerbar manipulation af den økologi, de hen mod midten af det 21. århundrede mente at forstå« (einen Hochmut, der

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5 Klimakatastrophen im Anthropozän

die Terraner dazu brachte, ihre bittere Vor-Zeit zu verdrängen und sich erneut in eine unkontrollierbare Manipulation der Ökologie zu stürzen, die sie gegen Mitte des 21. Jahrhunderts glaubten zu verstehen) (I, 9). Der Energieverbrauch, der große Mengen von Jahrmillionen lang gebun­ denem Kohlenstoffdioxid in Rekordzeit freisetzt, wird den Terranern im 21. Jahrhundert zum Verhängnis. Der erste Treibhauseffekt ist die Folge einer »overproduktion af kuldioxyd, som begyndte allerede i det 19. år­ hundredes primitive industrisamfund og som de hårdt trængte overgangs­ generationer i det 21. århundrede ikke havde overskud til at styre i deres bestræbelse på at overleve« (Überproduktion von Kohlenstoffdioxid, die bereits in der primitiven Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts begann und für die die stark überforderten Übergangsgenerationen des 21. Jahr­ hunderts während ihrer Bestrebungen zu überleben nicht die Gelegenheit hatten, sie aufzuhalten) (I, 9). Eriksen basiert ihre Schilderung des Klimawandels offenbar zumindest im Wesentlichen auf den Erkenntnissen der sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierenden Erdsystemwissenschaft. Zum Entstehungs­ zeitraum von Rummet uden tid hat sich das Konzept einer geologischen Epoche menschlicher Prägung bereits zu großen Teilen ausgeformt. Es sind mehrere Vorläufer des Konzepts des Anthropozäns in seiner heutigen Bedeutung im Umlauf, die den Übergang in ein neues Erdzeitalter an den Übergang des Menschen von einem biologischen Faktor zu einem geolo­ gischen innerhalb des Erdsystems knüpfen (Trischler 2016). Gemäß der Erdsystemwissenschaft stellt Eriksen in ihrem Zukunftsszenario einen we­ sentlichen Zusammenhang zwischen menschlichen Aktivitäten und den natürlichen planetarischen Kreisläufen auf der Erde her. Mit dem Begriff des Treibhauseffekts bezieht sie sich unmissverständlich auf die verstärkte globale Erderwärmung, die sich seit der Mitte des vergangenen Jahrhun­ derts beobachten und nicht mit natürlichen Faktoren erklären lässt. Der Treibhauseffekt beschreibt den Anstieg der Durchschnittstemperatur auf einem Planeten und entsteht durch Treibhausgase in der Atmosphäre, die dafür sorgen, dass von der Sonne eintreffende Sonnenstrahlung nach der Umwandlung in Wärmestrahlung der Erdatmosphäre schlechter ent­ weichen kann. Während der natürliche Treibhauseffekt grundsätzlich eine Voraussetzung für Leben auf der Erde bildet, führt ein ungebremster Temperaturanstieg im Extremfall zum Gegenteil. Die Ursachen für den Temperaturanstieg im Anthropozän werden in erster Linie der Treibhausgasemission von Kohlenstoffdioxid durch die Verwendung fossiler Brennstoffe zugeordnet, die mit der energieintensi­ 166

Globale Erwärmung

ven Lebensweise der Industriellen Revolution in der Mitte des 18. Jahr­ hunderts beginnt und seit der Great Acceleration in der Mitte des 20. Jahr­ hunderts ein globales Maximum erreicht. Zukünftige Prognosen über die Erderwärmung werden allerdings durch die Tatsache erschwert, dass es sich bei Klimaveränderungen nicht um lineare Entwicklungen handelt. Wann kritische Schwellen im Klimasystem übertreten sind, an denen das gesamte Erdsystem aus dem dynamischen Gleichgewicht zu fallen droht, lässt sich nur annähernd bestimmen. Einigkeit besteht jedoch darin, dass abzusehende Grenzübertretungen durch die Entwicklungen im schlimmsten Fall einen abrupten Richtungswechsel im Erdsystem her­ vorrufen können. Der anthropogene Treibhauseffekt gilt deswegen als Hauptbestandteil des derzeit beobachtbaren eskalierenden Klimawandels, der nach Überschreitung eines Umschlagpunkts den bisherigen Zustand relativer Stabilität gefährdet und sich in seiner Extremform zu einem sogenannten Hothouse Earth, einem Treibhaus Erde, steigern kann (Stef­ fen et. al. 2018). In der Zukunft von Rummet uden tid scheint diese kri­ tische Schwelle im Klimasystem und damit eine zentrale planetarische Belastungsgrenze überschritten. Die Rekonstruktion der nie dagewesenen Veränderungen im Erdsystem durch Space With No Time bezeugt vor allem die Bewusstwerdung des Menschen als planetarische Kraft. In Rummet uden tid wird der Mensch zum Auslöser rasanter, irreversi­ bler und unkontrollierbarer Klimaveränderungen, die die Regelmechanis­ men der Erde in ihren Fundamenten erschüttern. Die Größenordnung des flächendeckenden und tiefgreifenden anthropogenen Einflusses wird verdeutlicht, indem der Klimawandel in den Zusammenhang mit den enormen zeitlichen Skalen planetarischer Veränderungsprozesse gebracht und damit in den Kontext geologischer Tiefenzeit gerückt wird. Nicht nur zeigt die Gegenüberstellung des Menschen als planetarische Kraft mit dem Richtungswechsel der Erdachse die abrupte Abwendung von den langwährenden stabilen Klimaverhältnissen auf Terra. Aus dem Überblick von Space With No Time geht auch hervor, dass die ganze Wucht des Erbes der fossilen Brennstoffe den Planeten erst viele Jahrhunderte später trifft. Die Bedeutung des Menschen als dominierender Impulsgeber einer neuen Dynamik des Erdsystems veranschaulichen Mnomele und Thelemone von Anfang an, indem sie die Menschheit auf eine Ebene mit der Himmelsme­ chanik heben und mit der Vorstellung von einer taumelnden Erdachse ein aus einem für das Leben auf der Erde notwendigen Gleichgewicht gebrachtes Erdsystem versinnbildlichen. Was Eriksen nicht ahnen konn­ te, ist, dass dieses Bild heute zusätzliches Gewicht durch jüngere Unter­ 167

5 Klimakatastrophen im Anthropozän

suchungen erhält, die darauf hinweisen, dass die anthropogene globale Erwärmung durch das Abschmelzen des arktischen Eises und damit die Umverteilung der Erdmasse selbst einen gewissen – wenn auch minima­ len – Einfluss auf die Unwucht der Erde hat (Adhikari und Ivins 2016). Durch die Extrapolation der Klimakrise zur Klimakatastrophe wird Rummet uden tid noch vor der Einführung des Begriffs des Anthropozäns um die Jahrtausendwende zum Vorboten der prognostizierten Folgen des anthropogenen Einflusses auf das Klimasystem. Im Text geht die da­ raus resultierende Erderwärmung mit weiteren desaströsen Umweltverän­ derungen einher und löst schließlich einen katastrophischen Klimawandel aus. Vor allem zusammen mit der massiven agrarischen Entwaldung, in­ folge derer das Wort Wald gänzlich aus dem Wortschatz der Terraner verschwindet, kulminiert der Temperaturanstieg in der Desertifikation des Planeten. Zwar wird das Erdsystem im Text unpräzise mit den Begriffen Ökologie beziehungsweise ökologisches Gleichgewicht bezeichnet, die aus heutiger Sicht zu kurz greifen, um die Wechselwirkungen des Menschen und seiner Umwelt innerhalb des planetarischen Gefüges beschreiben zu können. Statt von einem natürlichen Gleichgewicht, das eine mittlerweile veraltete Vorstellung eines unveränderlichen Zustands suggeriert, spricht man heute von einem selbstregulierenden und dynamischen Gleichge­ wicht. Nichtsdestotrotz beschreiben beide Begriffe korrekterweise sowohl die alle Ökosysteme vereinende Biosphäre als auch das Zusammenwirken natürlicher und anthropogener Faktoren, von denen im Anthropozän die Voraussetzung für die Bewohnbarkeit der Erde abhängen. Somit ergibt sich aus Eriksens Tetralogie eine weitsichtige Stratigrafie der bis heute anhaltenden Zuspitzung der wahrscheinlichsten Katastrophenzukunft in der neuen Epoche und damit des endgültigen Abschieds vom Holozän. Globale Verdunkelung

Der Klimawandel verdeutlicht, dass die Umgestaltung der Lebensbedin­ gungen auf unserem Planeten nicht von vornherein als der Beginn einer möglichen katastrophischen Wende ersichtlich wird. Als Phänomen, dass sich aufgrund seiner Latenz nur zeitverzögert und indirekt bemerkbar macht, besitzt der Klimawandel die Eigenschaften dessen, was Timothy Morton als Hyperobjekt beschreibt (Morton 2013). Hyperobjekte lassen sich aufgrund ihrer Unsichtbarkeit und ihres Ausmaßes nicht objektivie­ ren, obgleich sie oftmals sämtliche zeitliche und räumliche Dimensionen

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Globale Verdunkelung

unserer Lebenswirklichkeit miteinschließen und durchdringen. Morton hebt hervor, dass die Latenz des Klimawandels als Hyperobjekt sich schon durch die Diskrepanz zwischen der Unmöglichkeit einer sicheren Vorher­ sage und der gesicherten Tatsache seiner Existenz andeutet: »The end of the world is correlated with the Anthropocene, its global warming and subsequent drastic climate change, whose precise scope remains uncertain while its reality is verified beyond question« (7). Am Unterschied zwi­ schen Klimaphänomenen – die sich aus Daten über einen mindestens 30 Jahre abdeckenden Zeitraum ergeben – und Wetterereignissen – die von heute auf morgen vollständig unterschiedlich auftreten können – bringt Morton die Unsichtbarkeit der globalen Erwärmung zum Ausdruck: When you feel raindrops, you are experiencing climate, in some sense. In partic­ ular you are experiencing the climate change known as global warming. But you are never directly experiencing global warming as such. Nowhere in the long list of catastrophic weather events – which will increase as global warming takes off – will you find global warming. But global warming is as real as this sentence. Not only that, it’s viscous. It never stops sticking to you, no matter where you move on Earth. How can we account for this? By arguing that global warming, like all hyperobjects, is nonlocal: it’s massively distributed in time and space. What does this mean? It means that my experience of the weather in the hic et nunc is a false immediacy. It’s never the case that those raindrops only fall on my head! They are always a manifestation of global warming! In an age of ecological emergency – in an age in which hyperobjects start to oppress us with their terrifying strangeness – we will have to acclimatize ourselves to the fact that locality is always a false immediacy. (48)

Der Klimawandel wird zum Sinnbild einer Katastrophenwirklichkeit im Anthropozän, gerade weil er die Kausalität zwischen Ursachen und Wirkungen sowie den Zusammenhang zwischen Verantwortung und Konsequenzen zu einer wesentlichen Herausforderung für die Zukunfts­ gestaltung macht. Während andere natürliche und menschengemachte Katastrophen als plötzliche Umwendung verstanden werden, wirken die Geschwindigkeiten der Entwicklungen durch die globale Erderwärmung – selbst dann, wenn sie im geologischen Maßstab abrupte, nicht-linea­ re Veränderungen und Richtungswechsel darstellen – aus menschlicher Sicht unspektakulär, bevor sie ihr ganzes Potenzial entfalten. Eva Horn beschreibt in ihrem Buch Zukunft als Katastrophe die Eskalation des an­ thropogenen Klimawandels deshalb als einen schleichenden Prozess: »Die sogenannte Klimakatastrophe ist keine Katastrophe im klassischen Sinn des Worts, als plötzliches kataklysmisches Ereignis, sie ist keine abrupte ›Wendung nach unten‹: sie ist das zutiefst unheimliche Phänomen einer

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5 Klimakatastrophen im Anthropozän

Katastrophe ohne Ereignis« (Horn 2014, 166). Gemeinsam mit Hannes Berg­ thaller erklärt Horn im Buch Anthropozän zur Einführung die Ereignislosig­ keit zum grundlegenden Moment in der neuen Epoche: Betrachtet man das Anthropozän so als Schwelle, dann ist es keine Krise, von der man zu einem Normalzustand zurückkehren kann, sondern ein irreversibler Bruch. Dieser Bruch lässt sich am besten klimahistorisch illustrieren: Das An­ thropozän unterbricht die relative klimatische Stabilität der letzten 11.700 Jahre und beendet damit (voraussichtlich) das Holozän. […] Im Kern der Gegenwartsdiagnose des Anthropozäns liegt die gleiche Denkfigur: keine Krise, sondern ein unbemerktes, aber irreversibles Überschreiten einer Schwelle. (Horn und Bergthaller 2020, 202–203)

Diese Zustandsänderung ist wesentlich für ein neues katastrophisches Be­ wusstsein, das nicht an einer eindeutigen Kausalitätsauffassung mit einem vermeintlich graduell-linearen Verlauf festhalten kann. Dass die Katastro­ phe erst aus einer Zukunftsperspektive, die den gesamten Zeitraum über­ blickt, erzählbar wird, geht auch aus dem historischen Abriss über die Vergangenheit Terras in Eriksens Rummet uden tid hervor. Die Geschichte über den Untergang der menschlichen Zivilisation auf dem Planeten wird unweigerlich zu einer Katastrophengeschichte über den Klimawandel, der erst im Nachhinein als die Ursache für den größten Umbruch aller Zeiten erkennbar wird. Mehr als nur einen geschichtlichen Hintergrund für die Ereignisse in Rummet uden tid zu liefern, dient der Habitabilitätsverlust Terras einer Reflexion der tiefenzeitlichen Implika­ tionen im Anthropozän. Erst durch den Zeitraffer des Forschungsprojekts – das Anfangs- und Endzustand der Veränderungen gegenüberstellen kann – wird freigelegt, wie der Mensch seine Lebenswelt über einen langen Zeitraum grundlegend verändert hat. In Rummet uden tid erreicht die Gestaltwandlung Terras infolge des anthropogenen Einflusses ihren Höhepunkt in dem, was Mnomele und Thelemone als den zweiten Treib­ hauseffekt bezeichnen. Im letzten Drittel des 5. Jahrtausends ändern sich die Umweltbedingungen plötzlich so drastisch, dass der Planet endgültig unbewohnbar wird. Eine undurchdringliche Wolkendecke erstreckt sich über Terra und bringt Dauerregen und einen Temperatursturz mit sich. Dies steigert das Überschwemmungsrisiko auf der ohnehin nur noch spär­ lich besiedelten Erdoberfläche. Zunächst überzieht ein Algenteppich das Land, bevor durch das Ausbleiben von Sonnenlicht die Photosynthese allmählich aussetzt. Zusammen mit Bodendegradation, radioaktiver Kon­ tamination durch einen globalen Nuklearkrieg und der Vergiftung der Weltmeere – mit der vermutlich die in einer direkten Beziehung zum

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Globale Verdunkelung

Kohlenstoffdioxidausstoß stehende Versauerung der Ozeane gemeint ist – führt der Treibhauseffekt sukzessive zur endgültigen Zerstörung der Tragfähigkeit und der Biodiversität des Planeten. Während der erste Treibhauseffekt auf Terra zum fast völligen Ver­ schwinden der belebten Natur führt, verschwindet infolge des zweiten auch die menschliche Zivilisation. Es dauert lange, bis die Terraner ein­ sehen, dass ihre Zeit auf Terra abgelaufen und »en epoke i Den Store Historie« (eine Epoche in Der Großen Geschichte) (I, 236) zu Ende ist. Trotz des enormen Ausmaßes der globalen Veränderungen reagieren sie deswegen erst, als es bereits zu spät ist und nur noch die Evakuierung auf die Tochterplaneten bleibt. Doch obwohl die Überbrückung interplaneta­ rischer Distanzen grundsätzlich keine Unmöglichkeit darstellt, reichen die Kapazitäten der Föderation bei Weitem nicht aus, um alle Terraner zu retten. Während einem Großteil der Bevölkerung noch die Evakuierung via Raumschiff gelingt, werden die restlichen Bewohner ihrem Schicksal überlassen. Mnomele und Thelemone greifen in ihrer Rückschau auf das vorherbestimmte Ende der Zurückbleibenden vor, nachdem die interpla­ netarischen Flugverbindungen als »sidste bindeled mellem mennesker« (letztes Bindeglied zwischen Menschen) (I, 243) gekappt worden sind: Efter godt et par tusind års tørke måtte terranerne igen indstille sig på en grundlæggende ændring af livsførelsen. Udfordringerne var om muligt endnu mere komplexe end dem, de havde stået over for i begyndelsen af det 21. århundrede, men komplexiteten var nu mindre af produktionsmæssig (alle livs­ fornødenheder blev importeret fra datterplaneterne) end af moralsk karakter. De endnu uudviklede interstellare skibe tillod kun fysisk stærke mennesker at foretage rejsen til de beboede planeter [...]. Emigrationen stod på i mange hund­ rede år, men ingen kunne være i tvivl om udfaldet: på et givet tidspunkt måtte forbindelsen mellem Terra og datterplaneterne skæres over og de efterladte leve Den Sidste Tid i et stadig mere regnfuldt og koldt miljø på moderplaneten uden håb om nogensinde at få en sol at se. (I, 11–12) (Nach einigen tausend Jahren Dürre mussten sich die Terraner erneut auf eine grundlegende Änderung ihrer Lebensweise einstellen. Die Herausforderungen waren, wenn das möglich ist, noch komplexer als diejenigen, denen sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts gegenübergestanden hatten, aber die Komplexität war jetzt weniger von produktionsmäßiger (alle Lebensnotwendigkeiten wur­ den von den Tochterplaneten importiert) als von moralischer Natur. Die noch wenig entwickelten interstellaren Schiffe erlaubten nur körperlich starken Men­ schen, die Reise zu den bewohnten Planeten […] auf sich zu nehmen. Die Emigration währte viele hundert Jahren, aber niemand konnte den Ausgang be­ zweifeln: Zu einem gegebenen Zeitpunkt müsste die Verbindung zwischen Ter­ ra und den Tochterplaneten getrennt werden und die Überlebenden müssten

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5 Klimakatastrophen im Anthropozän Die Letzte Zeit in einer zunehmend regnerischen und kalten Umwelt auf dem Mutterplaneten leben, ohne Hoffnung, jemals eine Sonne sehen zu können.)

Team Capricorn scheint die zweite Phase klimatischer Verschlechterun­ gen auf Terra in Erklärungsnot zu bringen, weil im Gegensatz zur glo­ balen Erwärmung diesmal keine Ursachen aufgeführt werden. Ob bezie­ hungsweise wie die beiden Treibhauseffekte, die Mnomele und Thele­ mone in einem Atemzug nennen, zusammenhängen, geht aus ihrer Darstellung nicht hervor. Zwar ließe sich die Wolkenbildung in einem vereinfachten Kausalzusammenhang mit der Wasserverdunstung durch den Temperaturanstieg des ersten Treibhauseffekts verbinden und beide Phasen damit als aufeinanderfolgende Extrempole erklären (Haywood et al. 2011). Aus klimatologischer Sicht lässt sich die langanhaltende Deser­ tifikation Terras während des ersten Treibhauseffekts aber nicht mit der plötzlich auftretenden Wolkenbildung durch den zweiten in Einklang bringen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Treibhauseffekt eine wi­ dersprüchliche Bezeichnung für die geschilderte Abkühlung auf Terra. Denn auch wenn Wolkenbildung zu einer Erwärmung führen kann, in­ dem sie Wärmeabstrahlung zurückreflektiert, ergibt sich ihre Wirkung normalerweise daraus, dass sie das Eintreffen der Sonnenstrahlung auf die Planetenoberfläche verhindert, noch bevor diese einen Treibhausef­ fekt anheizen kann. Nichtsdestotrotz soll diese vereinfachte Darstellung nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass bis heute die Schwierig­ keit besteht, die nebeneinander auftretenden, teils gegensätzlichen und sich damit kaschierenden Auswirkungen der Entstehung von Wolken in Wechselwirkung mit anderen meteorologischen Prozessen zu interpretie­ ren (Meinrat et al. 2005). Ob die fehlerhafte Bezeichnung Mnomele und Thelemone zuzurech­ nen ist, die vorab die Unsicherheit und Lückenhaftigkeit ihrer Rekon­ struktion beteuern, oder auf einem Missverständnis seitens Eriksen grün­ det, bleibt unklar. Deutlich ist hingegen, dass der sogenannte zweite Treibhauseffekt ebenfalls fundamentale Veränderungen des Klimasystems nach sich zieht, weil auch er gravierende globale Auswirkungen – nicht nur für das menschliche Leben allein –, sondern für die gesamte Biosphä­ re auf dem Planeten, inklusive anderen Lebensformen und der unbeleb­ ten Natur hat. Und auch wenn aus dem Überblick der Historikerinnen nicht hervorgeht, dass der zweite Treibhauseffekt anthropogene Ursachen hat, legt die Frage »hvad har vi gjort?« (was haben wir getan?) (I, 232) – die sich den Terranern im Verlauf der Romantetralogie aufdrängt – dies nahe. Lässt man die fehlerhafte Terminologie und die Tatsache außer Acht, dass 172

Globale Verdunkelung

der zweite Treibhauseffekt deutlich versetzt zum ersten auftritt, kann die zweite Phase klimatischer Verschlechterungen dennoch konkret in den Kontext des anthropogenen Einflusses gebracht werden, der bereits in der terranischen Vergangenheit zur Katastrophe geführt hat. Denn immerhin sind die klimatischen Veränderungen des zweiten Treibhauseffekts – ge­ nau wie die des ersten – im veränderten Energiehaushalt Terras mit der Sonne als hauptverantwortliche Energiequelle begründet und damit atmo­ sphärischer Natur. Es liegt deshalb nahe, dass sich Eriksen, wenn auch weniger präzise als noch mit der Erderwärmung, auch mit der Verdunke­ lung und Abkühlung als mögliche Zukunftsszenarien auf Klimamodelle mit katastrophischem Ausgang bezieht. Während sich die globale Erderwärmung als größte Bedrohung für die zukünftige Bewohnbarkeit der Erde im Anthropozän durchgesetzt hat, konkurrierte sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem weiteren Klima­ szenario. Denn in der gegenläufigen Entwicklung – einer globalen Abküh­ lung – wurde zeitgleich eine reale Gefahr für den Planeten gesehen. Der Temperaturabfall, der dem Treibhauseffekt entgegenwirkt, lässt sich eben­ falls mit atmosphärischen Veränderungen erklären: Eine globale Verdun­ kelung kann durch die Emission von Schwebeteilchen in der Atmosphäre, sogenannten Aerosolen, hervorgerufen werden. Diese besitzen die Eigen­ schaft, das Sonnenlicht direkt zu reflektieren oder tragen als Kondensati­ onskerne zur Wolkenbildung bei, die wiederum die Erdoberfläche vor Sonneneinstrahlung abschirmt. Im Kontext des Anthropozäns wird für eine starke Verdunkelung jenseits natürlicher Ursachen die enorme Luft­ verschmutzung durch menschliche Aktivitäten verantwortlich gemacht, die – wie schon der Treibhauseffekt – mit der industriellen Zivilisation einhergeht (Stanhill und Cohen 2001). Versteht man den zweiten Treib­ hauseffekt in Rummet uden tid demnach als globale Verdunkelung, stößt man im Text auf die Aerosolemission als mögliche Ursache für die starke Wolkenbildung. Die auf fossilen Brennstoffen basierende Zivilisation, die von Mnomele und Thelemone für den enormen Kohlenstoffdioxidausstoß verantwortlich gemacht wird, kann gleichzeitig mit einer Luftverschmut­ zung sowie einer anschließenden Kondensation und Wolkenbildung in Verbindung gebracht werden.5

5 Seit 1990 lässt sich eine Reduzierung der globalen Verdunkelung infolge der Aerosole­ mission beobachten. Im Hinblick auf die globale Erwärmung wird heute sogar die absichtliche Abschirmung der Sonneneinstrahlung durch die Manipulation der Atmo­ sphäre – auch Climate Engineering genannt – in Erwägung gezogen (Tollefson 2018).

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5 Klimakatastrophen im Anthropozän

Zusätzlich dazu lässt der zweite Treibhauseffekt in Rummet uden tid noch eine andere Interpretation zu, mit der eine extreme globale Tempe­ raturabsenkung durch eine Atmosphärentrübung ausgelöst werden kann: Im Szenario eines ›nuklearen Winters‹, das mit dem in den 1980er-Jahren zu eskalieren drohenden Kalten Krieg immer wahrscheinlicher wurde. 1982, ein Jahr vor der Veröffentlichung des ersten Bands von Rummet uden tid, thematisieren Paul Crutzen und John Birks in ihrem Aufsatz »The Atmosphere after a Nuclear War: Twilight at Noon« die Langzeit­ folgen einer nuklearen Auseinandersetzung für das Leben auf der Erde (Crutzen und Birks 1982). In dem darin entworfenen Szenario führen sie aus, dass die Kernwaffenexplosionen in einem globalen Maßstab die At­ mosphäre in einem solchen Grad verdunkeln würden, dass die agrarische Produktion in der nördlichen Hemisphäre für mehrere Jahre stillgelegt und ein Bereich in der Größe der vereinten Landmasse von Dänemark, Norwegen und Schweden massiv zerstört werden würde (115). Im darauf­ folgenden Jahr prägen Paul Ehrlich et al. in ihrem Aufsatz »Long-Term Biological Consequences of Nuclear War« den Begriff des nuklearen Win­ ters, um die Bedrohung für die Lebensbedingungen und die lange zu erwartende Erholungszeit der Biosphäre zu unterstreichen (Ehrlich et al. 1983). Angesichts des prognostizierten Temperaturabfalls unter null wird in Aussicht gestellt, dass die menschliche Zivilisation auf ein Niveau eines vorgeschichtlichen Entwicklungszustands zurückversetzt oder ganz ausge­ löscht werden könnte: The possibility exists that the darkened skies and low temperatures would spread over the entire planet. Should this occur, a severe extinction event could ensue, leaving a highly modified and biologically depauperate Earth. […] In any large-scale nuclear exchange between the superpowers, global environ­ mental changes sufficient to cause the extinction of a major fraction of the plant and animal species on the Earth are likely. In that event, the possibility of the extinction of Homo sapiens cannot be excluded. (1299)

Während das Szenario eines nuklearen Winters in der Wirklichkeit eine Simulation geblieben ist, spricht in Rummet uden tid einiges dafür, dass mit dem zweiten Treibhauseffekt genau darauf angespielt wird. Denn der im historischen Überblick von Team Capricorn erwähnte Dritte Welt­ krieg, der bereits als nachhaltige Zerstörung der Überlebensgrundlage beschrieben worden ist, wurde mit Kernwaffen geführt. Das beispiellose Ausmaß der Zerstörung durch die Kernwaffenexplosionen in der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends stellt sich erst im Verlauf des Texts heraus. Beim Anblick der deformierten Geografie weiter Teile der nördlichen He­

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Globale Verdunkelung

misphäre wird vermutet, »at det særprægede landskab kunne være opstået under megatonbombernes hærgen« (dass die charakteristische Landschaft durch die Verwüstungen der Megatonnenbomben entstanden sein könn­ te) (I, 275). Die Größenordnung der Detonationen spricht für den enor­ men Ausstoß klimawirksamer Aerosole und einen extremen Abkühlungs­ effekt. Die unvorstellbaren Dimensionen der nuklearen Zerstörung haben nicht nur in der Geologie des Planeten Spuren hinterlassen, die 3.000 Jah­ re zurückreichen. Die Folgen des Nuklearkriegs sind vor allem in Form der unglaublich langanhaltenden weltweiten radioaktiven Kontamination als Bedrohung auch noch im 47. Jahrhundert auf Terra präsent. Diese sorgt dafür, dass weite Teile des ehemaligen Europas bereits lange vor der Evakuierung zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen durch Space With No Time unbewohnbar geworden sind.6 Aber auch anderswo ist der Aufenthalt im Freien aufgrund von Kälte und Strahlenbelastung nur noch in batteriebetriebenen Schutzanzügen möglich. In Rummet uden tid wird der Habitabilitätsverlust Terras zum ultimativen Ausdruck der Verfremdung von Lebenswelt im Anthropozän. Das gewaltige Umgestaltungspotenzial des Menschen, durch den der Pla­ net, »der engang var den rigeste og skønneste« (der einst der reichste und schönste war) (II, 255), innerhalb kürzester Zeit bis zur Unkenntlichkeit verändert und lebensfeindlich wird, wirkt so, als hätten die vorherigen Generationen den letzten Terranern eine todgeweihte Erde überlassen: »Der er en egen pervers skønhed i at tænke på, at mennesker er blevet så totalt afskåret fra os eller vores tid, at de i virkeligheden ikke har levet. Eller det er omvendt: de har haft held til at slå os ihjel, før vi blev født« (Es liegt eine perverse Schönheit darin zu denken, dass die Menschen von uns oder unserer Zeit so völlig abgeschnitten worden sind, dass sie in Wirklichkeit nicht gelebt haben. Oder umgekehrt: Sie hatten das Glück, uns umzubringen, bevor wir geboren wurden) (I, 203). Die einzige Erkenntnis, die aus der Vergangenheit gezogen werden kann, ist,

6 Die in Rummet uden tid nicht spezifizierte Strahlenbelastung kann auch in den Zusam­ menhang mit der ab dem Ende der 1970er-Jahre lautwerdenden Warnung vor einem Ozonloch gebracht werden. Zusätzlich zur Abkühlung durch eine globale Verdunkelung führt die Veränderung in der Atmosphäre auch zu einer Verringerung der lebenswichti­ gen Ozonschicht, die den Großteil der von der Sonne eintreffenden und äußerst gesund­ heitsschädlichen Ultraviolettstrahlung absorbiert. Angesichts der Gefahr einer übermäßi­ gen Abnahme der Ozonkonzentration wird als noch schlimmere Folgeerscheinung des nuklearen Winters das Szenario eines ›ultravioletten Frühlings‹ gesehen (Cockell und Blaustein 2000).

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5 Klimakatastrophen im Anthropozän

dass aus ihr nichts gelernt werden kann, »at de ikke kunne bruge fortidens erfaringer, fortiden selv havde dræbt dem« (dass sie die Erfahrungen der Vergangenheit nicht gebrauchen konnten, die Vergangenheit selbst hatte sie getötet) (I, 206–207). Vor allem das extreme Algenwachstum, das die Außenflächen sämtlicher Bauwerke überzieht, die deshalb »træer fra en anden verdensorden« (Bäumen einer anderen Weltordnung) (I, 242) äh­ neln, vermittelt den Terranern den Eindruck, sich nun auf einem fremden Planeten zu befinden. Mit den Treibhauseffektszenarien tauchen in Rummet uden tid zwei zentrale Aspekte auf, die heute für die Datierung des Beginns des Anthro­ pozäns herangezogen werden. Sowohl die im arktischen Eis messbare Zu­ nahme der Kohlenstoffdioxidkonzentration durch die Verbrennung fossi­ ler Energieträger als auch die durch Kernwaffenexplosionen freigesetzten Radionuklide in der Atmosphäre und ihre anschließende Ablagerung wer­ den als chronostratigraphische Marker verwendet, um die menschlichen Aktivitäten auf der geologischen Zeitskala einordnen zu können. Vor allem versinnbildlichen sie den latenten Charakter der Katastrophenzu­ kunft, weil Treibhausgase, Aerosole und die ionisierende Strahlung sich zunächst nur unscheinbar bemerkbar machen. Die Unsichtbarkeit und Unvorhersehbarkeit der Folgen des anthropogenen Einflusses werden in Rummet uden tid als verhängnisvolle Eigenschaften inszeniert, weil die Terraner nicht rechtzeitig verstehen, dass sie dadurch auf eine Katastrophe zusteuern. Erst aus dem Rückblick, als Team Capricorn aus der Perspek­ tive der Besatzung des Raumschiffs Jezabel wieder auf Terra zurückge­ kehrt ist, drängt sich die Frage auf, »hvordan vi kunne leve videre med ødelæggelserne, som om intet var hændt« (wie wir mit den Zerstörun­ gen weiterleben konnten, als wäre nichts geschehen) (II, 255). Der Text vermittelt die Einsicht, dass die Katastrophenzukunft im Anthropozän nicht das Ergebnis bewusster Entscheidungen, sondern vielmehr die Kon­ sequenz unbeabsichtigter menschlicher Aktivitäten ist, die erst aus einer Perspektive im Nachhinein ersichtlich wird. Dass also zumindest für die Terraner die Menschheitsgeschichte an ihr Ende gelangt, sobald sie selbst vom Erdboden verschwunden sind, verdeutlicht noch einmal ein finaler Blick aus dem Weltraum, den Fey im Austausch mit einem Astronauten aufruft: – Terra… Jeg har været på udstederne over det hele, men Terra er verdens ende. – det er omvendt: det var her det hele begyndte, sagde hun. – begyndelsen, enden, det er det samme, sagde han. […] Det var som at leve i et rum uden tid […]. (I, 111)

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Globale Verdunkelung (– Terra… Ich bin überall an entlegenen Orten gewesen, aber Terra ist das Ende der Welt. – es ist umgekehrt: es war hier, wo alles begann, sagte sie. – der Anfang, das Ende, das ist das Gleiche, sagte er. […] Es war so, als würde man in einem Raum ohne Zeit leben […].)

Was die kosmische Perspektive auf Terra letztendlich veranschaulicht, ist nicht nur der tiefenräumliche Blick, der den Planeten in seiner Gesamt­ heit und Verletzlichkeit zeigt, sondern auch der tiefenzeitliche Blick, der die posthumane Zukunft an diesem Ort einfängt. Aus dem Habitabilitäts­ verlust Terras leitet sich die wichtigste Konsequenz im Anthropozän ab: Die Zukunft des Menschen ist an die Zukunft eines bewohnbaren Plane­ ten gebunden.

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6 Planetarische Imagination

Die Erde von oben

Um den Menschen als planetarische Kraft sichtbar zu machen, wird oft auf Visualisierungen zurückgegriffen. Vor allem die Modellierung des Erdsystems und Datendiagramme für den Verlauf des globalen Wandels sind im Anthropozän unersetzlich geworden. Doch während grafische Darstellungen – wie beispielsweise der Kurvenverlauf des Temperaturan­ stiegs infolge der globalen Erderwärmung – die enorme Beschleunigung des anthropogenen Einflusses abbilden, geht aus ihnen nur indirekt die Verstrickung des Menschen mit der natürlichen Welt hervor. Zwar lässt sich an ihnen ablesen, wie sich innerhalb kürzester Zeit die Ablösung der relativ stabilen ökologischen Verhältnisse des Holozäns vollzogen hat. Dass der Übergang in eine neue erdgeschichtliche Epoche aber auch eine grundsätzliche Abwendung von ehemaligen Vorstellungen von der Natur selbst markiert, wird dadurch nicht sofort ersichtlich. Der Wandel im Weltbild des Menschen ist buchstäblich an einen Wandel des Bilds von unserem Planeten geknüpft, das zwar lange vor dem Konzept des Anthropozäns imaginiert wurde, aber erst im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fotografisch eingefangen werden konnte. Während des ›Wettlaufs ins All‹, in dem sich die Raumfahrtnationen nach dem Zweiten Weltkrieg gegenseitig überboten, wurden erstmals ausreichende Distan­ zen erreicht, um die Kugelgestalt der Erde direkt abbilden zu können. Kein Bild hat die Vorstellung von unserem Planeten, von der Rolle des Menschen innerhalb des Erdsystems und von deren gemeinsamer Zukunft so nachhaltig geprägt, wie dasjenige aus einer außerirdischen Perspektive. Dieser Umstand ist umso erstaunlicher, weil die ersten berühmt gewor­ denen Fotos von der Erde aus dem Weltraum einer Reihe von Zufällen geschuldet waren. Eigentlich stand die Raumfahrt ab den 1960er-Jahren im Zeichen der Erforschung extraterrestrischer Himmelskörper, die sich, angefangen beim Mond, schließlich immer weiter in das heimische Son­ nensystem hinaus erstreckte. Doch während der zunächst unbemannten und später bemannten Mondfahrtmissionen ereignete sich wiederholt der unbeabsichtigte Blick zurück auf die Erde.1 Der Anblick eines endlichen 1 Zwar wurde während der beginnenden Raumfahrt bereits zunächst die gekrümmte Erd­ oberfläche und später die ganze Erde aus dem Erdorbit abgelichtet, es waren aber erst die

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6 Planetarische Imagination

Himmelskörpers vor dem scheinbar unendlichen Nichts des Weltraums hat unserem Planeten erschreckend harte Konturen verliehen und uns seine allzu irdische Beschaffenheit vor Augen geführt. Der ungeplante Perspektivenwechsel zurück auf den Ausgangspunkt ist mit einem Para­ digmenwechsel in der Vorstellung von der Erde einhergegangen. Anstatt die lang gehegte kosmologische Auffassung von unserem Platz im Univer­ sum endgültig zu bestätigen, haben die Erdbilder die Imagination unseres Planeten revolutioniert, indem sie dessen Einzigartigkeit und Schönheit, aber auch dessen Verletzlichkeit und Andersartigkeit offenbart haben. Die unglaubliche Faszination, die von dem Anblick ausging, sorgte dafür, dass unser Heimatplanet schnell vom Hintergrund in den Vordergrund rückte. Entgegen ambitionierten Plänen zur Weltraumkolonisation ist die Erde deshalb als kosmische Ausnahme zum Sinnbild möglicher Zukünfte im Anthropozän geworden. Die planetarische Imagination ist im gleichen Moment eine Reimagi­ nation der Erde, die den Menschen als Beobachter miteinschließt, statt ihn zu externalisieren (Horn und Bergthaller 2020, 191). Benjamin La­ zier hat argumentiert, dass die durch die Raumfahrtfotos konsolidierte ›Globalisierung des Weltbilds‹ (Lazier 2000, 606) das Planetarische zum Vorschein gebracht und damit die bisher nach Längen- und Breitengra­ den vermessene Kugelgestalt der Erde – wie sie in der Vorstellung vom Globus als artifizielles Objekt erscheint – wieder als Himmelskörper ›reter­ restrialisiert‹ hat (623). Vor allem hat das Bild von unserem Planeten in seiner Gesamtheit zu einer Reflexion über den anthropogenen Einfluss im Erdsystem geführt. Die Raumfahrtfotos gaben Anstoß für die Vorstellung von der Erde als einzigartiges Lebenserhaltungssystem, das anfangs mit der Metapher des Raumschiffs und dann von James Lovelock unter dem Namen Gaia popularisiert wurde (Lovelock 2000, 60). Der Rekurs auf un­ seren Heimatplanten ist so revolutionär, dass Hans Joachim Schellnhuber von einer ›zweiten kopernikanischen Wende‹ spricht, durch die die Erde wieder in den Mittelpunkt der Welt gerückt wird: This new revolution will be in a way a reversal of the first: it will enable us to look back on our planet to perceive one single, complex, dissipative, dynamic entity, far from thermodynamic equilibrium – the ›Earth system‹. It may well be nature’s sole successful attempt at building a robust geosphere-biosphere com­

Aufnahmen aus dem amerikanischen Apollo-Programm, die weltweite Aufmerksamkeit erhielten und die eigentlich auf die Untersuchung der Mondoberfläche ausgerichtet waren, um mögliche Landeplätze für spätere Mondmissionen zu kartografieren.

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Die Erde von oben plex (the ecosphere) in our Galaxy, topped by a life-form that is appropriately tailored for explaining the existence of that complex, and of itself. (Schellnhuber 1999, 20)

Die zentrale durch die Erdsystemwissenschaft gewonnene Einsicht besteht darin, die Singularität der Erde im ansonsten unbelebten Weltraum auf eine besondere Konstellation des planetarischen Gefüges zurückzuführen. Während dieses Lebenserhaltungssystem als Voraussetzung für die Habita­ bilität eines erdähnlichen Planeten universelle Gültigkeit besitzt, ist außer der Erde jedoch kein Ort im Universum bekannt, an dem sich Leben in vergleichbarer Form entfaltet hat. Die wichtigste Folge der Betrachtung der Erde aus einer Außenperspektive war die Entstehung eines planetari­ schen und damit globalen ökologischen Bewusstseins. Frank White hat die Wirkung des Moments, in dem die Erde erstmals von außen und in Gänze erblickt wird, mit dem Begriff des ›Overview Effect‹ geprägt: The Overview Effect is a cognitive shift in awareness reported by some astronauts and cosmonauts during spaceflight, often while viewing the Earth from orbit, in transit between the Earth and the moon, or from the lunar surface. It refers to the experience of seeing firsthand the reality that the Earth is in space, a tiny, fragile ball of life, »hanging in the void«, shielded and nourished by a paper-thin atmosphere. The experience often transforms astronauts’ perspective on the planet and humanity’s place in the universe. Some common aspects of it are a feeling of awe for the planet, a profound understanding of the interconnection of all life, and a renewed sense of responsibility for taking care of the environment. (White 2014, 2)

Der Overview Effect referierte anfangs auf die wortwörtliche Impression während der Raumfahrt, wurde später jedoch auf die allgemeine Imagina­ tion der Erde übertragen. Auch in Eriksens Rummet uden tid werden wiederholt Bilder aufgeru­ fen, die unseren Planeten aus weiter Entfernung in den Blick nehmen. Einige der Erdbilder sind dabei nicht zufällig gewählt, sondern knüpfen an die starke Bildsprache der Fotos an, die im Zuge der Weltraumerfor­ schung entstanden sind und die zu den weitverbreitetsten Aufnahmen in der Geschichte zählen. Aufgrund von Eriksens Motivwahl ergeben sich mitunter deutliche Parallelen zu den ikonischen Fotos, die während des Apollo-Raumfahrtprogramms der NASA im Zeitraum zwischen 1961 und 1972 aufgenommen wurden. Die planetarische Imagination in Rum­ met uden tid wird vor dem Hintergrund der globalen Klimakatastrophen in einen konkreten Zusammenhang mit der Zerstörung der Habitabilität der Erde gebracht. Schon die Annäherung an Terra durch Team Capri­

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6 Planetarische Imagination

corn – das ja tatsächlich auf einem der föderativen Exoplaneten stationiert ist und buchstäblich eine außerirdische Beobachterposition einnimmt – evoziert eine bildliche Vorstellung vom Schauplatz der erzählten Ge­ schichte des historischen Forschungsprojekts. Kurz vor der Aufgabe Terras als Lebensraum finden die Historikerinnen Mnomele und Thelemone ein nahezu leeres und lebloses heimisches Sonnensystem mit Terra als einzi­ gem besiedelten Planeten und Standorten auf dem Planeten Mars sowie auf dem als Luna bezeichneten Mond vor. Die Zwillinge entscheiden sich bewusst für zwei Ausgangspunkte: Part 5, der er vores projektandel, er som de syv andre præget af vores person­ lighed og vi har valgt det terranske kontinent Afrika og Luna basen Dayside City 2 som udgangspunkter – DC 2, fordi basen blev forladt og risikerede at blive glemt som andre (hvor mange?) forposter i den indledende udforskning af rummet; Afrika blev valgt, fordi kontinentet var Terras hårdest ramte under begge drivhuseffekter. (I, 8) (Teil 5, der unser Projektanteil ist, ist wie die anderen sieben von unserer Persönlichkeit geprägt, und wir haben den terranischen Kontinent Afrika und die Luna-Basis Dayside City 2 als Ausgangspunkte gewählt – DC 2, weil die Basis verlassen wurde und drohte, wie andere (wie viele?) Außenposten während der anfänglichen Erforschung des Weltraums vergessen zu werden; Afrika wurde gewählt, weil er der Kontinent Terras war, der von beiden Treibhauseffekten am stärksten betroffen war.)

Beide Ausgangspunkte sind mit Fey und Tukhalele, den Protagonistinnen des ersten Bands verknüpft, die bis zum Ende von Rummet uden tid eine wichtige Rolle spielen. Unter anderem aus ihrer Sicht wird im Verlauf der Romantetralogie wiederholt eine imaginierte Außenperspektive auf die Erde eingenommen. Gleich zu Beginn der historischen Aufzeichnun­ gen wird ein vertrautes Bild entworfen: der Blick vom Mond auf die Erde. Genauer gesagt handelt es sich um eine künstliche Darstellung, die Fey für einen Klienten im Bordell Gomorra als virtuelle Umgebung während einer computergestützten Simulation generiert: »Pludselig valgte han Lunas overflade på dagsiden, et valg som ikke var ualmindeligt for martianere og som altid havde undret hende lidt. Langt borte i illusionen svævede hologrammets gengivelse af Terra som en nymåne i tiltagen« (Plötzlich entschied er sich für die Tagseite von Lunas Oberfläche, eine Wahl, die für Marsianer nicht ungewöhnlich war und die sie immer ein wenig gewundert hatte. Weit weg in der Illusion schwebte die Holo­ grammwiedergabe von Terra wie ein zunehmender Neumond) (I, 19–20). Die virtuelle Realität, die Fey ihrem Klienten vorgaukelt, spiegelt den

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Die Erde von oben

illusorischen Charakter des Bilds einer heilen Erde wider, in dem sich die Sehnsucht des Marsianers nach seinem Heimatplaneten und dessen sexu­ elle Begierde auf groteske Weise vermischen. Obwohl das Hologramm in Feys Wahrnehmung ein marsianisches Stereotyp bedient, erinnert es an ein real existierendes Motiv aus der Raumfahrt. Die Bildkomposition entspricht dem zweiten jemals vom Mond aus aufgenommenen Foto von der Erde durch die unbemannte NASA-Mond­ sonde Lunar Orbiter 1, das die sich im Vordergrund erstreckende Mond­ oberfläche und die im Hintergrund nur teilweise sichtbare und deswegen sichelförmige Erde zeigt. Gemeinsam mit dem kurz zuvor entstandenen ersten Foto, auf dem die Erde etwas mehr zu sehen ist, markieren die Aufnahmen aus dem Jahr 1966 einen Wendepunkt in der Vorstellung von unserem Planeten. Die Bildgewalt ist dem ungeheuren Perspektiven­ wechsel geschuldet, durch den die Erde in den sich verdunkelnden Hin­ tergrund über dem Mondhorizont verschwindet und dadurch selbst zum unscheinbaren Trabanten wird. Vor allem das berühmte 1968 entstandene Foto Earthrise, das eine ähnliche Anordnung wie die Lunar Orbiter-Bilder aufweist, entgegen der niedrigauflösenden schwarz-weißen Aufnahmen jedoch hochauflösend, in Farbe und von einem Menschen außerhalb der Erdumlaufbahn geschossen worden ist, hat dazu beigetragen. Der für das Foto verantwortliche Astronaut William Anders hat den überwältigenden Anblick folgendermaßen beschrieben: »We set out to explore the moon and instead discovered the Earth« (Anders 2018). In vielerlei Hinsicht stellt der visuelle Rekurs während der Eroberung des Weltraums, die mit der Mondlandung 1969 ihren Höhepunkt erreichte, den entscheidends­ ten Moment in der Geschichte der Raumfahrt dar. Günther Anders hat die Wiederentdeckung beispielsweise als die Selbstbegegnung der Erde beschrieben, die uns »nicht das Unbekannte, sondern das Bekannte; nicht das Fremde, sondern das Verfremdete« vor Augen geführt hat (Anders 1994, 98). Der Blick auf unseren Planeten aus dem Weltraum ist verfremdend, weil er die enormen Größenordnungen vergegenwärtigt, vor denen die Erde nahezu auf völlige Bedeutungslosigkeit schrumpft. Visuell eingefan­ gen in ihrer Begrenztheit und Endlichkeit wird die Erde so nur zu einem Himmelskörper unter unzähligen. Das Earthrise-Foto wurde schließlich von dem 1972 entstandenen Foto The Blue Marble übertroffen, das die Erde erstmals als zweidimensionale Scheibe, beinahe vollständig vom Son­ nenlicht ausgeleuchtet, zeigt, und in dem der Overview Effect seinen bis­ her stärksten Ausdruck gefunden hat. Auf dem sphärischen Himmelskör­ 183

6 Planetarische Imagination

per ist der afrikanische Kontinent inmitten des blauen Ozeans sowie die von Wolken überzogene Antarktis zu sehen. Neben der atemberaubenden Schönheit des Bilds ergibt sich seine Symbolkraft aus den Bedeutungszu­ schreibungen Afrikas als Wiege der Menschheit und intakter Naturraum.2 Der für das The Blue Marble-Foto kennzeichnende Blick auf die Südhalb­ kugel der Erde lässt eine weitere Parallele zu Rummet uden tid zu. Er wird von Anfang an in den Zusammenhang mit der Destabilisierung der Ökologie Terras infolge der beiden Treibhauseffekte gebracht. Der afrikanische Kontinent wird hier zum Mahnmal des Verlusts der Erde als Lebensraum und zum Gradmesser für die endgültige Überschreitung der planetarischen Belastungsgrenzen: På det afrikanske kontinent var der – som på de fleste kontinenter – foregået en hensynsløs de-forestation i flere århundreder: træer var blevet fældet og jungler ryddet for at give plads for kortlivede men profitgivende planteindustrier, der efterlod jorden som udpinte ørkenområder. Sammen med manglen på oprigtigt samarbejde førte det til ødelæggelsen af den skrøbelige globale økologi. (I, 9) (Auf dem afrikanischen Kontinent hatte – wie auf den meisten Kontinenten – viele Jahrhunderte lang eine rücksichtslose Entwaldung stattgefunden: Bäume waren gefällt und Dschungel gerodet worden, um kurzlebigen, aber profitablen Pflanzenindustrien Platz zu machen, die die Erde als erschöpfte Wüstengebiete zurückließen. Gemeinsam mit mangelnder aufrichtiger Zusammenarbeit führte dies zur Zerstörung der fragilen globalen Ökologie.)

Die Gestalt des einstmals blauen Planeten hat sich in der Zukunft von Rummet uden tid angesichts der Klimakatastrophen drastisch verändert. Vom Weltraum aus ist Terra aufgrund der globalen Verdunkelung jetzt nur noch eine undurchsichtige Sphäre, »en gråviolet klode« (ein grau-vio­ letter Planet) (I, 255). Der im Text erzeugte Overview Effect bringt eine deutliche Diskrepanz zwischen der offenbarenden Kraft des Anblicks der unbewohnbar gewordenen Erde und dem Unvermögen der Terraner, sich des ganzen Ausmaßes des Habitabilitätsverlusts wirklich bewusst zu wer­ den, zum Vorschein. Während die Terraner die katastrophischen Folgen des Klimawandels zwar am eigenen Leib auf der Erdoberfläche erfahren, werden die Dimensionen der Zerstörung ihres Lebensraums erst aus einer

2 Obwohl The Blue Marble im Rahmen der letzten bemannten Mondmission im 20. Jahr­ hundert gemacht wurde und seither kein Mensch mehr die Erde aus der Entfernung aus dem Mondorbit mit eigenen Augen gesehen hat, generierte das Foto eine enorme Durchschlagskraft. Im selben Jahr wurde die erste Konferenz der Vereinten Nationen zur Umwelt in Stockholm abgehalten sowie der Bericht über die ›Grenzen des Wachstums‹ des Club of Rome zur Zukunft der Weltwirtschaft vorgelegt.

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Die Erde von oben

superplanetarischen Perspektive ersichtlich. Zwar vermittelt der Blick aus dem Weltraum die Gewissheit darüber, die Erde als fragile Ausnahme im Universum endgültig verloren zu haben. Weil Terra im Kosmos von Rummet uden tid jedoch nicht der einzige bewohnte Planet ist, motiviert das Wissen um die unvorstellbare Größe und unerschöpfliche Fülle des Weltraums, die sich im überwältigenden Anblick des Sternenhimmels widerspiegeln, gleichzeitig die Vorstellung von der Austauschbarkeit der Erde als Lebensraum (I, 288). Die planetarische Imagination ist also von einer deutlichen Ambivalenz gekennzeichnet, weil sie neben einem pla­ netarischen Bewusstsein auch die planetarische Apokalypse-Blindheit der Terraner befördert. In den Aufzeichnungen von Space With No Time lässt sich ein Span­ nungsverhältnis zwischen der Erdgebundenheit der Terraner und der Errettung von der Planetenoberfläche feststellen. Denn auch wenn der Untergang Terras in Rummet uden tid nicht das Ende der Welt für die gesamte Spezies Homo sapiens bedeutet, repräsentiert er mehr als nur ein gescheitertes Kapitel in der Geschichte der zu den Sternen berufenen Menschheit. Mit Terra verliert die Föderation einen der wenigen Plane­ ten, auf denen Bedingungen herrschen, die Menschenleben dauerhaft ermöglichen. Die Wahrscheinlichkeit, einen erreichbaren erdähnlichen Planeten in der habitablen Zone um ein Zentralgestirn finden zu können, ist auch in dem interplanetarischen Staatenbund im Vergleich zur Grö­ ße des zwar unendlichen, aber fast gänzlich lebensfeindlichen Kosmos verschwindend gering. Im Angesicht der vollständigen Zerstörung der Habitabilität müssen sich die Terraner eingestehen, dass sie mit der Erde mehr verlieren würden als nur einen beliebigen Wohnort. Als Terra für unbewohnbar erklärt wird und die Evakuierung eingeleitet wird, entschei­ den sich deswegen selbst Menschen, die in der privilegierten Position sind, den Planeten zu verlassen, dagegen. Während sich in der Föderation alle Menschen, einschließlich der als heimatlos geltende Kaste der Astro­ nauten, zumindest auf eine gemeinsame terranische Herkunft berufen – »i sidste instans var de allesammen terranere« (letzten Endes waren sie alle zusammen Terraner) (I, 309) –, ist für viele Terraner die Anziehungs­ kraft Terras stärker als die Aussicht auf die kosmische Emigration, die die Bewohner der Tochterplaneten erfolgreich vorgemacht haben. Auch Fey und Tukhalele, aus deren Sicht die Bewusstwerdung über die Verstrickung ihres Schicksals mit dem Schicksal des Planeten geschil­ dert wird, werden durch die Aufgabe Terras vor die wichtigste Entschei­ dung ihres Lebens gestellt. Tukhalele, die den ehemaligen ökologischen 185

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Reichtum Terras nur aus den Erzählungen vorhergehender Generationen kennt, kann sich eine Zukunft ungeachtet aller Aussichtslosigkeit anders­ wo nicht vorstellen. Für sie wiegen die von der Föderation versprochenen außerirdischen Lebensräume nicht den unwiederbringlichen Verlust ihres Heimatplaneten auf: I et enestående paradox var der global tillid til, at galaksen var fyldt med endnu uopdagede, beboelige planeter, som Explorerflåden ville finde. Det uendelige kosmos. Alligevel var tilliden ikke stærkere end en ødelagt planets tiltrækning. En tyng­ dekraft i sjælen. Den eneste grønne planet i et middelstort solsystem. (I, 96) (In einem einzigartigen Paradoxon bestand weltweit das Vertrauen, dass die Galaxie mit noch unentdeckten, bewohnbaren Planeten gefüllt war, die die Explorerflotte finden würde. Der unendliche Kosmos. Dennoch war das Vertrauen nicht stärker als die Anziehungskraft eines zerstör­ ten Planeten. Eine Schwerkraft in der Seele. Der einzige grüne Planet in einem mittelgroßen Sonnensystem.)

Für Tukhalele ist die Erdgebundenheit letztendlich so stark, dass sie sich nicht von Terra losreißen kann. Der biologischen Geburtenkontrolle zum Trotz – mit der eigentlich die terranische Bevölkerung aufgrund der globalen Katastrophen auf ein Minimum begrenzt werden soll – be­ schließt sie, schwanger zu werden. Im Wunsch nach »et politisk barn, en protestbaby, der kommer ud af ødelæggelsen af en hel planet« (einem politischen Kind, ein Protestbaby, das durch die Zerstörung eines ganzen Planeten zustande kommt) (I, 121), manifestiert sich in Tukhaleles Augen ihre untrennbare Verbundenheit mit Terra: »Den ene gang i hendes liv var biologi, politik og en klodes økologi smeltet sammen!« (Dieses eine Mal in ihrem Leben waren Biologie, Politik und die Ökologie eines Planeten verschmolzen!) (I, 148). Für Tukhalele verdichtet sich in der Erdgebundenheit also die unentrinnbare Verstrickung der Terraner mit Terra. Sie wird zum Sinnbild für die Kollision von Menschheitsgeschichte und Erdgeschichte in der neuen Epoche. Und doch verdeutlicht die in Rummet uden tid geschilderte Konfrontation mit dem Planetarischen – die im Anthropozän die Kategorien von Erde, Welt und Globus verdrängt – im gleichen Augenblick, dass der Planet selbst zutiefst gleichgültig gegen­ über seinen Bewohnern ist. Dipesh Chakrabarty hat beschrieben, dass das wesentliche Moment in der Geschichte des Lebens auf der Erde darin besteht, »that humans are not central to the problem of habitability, but habitability is central to human existence« (Chakrabarty 2019, 21).

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Die Erde von oben

Das Bild von der Erde aus dem Weltraum ist vor diesem Hintergrund nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Auch wenn die Raumfahrtfotos entscheidend die Vorstellung von unserem Planeten geprägt haben, lässt sich die Komplexität des planetarischen Zusammen­ wirkens dadurch nicht vollständig erkennen. In der Debatte um das An­ thropozän ist das Planetarische deswegen selbst als Kritik gegen die verein­ fachte Darstellung der Erde in ihrer Gesamtheit ins Feld geführt worden. Timothy Clark hat in seinem Buch Ecocriticism on the Edge. The Anthro­ pocene as a Threshold Concept die Weltraumimagination als Möglichkeit, sich die Implikationen der neuen Epoche wirklich vorstellen zu können, infrage gestellt (Clark 2015). Für ihn verdeutlichen die Weltraumbilder vor allem eins: Die skalaren Unvereinbarkeiten, die sich aus der perspek­ tivischen Begrenzung durch den menschlichen Erfahrungshorizont auf dem Erdboden ergeben: »The Earth is not ›one‹ in the sense of an entity we can see, understand or read as a whole. No matter from how far away or ›high up‹ it is perceived or imagined, or in what different contexts […] it is always something we remain ›inside‹ and cannot genuinely perceive from elsewhere« (33). Entgegen dem Anspruch des Overview Effect macht der Blick aus dem Weltraum laut Clark deswegen auch bewusst, »how far human perception and thinking are bound to the ›normal‹ scale of embodied experience on the Earth’s surface, and that we live with no intuitive or significantly internalized sense of the Earth as a planet« (36). In Rummet uden tid wird die Gegenüberstellung von interner Erdge­ bundenheit und externer Imagination anhand der Ambivalenz der Einzig­ artigkeit der Erde und ihrer Andersartigkeit gespiegelt. Auch nachdem Terra unbewohnbar geworden ist, übt sie weiterhin auf unheimliche Weise eine Anziehungskraft auf die Terraner aus. Fey bekommt dies zu spüren, nachdem sie ihre Tätigkeit als Prostituierte aufgegeben hat und vorübergehend bei den großflächigen Demontagearbeiten auf Terra an­ heuert, die das letzte Jahrzehnt vor der Evakuierung bestimmen. Erst vor Ort begreift sie, dass mit dem Habitabilitätsverlust das gesamte heimische Sonnensystem in Vergessenheit verdammt und der Mensch lediglich als ein Kapitel in die anhaltende geologische Geschichte des Planeten einge­ hen wird (I, 85). Obwohl sich Fey danach sehnt, die verheißungsvollen Tochterplaneten, die sie lediglich als Hologramme kennt, mit eigenen Augen sehen zu können, scheint ausgerechnet der sterbende Mutterplanet wie eine kosmische Achse inmitten einer unsicheren Zukunft (I, 198). Der Lebensfunke, der in diesem Augenblick auf Fey überspringt, gleicht einer Wiedergeburt, weil sie sich – konfrontiert mit dem Wunder, dass es 187

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überhaupt Leben im Universum gibt – zum ersten Mal wirklich lebendig fühlt. Beinahe wäre sie bereit, auf der Erde zu bleiben. Als das Ende der Demontage naht und Fey sich aufgrund fehlender Zukunftsaussichten jedoch gezwungen fühlt, zu emigrieren, bereut sie, dass sie nicht heraus­ finden konnte, ob sie »en blind, biologisk binding til Terra« (eine blinde, biologische Bindung zu Terra) (I, 311) besitzt oder nicht. Tatsächlich wird Feys Vermutung, dass die von Terra ausgehende An­ ziehung auf eine biologische Ursache zurückzuführen sein könnte, von Mnomele und Thelemone im Vorwort zum zweiten Band von Space With No Time bestätigt. Sie gehen davon aus, dass die Erdgebundenheit der Terraner auf die Koevolution mit ihrem Lebensraum zurückzuführen ist und sich als eine Art biologische und damit vererbbare Erinnerung manifestiert. Aus diesem Grund verspürt auch die Katastrophengeneration weiterhin »en tilsyneladende irrationel binding til moderplaneten på trods af, at de næppe kan have set hologramfilm af det oprindelige Terra« (eine scheinbar irrationale Bindung an den Mutterplaneten, obwohl sie kaum Hologrammfilme der ursprünglichen Terra gesehen haben können) (II, 10). Im Gegensatz zu den Erdbildern erhebt die Erdgebundenheit nicht den Anspruch auf einen totalisierenden Überblick, sondern hebt die undurchschaubare planetarische Verstrickung der Terraner mit ihrem Heimatplaneten hervor. Die mentale Verankerung der Vorstellung von Terra als grünes Paradies in der DNA der Terraner spricht vor allem für die existenzielle Zusammengehörigkeit der Spezies Homo sapiens mit dem Rest der natürlichen Welt, die Bruno Latour als wesentliche Mög­ lichkeit für die Neuperspektivierung der Erdgeschichte im Anthropozän sieht (Latour 2017). Für ihn bilden die Terrestrialität beziehungsweise die Reterrestrialisierung in der Gestalt von Gaia den Schlüssel, um die Geschichte des Lebens auf der Erde und die Geschichte der Menschheit in der neuen Epoche gemeinsam erzählen zu können (219) und um den sich als ›Erdgebundene‹ gewahr werdenden Bewohnern eine notwendige Rückkehr auf den Erdboden zu ermöglichen (248). Technosphäre

Im Gegensatz zur Erdgebundenheit lässt sich in Rummet uden tid auch ablesen, wie weit der Mensch und die natürliche Welt im Anthropozän auseinandergedriftet sind. Vor allem durch den omnipräsenten Einsatz von Technik, der seinen Höhepunkt ausgerechnet während des ersten

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Technosphäre

Treibhauseffekts erreicht, hat die terranische Zivilisation ihren Lebens­ raum drastisch umgestaltet. Die Errichtung einer globalen Infrastruktur aus Megastädten bestimmt die Planetenoberfläche, sodass die ohnehin ver­ armte Biosphäre – neben der Spezies Homo sapiens existieren in Eriksens Zukunftsszenario so gut wie keine anderen Tier- und Pflanzenarten mehr – durch technische Nachbildungen fast gänzlich ersetzt worden ist. In der Ausweitung des menschlichen Einflussbereichs nicht nur auf die ge­ samte Erde, sondern auch auf neue Exoplaneten hinaus schwingt ein für das Weltraumzeitalter kennzeichnender Diskurs mit, der sich von der Überwindung der Schwerkraft eine Befreiung des Menschen aus seiner irdischen Begrenzung versprach. Andere wie Hannah Arendt haben im Aufbruch ins All dagegen die Gefahr gesehen, dass der Mensch dadurch gänzlich aus seiner existenziellen Verankerung herausgelöst wird. Für Arendt bildete der Start von Sputnik 1957 den ersten Schritt auf dem Weg zu einer Entwurzelung von der Erde, die sie in ihrem Buch The Human Condition als die Quintessenz des menschlichen Daseins deutete (Arendt 1998, 2). Die durch die Entfernung von der Erde entstehende »earth alienation« (264) verstand Arendt als eine Verfremdung der Lebenswelt durch die Verkünstlichung und Neuschöpfung der Natur, die mit der Herstellung der Atombombe begann und mit Satelliten als »man-made stars« ihre Endstufe erreicht (269). Arendts Antizipation einer technomorphen Gestalt der Erde ist im An­ thropozän bereits zu großen Teilen Wirklichkeit geworden. Weit mehr als nur ein Symbol für die Technisierung der Erde zu sein – wie es Arendt vorschwebte – nehmen Satelliten dabei eine bedeutende Rolle ein. Erdbeobachtungssatelliten sind maßgeblich an der Perspektivierung der Erde aus dem Weltraum beteiligt und machen im Anthropozän den planetarischen anthropogenen Einfluss sichtbar. Gleichzeitig verkörpern sie als eine stetig wachsende planetenumspannende Schicht aus Trüm­ mern die Ausdehnung des menschlichen Einflussbereichs über die Plane­ tenoberfläche hinaus (Gärdebo et. al. 2017). In Rummet uden tid taucht der Weltraumschrott in der Erdumlaufbahn an einer Stelle auf, als Tukhalele entgegen der globalen Abkühlung während der globalen Verdunkelung einen unerwarteten Temperaturanstieg feststellt. Bei dem Versuch, eine Ursache dafür zu finden, stellt sich heraus, dass die Daten der Überwa­ chungssatelliten Terras nicht länger ausgewertet werden: »Spøgelsesmetal svævende 36.000 kilometer over en grå kugle« (Geistermetall schwebte 36.000 Kilometer über einer grauen Kugel) (I, 201). Auch wenn Tukhale­ les Beobachtung aufgrund der weitaus dringlicheren Probleme als Neben­ 189

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sache abgetan wird, geben die Satelliten einen entscheidenden Hinweis auf die globale Verbreitung von Technik in der Zukunft von Rummet uden tid. Statt globale Zusammenhänge und ein ökologisches Bewusstsein zu vermitteln, signalisieren die ausgedienten Satelliten allerdings nur noch den fehlenden Überblick über die Geschehnisse auf der Erdoberfläche, der buchstäblich von der undurchdringlichen Wolkendecke durch den zweiten Treibhauseffekt versperrt bleibt. Satelliten sind ein Ausdruck für die neuen materiellen Realitäten, die menschliche Aktivitäten im Anthropozän hervorgebracht haben. Sie bil­ den die äußerste Schichte der ›Technosphäre‹, ein Begriff, der von Peter Haff geprägt worden ist, um die Kopplung von Mensch und Umwelt infolge der Koevolution des Menschen mit der Technik und der Kon­ struktion von Natur zu beschreiben (Haff 2014). Mit dem Konzept der Technosphäre lässt sich die geologische Dimension des anthropogenen Einflusses auf der Erde anhand der Verbreitung und Vernetzung von globalen Techniken in einem erdsystemischen Kontext bestimmen. Wie der Name schon sagt, ergänzt die Technosphäre das Erdsystem um eine menschengemachte Komponente, die die natürlichen Erdsphären – wie die Biosphäre oder die Atmosphäre – durchdringt und verbindet. Der Begriff der Technosphäre ist bereits am Übergang von den 1960er- zu den 1970er-Jahren und vor dem Hintergrund der Entstehung eines glo­ balen ökologischen Bewusstseins aufgekommen, um einen sich immer deutlicher abzeichnenden, künstlich geschaffenen menschlichen Einfluss­ bereich zu beschreiben. Während die Technosphäre zunächst noch der natürlichen Biosphäre untergeordnet beziehungsweise gegenübergestellt wurde, um ein aus dem Gleichgewicht zu geraten drohendes planetari­ sches Gefüge zu beschreiben, bezeichnet erstere heute die zunehmende Vereinnahmung und Umwandlung der letzteren (Schneider 98, 2019). Für Haff markiert die Technosphäre deswegen nichts Geringeres als »a new stage in the geologic evolution of the Earth« (Haff 2014, 127) und damit »the defining system of the Anthropocene« (Haff 2017, 103). Haff versteht die Technosphäre als ein geologisches System, das aus einer gigantischen soziotechnischen Infrastruktur – einem Netzwerk aus anthropogenen Aktivitäten und technischen Artefakten – besteht, haupt­ sächlich durch fossile Brennstoffe betrieben wird und dabei enorme Ener­ gie-, Material- und Informationsflüsse mobilisiert (Haff 2017, 103). Ohne die Technosphäre können weite Teile der Weltbevölkerung nicht mehr in der gewohnten Weise funktionieren. Während die Zukunft der globalen menschlichen Zivilisation von der Technosphäre abhängt, betont Haff 190

Technosphäre

aber gleichzeitig, dass die größte Schwachstelle des Systems darin besteht, dass es im Gegenteil zu den anderen Sphären des Erdsystems nur über in­ effiziente Recycling-Mechanismen verfügt, um ihre eigenen Abfallproduk­ te – wie beispielsweise Kohlenstoffdioxid – zurückzuführen (Haff 2014, 134). Bezeichnenderweise für die Zerstörung der eigenen Existenzgrundla­ ge durch den Menschen im Anthropozän stellt die Technosphäre selbst die größte Gefahr für ihre eigene Stabilität dar. Diese Tatsache wirkt umso bedrohlicher, weil der Mensch nurmehr Teil der Technosphäre ist, die ihn in ihrer Gesamtheit übersteigt. Zwar zweifelt Haff nicht daran, dass der Mensch essenziell für die Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit der Technosphäre ist. Da der Mensch aber keinen signifikanten Einfluss auf wesentliche Systemfunktionen – geschweige denn die Kontrolle über die Technosphäre hat –, ist er weniger Erschaffer der Technosphäre, sondern vielmehr ihr Produkt (Haff 2017, 135). Das Konzept der Technosphäre wirft unweigerlich die Frage danach auf, ob und wie der Einsatz von globalen Techniken reguliert werden kann. Um die ganze Bedeutung des Konzepts für die Transformation der Erde im Anthropozän verstehen zu können, müssen neben der äu­ ßeren Gestalt der Technosphäre auch ihre inneren Gesetzmäßigkeiten betrachtet werden. Im Hinblick auf die potenziellen Entwicklungen der Technosphäre besteht laut Haff prinzipiell die Wahrscheinlichkeit, dass die Eigendynamik des Systems den Menschen zugunsten effizienterer nichtmenschlicher Subsysteme ersetzt, um ihre Funktionstüchtigkeit in Zukunft erhalten zu können. Die radikalste Implikation dieser Zukunfts­ aussicht beruht deswegen auf der Hinterfragung des Sonderstatus des Menschen. In Anspielung an die Bewusstwerdung des Menschen als geo­ logische Kraft, die dem Konzept des Anthropozäns den Weg geebnet hat, argumentiert Haff, dass mit der Technosphäre bereits das nächste Kapitel in der Erdgeschichte begonnen hat: »This prospect revisits the argument […] that today humans may be overwhelming the great forces of nature with appreciation of another possibility, that humans are in the process themselves of being overwhelmed by novel forces of an evolving Earth« (Haff 2017, 108). Aus Haffs systemzentrischer Perspektive, die den Men­ schen notwendigerweise hinter sich lässt, wird der Spezies Homo sapiens also die im Anthropozän ohnehin umstrittene Handlungsmacht durch die Verselbstständigung der Technosphäre größtenteils abgesprochen. Die Zukunft, so Haff, wird von der Technosphäre geschrieben, ob es der Mensch will oder nicht.

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6 Planetarische Imagination

Obwohl die von Haff postulierte Autonomie der Technosphäre Anlass zur Kritik gibt, lässt sich die realitätsformende Kraft der menschenge­ machten Einflusssphäre, die nahezu sämtliche Bereiche unseres Planeten – vom Erdorbit bis in die Tiefsee – einschließt, nicht mehr leugnen. Denn auch, wenn sich alle Ausformungen des anthropogenen Einflusses in der neuen Epoche nicht auf die planetarische Technisierung zurück­ führen lassen, beschreibt das Konzept der Technosphäre ausgesprochen treffend die heutigen Dynamiken des Erdsystems (Zalasiewicz et al. 2017, 18). Die Technosphäre ist zur axiomatischen Hauptkonstante der vom Menschen initiierten Veränderungen auf der Erde geworden, von der die Voraussetzungen für die zukünftige Bewohnbarkeit abhängen. Sie ist Aus­ druck einer Verstrickung menschlicher und nichtmenschlicher Bereiche und eines grundlegend veränderten Lebensraums mit grundlegend verän­ derten Lebensbedingungen. Schon heute ist klar, dass die Überreste der Technosphäre – die sogenannten Technofossilien – als Konglomerate aus Natürlichem und Künstlichem die Biomasse aller Menschen um fünf Grö­ ßenordnungen übersteigen (19). Weil sie auch noch in Jahrmillionen in den Sedimentschichten der Erde als Spuren des anthropogenen Einflusses abzulesen sein werden, werden sie gleichzeitig als potenzielle Global Stra­ totype Section and Points zur Datierung des Anthropozäns herangezogen. Aufgrund der zentralen Rolle der Technosphäre taucht deswegen in der Reihe der Begriffsmutationen für die neue erdgeschichtliche Epoche auch die Bezeichnung ›Technozän‹ auf (Hornborg 2015). Auch in Eriksens Rummet uden tid kann die Technisierung Terras im Kontext der Technosphäre interpretiert werden. Die zentrale Rolle der Technik für die Geschichte Terras lässt sich daran ablesen, dass sie die gesamte Gesellschaftsorganisation der terranischen Zivilisation durchzieht und ihre Wirtschaft, Produktion und Versorgung strukturiert. Die Siche­ rung des Überlebens und der Aufbau einer neuen Zivilisation während der globalen Erwärmung kommt jedoch mit der einsetzenden globalen Verdunkelung an ihre Grenzen, weil die Bewohnbarkeit Terras durch die »tekniske beherskelse af del-fænomener« (technische Beherrschung von Teilphänomenen) (I, 10) nicht wiederhergestellt werden kann. Eriksen bringt die Technosphäre konkret in den Zusammenhang mit dem Habi­ tabilitätsverlust Terras. Denn die existenzielle Abhängigkeit der Terraner basiert nicht nur auf einer intakten Habitabilität des Planeten, sondern auch auf einer intakten Technosphäre. Im Katastrophenszenario wird die Diskrepanz zwischen der Überlebenswichtigkeit und der Anfälligkeit der Technosphäre gegenüber äußeren systemischen Umwälzungen insbeson­ 192

Technosphäre

dere daran ersichtlich, dass die Aufrechterhaltung der in erster Linie fos­ silenergetischen Lebensweise der terranischen Zivilisation unweigerlich zum Verlust der Bewohnbarkeit des Planeten führt und damit durch die Technosphäre selbst hervorgebracht wird. Die Destabilisierung der Ökologie wird so zum Sinnbild der Ambivalenz menschlicher Aktivitäten, treffen in ihr doch die vermeintlich totale Beherrschung der Natur auf den unausweichlichen Kontrollverlust über den anthropogenen Einfluss. Als die Aufzeichnungen von Team Capricorn in den letzten zehn Jah­ ren vor der Aufgabe Terras einsetzen, ist die ursprüngliche Technosphäre auf dem Planeten nur noch in Ruinen präsent. Neben der durch den Weltraumschrott angedeuteten orbitalen Technosphäre legt vor allem die Demontage der globalen Infrastruktur auf dem Erdboden die Spuren der planetarischen Technisierung frei. Die Abbauarbeiten, die den Eindruck erwecken, es handle sich bei Terra um eine gigantische archäologische Fundstätte, fördern auch die für das Anthropozän charakteristischen Tech­ nofossilien zutage. Die Verschmelzungen zwischen künstlichen Materiali­ en und der natürlichen Umwelt, die sich in den geologischen Schichten abgelagert haben, sind die einzigen anhaltenden Zeugnisse, dass nach der Aufgabe Terras einst Menschen auf dem Planeten gelebt haben. Den Terranern bleibt bei ihrem Anblick nur noch übrig zu spekulieren, ob aus »nye kemiske forbindelser mellem smuldret beton og planter« (neu­ en chemischen Verbindungen zwischen zerbröckeltem Beton und Pflan­ zen) vielleicht »en anden form for liv [...], som kunne friholde Terra for glemsel« (eine andere Lebensform […], die Terra vor dem Vergessen bewahren konnte) (I, 247), im Entstehen begriffen ist. Die Überreste der Technosphäre greifen noch einmal die Latenz der Klimakatastrophe in Rummet uden tid auf, weil sie den tiefenzeitlichen Folgen des anthropoge­ nen Einflusses Gestalt verleihen. Die Technofossilien verweisen abermals auf eine erschreckende, posthumane Zukunft, in der die Menschen Teil der planetarischen Vergangenheit geworden sind. Der systematische Zusammenbruch der Technosphäre ist ein wesentli­ ches Kriterium für die Aufgabe Terras. Ihr Funktionsversagen wird in Rummet uden tid in erster Linie anhand der Central Information (CI), eines globalen computergestützten Kommunikations- und Informations­ netzwerks, das über künstliche Intelligenz verfügt, geschildert (I, 27). Der CI obliegt die Steuerung und Vernetzung sämtlicher Lebensbereiche der terranischen Zivilisation, die bis in die biologischen Prozesse des Lebens der Menschen – von der Makroebene der Gesellschaft (wie Geburtenrate) bis zur Mikroebene des Individuums (wie Psychotherapie) – hineinreicht. 193

6 Planetarische Imagination

Die Verschmelzung von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft innerhalb des gigantischen Versorgungs- und Verwaltungsapparats verdeutlicht, dass der Mensch selbst nicht von der Technisierung ausgenommen ist. Mnomele und Thelemone begründen die Überantwortung der Terraner an die CI damit, dass die harschen Lebensbedingungen während Terras Katastro­ phenvergangenheit das Vertrauen in technische Lösungen für alle Pro­ bleme gefördert haben. Im Zuge der Auflösung des globalen soziotech­ nischen Systems wird aber auch klar, dass das einzelne Menschenleben für die Funktionstüchtigkeit nicht zählt: »– det enkelte menneske har været en frase i flere tusind år! [...] – hvadenten du siger masserne eller menneskeheden – arten overlever« (– der einzelne Mensch ist mehrere tausend Jahre eine Phrase gewesen! [...] – ob du von den Massen oder der Menschheit sprichst – die Art überlebt) (I, 58–59). Anhand der Systemlogik der CI lässt sich die Rekonfiguration des Ver­ hältnisses zwischen Mensch und Technik ablesen, die Haff zum zentralen Merkmal für die Technosphäre erklärt. In Rummet uden tid führt die Ver­ selbstständigung der CI nicht nur dazu, dass die Terraner grundsätzlich von allen wichtigen Entscheidungen entbunden werden, um einen stabi­ len Systemzustand aufrechtzuerhalten. Die Kontrolle durch das System re­ sultiert regelrecht in einer Entmenschlichung, infolge derer die Menschen lediglich zu Systemkomponenten geworden sind. Dass die CI mehr als nur ein Werkzeug ist, um das Überleben der Terraner zu garantieren, wird diesen erst nach dem endgültigen Zusammenbruch bewusst, als sie erken­ nen, »at deres blod var mættet med silicium. De var teknologiske livegne« (dass ihr Blut mit Silizium gesättigt war. Sie waren technologische Leibei­ gene) (I, 211). Die Abhängigkeit der Menschen von der Technosphäre hat die Erzeugung einer neuen technischen Wirklichkeit zur Voraussetzung, die insbesondere durch die Kontrolle über die Zeit selbst umgesetzt wird (I, 344). Die Konditionierung innerhalb der Systemlogik, wonach die Erinnerungen und die Träume der Terraner aufgehoben werden, zeugt von der Unfähigkeit, die Vergangenheit in Relation zur Zukunft zu setzen und damit den gegenwärtigen Moment als Handlungsraum zu bewahren. Das von Mnomele und Thelemone in Space With No Time beklagte fehlen­ de Geschichtsbewusstsein der neuen Föderation ist also bereits in deren ursprünglicher Form auf Terra fest verankert. Zwar zielt die Darstellung der Folgen der CI für die Terraner in erster Linie auf eine Kritik an einem totalitären Wohlfahrtsstaat ab, der über eine unbegrenzte Biomacht durch die Technisierung verfügt und damit den Bedeutungsverlust des Individuums herbeiführt. Als Verkörperung 194

Technosphäre

der Systemlogik der Technosphäre lässt sich an der CI aber auch die grundlegende Transformation des Verhältnisses zwischen dem Menschen als planetarische Kraft und den Dynamiken des Erdsystems herauslesen. Anhand der Verselbstständigung der Technosphäre wird in Rummet uden tid das Kernproblem des Anthropozäns verhandelt, kollektive Handlungs­ macht zu mobilisieren. Der Zusammenbruch der CI und der Habitabili­ tätsverlust Terras werden im Text durchgehend als parallele Entwicklun­ gen im geopolitischen Versagen geschildert. Als durch die Evakuierung die sukzessive Auflösung des weltweiten soziotechnischen Netzwerks ein­ geleitet wird und einzelne Gebiete von der Außenwelt abgeschnitten werden, muss sich die terranische Administration eingestehen, dass die Zerstörung der Integrität des Gesamtsystems unweigerlich die Zerstörung der Einzelteile herbeiführt. Den Terranern wird nun klar, dass jeder von ihnen bis zur Katastrophe »i hver sin verden på den samme klode« (in seiner eigenen Welt auf dem gleichen Planeten) (I, 328) gelebt hat. Die Einsicht, dass Lokales und Globales nicht unabhängig voneinander funk­ tionieren, unterstreicht – wie bereits die abgeschalteten Satelliten – die Schwierigkeit der Terraner, sich einerseits das Ausmaß und die Gleichzei­ tigkeit der Katastrophe vorstellen zu können und sich andererseits in der Größenordnung der gesamten Spezies und deren gewaltigen Einflusses wahrzunehmen. Tukhalele, die als Koordinatorin der globalen terranischen Administra­ tion den Folgen des Zusammenbruchs der Technosphäre für die Zurück­ bleibenden der Evakuierung tatenlos zusehen muss, bekommt den Verlust von Handlungsmacht besonders zu spüren. Während der Verschlimme­ rung der Lebensbedingungen, die global zu bürgerkriegsähnlichen Zu­ ständen führt, muss sie sich eingestehen, dass die Terraner nie wirklich die Kontrolle über ihr eigenes Leben gehabt haben. Denn obwohl auf Terra stets von der Zukunft die Rede war, hat sich die Gegenwart zu keinem Zeitpunkt in ihrem Leben von der Vergangenheit unterschieden: Hele hendes liv havde været overskygget af fremtiden, selvom hun havde levet i nuet, fordi øjeblikket var den eneste tidskategori, hun havde lært at forstå gennem den daglige og altdominerende afhængighed af CI. På dét grundlag havde hun brugt sit liv og avlet et barn uden nogensinde for alvor at være til stede. For øjeblikket fandtes ikke. (I, 232). (Ihr ganzes Leben war von der Zukunft überschattet worden, obwohl sie in der Gegenwart gelebt hatte, denn der Augenblick war die einzige Zeitkategorie, die sie durch die tägliche und alles dominierende Abhängigkeit von der CI zu ver­ stehen gelernt hatte. Auf dieser Grundlage hatte sie ihr Leben verbracht und ein

195

6 Planetarische Imagination Kind gezeugt, ohne jemals ernsthaft zur Stelle zu sein. Denn den Augenblick gab es nicht.)

Dass die Zukunft nicht in den eigenen Händen liegt, erkennt Tukhal­ ele als das Resultat einer fehlenden Verortung in der Geschichte, die innerhalb der Systemlogik der CI unveränderlich festgeschrieben ist. Die Zeitlosigkeit und Geschichtslosigkeit vermittelt Tukhalele den Eindruck, in einem unbestimmbaren Nirgendwo gefangen zu sein, dem weder vor­ wärts noch rückwärts entkommen werden kann. Ihr drängt sich deswegen die Frage auf, »hvad forskel der var på at handle ud fra en glemt fortid og et rasende ukendskab til fremtiden. I et lille klokkerent plingg forstod hun øjeblikket som en illusion: de levede i det, men det fandtes ikke. Rummet uden tid…« (was der Unterschied war, aus einer vergessenen Vergangenheit und einer rasenden Unkenntnis der Zukunft heraus zu handeln. In einem kleinen glockenreinen Plingg verstand sie den Augen­ blick als eine Illusion: Sie lebten darin, aber er existierte nicht. Der Raum ohne Zeit…) (I, 152). Nachdem Tukhalele sich die Zukunftslosigkeit ver­ gegenwärtigt hat, versucht sie, ihr Schicksal endlich selbst in die Hand zu nehmen. Entgegen den immer geringer werdenden Überlebenschancen auf Terra beschließt sie, mit einem Teil der verbleibenden afrikanischen Bevölkerung den bald menschenleeren Kontinent in der Hoffnung auf einen Ort, an dem Leben weiter möglich ist, nordwärts zu verlassen. Der Exodus liefert die Grundlage für die spätere decentianische Zivilisation, auf die die Besatzung des Raumschiffs Jezabel in einem Gebiet an der europäischen Mittelmeerküste im 55. Jahrhundert stößt. Der Raum ohne Zeit

Eriksens Bedürfnis nach einer literarischen Projektionsfläche für zukünf­ tige Gesellschaftsentwürfe erwuchs aus dem zunehmenden Verlust von Handlungsmacht in der globalen Industriegesellschaft, die in ihren Au­ gen durch die Vereinnahmung des Individuums durch Quantifizierung, Bürokratisierung und Homogenisierung die politische Beteiligung zum Erliegen brachte. Die anonymisierte Masse deutete Eriksen als eine all­ gemeine Ohnmachtserklärung, nicht mehr an wirklichkeitsformenden Entscheidungsprozessen mitwirken zu können: »Mennesket som politisk handlende væsen er forsvundet ud af historieskrivningen, fordi det lader til at være på vej ud af den historiske proces i det hele taget« (Der Mensch als politisch handelndes Wesen ist aus der Geschichtsschreibung 196

Der Raum ohne Zeit

verschwunden, weil er überhaupt auf dem Weg hinaus aus dem histori­ schen Prozess zu sein scheint) (Eriksen 2016, »Ved jorden at blive«). Eriksens Auseinandersetzung mit der Geschichtslosigkeit und Zukunftslo­ sigkeit in Rummet uden tid ist untrennbar mit den Begriffen Utopie und Dystopie verbunden. Zwar ist die Tetralogie in den Zusammenhang mit dem utopischen Denken der 1960er- und 1970er-Jahre gebracht worden, das vor allem Eriksens anfängliche historische Romane prägte (Christen­ sen 2000, 222). Auf die Möglichkeiten, die Eriksen in Science Fiction erkannte und die ihre Science Fiction-Tetralogie wesentlich innerhalb eines modernen Technikdiskurses verankern, ist jedoch in der Forschung bisher nicht eingegangen worden. Dabei ist die Problematisierung des Zukunfts­ und Geschichtsverständ­ nisses in Rummet uden tid undenkbar ohne die literaturkritische Debatte um Science Fiction in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ent­ scheidende Impulse für das utopische Denken geliefert hat. Eriksen sah in Science Fiction eine geschichtsreflexive und gegenwartstransformierende Kraft, »der kan give læseren frihed til at se verden og derved gøre en ændring mulig« (die dem Leser die Freiheit geben kann, die Welt zu erkennen und damit eine Änderung möglich zu machen) (Eriksen 2017b, »Sorgens røde farve«). Diese Auffassung erinnert stark an Darko Suvins Definition von Science Fiction als gesellschaftspolitischer Imaginations­ raum (Suvin 2016). Suvin, der sogar so weit geht, die Utopie als Subgenre der Science Fiction unterzuordnen, sieht in literarischen Zukunftsszenari­ en eine Konfrontation mit radikalen Veränderungen, die neben ihrem Potenzial zur Warnung vor allem mögliche Alternativen aufzeigen (24). Laut Suvin gehe es Science Fiction weniger darum, der Wirklichkeit zu entkommen, als vielmehr aus deren perspektivischer Begrenzung aus­ zubrechen. Ähnlich dem historischen Roman dienen Zukunftsszenarien deswegen in erster Linie einer Neubewertung der Geschichte und des Geschichtsverständnisses: »[Science Fiction] is an escape from constrictive old norms into a different and alternative timestream, a device for histori­ cal estrangement, and an at least initial readiness for new norms of reality, for the novum of dealienating human history« (101). Das imaginative Potenzial von Literatur zur Neuperspektivierung bil­ det einen zentralen Aspekt im utopischen Denken. Im Vergleich zu Eriksens Sozialutopien geschieht die Erprobung der Utopie in ihrer Science Fiction-Tetralogie allerdings unter umgekehrtem Vorzeichen. Denn angesichts der Entpolitisierung von den 1980er-Jahren an wächst auch bei Eriksen die Ernüchterung darüber, dass die revolutionäre Kraft 197

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der Utopie zerstreut worden zu sein scheint. Als Reaktion auf die Ge­ schichts- und Zukunftslosigkeit lässt sich Rummet uden tid als Teil einer allgemeinen dystopischen Kehrtwende in Science Fiction begreifen, die zwar nicht gänzlich die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Veränderung aufgibt, diese jedoch umso kritischer zu hinterfragen beginnt (Moylan 2000, 147). Fredric Jameson deutet die Hinwendung zur Dystopie als Fol­ ge einer Krise des Vorstellungsvermögens und verortet sie damit im Kern des Reflexionspotenzials von Science Fiction (Jameson 2005). Jameson argumentiert, dass ein Zukunftsbegriff insofern nicht mehr als selbstver­ ständlich vorausgesetzt werden kann, als dass eine sich positiv von der Gegenwart abhebende Zukunft – also eine Utopie – nicht länger glaub­ haft entworfen werden kann und dass sie als solche praktisch nicht mehr existiert. Dabei nimmt er explizit Bezug auf die Geschichte, die aufgrund der Fortschrittsgerichtetheit den Eindruck vermittelt, ihren Endpunkt in der Totalisierung einer Weltordnung zu erreichen, wodurch die Vergan­ genheit bedeutungslos und die Zukunft undenkbar werden würden (287– 288). Dieses, in erster Linie durch Globalisierungsprozesse herbeigeführte ›Ende der Geschichte‹, das Jameson für »a blockage of the historical imagi­ nation« (Jameson 1998, 91) verantwortlich macht, ist nicht nur im Sinne einer Unmöglichkeit eines gesellschaftspolitischen Wandels zu verstehen. Weil es im gleichen Moment die Erde an ihre Grenzen bringt und »with a generalized and planetary ecological disaster« (91) zusammenfällt, kann Jamesons Zeitdiagnose auch als Bestandsaufnahme des Anthropozäns aus­ gelegt werden, in dem das Ende der Geschichte das alternativlose Zusteu­ ern auf eine globale Katastrophe und damit das Ende der Welt bedeutet. Auch Eriksen spricht in ihren Überlegungen zu Science Fiction wieder­ holt von einem alternativlosen Geschichtsverlauf, den sie in Rummet uden tid und darüber hinaus als »den lineære tid – der i det skjulte betyder fremskridt« (die lineare Zeit – die im Verborgenen Fortschritt bedeutet) (Eriksen 2017a, »Rejsen i indre og ydre tid«, Den indre tid) beschreibt. In ihrer Romantetralogie findet die Vorstellung vom Ende der Geschichte ihre Entsprechung in der zentralen Metapher vom zeitlosen Raum, der – bezogen auf das Schicksal Terras – den ökologischen Kollaps besiegelt und eine Zukunft für die Bewohner zunichtemacht. Im gleichen Moment bildet der Raum ohne Zeit aber auch einen entscheidenden Gegenpol dazu, weil in Gestalt Decentias ein neues Kapitel der Geschichte Terras in Gang gesetzt wird, die mit dem Habitabilitätsverlust des Planeten nur vermeintlich an ihr Ende gelangt zu sein schien. 198

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Im Einklang mit der Vorstellung von Science Fiction als Zukunftsar­ chäologie verlangt die Auseinandersetzung mit der Geschichtslosigkeit und Zukunftslosigkeit in Eriksens Augen nach neuen Erzählstrategien. Denn, wenn »fremtidens forsvinden som kategori blir taget alvorligt, er man henvist til øjeblikket og det må nødvendigvis have en anden æstetik end den der blev brugt, da dagen endnu var klemt mellem i går og i mor­ gen« (das Verschwinden der Zukunft als Kategorie ernst genommen wird, wird man auf den Augenblick verwiesen, und der muss notwendigerwei­ se eine andere Ästhetik besitzen als diejenige, die verwendet wurde, als der Tag noch zwischen gestern und morgen eingeklemmt war) (Eriksen 2017b, »Det ukendte er ikke altid det samme«). Um die Gegenwart wie­ der als Möglichkeitsraum zurückzugewinnen, müssen literarische Texte laut Eriksen bereits auf der Ebene der formalen Gestaltung aus einem eindimensionalen Geschichtsnarrativ wieder einen vieldimensionalen und simultanen historischen Horizont machen (Eriksen 2017a, »Rejsen i indre og ydre tid«, Tiden og texten). Vor allem in dem eng mit dem utopischen Denken verbundenen Konzept der Zeitreise in Science Fiction-Erzählun­ gen liest Eriksen einen dezidierten Wunsch, »at ændre historiens fortvivle­ de gang ved hjælp af tidsmanipulationer« (den verzweifelten Verlauf der Geschichte mithilfe von Zeitmanipulationen zu ändern) (Eriksen 2017a, »Rejsen i indre og ydre tid«, Tidsmanipulationer). Es überrascht deshalb nicht, dass der Ausbruch aus der ›linearen Zeit‹ in Rummet uden tid buch­ stäblich in Form des Zeitsprungs des Raumschiffs Jezabel erfolgt, der den ohnehin fragmentierten Geschichtsverlauf durchkreuzt und in der Gleichzeitigkeit einer horizontalen und vertikalen Zeit- und Erzählstruk­ tur resultiert. Durch die Zeitreise des Raumschiffs Jezabel vom 47. Jahrhundert in die Zukunft Terras im 55. Jahrhundert folgt auf die absehbare Apokalypse die unerwartete Postapokalypse, als die Besatzung auf die decentianische Zivi­ lisation an dem letzten bewohnbaren Ort auf dem Planeten stößt. Decen­ tia mutet auf den ersten Blick wie ein irdisches Paradies an, dessen Exis­ tenz aus Sicht der Zeitreisenden nicht erklärt werden kann und das selbst die kühnsten Träume der föderativen Explorerflotte übertrifft. Allem An­ schein nach ist ein überschaubarer Teil in der nördlichen Hemisphäre von den Treibhauseffekten verschont geblieben. Von der katastrophischen Vergangenheit Terras zeugt lediglich der niedrige Entwicklungsstand der teils sesshaften, teils nomadischen Decentianer. Die decentianische Zivili­ sation unterscheidet sich jedoch in einem wesentlichen Punkt von der ehemaligen terranischen Zivilisation. Denn entgegen dieser übt jene nur 199

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einen geringen Einfluss auf die für sie überlebenswichtige Ökologie aus. Wurde in der Föderation noch die Auffassung vertreten, »at det er histori­ en der skaber geografien« (dass es die Geschichte ist, die die Geografie formt) (III, 35), gilt auf Decentia das Gegenteil. Die symbiotische Koexis­ tenz der Decentianer mit ihrem Lebensraum vermittelt den Eindruck einer ›Ökotopie‹, in der der Mensch in die natürliche Welt integriert ist. Selbst die Besatzungsmitglieder, die nicht von Terra stammen, verspüren an diesem Ort »den første samhørighed med naturen nogensinde« (die erste Zusammengehörigkeit mit der Natur jemals) (II, 177). Es bleibt jedoch nicht bei diesem Idyll. Mithilfe der Zeitreisenden wird die Herkunft der Decentianer aufgearbeitet, die bisher noch davon ausge­ gangen waren, vor langer Zeit von einem anderen Planeten übergesiedelt worden zu sein und zu dem sie eines Tages hoffentlich wieder zurück­ kehren können. Nachdem die einzige schriftlich überlieferte Quelle, bei der es sich um Tukhaleles Testament handelt, neu interpretiert worden ist, gelingt es, die unbekannte Vergangenheit des Planeten freizulegen. Daraus geht hervor, dass Tukhalele absichtlich alle anderen historischen Zeugnisse vernichtet hat, um einen echten Neuanfang zu ermöglichen: Når jeg prøver at forholde jer jeres historie, er det ikke fordi man ikke kan lære af historien, det kan man sikkert, men fordi jeg frygter, at I skal binde jer til fortiden på en måde, som vil forvride den kultur, vi lagde grunden til. […] Fremtiden som kategori var forsvundet på grund af misbrug, presserende opgaver, hukommelsestab og sammenbrud af dimensioner, I ikke kan fatte. Jeg tror ikke, at mennesker i det lange løb kan leve uden et levende fremtidsbegreb. (II, 391–392) (Wenn ich versuche, euch eure Geschichte vorzuenthalten, dann nicht, weil man nicht aus der Geschichte lernen kann, das kann man sicher, sondern weil ich befürchte, dass ihr euch auf eine Weise an die Vergangenheit bindet, die die Kultur verzerrt, zu der wir den Grundstein legten. […] Die Zukunft als Kategorie war aufgrund von Missbrauch, dringenden Aufgaben, Gedächtnisverlust und dem Zusammenbruch von Dimensionen verschwunden, die ihr nicht begreifen könnt. Ich glaube nicht, dass Menschen auf lange Sicht ohne einen lebendigen Zukunftsbegriff leben können.)

Die Vorstellung, dass die Vergangenheitslosigkeit nur ein kleiner Preis im Gegensatz zur Zukunftslosigkeit sei, stellt sich als fataler Fehlschluss heraus. Während Tukhalele angesichts der Katastrophenvergangenheit des 47. Jahrhunderts alle Kräfte auf den gegenwärtigen Moment verwendete, sah sie nicht voraus, dass die Menschen auf lange Sicht mehr brauchen würden, als nur das nackte Überleben zu garantieren (Eriksen 1989a = IV, 200

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307). Durch die Einordnung Decentias in die Katastrophengeschichte Ter­ ras im 55. Jahrhundert wird den Decentianern bewusst, dass sie in ihrem anfänglichen Kampf um das Überleben nicht nur alle technischen Errun­ genschaften, sondern auch ihre eigene Geschichte verloren haben. Tukha­ leles Entscheidung führt im Endeffekt zum Gegenteil von dem, was sie beabsichtigt hatte, weil die fehlende Verortung in der Vergangenheit ein zyklisches Geschichtsverständnis ohne Anfang und Ende befördert und damit die Decentianer um ihre Fähigkeit beraubt hat, eine echte Zukunft zu entwerfen. Konfrontiert mit der Wahrheit über ihre Herkunft wird den Überlebenden bewusst, »at det ikke er ligegyldigt hvilket udgangspunkt man vælger, når man skal skabe et nyt fremtidsperspektiv. Måske har vi aldrig haft et, måske har vi levet i et rum uden tid, i Tukhaleles øjeblik« (dass es nicht gleichgültig ist, welchen Ausgangspunkt man wählt, wenn man eine neue Zukunftsperspektive schaffen möchte. Vielleicht haben wir nie eine gehabt, vielleicht haben wir in einem Raum ohne Zeit gelebt, in Tukhaleles Augenblick) (II, 281). Anhand von Decentia lassen sich in Rummet uden tid Aussagen über die Bedeutung der Dimensionen von Raum und Zeit von Utopien treffen. War die Utopie als Vorstellung von einem idealen Gesellschaftsentwurf zunächst noch ein Ort, dessen Voraussetzungen in der räumlichen Entfer­ nung und Abgeschlossenheit gesehen wurden, hat sie sich später vor allem durch die Überbrückung zeitlicher Distanzen in die Zukunft verlagert. Vor dem Hintergrund der Katastrophenwirklichkeit im Anthropozän ver­ binden sich in Eriksens Zukunftsszenario beide Dimensionen in Decentia, wo eine Zukunft für den Menschen auf der Erde weiterhin besteht. Beson­ ders glaubwürdig ist die raumzeitliche Anomalie vor dem Hintergrund der geschilderten globalen Klimakatastrophen natürlich nicht. Stattdessen dient Decentia Eriksen für eine umfangreiche Reflexion über die Möglich­ keit und Unmöglichkeit der Verwirklichung einer Utopie. Dabei spielt die historische Konstellation eine entscheidende Rolle. Denn bei der Wieder­ entdeckung der Erde handelt es sich nicht um eine Relativierung der Zeit, wodurch die Geschichte auf dem Planeten einfach wieder von vorn be­ ginnt. Im Gegensatz zu den oft geradlinigen Postapokalypse-Erzählungen, die in feministischer Science Fiction in den 1960er- und 1970er-Jahren sowie in der Climate Fiction des 21. Jahrhunderts beliebt sind, geht aus Eriksens Zukunftsszenario deutlich hervor, dass die Welt davor und die Welt danach durch einen geschichtlichen Neuanfang nicht ohne Weiteres voneinander getrennt werden können.

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Abgesehen von der Überlebenswahrscheinlichkeit sind die Bedingun­ gen für Tukhaleles Utopie schon allein aus dem Grund auf lange Sicht un­ erfüllbar, weil die von ihr beabsichtigte Geschichtslosigkeit die Beibehal­ tung eines annähernden ›Naturzustands‹ der Zivilisation voraussetzt. Im Kontext des Anthropozäns lässt sich Decentia als der von Anfang an zum Scheitern verurteilte Versuch einer Renaturalisierung der Menschheitsge­ schichte verstehen, die sich darüber hinwegsetzt, dass der Mensch Naturund Kulturwesen zugleich ist. Zum prognostizierten ›Kulturtod‹ der de­ centianischen Zivilisation infolge der Isolation vom Rest der Menschheit, der am Ende vom vierten Band von Rummet uden tid in Anspielung an das Ende des Universums als »kulturel entropi« (kulturelle Entropie) (IV, 550) beschrieben wird, kommt es allerdings nicht. Die Decentianer nehmen mithilfe der Raumschiffbesatzung von Jezabel Kontakt zur neuen Föderation auf, von der sie sich eine neue Zukunftsperspektive erhoffen. Die Konfrontation der Föderation mit der terranischen Vergangenheit bringt jedoch ungeahnte Folgen mit sich. Nicht nur passt die fremdartige decentianische Zivilisation nicht ins Weltbild des hochtechnologischen interplanetarischen Staatenbunds. Die Föderation sieht in der decentiani­ schen »livsintensitet og tid« (Lebensintensität und Zeit) (III, 313), die sich grundlegend von den eigenen Lebenswelten unterscheidet, eine Ge­ fährdung der eigenen Stabilität, die durch innere Spannungen bereits die Abspaltung ganzer Tochterplaneten nach sich zu ziehen droht. Auch bei der Föderation handelt es sich um einen idealen Gesellschafts­ entwurf, der als eine ›Technikutopie‹ in starkem Kontrast zur Ökotopie Decentias steht. Während Decentia als Rückkehr zur Natur verstanden werden kann, wird in der Föderation die endgültige Überwindung der Natur angestrebt. Die Mittel und Möglichkeiten sind durch den techno­ wissenschaftlichen Fortschritt in dem interplanetarischen Staatenbund unvorstellbar erweitert worden. In der Gestalt einer überzeitlichen »gi­ gantisk paradismaskine« (gigantischen Paradiesmaschine) (IV, 520) soll der Fortbestand der Spezies Homo sapiens stärker als je zuvor durch die Amalgamierung von Leben und Lebensraum garantiert werden. Um nach dem »kontakt med aliens« (Kontakt mit Aliens) (IV, 443) die Oberhand zu behalten, wird die Assimilation Decentias durch die Errichtung einer neu­ en Technosphäre auf Terra eingeleitet. Ohnmächtig gegenüber der techni­ schen Überlegenheit erfüllt sich auch die Hoffnung der Decentianer nicht, ihren Heimatplaneten zumindest als eine Art Naturreservat zu bewahren. Infolge der Anbindung an den Rest der Welt riskieren die Decentianer dadurch nicht nur ihre geschichtliche Unabhängigkeit aufs Neue, sondern 202

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auch die Zukunft ihres Lebensraums. Denn auch, wenn die Assimilation nicht auf »en gentagelse af de terranske ødelæggelser« (eine Wiederholung der terranischen Zerstörungen) abzielt, sprechen die ersten Anzeichen dafür, dass der technische Eingriff letztendlich zu einer »udvikling i stor skala og dermed en ny økologisk forstyrrelse« (Entwicklung in großem Maßstab und damit zu einer neuen ökologischen Störung) (III, 267) füh­ ren wird. Der Totalitätsanspruch der föderativen Expansionsbestrebungen in Rummet uden tid lässt sich vor dem Hintergrund der planetarischen Ima­ gination während des Weltraumzeitalters beleuchten. Alexander Geppert hat in seinem Aufsatz »Die Zeit des Weltraumzeitalters, 1942–1972« be­ schrieben, dass die Eroberung des Weltraums nicht nur auf die Beherr­ schung der gesamten Erde und kleiner Teile des Weltraums abzielte, sondern auch im Zeichen einer Kontrolle über die Zukunft stand, die nicht nur in zeitlicher Entfernung, sondern vor allem »im räumlichen Jenseits« zu finden sei (Geppert 2015, 229). Besonders die Überwindung astronomischer Distanzen – wie sie in Eriksens Zukunftsszenario mehr­ mals anhand der Zeitdilatation im Zusammenhang mit den Zeitsprüngen der Raumschiffe auftaucht – hat laut Geppert einen neuen Zukunfts­ und Zeitbegriff geprägt: Wie die Raumschiffe der Zukunft immer höhere Geschwindigkeiten erreichten und immer mehr Starts in immer kürzerer Zeit erfolgten, sollte das Ausgreifen in den unendlichen Raum nicht nur das langfristige Überleben der Menschheit zur Folge haben, sondern auch, fast im Vorübergehen, zur Kontrolle über die Zeit führen. Zeitdehnung war ebenso Voraussetzung wie Ergebnis der Raumverkürzung im Weltraumzeitalter. Zeitliche Unendlichkeit erwies sich als Nebenprodukt der räumlichen; war der Weltraum erobert, würde die Zeit beherrscht. (242)

In Rummet uden tid findet die Kontrolle über die Zeit durch die Födera­ tion ihren stärksten Ausdruck in der unbegrenzten Verlängerung des bio­ logischen Lebens, in der die Umdeutung des Natur- und Lebensbegriffs im Rahmen der Technoscience anklingt (Weber 2003, 156). Entgegen der Unvorstellbarkeit der Zukunft der Decentianer rühmt man sich in dem interplanetarischen Staatenbund für die absolute Vorhersagbarkeit bevorstehender Entwicklungen.

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Anne Birgitte Richard hat Rummet uden tid treffend als den Versuch beschrieben, den Menschen sowohl als das Produkt als auch als den Er­ schaffer und Deuter der Geschichte sichtbar zu machen (Richard 2011). Um aufzuzeigen, wie sich die Geschichte im Spannungsfeld zwischen Vergangenem und Zukünftigem ereignet, ist die fiktive Zukunftsperspek­ tive durch Space With No Time entscheidend. Noch vor der Fertigstellung von Band IV erklärt Eriksen die Intention, »at problematisere histories­ krivning i science fiction regi« (die Geschichtsschreibung in der Regie von Science Fiction zu problematisieren) (Eriksen 1989b, 104). Die Bedeutung von Zukunftsszenarien liegt in Eriksens Augen nicht in der Authentizität der fiktiven Ereignisse, sondern in der Historizität der diesen zugrunde­ liegenden Zusammenhänge.3 Ihre Ambition mit Rummet uden tid sei es deswegen nicht, »at imitere virkeligheden i fiktionerne men at være på niveau med den« (die Wirklichkeit in den Fiktionen zu imitieren, sondern mit ihr auf einem Niveau zu sein) (106). Die intrinsische Qualität von Zukunftsszenarien bestehe dagegen in ihrer zeitlichen Beweglichkeit und ihrer imaginativen Unabhängigkeit von der Wirklichkeit: »det kritiske element ligger i selve fiktionens egenværdi som fiktion« (das kritische Ele­ ment liegt im Eigenwert der Fiktion selbst als Fiktion) (108). Die Rekon­ textualisierung der Geschichte und die Vergegenwärtigung der Grenzen unserer Vorstellungskraft werden in Rummet uden tid auf der Ebene der Erzählung durch Team Capricorn selbst reflektiert. Nach der Wiederentdeckung der Erde wird die Geschichtsschreibung durch Space With No Time zu einem hart umkämpften Terrain, treffen darin nun doch nicht nur die gegensätzlichen Gesellschaftsentwürfe der Decentianer und der Föderation, sondern auch grundsätzlich unterschied­ liche Zukunftsentwürfe aufeinander. Warum die Föderation so erpicht darauf ist, im Zuge der Assimilation Decentias auch die Kontrolle über

3 Für Eriksen kann Science Fiction an dem Punkt nicht mehr von historischer Fiktion unterschieden werden, wenn beide auf die Perspektivierung der Gegenwart abzielen: »I mit personlige scenario har det betydet, at jeg ikke kunne skrive science fiction, før jeg havde skrevet historiske romaner. Og det omvendte vil også gælde: Efter afslutningen af Rummet uden Tid vender jeg tilbage til den historiske roman« (In meinem persönlichen Szenario hat das bedeutet, dass ich nicht Science Fiction schreiben konnte, bevor ich historische Romane geschrieben hatte. Und das Umgekehrte wird auch gelten: Nach dem Abschluss von Rummet uden Tid wende ich mich zurück zum historischen Roman) (Eriksen 1989b, 106).

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das Forschungsprojekt zu behalten, begründen Mnomele und Thelemone mit der Instrumentalisierung der Vergangenheit zur Aufrechterhaltung der Stabilität des interplanetarischen Staatenbunds: Historieskrivning var kontroversiel, men historikerne publicerede deres stof i fiktiv form […]. Historiske bindinger skulle svækkes for ikke at forstyrre orien­ teringen mod fremtiden, men fiktionerne gav borgerne illusionen af at have rødder, af at høre til og forstå sammenhængene uden at behøve at forpligte sig: fortiden var en fortælling, ikke en mulighed for at udvide sit personlige rum i tid. (III, 211) (Geschichtsschreibung war kontrovers, aber die Historiker veröffentlichten ihr Material in fiktiver Form […]. Die historischen Bindungen sollten geschwächt werden, um die Ausrichtung auf die Zukunft nicht zu stören, aber die Fik­ tionen gaben den Bürgern die Illusion, Wurzeln zu haben, Zusammenhänge herzustellen und zu verstehen, ohne sich verpflichten zu müssen: Die Vergan­ genheit war eine Erzählung, keine Gelegenheit, den persönlichen Raum in der Zeit zu erweitern.)

Im Gegenteil zur Vergangenheitslosigkeit der Föderation macht die Verle­ bendigung der Vergangenheit Terras deutlich, dass es auch eine andere Geschichte neben der linearen Zeitauffassung geben muss. Mnomele und Thelemone geben schließlich zu, das Forschungsprojekt selbst für ihre eigenen Interessen genutzt zu haben, um sich in der Geschichte jenseits der föderativen Deutungshoheit zu verorten (III, 69). Die Zwillinge haben sich von der Rekonstruktion der terranischen Geschichte in erster Linie Einsichten in ihre eigene Vergangenheit versprochen, um die quälende Ungewissheit über ihre eigene Herkunft – die tatsächlich die terranische Region Decentia sein soll – zu beseitigen (IV, 220). Vor diesem Hinter­ grund wird die Geschichtsschreibung selbst zum Erprobungsraum der Utopie und ihrer Unmöglichkeit. Nicht aber, wie es bei Tukhalele der Fall war, um eine Zukunft zu entwerfen, sondern um die Vergangenheit zurückzugewinnen. Nachdem sich die Gegenwart Decentias mit der Ge­ genwart von Team Capricorn jedoch durch den Zeitsprung synchronisiert hat, müssen sich Mnomele und Thelemone eingestehen, dass sich Wunsch und Wirklichkeit nicht vereinen lassen: »– det eneste, der gav mening, var udforskningen af fortiden […]. – Men da vi flygtede, kom vi ind i nutiden og virkeligheden« (– das einzige, das Sinn gab, war die Erforschung der Vergangenheit […]. – Aber als wir flohen, kamen wir in die Gegenwart und die Wirklichkeit) (III, 275). Da die Utopie der Zwillinge eine Fiktion voraussetzt, hört sie an dem Punkt auf, an dem die Geschichte durch den Zeitsprung restlos in die eigene Gegenwart übergegangen ist.

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Eriksens ambitioniertes Zukunftsszenario erscheint in der Hochzeit des sogenannten Cyberpunk, eines dystopischen Subgenres von Science Fiction, das sich mit den gesellschaftspolitischen Implikationen der Tech­ nisierung sämtlicher Lebensbereiche auseinandersetzt. Der Cyberpunk dient vor allem als Imaginationsraum und Möglichkeitshorizont für femi­ nistische Zukunftsentwürfe, die in Gestalt der Utopie beziehungsweise Dystopie die Ambivalenz des Fortschritts zwischen Gefahr und Chance verhandeln. Jenny Wolmark hat in ihrem Aufsatz »Time and Identity in Feminist Science Fiction« argumentiert, dass infolge der Destabilisie­ rung von Zeit und Raum durch Globalisierungs- und Fortschrittsimpulse Science Fiction insbesondere für Frauen zu einem Vehikel wird, um eine neue Perspektive auf die Geschichte und die Zukunft einnehmen zu kön­ nen: The unstable, fragmented near futures of contemporary SF narratives have become culturally pervasive because they vividly articulate the experience of living in the spatio-temporal dislocations brought about by globalization and communications technology. SF contributes to the making of a social imaginary in which temporal complexity and uncertainty do not have entirely negative consequences, and the future is not wholly determined by the expectations and desires of either the past or the present. […] The futures generated within this social imaginary are inherently contradictory and ambivalent but because they are based on contingency rather than predictability, such futures are also open and negotiable. […] This sense of temporal fluidity and openness to change, in which the future is yet to be written and the past is yet to be revealed, is characteristic of feminist SF. The futures envisioned in feminist SF are often uncertain and ambivalent, but they are also amongst the most interesting in SF, precisely because the Utopian longings in such futures are infused with critical memories of the past, enabling a complex negotiation to take place between that which has already taken place and that which has not yet become. Feminist SF speculates about futures in which the past is subject to constant review and the framing devices of the present are questioned. Thus, in the imaginative spaces of feminist SF, the gendered subjects in the narratives are marked by, but not wholly determined by their own pasts, and identity remains open to redefinition. (Wolmark 2005, 161–162)

Auch in Rummet uden tid finden sich zentrale Aspekte des utopischen Denkens, wie es für die feministische Science Fiction zwischen 1960 und 1990 kennzeichnend ist, wieder. Neben der Verbindung von Gender und Genre sowie der zur Fragmentation neigenden Form der Erzählung prägt Eriksens Zukunftsszenario besonders die Vorstellung, dass die Ge­ schichte neu- beziehungsweise rekonstruiert werden kann. Und auch Wol­

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marks Hinweis auf die Reflexion des Entstehungsprozesses der Geschichte als eine Möglichkeit, um außerhalb gängiger Metanarrative denken zu können, die von einem linearen Verständnis von Zeit und Fortschritt ausgehen (169), deckt sich mit dem Text. Zur Verwirklichung der Utopie kommt es in Rummet uden tid dagegen nicht. Insgesamt gesehen lässt zwar das Ende des letzten Bands der Tetra­ logie den Ausgang der Geschichte Terras offen, an dem die Assimilation Decentias nach mehr als 20 Jahren ins Stocken geraten ist und die Bewoh­ ner einer selbstbestimmten Zukunft entgegenblicken. Für die einzelnen, wichtigsten Beteiligten geht der Wunsch, über ihre eigene Zeit zu verfü­ gen, aber nicht in Erfüllung. Vor allem anhand der Geschichtsschreibung – zu der auch Tukhaleles Testament gezählt werden kann – wird dies expliziert. Während Mnomele und Thelemone anfangs noch versuchen, die »sandhed i historien« (Wahrheit in der Geschichte) (II, 389) ausfindig zu machen, erkennen sie sich am Ende gefangen in ihrer eigenen Unwirk­ lichkeit. Die Projektion ihres eigenen Schicksals auf die Vergangenheit macht die Verortung in der Gegenwart unmöglich, weshalb Mnomele schließlich die Irrelevanz der Geschichte als Identifikationsmöglichkeit unterstreicht: »historieskrivningen blir glemt […] – For på én måde er fortidens kampe egentlig ikke vores sag. Men hvis man skrev de samme menneskers kampe ind i fiktioner, huskede man dem måske og indså, at de alligevel kommer os ved« (die Geschichtsschreibung wird vergessen […] – Denn auf eine gewisse Weise sind die Kämpfe der Vergangenheit eigentlich nicht unsere Sache. Aber wenn man die Kämpfe derselben Menschen in Fiktionen hineinschrieb, erinnerte man sich vielleicht an sie und erkannte, dass sie uns trotzdem betreffen) (IV, 533). Der Zusammenhang aus Geschichtsschreibung und Zukunftsgestal­ tung beruht darauf, dass die Geschichte noch nicht fest- beziehungswei­ se vorgeschrieben und damit an ihr scheinbar unausweichliches Ende gelangt ist. Die Erprobung der Utopie in Rummet uden tid lässt sich deswe­ gen im Rahmen der von Fredric Jameson beschriebenen Umorientierung von Science Fiction von der Zukunft auf die Gegenwart lesen. Jameson hat aus der Herausforderung, sich eine Utopie vorstellen zu können, die Konsequenz gezogen, dass Science Fiction nicht mehr davon handelt, wie eine Zukunft beschaffen sein sollte, sondern welche Bedingungen für das Denken jenseits eines geschichtlichen Endes überhaupt gelten (Jameson 2005, 286). Die entscheidende Funktion von Science Fiction besteht infol­ ge Jameson in der Problematisierung der Unvorstellbarkeit der Zukunft und damit der Unvorstellbarkeit der Utopie: 207

6 Planetarische Imagination We must therefore now return to the relationship of SF and future history and reverse the stereotypical description of this genre: what is indeed authentic about it, as a mode of narrative and a form of knowledge, is not at all its capac­ ity to keep the future alive, even in imagination. On the contrary, its deepest vocation is over and over again to demonstrate and to dramatize our incapacity to imagine the future […] [and] our constitutional inability to imagine Utopia itself. (288–289)

Die größte Wirkung wird laut Jameson dann erzeugt, wenn die struk­ turelle Unmöglichkeit der Utopie nicht nur als innere Widersprüch­ lichkeit auftaucht, sondern bereits in der Entstehung eines Texts reflektiert wird: »[S]uch texts then explicitly or implicitly, and as it were against their own will, find their deepest ›subjects‹ in the possibility of their own pro­ duction, in the interrogation of the dilemmas involved in their own emer­ gence as utopian texts« (293). In Rummet uden tid wird die Erprobung der Utopie ebenfalls auf der Ebene der Erzählung reflektiert, als Mnomele und Thelemone in ihrer Verzweiflung in die Versuchung geraten, die Geschichte mithilfe verbotener Methoden rückwirkend zu manipulieren. Obwohl sie sich letztendlich selbst nicht dazu entscheiden, die Geschichte nach ihren eigenen Vorstellungen umzuschreiben, wird im dritten Band von der Methode Gebrauch gemacht. Ausgerechnet Lu Barrington, der Mentor der Zwillinge, hat keine Skrupel, das Forschungsprojekt für eine »systematiske produktion af en ny virkelighed« (systematische Produktion einer neuen Wirklichkeit) (III, 219) an sich zu reißen, indem er die Ereig­ nisse unter dem Vorwand der Sicherung der Föderation zu verändern beginnt. Mnomele und Thelemone beschleicht im Verlauf das Gefühl, »at blive skrevet« (geschrieben zu werden) (III, 341) und dass der dritte Teil des Forschungsprojekts ohne ihr Zutun bereits vollendet ist. Die unheimliche Vermutung, nun selbst zu Fiktionen ihrer eigenen Geschichtsschreibung geworden zu sein, wird außerdem durch den Um­ stand verschärft, als die Zwillinge in der Konfrontation mit Lu die Wahr­ heit über ihre eigene Herkunft herausfinden. In Wirklichkeit stammen Mnomele und Thelemone nicht von Terra ab, sondern sind identische Klone, die Lu – ähnlich der in Science Fiction geläufigen Figur eines verrückten Wissenschaftlers, eines ›mad scientist‹ – in einem Geheimpro­ jekt illegal aus seiner eigenen DNA hergestellt hat. Auf diese Weise wird das durchgehende Thema der Diskrepanz zwischen Handlungsmacht und Ohnmacht in den Kontext des technowissenschaftlichen Fortschritts ge­ bracht. Lus Schöpfungsakt – in dessen Zusammenhang sich schließlich die Namenszusätze der Zwillinge 314 und 315 erklären – ist Ausdruck des

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Höhepunkts der Manipulation des Menschen durch die technische Repro­ duktion im Rahmen der Technoscience. Der Eingriff stellt in Rummet uden tid mehr dar, als nur den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbe­ stimmung durch die Innovation und Intervention der Technoscience zu markieren. Er lässt sich auch auf die von Jutta Weber hervorgehobene Verschränkung von Science und Fiction übertragen, die charakteristisch für die Selbstinszenierung der Technoscience ist: »Metaphern, literarische und rhetorische Strategien und Erzählfiguren sind wichtige Verbündete im Kampf darum, welche der zukünftigen Konstruktionen und Konstitu­ tionen von Welt, Natur, Körper und anderen Entitäten eine Chance auf Verwirklichung haben werden« (Weber 2003, 152). Dass Erzählungen wesentlich für die symbiotische Beziehung von Ver­ wissenschaftlichung und Technisierung sind und somit auf die Inhalte der Technoscience einwirken, wird in Rummet uden tid an Mnomele und Thelemone deutlich. Unter Lus Kontrolle wird Space With No Time zu einer technowissenschaftlichen Experimentalanordnung, in der die Unter­ suchungsparameter ihre eigene Wirklichkeit hervorbringen. Genau wie die Natur wird auch »den sande virkelighed« (die wahre Wirklichkeit) (III, 275) – die Mnomele und Thelemone sich vorstellen – nicht einfach vorgefunden, sondern im Prozess des Schreibens hergestellt. Die Wahrheit führt zu einer folgenschweren Identitätskrise der Zwillinge. Während Thelemone der Geschichtsschreibung daraufhin den Rücken kehrt und zunächst versucht, die Wirklichkeit zu akzeptieren, sich dann aber das Leben nimmt, führt Mnomele ihre Arbeit auf Decentia unabhängig fort, um sich ihre Fiktionen bewahren zu können. Dass die Zwillinge nicht geboren, sondern hergestellt beziehungsweise vorgestellt sind, beschreibt Mnomele selbst treffend: »Jeg er en fremstillet virkelighed, clonet til at være den jeg er« (Ich bin eine vorgestellte Wirklichkeit, dazu geklont, die zu sein, die ich bin) (IV, 393). Vor allem die Gratwanderung zwischen Fakt und Fiktion untergräbt die eigene Identität: »konstruktionen kaldes en cyborg […]. – Dels menneske, dels noget andet. Papir, som du fores­ lår. Eller fiktion« (die Konstruktion wird Cyborg genannt […]. – Teils Mensch, teils etwas anderes. Papier, wie du vorschlägst. Oder Fiktion) (IV, 114). Das Akronym ›Cyborg‹ leitet sich vom englischen cybernetic organism ab. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Raumfahrt, um die Verbes­ serung und Anpassung des Menschen an außerirdische Lebensbedingun­ gen im Rahmen der Eroberung des Weltraums ab den 1960er-Jahren zu beschreiben (Clynes und Kline 1960). Vor dem Hintergrund der Koevo­ 209

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lution des Menschen mit der Technik wird dagegen heute die Vorstel­ lung vertreten, dass die meisten von uns zumindest in gewisser Weise Cyborg-Systeme geworden sind. Die Figur des Cyborgs hat sich als Hybrid zwischen Organischem und Maschinellem vor allem in Science Fiction in der populären Vorstellung eines Menschen mit biomechatronischen Körperteilen niedergeschlagen.4 Hinter dieser vereinfachten Darstellung verbirgt sich aber auch in Eriksens Zukunftsszenario weitaus mehr als nur ein Hinweis auf die Verstrickung des Menschen mit der Technik. Der Cyborg wird zum Sinnbild für die Grenzverwischung in der Technosci­ ence zwischen Wissenschaft und Technik, Natur und Kultur, Mensch und Maschine, Materiellem und Immateriellem, Raum und Zeit, Wissen und Macht (Haraway 1997, 3). Die Figur des Cyborgs ist in Rummet uden tid wesentlich an die Wirklichkeitserzeugung und Zukunftsgestaltung und damit an die Erprobung der Utopie gebunden. Mehr als nur durch die Zwillinge verkörpert zu werden, ist er eine Metapher für die Hybridisie­ rungen und die Auflösung moderner epistemologischer Dualismen, die kennzeichnend für die neue Epoche geworden sind. Donna Haraway hat den Cyborg als Denkfigur maßgeblich in ihrem berühmten Aufsatz »A Cyborg Manifesto« aus dem Jahr 1985 geprägt (Haraway 1991). Weil der Cyborg nicht natürlich, sondern konstruiert ist, kann er in Haraways Augen auch rekonstruiert werden und damit den Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch vormals gültiger Metanarrati­ ve hinterfragen. In der Sprengung von Dichotomien sieht Haraway vor allem für Frauen die Chance für eine Neuperspektivierung im Sinne einer historischen Transformation und Revolution (150). Haraway leitet aus der Verschränkung von Maschine und Genderdiskurs deswegen in ers­ ter Linie Einsichten in die Konstruktion und Dekonstruktion weiblicher Identität ab: A cyborg is a cybernetic organism, a hybrid of machine and organism, a creature of social reality as well as a creature of fiction. Social reality is lived social relations, our most important political construction, a world-changing fiction. […] Liberation rests on the construction of the consciousness, the imaginative apprehension, of oppression, and so of possibility. The cyborg is a matter of fiction and lived experience that changes what counts as women’s experience in the late twentieth century. This is a struggle over life and death, but the boundary between science fiction and social reality is an optical illusion. (149)

4 Ein Cyborg ist nicht zu verwechseln mit einem Androiden, einem Roboter in menschen­ ähnlicher Gestalt.

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Cyborgs

Für Haraway ist Science Fiction wesentlich für die Aushandlung kyberne­ tischer Zukünfte. Vor allem Science Fiction-Autorinnen bezeichnet sie als »theorists for cyborgs« (173) und sieht im Schreiben selbst eine unver­ zichtbare Cyborg-Technik (176). In Rummet uden tid wird die enorme Dimension des Potenzials der Neu- beziehungsweise Umschreibung dieses Selbst- und Weltbilds durch die Cyborgisierung verdeutlicht, weil die Geschichtsschreibung nicht nur Mnomele und Thelemone, sondern den gesamten Planeten Terra betrifft. Das planetarische Ausmaß der Steuer- und Kontrollierbarkeit durch Tech­ nik kann so noch einmal vor dem Hintergrund der planetarischen Imagi­ nation gelesen werden. Auch Haraway betont, dass die Vorstellung vom Cyborg anfangs im Zeichen der Kontrolle über die gesamte Erde gestan­ den hat, weil in ihr eine alles vereinende, alles überblickende und damit gottgleiche Perspektive eingenommen wird (Haraway 1991, 154). Im Kon­ text des planetarischen Ausmaßes der Verstrickung von Natürlichem und Künstlichem hat Haraway die Figur des Cyborgs später aber auch auf das Gesamtsystem der Erde ausgeweitet und James Lovelocks Konzept von Gaia aufgrund der Grenzverwischung zwischen Geologischem, Orga­ nischem und Technischem ebenfalls als Cyborg beschrieben (Haraway 1995, xiii). Auch hier steht für Haraway die Wissensgenerierung durch Erzählungen im Vordergrund: Gaia is not a figure of the whole earth’s self-knowledge, but of her discovery, indeed, her literal constitution, in a great travel epic. […] The people who built the semiotic and physical technology to see Gaia became the global species, in which they recognized themselves, through the concrete practices by which they built their knowledge. […] To see Gaia, Man learns to position himself physically as an extraterrestrial observer looking back at his earthly womb and matrix. (xiv)

Der Blick auf die Erde aus dem Weltraum im Rahmen des Cyborg-Dis­ kurses lässt sich auch für die Wiederentdeckung Terras in Rummet uden tid beanspruchen, wenn Space With No Time selbst als Cyborg-Technik verstanden wird, mithilfe derer Aufschlüsse über die Bewusstwerdung des Menschen als planetarische Kraft gewonnen werden. Vor dem Hintergrund der Reflexivität der Geschichtsschreibung macht Eriksens Zukunftsszenario deutlich, dass im Anthropozän nicht nur eine Neuperspektivierung des Planeten Erde, sondern auch eine Neuperspek­ tivierung dessen Geschichte vonnöten ist. Rebecca Evans hat den wesent­ lichen Zusammenhang von Science Fiction und Geschichtsschreibung in der neuen Epoche in ihrem Aufsatz »Nomenclature, Narrative, and

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6 Planetarische Imagination

Novum: ›The Anthropocene‹ and/as Science Fiction« untersucht (Evans 2018). Evans argumentiert, dass das Anthropozän selbst die Eigenschaften einer Science Fiction-Erzählung – eine ›science fictionality‹ – besitzt, weil es die Gegenwart in eine turbulente Erzählung einbezieht, die einen deut­ lichen Bruch im Geschichtsverständnis darstellt: »›The Anthropocene‹ is not just a more inclusive or differently framed historical narrative; it is a narrative that disrupts foundational assumptions about the future as well as the past and that prompts a reflexive revision of the experience of reality« (488). Im Gegensatz zum Novum in Science Fiction entwirft das Anthropozän – so Evans – keine alternative Geschichte, sondern eine alternative Geschichtsschreibung (491), aus der hervorgeht, »that it is as important to attend to the reimagination of history as to the imagination of possible futures« (497). Durch die Funktionalisierung von Rummet uden tid als Geschichtsschreibung, die die Zukunft aus der Rückschau als Aus­ grabung eines Geschichtsverlaufs extrapoliert, setzt Eriksen diese Reimagi­ nation buchstäblich um. Die dabei vermittelte Einsicht, dass die Zukunft immer auch auf der Vergangenheit und Gegenwart beruht, gewinnt vor allem im Kontext der Katastrophenwirklichkeit im Anthropozän Gewicht, in der es darum geht, eine Zukunft zu formulieren, in der der Mensch nicht von der Erdoberfläche verschwindet.

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In der Einleitung zu diesem Buch ist sowohl die Bedeutung der Kata­ strophenimagination für eine Auseinandersetzung mit der Zukunft im Anthropozän herausgestellt worden als auch die entscheidende Rolle, die Science Fiction-Erzählungen darin einnehmen. Die Debatte um das Konzept des Anthropozäns ist wie der Übergang im Erdsystem, den es bezeichnet, selbst noch im Entstehen begriffen. Während der Begriff als Vorschlag für eine Neubenennung des aktuellen Abschnitts auf der geo­ logischen Zeitskala vor rund 20 Jahren das erste Mal aufgetaucht ist, weist die Imaginationsgeschichte globaler Katastrophen, die vom Men­ schen verursacht werden, ein weitaus höheres Alter auf. Die Vorstellung von einer durch den anthropogenen Einfluss herbeigeführten Zukunft als Katastrophe begleitet bereits die um 1950 einsetzenden weltweiten Beschleunigungs-, Globalisierungs- und Technisierungsprozesse und greift wesentliche Aspekte einer sich zunehmend im Umbruch befindlichen Wirklichkeit auf. Es sind diese grundlegenden Veränderungen im Selbst­ bild und Weltbild des Menschen, die eine Auseinandersetzung mit dem Zeitalter, das seinen Namen trägt, zu einer breitangelegten Reflexion über ökologische und planetarische Zusammenhänge machen. Insbesondere die Gefahr durch globale existenzielle Risiken, die von Anfang an unauf­ löslich mit der Prognose des Konzepts des Anthropozäns verbunden sind, verlangen einen umfassenden Blick auf das gemeinsame Schicksal des Menschen und der Erde. Der epochale Übergang vom Holozän in das Anthropozän markiert nicht nur einen Umbruch im stratigrafischen Profil unseres Planeten und in der Beschaffenheit des überlebenswichtigen Erdsystems. Er beschreibt auch einen Bruch mit vormals gültigen Vorstellungen über das Zusam­ menwirken der Spezies Homo sapiens mit ihrer Umwelt, eine Erschütte­ rung der Ordnungs- und Einordnungsversuche des Menschen und der natürlichen Welt sowie eine Neuperspektivierung von Erklärungsmodel­ len für die Transformationen durch den globalen Wandel. Für die Unter­ suchung in diesem Buch sind vor diesem Hintergrund in erster Linie Übergangsmomente – man könnte in Anlehnung an das Erdsystem auch von Umschlagpunkten sprechen – von Interesse, die den Abschied – nicht nur im geologischen Sinne von den Lebensbedingungen der letzten 11.700 Jahre –, sondern gleichzeitig von einem lange Zeit nur auf den Erfahrungshorizont des Menschen ausgerichteten Verständnis der Welt 213

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darstellen. Mit dem innerhalb der vergangenen 70 Jahre gewonnenen Wissen um die Menschheit als kollektiver geologischer Akteur, als plane­ tarische Kraft und als dominierender Impulsgeber im Erdsystem lassen sich im Anthropozän die Bereiche von Natur und Kultur nicht mehr voneinander trennen. Der Eintritt in die neue Epoche beruht deswegen auf der endgültigen Kollision der Geschichte der Menschheit mit der Geschichte der Erde und damit auf der Einschreibung des Menschen in die Katastrophengeschichte unseres Planeten. Mehr als nur einen geochronologischen Wendepunkt zu bezeichnen, der die erdgeschichtliche Vergangenheit einer neuen Perspektivierung unterzieht, eröffnet das Konzept des Anthropozäns ebenso einen mul­ tiplen Geschichtsverlauf in die geologische Zukunft. In diesem Buch ist wiederholt die Funktion von Science Fiction als Reflexionsmedium, Imaginationsraum und Möglichkeitshorizont aufgerufen worden, um die Gegenwart mit möglichen Zukünften, die maßgeblich vom Menschen bestimmt werden, zu konfrontieren. Literarische Zukunftsszenarien sind als narrative Experimentalanordnungen in der Lage, über die Gegenwart hinauszublicken und so die Umgestaltung der Erde infolge menschlicher Aktivitäten sichtbar zu machen. Vor allem führen Science Fiction-Erzäh­ lungen die Notwendigkeit vor Augen, sich die Katastrophenzukunft im Anthropozän – die im schlimmsten Fall im Untergang der Erde resultiert – vorzustellen, noch bevor diese Wirklichkeit geworden ist. Erst durch die Positionierung am Ende der Welt beziehungsweise am Ende der Ge­ schichte lässt sich das Ausmaß der Auflösung der Lebensbedingungen, die den Aufstieg der menschlichen Zivilisation zu einer Naturgewalt einst ermöglicht haben, in vollem Umfang vergegenwärtigen. Science Fiction trägt auf diese Weise zu einer Historisierung zukünftiger Katastrophen bei, deren Dimensionen und Implikationen nicht vollständig von der Gegenwart aus überschaut werden können. Wenn auch der Blick über die Gegenwart hinaus ungeachtet der Ein­ trittswahrscheinlichkeit von globalen Katastrophen letztendlich ein Blick in unbestimmte Zukünfte bleiben muss, ist er doch immer an einen bestimmten Ort gebunden. Auch in der Imagination kann die Katastro­ phenzukunft des Anthropozäns, wenn überhaupt, dann nur auf der Erde stattfinden. Wie dieses Buch zeigt, bedeutet der Versuch, die Zukunft zu entwerfen, im gleichen Moment, die gemeinsam gewordene Geschichte des Menschen und der Erde neu zu erzählen und neu zu lesen. Die Ein­ bettung des gegenwärtigen Epochenwechsels in eine Erzählung kann den anthropogenen Einfluss im tiefenzeitlichen und planetarischen Kontext 214

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verorten, wenn sie von einem neuen Bezugssystem ausgeht. Steht die Auseinandersetzung mit den daraus resultierenden Konsequenzen für die Bewohnbarkeit der Erde doch der Schwierigkeit gegenüber, die Katastro­ phenzukunft angemessen abzubilden. Gängige Repräsentationsstrategien können nicht länger auf eine gewohnte Perspektive begrenzt bleiben, wenn sie den Herausforderungen für die Wahrnehmbarkeit und Darstell­ barkeit der Phänomene im Anthropozän begegnen wollen. In Science Fiction erfolgt die Neuperspektivierung deswegen vor allem im Rahmen der Darstellung der Verfremdung der Wirklichkeit, die nicht nur auf die Greifbarmachung globaler Veränderungen abzielt, sondern dabei auch die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens reflektiert. Obwohl der Fokus dieser Untersuchung auf zwei Science Fiction-Erzäh­ lungen liegt, die deutlich vor der nominellen Einführung des Begriffs des Anthropozäns um die letzte Jahrtausendwende entstanden sind, lassen sich Harry Martinsons Epos Aniara und Inge Eriksens Romantetralogie Rummet uden tid doch als eindrucksvolle Zeugnisse einer als fundamental wahrgenommenen Umwälzung lesen, deren Anfänge mindestens bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts zurückreichen. Im Gegenteil zu jüngeren Zukunftsszenarien, die ihren Ausgangspunkt in den Prognosen des 21. Jahrhunderts nehmen und sich explizit auf das Konzept des An­ thropozäns berufen, zeichnen sich Aniara und Rummet uden tid durch ihre Weitsicht aus, mit der sie den Aufstieg der Menschheit zu einer planetarischen Kraft sowie die dadurch herbeigeführten Konsequenzen für das Erdsystem antizipieren, noch bevor sich das Ausmaß des globalen Wandels unter den Gesichtspunkten des heutigen Wissensstands nachwei­ sen lässt. Eine Neulektüre zu einem Zeitpunkt, an dem die Gewissheit über die folgenreiche Kollision der Menschheitsgeschichte mit der Erdge­ schichte immer deutlichere Konturen annimmt, ergänzt nicht nur den bestehenden Diskurs über die neue geologische Epoche um zusätzliche Aspekte. Sie gibt im gleichen Moment Einblicke in die Formierung eines Bewusstseins über einen außer Kontrolle geratenen anthropogenen Ein­ fluss und die damit einhergehenden weitreichenden und tiefgreifenden Umschreibungen des modernen Selbst- und Weltverständnisses. Auf der einen Seite sind Aniara und Rummet uden tid so gesehen selbst in die Katastrophengeschichte des Anthropozäns eingegangen. Auf der anderen Seite ist klar geworden, dass, um das Anthropozän verstehen zu können, es wichtig ist, den Weg, den das Konzept bereits zurückgelegt hat, nicht aus den Augen zu verlieren. Anhand der hier untersuchten Tex­ te lassen sich entscheidende Stationen über das gewandelte Verständnis 215

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von Mensch und Erde in der neuen Epoche nachzeichnen. Vor allem im Hinblick auf zwei mögliche globale existenzielle Risiken wird in Aniara und in Rummet uden tid die Kontextualisierung der menschlichen Aktivi­ täten im Erdsystem und die Problematisierung der Singularität der Erde im Weltraum verhandelt. In Aniara wird der nukleare Holocaust als die erste, größtmögliche menschengemachte Katastrophe zum Sinnbild dafür, wie weit der Eingriff des Menschen in die natürliche Welt hineinreicht und welche Gefahr davon ausgehen kann. Damit lässt sich der nukleare Urknall als ein möglicher Anfang des Anthropozäns in der Mitte des 20. Jahrhunderts festmachen. In Rummet uden tid wird der anthropoge­ ne Klimawandel, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur aus­ schlaggebenden Einwirkung des Menschen auf das Erdsystem geworden ist, zum Gradmesser für die Übertretung der planetarischen Belastungs­ grenzen. Die Erreichung derartiger kritischer Schwellen ist seither das Hauptkriterium für die Abwägung eines drohenden ökologischen Kollap­ ses in der neuen Epoche. Beide Zukunftsszenarien stellen sich auch der mit der Latenz der jewei­ ligen Katastrophenzukünfte verbundenen Tendenz zur Unwahrnehmbar­ keit und Undarstellbarkeit. Die Zerstörung der Habitabilität der Erde als Folge menschlicher Aktivitäten wird sowohl anhand der blitzartigen Explosion der Kernwaffen als auch anhand der schleichenden Transfor­ mation durch den Klimawandel auf ihre Erzählbarkeit hin reflektiert. Aniara und Rummet uden tid greifen dazu zwar auf das sich zwischen dem Atomzeitalter und dem Weltraumzeitalter manifestierende ökologische Bewusstsein zurück, das zunächst im Anblick des Atompilzes und später im Bild von der Erde aus dem Weltraum zum Symbol für eine gemein­ same Zukunft des Menschen und seines Planeten wird. Dennoch wird in der Auseinandersetzung die Komplexität der Skalenunterschiede, der Hyperobjekte und der Verstrickung im Anthropozän nicht unterschätzt. Die Erzählperspektiven sowie die Raum- und Zeitkonzeptionen der Texte müssen vielmehr als der Versuch gelesen werden, eine Poetik anthropozä­ ner Erzählungen zu entwerfen. Martinson strebt in seinem Epos die Syn­ these von Mikro- und Makrokosmos an, um die skalaren Unterschiede, die sich aus dem Aufeinandertreffen des Menschen mit der natürlichen Welt ergeben, erfahrbar zu machen. Eriksen stellt in ihrer Romantetralo­ gie im Rahmen einer Geschichtsschreibung die Bewusstwerdung über die Verstrickung des Menschen mit der Erde in den Vordergrund, durch die eine Zukunft ausgelotet wird, die weiterhin offen ist.

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Dass Aniara und Rummet uden tid heute vor dem Hintergrund der De­ batte um eine neue erdgeschichtliche Epoche neu gelesen werden können, spricht für den vorausschauenden Blick, mit dem Martinson und Eriksen die Zeichen ihrer Zeit gedeutet haben. Die in den Texten entworfenen Katastrophenzukünfte haben nicht an Aktualität verloren, weil sie – wenn auch unterschiedlich gut – weiter am Gegenwartshorizont erkennbar sind. Die nukleare Bedrohung als weltweites Katastrophenszenario ist zwar bald nach der erfolgreichen ›Entspannungspolitik‹ des fortschreitenden Kalten Kriegs ab Ende der 1960er-Jahre vorübergehend in den Hintergrund gerückt. Spätestens seit dem Jahr 2020 nimmt die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Eskalation aufgrund des Trends zur Destabilisierung der internationalen Sicherheit jedoch wieder zu.1 Daneben geht heute die größte Gefahr für die Bewohnbarkeit der Erde von der globalen Erderwär­ mung und ihren Folgeerscheinungen aus. Der Klimawandel ist in der Katastrophenimagination des 21. Jahrhunderts zum vorherrschenden Be­ drohungsszenario geworden. Obwohl sich Martinsons Epos und Eriksens Romantetralogie also bis heute als Risikoabschätzung heranziehen lassen, liegt ihre Stärke vor allem in der Problematisierung unserer Vorstellungs­ kraft. Weitaus interessanter als die Spezifik der Katastrophendarstellung in beiden Texten ist die Inszenierung der Herausforderungen, um sich ein klares Bild davon machen zu können, dass sich die Menschheit nun auf dem Weg in ein neues Kapitel in der Erdgeschichte befindet. Durch das Aufzeigen der Notwendigkeit einer umfassenden Neuperspektivierung greifen die Texte auf die wohl wichtigste Implikation des Diskurses über die neue Epoche vor, der ungeachtet der stetig anwachsenden Forschung und Literatur zum Anthropozän und trotz des heute umso deutlicheren Abschieds vom Holozän noch lange nicht an sein Ende gelangt ist. Im Anthropozän offenbaren Science Fiction-Erzählungen, welche Zu­ künfte uns möglicherweise erwarten. Sie machen aber auch deutlich, dass diese Zukünfte noch nicht notwendigerweise festgeschrieben sind. Im Ge­ genteil verweisen das Ende der Welt als Ausdruck eines instabil geworde­ nen Bezugspunkts und die Wiederentdeckung der Erde als Ausdruck für die Rückkehr des Menschen auf den Erdboden auch auf eine Zukunft, die

1 Dementsprechend ist auch die vom Bulletin of the Atomic Scientists jährlich gestellte Doomsday Clock zu lesen: Als Indikator für die zusammengefasste Bedrohung durch globale existenzielle Risiken zeigt sie einen ›Countdown zum Weltuntergang‹ an. Seit 2020 steht ihr Zeiger auf alarmierenden 100 Sekunden vor Mitternacht und damit so nahe der Apokalypse wie nie zuvor (Bulletin of the Atomic Scientists 2022).

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von gravierenden Katastrophen verschont bleiben kann. Nichtsdestotrotz hat der anthropogene Einfluss seit dem Beginn der Great Acceleration um 1950 ununterbrochen an Tempo zugelegt. Im Hinblick auf manche menschengemachten, globalen existenziellen Risiken befinden wir uns heute sogar näher an den Katastrophenzukünften, als diese in Science Fiction imaginiert worden sind. Insbesondere die Vorstellung von einem sogenannten ›Good Anthropocene‹, die sich ausgerechnet im technischen Fortschritt die Kontrolle über die natürliche Welt und die Lösung für ökologische Probleme verspricht, verkennt die grundlegende Einsicht, dass der Mensch in der neuen Epoche nicht mehr allein in den Mittel­ punkt gestellt werden kann. Ob diese Vorstellung – die selbst wie Science Fiction anmutet – schneller Wirklichkeit wird als die Katastrophen, die sie zu verhindern sucht, wird in Zukunft eine zentrale Frage sein. Sie wird auch für Erzählungen relevant bleiben, die nicht davor zurückschrecken, den schlimmstmöglichen Ausgang des Anthropozäns zu denken, um – egal wie weit sie selbst zurückliegen – nach vorn sehen zu können.

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