Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile [1 ed.] 9783428493944, 9783428093946

Die Autorin macht Einwendungen gegen die Auslegungen der deutschen, amerikanischen und schwedischen Beweismaßnormen, wei

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Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile [1 ed.]
 9783428493944, 9783428093946

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MINNA GRÄNS

Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile

Schriften zum Prozessrecht Band 165

Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile Von Minna Gräns

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Gräns, Minna:

Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile I Minna Gräns. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum Prozeßrecht; Bd. 165) Zugl.: Uppsala, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-09394-1

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-09394-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Für Joakim und Victoria

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist im Rahmen des schwedisch-finnischen Forschungsprojekts "Recht und Wahrheit" entstanden. Mich hat diese Forschung an fünf Universitäten geführt, und zwar zu juristischen Fakultäten in Turku und Helsinki (Finnland), zur Eberhard-Karls-Universität in Tübingen (Deutschland), nach Uppsala (Schweden) und Minneapolis (The University of Minnesota Law School, USA). An allen diesen Universitäten habe ich Hilfe und Unterstützung von zahlreichen Kollegen und Kolleginnen bekommen. Eine erschöpfende Liste derjenigen Personen zu geben, gegenüber denen ich mich in Dankesschuld befinde, wäre eine fast unmögliche Aufgabe. Herzlicher und aufrichtiger Dank gebührt jedenfalls allen. Viele in dieser Untersuchung vorgelegte Gedanken sind Ergebnisse einer engen Zusammenarbeit innerhalb des Projekts "Recht und Wahrheit", und sie sind teilweise in den gemeinsamen Veröffentlichungen der Projektgruppe dargestellt worden. Von meinen Mitarbeitern in der Projektgruppe sind natürlich diejenigen an erster Stelle zu erwähnen, mit denen ich gemeinsam veröffentlicht habe: der Leiter des Projekts und mein Lehrer, Prof. Dr. Hannu Tapani Klarni und cand. iur. Johanna Sorvettula. Besonders dankbar bin ich auch jenen Personen, mit denen ich Gelegenheit gehabt habe, meine Gedanken und/oder Skizzen zu diskutieren: Prof. Dr. Aulis Aarnio, Dr. Therese Björkholm, Prof. Dr. Anders Fogelklou, Prof. Dr. Ake Frändberg, Prof. Dr. Per Henrik Lindblom, Prof. Dr. Bengt Lindell, Prof. Dr. Alexander Peczenik, Prof. Dr. Dr. Steven Penrod, Doz. Dr. Torben Spaak, Dr. Bo Wennström und Doz. Dr. Dr. Lennart Aqvist. Prof. Dr. Robert Alexy hat es möglich gemacht, diese Arbeit jetzt in Deutschland zu veröffentlichen. Diese Arbeit wurde in ihrer ersten Version als Dissertation an der Universität Uppsala im September 1995 angenommen. Seitdem sind einige Änderungen im Text durchgeführt worden. Neuerscheinungen der Literatur wurden berücksichtigt. Uppsala, im November 2001

Minna Gräns

Inhaltsverzeichnis

Kapitell Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung A. Einleitung: Norm-, Tatsachen- und Subsumtionsunsicherheit . . . . . . . . . . . . . B. Methode und Problemstellung der Abhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Über die theoretisch-methodologischen Rahmen der juristischen Argumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Wahrheitserfindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verifikations- und Falsifikationskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Fakten in Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Über Wahrheitstheorien . . . . . .. . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . V. Die Wahrheitstheorien im Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 21 27 33 33 35 38 42 45

Kapitel II Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf· und Zivilverfahrens

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Strafprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Über die Gewichtung des kriminalpolitischen Zieles . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsschutz durch formelle Richtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Materielle Richtigkeit .. . . . .. . . .. .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . IV. Die Bedeutung materieller Richtigkeit der Strafurteile unter Berücksichtigung der prozessuellen Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Der Zivilprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die handlungsdirigierende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die konfliktlösende Funktion . . . .. . . . .. . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . IV. Materielle Richtigkeit . . .. . .. . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. .. . . . . . . . . . .. . . V. Die Bedeutung materieller Richtigkeit der Zivilurteile unter Berücksichtigung der Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Vorläufige Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48 48 49 51 52 55 58 62 62 63 74 79 84 87

10

Inhaltsverzeichnis Kapitel III

Materiell fehlerhafte Urteile A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Fehlerhafte Verurteilungen und Freisprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verschiedene Ansichten der Schuld und Unschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typologie der Irrtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vollständiger Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Teilirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Irrtümer bei der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ursachen der Irrtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Materiell fehlerhafte Urteile in Zivilsachen ...... ... .............. .. . . .. I. Typologie der Irrtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vollständiger Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Teilirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Irrtümer bei der Auslegung .... .. ....... .. ................... II. Ursachen der Irrtümer . .. .................. .. ................... III. Frequenz materiell fehlerhafter Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Berufungsquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. VV~verfabren .............. .... ......... . ....... 3. Andere Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Vorläufige Zusammenfassung .......... . .. . .... .. ..... . ... ... . .. .. ....

90 90 90 92 92 92 93 93 95 103 104 104 105 105 107 109 110 112 113 114

KapitelN

Grundzüge der Beweiswürdigung A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Beweismechanismus .. ..... ...................... . ............... I. Das kausale und logische Verhältnis ......... ... .......... ... ..... II. Kausalität und Erklären des menschlichen Verhaltens ....... ... .....

117 117 119 124 126

Kapitel V

A. B. C. D.

Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

134

Einleitung ............ .... . . .... . ... . ... .. .. ...... .... . ..... ... . ... . Der objektive VVahrscheinlichkeitsbegriff .. . .......... . ....... ..... ... . Der subjektive VVahrscheinlichkeitsbegriff ..... . .. ........ ... .. . .... . .. Der formale Wahrscheinlichkeitsbegriff ............ .. .... . .. .... . . .....

134 136 138 142

Inhaltsverzeichnis E. Über die Anwendbarkeit des Axioms P(a) = 1- P(rv a) bei der gerichtlichen Beweiswürdigung ...... . ................ ... ............. .. ..... F. Die traditionelle Statistik und Beweiswürdigung . . ................ .. .... G. Grundzüge der Beweiswertmethode ............ ... ............. ... .... I. Multiplikationsformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Additionsformel ........ . ................. ... .......... . ....... III. Einander widersprechende Beweisfakten ....... . ............ . . .. .. H. Subjektive Wahrscheinlichkeit als Glaubensgrad ... . . . ............ .. .... I. Formeln und Intuition ....... .. ................. . .... ..... ..... .. .... J. Die Anwendung numerischer Werte anstatt sprachlicher Ausdrücke

11 144 147 150 150 151 154 156 160 163

Kapitel VI

Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Deutschland: Überzeugung über Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit? . . . . . . I. Die subjektive und objektive Beweismaßtheorie . ............ ...... 1. Zivilsachen ......... . ............... . . .. ............... .... 2. Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Über die Elastizität der amerikanischen Beweismaße . . ................ . . I. Zivilsachen ................................. . .................. II. Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Kognitives oder normatives Beweismaß? .............................. E. Normativität des Beweismaßes in Schweden ...... . ................ . ... I. Fragestellung ........... . ................. ... .............. .... II. Olivecrona und Ekelöf; Normzwecke als leitendes Ziel . . . . . . . . . . . . . III. Bolding und Lindell: materielle Richtigkeit als das wichtigste Ziel ... IV. Konflikt zwischen den Zielen? ...... . . . .. ... . . .. . .. .. . .... .. .. . . . V. Der Zusammenhang zwischen der Normauslegung und dem Beweismaß nach Lindeil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kritik ......................................................... 1. Zivilsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die Eliminationsmethode von Diesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Zusammenfassung ................................ .. ............

167 167 168 169 169 179 183 183 185 189 191 191 192 198 200 202 203 203 207 208 210

Kapitel VII

Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

211

A. Über einige entscheidungstheoretische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 B. Das Modell von John Kaplan .. ... .......... .... .. . . . . . . . .. .. .. ...... . 214 C. Die Kritik von Tribe und Bourmistrov-Jüttner: Analyse und Gegenkritik .. . 216

12

Inhaltsverzeichnis

D. Einige deutsche und amerikanische entscheidungstheoretisch geprägte Modelle .... .. .............. . ..................... .. ........... ... ..... I. Anwendung des Kaplan-Modelles nach Maassen und Motsch . . . . . . . II. Das ideale Beweismaß nach Bender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Herleitung des strafrechtlichen Beweismaßes nach Marshall & Wise . IV. Die entscheidungstheoretische Begründung eines festen strafrechtlichen Beweismaßes nach Cullison . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Entwicklung des Kaplan-Modelles ............... .. ........... .. ...... I. Über die Beweislast: deutsche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Beweislast in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Beweislast in Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Herleitung eines rationellen Beweismaßes ..... . . ... .................... I. Bewertung der Disutilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeine Wahrscheinlichkeit und Disutilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beweismöglichkeiten und Disutilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Normzwecke und Disutilität ............ ... ........ . ............. V. Sozioökonornische Risikotragfähigkeit und Disutilität . . . . . . . . . . . . . . G. Gewichtung der Argumente und das endgültige Beweismaß .............. H. Lösung von Fällen, wo der P(BT)min- und P(-BT)min-Werte nicht erfüllt sind ... . .................................. ... ...................... I. Beispiel: Verbraucherversicherung, NJA 1984, 501 ......................

223 223 225 227 228 229 229 232 234 235 238 239 240 242 243 246 250 252

Kapitel VIII

Zusammenfassung

257

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Abkürzungsverzeichnis AcP

Archiv für die civilistische Praxis

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

Ariz.St.L.J.

Arizona State Law Journal

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Aufl

Auflage

Bd

Band

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachcen

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

B.U.L.Rev.

Boston University Law Review

Comell L.Rev.

Comell Law Review

Crim.L.Q.

Criminal Law Quarterly

Crim.L.Rev.

Criminal Law Review

DL

Defensor Legis

FRCP

Federal Rules of Civil Procedure

F.R.D.

Federal Rules Decisions

FRE

Federal Rules of Evidence

F.Supp.

Federal Supplement

GA

Goltdammer' s Archiv für Strafrecht

Harv.L.Rev.

Harvard Law Review

HD

Högsta Domstolen

JIT

Tidskrift utgiven av Juridiska Förerungen i Finland

JR

Juristische Rundschau

L.Ed.

U.S. Supreme Court Reports, Lawyer's Edition

L.Ed.2d.

U.S. Supreme Courts Reports, Lawyer's Edition, Second Series

Mass.

Massachusetts Reports

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

Mich.L.Rev.

Michigan Law Review

NJA

Nytt juridiskt arkiv. Avdelning I

14

Abkürzungsverzeichnis

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nw.U.L.Rev.

Northwestern University Law Review

N.Y.U.L.Rev.

New York University Law Review

Prop.

Proposition

RB

Rättegängsbalken

S.Ct.

United States Supreme Court Reporter

SJZ

Süddeutsche Juristenzeitung

SOU

Statens offentliga utredningar

Stan.L.Rev.

Stanford Law Review

StPO

Strafprozeßordnung

SvJT

Svensk Juristtidning

TtR

Tidsskrift for Rettsvitenskap

Tul.L.Rev.

Tulane Law Review

Tulsa L.J.

Tulsa Law Journal

U.Chi.L.Rev.

University of Chicago Law Review

U.Pa.L.Rev.

University of Pennsylvania Law Review

u.s.

United States Supreme Court Reports

Va.L.Rev.

Virginia Law Review

Vand.L.Rev.

V anderbilt Law Review

VersR

Versicherungsrecht

ZPO

Zivilprozeßordnung

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

ZZP

Zeitschrift für Zivilprozeß

Kapitell

Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung A. Einleitung: Norm-, Tatsachenund Subsumtionsunsicherheit Rechtsnormen verknüpfen Rechtswirkungen mit Fakten. Eine Norm gibt ein Tatbestandmerkmal, unter dessen Vorliegen sie gelten soll. Diese Merkmale gestalten sog. Rechtsfakten. Z. B. der Rechtsnormsatz "Wer vorsätzlich das Eigentum eines anderen verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet" ist als solcher eine Faktendeskription, die keinen Anspruch auf das Existieren solcher Fakten macht. Sie gibt freilich eine Beschreibung einer potentiellen Situation in der Wirklichkeit. Erst wenn die Beschreibung mit der Wirklichkeit korrespondiert, besteht eine rechtliche Verpflichtung. 1 Wenn dann z. B. A behauptet, daß B sein Auto in einem Verkehrsunfall zerstört hat, ist eine Behauptung von einem Geschehnis F zu einer gewissen Zeit T an einem gewissen Platz P gemacht worden, die an sich keine rechtliche Qualifizierung beinhaltet. Die Behauptung ist mit jeder anderen existentiellen Behauptung gleich. Wenn aber A in einem Gerichtsverfahren Ersatz wegen der vorsätzlichen Zerstörung seines Auto verlangt, hat er eine Behauptung über eine Menge von Rechtsfakten aufgestellt. Bei der rechtlichen Bedeutung der existentiellen Behauptung kommt es darauf an, inwieweit sie mit der Faktendeskription der Norm korrespondiert. Die Fakten und Umstände vom Geschehnis F werden durch Normen qualifiziert, und deren rechtliche Bedeutung ist von dem Korrespondieren abhängig? Eine rechtliche Lösung wird traditionell als eine logisch-deduktive Schlußfolgerung bzw. Rechtsfolgebestimrnung, die der aristotelischen Syllogismusform folgt, dargestellt. Nach dieser gibt es einen Obersatz, die Normprämisse, einen Untersatz, die Tatsachenprämisse, und eine Schlußfolgerung, die von den zwei ersten aus logisch erfolgt?

1 Siehe z.B. Aamio 1986, 61 ff.; Ders.: 1993, 1 ff. Peczenik 1989, 19 f. Alexy, 17 ff. 2 Siehe z. B. Aamio 1986, 61 ff.; Ders.: 1993, 1 ff. Peczenik 1989, 19 f. Alexy, 17 ff.

16

1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

Auch die Einteilung von Rechtsfragen und Tatfragen wird in diesem Modell deutlich. Der Obersatz beinhaltet zwar einen abstrakten Tatbestand, die oben genannte Faktendeskription, die Bedingungen und Umstände angibt, unter denen allgemein eine Rechtsfolge stattfinden soll. Der Untersatz dagegen legt den Inhalt der Faktenbehauptung dar. Rechtsanwendung bedeutet dann, daß die rechtliche Bedeutung des im Untersatz beschriebenen Sachverhalts durch den Obersatz qualifiziert wird. Das Resultat, Inhalt der Schlußfolgerung, hängt davon ab, ob die im Obersatz dargelegten Voraussetzungen durch den Untersatz erfüllt sind oder nicht; ob sie miteinander korrespondieren. Sie begründen den Inhalt der Schlußfolgerung.4 Obersatz:

Wer vorsätzlich das Eigentum eines anderen verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

Untersatz:

A hat vorsätzlich das Auto von B zerstört.

Schlußfolgerung:

A ist dem B zum Schadensersatz verpflichtet.

Dies ist eine heuristische Beschreibung des Entscheidungsprozesses. Jedoch nur in einem Idealfall. Eine unproblematische Anwendung dieses Modells setzt nämlich voraus, daß wir sowohl die Norm- als auch die Faktenprämisse exakt präzisieren köonen und daß sie voneinander unabhängig sind. Obwohl es durchaus möglich ist, jede Entscheidung in der deduktiven Form darzulegen, bleibt der Kern des Problems in der Weise, wie die verschiedenen Prämissen aufgebaut sind. Wie können wir uns dann dessen versichern, daß die Prämissen richtige sind; warum haben sie einen gewissen Inhalt? In der rechtstheoretischen Diskussion wird Aufmerksamkeit genau auf diese hinter den Prämissen liegende Unsicherheit gerichtet. 5 Der Unsicherheitsmomente sind viele, und sie sind keinem Juristen unbekannt. Sie werden im allgemeinen unter drei verschiedenen Kategorien- Normunsicherheit, Faktenunsicherheit und Subsumtionsunsicherheit6 - rubriziert. In einem einzigen Fall kann Unsicherheit über den Inhalt sowohl von Normund Faktenprämisse als auch vom Schlußfolgerungssatz bestehen? Unser Beispiel zeigt das deutlich. Keiner dieser Sätzen ist klar genug, um eine Entscheidung in einem konkreten Fall zu rechtfertigen. 3 Larenz, 91 ff. Wr6blewski 1974, 45. Strömholm 1981, 353. Alexy, 17 ff. Lindeil 1987, 364 ff. 4 Vgl. z.B. Alexy, 18. 5 Siehe Aarnio 1986, 1 ff., 107 ff. Alexy, 17. Peczenik 1989, 21 ff. 6 Siehe z. B. Klarni 1989, 54. 7 Aamio 1986, 63 ff. Klarni 1989, 53 ff. Peczenik 1989, 21 ff.

A. Einleitung: Norm-, Tatsachen- und Subsumtionsunsicherheit

17

In einem Gerichtsverfahren muß trotz dieser Unsicherheit eine positive Entscheidung getroffen werden. Der Richter kann die Rechtsfälle nicht wegen mangelhafter Information über die Sachlage oder wegen Unsicherheit über die normative Grundlage unentschieden lassen. Gerichtliche Entscheidungen dürfen zudem nicht völlig eigenmächtig oder zufällig sein. Der Richter muß auf irgendeine Weise die Unsicherheit bewältigen, um eine positive Lösung in dem jeweiligen Konflikt zu erreichen. Das endgültige Feststellen der eventuellen Korrespondenz zwischen der Faktendeskription und der Faktenbehauptung im Einzelfall setzt voraus, daß der Inhalt von beiden festgestellt worden ist. Was die Normprämisse anbelangt, so wird die Unsicherheit durch Normauslegung gelöst. Auslegungsprobleme (an sich) werden in dieser Arbeit jedoch nur kurz durchgegangen. Die Absicht ist vielmehr, darüber zu diskutieren, wie die Gerichte sich gegenüber der Unsicherheit der Tatsachenprämisse verhalten sollten. Hierbei muß jedoch daran erinnern werden, daß in einer gerichtlichen Entscheidungssituation diese Fragen sehr oft verflochten sind. In einem Gerichtsverfahren muß zunächst geklärt werden, inwieweit die Faktenbehauptung mit der normativen Faktendeskription korrespondieren könne. Es geht um eine hypothetische und vorbereitende Qualifizierung, um zu wissen, ob es überhaupt sinnvoll ist, den Fall in einem Gerichtsverfahren zu behandeln. Zeigt es sich z.B., daß die behaupteten Tatumstände rechtlich nicht relevant sind oder kein Rechtsschutzbedürfnis begründen, ist ein weiteres Verfahren sinnlos. In diesem Fall wird der Inhalt der beanspruchten Normprämisse mit der behaupteten Sachlage verglichen, ohne daß die Sachlage - ihr Übereinstimmen mit der außergerichtlichen Wirklichkeit - notwendigerweise erforscht wird. Zeigt es sich, daß die Tatsachenbehauptung eine rechtlichen Relevanz hat, wird ein Verfahren, in dem auch die Übereinstimmung der Behauptung mit der Wirklichkeit erforscht werden muß, stattfinden. Der Inhalt der Faktendeskription der Norm muß ausreichend klar sein, um die rechtliche Qualifizierung der Faktenbehauptung überhaupt vornehmen zu können. Hier zeigt sich der theoretische Unterschied zwischen der Qualifizierung und der Auslegung. Durch die Qualifikation wird ein faktisches Geschehnis oder Umstand rechtlich beurteilt. 8 Auslegung dagegen zielt darauf, den Bedeutungsinhalt einer Norm zu präzisieren, um die Wahl der Normprämisse zu rechtfertigen.9 Qualifizierung und Auslegung können an sich auf ganz theoretischer Ebene getrennt voneinander durchgeführt werden. Als Ausgangspunkt in 8 Aamio 1989, 175. Peczenik 1988, 40 f. Frändberg, Äke, Rättsregel och rättsval. Stockholm 1984, 84 ff. 9 Aamio 1989, 175. 2 Gräns

18

1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

einem Gerichtsverfahren gibt es aber immer irgendeinen konkreten Sachverhalt. Der Richter bekommt Information von der außergerichtlichen Welt, die er im Licht der Norm/Normen bewerten muß. Um zu wissen, ob eine Person einen Mord begangen hat, muß er wissen, was mit diesem rechtlichen Begriff gemeint ist. Der Richter hat normalerweise berufsmäßige Kenntnis über die Normenbedeutung und Auslegungsmethoden seines eigenen Normsystems. Der Inhalt der Begriffe in einem einzelnen Fall ist jedoch relativ nicht nur im Verhältnis zu der normativen Bedeutung eines Regeltextes, sondern auch zu den faktischen Umständen des einzelnen Falles. Es kann deshalb sehr schwer für den Richter sein, zwischen Auslegung und Qualifizierung zu unterscheiden. Die Norm gibt dem Richter gewisse rechtliche Rahmen, innerhalb derer er die Tatsachen bewertet, andererseits muß er auch die Tatsachen bewerten, um den Inhalt der anzuwendenden Norm zu präzisieren. Die Faktenkenntnis wirkt auf die Wahl der Normen, Normen haben Einfluß auf der Quantität und Qualität der Information, die jeweils verlangt wird, und weiterhin werden Fakten in relevanten und irrelevante Tatsachen mit Hilfe der Normen und Normenauslegung gesondert. 10 Einige Rechtswissenschaftler bezeichnen das Verhältnis zwischen Normen und Fakten in dem Entscheidungsprozeß als eine Art Wechselwirkung.U Engisch spricht von dem "Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt" 12, Scheuerle von "wechselseitiger Durchdringung zwischen den Akten der Tatsachenfeststellung und denen der rechtlichen Qualifizierung"13 • Nach Larenz handelt es sich um einen gedanklichen Prozeß, in dessen Verlauf der "Roh-Sachverhalt" zum "endgültigen Sachverhalt (als Aussage), der Normtext (gleichsam der Rohzustand der Norm) zu der für die Beurteilung dieses Sachverhalts hinreichend konkretisierten Norm umgeformt wird". 14 Diese Hin- und Herwandern gestaltet deshalb einen elementaren Teil des Entscheidungsprozesses. Die Wechselwirkung kann aber in einem noch weiteren Sinne gesehen werden. Der Entscheidende vergleicht nicht nur Normen und Fakten, sondern auch verschiedene Entscheidungsalternativen, die aus den verschiedenen Normen-Fakten-Kombinationen in dem jeweils vorliegenden Fall resultieren können. Dies bedeutet, daß nicht nur die preliminären und präzisierten Norm- und Faktenpropositionen miteinander verglichen werden müßten, 10 Klami 1983, 223 ff. Larenz, 99 ff. Engisch, Logische Studien, 14 ff., 20. Engisch 1971, 56. Aamio 1989, 178 f. Jonkka, 9 ff. Lindeil 1987, 36 ff. 11 Zahle, 31 f. 12 Engisch, Logische Studien, 15. 13 Scheuerle, Wilhelm A., Rechtsanwendung, Nürnberg/Düsseldorf 1952, 23. 14 Larenz, 102.

A. Einleitung: Norm-, Tatsachen- und Subsumtionsunsicherheit

19

sondern auch ihre verschiedenen Kombinationen mit den verschiedenen Beschlußalternativen. Dieser relativ komplizierte Vergleichungsprozeß wird speziell von Klami hervorgehoben. 15 Aber auch Aarnio hat die eventuelle Unsicherheit des Normen-Fakten-Verhältnisses mit der Wahl der endgültigen Entscheidung verknüpft. Eine typische Situation ist nach ihm eine Billigkeitsahwägung zwischen verschiedenen Graden einer Straftat mit Berücksichtigung der daraus resultierenden Strafe. 16 Der Richter nimmt eine Gesamtbewertung der Situation vor und konstatiert, daß es auf Grund der belegten Information nicht statthaft ist, z. B. den Angeklagten wegen eines Mordes zu verurteilen. Statt dessen wendet er eine andere Norm an, die seiner Meinung nach ein gerechtfertigteres Resultat begründet. 17 Es ist auch denkbar, daß die Unsicherheit von dem, was eigentlich bewiesen ist, auf der Seite der Rechtsfolgen kompensiert wird. 18 Ist man unsicher, ob der Täter wirklich absichtlich gehandelt hat, kann es in der Tat schwierig sein, den Grad seiner Schuld als Argument bei der Normwahl und/oder Strafzumessung anzuwenden. Die letztgenannten und ähnliche Sachlagen beruhen sehr oft auf den sprachlichen Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen Normen und Fakten. Häufig setzen Normtexte oder zugrundeliegende Auslegungen Antworten auf Tatfragen voraus, die sehr schwierig zu beantworten sind. Solche typischen und sehr schwierigen Tatbestandmerkmale sind z. B. alle psychischen Prozesse des Menschen, die in die "Welt 2" des Poppersehen Systems gehören. Man findet es gerechtfertigt und billigt, daß gewisse privat- und strafrechtliche Sanktionen von dem konkreten Wissen der vorhandenen Person abhängig sind. Rechtsregeln über Vertragsverhältnisse beruhen in vielen Ländern auf dem römischen bona fides-Begriff mit den verschiedensten Distinktionen, je nach dem Wissen und der Intention der Vertragsparteien. Es ist natürlich, daß der faktische dem Gericht vorgebrachte Tatsachenstoff keine ausreichende Antwort auf genau diese Fragen bietet. Es geschieht ferner, daß die Natur der relevanten Fakten auf der ontologischen und epistemologischen Ebene in solchen Situationen geändert wird. Denkbar ist z. B. folgendes 19: 1. Subjektive Kriterien werden durch objektive ersetzt, z. B. fehlende

Kenntnis über die relevanten psychischen Prozesse im Einzelfall wird

Klami 1983, 224 f. Aarnio 1989, 178 f. 11 Aarnio 1989, 178 f. 18 Z. B. in den USA können die Appellationsgerichte eine Verurteilung für eine gröbere Straftat wegen unzureichenden Beweises aufheben und statt dessen zu einem leichteren Straftatgrad verurteilen. Siehe hierüber LaFave/Israel, 1079 f. 19 Klami/Kastinen/Hatakka, 291. 15

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2•

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

dadurch ersetzt, daß man an ihrer Stelle darüber diskutiert, was Menschen in ähnlichen Situationen im allgemeinen denken oder machen. 2. Subjektive Kriterien werden durch normative Kriterien ersetzt: Was sollten Menschen in ähnlichen Situationen im allgemeinen wissen, denken oder machen. 3. Man unternimmt eine normativ-evaluative Wertung unter Betücksichtigung der Billigkeit o. ä., weil die gesetzlichen oder theoretischen Fragen in casu zu schwierig zu beantworten sind. 4. Man wendet objektive Beweislastregeln an, um den Inhalt der Tatsachenprämisse zu rechtfertigen. Es ist doch sehr wichtig, sich daran zu erinnern, daß beim Entscheiden die Probleme der Sprache in den Gesetzestexten in derartigen Situationen zu Problemen des Beweises und des rationalen Feststellens unter der erwähnten Unsicherheit verwandelt worden sind. Es handelt sich um eine funktionelle Verbindung zwischen den unsicheren Normen und unsicheren Fakten. Für gewöhnlich ist es so, daß rechtstheoretische Untersuchungen sich vor allem mit der normativen Seite der Argumentation (wegen der Unsicherheit) befassen, ohne diese funktionellen Verbindung genug zu beachten.Z0 Man konzentriert sich auf verschiedene Systematisienmgen und Analysen verschiedener Rechtsfragen und Rechtsgebiete. Sie helfen uns, das Recht zu verstehen und es auf eine rationale Weise anzuwenden, aber sie bieten weniger Hilfe für eine rationale Beachtung der mehr oder weniger sicheren Tatsachen an. Solche Untersuchungen haben zwar als Ausgangspunkt, daß die Tatsachen schon geklärt worden sind; oft zielen sie auch darauf ab, vorzulegen, was für Tatsachen überhaupt zum Anwendungsbereich der Normen gehören. Sie geben mehr oder weniger fertige Antworten für die Qualifizierung und Auslegung und konstruieren verschiedene relevante, bei der Entscheidungsarbeit anzuwendende Argumente und daraus resultierende Schlußfolgerungen. Der Richter wendet diese Information an, um den Inhalt der jeweiligen Normen zu ermitteln und um zu wissen, ob die jeweilige Faktenbehauptung rechtlich relevant ist oder nicht. Er kann aber die behaupteten

20 Vgl. z. B. mit Twining, 396. " . . . during the nineteenth century the study of the law of evidence became artificially separated from the study of procedure and of substantive law .... This separation is graphically illustrated by the almost complete divorce between Iiterature on the law of evidence and Iiterature on legal process. There is a sirnilar artificial device between writings about reasoning about questions of fact and the much more extensive jurisprudential Iiterature about ,legal reasoning' ."

B. Methode und Problemstellung der Abhandlung

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Fakten nicht als gegeben annehmen, sondern befindet sich auch - und vor allem - von dieser Seite her in Unsicherheit. Das Eliminieren der Faktenunsicherheit ist seiner epistemologischen Natur nach etwas anderes als das der Normunsicherheit Es ist insbesondere nicht möglich, die Faktenunsicherheit auszuräumen; sie besteht trotz des endgültigen Formulierens der Tatsachenprämisse und trotz z. B. der autoritären Stellung der Feststellenden. Wenn es um die Normunsicherheit geht, kann z. B. das höchste Gericht, kraft seiner autoritativen Stellung, eine endgültige Lösung in der Auslegungsfrage feststellen. Man kann natürlich eine von dieser Lösung abweichende Auffassung haben, aber es ist aus schon praktischen Gründen normal, daß solchen Entscheidungen - oder wenigstens den meisten von ihnen - von Unterinstanzen gefolgt wird, weil höchste Gerichte oft auch höchste Autoritäten der Rechtssysteme und Präjudikate eine praktisch wichtige Rechtsquelle sind. Aber eine Entscheidung auch des höchsten Gerichts kann nachträglich geändert werden, ohne daß der Normgrund an sich geändert würde, wenn es sich zeigt, daß sie aus irgendwelchen Gründen nicht (mehr) rational und akzeptabel ist. Hat aber der höchste Gerichtshof festgestellt, daß A den B getötet hat, wird dadurch nicht das geändert, was in der Wirklichkeit geschehen ist. Hat der A den B nicht getötet, dann ist es so, ganz unabhängig von dem, was das Gericht gesagt hat. Die Faktenunsicherheit kann in dem Justifikationsprozeß verschwinden, aber dieses Verschwinden ist nur scheinbar. Deswegen muß beachtet werden, daß aufgrund des nur scheinbaren Eliminierens eine materiell fehlerhafte Entscheidung immer möglich ist. Dies ist natürlich ein sehr schwieriges und den Gerichten und Juristen sehr unangenehmes Problem. 21

B. Methode und Problemstellung der Abhandlung Meine Absicht ist, die Probleme des funktionellen Zusammenhangs der Wahrheit und des Rechts bei der gerichtlichen Rechtsanwendung zu untersuchen. Die Probleme der gerichtlichen Tatsachenerforschung gehören traditionell zum Prozeßrecht, vor allem, wenn verschiedene Beweisregeln und Theorien der Beweiswürdigung diskutiert werden. Will man aber einen weiteren Ausgangspunkt annehmen und die Rechtsanwendung der Gerichte als zu der Funktion und dem Funktionieren des Rechts und der Gesetze gehörig betrachten, und zwar sowohl in Einzelfällen als auch in der allgemeinen einwirkenden Wirksamkeit, so ist es nicht ausreichend, nur an die prozeßrechtliche Seite zu denken, weil sie nur den Rahmen und die formellen Voraussetzungen der Tätigkeit des Gerichts gestaltet.

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Vgl. Klami 1979, 165 f. und 1989, 53 ff.

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

Gerichtsurteile haben zwar immer gewisse Konsequenzen unter Berücksichtigung sowohl der Rechte und Verpflichtungen der Parteien in casu als auch hinsichtlich des allgemeinen gesellschaftlichen Funktionierens des Rechts. Gerichtliche Rechtsanwendung soll zwar eine Teilverantwortung hinsichtlich des Funktionierens der Rechtsordnung als ein konsequentes und rationales System tragen. Dieser erweiterte Ausgangspunkt bringt es mit sich, daß die Untersuchung vor allem im Anschluß an die allgemeine Rechtstheorie durchgeführt worden ist. Der Ausgangspunkt ist allgemein rechtstheoretisch auch deswegen, weil ich vor allem darüber diskutieren will, wie und warum die gegenwärtigen, von der allgemeinen Rechtstheorie herausgearbeiteten Auslegungsprinzipien und -methoden untauglich bei der Auslegung der Beweismaßnonnen sind. Außergerichtliche Wirklichkeit gestaltet den Ausgangspunkt eines jeden Gerichtsverfahrens, und deshalb gehören Beweisfragen zu dessen wichtigsten Problemen. Fragen, wie was bewiesen werden muß, welche Partei was beweisen soll, was für ein Beweis erlaubt wird und wieviel Beweis verlangt wird, was ist das sog. Beweismaß und, falls der erforderliche Grad des Beweismaßes nicht erreicht wird, was wird als Tatsachenprämisse zugrunde gelegt, wie lauten die Regeln der objektiven Beweislast usw., gehören zu den in der Praxis ganz ausschlaggebenden Fragen eines jeden konkreten Prozeiiei. Diese Fragestellungen sind in jeder Rechtsordnung gleich, in der keine fertigen, den Richter bindende Beweiswertnormen gelten. Die in dieser Arbeit zu behandelnden Rechtsordnungen, nämlich die schwedische, deutsche und amerikanische, gestalten zwei verschiedene Typen von Rechtssystemen, die zu schildern sind, und zwar das des schwedischen und deutschen Civil Law-Typs und das des amerikanischen Common Law-Typs. Wenn es zu den Problemen der Beweiswürdigung und des Beweismaßes kommt, gibt es jedoch keine wesentlichen Unterschiede zwischen ihnen. Wahrheit an sich ist etwas Objektives; es gibt immer eine außergerichtliche Wirklichkeit, eine faktische und materielle Wahrheit, die (an sich) unabhängig vom Recht ist. Das Problem ist demzufolge überall das gleiche: eine Gewißheit über die außergerichtliche Wahrheit ist das Ideal eines jeden Prozesses, aber dieses ist in der Praxis meist unerreichbar. Dies bedeutet, daß die gerichtlichen Entscheidungen unter Unsicherheit des Existierens faktischer Umstände getroffen werden müssen. Und wann immer diese Unsicherheit besteht, gibt es ein Risiko, daß die Tatsachenprämisse der Entscheidung in der Tat nicht mit der wirklichen Sachlage korrespondiert. Dazu kommt, daß die Verflochtenheit zwischen Fakten und Recht ein besonderes Problem im Hinblick auf die Wahrheitsproblematik darstellt, demzufolge auch nonkognitive Wahrheitstheorien aktuell werden.

B. Methode und Problemstellung der Abhandlung

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Diese Arbeit ist in einer funktionellen Bedeutung rechtsvergleichend. Den Ausgangspunkt dieses sog. funktionellen Rechtsvergleichs erblickt man darin, daß man sowohl das eigene als auch das ausländische Recht als Mittel der jeweiligen sozialen Organisation und der gesellschaftlichen Steuerung ansieht und nicht als ein von der gesellschaftlichen Entwicklung völlig unabhängiges Phänomen.22 Dies führt dazu, daß ausländisches Recht als Gegenstand einer rechtsvergleichenden Untersuchung unter Berücksichtigung des jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhangs betrachtet wird, und ferner, daß man untersuchen muß, welche Funktion die verschiedenen Normen und Institutionen in der jeweiligen Rechtsordnung haben. 23 Als Resultat solcher funktionellen Vergleiche werden, etwa bei der Vorbereitung neuer inländischer Gesetze, ausländische Problernlösungen herangezogen. 24 Ausländisches Recht gibt darüber hinaus oft ein besseres Verständnis über die Normen und Institutionen des eigenen Rechts, speziell zum Nutzen der Rechtswissenschaft und Rechtskritik. 25 In meiner Arbeit geht es u. a. um den Vergleich der Funktionen des eigenen und fremden Rechts, um herauszufinden, wie gut oder wie schlecht sie diese Funktionen erfüllen?6 So wird z. B. das zivilrechtliche Beweismaß in Deutschland und den USA unterschiedlich definiert. In Deutschland verlangt man einen "vollen Beweis", während man in den USA in der Regel das niedrigere Beweismaß von preponderance of the evidence als ausreichend akzeptiert. Die Untersuchung wird zeigen, daß der Unterschied von den dem Zivilprozeß zugrundeliegenden allgemeinen Zwecken und derer Gewichtungen bedeutend ist. Es wird aber nicht behauptet, daß ein bestimmtes Beweismaß, weil es gut in einem bestimmten Rechtssystem funktioniert, als solches in einem anderen Rechtssystem anwendbar wäre. Voraussetzung für einen funktionsbezogenen Vergleich solcher Art ist nämlich die Vergleichbarkeit der Ausgangssituationen. 27 Es gibt natürlich bestimmte Ähnlichkeiten sowohl hinter der normativen Begründung als auch hinter der praktischen Anwendung des Beweismaßes in den hier zu vergleichenden Rechtssystemen. Gewichtungsunterschiede beruhen auf Unterschieden zwischen den rechtskulturellen Wertungen. Meine Absicht ist es nicht, solche Gewichtungen notwendigerweise zu ändern zu versuchen. Jedoch können solche Wertungen mit Hilfe der hier vertretenen beschlußtheoretischen Methode rational diskutiert werden. Dies ist insbesondere deshalb möglich, weil diese Methode es Rheinstein, 25 ff. Zweigert/Kötz, 16 ff. Strömholm 1979, 316 ff., 341. Siehe z. B. Rheinstein, 25 f. Zweigert/Kötz, 33 ff. Luhmann, Funktionale Methode und Juristische Entscheidung, AöR 94 (1969) 1 ff. Strömholm 1979, 324 ff., 334 ff. 24 Rheinstein, 26 ff. Zweigert/Kötz, 33 ff. Strömholm 1979, 320 ff., 334 ff. 25 Rheinstein, 26 ff. Zweigert/Kötz, 33 ff. Strömholm 1979, 320, 338 ff. 26 Rheinstein, 26 ff. Zweigert/Kötz, 33 ff. Strömholm 1979, 340. 27 Rheinstein, 26 ff. Zweigert/Kötz, 33 f., 48. 22

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I. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

ermöglicht, die Ursachen der unterschiedlichen Beweismaße explizit zu machen. Die Vergleichbarkeit der Ausgangssituationen der in dieser Arbeit behandelten speziellen Rechtsfragen besteht darin, daß die gerichtliche Rechtsanwendung in jeder Rechtsordnung den Anspruch hat, möglichst sicher und effektiv zu sein, d. h. sowohl materiell als rechtlich möglichst richtige Urteile festzustellen. 28 Bezüglich der Wahrheitsfindung ist das Problem, wie schon gesagt, in allen Rechtsordnungen gleich: der Entscheidende muß aufgrund der Faktenunsicherheit Stellung zu der Frage nehmen, wie starke Sicherheit von der Übereinstimmung zwischen der Tatsachenbehauptungen und der Wirklichkeit gefordert werden muß und/oder kann, bevor sie als bewiesen angenommen werden dürfen, um als Tatsachenprämisse der Schlußfolgerung zu gelten. Obwohl man davon ausgehen kann, daß eine absolute Sicherheit das Ideal ist, muß diese Stellungnahme meistens unter Anerkennung der Unmöglichkeit, die Wahrheit zu erreichen, getroffen werden. Es wird untersucht, wie man sich in Schweden, Deutschland und den USA zur Unsicherheit der dem Urteil zugrundeliegenden Tatumstände gestellt hat. Einer der gemeinsamen Ausgangspunkte ist der Wahrheitsbegriff an sich: was ist es für eine Wahrheit, die man in dem gerichtlichen Verfahren sucht. Es wird sich erweisen, daß eine kognitive Wahrheitstheorie nicht immer ausreichend ist, sondern auch die nonkognitiven Theorien einen an sich begründeten Platz innerhalb der gerichtlichen Wahrheitsdiskussion haben. Dieser Umstand muß beachtet werden, auch wenn darüber diskutiert wird, was mit der materiellen Fehlerhaftigkeit bzw. Richtigkeit überhaupt gemeint ist und gemeint sein kann und was die Ursachen hinter der eventuellen Fehlerhaftigkeit der Urteile sind. Ein sehr wichtiger Ausgangspunkt, wann immer es um die Rechtsausübung der Gerichte geht, ist natürlich, was für Zwecke und Funktionen dem Gerichtsverfahren in den verschiedenen Rechtsordnungen zugeordnet worden sind. Um die Wichtigkeit und praktische Bedeutung der Unsicherheit im Hinblick auf die Zwecke und Funktionen zu fokussieren, wird deshalb im Kapitel II. darüber diskutiert, was diese Ziele und Funktionen sind und welche Rolle materielle Richtigkeit darin spielt. Man muß sich also fragen, in welchem Maße materielle Richtigkeit der Urteile selbst als Zweck der Verfahren gefordert wird, aber auch, auf welche Weise das Erreichen der anderen Zwecke und Ziele der Rechtsanwendung von der mate28 Hiermit ist nicht gemeint, daß es möglich zu beweisen ist oder sein müßte, daß rechtliche Entscheidungen in irgendeinem absoluten Sinne richtig sind. Im Gegenteil, ich bin davon überzeugt daß es möglich ist, nur von mehr oder weniger "vernünftigen" normativen Aussagen im Rahmen der geltenden Rechtsordnung zu sprechen. Siehe insb. Alexy, 264 ff.

B. Methode und Problemstellung der Abhandlung

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riellen Richtigkeit der Urteile abhängig ist. Die wichtigsten Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtssystemen liegen in der wertbasierenden Gewichtung der zivilprozessualen Zwecke. Die Diskussion über materiell fehlerhafte Urteile im Kapitel III. will darlegen, daß Ursachen für die Irrtümer eines Gerichts einerseits von außergerichtlichen Umständen abhängig sind, aber auch von der viel zu unkritischen Einstellung der Gerichte zu der Beweiswürdigung und ihren Gründen und zu den Möglichkeiten, Gewißheit zu erreichen. Die in der Gegenwart herrschende, auf der intuitiven Überzeugung des Tatsachenfeststellers basierende Lehre des Beweismaßes und der Beweiswürdigung gibt keine ausreichenden Werkzeuge für eine intersubjektive Kontrolle der Schlußfolgerung. Richter und Schöffen sind unkritisch gegen sich selbst, weil die intuitive Überzeugung letztendlich persönlich ist. Eine wichtige Rolle spielen auch die Situationen, in denen die Tatfragen verflochten mit den Rechtsfragen behandelt werden müssen, weil sie untrennbar sind. Der Grundsatz der sog. "freien Beweiswürdigung" des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens soll die Richtigkeit der Beweiswürdigung gewährleisten. In dem vierten und fünften Kapitel werden die Gründe der Beweiswürdigung erörtert. Dabei wird die Grundstruktur des Beweismechanismus - Beweisthema, Beweisfaktum, Erfahrungssätze und Wahrscheinlichkeit diskutiert. Der schwedische Professor für Prozeßrecht Lindell hat zutreffend geschrieben: "Zu fragen, was für eine Methode bei der Beweiswürdigung angewandt werden sollte, heißt zu fragen, was es für ein Wahrscheinlichkeitsbegriff ist, auf dem sie basiert. " 29 Was die Wahrscheinlichkeit von Einzelereignissen anbelangt, muß man in der Regel von der subjektiven Wahrscheinlichkeit ausgehen. Um die Intersubjektivität der Beweiswürdigung zu verbessern, sollte die Anwendung der wahrscheinlichkeitstheoretischen Modelle beachtet werden, weil sie die Logik der Schlußfolgerung bilden. Dies seinerseits setzt voraus, daß man seine subjektive Überzeugung, Sicherheit bzw. den Glaubensgrad numerisch wenigstens für sich selbst auszudrücken versucht. Die freie Beweiswürdigung garantiert auf keine Weise eine materielle Wahrheit der Tatsachenprämissen, sondern nur, daß aufgrund der vorliegenden Information erkenntnistheoretisch möglichst haltbare und logisch richtige Entscheidungen getroffen werden können. Das Risiko, sich zu irren, kann aber dadurch nicht ausgeräumt werden. Ausschlaggebend ist, was für eine Stellungnahme zu der Unsicherheit angenommen wird. Es geht um eine akzeptable oder vernünftige Minderung des Risikos durch eine Beweismaßnorm. Was für Bedeutung das Beweis29

Lindell 1987, 134. Meine Übersetzung, Kursivierung im Original.

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

maß unter Berücksichtigung der materiellen Rechtsnormen als Mittel der sozialen Organisation und Steuerung hat, ist im Lichte der Ziele des Verfahrens - Wahrheit und Recht - zu untersuchen. Interessant ist es demzufolge, in Kapitel VI. darüber zu diskutieren, inwieweit die in den drei Rechtsordnungen bei der Auslegung der Beweismaßnorm angewandten Argumente diesen funktionalen Zusammenhang reflektieren. Meine Absicht ist nicht, den Beweis zu versuchen, daß irgendeines der drei Rechtssystemen den anderen eine richtige Lösung liefern könnte. Deshalb habe ich einen (mehr oder minder) problembezogenen Ansatzpunkt bezüglich jedes Landes gewählt. Es wird sich nämlich erweisen, daß das Beweismaß in den hier behandelten Ländern bis jetzt als viel zu unabhängig von der Funktion des Rechts und der Rechtsanwendung im allgemeinen verstanden und behandelt worden ist. 30 Im Kapitel VII. wird darüber diskutiert, wie man sich gegenüber den oben geschilderten Risiken auf eine rationale Weise verhalten kann, und zwar unter Berücksichtigung sowohl der Wahrheit als auch des Rechts. Hier ist zunächst die Diskussion der schwedischen Doktrin und Praxis zu beachten. In der schwedischen Doktrin wird hervorgehoben, daß das Beweismaß l. eine völlig normative Sache ist, 2. bei dem verschiedene Argumente, wie Beweismöglichkeiten der Parteien, Gesetzzwecke, soziale Stellung der Parteien und die sog. Ursprungswahrscheinlichkeit der ßeweisthemen, Bedeutung haben und 3. die Beweislastregeln in enger Verbindung mit dem Beweismaß stehen müssen, weil sie auf die Frage antworten, wer das Risiko tragen soll, daß der Beweiswert nicht den Wert des Beweismaßes erreicht hat. Entscheidungstheoretische Modelle des Beweismaßes nehmen eine eher rationale Stellung ein, ohne die Voraussetzung der subjektiven Überzeugung außer acht zu lassen. Ein Modell, das sowohl die besonderen Zwecke der Rechtsausübung als auch die Umstände der einzelnen Fälle berücksichtigt, scheint hier am besten zu funktionieren. Ein solches Modell gibt die Möglichkeit, über das Beweismaß auf rationale Weise zu diskutieren, und es macht verständlich, warum das Beweismaß elastisch sein kann und, wenn rationell betrachtet, auch sein müßte. Dies bedeutet aber nicht, daß es unmöglich sei, ein festes Beweismaß rational zu begründen. Die in dieser Arbeit geführte Diskussion über ein rationales Beweismaß hat ihre Gründe in den verschiedenen von der schwedisch-finnischen Projektgruppe "Recht und Wahrheit", in der ich seit 1988 mitgearbeitet habe, herausgegebenen Artikeln über dieses Thema. Ich werde die Theorie in dieser Arbeit im Lichte der relevanten Kritik diskutieren und die Theorie 30 In Schweden gibt es jedoch sowohl in der Theorie als auch in der Rechtspraxis Beispiele für solches Zusammenspielen.

C. Theoretisch-methodologische Rahmen der juristischen Argumentation

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verteidigen. Einige wichtige Punkte des beschlußtheoretischen Modells werden auch verdeutlicht und weiterentwickelt. Meine Absicht ist, darüber hinaus zu beweisen, daß die Theorie des rationalen Beweismaßes zusammen mit der sog. Beweiswertmethode eine verbesserte Rationalität der gerichtlichen Tatsachenentscheidungen sowohl im Licht des Wahrheits- als auch des Rechtszwecks garantiert.

C. Über die theoretisch-methodologischen Rahmen der juristischen Argumentation Unsicherheit hinsichtlich der Normprämisse kann auf verschiedenen Umständen beruhen. Der Normtext kann in dem Maße vage oder mehrdeutig sein, daß es sich nicht ohne weiteres sagen läßt, wie er eigentlich zu verstehen ist. Es kann auch so sein, daß der Normtext an sich eindeutig ist, weshalb eine rein semantische Subsumierung unmöglich scheint, das Problem aber mehr darin liegt, daß man die Norm in dem vorliegenden Fall vielleicht analog anwenden möchte? 1 Diese beruht auf dem Umstand, daß wertgeöffnete Begriffe sehr häufig in der heutigen Normgebung angewandt werden, obschon sie gleichzeitig schwierige Auslegungsprobleme mit sich bringen. Um die Frage der Unsicherheit über die Normprämisse der Entscheidung zu lösen, muß der Richter die Norm interpretieren. Damit ist - in engem Sinne -gemeint, daß der Richter die Deutung oder den Inhalt einer Norm mit der Hilfe von vorher festgelegten Rechtsquellen und ihren Anwendungsregeln und gewissen Argumentationsprozessen herauszufinden versucht. 32 Es ist durchaus möglich und auch normal, daß der Gesetzestext mehrere an sich denkbare Deutungen erlaubt. Diese verschiedenen Bedeutungsalternativen gestalten seinerseits verschiedene Normen. Normen sind in diesem Sinne Resultate der Auslegung, nicht ihre Gegenstände.33 Der Entscheidende soll dann zwischen den verschiedenen Alternativen eine Auswahl treffen. Um unter mehreren Normenalternativen wählen zu können, muß der Rechtsauslegende einer von ihnen aus irgendwelchen Gründen Priorität einräumen können. Der gewählte Normsatz muß also nach der Meinung des Auslegenden in irgendeinem Sinne besser sein als andere mögliche Alternativen?4 Die Theorie der Auslegung wird deshalb im weiten Sinne als die 31 Aarnio 63 ff. 32 Aarnio 33 Aarnio 34 Aarnio

1986, 47 ff. Alexy, 17 f., 273 ff. Peczenik 1989, 21 ff.; Klami 1989, 1986, 47 ff. Peczenik 1989, 21 ff. Klami 1989, 63 ff. 1989, 162. Ders.: 1986, 49 ff. 1986, 47 ff. Alexy, 23 ff.

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

Theorie des Wählens verstanden. 35 Es geht nicht nur um die Anwendung der Rechtsquellen nach den in dem jeweiligen System geltenden Auslegungsregeln (Rangordnung der Rechtsquellen, Auslegungsmaxime usw.) und Auslegungsstandards, sondern auch um die Wahl zwischen zwei oder mehreren Alternativen. 36 Ausschlaggebend für die Wahl werden Argumenten pro vel contra, Abwägung zwischen den verschiedenen Normalternativen. Argumenten können ihrerseits verschiedene Gewichte zugedacht werden. Dem Auslegenden ist auferlegt, eine ausreichende Kombination von Pro-Argumenten zu finden, die die Wahl der Normprämisse rechtfertigen. 37 Mit der Rechtfertigung können zwei verschiedene Dinge gemeint sein, nämlich 1. interne Rechtfertigung (internal justification) und 2. externe Rechtfertigung (external justification).38 Die interne Rechtfertigung beschäftigt sich mit der logischen Struktur der Entscheidung; in diesem Fall wird die Entscheidung in einer Obersatz-Untersatz-Schlußfolgerung-Form betrachtee9 und ist damit der sog. logischen Rationalität (L-Rationalität) untergeordnet.40 Jede Entscheidung muß die Voraussetzungen dieser formalen Rationalität erfüllen. Bei der externen Rechtfertigung geht es um die Begründung der in der internen Rechtfertigung benutzten Prämissen. 41 Sie versucht darauf zu antworten, warum genau die gewählten Prämissen anzuwenden sind. Die Theorie der Auslegung besch!tftigt sich hier mit den Fragen darüber, in welchem Umfang Wertungen bei der externen Rechtfertigung erforderlich sind, wie das Verhältnis dieser Wertungen zu den Auslegungen und den Sätzen und Begriffen der Rechtsdogmatik zu bestimmen ist und wie diese Wertungen rational begründet oder gerechtfertigt werden können.42 Das Vorhandensein dieses Wertungselements verursacht es, daß die traditionellen logisch-deduktiven und induktiven Schlußfolgerungsmethoden als solche nicht ausreichend für die externe Rechtfertigung der Normprämisse sind. Mit ihnen können nämlich Wertungen oder normative Aussagen nicht rational begründet werden, weil sie nicht als unabhängige Größe existieren. Aarnio 1986, 47 ff. und 185 ff. Aarnio 1986, 185 f. 37 Aarnio 1986, 187. "Legal reasoning transforms the established law into something eise, that is, the interpreted law", Peczenik 1989, 46. Siehe auch Ders.: 1989, 114 ff. 38 Wr6blewski 1974, 39 ff. Ders.: 1971, 412 ff. Alexy, 273. Aarnio 1986, 119. 39 "lntemal justification deals with the validity of inferences from given premisses to legal decision taken as their conclusion." Wr6blewski 1971, 412. Wie dies geschieht, siehe Alexy, 274 ff. und Aarnio 1986, 119 ff. 40 Alexy, 273 ff. Aarnio 1986, 188 ff. 41 Wroblewski 1974, 39 ff. Ders.: 1971, 412 ff. Alexy, 283. Aarnio 1986, 119 f. 42 Alexy, 24. Aarnio 1986, 185 ff. Peczenik 1989, 156 f. 35

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C. Theoretisch-methodologische Rahmen der juristischen Argumentation

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Die Wertung geht vielmehr von einem sog. praktischen Diskurs aus, innerhalb dessen auch normative Aussagen gerechtfertigt werden können. Philosophen wie Perelman und Habermas haben jedoch hervorgehoben, daß möglich sei, die Objektivität einer Wertaussage durch Zustimmung43 oder Konsensus44 einer Gruppe von Menschen zu erreichen. Perelman meint, daß es unter gewissen Voraussetzungen möglich ist, eine objektive Auffassung über die Richtigkeit der Werte und Normen innerhalb eines Auditoriums, das aus allen vernünftigen Menschen besteht, zu erreichen.45 Habermas dagegen hebt hervor, daß eine solche Objektivität durch Einigkeit und Konsens zwischen Menschen erreicht werden könne.46 Solche tatsächliche Einigkeit wird unter gewissen Voraussetzungen seinerseits dann möglich, wenn die Diskutierenden gemeinsam eine Lebenswelt teilen. 47 Bei der Argumentation wird bestimmten Regeln gefolgt. Diese Regeln gestalten die Methode des praktischen Diskurses,48 in dem zwei Parteien einen Dialog miteinander führen. Er beginnt mit einer Meinungsverschiedenheit und endet mit dem Konsens. Sowohl Perelman als auch Habermas haben ähnliche Diskursregeln vorgeschrieben. 49 Diese Regeln sind prozessuale Verhaltensregeln, und diesen zu folgen soll ein rationales und akzeptables Resultat gewährleisten. Sie garantieren die Rationalität des Diskurses, oder wie Habermas sagt, sie gestalten eine ideale Sprechsituation; einen idealen Zustand für die freie Kommunikation.50 Die Vorteile dieser Theorien liegen darin, daß sie die Grundprinzipien eines rationalen praktischen Diskurses verdeutlicht haben. Auch die Rechtswissenschaft hat diese Theorie verwendet, um die Rationalitätsforderungen der juristischen Argumentation zu verbessern. Das Ziel der juristischen Argumentationstheorie ist, Voraussetzungen einer rationalen und akzeptablen Normanwendung zu konstruieren, so daß Rechtssicherheit in materiellem Sinne durch eine tiefere Rechtfertigung gewährleistet werden könnte.51 Man hat jedoch die Theorien von Perelman und Habermas auch kritisiert. Die Kritik richtet sich hauptsächlich gegen die Behauptung, daß es möglich sei, einen im objektiven Sinne richtigen Wert in einem praktischen Diskurs zu begründen.52 Ein universales Auditorium bzw. eine ideale Sprechsitua43 44 45

46 47

48 49 50

5t

Perelman/Olbrechts-Tyteca, 18, 24, 59. Habermas, 220, 242 ff., 252 ff. Perelman/Olbrechts-Tyteca, 102. Perelman, 1967, 152 ff. Habermas, 220, 242 ff., 252 ff. Habermas, 220, 242 ff., 252 ff. Habermas, 242 ff., 253 ff. Alexy, 141 ff. Aarnio 1986, 188 ff. Siehe speziell Alexy, 134 ff., 197 ff. Habermas, 255 ff. Alexy, 264 ff., 428 f.

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

tion sind in höchstem Maße Abstraktionen, die sich niemals verwirklichen lassen. 53 Andererseits ist es unmöglich zu wissen, ob man als Redender unter solchen Umständen an der Diskussion teilgenommen hat, daß die Bedingungen erfüllt sind. 54 Dies steht in engem Zusammenhang damit, daß nach beiden Theorien eine verallgemeinerungsfahige Norm die Zustimmung aller fordert. Diese ihrerseits würde voraussetzen, daß es irgendeine universale Moral geben müsse und daß es möglich wäre, sie auch zu finden. Das ist jedoch in der Kritik mit Recht als unmöglich abgelehnt worden. 5 5 Die von Alexy hergeleitete "Sonderfallthese" geht davon aus, daß, obschon es unmöglich ist, normative Aussagen objektiv zu verifizieren oder zu falsifizieren, diese Fragen in rechtlichen Zusammenhängen und von Juristen mit dem Anspruch auf Richtigkeit diskutiert werden. 56 Dies gilt auch beim Gerichtsprozeß, obwohl dieser nicht die ideellen Bedingungen der freien Kommunikation oder ideellen Sprechsituation, z. B. wegen spezieller Beschränkungen durch die prozeßrechtlichen Normen, erfüllen kann. 57 Der juristische Diskurs wird im Rahmen der jeweils geltenden Rechtsordnung durchgeführt, und der Anspruch auf Richtigkeit der normativen Aussage bezieht sich nach Alexy darauf, "daß sie im Rahmen der geltenden Rechtsordnung vernünftig begründet werden kann"58 • Die Rahmen der juristischen Argumentation in der Rechtsordnung bestehen nach Aarnio ihr'erneits in einem speziellen juristischen Paradigma. Die juristische Argumentation muß unter Geltung gewisser Voraussetzungen geführt werden, weil sie sonst nicht als eine juristische Argumentation bezeichnet werden kann. Nach Aamio sind die Voraussetzungen folgende: I. Die juristische Argumentation muß auf dem geltenden Recht basieren 2. Es gibt spezielle, vorher gegebene Rechtsquellen, die man bei der Argumentation ausnutzen und auf die man hinweisen muß. 3. Es gibt spezielle vorher gegebene Regeln der Auslegung, die die Argumentation auf jeden Fall in einem bestimmten Maße steuern. Und 4. Es gibt gewisse grundlegende Wertungen, wie Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, die als Argument bei der Auslegung verwendet werden/werden können. 59 Das Para52 Alexy, 221 ff. Weinberger, Ota, Conflicting Views on Practical Reason. Against Pseudo-Arguments in Practical Philosophy, in: 5 Ratio Juris (1992) S. 252268. 53 Alexy, 155 ff. 54 Alexy, 155 ff. 55 Alexy, 255 ff. Aamio 1989, 210 f. Ders.: 1986, 158 ff. Klami 1990, 41 ff. 56 Alexy, 263-272. 57 Alexy, 269 ff. Siehe auch speziell Klami, All Things Not Considered, in: Maihafer, W.; Sprenger, G. (eds), Law and the State in Modem Times, ARSP Beiheft 42, Edinburgh 1989, S.167-173. 58 Alexy, 272.

C. Theoretisch-methodologische Rahmen der juristischen Argumentation

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digma ist von dem Inhalt der jeweiligen Rechtsordnung und ihren Bestandteilen abhängig. Diese Rahmen sind der Grund eines jeden Rechtssystems, und sie gestalten das unbedingte Vorwissen, das die Diskursteilnehmer beherrschen und akzeptieren müssen, um an der Diskussion überhaupt teilnehmen zu können. Der Diskurs selbst soll unter Geltung und Einhaltung von bestimmten Prinzipien und Regeln der logischen und diskursiven Rationalität durchgeführt werden. 60 Als Richtigkeitskriterium der Auslegung gilt dann der Prozeß, die Methode des Diskurses, in dem man die Partei des Dialogs von der Richtigkeit der Normprämisse zu überzeugen versucht.61 Eine Schlußfolgerung wird dann zuletzt dadurch richtig, daß die Zustimmung eines gewissen Auditoriums gewonnen wird, d. h., die Entscheidung wird durch andere akzeptiert, weil sie selbst, wenn sie demselben Entscheidungsprozeß folgten, zu gleichen Schlußfolgerung kommen würden. 62 Eine erste Voraussetzung des Auditoriums ist, daß dessen Teilnehmer sich der Anwendung und Respektierung der Bedingungen der Rationalität verpflichten und daß sie diese auch erfüllen. Diese Voraussetzung entspricht jedoch nicht unbedingt der realistischen Situation, und deshalb ist das Auditorium ideell. Aamios sog. partikulares ideelles Auditorium ist eine Gruppe von Menschen, die eine gemeinsame Lebensform teilen, weil es nur dann überhaupt möglich ist, einen Konsens über Werturteile zu erreichen. Deswegen ist das Auditorium kulturell und sozial bedingt. Dies bedeutet, daß auch das Legitimieren der Norm- und Werturteile letztendlich eine kulturell und sozial bedingte Angelegenheit bleibt.63 Die Regeln des rationalen Diskurses sagen an sich nichts aus über den Inhalt der Argumente, die bei der juristischen Argumentation relevant und plausibel sind. Sie sagen auch nichts von dem Gewicht der Argumente. Wichtig ist namentlich natürlich auch und vor allem, daß eine bestimmte Schlußfolgerung 1. durch plausible Gründe begründet ist und daß 2. diese Gründe oder Argumente mehr Gewicht haben als Argumente, die das Gegenteil stützen.64 59 Aarnio 1986, 17 ff. Peczenik 1983, 118 ff. Aarnio/Uusitalo, Paradigm i rättsdogmatiken, in: Tidskrift för rättssociologi 1983/84, 263 ff. Aarnio, Paradigms in legal Dogmatics, Towards a Theory of Change and Progress in Legal Science in: A. Peczenik/L. Lindahl and B. van Roermund (eds) Theory of Legal Science, Proceedings of the Conference on Legal Theory and Phi1osophy of Science, Lund, Sweden, December 11-14, 1983, Dordrecht/Boston/Lancaster 1984, 25 ff. Peczenik 1989, 142 ff. 60 A1exy, 263 ff. Aarnio 1986, 185 ff. Peczenik 1989, 58 ff., 187 ff., 198 ff. 6I Siehe Alexy, 410 ff., 428 f. 62 Alexy, 269 ff. Aarnio 1986, 225 ff. Peczenik, 1988, 146. 63 Aarnio 1986, 224 ff. Klami 1983, 160 f.

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

Die Begründung von Prämissen besteht nach Peczenik aus einer Kette miteinander zusammenhängender Argumente. 65 Diese Kette muß kohärent sein. Peczenik nennt diese Voraussetzung $-Rationalität ("substantial, supportive rationality") bzw. Zusammenhangsrationalität.66 Unter Kohärenz versteht er eine mehr oder weniger komplizierte Stützstruktur der Prämissen hinter einer Schlußfolgerung. Jede Schlußfolgerung wird zwar mit einer Menge von Prämissen begründet, die seinerseits mit einer anderen Menge begründet werden können. 67 Kohärenzvoraussetzung besagt einerseits, daß die juristische Argumentation eine umfangreiche Stützung von Gesetzen, anderen Rechtsquellen und etablierten Argumentationsregeln haben muß. Dies ist, scheint mir, mit dem juristischen Paradigma von Aamio vergleichbar. Andererseits gibt es nach Peczenik aber bestimmte Moralprinzipen hinter den Gesetzen und/oder Regeln und Argumentationsnormen. Solche sind z. B. das Restitutionsprinzip des Schadensersatzrechts oder das Gleichbehandlungsprinzip als allgemeine Begründung der analogischen Methode der Normenauslegung.68 Die juristische Argumentation geschieht dann auf verschiedenen Stufen, beginnend mit der Stufe der eher spezifischen Rechtsquellen. Wird eine befriedigende Lösung auf dieser Stufe nicht gefunden, kann der Auslegende eine solche Lösung mit Hilfe der allgemeinen oder speziellen Begriffsbestimmungen oder Rechtsprinzipen zu finden versuchen. Wenn dann z. B. verschiedene Rechtsprinzipen miteinander kollidieren, muß der Auslegende versuchen, die Kollision auf der Stufe der "übergreifenden moralischen Wertungen" zu lösen.69

Peczenik 1988, 87. Peczenik 1989, 160 ff. und 170 ff. Aarnio, 1986, 115 ff. 66 "Substantial or supponive rationality (S-rationality) constitutes the basic idea of rationality, its point. A perfect S-rationality of a conclusion means that itfollows logically from a highly coherent set of premises." Peczenik 1989, 57. Kursivierung im Original. 67 "The main idea is that the degree of coherence is determined by balance between a number of criteria, inter alia, the following ones: the greatest possible number of supported Statements belonging to the set of Statements of the question; the greatest possible length of chains of reasons belonging to it; the greatest possible number connections between various supportive chains belonging to the set of Statements; and the greatest possible number of preference relations between various principles belonging to it." Peczenik 1989, 57. Kursivierung im Original. Daß es sich um eine Kette von Argumenten handelt, kann doch mißverständlich sein, weil man davon ausgeht, daß der Wert einer Argumentationskette nicht größer sein kann als der Wert des schwächsten Elements derselben. Peczenik ist jedoch der Meinung, daß der Wert der Argumentationskette um so größer wird, je länger die Kette ist. Er meint also keine Kettensituation, wie sie normalerweise in der Wahrscheinlichkeitstheorie vorkommt. Siehe darüber unten Kap.V.G.I. 68 Peczenik 1988, 149 f. So auch Klami 1989, 75 ff. 69 Klami 1989, 76 f. 64

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D. Wahrheitstindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren

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Es wird im allgemeinen angenommen, daß die Unsicherheit über die Talsachenprämissen unabhängig von dem praktischen Diskurs gelöst werden kann und muß. Dies setzt jedoch voraus, daß die Prämissen unabhängig voneinander sind und deshalb auch unabhängig behandelt werden können. Dieses ist aber nicht immer möglich. Die Problematik der gerichtlichen Wahrheitstindung ist wegen der Verflechtung von Wahrheit und Recht oft sehr kompliziert und funktionell untrennbar. Es herrscht eine relative Einigkeit darüber, daß Normen über Beweismaß und Beweislast auch Rechtsnormen sind. Im folgenden werden wir sehen, wie die obengenannten Überlegungen über die Richtigkeit der Auslegung in das Bild passen, wenn es um solche Normen geht, die die materielle oder prozessuelle Wahrheit bzw. das Irrtumsrisiko als Gegenstand haben. Es wird sich erweisen, daß, obwohl ein Konsens über den semantischen Inhalt solcher Normen erreicht werden kann und schon erreicht worden ist, solche Interpretationen in der Praxis untauglich sind. Dies betrifft speziell die subjektiv-intuitive Beweismaßnorm und ihre verschiedenen konkreten Auslegungen. Es scheint deshalb begründet zu behaupten, daß Konsens über einen Norminhalt kaum als Beweis für dessen Richtigkeit oder Rationalität angewendet werden kann. Und genau hier liegt die eigentliche Schwierigkeit der Konsenstheorie.

D. Wahrheitstindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren I. Einleitung Der Übergang von der gesetzgebundenen, legalen Beweiswürdigung zu der freien Beweiswürdigung hatte seinen Grund vor allem darin, daß man die Gerichte von den die Beweiswürdigung bindenden Regeln befreien wollte, weil solche Regeln es auch verhindem konnten, hinreichenden Beweis zu akzeptieren. 70 Z.B. eine Regel, nach der es nicht ausreicht, etwas durch nur einen Zeugen zu beweisen, konnte zur Folge haben, daß, obwohl der Richter aufgrund der Zeugenaussage von dem Bestehen der relevanten Tatsachen vollkommen überzeugt war, er die Zeugenaussage außer acht lassen und entgegen seine Überzeugung entscheiden mußte, als ob die Tatsache faktisch nicht bestünde. 71 Die Einführung der freien Beweiswürdigung sollte den Richter von solchen Regeln frei machen und, anstelle vorher geregelter Beweiswerte einzelner Beweismittel, die Anwendung von Denk- und Naturgesetzen und des allgemeinen Erfahrungswissens gewährleisten. Die Aufgabe des Gerichts, das eventuelle Übereinstimmen Lindell 1987, 90. SOU 1926:32, 26. Greger, 5 ff. Über diese und ähnliche Regeln, siehe z.B. Lindell 1987, 72 ff. und Bender, Hans-Uno, 20-34. 70

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3 Gräns

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

zwischen den Tatsachenbehauptungen und der Wirklichkeit zu überprüfen, wurde dadurch von der Art der zugrundeliegenden Information und den Methoden der Schlußfolgerungen abhängig.72 Weil die gerichtlichen Entscheidungen die Wahrheit als Ziel haben, macht die Beweiswürdigung einen Anspruch nach erkenntnistheoretischer Methodenanwendung geltend.73 Um von Beweiswürdigung im Sinne der Wahrheitstindung und von Wahrheit auch der juristischen Urteile überhaupt sprechen zu können, muß klar gemacht werden, welche theoretischen Voraussetzungen erfüllt sein müssen und was mit dem Begriff Wahrheit gemeint ist. Es ist zunächst klar, daß die in der Wissenschaftsphilosophie im allgemeinen akzeptierten Theorien der Wahrheitstindung und die Definitionen des Wahrheitsbegriffs auch bei der Analyse derselben im gerichtlichen Zusammenhang beachtet werden müssen. Von großer Bedeutung sind aber die methodologischen Ausgangspunkte, was die Wahrheitstindung in der Wissenschaft einerseits und im Gericht andererseits anbelangt. Um über die Wahrheit oder materielle Richtigkeit von Behauptungen über gewisse Geschehnisse und Umstände auch in gerichtlichen Zusammenhängen überhaupt reden zu können, müssen nämlich bestimmte Voraussetzungen, was diese Behauptungen und deren Verifizierung bzw. Falsifizierung betrifft, erfüllt sein.

Der wichtigste Unterschied zwischen der wissenschaftlichen und der gerichtlichen Wahrheitsfindung ist, daß die Wissenschaft nach regulären, möglichst allgemeingültigen und wiederholbaren Erkenntnissen, die auf Voraussehbarkeit gründen, sucht, während das gerichtliche Erkenntnisverfahren sich mit einzelnen Ereignissen in der Vergangenheit beschäftigt.74 Während z.B. Biologen und Chemiker die Wirkung gewisser Arzneimitteln auf Menschen im allgemeinen untersuchen, müßten Gerichte deren Wirkung in dem jeweiligen vorliegenden Fall feststellen, wenn z. B. auf Grund einer schädlichen Wirkung eines Mittels Schadensersatz verlangt wird. Die wissenschaftliche Information und Kenntnis - biologische, medizinische, chemische, physische, technische, psychische usw. - über Ursache-Wirkung-Verhältnisse gestaltet natürlich oft einen relevanten Bestandteil der gerichtlichen Beweiswürdigung. Solche Information wird meist durch einen oder mehrere Sachverständige dargelegt, aber der Richter trägt die Verant72 Eine europäische Entwicklungsgeschichte von der alttestamentarischen Beweiswürdigung an bis zur Beweiswürdigung unserer Zeit hat z.B. Bender dargelegt. Siehe, Bender, Hans-Uno, 6-40. Einen ausführliche Gang durch die Geschichte der Beweiswürdigung gibt es auch in: Walter, 1979, 1 ff. In Schweden siehe z.B. Ekelöf 1992, 20 f. und Lindeil 1987, 62-95. 73 Vgl. Greger, 28 f. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, 5 f. 74 Siehe erstes Kapitel, D.I.3. Siehe auch z. B. Loevinger, Lee, Standards of Proof in Science and Law, in: 32 Jurimetrics Journal, 323-344.

D. Wahrheitsfindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren

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wortung über die aufgrund der Information herangezogene rechtsrelevante Schlußfolgerung. Deswegen muß er Kenntnisse über die theoretischen und praktischen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Wissens haben und sie auch anwenden. Das Problem ist aber, daß es oft auch für einen Wissenschaftler sehr schwer zu bestimmen ist, was für ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis in einem einzelnen Fall vorliegt. Darüber hinaus müßten Gerichte versuchen, festzustellen, ob z. B. irgendein bestimmtes Handeln oder Unterlassen des jeweils Beklagten auch im rechtlichen Sinne ursächlich zu dem bestimmten Ergebnis beigetragen haben oder nicht. Das ist nicht immer in Termen der Wahrheit möglich, die ganz. bestimmte Begrenzungen für die jeweilige Methodenwahl bedeuten. Obwohl die Wahrheit bzw. materielle Richtigkeit der Urteile das Ideal eines jeden Prozesses ist, muß jeder Richter es für sich selbst klar machen, auf welchen theoretischen Voraussetzungen seine Wahrheitstindung und Behauptungen über die Wahrheit eigentlich basieren. II. Verifikations- und Falsifikationskriterien

Was sind dann die theoretischen Voraussetzungen der Wahrheitstindung und des Wissens? Nach Immanuel Kant begründet sich das Wissen nicht allein auf Erfahrung, sondern auch auf Vernunft. Damit meint er, daß man auf der Erfahrung basierende Beobachtungen nicht ohne schon vorher existierende Begriffe analysieren kann. Begriffe sind von der Erfahrung unabhängig, a priori. Um von Wissen mit der Hilfe von Begriffen sprechen zu können, wird aber Erfahrungsmaterial gebraucht. Die Begriffe müssen mit der Erfahrung "erfüllt" werden. 75 Kant macht einen Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Aussagen. Analytische Aussagen sind keine Aussagen über die Wahrheit. Sie sagen uns nur, was die verschiedenen Begriffe bedeuten, z. B. "Alle Junggesellen sind unverheiratet". Anders ist es mit synthetischen Sätzen. Eine synthetische Aussage behaupt~t immer irgend etwas über die Wirklichkeit. Die Wahrheit der Aussage folgt nicht logisch aus dem Inhalt der verwendeten Begriffe, sondern sie ist vielmehr davon abhängig, inwieweit die Aussage der außenstehenden Wirklichkeit entspricht oder nicht. Dieses Verhältnis ist von Beobachtungen abhängig. Beobachtungen über verschiedene Gegenstände, Geschehnisse und Zustände geben die Bestätigung darüber, inwieweit die Dinge so in der Wirklichkeit sind, wie behauptet worden ist.

75 Siehe z. B. Haaparanta, Leila/Niiniluoto, Ilkka, Johdatus tieteelliseen ajatteluun (Einführung in wissenschaftliches Denken). Helsinki 1986, 23 ff. Aarnio 1989, 41. 3*

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

Die Frage, was "wahr" oder "unwahr" ist, muß deshalb davon unterschieden werden, wie es möglich ist, die Erkenntnis von "wahr" oder "unwahr" zu erreichen und wie eine Behauptung sich als "wahr oder falsch erweist". Die Frage, wie Behauptungen verifiziert bzw. falsifiziert werden können oder ob es überhaupt möglich ist, sie zu verifizieren, ist immer noch eine nicht völlig beantwortete Frage in der Wissenschaftsphilosophie. Nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit z.B. ist das Verhältnis zwischen Wahrheit und Erkenntnis von deren tatsächlicher Übereinstimmung abhängig. Das tatsächliche Übereinstimmen hängt seinerseits davon ab, was für eine Methode bei dem Streben nach der Erkenntnis der Wahrheit oder Wirklichkeit angewandt wird. 76 Nach dem sog. Verifikationskriterium muß ein Behauptungssatz empirisch verifizierbar - oder analytisch - sein, um im Sinne eines Abgrenzungskriteriums signifikant zu sein. Damit ist gemeint, daß eine Aussage oder Behauptung eine kognitive, auf Erkenntnis beruhende Bedeutung haben muß. Die bestehenden Tatsachen, die für die Beobachtung zugänglich sind, gelten als Kriterien für die Wahrheit von Sätzen. In diesem Sinne gilt die Erfahrung als Methode des Verifikationsprozesses. Daß Aussagen nur durch Erfahrung verifizierbar sind, ist eine von den Anhängern des Empirismus vertretene Auffassung. Ihre These ist, daß jede Erkenntnis auf Erfahrung zurtlckgefllhrt werden muß. Ist eine Behauptung nicht der Erfahrung zugänglich, kann sie auch nicht die Erkenntnis ihres Objekts wiedergeben. Die Erfahrung muß weiterhin offenkundig sein, d. h. die Erkenntnis muß Erfordernisse der öffentlichen Überprüfung und Überprütbarkeit erfüllen - auf diese Weise wird das Kriterium der Objektivität im Sinne der Intersubjektivität erfüllt. Wenn man von der wissenschaftlichen Erkenntnis spricht, ist damit gemeint, daß es der Wissenschaftsgemeinschaft möglich sein muß, dieselben Resultate/Erkenntnisse aufgrund derselben Erfahrung zu erreichen.77 Der Empirismus als wissenschaftliche Lehre besteht aus mehreren von einander mehr oder weniger abweichenden Theorien nebst ihren Vertretern. Man nennt ihn auch Positivismus, weil er die positive Erkenntnis betont, die von der realen, für unsere Erfahrung zugänglichen Welt erlangt werden kann. 78 Es gibt einige Hauptthesen, die wesentliche Bestandteile des Positivismus sind?9

Niiniluoto 1984, 41 f. Niiniluoto 1984, 24 f. 78 Popper, 39 f. Aarnio 1989, 39 f. Ders.: 1979, 21. 79 Die Liste folgt hier im wesentlichen der Darlegung von Aarnio, 1989, 39 ff. Ders.: 1979, 21 ff. 76

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D. Wahrheitstindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren

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Wissenschaftliche Sätze müssen auf sog. Beobachtungssätze zurückführbar sein. Unter Beobachtungssätzen bzw. Basissätzen versteht man solche Sätze, die direkt über Tatsachen berichten. 80 Jeder Satz muß das Erfordernis dieser sog. Reduzierbarkeit erfüllen, sonst ist er wissenschaftlich sinnlos. Die Voraussetzung der Reduzierbarkeit basiert seinerseits auf einigen anderen Annahmen. Nach der These des logischen Atomismus müssen die Tatsachen einerseits beobachtbar sein, andererseits beschrieben werden können. Die Tatsachen der realen Welt müssen mit einem bestimmten Maßstab meßbar sein. Das Verifikationsprinzip basiert auf diesen Annahmen. Demzufolge sind Behauptungen, die nur im Prinzip verifizierbar sind, vom wissenschaftlichen Wissen auszuschalten. Eine Aussage "Es gibt Leben hinter den schwarzen Löchern im Raum" ist theoretisch verifizierbar, aber weil wir bis jetzt keine Möglichkeit haben, die Wahrheit der Aussage durch Beobachtungen zu testen, muß sie außerhalb des wissenschaftlichen Wissens bleiben. Die Aussage ist also wissenschaftlich sinnlos. Das Falsifikationskriterium, wie es von Popper dargelegt worden ist, besagt, daß ein wissenschaftlicher Behauptungssatz wissenschaftlich nur dann ist, wenn er prinzipiell durch Basissätze falsifizierbar ist. 81 Diese Auffassung führt jedoch zu dem Ausschalten von solchen Sätzen wie z. B. "Elektronen existieren" oder "Planeten existieren", wie z. B. Niiniluoto dargelegt hat. 82 Obwohl sie nach Poppers Lehre prinzipiell falsifizierbar sind, ist es nicht in der realen Welt nach Erfahrung möglich. 83 Das Problem der Verifikation und Falsifikation liegt darin, daß der endgültige Nachweis von Tatsachen nicht möglich ist. Anstelle solcher Forderungen hat man in der Wissenschaft das Prinzip der Überprüfbarkeil als das endgültige Kriterium angenommen: wissenschaftliche Hypothesen müssen intersubjektiv testbar sein. Damit ist gemeint, daß man von Hypothesen Wirkungen herleiten können muß, deren Wahrheit oder Unwahrheit öffentlich überprüft werden können. 84 Die Annahme des methodologischen Monismus besagt, daß jede Wissenschaft, sowohl Natur-, Gesellschafts- als auch Geisteswissenschaften, sich auf im wesentlichen gleichartige Methoden gründen muß. Dies bedeutet, 80 Popper, 43, aber siehe auch 100 f. Habermas 1973, 211 ff. Aamio, 1989, 39 ff., Ders.: 1979, 21 ff. 81 Popper, 43 ff. 82 Niiniluoto 1984, 26. 83 Nach Popper wäre der Satz jedoch als wissenschaftlich anzunehmen, weil es im Prinzip möglich ist, ihn zu falsifizieren. 84 Niiniluoto 1984, 26 f.

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

daß sie alle auch denselben Zweck haben müssen. Die ideale Methode, die der kausalen Erklärung, ist der Naturwissenschaft zu entnehmen. Diese Methode geht von der Annahme aus, daß Verhältnisse zwischen Tatsachen in irgendeinem relevanten Sinne kausale, d. h. Ursache-Wirkungs-Verhältnisse sind. Nur Naturwissenschaften und andere, die gleiche Methode anwendende Wissenschaften können Erkenntnis über die reale Welt produzieren. Diese Erkenntnis führt zur Ausschaltung solcher Wirksamkeit, die entweder normative oder wertende Elemente beinhaltet. Damit ist nicht gesagt, daß solche Elemente nicht diskutiert werden könnten, sondern nur, daß solche Wirksamkeit in dem Sinne von Wissenschaft unterschieden werden muß, daß sie kein Wissen oder Erkenntnisse produzieren kann. Werte und Normen beinhaltende Sätze erfüllen nicht die Forderung der objektiven Nachvollziehbarkeit. Werte und Normen sind relative Sachen; objektive Werte existieren nicht. Der Positivismus im engeren Sinne erfüllt alle die Voraussetzungen, die für das wissenschaftliches Wissen erforderlich sind. Aufmerksamkeit muß jedoch darauf gerichtet werden, daß unter dem Begriff Empirismus oder Positivismus eine Vielzahl voneinander abweichender Lehren versammelt sind. Die hier genannten Grundthesen sind aber nichtsdestotrotz ein wichtiger Ausgangspunkt für die Diskussion über die Wahrheitsfinduns auch in den Gerichten. Wichtig ist vor allem die Reduzierbarkeit der in den Gerichten geäußerten Tatsachenbehauptungen. Verschiedene Beweismaßnormen definieren den Grad der Sicherheit, der von dem Übereinstimmen zwischen einer Tatsachenbehauptung und der Wirklichkeit gefordert werden muß, um eine Tatsachenprämisse als Entscheidungsgrund akzeptieren zu können. Das bedeutet, daß die Behauptungen aus solchen Fakten bestehen müssen, die überhaupt mit der Wahrheit oder Wirklichkeit korrespondieren können. Dieses Erfordernis wird aber nicht immer in rechtlichen Zusammenhängen erfüllt. So etwa deshalb, weil es sich um nicht nur reine Fakten handelt.

Ill. Fakten in Normen Nach Wr6blewski gibt es drei prinzipielle Kriterien der Fakten in Rechtsnormen: Fakten sind 1. deskriptive oder evaluative, 2. einfache oder relativierte und 3. positive oder negative. 85 Die reinen deskriptiven Fakten, sog. brute facts, sind Fakten, deren Existenz objektiv-empirisch zu überprüfen möglich ist. Ein Beispiel für solche 85

Wr6blewski 1975, 19 ff.

D. Wahrheitstindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren

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Fakten ist z. B. der Alkoholgehalt im Blut eines Fahrers zu einem bestimmten Zeitpunkt. Solche Fakten können in der Form "F existiert in T und in P" beschrieben werden. Die Variable F steht für eine Deskription oder den Namen eines Faktums und ist analog mit jeder anderen existentiellen Aussage. T steht für eine gewisse Zeit und P für einen bestimmten Platz. Das Konstatieren der Übereinstimmung zwischen einer Behauptung "F existiert in T und in P" und der Tatsache "F existiert in T und P" ist durch Erfahrung bzw. Beobachtung möglich. Außer rein deskriptiven Aussagen, beinhalten Normen Rechtsfakten, die Wertungen, d. h. ein evaluatives Element enthalten. Solche Wertungen sind z.B. "Vorsätzlichkeit", "Fahrlässigkeit", "Zumutbarkeit", "Treu und Glauben" oder "wichtige Ursachen oder Gründe". Die Existenz solcher Fakten ist nicht objektiv-empirisch konstatierbar, d.h., sie sind weder "wahr" noch "unwahr". Nach Wr6blewski bilden derartige Fakten, wenn sie in Satzform geschrieben sind, Konjunktionen von zwei Sätzen. A: "F existiert in T und in P" und B: ,,F hat einen Wert W". Z.B. setzt das Faktum "wichtige Ursachen" eine Konjunktion der Existenz "der Ursachen" und der Wertung voraus, so daß die Ursachen in irgendeinem Sinne - entweder durch sich selbst oder im Verhältnis zu bestimmten Zwecken oder innerhalb eines axiologischen Systems wie Moral - "wichtige" sind. Was den Satz A betrifft, so erfüllt er die Reduzierbarkeitsvoraussetzungen, und dessen Wahrheit kann durch Erfahrung konstatiert werden. Dasselbe gilt nicht für den Satz B. Um die Richtigkeit des Satzes B konstatieren zu können, müßte jetzt die Methode der diskursiven Rationalität angewandt werden. Man muß also unter bestimmten Voraussetzungen übereinkommen können, was unter "wichtig" verstanden wird bzw. was als wichtig akzeptiert werden kann. Solches Übereinkommen kann aber nicht im gleichen Sinne "wahr" sein, wie die Behauptung ,,F existiert in T und in P''. Die sog. einfachen Fakten sind Fakten und Zustände, die unabhängig von einem rechtlichen System existieren. Solche Fakten sind alle physischen Gegenstände wie Menschen, Häuser oder Umwelt. Dennoch gibt es im Recht eine Reihe von sog. institutionalistischen Rechtsfakten, wie "Vertrag", "Ehe", "Beamte" oder "Wechsel", deren Existieren von der jeweiligen Rechtsordnung abhängig ist.86 Wenn jemand behauptet, ein Kaufvertrag sei zustande gekommen, hat er eigentlich eine Behauptung über die Wahrheit mehrerer Tatsachen, die schon als solche rechtlich qualifiziert sind z. B. Angebot, Annahme und Übereinstimmen - gemacht, deren Zusammenbringen erst den Vertragsabschluß im rechtlichen Sinne gestaltet. Solche faktischen Ereignisse können in einer Konjunktionsform von zwei Sätzen geschrieben werden: A: ,,X existiert in T und P'' - wo X ein Faktum ist 86

Siehe z.B. Peczenik 1988, 210 ff. Aarnio 1993, 5 ff.

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

und B: ,,X ist F". X kann natürlich aus mehreren Elementen bestehen (X1 ••• Xn). F ist eine in der jeweiligen Rechtsordnung festgestellte Institution des Rechts. Die Wahrheit des Satzes A ist von dem Übereinstimmen zwischen ihm und der Wirklichkeit abhängig. Der Inhalt des Satzes B dagegen ist eine Auslegungsfrage.87 Mit einer positiven Definition meint Wr6blewski solche Fakten, die nicht ein non-Element beinhalten. Solche sind z.B. alle oben genannten Fakten. Mit negativen Fakten sind dann die gemeint, die das non-Element beinhalten, z. B. das Unterlassen als ein negatives Tun.88 Gehen wir von der sog. reduktionistischen Betrachtungsweise aus, können die Sätze genau so beschrieben werden, wie Wr6blewski es darlegt. Der Reduktionismus besagt hauptsächlich, daß Fakten Fakten sind, unabhängig von der Sprache, mit der sie bezeichnet werden. Es ist also möglich, wenigstens teilweise auch die normativen Behauptungen auf deskriptive Behauptungen zu reduzieren. Ein anderer Ausgangspunkt ist der sog. Relativismus oder Kontextualismus. Nach diesem können Fakten nicht völlig von dem linguistischen Kontext, in dem wir von ihnen sprechen, ausgeschaltet werden. 89 Bezüglich der Erforschung der Tatsachen in Gerichtsverfahren wird oft

von der Wahrheit der Fakten gesprochen - als ob der normative Kontext

nicht existierte. Es wird versucht, die Tatfragen von den Rechtsfragen zu trennen. Wr6blewskis Strukturierung der Fakten ist dafür ein gutes Beispiel. Es müßte auch das Ideal sein, sie trennen zu können und dies zu versuchen. Aber man muß sich auch klarmachen, daß dies nicht immer möglich ist.

Lindell diskutiert diese Fragestellung in seiner Abhandlung. Er legt dar, daß es nicht möglich ist, gewisse Normfakten, die ein Wertungselement beinhalten, in der Weise zu reduzieren, daß es möglich wäre, die zwei Fragen, in der Weise wie Wr6blewski es vorschlägt, voneinander zu trennen. Als Beispiel nennt er u. a. den Begriff "störend" als Anfechtungsgrund eines Wohnraummietverhältnisses. Es ist normal, daß die Nachbarn des Beklagten in solchen Fällen als Zeugen gehört werden. Es reiche dem Gericht nicht, daß der Zeuge nur den Begriff "störend" anwendet, sondern man will natürlich wissen, auf welche Weise oder in welchem Sinn der Mieter störend gewesen ist. Es ist nicht selbstverständlich, daß der Zeuge eine exakte Präzisierung darlegen kann. Vielleicht sagt er, daß der Mieter 87 Siehe auch Peczenik 1988, 211}-215. Nach ihm kann ein institutionelles Faktum vorliegen, wenn 1. eine gewisse konstitutive Norm gültig ist und 2. ein bestimmtes Geschehnis passiert oder eine bestimmte Handlung vorgenommen ist. 88 Wroblewski 1975, 19 ff. 89 Klami/Kastinen/Hatakka 1993, 281. Lindell 1987, 184 ff. Vgl. auch Zuckerman, 487 ff. Twining, 391-399.

D. Wahrheitstindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren

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"sehr laute Musik gespielt hat". Das führt natürlich zu einer weiteren Frage: "Was ist sehr laut". Ein Experte könnte sagen, daß es normalerweise das Überschreiten eines Dezibelgrades von 110 bedeutet. Der Zeuge kann für gewöhnlich aber solche Grade nicht messen, sondern legt der Aussage seine subjektive Wertung zugrunde. 90 Eine ähnliche Situation kann gedacht werden, wenn z. B. ein Zeuge in einem Umweltverschmutzungsfall eine Aussage macht, nach der er einen unangenehmen Geruch auf dem Grundstück des Beklagten festgestellt hat. Ein Experte könnte den Begriff "unangenehmer Geruch" vielleicht präzisieren. Er könne darlegen, daß der unangenehme Geruch durch eine Kombination zweier Chemikalien verursacht wurde und daß seine Beobachtungen indizieren, daß die Chemikalien auf dem Grundstück verwendet wurden. Für den normalen Zeugen ist es aber ohne Spezialkenntnisse unmöglich, etwas Konkretes über die Ursachen des Geruchs zu sagen. Begriffe wie "Schaden", "schädliche Wirkung", "Risiko" oder "Fahrlässigkeit" werden sehr oft in den Normen angewandt. Dazu kommen andere Begriffe wie "erheblich", "wichtig" oder "grob".91 Sie sind unter Berücksichtigung des Reduzierungsprinzips sehr problematisch, weil dieses besagt, daß Fakten das Objekt des Beweises sind, aufgrund dessen sie dann weiterhin normativ oder evaluativ bewertet werden können. In unseren Beispielsfällen bedeutet dies, daß die Zeugen nur ihre zugrundeliegenden Gefühle geäußert haben. Ihrer Meinung nach war der Mieter störend oder der Geruch unangenehm, was aber nicht bedeutet, daß sie auch im rechtlichen Sinne störend oder unangenehm sind. Es muß jedoch eine Antwort geben auf Fragen wie: "Welchen Grad von Störung muß ein Mieter tolerieren?", oder "Wieviel Geruchsbelästigung muß von der Umgebung toleriert werden?" oder "Was ist überhaupt angemessen oder billig in solchen Fällen und im allgemeinen?" Wie kann man diese Fragen in concreto beantworten, wenn nicht dargelegt werden kann, wie störend der Mieter oder wie unangenehm der Geruch gewesen ist? Es ist nicht möglich, von der Wahrscheinlichkeit oder Wahrheit solcher Begriffe zu reden. Vielmehr müssen die Aussagen selbst im Licht der normativen Wertungen ausgelegt werden. Es scheint also unmöglich, Fakten in allen Fällen von derer Bewertung zu trennen. Tatfragen zu beantworten, beinhaltet aufgrund der linguistischen Ausdrücke in den Normen deshalb wenigstens folgende wertungsabhängigen Operationen92 : Lindeil 1987, 182 ff. Ders.: 1998, 471 ff. In den USA werden den Jury-Mitgliedern Fragen wie: "did he behave reasonably under the circumstances?" als Tatfragen gestellt! Twining, 391. Zuckerman, 487 ff. 90 91

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

a) Auf irgendwelchen Wertsystemen basierende Wertungen, z. B. Ausgleichung von Interessen oder Nutzen und Kosten. b) Wertungen, die auf Vermutungen über Mittel-Zweck-Beziehungen beruhen, z. B. "zweckmäßig", "praktisch", "nützlich" oder "verwendbar". c) Wertungen aufgrund von Auslegung solcher normativer Begriffe wie "grob", "erheblich" oder "wichtig". d) Wertungen ohne irgendein spezifisches Wertsystem, z. B. "gut/schlecht". Die Operationen können auch miteinander kombiniert sein. Was "wichtig" ist, kann auf dem Interesse der Parteien beruhen, welches weiterhin in Mittel-Zweck-Beziehungen bewertet werden kann. Zum Beispiel: ob eine unangenehmen Geruch verursachende Wirksamkeit eine Schadensersatzpflicht begründet, wird oft unter Berücksichtigung der Erheblichkeit des Geruchs, der Interessen der Parteien bzw. Nutzen und Kosten der Wirksamkeit entschieden. Obwohl behauptet werden kann, daß solche kontextuell gebundenen wertungsabhängigen Aussagen sehr oft vorkommen, ist eine völlig pragmatische Vorstellung hinsichtlich der Wahrheitsfindung der Gerichte nicht notwendig. Man sollte immer versuchen, das Beweisthema, d. h. den Sachverstand. das jeweils zu beweisen ist, auf die Weise zu präzisieren, daß es möglich ist, die empirisch-positivistischen Methoden anzuwenden. Aber insoweit dies nicht möglich ist, müssen sie natürlich offen aufgegeben werden. IV. Über Wahrheitstheorien

Wie Wahrheit und Erkenntnis in der rechtlichen Wirksamkeit verstanden werden und verstanden werden können, hat für die Frage Bedeutung, was mit der materiellen Richtigkeit und Fehlerhaftigkeit der Urteile überhaupt gemeint ist und gemeint sein kann. In Fällen, wo die Erfordernisse der Wahrheit im wissenschaftlichen Sinne erfüllt sind, kann auch davon ausgegangen werden, daß die materielle Falschheit das Nichtübereinstimmen der Behauptung mit der Wirklichkeit bedeutet. Geht es aber um Umstände außerhalb des reinen Erfahrungswissens, wenn also von solchen Dingen gesprochen wird, die entweder nicht beschrieben, beobachtet oder mit irgendwelchem Maßstab gemessen werden können, kann nicht von materieller Richtigkeit bzw. Falschheit gesprochen werden. Dann geht es vielmehr um die Akzeptanz bzw. Nichtakzeptanz der Urteile unter Berücksichtigung ihrer Voraussetzungen und Konsequenzen. 92

Klami/Kastinen/Hatakka, 282 f.

D. Wahrheitsfindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren

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In der Wissenschaftsphilosophie sind mehrere Wahrheitstheorien repräsentiert. Die meisten schließen sich jedoch der sog. Korrespondenztheorie an. 93 Sie geht auf Aristoteles zurück und sieht die Wahrheit als ein Verhältnis zwischen Denken oder Vorstellen und der Wirklichkeit: ein Denken oder Vorstellen ist wahr, wenn es mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Denken oder Vorstellungen über einen Sachverhalt werden durch Sätze Aussagen, Propositionen oder Behauptungen - zum Ausdruck gebracht94, die dann "wahr" sind, wenn sie unabhängig von einer bestimmten Äußerungssituation betrachtet werden können; wenn sie als solche bestehen. Ein Sachverhalt, der dann besteht, ist eine Tatsache. Wahrheit ist demzufolge ein Verhältnis zwischen der Sprache und der Welt. Kenntnis über eine Tatsache ist nach der Korrespondenztheorie ein wohlbegründeter Glaube, der sich auf Tatsachen gründet. Einige haben jedoch behauptet, daß das Problem der Korrespondenztheorie darin liegt, daß sie von Begriffen ausgehen muß, ohne sicher sein zu können, warum und ob die Begriffe mit den bezeichneten Ereignissen wirklich übereinstimmen. Die Frage ist namentlich: was bedeutet "Übereinstimmen"? Als Präzisierung des Begriffes "Übereinstimmen" wird dafür die semantische Wahrheitstheorie von Alfred Tarski angenommen. "Wahr" und "unwahr" werden nach ihm mit Hilfe von Auslegungsfunktionen bestätigt. Die Theorie basiert auf der Idee, daß der Inhalt verschiedener Begriffe definiert werden muß, um von der Wahrheit derselben überhaupt reden zu können. Wenn z. B. der Begriff "es regnet" (im Unterschied von z. B. "es schneit") definiert worden ist, ist die Aussage "Es regnet draußen" genau dann wahr, wenn es draußen regnet, und das unabhängig von uns. 95 Die sog. Kohärenztheorie geht von der Annahme aus, daß wir eigentlich nicht Aussagen mit der Wirklichkeit vergleichen können, sondern wir müssen Aussagen mit anderen Aussagen vergleichen. Eine Aussage ist Niiniluoto, 1984, 33-57. Peczenik 1989, 181 ff. Niiniluoto, 1984, 36 ff. "Wahr oder falsch nennen wir Aussagen mit dem Blick auf Sachverhalte, die darin wiedergegeben oder ausgedrückt werden." Habermas 1973, 212. 95 Tarski, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen. Deutsche Originalausgabe in: Studia Philosophica Commentarii Societatis Philosophicae Polonorum. Vol. I, Leopolo (Lemberg) 1935. Abgedrückt in: Berka-Kreiser, Logik-Texte. Kommentierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik. Berlin 1971, 447-559. Niiniluoto 1984, 35 ff. Das Problem dieses Wahrheitskriteriums ist genau darin gesehen worden, daß die Wahrheit auf diese Weise als ein Verhältnis zwischen verschiedenen Aussagen angenommen werden kann, und nicht als Verhältnis zwischen Aussagen und der Welt. Niiniluoto ist der Meinung, daß wenn man die Grundidee, daß die Sprache mit der Welt durch Auslegungsfunktionen verknüpft werden kann, akzeptiert, diese Kritik ihre Spitze verloren zu haben scheint. Niiniluoto, 1984, 35 ff. Siehe jedoch Habermas 1973, 215 ff. 93 94

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

dann "wahr", wenn sie mit einer konsequenten Gesamtheit unserer früheren (für wahr gehaltenen) Aussagen übereinstimmt. Hiergegen hat man jedoch folgende Frage gestellt: Wie wissen wir, daß unsere bisherigen Aussagen, die wir als Maßstab benutzen, wahr sind? Oder wenn wir eine neue Aussage haben, von der wir keine frühere Kenntnis haben: Womit wird die neue Aussage verglichen?96 Die sog. Konsensustheorie- die zu der Gruppe der pragmatischen Wahrheitstheorien gehört97 - behauptet dagegen, daß Wahrheit durch einen Konsens, nämlich Zustimmung unter kompetenten Subjekten, erreicht werden kann. Wahrheit ist ein sozialer Geltungsanspruch, der Aussagen bzw. Regeln zukommt. Das Erreichen der Wahrheit von Aussagen ist dann möglich, wenn alle kompetenten Subjekte unter Geltung bestimmter Regeln in totalen Sprechsituationen - an den Begründungsdiskursen teilnehmen. Wahr ist eine Aussage dann, wenn alle diese Subjekte der zugrundeliegenden Behauptung hätten zustimmen können. 98 Man hat mit Recht eingewendet, daß es hier mehr um den Prozeß auf dem Weg zur Wahrheit geht als um die Definition der "Wahrheit" in sich.99 Eine Behauptung ist nicht notwendigerweise nur deswegen wahr, weil alle sie unter Erfüllung der Bedingungen der idealen Sprechsituation als wahr akzeptieren würden. Trotz der erreichten Einigkeit zwischen Menschen, ist es durchaus möglich, daß die Sache sich nicht so verhält wie behauptet trotz Einigkeit kann die Sache falsch sein. Wahrheit ist also nicht vom Argumentieren abhängig. 100 Nach der pragmatischen Wahrheitstheorie ist eine Vorstellung dann "wahr", wenn sie eine erfolgreiche Lösung eines Problems anbietet. Als Kriterien der Wahrheit gelten also Anwendbarkeit und Funktionieren der Kenntnisse. Nach dieser Theorie ist P wahr, wenn es sich lohnt zu glauben, daß P. Wahrheit ist nicht nur ein semantischer Begriff, sondern sie muß mit epistemischen oder methodologischen Termen beschrieben werden. 101 Die Schwierigkeit dieser Theorie liegt aber darin, daß solche Kriterien wie "erfolgreich" sich nicht objektiv definieren lassen. 102

Niiniluoto 1984, 36 ff. Bourmistrov-Jüttner, VI f. Aamio 1989, 36 f. Niiniluoto 1984, 40 ff. Bourmistrov-Jüttner, VI f. 98 Habermas 1973, 221 ff. Siehe auch z.B. Alexy, 134-141. 99 Aamio 1989, 37. 100 Niiniluoto 1984, 55. 101 Niiniluoto 1984, 54. 10 2 Niiniluoto 1984, 40 f. Aamio 1989, 37. 96 97

D. Wahrheitstindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren

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V. Die Wahrheitstheorien im Gericht

In der prozeßrechtlichen Literatur unterscheidet man oft zwischen der materiellen und formellen bzw. der sog. prozessualen Wahrheit. 103 Das Ziel der Beweiswürdigung ist es, nach dieser doppelten Wahrheitsbegriffsanwendung einerseits zu erforschen, wie der Sachverhalt sich in der Wirklichkeit verhält, andererseits wird aber der Anspruch erhoben, daß ein Urteil dann die Voraussetzung der formellen Wahrheit erfüllt, wenn die Tatsachenschlußfolgerungen an sich aus dem vorgebrachten Beweis hergeleitet werden können. Die Tatsachenfeststellung soll unter Berücksichtigung der im Verfahren vorgelegten Information getroffen werden. Im besten Fall ist die Informationsbasis der Tatsachenentscheidung ausreichend und fehlerfrei, und die auf ihrem Grund gemachten Schlußfolgerungen sind richtig: die Tatsachenfeststellung stimmt mit der Wirklichkeit überein. 104 Man kann also davon ausgehen, daß Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinne erreicht worden ist. 105 So ist es jedoch nicht immer. Vielmehr müssen Entscheidungen aufgrund mangelhafter Information getroffen werden. Der Entscheidende kann auch nicht jede die Information belastende Fehlerquelle 106 ausschalten. Deswegen muß es hingenommen werden, daß ein Richter, unter Unsicherheit darüber, ob die von ihm jeweils genommene Tatsachenfeststellung dem wirklichen, außergerichtlichen Sachverhalt entspricht oder nicht, Entscheidungen vornehmen muß .107 Ist der Richter bezüglich des Übereinstimmens nicht sicher, wird er, wie einige es ausdrücken, dadurch gerettet, daß er eigentlich keine Wahl hat. Wenn nicht eine materiell richtige Entscheidung, so hat er wenigstens eine formell richtige Tatsachenentscheidung zu treffen, und eine solche Entscheidung müßte ausreichen, weil er etwas anderes gar nicht machen kann. 108 Er muß die Entscheidung aufgrund des unter dem Verfahren vorgelegten Beweises treffen, mehr kann er nicht tun, und mehr verlangt auch das Gesetz nicht. 109

103 Musielak 1975, 118. Musielak/Stadler, 76. Romme, 87. Greger, 33 ff. Lindeil 1987, 333 ff. Bolding 1951, 99. 104 Greger spricht von einem Idealfall, in dem der wirkliche und ,.für wirklich gehaltene" Sachverhalte miteinander übereinstimmen. Greger, 2. 105 So auch z.B. Weber, 21. Greger, 38. Bruns schreibt: ,.Beweisen heißt mithin, prozeßordnungsmäßig taugliche - historische - Gründe für die Wahrheit einer Behauptung (die Übereinstimmung von Hypothese und Wirklichkeit in Beziehung auf eine bestimmte Tatsache) beibringen." Bruns, 238. Siehe auch Bourmistrov-Jüttner, X. 106 Siehe Kap. III.B.IV. und C.ll. 107 So auch z.B. Romme, 73. Greger, 2. 108 Romme, 72 f. Siehe auch Greger, 36 f. 109 Vgl. z.B. Weber, 23.

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1. Kap.: Probleme der gerichtlichen Schlußfolgerung

Was die dispositiven Fälle anbelangt, hat der Richter nur begrenzte Möglichkeit den Umfang des Beweises zu beeinflussen. Unbestrittene und anerkannte Tatsachenbehauptungen muß er öfters hinzuziehen, ohne die Möglichkeit, deren Übereinstimmen mit der Wirklichkeit im Lichte irgendeines Beweises überhaupt untersuchen zu können, weil er in der Regel in solchen Fällen keinen Beweis verlangen darf. In solchen Fällen hat das Gericht kein Interesse, die materielle Richtigkeit mehr zu erforschen als die Parteien selbst. Es wird deshalb angeführt, daß das Gericht in dispositiven Fällen die materielle Wahrheit gar nicht sucht. 110 Es ist ganz einfach eine Sache, über welche die Parteien entscheiden, weil der Streit nur ihre privaten Interesse berührt. In solchen Fällen ist die Wahrheit der Tatsachenbehauptungen eine Sache des Konsenses zwischen den Parteien. In diesem Sinne hängt natürlich der Inhalt der Tatsachenprämisse rein formell von dem Inhalt des Übereinkommens der Parteien ab. Die Hände des Gerichts sind aber nicht einmal in dispositiven Zivilsachen dermaßen gebunden. Es gibt Situationen, wo das Gericht ex officio bestimmtes Beweismaterial verlangen oder sogar schaffen kann.111 Wenn die Behauptungen und Anerkenntnisse der Parteien offenbar falsch sind z. B. wenn ein Scheinprozeß, um einem Dritten zu schaden, geführt wird -, ist das Gericht nicht unbedingt an die Stellungnahme der Parteien gebunden. Inwieweit das Gericht in einer solchen SituMion die materielle Wahrheit der Aussagen der Parteien vorziehen kann, ist eine höchst umstrittene Frage, die hier nicht näher erörtert werden kann. 112 Auch in dispositiven Fällen wird aber oft über die Tatsachen zwischen den Parteien gestritten. Es liegt dann in der Verantwortung des Gerichts, über den Inhalt der Tatsachenprämisse zu entscheiden. 113 In indispositiven und strafrechtlichen Fällen ist das Gericht nicht an die Dispositionen der Parteien gebunden und kann ex officio Beweise fordern und anordnen. In solchen Fällen kann das Gericht selbst versuchen, mitzuwirken, daß die Informationsbasis der Tatsachenprämisse ausreichend Weber, 23 Fn. 21. Romrne, 72 f. Rödig, 151 ff. Huber, 90 ff. Kegel, 327 f. Solche sind z.B. öffentliche und private Urkunden. Siehe §§ 415-444 ZPO. Betr. Schweden, siehe z.B. Eke1öf 1992, 216 ff. Betr. USA siehe McCormick, 703 ff. 112 Siehe Boman, 54. Olivecrona 1966, 194. Larsson S., Studier rörande partshandlingar, Uppsala 1970, 19. Lindell 1988, 55. 113 "Die Privatautonomie bestimmt zwar die Grenzen der Sachverhaltsaufldärung: soweit der Sachverhalt von den Parteien unstreitig gestellt wird, ist dies für den Richter verbindlich. Soweit jedoch über den Sachverhalt gestritten wird, ist die Entscheidung des Richters nach freier Überzeugung über die Wahrheit der Tatsachenbehauptungen das entscheidende Moment.", Weber, 23 Fn. 21. Kursivierung im Original. 110 111

D. Wahrheitstindung und Wahrheitstheorien in gerichtlichen Verfahren

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genug ist, um das Erfordernis der materiellen Richtigkeit zu erfüllen. Diese Möglichkeit ist aber oft wegen solcher Faktoren, wie prozeßrechtlichen Einschränkungen (speziell in Strafsachen), Prozeßökonomie, Zweckmäßigkeit und Zeitaufwand, begrenzt. Man kann also in der Praxis die materielle Wahrheit nicht um jeden Preis verlangen. Die Begriffe materielle und formelle Wahrheit werden deshalb nicht als Eigenschaften der Urteile angesehen, sondern als die ideale Art von Wahrheit, die in verschiedenen Prozeßarten angestrebt wird. 114 Die Frage der materiellen Richtigkeit wird aber dadurch nicht gelöst. Die ausschlaggebende Frage ist letzten Endes, wie sicher der Richter/Tatsachenfeststeller (Schöffen, Jury) überhaupt von dem Übereinstimmen der Tatsachenbehauptungen mit der Wirklichkeit sein muß. Wenn die Beziehung zwischen der prozessualen und materiellen Wahrheit unsicher ist, besteht das Risiko eines materiell fehlerhaften Urteils. Die ausschlaggebende Frage ist, wie das Gericht sich zu diesem Risiko stellen soll. Wenn eine Antwort auf diese Frage gesucht wird, scheint es berechtigt, sich erst zu fragen, in welchem Sinne und Umfang es Bedeutung hat, ob die Tatsachenfeststellung der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Was würden die Konsequenzen eines fehlerhaften Urteils hinsichtlich der Ziele und Funktionen der Rechtsanwendung im allgemeinen und in dem jeweiligen konkreten Rechtsfall sein? Die pragmatische Variante der Konsensustheorie hebt den wichtigen Umstand hervor, daß der Zweck der Anwendung der Erkenntnis ein wichtiges Element des Fürwahrhaltens ist. Und eben hier ist auch sehr relevant, welche praktischen Konsequenzen ein möglicher Irrtum haben könnte. In diesem Sinn kann festgestellt werden, daß die in einem Gericht angewandte Wahrheitsauffassung Berührungspunkte mit einer pragmatischen Wahrheitstheorie hat.u 5 Im nächsten Kapitel wird die Frage diskutiert, welche praktischen Konsequenzen materiell fehlerhafte Urteile haben können. Dabei werden die Ziele und Zwecke der zwei verschiedenen Prozeßarten diskutiert, weil es in der Tat so sein muß, daß relevante negative Konsequenzen der materiell fehlerhaften Urteile Spiegelbilder der erwünschten positiven Zwecke sind.

114 So z.B. Henkel, H., Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., Stuttgart/Köln/Berlin/Mainz 1968, 100 ff. Bolding 1965, 465-475. Lindell 1987, 333, 360 f. 115 Rödig scheint nahe dieser Auffassung liegen. Er schreibt der prozessualen Wahrheit namentlich das Element der Kommensurabilität zu und meint damit, daß deren Wahrheit mit dem Wert der Förderung oder auch dem Unwert der Verletzung weiterer menschlicher Interessen zu vergleichen ist, weil es der Zweck der richterlichen Urteile ist, menschliche Interessen zu fördern. Rödig, 159 f.

Kapitel II

Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens A. Einleitung Das Normsystem gestaltet eine Ordnung für das menschliche Zusammenleben, aber es ist nicht ohne weiteres auch eine Rechtsordnung. Es muß hierfür erst bestimmte Voraussetzungen erfüllen, und es kommt insoweit weniger darauf an, daß es eine Gesetz-, als vielmehr darauf, daß es eine durchsetzbare Ordnung ist. 1 Ein der Rechtsordnung unentbehrlicher und sie von anderen Zwangsordnungen unterscheidender Umstand ist deshalb ihre Durchsetzbarkeit durch allgemeine Gerichte. Rechtsnormen sind Werkzeuge in einer Mittel-Zweck-Beziehung sowohl für den Gesetzgeber als auch für Menschen im alliemeinen. Der Gesetzgeber erläßt Normen, um die verschiedensten in der Gesellschaft aus irgendwelchen Gründen für wichtig gehaltenen Zwecke zu erreichen, Menschen wenden sie in den verschiedensten ökonomischen, arbeitsrechtlichen, oder familienrechtlichen Zusammenhängen ihres täglichen Lebens an2 . Sowohl Gesetzgeber als auch Individuen gehen dabei davon aus, daß das Funktionieren und die Einhaltung der Normen vor allem durch Gerichte garantiert wird. Der gerichtliche Prozeß ist deshalb sowohl ein der gesetzgebenden Macht als auch dem Individuum selbst dienendes Instrument. Wichtig für das Funktionieren eines jeden Rechtssystems sind deshalb die allgemeinen prozeßrechtlichen Zwecke wie die Bewährung der Rechtsordnung, des allgemeinen Rechtsfriedens, der Rechtssicherheit, der Rechtsfortbildung und die Wahrung der Rechtseinheit unter Beachtung des Gleichbehandlungsprinzips.3 Andererseits sind Gerichte ein Forum für die Lösung der verschiedensten Konflikte der Menschen, in dem die Entscheidenden den durch Gesetz gewährleisteten unparteiischen "Schiedsrichter" präsentieren. Zweck des Prozesses in dieser Beziehung ist es, einen rechtmäßigen

Vgl. Rödig, 96. Man spricht von der praktischen Bedeutung der Rechtsnormen, d. h., sie werden als Ursache der Handlung gesehen. Siehe z.B. Peczenik 1987, 10. 3 Rödig, 35 mit Hinweisen. SOU 1994:99, 39 ff. 1

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B. Der Strafprozeß

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Rechtsfrieden zwischen den Parteien durch eine endgültige Lösung herbeizubringen.4 Die Wahrheit in Einzelfallen zu erforschen ist eine der wichtigsten Aufgaben jedes Verfahrens, weil die Anwendung der Norm es voraussetzt, daß die Rechtsfakten der Normen oder Normenkomplexe vorhanden sind, bevor die Norm oder Normen angewandt werden dürfen. Der Ausgang des Verfahrens ist also wesentlich vom Vorhandensein/Nichtvorhandensein der Tatsachen abhängig. Eine ideale Situation wäre deshalb, daß es Gewißheit und Sicherheit über die Entscheidungsprämissen gibt. Heutzutage ist man sich jedoch darüber einig, daß es ganz unrealistisch ist, volle Sicherheit des Gerichts zu verlangen, ganz ohne Hinsicht zur Prozeßart. Man wendet dagegen verschiedene Beweismaße an, um den Grad von Sicherheit zu definieren, die in verschiedenen Fällen verlangt wird. Hier gibt es jedoch Unterschiede zwischen dem Straf- und Zivilverfahren. Man geht davon aus, daß eine hohe Gewißheit für strafrechtliche Verurteilungen verlangt werden soll. In Zivilsachen scheint es dagegen begründet, eine mehr elastische Haltung in bezug auf die erforderliche Sicherheit einzunehmen. Unterschiede zwischen Beweismaßen beruhen auf Unterschieden zwischen den dahinter liegenden Wertungen und Zielen sowie deren Gewichtung. Zunächst werden diese Aspekte der Rechtsdurchsetzung eingehend diskutiert. Speziell interessiert uns dabei, wie das Wahrheitsinteresse mit Hinsicht auf anderen Zwecke und Funktionen des Prozesses zu sehen ist.

B. Der Strafprozeß Straf- und strafprozeßrechtliche Systeme widerspiegeln auf eine bedeutungsvolle Weise die jeweiligen gesellschaftlichen Wertungen und Ziele der Staaten.5 Staatliche, ökonomische, soziale und moralische Wertungen und Umstände verschiedener Rechtsordnungen können infolgedessen nach einigen Beobachtern am klarsten in den strafrechtlichen Regelungen gesehen werden. 6 Machtausübungsrechte der öffentlichen Gewalt, materiell Inhalt des Straf- und Strafprozeßrechts, speziell wenn es um die Grundrechte geht, ob ein inquisitorisches System oder Verhandlungsmaximen im Verfahrensrecht angewendet werden usw., sind Beispiele dieser Widerspiegelung.7 Deshalb muß das Ziel des jeweiligen strafprozessualen Systems in engem Vgl. Rödig, 34 mit Hinweisen. SOU 1994:99, 40. "Das Strafverfahrensrecht ist der Seismograph der Staatsverfassung!", Roxin, 9. Vgl. auch Jonkka, 175 ff. 6 Peters 1968, 670 f. Ders. 1981, 40 ff. Roxin, 9 ff. 7 Von der historischen Entwicklung der staatlichen Machtanwendung und derer Bedeutung für den Strafprozeß, siehe z. B. Roxin, 9 ff. 4

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4 Gräns

50 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

Zusammenhang mit den Werten und Zwecken des ganzen strafrechtlichen Systems betrachtet werden.8 Die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit vor allem in strafrechtlichen Prozessen (und demzufolge die Rechte eines einzelnen Angeklagten) haben im Brennpunkt des strafrechtlichen Systems der westlichen Demokratien in dem letzten Jahrhundert gestanden.9 Das Funktionieren des Strafrechts ist vor allem von einem effektiven und zweckmäßigen Funktionieren des rechtsanwendenden Teils des Systems abhängig. Ein effektiver Strafprozeß bildet einen wichtigen Teil der Gewährleistung der kriminalpolitischen Werte und Zwecke der Normen. Er dient demnach der Kontrolle und der Verhinderung der Kriminalität. 10 Dieses Verhindern ist das Interesse des Staates. So schreibt z. B. Peters, daß das Ziel des Strafverfahrens auf der Makroebene die Bewährung der sittlich-rechtlichen Ordnung sei, weil ein Gemeinschaftsleben ohne sie nicht möglich ist. 11 LaFave und Israel konstatieren bezüglich des amerikanischen Systems folgendes: "Although a system of legal process may serve other ends as weil, its basic reason for being is to promote the objectives of the substantive law by providing the procedures necessary to achieve the effective application ofthat law. The criminal justice process is no exception in this regard, as it provides the procedures through which the substantive criminal law can be enforced - that is, the procedures through which the government can detect, apprehend, convict, and sentence those who have committed crimes." 12

Diese, den öffentlichen Gesichtspunkt betonende Betrachtungsweise, sieht die Funktion des Prozesses darin, daß er ein Mittel ist, um die in dem materiellen Recht geregelten Zwecke zu erreichen. Er soll mithelfen, die Kriminalität zu kontrollieren und zu verhindern. In den USA wird von the crime control model of the criminal process gesprochen. 13 In Schweden und Deutschland spricht man über die allgemeine Aufgabe des Prozesses, Straftaten aufzuklären und über die gesetzmäßigen strafrechtlichen Folgen aufgrund der aufgeklärten Straftaten zu entscheiden. 14 Ein anderer Gesichtspunkt, der in Einklang mit dem kriminalpolitischen steht, 15 geht von der selbständigeren Stellung des Strafprozesses und des Jonkka, 175 ff. Jareborg 1992, 80 ff. Jonkka, 175 ff. Jareborg 1992, 80 ff. 10 Siehe z. B. LaFave/Israel, 33. SOU 1994:99, 41 f. Peters 1985, 7 f. Ekelöf 1984, 229 ff. II Peters 1985, 31. 12 LaFave/Israel, 32 f. 13 Roxin, 2 ff. Packer, 6. LaFave/lsrael, 32 f. 14 Roxin, 1 ff. Rödig, 33 f. Neumann, 52 ff. Jareborg 1984, 33 f. Olivecrona 1968, 16. Jonkka, 173 ff. 8 9

B. Der Strafprozeß

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Strafprozeßrechts aus. Es liegt im Interesse eines Rechtsstaats, auch dafür zu sorgen, daß die Freiheit eines jeden Individuums respektiert wird. Die Machtausübung bei der Aufklärung einzelner Straftaten soll demzufolge sorgfaltig geregelt sein. In den USA spricht man von the due process model, unter dem das Rechtsschutzinteresse eines einzelnen Individuums bzw. des spezifischen Angeklagten verstanden wird. 16 In Schweden und Deutschland gibt es keinen einzelnen Begriff, unter dem alle das Individuum im Prozeß schützenden Regelungen systematisiert sind. Statt dessen wendet man verschiedene Begriffe wie z. B. Justizförmigkeit 17 in Deutschland oder das Objektivitätsprinzip 18 in Schweden an. I. Über die Gewichtung des kriminalpolitischen Zieles Obwohl man Prävention z. B. durch die Höhe der Strafe beeinflussen will, bleibt sie ohne Effekt, wenn die Wahrscheinlichkeit, bestraft zu werden, gering ist. Deswegen wird vor allem Effektivität des ganzen strafprozessualen Systems verlangt. 19 Das bedeutet nicht nur, daß die Kriminaluntersuchung durch die Polizei und den Staatsanwalt effektiv sein muß, sondern auch, daß die Schuldigen in gerichtlichen Prozesse verurteilt werden müssen. Die Erfüllung der allgemeinpräventiven Funktion ist von der Effektivität des ganzen Systems abhängig. Die allgemeinpräventive Funktion hat jedoch nach der Meinung vieler Autoren desto geringere Bedeutung, je näher man dem konkreten Fall, bzw. dem einzelnen Angeklagten kommt. Dies wird sowohl bei den prozeßrechtlichen, den Angeklagten schützenden Normen als auch besonders bei der Strafzumessung deutlich. Die im jeweiligen Fall festgestellte Strafe soll im Verhältnis zu der gegebenen Straftat und zum Täter zugemessen werden. Hiermit wird besonders die speziell präventive Funktion, die den einzelnen Verdächtigen von zukünftigen Verbrechen abschrecken soll, erfüllt. Deswegen sind manche der Meinung, daß nicht die einzelnen Verurteilungen, sondern nur deren zugrundeliegende Gesamtheit die allgemeine Bestrafungsgefahr konkretisieren soll. 20 15 Siehe z. B. Baumann, 23 ff. Peters 1985, 15. Taxell, Lars Erik Rätt - Individ Sarnhälle. Helsingtors 1989, 21 f., 36 ff. Jonkka, 175. 16 Packer, 6. 17 Roxin, 2 ff. 18 Ekelöf 1990, 66. 19 Siehe z.B. Ekelöf 1990, 7 ff. Jareborg 1992, 91 ff. "The value system that underlies the Crime Control Model is based on the proposition that the repression of crirninal conduct is by far the most important function performed by the criminal process." Packer, 9. "Das materielle Strafrecht gewinnt erst durch den Prozeß Leben und Verwirklichung." Peters 1985, 7. Siehe auch Olivecrona 1968, 16. und Jonkka, 173 ff.

4*

52 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

Wie effektiv die Durchsetzung der Normen und Strafen sein müßte und ist, kommt darauf an, welches Gewicht den eher spezifischen Zwecken des materiellen Strafrechts zugemessen wird. In den westlichen Demokratien wird von der Verantwortung des strafrechtlichen Prozesses gegenüber den Erfordernissen des Sozialstaats bzw. Wohlfahrtsstaats gesprochen. Als Kriterium des zweckmäßigen Prozesses gilt hiernach nicht nur die statische, sondern auch die dynamische Funktion, nach der der strafrechtliche Prozeß einer Teilverantwortung für eine gerechte Teilung der Verpflichtungen und Belastungen zwischen den Menschen dienen soll.Z 1 Im Schrifttum wird behauptet, daß diese Betrachtungsweise wahrscheinlich das öffentliche Interesse auf Kosten der Interessen einzelner Personen betont. Man spricht zwar nicht nur von dem Schutzinteresse des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt, sondern vielmehr von der Verantwortung des Staates, die Freiheitsrechte der Menschen gegen unberechtigte Eingriffe seitens anderer Bürger zu schützen.Z2 Aktuelle Straftattypen sind neben Drogenkriminalität z.B. Wirtschafts-23 und Umweltkriminalität, die von großer gesellschaftlicher Bedeutung sind.24 Es geht um Wertungen innerhalb der Gesellschaft im ganzen, außerhalb der auch Gerichte nicht stehen können. II. Rechtsschutz durch formelle Richtigkeit Eine Vielzahl prozeßrechtlicher Normen reguliert die Maßnahmen, die im Namen der Staatsgewalt und des öffentlichen Interesses bei der Durchsetzung des materiellen Strafrechts erlaubt oder verboten sind. Es versteht sich hierbei von selbst, daß das Rechtsschutzinteresse eines Individuums gegen solche Machtausübung in einem Rechtsstaat sorgfaltig geregelt sein muß. Es ist nicht nur an die Effektivität der Polizei, Staatsanwälte oder Richter zu denken, die Verurteilungen vornehmen, sondern ebensosehr daran, daß sie auf eine justizgerechte Weise die zugrundeliegende Macht

20 "AIIgemeinpräventive Gründe auf Urteilsniveau können lediglich beinhalten, daß es hierbei um eine Serie von gleichartigen Urteilen mit einem gewissem Strafmaß geht. Das einzelne Urteil ist in allgemeiner präventiver Hinsicht nur insoweit interessant, als es ein Repräsentant für eine bestimmte Praxis ist. Eine bestimmte allgemeinpräventive Wirkung kann der gesamten Anzahl von Urteilen zugeschrieben werden, weil diese den allgemeinen Strafcharakter konkretisieren." Jareborg 1985, 5. Meine Übersetzung. 21 Jonkka, 175 ff. Baumann, 25. Peters 1985, 21 ff. Roxin, 9 ff. 22 Jonkka, 178 f. 23 SOU 1984:15, 130 f. Lindbiom 1983, 467 ff. 24 Aufmerksamkeit wird auch auf die Untersuchungsressourcen gerichtet: Was sind die Kriterien, nach denen die immer geringeren Ressourcen auf jene oder andere Straftatgruppen gerichtet werden sollten? Siehe z. B. Jonkka, 178 f.

B. Der Strafprozeß

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bei der amtlichen Tätigkeit ausüben und daß alle Urteile auf eine gerechte und die Rechte eines jeden Einzelnen respektierende Weise gefallt werden. In den USA sind die Rechte einzelner Mitbürger- nach der Bill of Rights innerhalb des Strafprozesses vor allem durch die Due Process Clause in dem vierzehnten Zusatzartikel zur Verfassung festgelegt worden. 25 In Deutschland und Schweden ist der prinzipielle Rechtsschutz eines Einzelnen durch mehrere Verfassungsnormen in Anlehnung an die Art 6 Abs 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und die verschiedenen Prozeßgesetze gewährleistet worden. Es geht vor allem um die formelle Richtigkeit des Systems, die das Respektieren der individuellen Rechte gewährleisten soll. Der Ausgangspunkt dabei ist, daß der Beschuldigte nicht als Schuldiger behandelt werden darf, solange seine Schuld nicht durch ein rechtskräftiges Urteil festgestellt worden ist. 26 Diese sog. formelle Richtigkeit besteht aus Regeln, die auf verschiedene Weise die Voruntersuchung und die an dem Prozeß beteiligten Personen gegen Angriffe der Machtausübenden schützen sollen.Z7 Das Schutzinteresse und seine Normgarantien funktionieren manchmal und vielleicht meistens entgegen dem Interesse, die Wahrheit möglichst effektiv zu erforschen, welches in Hinsicht auf das Funktionieren der mate25 Solche Rechte sind z. B. 1. The prohibition against unreasonable searches and seizures [Wolf v. Colorado, 338 U.S. 25 (1949)]; 2. The exclusionary rule [Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643 (1961)]; 3. The bar against double jeopardy [Benton v. Maryland, 395 U.S. 784 (1969)]; 4. The priviledge against forced self-incrimination [Malloy v. Hogan, 378 U.S. 1 (1964)]; 5. The right to ajury trial (Duncan v. Louisiana, 391 U.S. 145 (1968)]; 6. The right to a public trial [In re Oliver, 333 U.S. 257 (1948)]; 7. The right to a speedy trial [Klopfer v. North Carolina, 386 U.S. 213 (1967)]; 8. The right to confront witnesses [Pointer v. Texas, 380 U.S. 400 (1965)]; 9. The right to compulsory process to obtain witnesses [Washington v. Texas, 388 U.S. 14 (1967)]; 10. The right to the assistance of an attomey in felony cases [Gideon v. Wainwright, 372 U.S. 335 (1963)] 11. The right to assistance of an attomey in misdemeanor cases in which a prison term is imposed [Argersinger v. Hamlin, 407 U.S. 25 (1972); Scott v. Illinois, 440 U.S. 267 (1979)]. Siehe auch Marcus/Whitebread, 1 f. und LaFave/lsrael, 44 ff., 52 ff. 26 Roxin, 1 ff. Ekelöf 1992, 113 ff. Siehe auch Packer, 12. 27 Das Recht der Polizei zur Leibesvisitation und zur Hausdurchsuchung ist begrenzt, die Verdächtigen und Angeklagten brauchen keineswegs beim Beweisen ihrer eigenen Schuld mitzuwirken, gar nicht davon zu sprechen, daß sie ihre eigene Unschuld beweisen müßten. Weder sie oder ihre Angehörigen brauchen im allgemeinen für sich selbst oder den Nahestehenden nachteilige Information zu enthüllen usw. Die Rechte eines einzelnen bedeuten auch, daß diese rechtsverletzenden Methoden bei der Sachverhaltserforschung unerlaubt sind. Werden solche Methoden z. B. von der Polizei bei der Voruntersuchung angewandt, kann der dadurch geschaffene Beweis im allgemeinen nicht gegen den Angeklagten verwendet werden, obwohl es möglich ist, daß genau dieser Beweis die Schuld des Angeklagten beweisen würde.

54 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

riellen Normen sehr wichtig ist. Sie sind "dysfunktional hinsichtlich der Verwirklichung des materiellen Rechts", wie Neumann es darlegt. 28 Wenn die Hände der Staatsgewalt z. B. durch die normativen Beweisverbote gebunden sind, verliert man bei der Aufklärung der Straftaten an Effektivität. Demzufolge werden vielleicht die in Wirklichkeit Schuldigen freigesprochen. Aber solche Normen funktionieren auch als eine Sperre gegen nicht gerechtfertigte Eingriffe der Staatsgewalt in das Privatleben einzelner Bürger. Außerdem besteht, falls nur an Effektivität gedacht würde, die Gefahr, daß man in einigen Fällen an Aufklärungssicherheit verlieren kann. Das Verbot, bei der Vernehmung des Beschuldigten zu rechtsstaatlich nicht akzeptablen Mitteln zu greifen, soll auch verhindern, daß die Beschuldigten Straftaten wegen solcher Vernehmungsmethoden zugeben oder andere Informationen preisgeben, nur um von diesen Methoden befreit zu werde. 29 Aufgabe eines Gerichts ist es natürlich, diese Regeln durchzusetzen und die zugrundeliegende richtige Anwendung beim Prozeß zu garantieren. Hier übt das Gericht nicht nur Kontrolle gegenüber den Parteien, sondern auch gegen sich selbst aus. Inhalt und Umfang dieser Regeln ist im Prinzip eine Sache des Gesetzgebers, aber genau in diesem Bereich hat das Gericht eine spezielle Verantwortung. Die Richtigkeit der gerichtlichen Entscheidung ist im wesentlichen auch vom Einhalten der Regeln der formellen Richtigkeit ahhängig.3° Im Strafproz.eß gilt dies speziell auch für die Gründe und Formen der Tatsachenerforschung. Im allgemeinen geht man davon aus, daß das Gericht einen Beweis ohne Berücksichtigung von dessen Qualität oder Quantität -, der auf rechtswidrige Weise oder sonstwie rechtswidrig geschaffen worden ist (z. B. unerlaubte Beweismittel) ablehnen muß. Darüber hinaus soll die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, inwieweit der vorgebrachte Beweis direkte Neumann, 58, 62. Siehe jedoch Neumann, 60. 30 Im allgemeinen geht man davon aus, daß das Gericht einen Beweis - ohne Berücksichtigung von dessen Qualität oder Quantität -, der auf rechtswidrige Weise oder sonstwie rechtswidrig geschaffen worden ist (z. B. unerlaubte Beweismittel) ablehnen muß. Darüber hinaus soll die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, inwieweit der vorgebrachte Beweis direkte Schlußfolgerungen im Hinblick auf den jeweiligen Fall und dessen Beweisthemen erlaubt. Im amerikanischen Prozeßrecht wird von der sog. relevancy-test as a matter of law gesprochen (siehe unter Kap. IV.B.). Dies ist eine Kontrolle, die zum ersten Mal schon in dem Vorverfahren ausgeübt wird, um zu garantieren, daß nur solcher Beweis in dem Hauptverfahren vorgelegt wird, der entweder eine kognitive oder logische Verbindung mit der Sache, die zu beweisen ist, hat. Das Zulassen eines solchen Beweises ohne solche Begründung konstituiert einen Revisionsgrund wegen Rechtswidrigkeit des Prozesses, falls dieser zu einer Verurteilung geführt hat. LaFave/Israel, 1074 ff. 2s

29

B. Der Strafprozeß

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Schlußfolgerungen im Hinblick auf den jeweiligen Fall und dessen Beweisthemen erlaubt. Weil eine Beweiswürdigung de novo nach dem amerikanischen System in Appeal court nicht möglich ist, versucht man schon vorher, solche Elemente auszuschalten, die das Recht der Parteien verletzen könnten. In Schweden und Deutschland ist die Rechtslage etwas anders, weil eine Beweiswürdigung de novo im Prinzip in allen Fällen in der zweiten Instanz möglich ist und Mängel dabei behoben werden können. Die Systeme zwischen den USA einerseits und Schweden und Deutschland andererseits unterscheiden sich in diesem Sinne wesentlich. In Schweden und Deutschland gibt es einige klare prozeßrechtliche Regeln, wie § 244 StPO und RB 35:7; hinsichtlich unerlaubter Beweise im allgemeinen geschieht die Prüfung aller Beweise erst bei der Beweiswürdigung.

m.

Materielle Richtigkeit

Es versteht sich von sich selbst, daß ein Feststellen strafrechtlicher Haftung auf möglichst sicheren Prämissen gründen soll, und man kann davon ausgehen, daß strafrechtliche Normen funktionieren, wenn die jeweils relevanten Tatbestandsmerkmale aufgeklärt sind. Die Wahrheit in der Sache zu erforschen ist demzufolge ein wesentlicher Zweck jedes strafrechtlichen Verfahrens? 1 Wäre das System so ungewiß, daß Verbrecher zu häufig der gesetzlichen Haftung entgingen oder sogar, daß Unschuldige haften müßten, würde das ganze System seine Rechtfertigung verlieren. Es wird auch im allgemeinen empfunden, daß das Ziel des jeweiligen Strafverfahrens die Herbeiführung eines materiell und rechtlich korrekten Urteils ist. 32 Ist die Schuld bewiesen, soll das Gericht über die erforderlichen Maßnahmen entscheiden. Ist die Schuld nicht bewiesen, soll der Angeklagte freigesprochen werden. Es wird oft dargelegt, daß nur ein auf Wahrheit beruhendes Urteil die Erfordernis der Gerechtigkeit erfüllt. 33 Als Maßstab der Gerechtigkeit gilt 31 "The discovery of the truth is an essential goal of any crirninal justice process that is to serve the ends of the Substantive crirninal law through the effective enforcement ofthat law." LaFave/Israel, 33. 32 Siehe z. B. Jescheck, Hans-Heinrich, Principles of German Crirninal Procedure in Comparison with American Law, 56 Va.L.Rev., 239-251. (1970). Nach Roxin sind die Zwecke in Deutschland: " . .. die 1. materiell richtige, 2. prozessordnungsmäßig zustandekommene, 3. Rechtsfrieden schaffende Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten." Roxin, 2. Ebenso Wolter, Strafverfahrensrecht und Strafprozeßreform, GA 1985, 49, 53. Neumann, 52-74. Lindblom, SvJT 1984, 796 ff. Ekelöf, SvJT 1981, 112. Olivecrona 1968, 16. 33 Neumann, 52. Peters schreibt "Das Strafverfahren kann das Ziel der Gerechtigkeit nur erreichen, wenn es die Wahrheit findet." Peters 1985, 82.

56 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

demzufolge sowohl die materielle als auch die rechtliche Richtigkeit des Urteils? 4 Das Ziel des gerechten Urteils ist in diesem Sinne identisch mit dem Ziel des materiellen Strafrechts?5 In jedem Rechtsstaat müßte Einigkeit über diese zwei Ziele herrschen. Aber Einigkeit müßte auch darüber herrschen, daß sie im objektiven Sinne sehr schwer zu erreichen sind. Man ist auch gezwungen gewesen, in gewissem Maße von ihnen abzusehen. Will man nämlich Gerechtigkeit mit der im objektiven Sinne materiellen und rechtlichen Richtigkeit messen, könnte mit guten Gründen behauptet werden, daß man nie wissen kann, ob ein Urteil gerechtfertigt ist oder nicht, weil man selten wissen kann, ob es materiell richtig ist - von der objektiven Richtigkeit der eventuell vorliegenden Auslegungsfrage nicht zu sprechen. 36 Deswegen ist die Richtigkeit eines gerichtlichen Urteils relativiert worden, und die zugrundeliegende Definition - wenn überhaupt möglich - ist viel komplizierter. Was die Gesetzanwendung betrifft, wird die Richtigkeit unter Berücksichtigung der in der jeweiligen Rechtsordnung geltenden vorher geregelten Rechtsquellen und des darin beruhenden Begründungs- oder Argumentationsprozesses und dessen Rationalität bewertet. Bei der Richtigkeit einer jeden Tatsachenprämisse geht es einerseits um die formelle Richtigkeit (die die Wahrheitserforschung zwar auch beirenzen kann), aber vielmehr geht es um den Maßstab, mit dem man Wahrheit, Wissen oder Überzeugung über die Wahrheit mißt, und die Methoden, mit denen man die jeweils vorliegenden Informationen behandelt. Es geht insoweit einerseits um die Methoden der Beweiswürdigung und andererseits um das Beweismaß als Maßstab der erforderlichen Sicherheit. Die Beweiswürdigung besteht vor allem aus Schlußfolgerungen erkenntnistheoretischer Art, jedoch besteht sie manchmal auch aus normativen Wertungen. Die Richtigkeit der durch die Beweiswürdigung gewonnenen "Wahrheit" ist deshalb im Grunde genommen von der Art und dem Umfang der Information und der Haltbarkeit der auf derer Grund gemachten Schlußfolgerungen abhängig. Das Beweismaß ist eine Stellungnahme zu der Frage, ein wie großes Risiko eines eventuell materiell fehlerhaften Urteils rational zu akzeptieren ist?7 Man hat deshalb versucht, die Richtigkeit auch des Beweismaßes durch eine mehr traditionelle Auslegung zu kontrollieren. Solche Auslegungen haben sich jedoch aus mehreren Ursachen als untauglich erwiesen.38 34

35 36 37

38

Neumann, 52-74. Neumann, 52-74. Siehe z. B. Aarnio 1986, 158 ff. Vgl. z.B. Twining/Stein, xxiv f. Siehe hierüber unten Kap. V.J. und VI.B., C. und D.

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Sowohl in den USA, Deutschland als auch in Schweden gilt, daß in Straffällen ein sehr hohes Beweismaß für eine Verurteilung verlangt wird, obwohl diese Anforderung gleichzeitig bedeutet, daß etliche Schuldige nicht bestraft werden. 39 Und in der Tat, anstatt daß jedes Strafurteil materiell richtig sein müßte, geht man vielmehr davon aus, daß Gerechtigkeit und materielle Wahrheit, vor allem wenn es um Verurteilungen geht, miteinander verknüpft sein müssen. Man will insofern garantieren, daß jede Verurteilung materiell richtig ist, weil eine fehlerhafte Verurteilung der größte denkbare Irrtum und Unrecht der Rechtsanwendung ist; ihre Minimierung ist demzufolge das wichtigste Ziel des Strafprozesses.40 Freisprüche können natürlich aufgrund verschiedener Ursachen Resultat der Verfahren sein. Es ist z. B. durchaus möglich, daß eine Verurteilung wegen eines formellen Mangels aufgehoben wird, obwohl die Schuld an sich zweifelsfrei festgestellt werden kann. Dies zeigt sich deutlich speziell im amerikanischen Rechtssystem. Die Endgültigkeit eines einmal in einem Hauptverfahren festgestellten auch fehlerhaften Freispruchs wird durch double jeopardy clause stark geschützt. 41 Obwohl es z.B. durchaus der Fall sein kann, daß das Gericht einen erlaubten Beweis (admissible evidence) abgewiesen hat (angenommen, daß dies erst in Hauptverfahren geschehen ist) und daß der Angeklagte mit Hilfe des Beweises verurteilt werden konnte, bleibt der Mangel unaufhebbar. Das ist natürlich nicht der Fall, wenn der Angeklagte verurteilt wurde und die Verurteilung formell mangelhaft ist. 42 Hier kommt die das einzelne Individuum respektierende Rechtspolitik des amerikanischen Rechtsdenkens deutlich zum Vorschein. 43 Eine ähnlich strenge Stellung wird weder in Deutschland noch in Schweden vertreten, weil ihre Rechtssysteme kein absolutes double jeopardy-Verbot kennen. Meistens ist die Ursache der Freisprüche aber darin zu finden, daß es dem Staatsanwalt nicht gelungen ist, die Schuld des Angeklagten mit der erforEkelöf 1992, 114 f. Bolding 1983, 18. LaFave/Israel, 39. In den USA hat dies z. B. The Supreme Court in mehreren Fällen ausdrücklich gesagt. Siehe Tehan v. United States ex rel. Shott, 382 U.S. 406, 86 S.Ct. 459, 15 L.Ed.2d 453 (1966); Williams v. United States, 401 U.S. 646, 91 S.Ct.1148, 28 L.Ed.2d 388 (1971); In re Winship, 397 U.S. 358, 90 S.Ct. 1068, 25 L.Ed.2d. 368 (1970). Vgl. auch Cohen 1983, 14 und dort der Fn. 27. 41 Ball v. United States, 163 U.S. 662, 16 S.ct. 1192, 41 L.Ed. 300 (1896). United States v. Scott, 437 U.S. 82, 98 S.Ct. 2187, 57 L.Ed.2d 65 (1978). 42 LaFave/Israel, 1071 ff. 43 "To permit a second trial after an acquittal, however rnistaken the acquittal may have been, would present an unacceptably high risk that the Government with its vast superior resources, rnight wear down the defendant so that ,even though innocent, he may be found guilty' ". United States v. Scott, 437 U.S. 82, 98 S.Ct. 2187, 57 L.Ed.2d. 65 (1978). 39

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58 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

derliehen Sicherheit zu beweisen. Hier zeigt namentlich das hohe Beweismaß und die absolute Beweislastteilung des Strafprozesses ihre Stärke. Der Staatsanwalt trägt das Risiko der Unzulänglichkeit des Beweises und demzufolge auch der bestehenden Unsicherheit. Die Unzulänglichkeit des Schuldbeweises beweist an sich nicht automatisch die Unschuld des Angeklagten. Das Prinzip in dubio pro reo besagt freilich, daß der Angeklagte freigesprochen werden muß, falls die erforderliche Sicherheit nicht erreicht worden ist. Wie groß das Gewicht sein soll, das der materiellen Richtigkeit auch des freisprechenden Urteils zugemessen werden kann, ist natürlich eine schwierige Frage. Es geht im wesentlichen darum, die Richtigkeit der Anklage im Rahmen bestimmter Formen zu erforschen und vor allem die materielle Richtigkeit der Verurteilungen zu garantieren, weil die Schäden durch eine fehlerhafte Verurteilung als zu hoch empfunden werden. Damit verglichen, scheinen die Schäden durch fehlerhafte Freisprüche wesentlich geringer ins Gewicht zu fallen. IV. Die Bedeutung materieller Richtigkeit der Strafurteile unter Berücksichtigung der prozessuellen Zwecke Wie ist es aber bezüglich des Wahrheitsinteresses unter Berücksichtigung der Effektivität und der materiellen Gerechtigkeit? Könnten z.B. fehlerhafte Verurteilungen im Namen des öffentlichen Interesses verteidigt werden? Was ist eigentlich die Wirkung fehlerhafter Freisprüche? Kann ein hohes strafrechtliches Beweismaß im Licht bestimmter Argumente begründet kritisiert werden? Zunächst muß davon ausgegangen werden, daß in allen Hinsichten richtige Urteile eine gewisse positive Wirkung haben müßten. In solchen Fällen hat die Rechtsanwendung die ihr zugrundeliegende Aufgabe erfüllen können. Um welche positiven Wirkungen es sich dann in den einzelnen Fällen handelt, kommt darauf an, welche Ziele und Wirkungen der Gesetzgeber in den betreffenden Normen als erstrebenswert angesehen hat. Die rechtsprechende Gewalt soll das Funktionieren und Durchsetzen der Normen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit garantieren. Dies bedeutet andererseits, daß Gerichte nicht selbst über den Inhalt der wirklichen positiven Wirkungen bestimmen dürfen; es reicht, daß sie danach streben, richtige Entscheidungen zu treffen. Die Bedeutung der Richtigkeit der Tatsachenprämisse zeigt sich am deutlichsten, wenn wir daran denken, was es bedeuten würde, daß eine materiell fehlerhafte Tatsachenprämisse der Entscheidung zugrunde liegt. Es muß aber dabei vor allem bemerkt werden, daß Gerichte stets mit dem Risiko

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arbeiten müssen, Fehlentscheidungen zu treffen, ohne wissen zu können, in welcher Richtung das Urteil eventuell fehlerhaft sein kann. Nehmen wir zunächst an, daß ein Strafverfahren zu einem materiell richtigen Ergebnis gekommen ist: es wurde festgestellt, daß der richtige Sachverhalt bewiesen ist - z. B. A hat den B getötet - und daß die auf diesem Grund festgestellten Rechtsfolgen die Erfordernisse der richtigen Rechtsanwendung erfüllen. Die Situation entspricht der Auffassung, die wir von einer im idealen Sinne gerechten bzw. richtigen Entscheidung haben. Dann nehmen wir an, daß das Ergebnis materiell fehlerhaft gewesen ist, zunächst, daß ein Unschuldiger verurteilt wurde- A hat den B nicht getötet, wurde aber trotzdem verurteilt. Die Irrationalität der speziellpräventiven Funktion einer fehlerhaften Entscheidung bräuchte in diesem Fall keine weiteren Erklärungen. Was die Bedeutung der fehlerhaften Verurteilung für die allgemein-präventive Funktion anbelangt, so könnte folgendes gedacht werden: Die allgemein-präventive Funktion ist nicht von der Falschheit eines einzelnen Falls abhängig, weil nur die gemeinsame Menge von Verurteilungen in dieser Hinsicht Bedeutung hat. Je mehr Verurteilungen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, bestraft zu werden auf der allgemeinen Ebene und desto stärker soll der Abschreckungseffekt wirken. Im Prinzip würde also die präventive Funktion auch durch fehlerhafte Verurteilungen gestärkt. Das mag unter bestimmten Umständen auch stimmen, aber wenn dies akzeptiert wird, würde sicherlich bald die Frage gestellt, ob man immer noch nach den rechtsstaatliehen Prinzipien arbeitet oder ob irgendwelche anderen z. B. totalitaristische Methoden an deren Stelle getreten sind. Es versteht sich von selbst, daß in einem Rechtsstaat davon ausgegangen werden kann, daß die Gesamtmenge der Verurteilungen aus materiell richtigen Urteilen bestehen muß. Es steht im grundsätzlichen Widerspruch mit der Idee des Rechtsstaats, daß man Kriminalität auch mit Hilfe fehlerhafter Verurteilungen bekämpft. Deswegen ist es falsch zu behaupten, daß auch fehlerhafte Verurteilungen eine positive Wirkung hätten. Statt vom Nutzen muß immer davon ausgegangen werden können, daß fehlerhafte Verurteilungen nur negative Wirkungen haben, sonst verstoßen wir gegen fundamentale rechtsstaatliche Prinzipien. Wenn von den negativen Wirkungen gesprochen wird, könnte also in diesem Fall vielleicht folgendes gesagt werden: Wenn es um die allgemein-präventive Funktion der Verurteilungen im ganzen geht, so ist eine fehlerhafte Verurteilung an sich dysfunktionell, es gibt aber einen Spielraum, innerhalb dessen die Unkosten unter Berücksichtigung der allgemein-präventiven Funktion gewissermaßen ertragen werden können. Setzt man nun den Fall, daß ein Schuldiger freigesprochen wurde. Die Wahrheit blieb unaufgeklärt und demzufolge konnte die strafrechtliche Haf-

60 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

tung nicht verwirklicht werden, obwohl der Angeklagte in der Tat schuldig war. In derartigen Fällen wird die allgemein-präventive Funktion wenigstens in der Theorie geschwächt. In einem Einzelfall hat es vielleicht nicht so große Bedeutung, aber es ist die gemeinsame Menge der jeweils freisprechenden Urteile, die Bedeutung hat. Wird sie groß genug, funktioniert der präventive Effekt überhaupt nicht, weil die Wahrscheinlichkeit, verurteilt zu werden, geringer wird. Wichtig ist aber vor allem, daß, wenn freisprechende Urteile materiell fehlerhaft sind, der Prozeß seine Funktion bei der Durchsetzung der materiellen Normen nicht erfüllt. Schon Packer hat geschrieben: "The Crime Contra! Model accepts the probability of mistakes up to the Ievel at which they interfere with the goal of repressing crime, either because too many guilty people are escaping or, more subtly, because general awareness of the unreliability of the process Ieads to a decrease in the deterrent efficacy of the criminal law."44

Die erwünschte speziellpräventive Funktion bleibt natürlich auch in diesem Fall ohne Effekt. Wie hoch der Schaden aufgrund der Nichterfüllung dieser Funktion in der Wirklichkeit ist, hängt davon ab, wie wahrscheinlich es ist, daß ein zu Unrecht freigesprochener Verbrecher neue Straftaten begehen wird, aber der Schaden hängt genauso davon ab, was für eine Straftat er in diesem Fall begehen würde. Wie ist es dann mit der formellen Richtigkeit und Wahrheit im Sinne der materiellen Richtigkeit der Urteile? Die formelle Richtigkeit besteht aus Regeln, die es garantieren, daß die Freiheitssphäre einzelner Personen von Seiten der öffentlichen Gewalt nur bis zu einem gewissen Rahmen verletzt werden kann und daß gewisse Verhaltensformen bei der Rechtsausübung im allgemeinen befolgt werden. Es ist demzufolge eine Frage von Verhaltensnormen des Prozesses (in weitem Sinne), die die Wahrheitsfrage nur in dem Fall berühren, daß irgendein Beweis in Widerspruch zu den Normen vorgelegt worden ist. Der Mangel in der formellen Richtigkeit verursacht die Rechtswidrigkeit des Urteils, ohne Hinsicht auf dessen materielle Richtigkeit. Die formelle Rechtswidrigkeit eines freisprechenden Urteils, sei es nun fehlerhaft oder nicht, ist z. B. nach dem amerikanischen Recht in der Regel unaufhebbar, falls es sich um einen Freispruch handelt, dagegen ist es aufhebbar, falls der Mangel eine Verurteilung belastet. Der Effekt solcher Regelungen garantiert seinerseits, daß die öffentliche Gewalt die Verhaltensregeln befolgt. Ein Mangel in der formellen Richtigkeit kann also eine Ursache eines materiell fehlerhaften Urteils, speziell der fehlerhaften Freisprüche, sein. Deshalb dient die Einhaltung auch der formellen Richtigkeit 44

Packer, 15. Vgl. auch Cohen 1983, 4 f.

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der materiellen Richtigkeit der Urteile. In Schweden und Deutschland sind dagegen formelle Mängel auch des freisprechenden Urteils authebbar. Es wird auch manchmal hervorgehoben, daß das strafrechtliche Beweismaß einen Teil der formellen Richtigkeit gestaltet, weil es gegen das öffentliche Interesse wirkt. 45 Dies ist jedoch nicht ganz richtig, sondern es liegt sowohl im öffentlichen als auch individuellen Interesse, daß man durch den ziemlich hohen Grad des erforderten Beweismaßes materiell fehlerhafte Verurteilungen zu verhindern versucht. Eventuelle Nachteile fehlerhafter Verurteilungen sind nur im Licht des öffentlichen bzw. allgemeinen Interesses nicht so schädlich wie sie es im Licht des Interesses eines angeklagten Individuums sind. In diesem Sinne geht es also nicht um eine Wahlsituation: entweder Kontrolle und Verhindern der Kriminalität oder Schutz der Rechte des Einzelnen. Normen der formellen Richtigkeit gestalten vielmehr Rahmen, innerhalb derer diese zwei Ziele erreicht werden können und dürfen. Die Verwirklichung sowohl der Normzwecke als auch des Rechtsschutzes eines Einzelnen sind aber von dem Erreichen der Wahrheit abhängig. Die erträgliche Fehlermarge im Hinblick auf die kriminalpolitischen Normzwecke ist aber vielleicht ein wenig größer als eine Fehlermarge in Hinsicht auf den Rechtsschutz. Darüber hinaus muß beachtet werden, daß die erträgliche Fehlermarge auch davon abhängig ist, inwieweit es um fehlerhafte Verurteilungen oder fehlerhafte Freisprüche geht. Die Frage ist dann die, ob die Normzwecke in diesem Fall überhaupt irgendwelche Bedeutung haben sollten, wenn Stellung zu einem akzeptablen Risiko in Strafsachen genommen wird. Die gegenwärtige herrschende Lehre des subjektiv-intuitiven Beweismaßes beachtet diese Frage kaum. Andererseits kann gefragt werden, ob eine fehlerhafte Verurteilung immer gleich schädlich im Hinblick auf das Rechtsschutzinteresse ist. Sind z. B. die Schäden einer fehlerhaften Verurteilung immer gleich? Empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß Richter und Schöffen unterschiedliche Beweismaße für verschiedene Straftatarten anwenden.46 Das könnte dadurch erklärt werden, daß auch die subjektiv-intuitiven Wertungen durch wenigstens eine indirekte Beachtung verschiedener Bedeutungen der Normzwecke oder Schutzinteressen beeinflußt werden. Andererseits geschieht eine solche Wirkung ganz ohne irgendeine rationale Selbstkontrolle. Die in dieser Arbeit beanspruchte Methode versucht unter anderem, eine solche Kontrolle zu ermöglichen.

45 46

Siehe z. B. Jonkka, 183 f. Siehe unten Kap. VI.A.III.2.

62 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

C. Der Zivilprozeß I. Allgemeines Die Zwecke des Zivilprozesses müssen ebenso wie die des Strafprozesses in Hinsicht auf dessen Funktion betrachtet werden. Auf der allgemeinen Ebene in Schweden und in den USA unterscheidet man zwischen der konfliktlösenden Funktion (conflict resolution model) und der handlungsdirigierenden (behaviour modification model) Funktion.47 In Deutschland wendet man Begriffe wie "subjektiver Rechtsschutz" und "objektive Rechtsdurchsetzung" an, deren materieller Inhalt und Bedeutung sich im wesentlichen eigentlich nicht von dem erstgenannten Begriffspaar unterscheiden. In der amerikanischen Doktrin spricht man von zwei verschiedenen Modellen (auch) des Zivilprozesses, in Schweden und Deutschland dagegen von Funktionen. Der Vorteil der letzteren liegt darin, daß sie die Möglichkeit offen läßt, mehrere Funktionen als Teile desselben Prozesses zu betrachten. Eine Modelltheorie dagegen geht von einer Entweder-Oder-Situation aus. Es wird sich erweisen, daß es weniger darauf an kommt, inwieweit mit Hilfe dieser Funktion entweder der Konflikt zu lösen oder das Verhalten der Menschen im allgemeinen zu steuern ist, sondern vielmehr kommt es darauf an, wie die Betonung -der- beiden Funktionen in verschiedenen Fällen variiert. Die den Konflikt lösende Funktion gründet sich auf die Auffassung, daß die Aufgabe der Gerichte vor allem eine individuelle Konfliktlösung zwischen den Parteien ist. Die handlungsdirigierende Funktion gründet sich dagegen darauf, daß die Aufgabe darüber hinaus in einem weiteren Zusammenhang zu sehen ist: Die Gerichte sollten ihrerseits dabei mitwirken, die speziellen Normzwecke oder -ideen in der Gesellschaft im ganzen durchzusetzen. Es wird aber behauptet, daß die handlungsdirigierende Funktion weniger Aufmerksamkeit auf die materielle Richtigkeit der Urteile legt als die den Konflikt lösende Funktion betonende Betrachtungsweise.48 Einige meinen, daß beide Funktionen auf jeden Fall als der allgemeinen übergreifenden Funktion des Prozesses untergeordnet angesehen werden müssen, daß nämlich die materiellen Rechtsregeln sowohl auf der allgemeinen als auch auf der Ebene des Einzelnen einen erhöhten Durchsetzungseffekt bekommen. 49 47 Ekelöf wendet auch Begriffe "Gerechtigkeitsprinzip" contra "Sanktionstheorie" an. SvJT, 1988, 23. Lindbiom spricht von der präventiven und reparativen Funktion, die zusammen die Verwirklichung der Normzwecke gestalten. Lindbiom 1989, 437. Ders.: 1990, 263 ff. Ulla Jacobsson dagegen verwendet die Begriffe "Normtheorie" und "Konfliktlösungstheorie". Dies.: Tvistemäl, Maimö 1990, 8. 48 Siehe Lindell 1987, 286 ff.

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II. Die handlungsdirigierende Funktion In Schweden liegen die Gedanken von Lundstedt und Hägerström50 zugrunde, der später auch von Olivecrona, Ekelöf und Boman vertretenen Betrachtungsweise, die die handlungsdirigierende Funktion betont.51 Sie gehen davon aus, daß es der Zweck sowohl der straf- als auch der zivilrechtlichen Normen ist, das Verhalten der Menschen zu steuern, wobei es die Aufgabe der Gerichte ist, diesen Steuerungseffekt zu garantieren und zu verstärken.52 Im folgenden wird diese Theorie hauptsächlich im Lichte der Werke Ekelöfs dargestellt. Das Zivilverfahren hat nach Ekelöf zunächst eine konfliktlösende Aufgabe.53 Durch ein Verfahren suchen die Parteien eine Lösung für einen konkreten Konflikt, nachdem andere mögliche Lösungsversuche ohne Resultat geblieben sind. Diese Funktion ist jedoch nach Ekelöf nicht die einzige. Er meint zwar, daß es die zweite und vor allem wichtigste Aufgabe der Rechtsanwendung ist, dabei mitzuwirken, daß die Moral der Bürger eines Staates, d. h., was die Menschen als erlaubt oder verboten ansehen, mit dem Inhalt des Rechts übereinstimmen solle.54 49 Ekelöf 1990, 7 f. Lindbiom 1990, 263 ff. Siehe jedoch Lindell 1988, 95-100, was das förlikningsinstitut anbelangt. Siehe aber auch Ekelöf 1984, 240 ff. 50 Ekelöf, Vänbok, 71 ff. Ders.: 1990, 8 f. 51 Olivecrona 1930, 130. Ekelöf 1990, 7-22. Ders.: 1992, 83 ff. Z.B. Die Idee kommt z.B. im folgenden kurz und klar zum Ausdruck: "Durch die Gesetzgebung will die Staatsgewalt bestimmte Verhaltensmuster bei den Staatsbürgern erzielen. Da ist es natürlich nicht gleichgültig, ob die Staatsbürger auf eine andere Weise handeln und gegen die Gesetzesregeln verstoßen. Um dies aufzuhalten, müssen diese Regeln sanktioniert sein, irgendwelche Unannehmlichkeiten müssen - wenigstens im Prinzip - den treffen, der gegen diese Regeln verstößt. Aber diese Sanktionen dürfen nicht hemmungslos aus ihrem Zusammenhang gerissen werden. Sie müssen sorgfältig administriert werden, so daß nur der Gesetzesübertreter von einer genau abgewogenen Sanktion erreicht wird. Dazu hat man Prozesse und Gerichte. Der Gerichtsprozeß ist ein notwendiges Glied des Sanktionsmechanismus und dies keineswegs nur bei Verbrechen, sondern in gleich hohem Grade auch beim Zivilprozeß. Zivilprozeß und Zivilurteil tragen dazu bei, daß Abmachungen im allgemeinen eingehalten, Schulden bezahlt und zivilrechtliche Regeln befolgt werden. Wenn man so will, kann man dies für einen handlungsdirigierenden Effekt im zivilrechtliehen Bereich halten." Boman, TfR 1979, 350 f. Meine Übersetzung. 52 Ekelöf 1990, 7-22. Ders.: 1984, 233 ff. Ders.: SvJT 1981, 111. Ders.: SvJT 1988, 23. Ders.: Vänbok 74 f. Boman, TfR 1979, 350 f. 53 Ekelöf, Vänbok, 75. 54 "Es ist jedoch die Frage, ob die Rechtsprechung nicht auch noch eine andere, wichtigere Funktion hat, nämlich dazu beizutragen, daß die Volksmoral in Übereinstimmung mit den materiellen Rechtsregeln gebracht wird, um auf diese Weise deren Durchschlagskraft im gesellschaftlichen Leben zu erhöhen." Ekelöf, Vänbok, 75. Übers. v. F.-J. Sauer.

64 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

Diese sog. sanktionstheoretische Auffassung Ekelöfs geht von der Annahme aus, daß der Zivilprozeß zusammen mit der sich danach ergebenden Drohung der Zwangsvollstreckung im allgemeinen einen auf die Moral der Menschen einwirkenden Effekt hat. 55 Er glaubt z. B. nicht so sehr an den Abschreckungseffekt der zivilrechtliehen Sanktionen im allgemeinen, sondern vielmehr an das freiwillige Verzichten auf Handlungen, die durch Gesetzgebung und Rechtsanwendung als unerwünscht ausgewiesen werden. Er ist der Meinung, daß diese zwei Faktoren zusammen zur Annäherung des Rechts und der Moral in der Gesellschaft beitragen müßten. Eine Gesellschaft, in der Menschen den Gesetzen nur wegen der Sanktionsdrohung gehorchen, hält er für eine schlechte Gesellschaft.56 Es ist deswegen wichtiger, daß der Zivilprozeß dabei mitzuwirken versucht, daß Menschen sich so verhalten, daß sie überhaupt nicht zu prozessieren brauchten5 7 ; daß Schuldner ihre Leistungen rechtzeitig bezahlen, daß Individuen auf Schaden verursachende Taten oder Unterlassungen verzichten, daß Unternehmen sich im allgemeinen verpflichtet fühlen, fehlerfreie Produkte zu erzeugen usw. Ekelöf ist nicht der Ansicht, daß die Rechtsanwendung die Menschen dahingehend steuern müßte, was schon in den Gesetzen geschrieben ist, sondern vielmehr, daß ihre Botschaft in der Gesellschaft durch die Gerichte durchgesetzt wird. 58 Diese Auffassung haben jedoch die Kritiker in Schweden als bloßes Wunschdenken und Ideologie abgewiesen. 59 Einige meinen, daß Menschen im allgemeinen und vielleicht überhaupt nicht wissen, was der Inhalt des Rechts bezüglich ihres Verhaltens in den verschiedensten Lebenssituationen sei. Obwohl das Vorbringen eines Rechtsstreits vor ein Gericht sich auf den Glauben des Klägers gründet, daß er ein Recht nach dem Gesetz hat, gäbe es auch viele andere Ursachen dafür, daß Menschen ihre Konflikte durch die Gerichte lösen lassen wollen. 60 So meint z. B. Lindell, daß solche Ursachen, wie Prestigedenken, ökonomische Umstände oder Starrköpfigkeit Motive für das Streiten vor Gericht seien. 61 Das ist sicherlich in vielen Fällen richtig, aber man kann einwenden, daß der präventive Effekt eben danach strebt, solche Irrationalität zu verhindern. Daß Prozesse aus derartigen Gründen zustande kommen, deutet 55 Über das Verhältnis zwischen Moral und Recht nach Ekelöf, siehe z. B. Vänbok, 71-83. 56 Ekelöf, Straffet, skadeständet och vitet, Uppsala 1942, 92 ff. Derselbe: Vänbok, 76-83. 57 Ekelöf 1984, 236. Ders.: Vänbok, 79. Ders.: SviT 1981, 111. 58 Ekelöf, Vänbok, 79. 59 Siehe Bengtsson und Roos, SvJT 1987, 417 ff. Lindell 1988, 90. 60 Lindell 1988, 91. 61 Lindell 1988, 90 f. Vgl. Ekelöfs Kritik in Vänbok, 78 f.

C. Der Zivilprozeß

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doch nur auf den Umstand, daß der präventive Effekt nicht effektiv genug gewesen ist. Und speziell unter Berücksichtigung solcher Streitgründe müßten die Argument der allgemeinen Steuerung betont werden. 62 Es ist zuzugeben, daß es Menschen gibt und immer geben wird, die die Stimme der Vernunft nicht hören wollen, aber dies kann sicherlich nicht verallgemeinert werden, um die Wichtigkeit des präventiven Effekts der Normzwecke zu schmälern. Einige Positionen gehen davon aus, daß die Einführung von strafähnlichem Schadensersatz (punitive damages) ins Schadensersatzrecht effektiver die präventive Funktion ausfülle als irgendeine abstrakte Abschreckung63 . Ihnen ist zuzustimmen. Es ist unrealistisch, der allgemeinen oder privaten Moral oder Ethik z. B. der einzelnen Firmen oder Fabriken und der dort arbeitenden Leute zu vertrauen. Das Überleben der Unternehmen ist von ihrem finanziellen Zustand abhängig. Deshalb ist es oft so, daß die "Moral des Geldes" ein ihr Verhalten anleitender Faktor ist und daß die Androhung, Geld zu verlieren, den Präventionseffekt auf bestimmten zivilrechtliehen Gebieten am besten erfüllen kann. Darüber hinaus müßte aber die Wahrscheinlichkeit realistisch sein, daß solchen Schadensersatzansprüchen auch in konkreten Fällen stattgegeben wird und sie zur Bezahlung gelangen. Hier haben der Prozeß und speziell die Normen über die Beweislast und das Beweismaß erhebliche Bedeutung, weil die präventive Funktion des strafähnlichen Schadensersatzes dadurch entweder verstärkt oder vermindert werden kann. Nicht nur gesetzliche Sanktionen, sondern vielmehr auch ihre Verwirklichungswahrscheinlichkeit garantiert in Einzelfallen erst die Prävention bzw. den handlungsdirigierenden Effekt.64 Die Situation ist insoweit mit dem strafprozessualen Präventionseffekt vergleichbar. Es geht 62 Lindeil meint ferner, daß der präventive Effekt meistens während des Ratschlags des Rechtsanwalts an den Klienten Bedeutung hätte, aber er meint gleichzeitig, daß es im Interesse der Rechtsanwälte sei, daß Menschen prozessieren, weil sie selbst dadurch Geld verdienen. Lindeil 1988, 91. 63 Punitive damages ist eine Art Bestrafungsschadensersatz, die in den USA z. B. in Antitrust- und Kontokreditfällen angewandt wird. Sie besteht aus einem mehrfachen Schadensersatz und ist geeignet, als eine abschreckende Sanktion einzuwirken. Sie hat speziell in den USA inuner größere Bedeutung erhalten, ist aber auch in Schweden als eine Möglichkeit für das zukünftige Schadensersatzrecht angesehen worden, speziell auf solchen Gebieten, wo die abschreckende Funktion sehr wichtig ist, z.B. beim Verhindern von Umweltzerstörung. Siehe: Lindbiom 1989, 272 f., und dort die in den Fußnoten 1&-23 genannten Autoren. 64 " ... die effektivste Rechtsprechung ist die, welche nie zur Anwendung konunt. Aber das ist ein Ideal, das nie erreicht wurde und nie erreicht werden wird. Ein normwidriges Verhalten gehört zu den normalen Bestandteilen in jedem menschlichen Kollektiv. Insbesondere gilt dies in unserer dynamischen Zeit, wo die Gesellschaftsmoral die ganze Zeit über neuen Verhältnissen angepaßt wird; da ist es besonders wichtig, daß eine rechtswidrige Handlung zu Sanktionen führt". Ekelöf SvJT 1981, 111. Meine Kursivierung. Übers. v. F.-J. Sauer. 5 Gräns

66 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

um das funktionelle Zusammenspielen der Ziele der materiellen Rechtsnormen mit der Rechtsanwendung. Die deutsche Diskussion geht vor allem von der Zweiteilung in objektives und subjektives Recht aus. Recht im objektiven Sinne ist die Gesamtheit der Rechtsvorschriften, aus denen die Rechtsordnung besteht: 65 das Verhältnis zwischen verschiedenen Menschengruppen oder zwischen diesen und den übergeordneten Hoheitsträgern wird durch Vorschriften geregelt.66 Im Gegensatz zum objektiven Recht wird unter subjektivem Recht eine Befugnis verstanden, die sich für den Berechtigten aus dem objektiven Recht ergibt oder die auf Grund dessen erworben wird.67 Die Regeln des subjektiven Rechts gestalten den Grund für die Rechte und Verpflichtungen einzelner Individuen. Was die Funktion des gerichtlichen Verfahrens zwischen und bezüglich dem subjektiven und dem objektiven Recht anbelangt, so kommt es darauf an, welcher Teil betont wird. Es ist normal, daß die den objektiven Teil des Rechts bei der Rechtsdurchsetzung betonenden Autoren auch den handlungsdirigierenden Effekt in den Vordergrund stellen. Nach Rödig geht es beim objektiven Recht um die Funktion desselben, eine Ordnung zu schaffen.68 Er schreibt: "Elemente dieser Ordnung sind erstens die Begrenzung von sich widerstreitenden Interessen auf ein bestimmtes, die Verträglichkeit jeweils sämtlicher Interessen gewährleitendes Maß; zweitens aber auch der Schutz der dergestalt begrenzten Interessen. Das auf diese Art geschützte Interesse ist im weiten Sinn des Wortes ,subjektives Recht'."69

Rödig meint, daß es der Sinn der Interessenbegrenzung ist, den Schutz der individuellen Interessen optimal zu verteilen?0 Durch die Bewährung des objektiven Rechts werden diese Interessen verwirklicht.71 Deshalb ist der Zweck gerichtlicher Verfahren dem Zweck des Rechts gleich.72 Normen steuern die menschlichen Beziehungen, sie haben den Zweck, das Verhalten von Menschen zu leiten; die Gerichte sollen für die Durchsetzung der Normen sorgen.73

65 Greifeids Rechtswörterbuch, 10. neubearbeitete Auflage, München 1990, 907. Jauemig, 1 f. Koch, 1 ff. Thiere, 7 f. 66 Greifeids Rechtswörterbuch, 10. neubearbeitete Auflage, München 1990, 907. Jauemig, 1 f. Koch, 1 ff. Thiere, 7 f. 67 Greifeids Rechtswörterbuch, 10. neubearbeitete Auflage, München 1990, 907. Jauernig, 1 f. Koch, 1 ff. Thiere, 7 f. 68 Rödig, 44. 69 Rödig, 44. 70 Rödig, 46. 71 Rödig, 47. 72 Rödig, 47.

C. Der Zivilprozeß

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Obwohl Rödig die handlungsdirigierende Funktion nicht ausdrücklich nennt, kann diese als das seinen Gedanken zugrundeliegende Merkmal angesehen werden. Es gibt dennoch einige deutsche Autoren, die den handlungsdirigierenden Effekt ausdrücklich diskutieren und ihm eine große Bedeutung zumessen. Das beruht darauf, daß sie die Bewährung der objektiven Rechtsordnung (wie auch Rödig74), Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und soziale Konfliktlösung der Verfahrensaufgaben hervorheben. 75 Eine große Bedeutung für die eher soziale Anschauung vom Zivilprozeß in Deutschland hatte die Österreichische ZPO von 1895 und ihre Schöpfer Klein.76 Er hob nämlich die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Zivilprozesses hervor?7 Dieser sollte nicht nur den Individuen, sondern genauso dem Gemeinwohl und dem gesellschaftlichen Frieden dienen. 78 In der moderneren Lehre wird diese Auffassung insbesondere von Schönke, Sauer, Schmidt und Koch vertreten. Die Schänkesehe "Rechtsschutzbedürfnislehre" ist aus der Prämisse heraus entwickelt worden, daß beim Zivilprozeß vor allem das Interesse der Allgemeinheit im Name der Bewährung des Rechts und der Wahrung des Rechtsfriedens im Vordergrund stünde?9 Die Feststellung und Durchführung subjektiver Rechte und Ansprüche sei nur eine Folge von der Bewährung des objektiven Rechts. 80 Nach Sauer sei es die Aufgabe des Richters, das objektive Recht zu verwirklichen. Unter dieser Voraussetzung wird den Parteien die Möglichkeit gegeben, Rechtsschutz zu erlangen. 81 73 Rödig weißt auf Jescheck hin und schreibt: ,,Jescheck sagt trefflich: Von jeher ist es das vornehmste Bestreben des Menschengeistes gewesen, die Sozialordnung durch planmäßige Aufstellung von Rechtssätzen zu leiten und weiterzuentwickeln. Insbesondere muß die Rechtsordnung die Allgemeinverbindlichkeit aller als Recht geltenden Normen gewährleisten und Mißbräuchen entgegentreten." Rödig, 39 Fn. 22. 74 Rödig, 100 f., 108 f. 75 Gaul, 47 ff. Pawlowski, 345 ff. Thiere 1 ff. Schmidt, 29 f. Koch, 5. Wasserman spricht vom "sozialen Zivilprozeß". Wasserman, Der soziale Zivilprozeß. Zur Theorie und Praxis des Zivilprozesses im sozialen Rechtsstaat. Neuwied und Darmstadt 1978, 54. 76 Von der Entwicklung siehe Thiere, 5 ff. und Jauernig, 3 f. 77 Klein, Franz, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse, Vortrag, gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden, in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden VIII, 2. Dresden 190 I , 25 ff. 78 Klein, Franz, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse, Vortrag, gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden, in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden VIII, 2. Dresden 1901 , 25 ff. 79 Schönke, Adolf, Rechtsschutzbedürfnis. Ein zivilprozessualer Grundbegriff, in: AcP 150 (1949), S. 216--234. Koch, 8 f. 80 Schönke, Adolf, Rechtsschutzbedürfnis. Ein zivilprozessualer Grundbegriff, in: AcP 150 (1949), S. 216--234. Koch, 8 f. 5*

68 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

Schmidt seinerseits spricht von einer Objektivierung des Prozeßzwekkes. 82 Koch ist der Meinung, daß zahlreiche deutsche Verfahren auf der Ebene unterer Instanzen der Bundesgerichte solche Fälle sind, "deren Ziele und Auswirkungen weit über die Sphäre der unmittelbar beteiligten Parteien hinausgehen83". Charakteristisch für solche Fälle ist eine "amorphe und repräsentative" Parteienstruktur, dessen zufolge der Streitgegenstand seine enge subjektive Zuordnung zur Partei in gewissem Sinne verliert, sowie ein an der Zukunft orientierter Rechtsbehelf. 84 Hier liegt die Aufgabe des Verfahrens vielmehr in der allgemeinen Gestaltung als in der Kompensation in Einzelfalle.85 Es geht z. B. um Überlegungen, welche Auswirkungen eine richterliche Entscheidung hat, damit das Verfahren nicht mehr einfach im Dienste des materiellen Rechts steht, sondern dessen Entwicklung beeinflußt und sie bedingt. 86 In den USA wird von conflict resolution model und behaviour modification model gesprochen. 87 Das letztere bedeutet nach Scott, daß Gerichte das Verhalten der Menschen durch imposing costs on a person steuern wollen.88 Nach diesem Modell sind die Gerichte nicht nur an dem Resultat des einzelnen Falles, sondern vielmehr an dessen Steuerungseffekt in der Zukunft interessiert. Im Verhältnis zum conflict resolution model wird danach die Konsistenz und die allgemeine Voraussehbarkeit betont. 89 81 Sauer spricht von der "Offenbarung, Klärung und Gestaltung der bisher verborgenen Rechtsidee". Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre. Berlin/Detmold/Köln/ München 1951. 1 ff. Ähnlich auch Blomeyer, 1 f. 82 Schmidt, 29. 83 Koch, 5 f. mit dem Hinweis im Fn. 11c. Siehe auch Koch 1990, 8 f., 119 ff. Vgl. auch Schmidt, ZZP 105, 372. 84 Koch, 5 f. mit dem Hinweis im Fn. 11c. Siehe auch Koch 1990, 8 f., 119 ff. Vgl. auch Schmidt, ZZP 105, 372. 85 Koch, 5 f. mit dem Hinweis im Fn. 11c. Siehe auch Koch 1990, 8 f., 119 ff. Vgl. auch Schmidt, ZZP 105, 372. 86 Koch 1990, 8. 87 Scott, 937 ff. Der schwedische Professor für Prozeßrecht Lindbiom hat in seiner Arbeit "Grupptalan" - in der er das class action-Institut u. a. des amerikanischen Rechts untersucht hat, die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, wie wenig in den USA über die eher allgemeinen zivilprozessualen Zwecke geschrieben worden ist. Vgl. auch Lindbiom 1989, 435 ff. 88 "A Behaviour Modification Modell, on the other band, sees the courts and civil process as a way of altering behaviour by imposing costs on a person. Not the resolution of the immediate dispute but its effect on the future conduct of others is the heart of the matter. Consistency and predictability of the outcome, therefore, assume an importance that they do not possess in the Conflict Resolution Modell." Scott, 938. Er verknüpft das Modell mit dem class action-Institut des amerikanischen Schadensersatzprozesses und spricht deshalb über die konkrete Kostenverteilung zu Lasten des Beklagten, die sowohl das Verhalten des Beklagten als auch das Verhalten derer, die mit ihm in entsprechenden Situation stehen, steuern soll.

C. Der Zivilprozeß

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Es gibt in den USA einige Fälle, die ohne Zweifel mit der handlungsdirigierenden Funktion verknüpft sind, namentlich die Fälle der sog. public law Iitigation. Eine andere mit dieser Funktion, z. B. nach Scott, verknüpfte Fallgruppe ist die des dass action-Instituts. Public law Iitigation ist in den sechziger und siebziger Jahren speziell in föderalen Gerichten erwachsen. Kennzeichnend für solche Fälle ist, daß es nicht um das Verhältnis von private parties about private rights geht, sondern vielmehr um the vindication of constitutional or statutory policies.90 Es wird z. B. in Diskriminierungsfällen angewandt, aber auch, wie Chayes schreibt, in: " ... antitrust, securities fraud and other aspects of the conduct of corporate business, bankruptcy and reorganations, union govemments, consumer fraud, housing discrimination, electoral reapportionment, environmental management ... 91 " Chayes legt einige für diesen Prozeß spezielle Kennzeichen dar: "(1) The scope of the lawsuit is not exogenously given but is shaped primarily by the court and parties. (2) The party structure is not rigidly bilateral but sprawling and amorphous. (3) The fact inquiry is not historical and adjudicative but predictive and legislative. (4) Relief is not conceived as compensation for past wrong in a fonn logically derived from the substantive liability and confined in its impact to the immediate parties; instead, it is forward look.ing, fashioned ad hoc on flexible and broadly remedial lines, often having important consequences for many persons including absentees. (5) The remedy is not imposed but negotiated. (6) The decree does not tenninate judicial involvement in the affair: its adrninistration requires the continuing participation of the court. (7) The judge is not passive, his function limited to analysis and Statement of goveming legal rules; he is active, with responsibility not only for credible fact evaluation but for organizing and shaping the Iitigation to ensure a just and viable outcome. (8) The subject matter of the lawsuit is not a dispute between private individuals about private rights, but a grievance about the operation of public policy."92

In public law Iitigation wird die Rolle der Gerichte als Vermittler zwischen dem Staat und Individuen oder Gruppen betont.93 Es handelt sich in solchen Fällen oft um Fragen sozialer Gerechtigkeit, die eine erhebliche Scott, 938. Chayes, 1282. Levi, 1208 ff. Lindbiom 1989, 440 f. 9 i Chayes, 1284. 92 Cheyes, 1282 f. Siehe auch Coffin, The Frontier of Remedies: A Call for Exploration. 67 Calif.L.Rev. 983, 989 (1979). Lindbiom 1989, 441 und dort Fn. 19. 93 Levi, 1208 ff. Chayes, 1290 ff. 89

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70 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

Bedeutung innerhalb des sozialen Systems haben, weil das Ergebnis nicht nur die jeweiligen Parteien, sondern auch andere, außerhalb des Prozesses stehende Organe und Individuen berührt. Deshalb wird in solchen Fällen die Rechtsgestaltungsfunktion der Gerichte betont. 94 Eine aktive Rolle des Richters ist eine klare Widerspiegelung dieser Funktion. Die prospektive Orientierung bei der Faktenuntersuchung bedeutet, daß der Richter sich fragen muß, wie die policies of the public law in konkreten Fällen am besten erfüllt werden könnten. Dabei muß er die möglichen Entscheidungsalternativen mit den verschiedenen denkbaren Konsequenzen vergleichen und dann die Alternative wählen, die dem Policy effektiv dient. Das teleologische Argument wird also sehr stark betont. Der Kern des class action-lnstituts, bei dem die handlungsdirigierende Funktion auch betont wird, ist, daß es sich um Fälle handelt, bei denen eine große Gruppe von Personen Interessen hat und wo das Verfahren ohne jeden als Partei durchgeführt werden kann. Vor allem wird gefordert, daß hier ein wohl definiertes allgemeines Interesse, das die Rechte der Personen berührt, vorhanden ist. Class actions werden nach der - sehr gründlichen - Untersuchung Lindbioms z. B. im Bürgerrecht und beim Verbraucher-, Sozialversicherungs-, Versicherungs- und Umweltrecht angewandt. 95 Lindbiom hat die Kennzeichen des class action-Prozesses mit denen des public law litigation verglichen und damit konstatiert, daß fast all die acht Punkte oben auch zu dem class action-Institut passen. 96 Die Frage ist dann, ob die handlungsdirigierende Funktion in den USA von der Prozeßart her im Zusammenhang der oben beschriebenen speziellen Umstände, wie der aktiven Rolle des Richters, des Umfangs der direkt und indirekt beteiligten Interessentengruppen und der prospektiven Orientie94 "The whole process begins to look like the traditional description of legislation: Attention is drawn to a ,mischief', existing or threatened, and the activity of the parties and court is directed to the development of on-going measures designed to eure that mischief. lndeed, if, as is often the case, the decree sets up an affirmative regime goveming the activities in controversy for the indefinite future and having binding force for persons within its ambit, then it is not very much of a stretch to see it as, pro tanto, a legislative act." Chayes, 1297. "Public law litigation" ist viel kritisiert worden und hat im Laufe der Zeit Bedeutung verloren. Siehe hierüber Lindbiom 1989, 442 f. Ders.: The Privatization of Justice: Some Aspects of Recent Developments in American and Swedish Procedural Law, in: Sumampouw, M./ Barnhoom, L. A. N. M./Freedberg-Swartburg, Judith A./Tromm, J. J. M./Wade, J. A. (hrsg), Law and Reality, essays on Nationaland International Procedural Law in Honour of Cornelis Carel Albert Voskuil, 199-214. 95 Lindbiom 1989, 145-151 mit dem sehr langen Literaturverzeichnis auf den Seiten 148-149. 96 Lindbiom 1989, 3 ff., 442.

C. Der Zivilprozeß

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rung, in dem Maße abhängig ist, daß sie auf das Vorhandensein genau dieser Elemente begrenzt sei. Man kann vielleicht auch eine solche Betrachtungsweise verteidigen, aber mir scheint es mehr eine Frage der Anwendung des teleologischen Arguments, die in einigen Fallgruppen speziell zu betonen ist, zu sein. Ihm wird aus besonderen Gründen mehr Gewicht gegeben als in einigen anderen Fällen. Wir wollen dies im Hinblick auf die hier diskutierten public law Iitigation und class action betrachten. Es gibt einen engen Zusammenhang mit der public law Iitigation und class action und der sog. access to justice-Entwicklung und ihrer "zweiten Welle", welche die Fragen der sog. diffusen, fragmentarischen und kollektiven Interessen fokussiert hat.97 Es geht um Rechte, die nicht nur einzelne Individuen in einzelnen Fällen berühren, sondern vielmehr um Rechte, die kollektiv oder sozialpolitisch bedingt sind, z. B. solche Gebiete wie Verbraucher- und Umweltschutz.98 Die Kollektivierung solcher Rechtsstreite ist nicht nur aufgrund der diffusen u. ä. Interessen entwickelt worden, sondern hat natürlich auch prozeßökonomische Ursachen. Diese Rechte können aber natürlich auch von jeder einzelnen Person beansprucht werden. Das kollektive Anspruchsrecht hat nur das persönliche Recht komplettiert, nicht aber ersetzt.99 Und tatsächlich ist es nicht eine Frage der Verknüpfung der handlungsdirigierenden Funktion mit einer speziellen Prozeßform, sondern es handelt sich um Fälle, wo die Anwendung von rechts- und sozialpolitischen Argumenten sehr stark verteidigt werden kann, weil es um ein gemeinsames Interesse mehrerer Individuen 100, um Interessenahwägungen zwischen sozialen Gruppen oder variierende rechtspolitische Abwägungen im ganzem mit Anknüpfung an einen konkreten Rechtsstreit geht. 101 Auch Lindbiom hat konstatiert, daß es bei den class actions mehr um einen quantitativen als um einen qualitativen Unterschied geht, was den Charakter der Rechte und der Rechtsschutzbedürfnisse betrifft. 102 Er hat 97 Cappelletti/Garth, Access to Justice I, 1, 10 ff. In: Access to justice. The Florence Access-to-Justice project. A series under the generat editorship of Mauro Cappelletti. Volym I book 1-2, volym II book 1-2, volym ITI und Volym IV. Milano 1978-1979. Dies.: Access to justice and the Welfare State: an introduction. In: Cappelletti (Hrsg), Access to justice and the Welfare State, 1-24.) Lindbiom 1989, 1-19. 98 So auch Lindblom, 1989, 1-19. 99 Lindbiom 1989, 13. 100 So auch z.B. Du Val, B., Jr, Report on class actions. In: Windsor Yearbook of Access to Justice (1983) 411-436, hier 433. 101 Lindbiom 1989, Kap 2 und 3. Du Val, B., Jr, Report on class actions. In: Windsor Yearbook of Access to Justice (1983) 411-436, hier 433.

72 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

Recht, aber man könne auch denken, daß es darüber hinaus auch um die Änderung der Rolle der Gerichte des amerikanischen Rechtssystems geht; namentlich um eine größere Verantwortung der Gerichte für die Konsequenzen der gerichtlichen Entscheidungen gegenüber der traditionellen Betrachtungsweise, nach der der Richter nur an den konkreten Fall und dessen Konsequenzen für die Parteien zu denken hat (sog. bipolarity). Lindbiom legt ferner dar, daß das Verfahren in Fällen, die diffuse Rechte berühren, eine eher konkrete Bedeutung für die nicht-prozeßführenden Mitglieder der Kollektive (Mieter, Arbeitnehmer, Verbraucher, Diskriminierte, Umweltgeschädigte usw.) hat als z. B. in irgendwelchen traditionellen, bipolaren Schuldverhältnisverfahren, die für die Außenstehenden keine konkrete Bedeutung haben, weil sie ihre Rechte in demselben Sinn gar nicht berühren. Lindbiom schreibt: "Der Unterschied manifestiert sich darin, daß ein kollektives und diffuses Interesse an einem Prinzip im allgemeinen für Dritte, d. h. für die anderen Gruppenmitglieder, eine stärkere Beweiskraft hat." 103

Noch größere Bedeutung müssen solche Verfahren auch dadurch erreichen, daß der handlungsdirigierende Effekt den Beklagten und andere mit ihm in einer ähnlichen Position stehende trifft. Speziell die Punkte 1., 3., 4., 7. und ~. oben sind kennzeichnend für die handlungsdirigierende Funktion, weil sie die weitere Bedeutung derartiger Fälle betonen. Es gibt spezielle Rechtsgebiete und Fallgruppen, wo das Gewicht eben der handlungsdirigierenden Funktion zu betonen ist. Sowohl in Schweden als auch in Deutschland zeigt sich diese Tendenz z. B. besonders auch auf dem Gebiet der Arbeitsverhältnis-, Verbraucher-, Umweltschutz- und Produkthaftungsregelung. Folgt man den Gedanken von z. B. Ekelöf, sieht man den Zweck des Konsumenten- und Produkthaftungsrechts nicht nur darin, daß dadurch den Verbrauchern oder anderen Vertragsparteien die Möglichkeit zum Ersatz gegeben ist, sondern vielmehr, daß Produzenten zu einer effektiven Produktkontrolle ermahnt werden. 104 Der Zweck eines Umweltschutzgesetzes ist ganz klar, die Umweltverschmutzung im ganzen zu verhindem usw. In Deutschland haben z. B. Koch und Thiere die Bedeutung der Prävention bzw. Handlungsdirigierung insbesondere des Verbraucher-, Umwelt-, und Arbeitsrechts betont. Man hat behauptet, daß die handlungsdirigierende Funktion die Gefahr mit sich bringe, daß das Recht mit der Politik vermischt wird 105 und dadurch die Unabhängigkeit der Gerichte gefährde. Es darf jedoch nur das 102 103 104 105

Lindbiom 1989, 13. Lindbiom 1989, 14. Meine Übersetzung. Ekelöf, SvJT 1981, 111. Vgl auch Lindbiom 1989, 448. Lindeil 1988, 90.

C. Der Zivilprozeß

73

Gesetz sein, das die Gerichte bindet, und nicht bestimmte politisch-soziale Abwägungen. Aber darin liegt die Gefahr eines Paradoxons: Normen sind Resultate von politischer Machtausübung, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Das gesetzte Recht soll aber ferner die rechtsanwendenden Gerichte und Richter binden. Es ist klar, daß auch politische Bewertungen den Entscheidungen zugrunde liegen. Interessenahwägungen spiegeln sich z. B. stark in den amerikanischen public law litigation 106, aber es wäre zu gewagt, zu behaupten, daß das System nur deswegen weniger unabhängig bzw. politisiert sei als irgendein anderes. Und daß die Richter bei der Rechtsausübung Wertungen überhaupt nicht vermeiden können, besagt auch jede Lehre der Rechtsgewinnung. Die Frage besteht vielmehr darin, was für eine konkrete Rolle Wertungen in verschiedenen Fällen bei dem Entscheidungsprozeß spielen und wie groß das Gewicht ist, das ihnen jeweils zugernessen wird. Voraussetzung für die rationale Anwendung solcher Argumente ist vor allem, daß die Gerichte ihre Verantwortung im Hinblick auf die Konsequenzen beachten. Levi hat zutreffend von der Verantwortung der Gerichte bei dem public law Litigation geschrieben: "It is one thing to improve by legislation the social organization of the state; it is

another thing to accomplish refonn by a courtcreated constitutional condemnation of prior behaviour as violative of the fundamental rights of man. This does not mean the condemnation has not been ~roperly given. It does mean that a powerful weapon has tobe used with care." 1 7

Es ist auch behauptet worden, daß die handlungsdirigierende Funktion das öffentliche Interesse auf Kosten der subjektiven Rechtsschutzinteressen betont. 108 Dieser Gedankengang liegt nahe an der Diskussion auf der strafrechtlichen Ebene. Rödig lehnt die Anwendung des Begriffes "öffentliches Interesse" in diesem Zusammenhang ab, weil er mit diesem das gerneinsame Interesse aller versteht. Demzufolge behauptet er, daß das "öffentliche Interesse" nicht gegen die "subjektiven Interessen" gesetzt werden kann. Er schreibt: "Es handelt sich um das Interesse Aller daran, daß auch betreffs der Durchsetzung von subjektiven Rechten eine die sich widerstreitenden Interessen aufeinander abstimmende allgemeine Ordnung gilt. An dem Bestehen einer solchen Ordnung sind, .. . typischerweise Alle interessiert, mag diese Ordnung inhaltlich auch innerhalb eines näher zu bestimmenden Bereichs variieren. Auf das Bestehen dieser Ordnung sind daher die individuellen Interessen präzisierte ,öffentliche Interessen' gerichtet, und deshalb ist es wie behauptet, ohne Sinn, betreffs des 106 107 108

Siehe spez. Lindbiom 1989, 440 ff. Levi, 1210. Lindeil 1987, 286 ff.

74 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens Zwecks zivilgerichtlicher Verfahren dem auf den Schutz von subjektiven Rechten gerichteten privaten Interesse das ,öffentliche' entgegenzusetzen." 109

Es geht insoweit nach Rödig mehr darum, daß die allgemeinen Normzwecke allen dienen, weil die dadurch geschaffene Ordnung zugunsten aller funktioniert. Die Handlungsdirigierung ist ein schon zum Recht und zu den Normen gehörender Zweck. Auf der Ebene der Durchsetzung ist es deswegen eigentlich zweckmäßiger, von der Beachtung bzw. Bedeutung der Normzwecke als Handlungsdirigierung zu sprechen. Dadurch vermeidet man die Auffassung, daß das Gericht durch die Beachtung dieser Aspekte etwas den Normen schon früher nicht angehörendes hinzufügte. Die Aufgabe der Gerichte ist es (auch), das effektive Funktionieren der Normen in Einzelfallen zu gewährleisten. Es geht demzufolge um ein funktionell zusammenhängendes System zwischen den Normen und der Rechtsanwendung.

m.

Die konfliktlösende Funktion

Die ganz vorherrschende Meinung in den USA hält die den Konflikt lösende Funktion für die wichtigste Aufgabe des traditionellen Zivilprozesses. 110 In Schweden wird sie vor allem von Bolding und Lindell vertreten. 111 Obwohl der Begriff als solcher nicht in Deutschlalld angewendet wird, könne man begründet die Meinung vertreten, daß der Inhalt der Schutztheorie dem Inhalt der konfliktlösenden Funktion entspricht. Laut Pawlowski z. B. ist es die Aufgabe des Verfahrens, zu bestimmen, "was heute- was in diesem Falle- konkret Recht ist" 112. Nach der die konfliktlösenden Funktion als auch nach der den Schutz der subjektiven Rechte betonenden Auffassung, müßten die Gerichte immer nur von dem vorhandenen Fall ausgehen und sich auf die jeweiligen mehr oder weniger speziellen Umstände in demselben konzentrieren. Die diese Auffassung verteidigenden Autoren meinen zwar, daß, weil die handlungsdirigierende Funktion eine Tendenz zu Generalisierungen hat, eine Gefahr vorläge und daß dies auf Kosten der Wahrheits- und Rechtschutzinteresse in Einzelfallen geschieht. 113 Einzelne rechtssuchende Bürger haben kein Interesse an Rödig, 46 f. Scott, 950. Chayes, 1282. Lindbiom 1989, 439. Grunsky, 5. Jauernig, 2. Thiere, 5, 9. Blomeyer, 2. Siehe auch Henckel, Heinrich, Prozeßrecht und materielles Recht, Göttingen 1970, 61 ff. Gaul, 46 ff. 111 Bolding 1951, 97 ff. Lindeil 1988, 86--95. Ders.: 1998, 433. 112 Pawlowski, ZZP 80, 345. Vgl. auch Rödig, 33 ff. 113 Lindeil 1988, 88. Scott zitiert Judge Medina in Court of Appeal in Eisen, der den Gedanken der Handlungsdirigierung als "exercise in emotionalism" ablehnt: "(S)tatements about ,disgorging' sums of money for which a defendant may be lia109 110

C. Der Zivilprozeß

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einer überindividuellen Verwirklichung des objektiven Privatrechts oder irgendwelcher allgemeinen policies. Vielmehr geht es um eine Art "Zweikampf um's Recht" 114, wobei der Richter die Rolle eines "Schiedsrichters" erfüllt. Er ist neutral, wacht über die Kampfregeln und stellt am Ende des Kampfes den Sieger fest. Der Zivilprozeß gründet sich in allen hier betrachteten Ländern auf dem Prinzip, daß die Parteien selbst Herren des Verfahrens in dispositiven Rechtsstreiten sind. Das amerikanische adversary-System, die deutschen und schwedischen Verhandlungsmaximen geben den Parteien die Macht, über den Streitgegenstand zu entscheiden. Es obliegt den Parteien, dem Gericht das Tatsachenmaterial vorzulegen. Sie können durch gemeinsame Abmachungen den Richter eben auch verpflichten. Infolgedessen ist es normal, daß die subjektiven Interessen eine erhebliche Bedeutung in jedem einzelnen Fall haben. In diesem Sinne muß man die Funktion des Zivilprozesses darin sehen, daß er ein Mittel zum Zwecke der subjektiven Privatrechtsausübung der Parteien ist. 115 Als nächstes werden die Kennzeichen des dispositiven Prozesses im Lichte des amerikanischen Zivilprozesses diskutiert. Nach Cheyes ist der traditionelle Begriff von the adversary system durch folgende Umstände gekennzeichnet: ".. . the lawsuit is a vehicle for settling disputes between private parties about private rights 116• The defining features of this conception of civil adjudication are: 1. The lawsuit ist bipolar. Litigation is organized as a contest between two individuals or at least two unitary interests, diametrically opposed, to be decided on a winner-takes-all basis.

2. Litigation is retrospective. The controversy is about an identified set of completed events: whether they occurred, and if so, with what consequences for the legal relations of the parties. 3. Right and remedy are independent: The scope of the relief is derived more or less logically from the substantive violation under the general theory that the plaintiff will get compensation measured by the harm caused by the defenble and the ,prophylactic' effect of making the wrongdoer suffer the pains of retribution and generally about providing a remedy for the ills of mankind, do little to solve specific legal problems. The result of this approach is almost always confusion of thought and irrational, emotional and unsound decisions. In cases involving claims of money damages all Iitigation presumes a desire on the part of the judicial establishment to make the wrongdoer pay for the wrongs he has comrnitted, but to do this by applying settled or clearly stated principles of law, rather than by some process of divination ... ". Scott, 942 f. 114 Vgl. Jhering R. von, Der Kampf um's Recht, 22. Auflage. 1929. Thiere, 4. 115 Siehe z. B. Thiere, 10. Jauernig, 2. 116 Meine Kursivierung.

76 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens dant's breach of duty - in contract by giving plaintiff money he would have had absent the breach; in tort by paying the value of the darnage caused. 4. The lawsuit is a self-contained episode. The impact of the judgement is confined to the parties. If plaintiff prevails there is a simple compensatory transfer, usually of money, but occasionally the retum of a thing or the performance of a definite act. lf defendant prevails, a loss lies where it has fallen. In either case, entry of judgement ends the court's involvement. 5. The process is party-initiated and party-controlled. The case is organized and the issues defined by exchanges between the parties. Responsibility for fact development is theirs. The trial judge is a neutral arbiter of their interactions who decides questions of law only if they are put in issue by an appropriate move of a party." 117

Das Verfahren ist nach diesen Kennzeichen in der Tat als eine einzelne und selbständige Episode zwischen den streitenden Parteien zu sehen. Sie scheinen demnach die Macht über das ganze Verfahren, Tatsachen, Rechtsfragen und den Ausgang zu haben. Das ist zu akzeptieren, weil das System ihnen die Möglichkeit bietet, das Verfahren durch ein gemeinsames Übereinkommen abzuschließen. Diese Möglichkeit wird den Parteien wegen der allgemeinen Vertragsfreiheit gestattet. Man muß jedoch daran denken, warum die Parteien überhaupt vor Gericht gegangen sind: Weil sie nämlich nicht, wenigstens nicht vorher, haben übereinkommen können und deshalb eine rechtmäßige Lösung ihres Konflikts durch eine gerichtliche Entscheidung suchen. Solange sie es dem Gericht überlassen, den Konflikt zu entscheiden, wird er im Rahmen des geltenden Rechts entschieden. Das Konfliktlösungsmodell gibt dem Richter keine freie Hand als "Sozialarzt" oder "Sozialingenieur", um auf das Verhältnis der Parteien einzuwirken. 118 Die Frage "Konfliktlösung oder Steuerung des Verhaltens?" scheint deshalb nicht ganz richtig gestellt zu sein. Man könnte vielmehr sagen, daß sowohl die Normzwecke durch die gerichtliche Normdurchsetzung als auch die konfliktlösende Funktion der Gerichte ein funktionelles System bildet, das das Verhalten steuert: Normzwecke ----------~

Steuerung

Konfliktlösung-

117

118

Chayes, 1282. Kursivierungen im Original. Thiere, lO und dort die in dem Fn. 55 genannten Autoren.

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Wir greifen das Schadensersatzrecht als Beispiel auf. Ziele des amerikanischen Law of torts sind: "1. to provide a peaceful means for adjusting the rights of parties who might otherwise ,take the law into their own hands'; 2. to deter wrongful conduct; 3. to encourage socially responsible behaviour; and, 4. to restore injured parties to their original condition, insofar as the law can do this, by compensating them for their injury. 119..

Wenn diese Punkte als Zwecke nur des Schadensersatzrechts gesehen werden, muß man sich fragen, was dem Schadensersatzprozeß an sich dabei bleibt. Die Antwort müßte zunächst unter Berücksichtigung der Funktion des Prozesses als das Recht durchsetzende Instrument gegeben werden. Das erste Ziel auf der Liste fallt mit der ganz allgemeinen Funktion der rechtsdurchsetzenden Organe zusammen; durch sie wird die Normordnung eine Rechtsordnung. Das zweite und dritte Ziel drückt die präventive bzw. handlungsdirigierende Funktion des Rechts, d. h. die Normzwecke, aus. Ihre Verwirklichung ist jedoch in hohem Maße von der effektiven Durchsetzung in Einzelfallen abhängig. Das vierte Ziel besagt, daß das Recht an sich den Beschädigten schützt. Inwieweit dieser Schutzzweck, die reparative Funktion des Rechts 120, erreicht wird, kommt darauf an, wie effektiv die Rechtsanwendung in den Gerichten im allgemeinen ist. Auch das systemfunktionalistische Denken im schwedischen Schadensersatzrecht zeigt dies deutlich. Im schwedischen Schadensersatzrecht spricht man von einem funktionellen System des Schadensersatzrechts an sich; es geht um ein gesteuertes System, innerhalb dessen sowohl bestimmte primäre- kurzfristige- als auch ultimative- langfristige- Zwecke angestrebt werden. 121 Um die ultimativen Zwecke zu erreichen, müssen die primären Zwecke erreicht werden. 122 Die Effektivität des ganzen Systems ist also vom Erreichen der ultimativen Zwecke abhängig. 123 Das Verhindem von Schäden und Schadenswirkungen (Prävention) ist einer der ultimativen Zwecke. 124 Um diesen Zweck zu erreichen, kommt es darauf an, wie das materielle Recht eingebaut ist, aber auch darauf, wie effektiv es durchgesetzt werden kann und wird. Wenn es sich z. B. erweisen würde, daß Klagen aufgrund von Umweltverschmutzung im allgemeinen ohne Erfolg bleiben, weil Geschädigte in der Regel (z. B. wegen eines zu 119 Prosser, William L./Wade, John W./Schwartz, Victor E., Torts. 8th ed. New York 1988, 1. 120 Siehe Andersson, 323-326 mit Hinweisen. 121 Hellner 1972, 300 ff. Ders.: 1990, 126 ff. 122 Hellner 1972, 304. 123 Hellner 1972, 304 f. 124 Hellner 1972, 307.

78 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

hohen Beweismaßes) nicht beweisen können, was genau das Ursache-Wirkung-Verhältnis zwischen dem behaupteten Verhalten des Beklagten und dem Schaden sei, kann vermutet werden, daß der präventive Effekt des Rechts ohne Wirkung bleibt, weil die Wahrscheinlichkeit einer zivilrechtliehen Haftung wegen umweltverschmutzender Wirksamkeit sehr gering bleibt. Gleichzeitig funktioniert auch die reparative Seite des Rechts schlecht, weil die Kläger ohne Schadensersatz bleiben. Der Prozeß wirkt dann dem Normzweck entgegen; er ist ein schwaches Glied innerhalb des Systems. Das materielle Schadensersatzrecht allein reiche nicht aus für das Verwirklichen der Ziele, sondern vielmehr liegt es auch in den Händen der Gerichte und ist von der einheitlichen systemkonformen Rechtsanwendung und effektiven Durchsetzung des Rechts abhängig. 125 Analog dazu ist die Verwirklichung der Ziele auch auf anderen Rechtsgebieten von der Rechtsdurchsetzung abhängig. Die die allgemeinen Normzwecke verwirklichende Aufgabe schließt nicht die konfliktlösende Aufgabe in den konkreten Fällen aus. Vielmehr ist die letztere auch als eine Voraussetzung für die allgemeine Aufgabe anzusehen. 126 Wie die Konflikte gelöst werden, hat Bedeutung für den steuernden Effekt des Rechts. Werden z. B. Schadensersatzklagen in Fällen von Umweltverschmutzung im allgemeinen abgewiesen, gibt es wenig Anlaß zu glauben, daß das Recht allein die handlnngsdirigielende Funktion erfüllt. Die zwei Funktionen müssen in Beziehung zueinander betrachtet werden 127 , ungeachtet ob die eine oder andere als die wichtigere angenommen wird. 128 Diese Auffassung ist speziell auch in Schweden verteidigt worden. 129 Und es gibt weder innerhalb des amerikanischen noch des deutschen Systems nichts, das die eine oder die andere Funktion in Einzelnillen ganz ausschließen würde. Beide Funktionen sind sogar Ecksteine der Rechtsgemeinschaft, wie Lindbiom zutreffend konstatiert hat. 130

125 "Da die Negation der Prävention eine Dysfunktion auf das Schadensersatzrecht ausübt, muß die rechtliche Lösung des einzelnen Falles sich von dieser Negation der Dysfunktion beeinflussen lassen - also der Prävention. Der Dysfunktion entgegen zu wirken, ist also das Ziel, selbst wenn dessen Erreichung nicht immer in den Beweis überführt werden kann." Andersson, 322. Übers. v. F.-J. Sauer. 126 "Daß dies der Fall ist, hindert ja nicht, daß die Rechtsprechung ihre (,konfliktlösende' meine Anmerkung) Aufgabe in konkretem Falle erfüllt. Denn dieser Verlauf ist ja sogar eine Voraussetzung dafür, daß die Rechtsprechung im genannten Sinne handlungsdirigierend ist." Ekelöf, Vänbok, 75. Übers. v. F.-J. Sauer. Siehe auch Lindblom, SvJT 1984, 785 ff. Auch er geht von der Zusammenwirkung der zwei Funktionen aus. Ders.: 1989, 4, 437. Ders.: 1992, 261 ff. 127 Lindbiom 1990, 259 ff. SOU 1994, 99. 128 Lindbiom 1990, 259. 129 Lindblom, 1990, 259. SOU 1994, 99. Lindeil 1987, 296 ff.

C. Der Zivilprozeß

79

IV. Materielle Richtigkeit Auch das Zivilrecht fungiert auf ideale Weise, wenn die relevanten Tatumstände mit Sicherheit aufgeklärt sind. Und wie in den strafrechtlichen Fällen, so sollte man auch hier davon ausgehen können, daß eine materielle Gerechtigkeit der Urteile im wesentlichen von der materiellen und rechtlichen Richtigkeit derselben abhängig ist. Daß die, denen Recht nach dem objektiven Recht zusteht, auch Recht bekommen, wird z. B. nach der deutschen Doktrin als eines der wichtigsten Ziele des Zivilprozesses angesehen.I3I Wenn es aber unsicher ist, inwieweit die materiellen Voraussetzungen der Normen erfüllt sind oder nicht, muß Stellung zur Frage genommen werden, wie große Sicherheit darüber überhaupt sinnvollerweise zu verlangen ist. Hier müßten solche Aspekte, wie die Möglichkeiten des Gerichts, überhaupt Kenntnis von der außergerichtlichen Wirklichkeit zu erlangen, beachtet werden. Wenn es eben um Fälle geht, wo es den Parteien selbst auferlegt ist, für den Beweisstoff zu sorgen, sind solche Möglichkeiten nicht gegeben. In indispositiven Fällen in Schweden und in Deutschland und in den speziellen Verfahrensarten in den USA können die Gerichte selbst den Beweis anordnen, aber auch dann sind die faktischen prozeßökonornischen Argumente und der Zeitaufwand zu beachten. Inwieweit die Tatsachenbehauptungen mit der außergerichtlichen Wirklichkeit übereinstimmen müßten und wie große Sicherheit darüber in Zivilfallen gefordert wird und gefordert werden kann, ist eine sehr schwierige und umstrittene Frage. Hauptsächlich beruht dies auf der Tatsache, daß es in Zivilfallen schwerer ist, gleichartige Stellung zugunsten nur einer Partei zu nehmen als in Straffallen. Wer das Risiko für die Unsicherheit tragen soll, wird zwar durch mannigfaltige objektive Beweislastnormen (burden of persuasion bzw. the risk of non-persuasion 132) geregelt. Rödig schreibt: "Es läßt sich mithin nicht bestreiten, daß der Richter häufig, . . . die Wahrheit nicht allein nicht findet, sondern gar nicht sucht". 133 Die Beweislastnormen bezeichnet er als "den schwarzen Peter", 130 "Das Recht der Mitbürger auf einen funktionierenden Mechanismus des Rechtssystems und der Konfliktlösung auf individueller Ebene, wie auch das Bedürfnis nach Handlungssteuerung durch die Tätigkeit der Gerichtshöfe und anderer Schlichtungsorgane ist ein Grundstein der Rechtsgesellschaft." Lindbiom 1989, 4. Meine Übersetzung. 131 Dies beruht u. a. auf der Auffassung, daß das Recht ein abstraktes Ordnungsystem ist, "dessen Normen an wirklichen Sachverhalte, nicht an deren Beweis, Rechtsfolgen knüpfen". Greger, 1. So auch z.B. Musielak 1975, 18. Leipold 1966, 23 ff. Bruns, 265. 132 McCormick, 947 ff. Emanuel 1988, 423 ff.

80 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

der dem Richter einen eleganten Ausweg in einer Situation eröffnet, wo er nicht "weiter weiß". 134 Sie sind auch als "eine Konkurserklärung der ganzen Rechtsanwendung" 135 oder eine "legitimierte Weise materiell fehlerhafte Urteile fällen zu können" 136 bezeichnet worden. Das Beweismaß besagt, was der Grad der Sicherheit ist bzw. sein soll, der in dem jeweiligen Fall zu verlangen ist. Das Beweismaß müßte aber Hand in Hand mit der Beweislast gehen, da erst festgestellt werden muß, wie große Sicherheit überhaupt zu verlangen ist, um zu wissen, wann diese objektiven Beweislastnormen überhaupt anzuwenden sind. Die objektiven Beweislastnormen besagen, wer das Risiko der zu großen Unsicherheit tragen soll. Die Partei, die das Risiko trägt, muß natürlich wissen, wieviel Risiko akzeptiert wird, um zu versuchen, ihre Verwirklichung zu verhindern. 137 Normen der objektiven Beweislast und der des Beweismaßes stehen demzufolge in engem funktionellen Zusammenhang.13S In den USA gilt das preponderance of the evidence als das allgemeine Beweismaß in Zivilsachen. In Deutschland und Schweden ist das preponderance of the evidence mit dem Namen Überwiegensprinzip bekannt, und es wird in Schweden in einigen Fällen kraft Gesetz oder sonst nur in der Praxis angewandt. 139 Dessen Anwendung ist in Deutschland von einigen Autoren als ein allgemeines zivilrechtliches Beweismaß verteidigt worden. 140 Andere meinen, daß es in bestimmten Fällen, wo die eine oder andere Partei sich in Beweisnot befindet, d. h. in den sog. Anscheinsbeweisfällen, angewendet werden könnte 141 . Das ist aber in der Praxis abgelehnt worden. 142 Das Überwiegensprinzip wird auch sonst im allgemeinen als rechtswidrig abgewiesen. 143 Rödig, 152. Rödig, 152. 135 Tybjerg, E., Bevisbyrden, K~benhavn 1906, 1. 136 Kosonen, Touko, Todistustaakkanonnin soveltamisalasta, (Über den Anwendungsbereich der Beweislastnonn) Suomen Lakimiesliiton koulutuskeskuksen kurssi Todistusharkintaja täysi näyttö, Helsinki 30-31.1.1986, 16. 137 "The preponderance standard is a measure of how much evidence the party bearing the burden of persuasion as to an issue must present in order to meet that burden." Emanuel 1992, 219. 138 Maassen, 11 ff. McConnick, 952 ff. James/Hazard, 243, 314-317. Ekelöf 1992, 83 ff. Lindeil 1987, 284 ff. Klami/Hatakka/Sorvettula, Burden of Proof, 119 ff. 139 Ekelöf 1992, 103 ff. 140 Motsch 1983, 36, 86, 91, 247. Maassen, 1 ff., 194. Kegel, 321. 141 Musielak 1975, 110ff. (für den Kausalitätsbeweis) Ders.: 1977, 470f. (nur soweit triftige Gründe für eine Herabsetzung des Beweismaßes vorliegen). Vgl. auch Nell, 210 ff. 133 134

C. Der Zivilprozeß

81

Nach dem amerikanischen preponderance-Maß ist per definitionem zugunsten der Partei zu entscheiden, die ihren Fall mit einem überwiegenden Beweis erlangt hat. Es ist nicht erforderlich, daß der Fall im Licht des Beweises als "wahr" bewiesen ist, sondern nur, daß er wahrscheinlicher ist als der von der Gegenpartei behauptete Fall. 144 Hart und McNaughton haben diese amerikanische Auffassung auf folgende Weise beschrieben 145 : "In judging the law's handling of its task of fact-finding in this setting, it is necessary always to bear in rnind that this is a last-ditch process in which something more is at stake than the truth only of the specific matter in contest. There is at stake also that confidence of the public generally in the impartiality and fairness of public settlement of disputes which is essential if the ditch is to be held and the settlements accepted peaceably. The law does not require absolute assurance of the perfect correctness of particular decisions. While it is of course important that the court be right in its deterrninations of fact, it is also important that the court decide the case when parties ask for the decision and on the basis of the evidence presented by the parties. A decision must be made now, one way or the other. To require certainty or even nearcertainty in such context would be impracticable and undesirable. The law thus comprornises." In den USA stellt man sich neutral zu den Konsequenzen eventueller Falschheit der Urteile. Die Risiken der Unsicherheit und des eventuell fehlerhaften Ausganges eines Verfahrens und dessen Konsequenzen werden im Namen der Unparteilichkeit und Gerechtigkeit in der Theorie zwischen der Parteien gleich verteilt. 146 Das Gericht ist bei dem Entscheidungsprozeß von der durch die Parteien vorgebrachten Information abhängig. Deswegen, um die Gefährdung der Unparteilichkeit und Billigkeit zu verhindern, müßte beiden Parteien die gleiche Chance gegeben werden, den Streit zu gewinnen. Das Gericht müsse nur dafür sorgen, daß den Parteien ein unparteiliches, neutrales Forum vorbereitet wird, wo die Streitigkeiten im BGHZ 24, 308. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 89 ff. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 4, 5. 144 "The most acceptable meaning to be given to the expression, proof by a preponderance, seems to be proof which Ieads the jury to find the existence of the contested fact is more probable than its nonexistence." McCormick, 956. Morgan, 84 f. Emanuel 1988, 433 f. Eggleston 1983, 129 ff. 145 Hart, Henry M Jr./McNaughton, John, Evidence and Inference in the Law. In: "The Hayden Colloquium on Scientific Concept and Method, edited by Daniel Lerner. 1958, 51-56. Siehe auch Hazard, The Adversary System, in Ethics in the Practice of Law, c.9. (1978). und Franke], Marvin, The Search for Truth: An Umperial View, 123 U.Pa.L.Rev. 1031 (1975). 146 Siehe z. B. Brook, James, Inevitable Errors: The Preponderance of the Evidence Standard in Civil Litigation. Tulsa L. J., 1982, 79-108. Hier 85 f. Winter, The Jury and the Risk of Nonpersuasion, 5 Law & Society Rev (1971), 337. Kaplan, 1071 ff. Kaye 1979, 34 ff. 142 143

6 Gräns

82 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

Rahmen der formellen Richtigkeit zum Ende kommen. Wenn das Gericht an sich kein spezielles Interesse hat, die Wahrheit zu erforschen, müssen die jeweiligen Parteien selbst sich bemühen, ihre Erhebungen zu beweisen. Das Gericht konstatiert nur, wem es besser gelungen ist. Die Neutralität des amerikanischen Denkens kann aber in Frage gestellt werden. In den USA nimmt man zwar im allgemeinen an, daß die sog. Grauzone, d. h. die Zone der Unsicherheit, zugunsten des Beklagten gerechnet wird. Nimmt man an, daß der Kläger die Version Vl vertritt und der Beklagte die Version V2, deren Glaubwürdigkeit im Lichte des vorgelegten Beweises (,....., Beweiswerte) B 1 und B2 sind, ist die Lage wie folgt: B1/V1

Hauptbeweis

B2/V2 Gegenbeweis B1

+ B2 < 1 Grauzone G[1 - (B1 + B2)]

Nun gibt es im Prinzip zwei Auslegungen der preponderance-Regel: BI> B2, BI

d. h., daß der Hauptbeweis stärker sein muß als der Gegenbeweis, die sog. Plausibilitätstheorie. 147

> B2 + G, d.h., die Grauzone kommt dem Beklagten zu, welches die traditionellere Betrachtungsweise ist.

In den USA geht man traditionell von der zuletzt genannten Alternative aus, was mit der Neutralität nur begrenzt vereinbar ist. 148 Dies zeigt sich vor allem in Situationen, wo sowohl der Hauptbeweis als auch besonders der Gegenbeweis schwach sind und die sich hieraus ergebende Grauzone zugunsten des Beklagten gerechnet wird. Das andere im amerikanischen Zivilprozeß angewandte sog. clear and convincing-Beweismaß ist per definitionem etwas höher als das normale preponderance of the evidence. Es wird in einigen speziellen Falltypen angewandt, 149 aber im allgemeinen gibt es eine Tendenz, dieses Beweismaß in equity-Fällen vorauszusetzen.150 Der Bedeutung materieller Richtigkeit der Urteile in solchen Fällen wird also mehr Gewicht gegeben als in normalen Zivilsachen. Was eigentlich die Ursache der Anwendung des höheren Beweismaßes in diesen Fällen ist, dafür habe ich keine einzige Erklärung gefunden, sondern es scheint mehr oder weniger von den speziellen Falltypen und Umständen in den einzelnen Fällen abzuhängen. 151 Allen 1995, 26 f. Vgl. auch Callen 1991, 485 ff. Allen, 1995, 23 ff. 149 McConnick, 960 f. Emanuel 1988, 436. 150 McConnick, 960 f. Emanuel 1988, 436. Z.B. in Iowa kann es nur in equityFällen angewandt werden. McConnick 960, Fn. 9. 147 148

C. Der Zivilprozeß

83

In Deutschland geht man davon aus, daß es die Aufgabe der Gerichte ist, aufgrund des vorgebrachten Beweisstoffes darüber zu entscheiden, "ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei" .152 In Schweden spricht man dagegen von einem Feststellen darüber, was in dem jeweiligen Fall "bewiesen" (styrkt) worden ist. 153 Die Frage, wie große Sicherheit im allgemeinen erfordert werden müßte, ist aber umstritten. Es müßte jedoch hinzugenommen werden, daß der deutsche Begriff "Vollbeweis"154 und der schwedische styrkt155 Anspruch auf eine größere als nur eine überwiegende Sicherheit erheben. Die in der Praxis und auch Doktrin angewandten Beweismaßgrade zeigen das deutlich. 156 In Schweden hat Ekelöf die Auffassung vertreten, daß es jedoch in einigen Zivilfallen für das Gericht weniger wichtig zu wissen ist, inwieweit die Urteile auch materiell richtig sind. 157 Auf der anderen Seite hat z. B. Lindell eine materielle Richtigkeit des Urteils für das wichtigste Ziel des Verfahrens gehalten. 158 Wir haben früher bemerkt, daß die Argumente gegen die Normzwecke betonende Betrachtungsweise damit begründet wurden, daß sie die materielle Wahrheit der Urteile außer acht lassen. Andererseits wird hervorgehoben, daß die konfliktlösende Funktion genau die Wahrheit in Einzelfallen wichtig findet. 159 Die Konfliktlösungsfunktion wird speziell in dem amerikanischen Rechtsdenken verteidigt. Dort wird aber die materielle Richtigkeit der Urteile gerade in Zivilsachen - im Lichte der Beweismaße - nicht gleich wichtig gefunden wie z.B. in Schweden und Deutschland. Die Konfliktlösungsfunktion (bzw. der subjektive Rechtsschutz) wird aber auch in den letztgenannten Ländern für die wichtigste - oder wenigstens für eine sehr wichtige - Aufgabe des Gerichts gehalten. Wichtig ist es deshalb zu bemerken, daß das Erfordernis der materiellen Richtigkeit der Urteile nicht davon abhängig ist, inwieweit entweder die konfliktlösende oder handlungsdirigierende Funktion betont wird oder nicht. Sie gehen in diesem Sinne gar nicht in dem Maße Hand in Hand, wie einige Autoren behauptet haben. 160 Wenn Urteile materiell richtig sind, werden positive Einwirkungen sowohl im Hinblick auf die Konfliktlösung als auch auf die McConnick, 960. Siehe unten Kap. VI.A.I. und li. 153 Siehe unten Kap. VI.D. 154 Siehe unten Kap. VI.A.III.l. 155 Siehe unten Kap. VI.D. 156 Siehe unten Kap. VI.B. und D. 157 Ekelöf 1992, 83 ff. Er betont jedoch, daß dies erst dann der Fall ist, wenn der Beweiswert das Beweismaß nicht erreicht hat. Ekelöf 1992, 91. 158 Lindeil 1987, 286 ff. Ders.: 1998, 434. 159 Lindeil 1987, 286 ff. Ders.: 1998, 434. 160 Siehe speziell Lindeil 1987, 286 ff. 151

152

6*

84 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

Normzwecke erfüllt. Wenn die Situation im Bewußtsein vom Irrtumsrisiko betrachtet wird und die Möglichkeit des Irrtums mitgerechnet wird, dann wird sich aber die Verschiedenheit zwischen den zwei Annäherungsweisen verdeutlichen. V. Die Bedeutung materieller Richtigkeit der Zivilurteile unter Berücksichtigung der Funktionen Es versteht sich, daß auch die Zivilnormen ideal funktionieren, wenn die Urteile materiell richtig sind. Deshalb kann auch hier gesagt werden, daß richtige Urteile eine bestimmte positive Wirkung haben, über die vor allem der Gesetzgeber zu entscheiden hat. Die denkbaren Folgen eines materiell fehlerhaften Urteils in Zivilsachen sind natürlich variierend, je nach dem vorliegenden Rechtsstreit. Liegt dem Urteil eine materiell fehlerhafte Sachlage zugrunde, ist die konfliktlösende Aufgabe an sich erfüllt worden. In einem Urteil wird zwar immer Recht dem die Pflicht eines anderen gegenübersteht - von irgend jemandem oder ein Rechtsverhältnis festgestellt. Wenn das Urteil aber materiell fehlerhaft ist, dann gilt danach ein dem materiellen Recht entgegenstehendes oder auf jeden Fall davon mehr oder weniger abweichendes Recht (und die daraus entstehende Pflicht) oder Rechtsverh!lltnis. 161 Wie die Parteien die Folgen eines solchen Urteils in der Wirklichkeit tragen können, hängt davon ab, unter welchen praktischen ökonomischen u. ä. Umstände sie leben und welche Möglichkeiten sie haben, sich von den eventuellen Verlusten wieder zu erholen. Geht es z. B. um das Verbraucherrecht kann folgendes vermutet werden: Größere Unternehmen, z. B. Versicherungsfirmen oder Produzenten, können ökonomische Verluste auch aufgrund eventuell fehlerhafter Urteile besser ertragen als einzelne Versicherungsnehmer oder Verbraucher. Geht es z.B. um class actions kann das natürlich in Frage gestellt werden. In solchen Fällen geht es oft um bedeutungsvolle Geldsummen, weil der Schadensersatz in der Regel aus zahlreichen einzelnen - obwohl an sich selbst vielleicht eher geringwertigen - Ersatzleistungen besteht. Geht es um ein Verhältnis zwischen zwei Unternehmern ist das Bild wieder ein anderes usw. Bezüglich der Bedeutung materieller Richtigkeit und der Funktionen des Prozesses könnte auf der theoretischen Ebene z. B. folgende Situation gedacht werden:

16 1

Vgl. Rödig, 100 ff.

C. Der Zivilprozeß

85

Angenommen, daß wir einen Fall haben, wo A (ein einzelnes Individuum) den B (einen Unternehmer) wegen Umweltverschmutzung vor Gericht verklagt hat. Wir nehmen ferner an, daß die Klage in materiellem Sinne begründet ist, A kann das Verschulden von B aber nicht vollständig beweisen, weil er keinen Zugang zu der Information hat, wie B sich genau verhalten hat. Die Klage wird demzufolge abgewiesen. Der (primäre) reparative Zweck der Normen wird in diesem konkreten Fall nicht erfüllt, und das hat Wirkung eben auf die präventive Funktion. B kann die umweltverschmutzende Wirksamkeit weiterführen, und andere ähnliche Wirksamkeit Ausübende ihrerseits wissen somit, daß die Wahrscheinlichkeit der privatrechtliehen Haftung in solchen Fällen unter gleichartigen Umständen gering ist. 162 A bleibt ohne Schadensersatz, und seine Zukunft ist von der Möglichkeiten, die Schäden selbst zu tragen, abhängig. Wir sehen auch hier, wie die präventive Funktion (dem ultimative Zweck) von der Erfüllung der reparativen Funktion (dem primäre Zweck) abhängig ist. Dies steht auch im Einklang mit der Auffassung, daß das Resultat der Konfliktlösung in einzelnen Fällen auf jeden Fall in gewissem Maße Voraussetzung der mehr allgemeinen handlungsdirigierenden Funktion ist, wie speziell Ekelöf betont hat. 163 Wird eine an sich begründete Klage abgewiesen, sind die Konsequenzen mit Betrachtung beider Funktionen negativ. Was geschieht aber dann, wenn die Klage materiell unbegründet ist, ihr aber trotzdem stattgegeben wird? Was unser Beispiel betrifft, wird also die Schadensersatzpflicht von B unberechtigt festgestellt. Das Erreichen der präventiven Funktion ist von der Erfüllung der reparativen Funktion abhängig. Deswegen wird auch der präventive Effekt stärker, je öfter den Klagen stattgegeben wird. Hat jetzt die materielle Fehlerhaftigkeit des Urteils vielleicht sogar eine positive Wirkung? Es gibt zwar Auffassungen, nach denen auch die fehlerhaften Entscheidungen Nutzen bringen können. Ekelöf hat behauptet, daß fehlerhafte Entscheidungen die Gesamtutilität der Rechtspraxis erhöhen können. Z. B. wenn ein Schuldner, der schon einmal seine Schuld bezahlt hat, aber keine Quittung verlangt hat, deswegen dieselbe Schuld zweimal leisten muß, so werden seine individuellen Rechte "auf dem Altar des Kreditlebens ge162 Dies gilt natürlich nur so lange, wie es jemandem gelingt, das Verschulden des B oder jemandes anderen in einer ähnlichen Situation zu beweisen. In Wirklichkeit hätte der Kläger die Möglichkeit, das "Anscheinsbeweis"-Instrument in Deutschland, "res ipsa loquitur" in den USA und ein reduziertes Beweismaß in Schweden auszunutzen. Dies ist jedoch in diesem hypothetischen Fall ohne Bedeutung. 163 Ekelöf, Vänbok, 75.

86 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

opfert", aber gleichzeitig wird die Beweisanforderung als ein leitendes Prinzip gefördert, und dadurch kann die Förderung des ganzen Kreditlebens (der Nonnzweck) gesichert werden. 164 Es ist jedoch sehr schwierig zu akzeptieren, daß materiell fehlerhafte Entscheidungen irgendeine positive Wirkung hätten, weil dadurch wenigstens indirekt auch akzeptiert werden müßte, daß einzelne Individuen in der Tat geopfert werden dürften. Dagegen kann gesagt werden, daß die möglichen Schäden im Lichte gerade der ultimativen Nonnzwecke in diesem Fall geringer sind. Aber mit diesen geringen Schäden bezüglich der Nonnzwecke müßten die negativen Konsequenzen für das einzelne Individuum verglichen werden. Die wichtigste Bedeutung müßte ein fehlerhaftes, der Klage stattgebendes Urteil für den Beklagten haben, weil die Konsequenzen in dem konkreten Fall gerade ihn belasten. Das Urteil bedeutet, daß die Wirksamkeit des B (z. B. ohne umweltverschmutzenden Effekt oder solch einen Effekt ohne sein Verschulden) ihn in ökonomische Schwierigkeiten führt, wenn sie ihn nicht finanziell sogar ganz vemichtet. 165 Andererseits bekommt A sein Recht auf Schadensersatz, das ihm tatsächlich jedoch nicht zusteht. 166 Wir sehen, daß die materielle Falschheit des Urteils eine mehr oder weniger große Bedeutung haben kann, wenn es um die Normzwecke und die Konfliktlösung geht, und da8 sie eigentlich in jedem einzelnen Fall oder wenigstens in verschiedenen Rechtsgebieten unterschiedlich sein können. Die materielle Fehlerhaftigkeit bewirkt, daß das Urteil anstelle dieser Funktionen die sog. Dysfunktionen 167 verursachen kann. Mit dieser ist, z. B. in unserem konkreten Fall gemeint, daß - wenn die Klage materiell begründet ist, aber trotzdem abgewiesen wird - statt Schadensverhinderung womöglich Schadenssteigerung die Konsequenz sein kann. 168 Andererseits kann angenommen werden, daß, falls der Klage unberechtigterweise stattgegeben wird, die Kosten ungerechtfertigt den Beklagten belasten, das Urteil aber trotzdem auf der allgemeinen Ebene Schadensverhinderung fördern kann. Das Urteil ist also nicht gleich schädlich, was die Nonnzwecke anbelangt. Wenn die Möglichkeit, daß der Irrtum in beiden Richtungen möglich ist, bedacht wird, muß also Stellung zu der Frage genommen werden, welche Ekelöf 1992, 91. Ders.: 1984, 232 ff. Siehe auch z.B. Lang, Normzweck und Duty of Care, München 1983, 119. Lorenz-Meyer, U, Haftungsstruktur und Minderung der Schadensersatzpflicht durch richterliches Ermessen, Tübingen 1971, 60. 166 Nach Rödig konstituiert das Urteil immer ein subjektives Recht. Wenn das Urteil fehlerhaft ist, gilt aber ein nach dem objektiven Recht nicht geltendes subjektives Recht. Rödig, 100 ff. Vgl. auch Ekelöf 1984, 244 f. 167 Hellner 1972, 307. Andersson, 322. 168 Hellner 1972, 307. Andersson, 322. 164 165

D. Vorläufige Zusammenfassung

87

dieser Möglichkeiten in Hinsicht der Funktion der Normzwecke weniger schädlich bzw. dysfunktional ist. Was die Straffälle betrifft, so wird ein fehlerhaftes stattgebendes Urteil (Verurteilung) aufgrund der Konsequenzen für den Angeklagten als viel schädlicher empfunden als ein fehlerhafter Freispruch. In Zivilsachen ist das Bild etwas komplizierter, weil es keine grundsätzlichen und rechtsstaatlich begründeten allgemeinen Prinzipien bezüglich des Schutzes der einen oder anderen Partei in derselben Hinsicht gibt. In Zivilfällen geht es demzufolge vielmehr sowohl um die Funktion und Zwecke der einzelnen Rechtsgebiete und Gesetze als auch um die Position der Parteien mit Betrachtung der eventuellen Konsequenzen der jeweiligen Urteile. 169 Demzufolge scheint es begründet zu sein, daß man in Zivilfällen im allgemeinen eine eher offene Stellung gegenüber dem Beweismaß nimmt als in Strafsachen. Das Problem ist nun, welche Fehlennarge erträglich ist. Eine vorsichtige Annahme ist, daß der allgemeine Steuerungseffekt des Systems trotz einer relativ großen Fehlermenge erhalten bleibt. Anders ist es vielleicht mit der Konfliktlösung an sich: Fehlendes Vertrauen in die Fähigkeit der Gerichte, richtige Entscheidungen zu treffen, kann solche Folgen haben wie z. B. alternative Formen für Konfliktlösung (Schiedsgerichtsbarkeit o.ä.). Es ist aber äußerst schwierig zu sagen, in welchem Maße Fehler bei der Konfliktlösung und Steuerung tatsächlich in Zusammenhang stehen und Bedeutung haben. Die Fehlerquote kennt niemand genau, und verschiedene Personen und Bevölkerungsgruppen können sehr unterschiedliche Auffassungen über diese Dinge haben. Das Vertrauen in die Richtigkeit und Gerechtigkeit - fehlendes oder festes, begründetes oder unbegründetes - ist aber eine relevante Tatsache.

D. Vorläufige Zusammenfassung Die Funktion der Rechtsanwendung als einem die Nonnen durchsetzenden Organ einer Rechtsordnung ist davon abhängig, was für eine Funktion dem Recht zugesprochen wird. Man muß jedoch davon ausgehen, daß 169 Es wird z.B. hervorgehoben, daß der Vorrang der reparativen Funktion des Schadensersatzrechts oft als selbstverständlich angenommen wird. Dies beruht auf dem Umstand, daß der Ausgangspunkt in schadensersatzrechtlichen Fällen der schon konstatierte Schaden ist; irgend etwas Negatives ist geschehen, Die Funktion der Normen ist es dann, die Position des Beschädigten wieder herzustellen. Diesen Ausgangspunkt haben viele Autoren kritisiert. Siehe z.B. Deutsch, E., Haftungsrecht. Erster Band: Allgemeine Lehren. Köln/Berlin/Bonn/München 1976, 68 f.; Lange, Herrn, Schadensersatz. 2. Aufl. Tübingen 1990, 9.; Larenz, Karl, Lehrbuch des Schuldrechts, Band I, 14. Aufl. München 1987, 424. Prop 1972: 5, 78 ff. Andersson, 323 ff.

88 2. Kap.: Zwecke und Funktionen des gerichtlichen Straf- und Zivilverfahrens

Normen erlassen worden sind, um irgendein Ziel, einen Effekt oder Zweck zu erreichen - sei es eine Garantie des Rechtsschutzes einzelner Menschen gegen die öffentliche Machtausübung oder ein unparteiisches, sicheres und billiges Verfahren durch das Prozeßrecht, die Vertragsfreiheit durch das Kaufrecht, die Verhinderung des schadenverursachenden Verhaltens durch das Schadensersatzrecht, den Schutz der Natur durch das Umweltrecht, den Schutz der Kinder durch das Familiemecht, den Schutz der Verbraucher durch Verbrauchergesetze oder das Verhindem der Kriminalität durch das Strafrecht. Durch Gesetze wird die gesamte soziale Ordnung der Menschen gesteuert. Das Funktionieren des Rechts in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist dann vor allem von der Effektivität und Sicherheit der Durchsetzung abhängig. Wenn man darauf vertrauen kann, daß jeder die ihm nach dem Gesetz anlastenden Verpflichtungen erfüllt oder daß jeder die ihm obliegenden Rechte verwirklichen kann oder daß jeder, der eine Straftat begangen hat, dafür auch haften muß, kann berechtigterweise erwartet werden, daß Personen sich im allgemeinen so verhalten, daß die Ziele, Zwecke und Effekte der Normen erreicht werden. Einzelne Verfahren sind deshalb keine von der allgemeinen Systemgemeinschaft isolierten Ereignisse, sondern eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Rechts und der Rechtsordnung im ganzen. Das Funktionieren der Rechtsordnung ist eben davon abhängig, wie das Recht und die Gesetze auf der konkreten Ebene funktionieren. Normen konkretisieren sich in der praktischen und faktischen Wirksamkeit, in Ereignissen, Verhalten, Umständen und Zuständen, die ihrerseits den Grund für die gerichtliche Normdurchsetzung bilden. Wenn das Gericht weiß, was in der Wirklichkeit geschehen ist, sind die Voraussetzungen für eine effektive und sichere Rechtsdurchsetzung erfüllbar. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, daß sich die gerichtlichen Urteile auf materiell richtige Tatumstände gründen. Unsicherheit über die faktische Sachlage bedeutet gleichzeitig Unsicherheit über das Funktionieren des Rechts zunächst in einzelnen Fällen. In solchen Fällen geht es bei der gerichtlichen Rechtsausübung um Urteile, die die Gefahr beinhalten, daß die Feststellung über die Rechte und Verpflichtungen der einzelnen Parteien Fehlentscheidungen trifft oder daß z. B. ein Unschuldiger verurteilt oder ein Schuldiger freigesprochen wird. Der Ausgang von Prozessen hat aber auch in einem weiteren Sinne eine erhebliche Bedeutung. Sind die einzelnen Urteile materiell fehlerhaft, werden auch die allgemeinen Normzwecke gefahrdet. Die ausschlaggebende Frage ist dann, inwieweit das Gericht diese Konsequenzen der eventuell materiellen Falschheit beachten soll oder nicht und wie ein solches Unterfangen zu bewerkstelligen ist. Eine Stellungnahme über die erforderte

D. Vorläufige Zusammenfassung

89

Sicherheit ist gleichzeitig eine Stellungnahme hinsichtlich der Effektivität der rechtlichen Zielverwirklichung. Die pragmatische Wahrheitstheorie geht von genau dieser Fragestellung aus. Sie setzt namentlich bestinunte Rationalitätsvoraussetzungen der Wahrheit voraus, weil sie die Frage stellt, wann es sich lohnt zu glauben, daß eine Tatsache zu recht besteht. Gehen wir aber von dem subjektiv-intuitiven Beweismaß aus, bleiben wichtige zweckrationale Fragen verdeckt, weil dieses Beweismaß nicht die Frage beantworten kann, eine wie hohe Sicherheit rationalerweise erlangt werden kann.

Kapitel //I

Materiell fehlerhafte Urteile A. Einleitung In der gerichtlichen Wirksamkeit der modernen Rechtsstaaten wird ein Anspruch auf eine richtige und unparteiische Lösung rechtlicher Probleme von Menschen erhoben. Urteile sollen auf dem jeweils geltenden Recht und den dem Gericht vermittelten Beweisen und der daraus bestehenden Sachlage beruhen. Unser Vertrauen auf die Erfüllung dieser zwei Bedingungen als dem Grundstein der rechtsprechenden Gewalt garantiert zum großen Teil das rationale Funktionieren der ganzen Gesellschaft. 1 Zuweilen stößt man jedoch auf Fälle, in denen ein Gericht auch der höchsten Instanz ein materiell falsches Urteil gefällt hat. Diese Fälle sind keiner Rechtsordnung fremd, und wann immer sie aufgedeckt werden, erschüttern sie die Fundamente der JustizausObung. Die Möglichkeit materiell fehlerhafter Urteile ist in der Theorie im allgemeinen anerkannt. Einigkeit herrscht darüber, daß man damit rechnen muß, weil gerichtliche Tatsachenerforschung fast immer mehr oder weniger unsicher ist. Im nächsten Teil wird untersucht, was mit materiell fehlerhaften Entscheidungen im allgemeinen gemeint ist, was zugrundeliegende Ursachen sind und ob irgend etwas über die zugrundeliegende Häufigkeit gesagt werden kann.

B. Fehlerhafte Verurteilungen und Freisprüche Das Verhindern fehlerhafter Verurteilungen ist einer der ausschlaggebendsten Zwecke des modernen strafrechtlichen Prozesses. Man könnte aber auch behaupten, daß dies nur eine Seite der Medaille sei. Man strebt nämlich auch nach materieller Wahrheit, was bedeutet, daß nicht nur fehlerhafte Verurteilungen, sondern auch fehlerhafte Freisprüche als unerwünschte Entscheidungen anzusehen sind. Aber das Verhältnis zwischen diesen zwei möglichen Arten von Fehlern ist nicht symmetrisch. Mit fehlerhaften Freisprüchen verglichen, werden fehlerhafte Verurteilungen als viel schwerwiegendere Fehler angesehen. Hierzu gibt es mehrere Aussagen. Die verbrei1

Vgl. z.B. Cohen 1977,4 ff.

B. Fehlerhafte Verurteilungen und Freisprüche

91

tete Auffassung ist, daß es besser ist, wenn zehn Verbrecher freigesprochen werden, als daß ein Unschuldiger verurteilt wird. Es wird auch hervorgehoben, daß ein Rechtssystem ohne fehlerhafte Verurteilungen völlig undenkbar ist. So hat z.B. Rattner, der fehlerhafte Verurteilungen in den USA untersucht hat, gesagt: "A system of law that never caught an innocent in its web would probably be so narrow that it would catch few of the guilty as wen. "2 Andererseits wird die Aufmerksamkeit auch darauf gerichtet, daß ein hohes Beweismaß - wie guilty beyond reasonable doubt - unweigerlich zu fehlerhaften Freisprüchen führt. 3 Diese Sachlage ist jedoch in weitem Maße akzeptiert worden. Das Ziel des Strafprozesses, die in Wirklichkeit Unschuldigen zu schützen, hat ein schweres und berechtigtes Gewicht in einem Rechtsstaat. Deswegen müssen auch fehlerhafte Freisprüche toleriert werden, und man ist im allgemeinen der Ansicht, daß das gegenwärtige soziale System sie auch ertragen kann. 4 Wenn es um die Sachverhaltserforschung einer Straftat geht, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Parteien und ihren Ressourcen und Möglichkeiten, die Sachlage zu untersuchen. Es kann sein, daß dem Gericht ein Beweis lediglich über die Schuld des Angeklagten vorgelegt wird, weil der Angeklagte selbst keiner Pflicht unterliegt, Beweise seiner eigenen Unschuld vorzulegen. Der Schuldbeweis kann eben auch in dem Maße schwach sein, daß er nicht für eine Verurteilung ausreicht, aber dies bedeutet in keiner Weise, daß der schwache Schuldbeweis gleichzeitig ein starker Beweis für die Unschuld des Angeklagten sei. Er kann trotzdem in Wirklichkeit schuldig sein. In solch einer Situation gibt es eine sog. Grauzone, eine Zone der Unsicherheit, die nach der Präsumption der Unschuld bzw. nach der Maxime in dubio pro reo zugunsten des Angeklagten gerechnet wird. Angenommen, daß die wichtigsten Ziele des Strafprozesses I. das Interesse, die Verbrechen und Delikte aufzuklären und 2. der Schutz eines Unschuldigen sind, könnte man begründet die Meinung vertreten, daß Polizei und Staatsanwaltschaft ex officio Aufmerksamkeit meistens auf Punkt 1. richten, vielleicht auf Kosten von Punkt 2. Das ist jedoch bis zu einem gewissen Grad durch die prozessuale Maxime in dubio pro reo ausgeglichen. Eine andere Sache ist die, daß die Faktenbasis fehlerhafter Verurteilungen, mit der Faktenbasis fehlerhafter Freisprüche verglichen, nicht ausgeglichen erscheint. 2

3 4

Rattner, 291. Ekelöf 1990, 65 f. Ders.: 1992, ll4 f. LaFave/Israel, 39. Ekelöf 1990, 18, 65 f.

92

3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

In einem Rechtsstaat sind fehlerhafte Verurteilungen fast undenkbar, es sei denn, daß die Informationen in eine falsche Richtung weisen oder mißverstanden werden. Typische Fälle sind irrtümliche Identifikationen oder meineidige Zeugen. Ein fehlerhafter Freispruch kann aufgrund der seihen Ursachen gedacht werden, aber in den meisten Fällen ist die Ursache für einen fehlerhaften Freispruch wohl Knappheit oder Mangelhaftigkeit der Information. Es gibt Positionen, die meinen, daß fehlerhafte Freisprüche im rechtlichen Sinne gar keine Fehlurteile sind, wenn sie aufgrund mangelhafter Information gefallt worden sind. Aber auch sie sind Irrtümer des rechtlichen Aufklärungssystems, entweder außer- oder innergerichtlich, und diese Irrtümer haben immer negative Konsequenzen, für die dieses System Verantwortung trägt. I. Verschiedene Ansichten der Schuld und Unschuld Fast alles kann kriminalisiert werden - Tun oder Unterlassen, Gedanken oder Aussagen; die angenommenen Tatbestandsmerkmale verschiedener Straftaten sind gleichermaßen vielfaltig. Deswegen beruhen Fragen von Schuld und Unschuld nicht nur auf Verhältnissen zwischen Fakten, sondern auch in hohem Maße auf Verhältnissen zwischen den Fakten und der Sprache. Folgende Typologie zeigt, daß bedeutungsvolle Verschiedenheiten zwischen Situationen innerhalb von Gruppen fehlerhafter Verurteilungen und Freisprüchen existieren können; sie können nämlich auf verschiedene Weise und mehr oder weniger fehlerhaft sein. II. Typologie der Irrtümer 1. Vollständiger Irrtum 1. Eine falsche Person wird verurteilt. Ein Verbrechen T ist geschehen, Y ist der Täter, aber X wird verurteilt. Ein Kommentar hierzu wird kaum benötigt. Eine andere Möglichkeit ist, daß eine falsche Person durch einen Irrtum als Mittäter angesehen wird (z. B. auf Grund des Berichtes eines anderen Angeklagten). In diesem Fall ist ein Verbrechen geschehen, der Täter Y wird verurteilt, aber darüber hinaus wird X irrtümlich als Mittäter verurteilt. 2. Kein Verbrechen T ist geschehen, aber irgendeine Person X wird für das vermutete Verbrechen verurteilt. Z. B. wird der Angeklagte wegen Mord verurteilt, aber das in Frage kommende Opfer ist an einer natürlichen Ursache gestorben oder hat Selbstmord begangen - es gibt auch

B. Fehlerhafte Verurteilungen und Freisprüche

93

Fälle, wo gar kein Opfer existierte, die fragliche Person ist nach einer gewissen Zeit wieder aufgetaucht.5 3. Der Täter wird freigesprochen. Ein Verbrechen T ist geschehen, Y ist der Täter bzw. Mittäter, wird aber freigesprochen. 2. Teilirrtum Diese Gruppe besteht aus Fällen, wo die strafrechtliche Haftung ganz oder teilweise, jeweils vom Inhalt der spezifischen Normen abhängig, fehlgehen kann. Normal für solche Fälle ist jedoch, daß der Angeklagte irgend etwas getan oder unterlassen hat, das unter dem externen Gesichtspunkt als kriminelles Verhalten betrachtet werden kann. 1. Der Angeklagte wird trotzfehlender krimineller Absicht verurteilt. (In einigen Fällen würde eine richtige Verurteilung die wegen Fahrlässigkeit sein). Andererseits kann der Angeklagte auch freigesprochen oder wegen Fahrlässigkeit verurteilt werden, trotz der kriminellen Absicht. 2. Der Angeklagte wird verurteilt, weil Entlastungsgründe mißachtet worden sind. In dieser Gruppe sind aber auch normative Elemente zu beachten - z. B. bezüglich der Klarheit/Unklarheit einer kriminellen Absicht, wenn der Angeklagte zur Tatzeit betrunken o. ä. gewesen ist.6 Übliche Entlastungsgründe sind Geisteskrankheit, Drogeneinfluß, Notwehr und error juris. Sie können die kriminelle Haftung ausschließen oder einschränken. Als Ursache fehlerhafter Urteile ist es natürlich möglich, daß die Entlastungsgründe wegen eines Irrtums entweder hinzugerechnet oder außer acht gelassen werden. 3. Irrtümer bei der Auslegung Diese Gruppe ist ziemlich heterogen, und man könne vielleicht behaupten, daß es unberechtigt sei, von fehlerhaften Verurteilungen oder Freisprüchen in diesem Sinne überhaupt zu reden, weil man durch die Auslegung eigentlich weder die Richtigkeit noch die Falschheit bestätigen kann. 7 Es Siehe z. B. Peters 1970, 27. Klami/Sorvettula/Hatakka, Dolus Probatus, 128 ff. Siehe auch Bedau-Badelet, 161 ff. 7 Alexy, 264-272, 410 f. Aarnio 1986, 158-185. Peczenik 1988, 59--63. Klami 1989, 60--68. Siehe auch z.B. Luhrnann, 1969, 57 ff. Ders.: Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1974, 15 ff. Wieacker, Fr., Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: Hermeneutik und Dialektik, Festschrift für H.-D. Gadamer, Bd. 2 hg. von R. Bubner/K. Cramer/R. Wiehl, Tübingen 1970, S. 311-391, hier 330. 5

6

94

3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

gibt jedoch Umstände, die das Behandeln solcher Fälle als Ursache der Irrtümer rechtfertigen. Verschiedene Theorien der juristischen Argumentation gehen in hohem Maße davon aus, daß 1. Rechtsfragen getrennt von Tatfragen behandelt werden müssen und können und daß 2. die juristische Argumentation erst dann beginnt, wenn die Tatsachen durch Beweiswürdigung festgestellt worden sind. Man setzt in der Theorie voraus, daß Tatsachen keine Schwierigkeiten in dieser Hinsicht mit sich bringen können, weil sie als aufgeklärt angenommen werden. Für gewöhnlich läßt man die Beweisfragen ganz außer acht, wenn verschiedene Entscheidungsalternativen anbefohlen werden. Solche Schreibtischauslegungen können sich jedoch als irrtümlich oder wenigstens als unzureichend erweisen, weil8 : a) Probleme der Beweislage zur Anwendung der Beweislastregeln benötigt werden, b) Ungewißheit über das Vorhandensein eines Entscheidungskriteriums das Gewicht desselben reduzieren kann. c) Entscheidungskriterien sehr oft mittels der jeweiligen Doktrin oder durch die Praxis fixierte Fragestellungen enthalten, die vielleicht in casu zu schwer zu bea.ntwoneu sina; anstelle ihrer werden 4arul vielleicht andere. Fragen gestellt oder andere Kriterien angewendet. Dieses Phänomen wird auch als Substitutionseffekt bezeichnet. In der strafrechtlichen Praxis sieht man die Wirkung dieser Aspekte schon darin, daß Staatsanwälte sehr oft zwei oder mehrere Anklagealternativen in einem einzigen Fall anwenden: der Angeklagte wird z. B. wegen Mordes oder wenigstens Tötung angeklagt. Das geschieht aufgeund der Unsicherheit des Beweises und deren Wirkung auf die eventuelle Auslegung der normativen Voraussetzungen und dadurch auf das Urteil. Ist die Existenz eines Tatbestandes - z. B. Planung und Absicht - nach der Meinung des Entscheidenden relativ unsicher, verlieren sie ihr Gewicht als Argument für die gröbere Straftat, aber sie können auf jeden Fall für die leichtere Variante derselben Straftat ausreichen. Man könnte natürlich in solchen Fällen auch von einem teilweisen irrtümlichen Freispruch sprechen; der Täter hat einen Mord begangen, wird aber wegen Tötung verurteilt.

Irrtümer bei der Auslegung, die auf diese Weise verflochten mit der Beweiswürdigung sind, sind gewöhnlich in folgenden Situationen denkbar: 1. Fehlerhafte Art der Straftat. Z. B.: Raub anstelle von Diebstahl (ein Irrtum, der den Grad der Gewaltausübung betrifft), oder Tötung anstelle von Mord.

2. Ein Irrtum bei der Wertung von erschwerenden oder mildemden Umständen. 8

Klami/Sorvettula/Hatakka, Law and Philosophy, 83.

B. Fehlerhafte Verurteilungen und Freisprüche

95

3. Ungerechtfertigte Haftung wegen strafbarer Fahrlässigkeit oder ungerechtfertigter Freispruch trotz strafbarer Fahrlässigkeit. Fahrlässigkeit ist ganz klar ein sprachlicher Ausdruck, der auf eine normative Wertung des faktischen Tuns oder Unterlassens eines Angeklagten hinweist. Z.B.: Wo ist die Grenze zwischen Absicht und Fahrlässigkeit? Um derartige Fragen zu beantworten, müßten die faktischen Umstände in Verbindung mit dem subjektiven Denken des jeweiligen Täters und mit der Hilfe allgemeiner Erfahrungssätze bewertet werden. Diese müßten ferner mit den normativen Voraussetzungen verglichen und bewertet werden. Es ist durchaus möglich, daß eine fehlerhafte Verurteilung auf der Würdigung der Fakten oder deren normativer Wertung oder sogar auf beidem beruht.

Es ist offensichtlich, daß sowohl die Risiken als auch die Ursachen für fehlerhafte Entscheidungen für verschiedene Typen von Straftaten und Delikte verschieden sind.9 Normalerweise spricht man von fehlerhaften Verurteilungen nur in dem Sinne, wie es oben unter den Gruppen "Vollständiger Irrtum" und "Teilirrtum" getan wurde. Was die Gruppe "Auslegungsirrtum" betrifft, so muß jedoch bedacht werden, daß hier die Unterschiede zwischen den aus Irrtum resultierenden Strafen und den "normalen" Strafen ohne Irrtum größer sein können als in vergleichbaren Situationen in den zwei anderen Gruppen. Es muß bemerkt werden, daß Auslegungsprobleme auch innerhalb der Gruppe "Vollständiger Irrtum" existieren können. Zum Beispiel ist es vielleicht nicht ganz klar, was der Angeklagte in Wirklichkeit gesagt oder getan hat, wie ein anderer Angeklagter das Sagen oder Tun verstanden hat und wie dies ferner im Lichte der strafrechtlichen Normen gewertet werden sollte. Dennoch gibt es Straftatbeschreibungen, wo Verstöße gegen eine besondere Sorgfaltspflicht (Unterlassen) durch konstruiertes (hypothetisches) positives Handeln bewertet werden; der Umfang solcher Pflicht kann eine sehr schwierige Auslegungsfrage sein. (Z. B.: Eine Person ist für das Wohlsein einer anderen verantwortlich. Oder: Wann wird ein Unterlassen als zum Mord ausreichend gerechnet?) Recht und Unrecht, Wahrheit und Unwahrheit sind oft Fragen von geringen Gradunterschieden.

m.

Ursachen der Irrtümer

Aufgrund verschiedener Ursachen, die später noch zu erörtern sind, ist es sehr schwierig, etwas über die relative Wichtigkeit und Häufigkeit verschiedener Typen von Irrtümern zu sagen. Dasselbe gilt für die Ursachen hinter den Irrtümern. Es reicht nicht aus zu behaupten, daß die fehlerhaften Infor9

Siehe z. B. Peters 1970, 24. Rattner 1983, 45 ff.

96

3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

mationen die Ursache für einen juristischen Irrtum sind. Immerhin ist es ja das Gericht, das die Entscheidung trifft, nicht die Information. Einiges kann jedoch bezüglich der fehlerhaften Informationen gesagt werden: 1. Daß die einem Gericht präsentierte Information irreleitend ist oder mißverstanden wird, beruht in dem jeweiligen Fall auf verschiedenen Umständen und Ursachen, je nach dem, um was für eine Straftatenoder Deliktgruppe es sich handelt. 10 2. In den meisten Fällen gibt es mehrere miteinander zusammenwirkende Faktoren, die zu einem fehlerhaften Urteil führen. 11 3. Eine der wichtigsten Ursachen des Irrtums sind vor allem fehlerhafte ldentifikationen. 12 Rattner hat nebenstehende Tabelle über verschiedene Ursachen für Irrtümer vorgelegt. 13 Rattner ist jedoch der Ansicht, daß eine einzige Ursache in den meisten der oben genannten Fällen vorherrschend ist, namentlich der Eifer der Polizei und der Staatsanwaltschaft, die Fälle aufzuklären. Er schreibt: ". . . the eagerness or urgency to solve the case, and the consequent case with which one having such feelings is willing to believe, on modest evidence of a negligible nature, that the culprit is in hand. The desire to obtain a conviction when one believes that the man at the bar is guilty may Iead to the temptation to use improper, unethical, and illegal means to obtain that conviction."14 Siehe z. B. Peters 1970, 24. Rattner 1983, 45 ff. R. Brandon/C. Daries, Wrongful Imprisonment. Mistak:en Convictions and Their Consequences, London 1973; sie präsentieren z.B folgende Faktoren: mistaken identifications, reliance upon confessions made by insane persons, perjury (in particular in sexual offences and more generally when criminals are used as witnesses). Rattner 1988, 290. Cohen 1983, 14 ff. 12 Loftus/Doyle 1988, 30 ff. Devlin Report on Identification in Criminal Cases, Chairman Rt. Hon. Lord Devlin, London 1976, spez. 149. Wrightsman, 138 ff. 13 Rattner 1983: 47. Ders.: 1988, 291. 14 Rattner 1988, 289. Es gibt mehrere Beispiele: In einem Fall in Wisconsin erklärte das Opfer, daß der Verbrecher ein Schwarzer war. Der Polizist hatte danach bei einer Gegenüberstellung dem Zeugen fünf Weiße und einen Schwarzen präsentiert. Der Polizist verteidigte das Vorgehen dadurch, daß die Zusammensetzung der Personengruppe den Mittelwert der Bevölkerung des Ortes repräsentierte. Ellison, K./Buckhout, R., Psychology and Criminal Justice, New York 1981, 115. Loftus hat jedoch die Meinung vertreten, daß das "Überreagieren" der Staatsanwaltschaft und des Polizisten oft unbewußt ist und ganz einfach auf dem Umstand beruht, daß sie selbst von der Schuldigkeit des mutmaßlichen Täters überzeugt sind. Aber eben darin liegt die eigentliche Gefahr. Sie schreibt: "The problem, in most cases, isn't malice; it isn't even incompetence. When police and prosecutors withhold evidence, twist the facts, or pressure their witnesses, they do so because they believe with full confidence and assurance that they have the right person in custody, and that it is their duty to see justice done. Once they say to themselves , we' ve got the right person, we have to get this person off the streets', they may not even perceive that 10

11

B. Fehlerhafte Verurteilungen und Freisprüche

97

Distribution of Types of Error Contributing to Wrongful Conviction

Type of Error Eyewitness misidentification Perjury by witness

f

Percent (relative)

Percent (adjusted)

100 21

48.8

52.3 11.0

10.2

Negligence by criminal justice officials

19

9.3

9.9

Pure error

16

7.8

8.4

Coerced confession

16

7.8

8.4

"Frame up" Perjury by criminal justice officials

8 5

3.9 2.4

4.2 2.6

Identification by police due to prior criminal record

3

1.5

1.6

3 14

1.5 6.8

1.6 -

100.0

100.0

Forensie science errors Other errors (missing data)

N = 205

Es muß hinzugefügt werden, daß besonders in dem adversary system, das typisch für das Common Law ist, eine solche "Gewißheit" des Staatsanwalts oft mit einer schwachen Verteidigung zusammenspielt, die entweder selbst nicht an ihren Fall glaubt oder auf andere Weise schwach ist. Als die britische Devlin Commission die Ursachen für Irrtümer aufgrund von Fehlidentifikation und darauf beruhenden falschen Verurteilungen analysierte, hat sie festgestellt, daß die schlechte Qualität der Verteidigung sehr oft zu miscarriage of justice geführt hatte. 15 Aber beide Faktoren sind oft mit einem anderen wichtigen Faktor kombiniert. Obwohl fehlerhafte Verurteilungen im allgemeinen keinen gemeinsamen sozialen Hintergrund haben, implizieren verschiedene Berechnungen, daß ungefähr 50% von solchen Fällen rückfällige Verbrecher betreffen. 16 withholding evidence or slightly distorting the facts is the wrong thing to do. But the problern doesn't end there, for misinformation can be communicated to the witnesses, who may ignore their doubts and misgivings, and testify confidently in court that they are absolutely convinced that the defendant is, indeed, the real criminal. In such circumstances, there is an increased risk that an innocent person will be convicted." Loftus/Ketcham, 10. 15 Devlin Report 1973. Die präsentierten Fälle beinhalten sehr viel Kritik gegen die Verteidigung. Dieselbe Bemerkung haben auch Brandon und Davies in ihrer Analyse in Wrongful Imprisonment, Mistaken Convictions and Their Consequences, London 1973, gemacht. 7 Gräns

3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

98

Rückfällige Verbrecher werden von der Polizei oft als die ersten mutmaßlichen Täter angenommen. Sie werden bei einer Gegenüberstellung und Täteridentifikation auch als erste herangezogen. Sie erwecken Mißtrauen sowohl bei der Polizei und Staatsanwaltschaft als auch beim Verteidiger und der Jury. Außerdem wird die Glaubhaftigkeit rückfälliger Verbrecher als Zeugen (z. B. als Alibizeugen) oft nur wegen früherer Strafen in Frage gestellt. In den USA kann die kriminelle Vergangenheit eines Zeugen oder Angeklagten als Beweis gegen seine Glaubhaftigkeit verwendet werdenY Ein solcher Beweis darf jedoch nicht mit dem Schuldbeweis vermischt werden, worauf die Jury immer aufmerksam gemacht wird. 18 Es gibt jedoch mehrere Untersuchungen, die das Gegenteil implizieren: Es wird behauptet, daß sich die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung bei Rückfälligen erhöht. 19 Eine ähnliche Wirkung ist in den sog. spillover-effect-Situationen bemerkt worden: In einem Prozeß, wo der Angeklagte für zwei oder mehrere miteinander vergleichbare oder ähnliche Straftaten gleichzeitig angeklagt wird, kann ein starker Beweis bezüglich einer der Straftaten den Beweiswert des Beweises hinsichtlich der anderen Anklagepunkte verstärken. 20 Der Zeugenbeweis wird im allgemeinen als sehr überzeugend angesehen. Die Zeugenpsychologie hat dies in mehreren Untersuchungen deutlich bewiesen. Vor allem Elizabeth Loftus hat die Wirkung des Zeugenbeweises auf die Jurymitglieder untersucht. In einer Untersuchung hat sie drei simulierte Jurygruppen angesetzt. Den Gruppen wurden drei verschiedene Arten von Beweisen vorgelegt21 : Rattner 1988, 290. Sein Sampie ist jedoch nicht repräsentativ. Emanue1 1988, 91 ff. 18 Emanue1 1988, 91 ff. 19 Siehe z. B. Doob, A. N./Kirschenbaum, H. M., Some empirical evidence on the effect of s. 12 of the Canada Evidence Act upon an accused. 15 Crim.L.Q. (1973), 88-96.; Hans, V./Doop, A. N., Section 12 of the Canada Evidence Act and the deliberations of simu1ated jurors. 18 Crim.L.Q. (1976), 235-253.; Sealy, A. P./ Comish, W. R., Juries and the rules of evidence. Crim.L.Rev. 1973, 208-223.; Wiss1er, R. L./Saks, M. J. On the inefficacy of 1imiting instructions: When jurors use credibility evidence to decide on guilt. 9 Law and Human Behaviour 37-48 (1985). In dieser Untersuchung haben Wissler und Saks festgestellt, daß ein solcher Beweis gar keine Einwirkung auf die Glaubhaftigkeitswertung hatte, aber doch für den Beweiswert über die Schuld. 20 Tanford, Sarah/Penrod, Steven/Collins, Rebecca, Decision Making in Joined Criminal Trials: The Influence of Charge Similarity, Evidence Similarity, and Limiting Instructions. 9 Law and Human Behaviour (1985), 319-337. Sie haben bemerkt, daß der spillover effect besonders in schwachen Fällen zu beachten ist, das heißt in Fällen, wo der Beweis auf jeden Fall in sich nicht allein für eine Verurteilung reichen würde. 21 Loftus, Elizabeth, Reconstructing Memory: The Incredible Eyewitness, VIII Psychology Today (1974), 116 ff. 16

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B. Fehlerhafte Verurteilungen und Freisprüche

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Gr. 1. Nur Indizienbeweis. 18% haben den Angeklagten verurteilt. Gr. 2. Derselbe Indizienbeweis und ein Zeuge, der später in Verruf gebracht wurde: der Zeuge konnte den Angeklagten auf keinen Fall gesehen haben. 68 % haben ihn trotzdem verurteilt. Gr. 3. Derselbe Indizienbeweis und ein Zeugnis ohne Verruf. 72% haben den Angeklagten verurteilt. In einer anderen, englischen Untersuchung erwies es sich, daß Fälle, in denen der Beweis nur aus einem Zeugenbeweis bestand, bis zu 74% mit einer Verurteilung endeten. Und in 50% von diesen Fällen gab es nur einen Zeugen. 22

Überraschend ist auch, daß der Zeugenbeweis oft als überzeugender angenommen wird als z. B. ein auf wissenschaftlichen Untersuchungen basierender Beweis.23 Sowohl Zeugenpsychologen als auch Juristen sind sich dessen bewußt, daß der Zeugenbeweis die schwächste Art des Beweises ist. 24 Auch Schneider z. B. hat festgestellt, daß viele der fehlerhaften Verurteilungen auf der Überschätzung des Zeugenbeweises beruhten.25 In Dänemark hat Eva Smith vorgeschlagen, daß man die Bedeutung, die der Identifikationen zukommt, durch ein Gesetz beschränken sollte. 26 Es gibt mehrere Erklärungen dafür, warum der Zeugenbeweis überschätzt wird. Die Entscheidenden haben vor allem viel zu wenig Information über das Gedächtnis der Menschen und werten den Zeugenbeweis demzufolge viel zu unkritisch. Mehrere Untersuchungen weisen aus, daß Personen sich im allgemeinen über die verschiedensten Fehlerquellen, welche die Zeugenaussagen beeinflussen, nicht bewußt sind, sondern zugrundeliegende Bewertungen mit allgemeinen, alltäglichen Erfahrungssätzen begründen. 27 Men22 Loftus 1980, 162. Siehe auch Pernod, S. D./Dexter, H. R., Juror Sensitivity to Eyewitness ldentification Evidence, 14 Law and Human Behaviour (1990), 185191. Cut1er, L. C./Penrod, S. D./Stuve, E. S., Juror Decision Making in Eyewitness Identification Cases, 12 Law and Human Behaviour, (1988), 41-55. 23 Loftus 1987, 25 f. 24 Loftus 1987, 25 f. Wrigstman 138 ff. Vgl. Cullison 1969, 575. Eggleston 1983, 195 ff. Schneider, 135. Musielak/Stadler, 20. Klami, DL 1992, 361 ff. Klarnil Sorvettu1a/Hatakka, DL 85 ff. 25 Schneider, 204 ff. mit Hinweisen. 26 Smith 1986, 378 ff., 610 f. Smith konstatiert mit Hinweis zu den amerikanischen und englischen Untersuchungen, daß es keinen Anlaß dazu gibt, daß die dänischen Zeugen in irgendeinem Sinne sicherer oder besser seien als andere. 27 Loftus, Elizabeth F./Ketcham, Katherine: The Malleability of Eyewitness Accounts, in: Lloyd-Bostock, Sally/Clifford, Brian R. (ed.): Evaluating Witness Evidence. Portsmouth 1983 159-171. Siehe auch z.B. Wells, Gary L./Lindsay, R. C. L., How do Peop1e Onfer the Accuracy of Eyewitness Memory? Studies of Performance and a Metamemory Analysis, in: Lloyd-Bostock, Sal1y/Clifford, Brian R (ed.), Evaluating Witness Evidence. Portsmouth 1983, 41-55. Hier 41- 53. Bender, 7*

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3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

sehen trauen dem eigenen Gedächtnis unbegründet viel zu viel zu, und deswegen vertrauen sie genauso unbegründet auch dem Gedächtnis anderer. 28 Sie glauben z.B. im allgemeinen, daß ein Zeuge um so glaubwürdiger ist, an je mehr Details er sich erinnern kann, obwohl die moderne Zeugenpsychologie genau das Gegenteil bewiesen hat. 29 Wie Menschen im allgemeinen, so können auch Zeugen die Glaubhaftigkeit ihrer eigenen Berichte oder der eigenen Gewißheit nicht selbst bewerten.30 Jedoch berichten mehrere empirische Untersuchungen, daß die durch die Zeugen selbst über den eigenen Vertrauensgrad geäußerten Meinungen eine große Bedeutung auf die Entscheidenden haben.31 Die Zeugen selbst sind meistens guten Glaubens, aber sie sind sehr empfänglich für die verschiedensten Fehlerquellen vom und während des Zeitpunkts des jeweiligen Geschehnisses, bis hin zum Ende der Aussage im Gericht. 32 Personen können leicht fehlgeleitet werden, und sie sehen und hören, was sie selbst für sich zu sehen oder zu hören erwarten?3 Ferner ist es z. B. typisch, daß R. 1985, 54.: "Alltagstheorien müssen nicht grundsätzlich - aber sie können falsch sein. " 28 Loftus 1987, 26. Dies.: 1980, 162. 29 Smith 1986, 461 ff. Eggleston 1983, 195 f. 30 Loftus/Doyle, 24 ff., 88 ff. Shepherd, J. W. 1983, 185 f. Identification After Long Delays, in Lloyd-Bostock usw. 173-187. Smith 1986, 602 ff., Dies.: 1992, 380 f. Bothwell, R. K./Deffenbacher, K. A./Brighman, J. C., Correlation of eyewitness accuracy and confidence: Optimality hypothesis revised. 72 Journal of Applied Psychology, (1987), 691-695. 31 Lindsay R. C. L./Wells, G. L./Rumpel, C. M., Can people detect eyewitness identification accuracy within and across situations? 66 Journal of Applied Psychology (1981), 79-89. Nach dieser Untersuchung hatten die Entscheidenden die Tendenz, Informationen über die Umstände, unter denen die Beobachtung stattfand und die den Beweiswert eines Zeugen beeinflussen, zu mißachten, wenn der Zeuge sich ganz sicher war oder sich als sicher bewertete. War der Zeuge "weniger sicher", haben sie dagegen auch die anderen Umstände beachtet. Ähnliche Resultate auch in Wells, G. L./Ferguson, T. J./Lindsay, R. C. L.,: The tractability of eyewitness confidence and its implications for triers of fact. 66 Journal of Applied Psychology, (1981), 688-696. Cutler, B. L./Penrod, S. D./Stuve, T. E., Juror Decision Making in Eyewitness Identification Cases, 12 Law and Human Behaviour (1988), 41-54. Sie haben zehn verschiedene Faktoren untersucht, die auf den Beweiswert eines Zeugenbeweises nach Zeugenpsychologie einwirken. Nur einer davon, namentlich der "witness confidence " hatte statistische Signifikanz für die Beweiswürdigung. Cutler & al. haben folgendes geschlossen: "We cannot conclude with certainty that jurors are placing too much weight on witness confidence, but the present study strongly suggests that relative to the other eyewitnessing factors, which had trivial effects on jurors' inferences, confidence is weighted disproportionately." Dies.: 53. Loftus 1987, 24 f. 32 Loftus 1980, 45-50, 77-118, 149-169. Dies.: 1987, 75- 85. Loftus/Greene, Edith, Waming: Even Memory for Faces May be Contagious. 4 Law and Human Behaviour, 1980, 323-334. Bender/Nack, 2-61. Bender, Hans-Uno, 97 ff. Wrightsman, 137-146.

B. Fehlerhafte Verurteilungen und Freisprüche

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die aufgrund mangelhafter Beobachtungen im Gedächtnis bestehenden Lücken durch an sich logische, aber ganz "eigene" Ausfüllerklärungen (Aussagen, Geschehnisse usw.) ausgefüllt werden34. Umstände, wie die Verkleidung des Täters, das Gefühl des Zeugen über den Grad der Gewaltausübung oder die Gewaltdrohung, der Zeitabstand zwischen dem Geschehnis und der Aussage oder Identifikation, die Instruktionen bei der Gegenüberstellung, der Umfang und die Struktur der Gegenüberstellung usw., wirken auf den Vertrauensgrad ein und beeinflussen dadurch den Beweiswert der Zeugenaussagen. 35 Es ist ferner nicht nur einer von diesen Faktoren, sondern eine Kombination mehrerer Faktoren, die es verursachen, daß Zeugen notwendigerweise

33 Loftus 1980, 39, 53-58. Nach Loftus kann die Erinnerung am leichtesten sofort nach dem Geschehnis beeinflußt werden. Z. B. die Aussage eines Fahrers nach einer Kollision: "Der andere hat nicht geblinkt. " kann zur Folge haben, daß andere Personen, die im selben Auto gesessen haben, glauben, daß der andere nicht geblinkt hat. Es hat sich auch erwiesen, daß solche Schäden später nicht mehr behoben werden können. Durch Hineinführen von Information in die Fragen, die der Person gestellt werden, wird oft ein Effekt herbeigeführt, nach dem die Personen sich faktisch an Details erinnern, die gar nicht mit dem wirklichen Ablauf übereinstimmen. Aufgrund dieser Gefahr sind Zeugen leitende Fragen im Gericht verboten. Inwieweit sie bei den Vorverhören angewendet werden, ist eine andere Sache. Andererseits kann auch die richtige Information Personen helfen, sich an mehr zu erinnern als an das, woran sie sich sonst erinnert hätten. Dies.: 1980, 63 ff. Alkohol hat einen das Gedächtnis verschlechtemden Effekt, StreB kann es verschlechtern, aber auch verbessern usw. Loftus 1980, 39, 53-58. Siehe auch dies.: 1987, 53 ff. Bender/Nack, 4-8, 26-41. 34 "This process of using inferences and probable facts to fill in the gaps of our memories has been called ,refabrication', and it probably occurs in nearly all of our everyday perceptions." Loftus 1980, 40. Bender/Nack, 21. 35 Siehe z. B. Shapiro, P./Penrod, S. D., A meta-analysis of the Facial Identification Literature. 100 Psychological Bulletin (1986), 139- 156. Cutter, B. L./Penrod, S. D., O'Rourke, T. E./Martens, T. K. , Unconfounding the effects of context cues on eyewitness identification accuracy. 1 Social Behaviour (1986), 113-134. Cutler, B. L./Penrod, S. D./Martens, T. K., The reliability of eyewitness identifications: The roJe of system and estimator variables. 11 Law and Human Behaviour (1987), 223-258. Cutler, B. L./Penrod, S. D./Stuve, E. S., Juror Decision Making in eyewitness Identification Cases, 12 Law and Human Behaviour (1988), 41-55. Loftus, E. F., Silence is not golden. American Psychologist, 38 (1983), 564-572. Deffenbacher, K. A. The influence of arousal on reliability of testimony. In S. M. A. LloydBostock and B. R. Clifford (eds.), Evaluating witness evidence. Chichester, Grat Britain: John Wiley & Sons. Buckhout, R. Eyewitness testimony. 231 Scientific American (1974), 23-31. Buckhout, R./Alper, A./Chern, S./Silverberg, G./Slomovits, M., Determinants of eyewitness performance on a lineup. 4 Bulletin of the psychonomic Society (1974), 191- 192. Buckhout, R./Figueroa, D./Hoff, E., Eyewitness identification: Effects of suggestion and bias in identification from photographs. 6 Bulletin of the Psychonomic Society (1975), 71- 74. Bender/Nack, 37 ff.

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3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

nicht einmal selbst wissen, was alles in ihren Berichten richtig oder falsch ist. 36 Eine andere Angelegenheit sind weiterhin meineidige Zeugen. Peters hat in seiner Arbeit "Zeugenlüge und Prozeßausgang" 122 Fälle von Meineid untersucht: 8 von 18 Straf- und 13 von 24 Zivilprozessen endeten aufgrund eines falschen Beweises mit einem fehlerhaften Urteil. Er hat festgestellt, daß Tausende von Fällen jedes Jahr in Deutschland wegen vorsätzlich falscher Aussagen zu fehlerhaften Entscheidungen führen müßten. 37 Er stellt jedoch fest, daß die Lügen in Straffällen meistens zugunsten des Angeklagten ausgegeben werden, so daß sie eigentlich nicht zu fehlerhaften Verurteilungen führen, sondern vielmehr zu fehlerhaften Freisprüchen. 38 Man muß jedoch betonen, daß die fehlerhafte und/oder unzureichende Information ein vom Gericht und den Entscheidenden unabhängiger Faktor ist. Was sind dann aber die Fehler und Irrtümer des Gerichtes und der Entscheidenden? Hirschberg hat den Kernpunkt getroffen, wenn er einen anderen Ausgangspunkt, namentlich die fehlende Kritik des Gerichtes und dessen Entscheidenden, als Ursache für falsche Feststellungen aufgewiesen hat. Er hebt folgende Irrtümer der Entscheidenden hervor: 1. unkritische Würdigung eines Anerkennens 2. unkritische Würdigung der Anklagen eines anderen Angeklagten 3. unkritische Würdigung der Zeugenaussagen 4. fehlerhafte Identifikation ~. Meineid 6. unkritische Wfudigung der Expertenzeugen.39 Auch Bender kritisiert die unkritische Stellung der Richter gegenüber den Zeugenaussagen.40 Obwohl die Theorie ganz einhellig über die Gefahren berichtet, haben die Richter nach Bender in der Praxis nicht viel getan, diese Gefahren bei der Beweiswürdigung zu beachten.41 Die Beurteilenden glauben, mit einem hohen Grad an Gewißheit zu operieren, anstatt kritisch sowohl gegenüber den Zeugen als auch gegenüber sich selbst eingestellt zu sein. Die amerikanischen Untersuchungen stützen diese These. Dort werden jedoch Zeugenpsychologen immer häufiger als Sachverständige benutzt.42 36 Loftus/Doyle, 56 ff., 75 ff. Smith 1986, 571 ff. Siehe auch z. B. Döhring 1964, 92 f. Schneider 1971, 135. Eggleston, 189 ff. Klami DL, 373 ff. Klami/Sorvettula/ Hatakka, DL 85 ff. 37 Peters 1939, 172. 38 Peters 1970, 21 f. 39 Hirschberg, Max, Das Fehlurteil im Strafprozeß. Zur Pathologie der Rechtsprechung, Stuttgart 1960 (Die Punkte folgen die Systematik: in dem I Teil des Buches). 40 Bender, R. 1985, 53. 41 Bender, R. 1985, 53. 42 Siehe z. B. Cutler, B. L./Penrod, S. D./Dexter, H. R., The Eyewitness, the Expert Psychologist and the Jury. 13 Law and Human Behaviour (1989), 311 ff. und die dort genannten Autoren. Cutler/Dexter/Penrod, Expert Testimony and Jury

C. Materiell fehlerhafte Urteile in Zivilsachen

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C. Materiell fehlerhafte Urteile in Zivilsachen Die materielle Richtigkeit auch der zivilrechtliehen Urteile müßte als das ideale Ziel angenommen werden. Wie groß die Sicherheit, die hinsichtlich der Richtigkeit der Tatsachenfeststellung verlangt wird, sein muß, ist jedoch unterschiedlich, je nach dem Land, das Gegenstand dieser Untersuchung ist. Das Gesetz verlangt in keinem der Länder eine absolute Sicherheit, und auch das strafrechtliche beyond reasonable doubt-Maß ist als zu hoch für die Zivilsachen angesehen worden. Man ist bereit, ein größeres Irrtumsrisiko in beiden Richtungen, d. h. sowohl fehlerhafte Stattgebungen als auch fehlerhafte Abweisungen, zu dulden. Man geht davon aus, daß die Folgen einer materiell fehlerhaften Entscheidung in Zivilsachen zwischen den streitenden Parteien unbefangener zu verteilen sind als in Strafsachen. In Common-law-Ländern wird, wie bekannt, ein allgemeines zivilrechtliebes Beweismaß von preponderance of the evidence angewendet, weil dadurch eine gerechtfertigte Risikoverteilung garantiert werden soll43 : ein eventueller Verlust wegen einer fehlerhaften Entscheidung soll in der Theorie beide Parteien gleich stark treffen. Es scheint jedoch im Lichte der verschiedenen empirischen Untersuchungen so zu sein, daß preponderance of the evidence nach der Meinung von Richtern und Geschworenen nicht immer mit dieser Auffassung übereinstimmt, sondern wenigstens in einigen Gruppen von Fällen mehr als eine Sicherheit von 51% verstanden wird. 44 Auch das, nach der allgemeinen Auffassung etwas höhere Maß von clear and convincing evidence, welches eine eher unsymmetrische Risikoteilung bedeutet, wird unterschiedlich verstanden. 45 In Civil-law-Ländern wird das preponderance of the evidence-Beweismaß meistens als zu niedrig empfunden. In Schweden hat sowohl der Gesetzgeber als auch die Rechtspraxis in einigen Fallgruppen dies schon akzeptiert. 46 In Deutschland hat man über die Revidierung des zivilrechtliehen Beweismaßes für bestimmte Fallgruppen diskutiert, aber die Praxis zusammen mit der h. M. hat bis jetzt das Maß des Vollbeweises, d. h. "die persönliche Überzeugung des Tatsachenentscheidenden über die Wahrheit in der Sache", regelmäßig verteidigt und gefordert.47

Decision Making: an empirical Analysis. 7 Behavioral Seiences & the Law (1989), 215-225 und die dort genannten Autoren. 43 Siehe unten Kap. II.C.lll. 44 Siehe unten Kap. VI.C.I. 45 Siehe unten Kap. VI.C.I. 46 Siehe unten Kap. VI.E.III und Kap. VII.H.I. 47 Siehe unten Kap. VI.B.

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3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

Wenn man die Beweislage in Zivilsachen mit der Beweislast in Strafsachen vergleicht, muß die Aufmerksamkeit zunächst auf den allgemeinen Untersuchungsmechanismus und die Rolle der Parteien gerichtet werden. In jedem Rechtsstaat gibt es einen öffentlichen Untersuchungsapparat, der die Wahrheit in Strafsachen erforschen soll, namentlich den der gesamten Kriminaluntersuchung (Polizeikomrnissariate, Kriminallaboratorien mit größter Kenntnis der verschiedensten technischen, chemischen und psychologischen Feinheiten). In den meisten Zivilsachen gilt das Verhandlungsprinzip bzw. die Dispositionsmaxime - in Common-law-Ländern als adversary system gekannt -, nach der die Parteien bestimmen, welche Tatsachen sie dem Gericht zur Entscheidung unterbreiten und welche Tatsachen beweisbedürftig sind. Die Parteien kümmern sich zwar nicht nur um die Wahrheit, sondern auch und vielleicht mehr um den Erfolg: nämlich das Gewinnen des Rechtsstreits. Keine Partei braucht Umstände, die gegen sie selbst sprechen, zur Kenntnis zu bringen, und nur in Ausnahmefällen kann ein Beweisgegner verpflichtet werden mitzuwirken. Es ist klar, daß Gerichte z.B. nur aufgrund dieser Umstände oft mit großer Unsicherheit operieren müssen. In Fällen, wo die Untersuchungsmaxime den Prozeß leitet, wie z. B. in Kindes- und Entmündigungssachen, hat jedoch das Gericht von Amts wegen die ftlr die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu ermitteln, in den Prozeß einzuführen und die zugrundeliegende Wahrheit festzustellen. In solchen Fällen kann das Gericht deshalb selbst versuchen, die Unsicherheit zu vermindern. Dabei kommen aber Abwägungen wie Prozeßökonomie und Zeitaufwand zur Beachtung. Wie sehen dann die Irrtümer auf der zivilrechtliehen Seite aus? Man kann auch hier von einer Dreiteilung ausgehen, wie im nächsten Teil gezeigt wird.

I. Typologie der Irrtümer 1. Vollständiger Irrtum

Ein vollständiger Irrtum ist vorhanden, wenn eine materiell berechtigte Klage im Ganzen abgewiesen wird oder einer materiell unberechtigten Klage trotz ev. Bestreitens des Beklagten im Ganzen stattgegeben wird. Es gibt hier mehrere Alternativen, je nach der Art der Klage und ihrem jeweiligen Inhalt: z. B. unberechtigte Doppelleistung/keine Leistung trotz materieller Gründe für die Leistungspflicht, eine unberechtigte Schadensersatzpflicht bzw. eine nicht stattgegebene, aber in der Wirklichkeit begründete Schadensersatzpflicht oder eine unberechtigte Feststellung eines eigentlich nicht existierenden Rechts.

C. Materiell fehlerhafte Urteile in Zivilsachen

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2. Teilirrtum Von einem teilweisen Irrtum kann in solchen Fällen gesprochen werden, wo einer Klage im Ganzen stattgegeben worden ist, obwohl nur eine teilweise Stattgebung berechtigt gewesen wäre, oder wenn einer Klage nur zum Teil stattgegeben wird, obwohl sie im Ganzen berechtigt war. Auch hier gibt es die verschiedensten Alternativen. Z. B.: der Kläger hat eine Schadensersatzklage erhoben und den Beweis über das Verschulden des Beklagten angeführt. Der Beklagte führt aber den Beweis über das in der Wirklichkeit eben auch existierende Mitverschulden des Klägers an, aber ohne Erfolg, und der Klage wird fehlerhaft stattgegeben. Ein anderes Beispiel ist z. B., daß ein gemischtes Rechtsgeschäft, Darlehen und Schenkung, nur als Darlehen oder nur als Schenkung angenommen wird. 3. Irrtümer bei der Auslegung

Ein Irrtum bei der Auslegung in zivilrechtliehen Prozessen beruht auf denselben Gründen, die schon unter demselben Titel bezüglich des Strafprozesses behandelt wurden; Tatfragen sind in einigen Fällen mit Rechtsfragen verflochten. Das Verflochtensein ist offensichtlich speziell dann zu beobachten, wenn Entscheidungskriterien solche Begriffe enthalten, die nicht endgültig definiert sind. Solche vagen Begriffe sind z. B. "Fahrlässigkeit", "Treu und Glauben" oder "guter Handelsbrauch". Diese und ähnliche Begriffe werden als Tatbestand in den verschiedensten Normen angewandt. Das Problem liegt darin, daß man von Termen wie "Wahrheit" oder "Wahrscheinlichkeit" mit derartig vagen Begriffen überhaupt nicht sprechen kann, weil sie Wertungen voraussetzen. Z.B. um Fahrlässigkeit oder bona/ mala fides auszuschließen, müßten, außer den in dem verhandelten Fall vorliegenden faktischen Umständen, oft hypothetische Fälle als Kriterien angewendet werden: Was hätte die Person machen sollen oder können, was hätte die Vertragspartei wissen müssen oder machen können? usw. Die Fragestellung enthält nicht nur die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit der Fakten aufgrund des jeweiligen Beweismaterials, sondern auch ihre rechtliche Wertung, die wegen der Unsicherheit über die faktischen Umständen sehr schwer sein kann. Döhring hat schon im Jahr 1963 geschrieben: "In den Fällen, wo sowohl die Rekonstruktion des Tatbestandes als auch die rechtliche Beurteilung zu Zweifeln Anlaß gibt, stellt die Entscheidung der Tatfrage häufig den eigentlich schwierigen Teil des Rechtsfindungsvorgangs dar. Sie bringt für die Ermittlungsbehörden und Gerichte oft ein beträchtliches Irrtumsrisiko mit sich, während die rechtliche Lösung, die vielfach nicht allein am Gesetz ausgerichtet, sondern in gewisser Weise auch noch durch das Rechtsgefühl

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3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

überprüft wird, nicht so leicht gänzlich verfehlt sein kann. Nur bei Berücksichtigung dieser Momente läßt sich die große Bedeutung ermessen, die der Feststellung des Sachverhalts für die gesamte Justizübung zukommt."48

Ein interessantes Beispiel der Verflochtenheit des Rechts und der Fakten ist die amerikanische mixed law and fact-Situation in dem Richterverfahren, unter Berücksichtigung der sog. clearly erroneus test in Berufungsverfahren. Das Berufungsgericht ist in der Regel an die Tatsachenfeststellung des Richters gebunden.49 Dies gilt jedoch nicht, falls sie eindeutig fehlerhaft ist, was dann der Fall ist, wenn ".. .although there is evidence to support the finding, the reviewing court on the entire evidence is left with the definite and firm conviction that a mistake has been committed. " 50 Dies gilt, aber nicht conclusions of law. In der mixed law and fact-Situation ist es möglich, daß "the distrief court's finding of fact derives directly from his conclusion of law". 51 Dies ist z. B. dann der Fall, wenn das Gericht as a matter of fact die Fahrlässigkeit des Beklagten festgestellt hat, die Feststellung aber auf einer rechtlichen Auslegung des Fahrlässigkeitsbegriffs basiert.52 Es gibt zwei Alternativen: 1. das Berufungsgericht konstatiert, daß correct rule of law angewandt worden ist, in welcher Situation clearly erroneus test zuläßig ist, oder 2. es konstatiert, daß incorrect rule of law angewandt worden ist und der Test nicht zuläiiig ist, soudem als reversible error behandelt werden muß.53 In der zweiten Situation - wenn das Berufungsgericht z. B. konstatiert hat, daß die Feststellung über die Fahrlässigkeit auf eine erroneus understanding of the duty of care owed by the defendant to the plaintiff basiert, muß das Berufungsgericht das Urteil aufheben und die Sache zurück an das Untergericht for further findings of fact consistent with its holdini4 geben. Die diesbezügliche Problematik ist in der amerikanischen Rechtspraxis hochkompliziert; auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Eine vorsichtige Vermutung ist, daß die scheinbar normähnlichen Begründungen

Döhring, 2. 52(a) FRCP. Emanuel 1992, 227. 50 U.S. v. United States Gypsum Co., 333 U.S. 364 (1948). Dies gilt fast nie der Glaubwürdigkeit eines Zeugen: "[W]hen a trial judge's finding is based on his decision to credit the testimony of one of two or more witnesses, each of whom has told a coherent and facially plausible story that is not contradicted by extrinsic evidence, that finding, if not internally inconsistend, can virtually never be clear error." Anderson v. Bessemer City, 470 U.S. 564 (1985). Bezüglich "documentary evidence" ist die Situation nach der 52(a) FRCP die gleiche. s1 Emanuel 1992, 228. 52 Emanuel 1992, 228. 53 Wright, 689-693. Emanuel 1992, 228 f. 54 Emanuel 1992, 229. Meine Kursivierung. Wright, 689-693. 48

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C. Materiell fehlerhafte Urteile in Zivilsachen

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in diesen Fällen letzten Endes ein Streben nach konkreter, kasuistischer Gerechtigkeit widerspiegeln.

II. Ursachen der Irrtümer Die größte Ursache materiell fehlerhafter Urteile auch im Zivilprozeß sind Irrtümer der Zeugen. 55 In zivilrechtliehen Fällen geht es im Unterschied zu strafrechtlichen nicht so oft um Identifikationen und Beobachtungen von faktischen Geschehnissen, wie wer was rein physisch getan hat, sondern vielmehr z. B. um Wiederholungen verschiedener Diskussionen zwischen Parteien oder ihren Vertretern. Wenn z. B. der Inhalt eines Vertrags den Streitgegenstand bildet, geht es sehr oft um den Zeugenbeweis von Aussagen der Parteien durch andere "dabeigewesene" Personen. Die Frage ist dann nicht nur, wer was gesagt hat, sondern auch, was damit gemeint war. Menschen haben eine Neigung, Aussagen anderer nicht nur zu vergessen, sondern auch auszulegen. 56 Zeugen sind außerdem manchmal sehr empfanglieh für Aussagen, die andere Leute nach dem eigentlichen Geschehnis machen, z. B. Vertragsverhandlungen, unter Diskussion der jeweiligen Sache oder des Geschehnisses. Es ist auch bemerkt worden, daß z. B. Arbeitnehmer sehr empfanglieh für die Aussagen der Arbeitgeber sind. Die autoritäre Stellung der Arbeitgeber und seiner Vertreter erhöht die Überzeugungskraft der Aussagen. Und was sehr wichtig ist, dies geschieht oft, ohne daß die Personen sich selbst darüber bewußt sind. Zeugen sind in gutem Glauben, aber können trotzdem fehlerhafte Aussagen abgeben. Ein Problem vor allem bezüglich der sehr verwickelten und komplizierten Zivilsachen ist, daß die Richter und Geschworenen oft in hohem Grad von dem Inhalt der Sachverständigenaussagen abhängig sind. Es ist nicht selbstverständlich, daß Richter und Geschworene lange Beweisketten z.B. in betriebswirtschaftliehen oder medizinischen Ursache-Wirkung-Beziehungen überhaupt gut genug verstehen. Sie sind zwar nicht an diese Aussagen gebunden, aber wenn sie selbst solche Beweisketten nicht bewerten können, kann ein überzeugender, wenn auch parteiischer Sachverständiger sie sicherlich überzeugen. 57 Peters hat die Häufigkeit meineidiger Zeugen auch in Zivilsachen, untersucht. In 13 Fällen von 24 fehlerhaften Urteilen war die zugrundeliegende 55 Siehe z.B. Bruns, 278: "Der Beweiswert der Zeugenaussage ist nicht nach generellen Regeln bestimmbar. Sie ist das geschwätzigste, aber unzuverlässigste Beweismittel der Prozeßordnung." Kursivierung im Original. 56 Siehe Loftus/Doyle, 75 ff., 83 ff. 57 Siehe z. B. Klami/Hämäläinen, 78 f.

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3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

Ursache nach seiner Untersuchung ein meineidiger Zeuge.58 Die Bedeutung meineidiger Zeugenaussagen in Zivilsachen ist sicherlich nicht ganz so einseitig wie in Strafverfahren - nach Peters in der Mehrzahl der Fälle zugunsten des Angeklagten59 -, sondern kann zufällig zugunsten der einen oder anderen Partei ausfallen. Die Gefahr, Meineid zugunsten der einen oder anderen Partei zu begehen, kann natürlich in solchen Situationen größer sein, wo der Zeuge auf irgendeine Weise abhängig von der jeweiligen Partei ist. Das Gericht kann natürlich keine Verantwortung für derartige Fehlerquellen tragen, aber es muß I. im Bewußtsein der Möglichkeit der Fehlerquellen arbeiten, 2. ihr Vorhandensein im jeweiligen Fall untersuchen und 3. das Resultat solch einer Erforschung auf den Beweiswert verschiedener Beweismittel einwirken lassen.60 Auf dem Gebiet des Zivilrechts muß außerdem besonders daran gedacht werden, daß die Möglichkeiten der Parteien, Beweis für ein eventuelles Verfahren schon vorher zu sichern, oft begrenzt ist. Darüber hinaus können solche Möglichkeiten allein wegen ökonomischer Ungleichheit und/oder Informationsungleichheit unterschiedlich für die Parteien sein. Man braucht z.B. nur an Versicherungsfirmen oder Produzenten gegen einen Verbrauchern zu denken oder an Krankenhäuser und Ärzte gegen einen Patienten. Aber viel schlechter sind oft die Möglichkeiten der Parteien, einen fremden Beweis vorzulegen, der zugunsten ihr selbst Einfluß haben könnte. Hier können nämlich Beweisführungs- und Beweislastregeln oft entgegen den Wahrheitsinteressen funktionieren. Niemand braucht - spezielle normgeregelte Fälle, wie z. B. die Vorlegung von Urkunden, ausgenommen Beweise über die für ihn selbst nachteiligen Umstände vorzulegen, obwohl es offensichtlich scheint, daß die Partei dazu in der Lage ist. Statt dessen hat man feste Beweislastregeln eingeführt, durch deren Stütze viele Rechtsfalle aus normativen Ursachen mit einer materiell fehlerhaften Entscheidung enden. Darüber hinaus kommen in vielen Fällen hohe und feste Beweismaßforderungen zur Hilfe, weil sie zusammen mit den Beweislastregeln in eine Richtung funktionieren. Es wird oft vergessen, daß es vielleicht allzu optimistisch ist, zu erwarten, daß solche hohen Beweiswerte, anders als nur in Ausnahmefallen, überhaupt erreicht werden können.

Peters 1939, 172. Peters 1970, 21 f. 60 Es ist hervorgehoben worden, daß Richter und Geschworene noch weniger kritisch gegenüber den Zeugenaussagen in Zivilsachen sind als in Strafsachen. Siehe Bender R. 1985, 53. 58

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C. Materiell fehlerhafte Urteile in Zivilsachen

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01. Frequenz materiell fehlerhafter Urteile

Es herrschen große Meinungsverschiedenheiten über die Häufigkeit von sowohl materiell fehlerhaften Verurteilungen als auch von materiell fehlerFreisprüchen. Was die materiell fehlerhafte Urteile in Zivilsachen anbelangt, so sind sie überhaupt nicht in gleichem Maße untersucht. Diese Lage ist verständlich. Wegen verschiedener Umstände ist es insbesonders schwer, ex post zu sagen, 1. ob ein Urteil materiell fehlerhaft gewesen ist, 2. wie häufig solche fehlerhaften Urteile überhaupt sind, 3. in welcher Richtung sie fehlerhaft sind oder 4. was die Irrtumsquote bezüglich verschiedener Straftaten und Delikte bzw. verschiedener Klagearten ist. Solche Umstände sind z.B.: 1. Die Frage von "Richtigkeit" und "Falschheit" ist wenigstens teilweise

eine Auslegungs/rage. In der klarsten Form muß mit der materiellen Richtigkeit die Situation gemeint sein, daß die Tatsachenprämisse mit der Wirklichkeit korrespondiert und mit der materiellen Falschheit eine Situation, wo die Prämisse nicht mit der Wirklichkeit korrespondiert. Aber in den Situationen eines Auslegungsirrtums können diese Definitionen nicht mehr angewandt werden.

2. Rechtsmittelsysteme sind je nach Land unterschiedlich. Einige - wie die nordischen Länder oder Deutschland - erlauben eine de novo-Würdigung des Beweises in ordentlichen Berufungsverfahren.6 1 Außerdem gibt es in diesen Ländern die Möglichkeit für einen speziellen Prozeß, wodurch an sich endgültige Entscheidungen revidiert werden können, um einen neuen Prozeß in derselben Sache - jedoch nur unter speziellen Umständen - zu ermöglichen. 62 In Common-law-Ländem ist eine neue Beweiswürdigung jedoch begrenzt, z. B. in den USA ist sie in den Straffallen überhaupt nicht möglich, wenn der Angeklagte in der ersten Instanz freigesprochen worden ist (die double jeopardy-Regel). Bezüglich einer Verurteilung ist es nur dann möglich, wenn die Entscheidungen gegen die Regeln der due process oder evidence verstoßen und demzufolge also ein Fehler in der Rechtsausübung und nicht nur in der Beweiswürdigung gemacht worden ist. 63 61 Welamson, 84-100, 110 ff. Ekelöf/Boman, 25, 47-66, 106 ff. In Deutschland "Berufung" und "Revision". Zivilsachen: Stein/Jonas, § 567-577a, Bruns, 412 f., 416 ff. Strafsachen: Löwe/Rosenberg, §§ 312-332 (Berufung), §§ 333-358 (Revision). 62 In Schweden RB 58 kap und spez. § 1, 2. u. 3. Punkte (Zivilsachen) und § 2, 3. u. 4. Punkte (Strafsachen). Siehe auch Welamson, 208-241. Ekelöf/Boman, 126143. In Deutschland, §§ 578-591 ZPO, §§ 359-373a StPO. 63 Siehe oben Kap. II.B.III. Wie die Grenze zwischen der Beweiswürdigung und der Rechtsausübung gezogen wird, ist aber sehr unklar.

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3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

3. Verschiedene statistische Daten geben oft ein mehr oder weniger schiefes und demzufolge methodologisch mangelhaftes Bild über die Situation. Im Folgenden werden einige statistisch meßbare Kriterien kritisch analysiert. 1. Berufungsquote

Was materiell fehlerhafte Freisprüche anbelangt, können die Berufungsschriften der Staatsanwälte untersucht werden. Ob Staatsanwälte Berufungen einlegen, hängt jedoch von verschiedenen Umständen ab: der Staatsanwalt muß das Rechtsschutzinteresse des jeweiligen Verdächtigen mit dem der Gesellschaft und/oder des einzelnen Opfers der Straftat vergleichen. Dabei kommt nicht nur das Wahrheitsinteresse, sondern auch das ZweckMittel-Verhältnis in Betracht. Es wird andererseits erwartet, daß die fehlerhaft Verurteilten selbst Berufung einlegen, auf jeden Fall dann, wenn das System ihnen Rechtshilfe garantiert. Aber auch hier gibt es mehrere Ursache dafür, weshalb solche Berufungsquoten vielleicht ein nicht ganz eindeutiges Bild von der Wirklichkeit geben können: die Verurteilten können Berufung einlegen, weil sie vielleicht nur Zeit gewinnen wollen, oder nur, weil sie dadurch nichts verlieren können; sie legen eine Beschwerde ein, in der Hoffnung freigesprochen zu werden, obwohl sie iD Wirklichkeit schuldig sind. Man kann natürlich über diese Dinge viel mehr spekulieren, aber eben darin liegt die Gefahr, daß es sich nur um Spekulationen handelt. Wenn aber die Freispruchs-/Verurteilungsquoten in Gerichten der ersten Instanz mit den Berufungsquoten verglichen werden, kann wenigstens einiges im Hinblick auf die Verurteilungsbereitschaft des strafrechtlichen Systems geschlossen werden: eine hohe Verurteilungsquote zusammen mit einer hohen Berufungsquote indiziert, daß die Entscheidenden einigermaßen bereit sind, fehlerhafte Verurteilungen zu akzeptieren, und daß es - in Hinsicht auf die Unzufriedenheit der Angeklagten - auch fehlerhafte Verurteilungen gibt. Solche Tendenzen ermöglichen aber keine numerischen Schätzungen. Ist die Berufung auf prozessuale Irrtümer begrenzt, wie i. d. R. in den USA64, hat die Berufungsquote natürlich noch weniger Bedeutung als ein 64 Es ist nach F.R.C.P. 50(b), 59 möglich, ein neues Verfahren wegen unzureichenden Beweises anzuordnen. Eine solche Möglichkeit gibt es auch in verschiedenen Einzelstaaten, z. B. in Kalifomien nach C.C.P. 629, 657 und 659. Die Möglichkeit ist jedoch viel begrenzter als in den Civil-law Ländern. Siehe z. B. Hazard/ Tait/Fletcher, 1237 ff. Louis, Post-Verdict Rulings on the Sufficiency of the Evidence, 1975 Wis.L.Rev. 503. Stafford v. Neurological Medicine, Inc., 811 F.2d 676 (8th Cir.1987). Die double jeopardy clause of the fifth Amendment verhindert in der Regel ein neues Verfahren in Straffällen. Es gibt jedoch einige Ausnahmen auch in

C. Materiell fehlerhafte Urteile in Zivilsachen

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statistisches Kriterium der eventuellen Fehlurteile. Das anglo-amerikanische System macht es in der Tat sehr schwierig, Fehlurteile in Angriff zu nehmen. Es ist unwahrscheinlich, daß die meisten prozessualen Fehler in solchen Fällen gemacht werden, wo die Angeklagten in Wirklichkeit unschuldig sind. Im Gegenteil, die Rücksichtslosigkeit der Polizei und der Staatsanwälte, die Fahrlässigkeit oder Vorurteile der Richter und Jurymitglieder drücken oft eine zugrundeliegende persönliche Überzeugung über die Schuld des Angeklagten aus. Daß ein Urteil aufgehoben und zurückverwiesen wird, sagt deshalb notwendigerweise nicht viel über seine materielle Richtigkeit. Ob dann ein neues Verfahren angeordnet wird oder nicht, ist auch ein sehr unsicherer Indikator; bei der Überlegung darüber, ob ein neues Verfahren beantragt wird oder nicht, hat sicherlich nicht nur die Schuldfrage Bedeutung, sondern auch ein Faktor wie der, was für ein neues Urteil zu erwarten ist. Sind ernsthafte Fehler schon in einem vorprozessualen Stadium begangen worden, kann es praktisch genommen unmöglich sein, ein neues gerechtfertigtes Verfahren anzuordnen. Dazu kommt, daß die Zeit zwischen dem ersten und dem neuen Verfahren oft so lang ist, daß die Glaubwürdigkeit der Zeugen in einem solchen Maße geschwächt ist, daß ein neues Verfahren vielleicht ganz einfach untauglich wäre. Untersuchungen über die Häufigkeit fehlerhafter Urteile in Zivilsachen sind schwer zu finden. Das ist keine Überraschung, weil man sich auch hier fragen muß: Wie kann die Falschheit konstatiert oder nur untersucht werden? Man kann auch hier die Häufigkeit der Berufungen und die dadurch gewonnenen Änderungen der Urteile in die eine oder andere Richtung und die Begründungen der Änderungen einigermaßen untersuchen. Aber auch dann würden die Resultate mehr oder weniger educated quesses, weil man nicht wissen kann, ob der Irrtum schon in der ersten Instanz begangen worden ist oder erst in der oberen Instanz oder ob derselbe Irrtum vielleicht in beiden Instanzen begangen worden ist. Anband der Berufung aufgrund von Fehlern bei der Beweiswürdigung könnte vielleicht etwas über die Häufigkeit fehlerhafter Urteile in Unterinstanzen aufgrund der Berufungsanträge gesagt werden. Es muß angenommen werden, daß die Unzufriedenheit der Parteien sich auf ihren Glauben an die Falschheit der Beweiswürdigung gründet, wann immer sie als Berudem Fall, daß der Angeklagte in der ersten Instanz freigesprochen wurde. Siehe darüber Sanabria v. United States, 437 U.S. 54, 98 S.ct. 2170, 57 L.Ed.2d 43 (1978). United States v. Jenkins, 420 U.S. 358, 95 S.ct. 1006, 43 L.Ed.2d 250 (1975). LaFave/Israel, 1074-1078. Nach einer Verurteilung ist ein neues Verfahren in der Regel verboten. Ball v. United States, 163 U.S. 662, 16 S.ct. 1192, 41 L.Ed. 300 (1896). Es ist aber möglich, ausnahmsweise auch in solchen Fällen ein neues Verfahren wegen unzureichenden Beweises oder fehlerhafter Beweiswürdigung zu erlauben. Burks v. United States, 437 U.S. 1, 98 S.Ct. 2141, 57 L.Ed.2d 1 (1978). LaFave/Israel, 1078-1083.

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3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

fungsgrund vorgelegt wird. Aber auch dann müßte man das Ergebnis der Berufungen aufgrund geänderter Beweiswürdigung untersuchen, nur um wissen zu können, wie oft die höheren Gerichte die Urteile unterer Instanzen als fehlerhaft angesehen haben, welches an sich nicht viel über die wirkliche Falschheit oder Richtigkeit der Urteile sagt. 2. Wiederaufnahmeverfahren

In den Civil-law-Ländem kann ein Wiederaufnahmeverfahren nach einem schon Rechtskraft gewonnenen Verfahren angeordnet werden. Voraussetzungen für ein neues Verfahren sind u. a., daß es neue und relevante Beweise in der schon endgültig behandelten Sache gibt oder wenigstens, daß die Glaubwürdigkeit des schon vorgelegten Beweises dadurch in Frage gestellt wird. 65 Obwohl der Ausgangspunkt in solchen Fällen eine de novoBeweiswürdigung des ganzen Beweisstoffes ist, kann es außerordentlich schwierig sein, eine Genehmigung für ein neues Verfahren zu bekommen. Dazu muß nämlich der Antragsteller die Relevanz des neuen und/oder die Fehlerhaftigkeit oder Mangelhaftigkeit des alten Beweises gültig machen. 66 Vielmehr ist, wenn es gelingt, das Wiederaufnahmeverfahren verfügt zu bekommen, der gesuchte Ausgang längst nicht sicher, weil man im allgemeinea schoB einmal eRdgültige Urwile nicht äodem mag. MaD will die früheren Irrtümer innerhalb des eigenen Rechtssystems nur in ganz klaren Fällen anerkennen. 67 Und weiterhin: wenn das neue Verfahren angeordnet wird, müssen auch die alten Zeugenaussagen wiederholt werden. Sie haben vielleicht gar nicht denselben Beweiswert, den sie in dem ersten Verfahren hatten, speziell dann nicht, wenn allzuviel Zeit zwischen dem alten und dem neuen Verfahren vergangen ist.68 Die Anzahl der Anträge ist begrenzt, noch seltener sind solche Anträge erfolgreich. Das ist verständlich. Daß neue und relevante Beweise nach einem Verfahren entdeckt wurden, ist sehr ungewöhnlich und beruht oft auf Zufällen. Die Zusammensetzung dieser Gruppe ist sehr unklar und im Terminus der Wahrscheinlichkeitstheorie fuzzy, sowohl was die Anzahl der Anträge als auch was den Ausgang betrifft. Deswegen ist es verständlich, 65 RB 58 kap § 2, 3. und 4. Punkte. Welamson, 216-229. Ekelöf/Boman, 126140. Bruns, 440 ff. Stein/Jonas § 580. Löwe/Rosenberg, § 359, Rdnr. I ff. 66 Weiamson, 216-229. Ekelöf/Boman, 132, 138 ff. Bruns, 440 ff. Löwe/Rosenberg, § 359, Rdnr. 29 ff. 67 Siehe Peters I 970, 20 ff. 68 "Wird einer Berufung stattgegeben, soll ja der Aussage in der wieder aufgenommenen Sache auf einen Wert geschätzt werden, den es zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat." Ekelöf/Boman, 133 mit dem Hinweis zu NJA I986, 95. Kursivierung im Original. Übers. v. F.-J. Sauer.

C. Materiell fehlerhafte Urteile in Zivilsachen

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daß z. B. Karl Peters, der eine große Untersuchung über die Wiederaufnahmefälle durchgeführt hat, aufgrund dessen darauf verzichtet hat, etwas über fehlerhafte Verurteilungen zu sagen.69

3. Andere Methoden Es gibt einige Forscher, die versucht haben, die Irrtumsquote irgendwie festzustellen. Die Schätzungen variieren; während Orano dachte, daß 5% der Strafverfahren in den USA zu einer fehlerhaften Verurteilung führten, behaupteten Barnes und Teetes im Jahr 1951, daß 10% der amerikanischen Jury-Urteile in der einen oder anderen Beziehung fehlerhaft sind. Andere Schätzungen sind 0,024% fehlerhafte Verurteilungen in den Jahren von 1927-29 für Preußen und 0,046% für Bayern in den Jahren von 1957-59. Im Jahr 1962 hat Lener einen Artikel veröffentlicht, nach dem die Irrtumsquote in Italien 0,023 auf der Basis der Wiederaufnahmeverfahren sei?0 Aber das Problem ist, woher man dies wissen kann. Es gibt keine vertrauenswürdige, objektive Quelle, aufgrund derer wir wissen könnten, wie es sich verhält. Das Berufungsverfahren selbst ist aus den oben erwähnten Gründen keine vertrauenswürdige Quelle. Die Situation wird auch dadurch nicht verbessert, daß man unabhängige Untersuchungen von Experten wie Rattner7 \ Bedau und Radelet heranzieht72. Rattner hat Material aus verschiedenen Quellen gesammelt, z. B. aus den Büchern von Radin, Borchard, Frank und Gardner73 • Er hat auf diese Weise 205 "bekannte" Fälle gesammelt und analysiert. Auch Bedau und Radelet haben versucht, außenstehende Experten heranzuziehen. Das Problem für sie war aber, daß die Experten sich in den ana69 Fricke, Wolfgang, Standrechtlich gekreuzigt, Harnburg 1989, 198. In Schweden haben Ekelöf und Boman sich über die Häufigkeit, aber nicht über die Resultate oder Bedeutung von resning geäußert. Nach ihnen wird sie sehr selten in dispositiven Fällen, aber relativ häufig in indispositiven, vor allem in Vaterschaftsflillen angewandt. Was die Straffalle betrifft, so werden sie zugunsten der Angeklagten beantragt, und zwar in der Mehrzahl von Fällen wegen psychischer Defekte oder weil irgendein anderer als der Verurteilte die Straftat begangen hat. Ekelöf/Boman, 132, 140. 70 Die Ziffern sind in Peters 1971, 20 wiedergegeben. 71 Rattner 1983, 38. 72 Siehe Bedau, Hugo Adam/Radelet, Michael L., Miscarriages of Justice in Potentially Capital Cases, Stan.L.Rev. 1987, 23, 36. Die Artikel sind Teil der Todesstrafendiskussion in den USA. Siehe auch MacNamara, Donald E. J., Convicting the Innocent, Crim.L.Rev. 1968, 57-61. 73 Klassische Werke: Borchard, Edwin M, Convicting the Innocent, Garden City 1932; Radin, Edward D, The Innocents. New York 1964; Frank, Jerome/Frank, Barbara, Not Guilty, New York 1957.

8 Gräns

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3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

lysierten Fällen nicht einig über die Schuldfrage waren. Dies ist jedoch nicht verwunderlich: Obwohl die Autoren von der Falschheit der Verurteilungen in den meisten bestrittenen Fällen überzeugt sind, gibt es immer auch diejenigen, die das Gegenteil verteidigen wollen. Man könnte auch behaupten, daß Bedau und Radelet zu sehr unter Einfluß ihres Hauptzieles waren: nämlich zu zeigen, daß unschuldige Menschen hingerichtet oder wenigstens "nahe daran" gewesen sind, hingerichtet zu werden. In solchen Fällen, wo es Meinungsverschiedenheiten gab, haben sie dann die Seite zugunsten des Angeklagten eingenommen. Das ist natürlich in gewissem Sinne berechtigt, wenn man von fehlerhaften Verurteilungen im rechtlichen Sinne spricht; z. B. in Fällen, wo reasonable doubt auf irgendeine Weise begründet werden konnte. Aber das bedeutet nicht, wie die Kritiker74 betont haben, daß man aufgrund dessen behaupten könne, daß die Angeklagten in Wirklichkeit unschuldig gewesen sind. Ihre Extrapolationen über die ungefähr 350 fehlerhaften Verurteilungen, wo die Todesstrafe hätte verhängt werden können, sind demzufolge durchaus spekulativ. Rattner hat seine Extrapolationen dagegen nicht auf reine Spekulationen gebaut. Er hat statt dessen verschiedene Experten - Richter, Staatsanwälte, Verteidiger-aufgrund vorliegender Schätzungen über die Quote der fehlerhaften Verurteilungen in ihren eigenen und anderen Gerichten gefragt. Es kann insofern DW:bt verwuadem, daß diese Schätzungen sebr variierten. Aber durch nur vorsichtige Schätzungen hat er eine Extrapolation von ungefähr 8.500 fehlerhaften Verurteilungen (0,5% der Verurteilungen) in den USA für jedes Jahr errechnet.75 Das methodologische Problem ist aber, inwieweit educated guesses wirklich als vertrauenswürdiger angenommen werden können. Das muß in der Tat bezweifelt werden. Und auch Rattner selbst scheint, entgegen seine eigenen Extrapolationen, dieser Ansicht, da er die diesbezüglichen Abschnitte in seiner Doktorarbeit weggelassen hat. 76

D. Vorläufige Zusammenfassung Materiell fehlerhafte Entscheidungen werden sowohl in Straf- als auch Zivilsachen in Gerichten in allen Rechtsordnungen getroffen. Eine der wichtigsten Ursachen solcher Irrtümer ist die Mangelhaftigkeit der den Gerichten vorgelegten Information und verschiedene Fehlerquellen, die den vorgelegten Informationen angelastet werden können. Diese Umstände sind 74 Über die methodologischen Probleme, siehe Markman, Stephen J./Cassell, Paul G., Protecting the Innocent: A Response to the Bedau-Radelet Study, Stan.L.Rev. 1988, 121-160. Antwort von Bedau-Radelet, 41 Stan.L.Rev. 1988, 161-170. 75 Rattner 1983, 171. 76 Rattner 1988.

D. Vorläufige Zusammenfassung

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von den Gerichten ganz unabhängige Faktoren, aber es liegt in der Verantwortung des Gerichts, das Vorhandensein solcher Faktoren zu untersuchen und sie bei der Beweiswürdigung zu beachten. Die Verurteilung eines Unschuldigen ist der größte Irrtum, der überhaupt gedacht werden kann, aber es ist nur einer in der Menge von allen denkbaren Irrtümern. Irrtumsmöglichkeiten gibt es viele, und ich habe versucht, sie vor allem aufgrund der möglichen Entscheidungsresultate zu typologisieren. Man kann natürlich behaupten, daß ein solcher Ansatz eigentlich eine Menge von Irrtümern außer acht läßt, weil es auch denkbar ist, daß irgendein Irrtum die Beweiswürdigung belastet hat, ohne daß dies eigentlich Einfluß auf den Inhalt des Urteils gehabt hätte. Das amerikanische Beweisrecht z. B. kennt die Begriffe plain error und harmless error. 77 Liegt plain error vor, muß ein Neuverfahren angeordnet werden, liegt aber nur harmless error vor, ist das nicht erforderlich. In beiden Fällen geht es um einen Irrtum des Gerichts bezüglich der Beweisregelungen im Verlauf des Vor- oder Hauptverfahrens. Ausschlaggebend für das Neuverfahren ist aber, was für eine Wirkung der zugrundeliegende Irrtum auf die endgültige Tatsachenfeststellung der Jury gehabt hat oder gehabt haben müßte; es reicht also nicht, daß bloß ein Irrtum begangen wurde. 78 Derselbe Aspekt zeigt sich im schwedischen und deutschen System darin, daß eine Beschwerde nur wegen fehlerhafter Begründungen nicht möglich ist. Ein Irrtum ist also nur dann relevant, wenn er Wirkung auf die endgültige Feststellung gehabt hat. Eine schlechte Qualität der Bewertungs- und Entscheidungsarbeit in den Gerichten als Ursache der materiell fehlerhaften Entscheidungen ist etwas, das nicht akzeptiert werden kann. Die endgültige Entscheidung liegt immer in der Verantwortung des Gerichtes. Ein ganz fundamentales Recht jeder Partei muß es sein, daß sie auf eine in richtiger Weise vorgenommene Beweiswürdigung des Gerichts vertrauen kann. Inwieweit die materielle Richtigkeit der Entscheidungen mehr oder weniger wichtig gefunden wird, ändert nichts an der Tatsache, daß man die Richtigkeit der Beweiswürdigung verlangen kann. Dies sind Dinge, die von einander getrennt werden müssen. Es ist eine Sache, richtige Schlußfolgerungen aufgrund des vorgebrachten Beweises zu ziehen, und eine andere, die materielle Wahrheit aufgrund dessen zu erreichen. Siehe z.B. LaFave/Israel, 1159-1175. Siehe z.B. LaFave/Israel, 1159-1175. Wie so etwas beurteilt werden kann, ist jedoch sehr fragwürdig, weil die Jury ihre Entscheidungen überhaupt nicht motiviert, die Beurteilung sich aber auf den Schlußfolgerungen der Jury gründet. Es scheint dies aber selbst den Amerikanern nicht ganz klar zu sein. 77 78

8*

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3. Kap.: Materiell fehlerhafte Urteile

Was sind dann die methodologischen Voraussetzungen einer sachgemäß durchgeführten Beweiswürdigung? Im nächsten Kapitel wird versucht, diese Frage zu beantworten. Ich habe das wissenschaftliche Beweisen als Rahmen und Ausgangspunkt angenommen. Dafür gibt es eigentlich nur eine Begründung. Denn man geht davon aus, daß objektive Erkenntnis und Wissen nur aufgrund wissenschaftlicher Beweise möglich ist. Obwohl die gerichtliche Beweiswürdigung diese Voraussetzungen des objektiven Wissens nicht erfüllen kann, sollte davon ausgegangen werden können, daß man wenigstens versuchen muß, dieselbe Logik und dieselben Methoden auch bei der gerichtlichen Tatsachenfeststellung anzuwenden und sowohl die von der Wissenschaftsphilosophie gebotenen Möglichkeiten als auch die von ihr festgestellten Begrenzungen ernst zu nehmen. Die empirisch belegten Begrenzungen einer sachgemäßen gerichtlichen Tatsachenfeststellung entsprechen ziemlich gut der im Kapitel I.D. dargelegten Diskussion über die philosophischen Grundlagen des Wahrheitsbegriffs. Die Verflochtenheit der Wahrheitstheorien hat ihr Gegenstück in der Mannigfaltigkeit der Irrtumsquellen.

KapitelN

Grundzüge der Beweiswürdigung A. Allgemeines Die ausschlaggebende Frage bezüglich jeder Information ist die zugrundeliegende Struktur, auf welche Weise die verschiedenen Teile der Information miteinander verknüpft sind und welche Schlußfolgerungen aufgrund der Information gezogen werden können, d. h., was die Methoden der Wahrheitsfindung sind. In den meisten europäischen Ländern gilt z. Z. der Grundsatz der sog. freien Beweiswürdigung. Der Gedanke bei ihrer Einführung war, daß die strengen Regeln über die Zulässigkeit der verschiedenen Beweismittel und ihrer gesetzgebundenen Bewertung sowohl durch wissenschaftlich bestätigte Erfahrungssätze und Schlußfolgerungen als auch durch die sog. allgemeinen Erfahrungssätze (commonplace generalizations) ersetzt werden sollten. Dadurch sollte das Kriterium der Intersubjektivität erfüllt werden. Die Forderung ist mit der schon früher erwähnten Objektivitätsvoraussetzung des wissenschaftliches Wissens analog. Wissenschaftliches Wissen setzt die Erfüllung von ganz bestimmten Voraussetzungen voraus. Vor allem wird vorausgesetzt, daß es durch Erfahrung bestätigt werden kann. Das bedeutet gleichzeitig, daß die Bestätigung durch jedermann möglich sein muß, weil genau und nur dadurch die Objektivitätsvoraussetzung im Sinne der Intersubjektivität erfüllt wird. 1 Generell bedeutet die Objektivitätsvoraussetzung in der Wissenschaft, daß das, was als wissenschaftliche Erkenntnis oder als Wissen angeführt wird, selbständig ohne subjektive Wertungen oder Gefühle von irgend jemandem begründbar sein muß. Z. B. daß 2 + 2 = 4, Atome existieren oder Schweden eine repräsentative Monarchie im Jahre 1995 ist, ungeachtet 1 Z. B. Maassen meint, daß die freie Beweiswürdigung nach freier Überzeugung nichts anderes bedeutet als "die Pflicht des Richters, eigenverantwortlich unter Befreiung von seiner bisherigen Bindung an gesetzlich festgelegte Durchschnittwahrscheinlichkeitswerte und unter neuer Bindung an das gesamte verfügbare Erfahrungswissen und die Gesetze der Logik den wirklichen Wahrscheinlichkeitswert der einzelnen Beweismittel gewissenhaft, objektiv, unparteiisch und möglichst genau zu ermitteln". Maassen, 22.

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4. Kap.: Grundzüge der Beweiswürdigung

dessen, ob diese Umstände uns gefallen oder nicht. Dennoch muß diese Erkenntnis oder dieses Wissen zugänglich für die Öffentlichkeit sein. Dies ist der Fall, wenn die Erkenntnis oder das Wissen im Prinzip für jedermann - d. h. für jeden mit den erforderlichen Grundkenntnissen - offen steht, so daß jeder es nachprüfen oder wenigstens verstehen kann. Die Überprüfbarkeit setzt voraus, daß die Erkenntnis auf eine Weise systematisiert ist, daß es möglich ist, der Schlußfolgerungskette durchaus zu folgen und daß sie wiederholt werden kann. Erst wenn es sich zeigt, daß die Forderungen der Regelhaftigkeit und der Wiederholbarkeit erfüllt sind, kann von wissenschaftlichem Wissen die Rede sein. Wissenschaft und demzufolge auch Wissen ist dann subjektiv, wenn die Resultate von persönlichen Gefühlen, Zuneigungen, Vorerwartungen, Wünschen und Glaubensvorstellungen abhängig sind. Aber subjektive Gewißheit kann sich natürlich auch auf objektives Wissen gründen. Als wissenschaftliches Wissen vorgelegte Tatsachen überzeugen uns davon, daß der zum Ausdruck gebrachte Sachverhalt "wirklich" eine Tatsache ist. Objektives Wissen basiert aber nie auf der bloßen subjektiven Überzeugung. Es ist möglich, von den verschiedensten Behauptungen subjektiv überzeugt zu sein, ohne daß man solche Behauptungen als objektives Wissen betrachtet. Die gerichtliche Beweiswürdigung erfüllt nicht die Voraussetzungen des objektiven Wissens, aber sie strebt auch nicht danach, sondern beschäftigt sich mit Einzelereignissen. Ungeachtet dessen sollte man auch bei der gerichtlichen Beweiswirksamkeit möglichst genau solche methodologischen Voraussetzungen erfüllen, daß so sichere Resultate wie möglich garantiert werden können. Obwohl es um die subjektive Überzeugung oder verschiedene Grade des Glaubens geht, muß die gerichtliche Beweiswürdigung sich auf solche Methoden und Schlußfolgerungen gründen, die möglichst frei von persönlichen Gefühlen, Zuneigungen, Vorerwartungen, Wünschen und Glaubensvorstellungen sind. Dies setzt ferner voraus, daß der Tatsachenfeststeller möglichst genau den Beweisstoff analysiert, sachgemäß und möglichst objektiv verschiedene Erfahrungssätze anwendet und die dabei zugrundeliegende Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit bewertet. Ausschlaggebend ist vor allem, daß die Begründungen der Tatsachenentscheidungen in dem jeweiligen Urteil niedergelegt werden. Es muß jedermann möglich sein, den angewandten Erfahrungssätze und den aufgrund dessen angestellten Schlußfolgerungen zu folgen und ihnen zustimmen zu können. Objektivität muß auch hier in der Übereinstimmung mit gemeinsamer Erfahrung und Erkenntnis bestehen. Die Gründe der Tatsachenfeststellung müssen von anderen vernünftigen Personen akzeptiert werden können. Dies ist natürlich nicht möglich, wenn die Gründe nicht veröffentlicht sind oder wenn der Logik der Schlußfolgerungen wegen unzureichender Systematisierung unmöglich zu folgen ist.2

B. Der Beweismechanismus

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In diesem Kapitel werden grundlegende theoretische Fragen des gerichtlichen Beweismechanismus und der Beweiswürdigung diskutiert. Zweck der Darstellung ist zu zeigen, wie man einen Beweisstoff in verschiedene Teilen einteilen kann, um besser kontrollieren zu können, daß die Schlußfolgerungen möglichst gut die Erfordernisse des erfahrungsmäßigen Wissens und der Logik erfüllen. Für eine Beweisanalyse, die auf einer solchen Einteilung basiert, ist es deswegen vor allem wichtig, daß die eigentliche Beweiswürdigung, falls sie mit der Hilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie durchgeführt wird, auch auf dieser Einteilung basieren muß. Gibt man namentlich zu, daß es in der Tat bei jeder Beweiswürdigungssituation um Wahrscheinlichkeitswerte verschiedener Beweise geht, dann muß man auch dafür Sorge tragen, daß die Logik der Wahrscheinlichkeitsrechnung festgehalten wird. Daß es meistens um subjektive Wahrscheinlichkeitswertungen geht, berechtigt uns nicht, von diesem Faktum abzusehen. Man muß sich auch daran erinnern, daß diese Logik nicht notwendigerweise nur die Anwendung von Ziffern und Formeln voraussetzt. Eine sachgemäße Analyse und Würdigung, die diesen theoretischen Grundlagen folgt, bietet nämlich eine bedeutsame Hilfe, um eventuelle Irrtumsursachen zu entdecken und dadurch die Risiken eventuell fehlerhafter Urteilen zu minimieren.

B. Der Beweismechanismus Das unten dargelegte Strukturbild will erklären, wie das Verhältnis zwischen einer Tatsachenbehauptung, dem sog. Beweisthema und Beweisfaktum oder mehreren Beweisfakten und den sog. HUfsbeweisfakten zu verstehen ist. Aufgrund der Beweisfakten muß erfahrungsmäßig etwas über das tatsächliche Vorhandensein der behaupteten Tatsachen gesagt werden können. Die sog. Hilfstatsachen3 enthalten dagegen mehr präzisierte Information über ein Beweisfaktum oder dessen Verhältnis zu dem Beweisthema. Deshalb gilt eine gleichartige Voraussetzung für ihr Verhältnis. Das Bild veranschaulicht den Grundmechanismus des Beweises. Es ist die Grundlage der Systematisierung in jedem Verhältnis zwischen dem Beweisthema, dem Beweisfaktum und dem Hilfsbeweisfaktum. Dieses Verfahren zielt darauf ab, den gesamten Beweisstoff auf eine solche Weise zu systematisieren, daß es möglich wird, ihn diskursiv zu analysieren und die Schlußfolgerungsketten nachzuvollziehen. Die Kette der Schlußfolgerungen soll dabei natürlich auch dem Entscheidenden helfen, Vgl. Lindeil 1987, 102 ff. In englischer Sprache könnte man von facts affecting evidentiary value oder ancillary facts sprechen. Öfters scheint man auch von circumstantial evidence zu sprechen, ungeachtet dessen, ob es um direkte oder indirekte Indizienbeweise geht. 2

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4. Kap.: Grundzüge der Beweiswürdigung

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seine eigene Schlußfolgerungen und deren Haltbarkeit zu kontrollieren. Dadurch fungiert sie auch als Grund für die in dem Urteil festgehaltenen Begründungen. Was das amerikanische Jury-Verfahren anbelangt, so müßte diese Analyse auch als Grund der von den Richtern und Parteien durchgeführten Kontrolle der Akzeptanz des beanspruchten Beweises angewandt werden. Die verschiedenen Beweismittel gelten als Beweisfakten (BF), mit der Begründung, daß sie nach Eifahrungssätzen relevant für das Beweisen der jeweiligen Tatsachenbehauptungen, der Beweisthemen (BT), sind. Die sog. Hilfsfakten (HF) sind Umstände, die Einfluß auf den Beweiswert der jeweiligen Beweisfakten haben. Auch zwischen ihnen und den Beweisfakten muß irgendein erfahrungsmäßig relevantes Verhältnis bestehen.4

Beweismechanismus

BF

BT Erfahrungssätze

HF

Erfahrungssätze

Die erste Stufe der Beweiswürdigung ist die Formulierung der Beweisthemen der Parteien. Dies basiert auf dem Tatbestand der Norm, die durch die zugrundeliegende Interpretation hervorgerufen worden ist, aber auch aufgrund der von den Parteien dargelegten Faktenbehauptungen, die sie als rechtlich relevant beansprucht haben. Das Beweisthema sollte eine Tatsachenbehauptung sein. Es müßte also so formuliert werden, daß es möglich ist, von dessen Wahrheit bzw. Unwahrheit zu sprechen. 5 Nach der Präzisierung des jeweiligen Beweisthemas wird das Übereinstimmen des in dem Thema behaupteten Sachverhalts mit der außergerichtlichen Wirklichkeit im Verlauf des Verfahrens durch Beweisführung mittels verschiedener Beweismittel darzutun versucht. Hier geht es um das Verhältnis sowohl zwischen den Beweisfakten und dem jeweiligen Beweisthema als auch zwischen den Beweisfakten und den sog. Hilfsfakten. Um überhaupt als Beweisfaktum zu gelten, muß zwischen dem Thema und dem Beweisfaktum ein gewisses relevantes Verhältnis bestehen. Die Bestätigung dieses Verhältnisses geschieht mit Hilfe von verschiedenen Eifahrungssätzen und/oder Logik. 4 Siehe auch z. B. Klami/Sorvettula/Hatakka, Studies, 71 ff. Dies.: Evidentiary Va1ue, 33 ff. Hallden TfR 1973, 55 ff. Sahlin, SvJT 1988, 39 ff. 5 Lindeil 1987, 102 ff. Bruns, 242 f.

B. Der Beweismechanismus

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Die Sprache der Rechtsnormen ist aber so konstruiert, daß es nicht immer möglich ist, das Beweisthema so zu formulieren, daß es aus "rohen" Tatsachenbehauptungen bestünde. Wir haben schon festgestellt, daß es für die juristische Sprache typisch ist, daß Normen und Fakten miteinander verflochten sind. Wenn man z. B. von Verschulden spricht, ist es praktisch unmöglich, bei der Beweiswürdigung normative Überlegungen und Tatsachenermittlung voneinander zu unterscheiden. Es ist besonders zu bemerken, daß eine erste Analyse der beanspruchten Beweismittel nichts mit dem konkreten Beweiswert des Beweisfaktums zu tun zu haben braucht, sondern nur die Relevanz der Beweisfakten und Hilfsfakten berührt. Es geht infolgedessen nicht so sehr um das, was aufgrund der vermittelten Information vom Existieren der behaupteten Tatsachen in dem konkreten Fall gesagt werden kann, sondern vielmehr schon darum, ob die vermittelte Information überhaupt als Beweis für die Existenz der behaupteten Tatsachen gelten kann. 6 Es ist normal, daß diese erste Relevanzkontrolle bereits beim Vorverfahren durchgeführt wird, wenn die Parteien regelmäßig die durch sie vorzulegenden Beweismittel dem Gericht präsentieren müssen. Schon zu diesem Zeitpunkt kann und muß in der Regel ein Beweis, der unzulässig oder überflüssig ist, abgewiesen werden? Solche Kontrolle kann natürlich auch während des Hauptverfahrens geschehen, wenn es den Parteien erlaubt ist, neue Beweisanträge während des Hauptverfahrens zu stellen. Speziell im schwedischen und deutschen Rechtssystem ist es aber möglich, daß diese Kontrolle ausführlich erst am Ende des Verfahrens bei der endgültigen Beweiswürdigung geschieht. Im amerikanischen Beweisrecht wird in diesem Zusanunenhang vom sog. "relevancy-test" anband der Federal Rufes of Evidence (FRE) 401 8 gesprochen. 9 Das amerikanische Beweisrecht gründet sich auf ein Prinzip, nach dem es verboten ist, dem Gericht irgend etwas Irrelevantes oder einen Beweis ohne hinreichenden logischen Zusammenhang überhaupt als Beweis vorzulegen. 10 Das Festhalten an diesem Prinzip ist als eine unentbehrliche So auch Weber, 25. Siehe z.B. Bruns, 238 ff. Ekelöf, 1992, 23 ff. James, 690 ff. Emanuel 1988, 14 ff. 8 Nach dem FRE 401 ist ein relevanter Beweis: "Evidence having any tendency to make the existence of any fact that is of consequence to the determination of the action more probable or less probable than it would be without the evidence". 9 James, 689 ff. Thayer 1898, 264. Lempert, 1977, 1021 ff. McCormick, 540 ff. Emanuel 1988, 10 ff. Siehe auch Eggleston 1983, 79 ff., 101 f. 10 "There is a principle - not so much a rule of evidence as presupposition involved in the very conception of a rational system of evidence, as contrasted with the old formal and mechanical systems - which forbids receiving anything irrelevant, 6 7

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4. Kap.: Grundzüge der Beweiswürdigung

Rationalitätsvoraussetzung des ganzen Beweissystems angesehen worden. 11 Die vor dem Hauptverfahren ausgehende Kontrolle ist aber nicht genauso gründlich wie die während des Hauptverfahrens vorkommende und mehr oder minder auch auf den Parteien beruhende Kontrolle. 12 Es ist jedoch zu bemerken, daß diese Kontrolle sowohl vor dem Hauptverfahren als auch während dessen as a matter of law behandelt wird. 13 Weder das deutsche noch das schwedische System kennen diesen Typ von streng geregelter Kontrolle während des Hauptverfahrens. Dies ist verständlich unter Berücksichtigung u. a. des Umstands, daß die Tatsachenprämissen in diesen Ländern in den Urteilen begründet werden müssen und daß eine de novo-Beweiswürdigung in den Berufungsinstanzen möglich ist. Dann ist es leichter, auch nachher zu kontrollieren, was für Beweismittel, Beweisfakten und Erfahrungssätze angewandt worden sind, ob die Schlußfolgerungen die Gesetze der Logik erfüllen usw. Das arnerikanische System kennt solch eine spätere Kontrolle auch 14, aber wenn es nicht aufgeschrieben oder nur mündlich festgelegt ist, wie die Tatsachenentscheidungen begründet sind, muß der Input des Beweisstoffes streng kontrolliert werden, um nur die Möglichkeit fehlerhafter oder mangelhafter Schlußfolgerungen zu verhindern. Vor allem Jarnes hat betont, daß der materielle Inhalt des Begriffes relevancy nach dem amerikanischen Recht nicht eine Eigenschaft von irgendwelcher item of evidence an sich ist, sondern "exists as a relation between an item of evidence and the proposition sought to be proved. " 15 In der skandinavischen Beweisdiskussion wird von der Voraussetzung des kausalen oder kognitiven Verhältnisses zwischen dem Beweisfaktum und dem Beweisthema bzw. dem Beweisfaktum und dem Hilfsfaktum gesprochen, 16 nach dem deutschen Recht auch von der Eignung des Beweismittels, das Beweisthema zu beweisen 17 •

not logically probative." Theyer, 1898, 264. Vgl. mit James, 689 ff. und Lempert, 1977, 1021 ff. McCormick, 540 ff. 11 Theyer, 1898, 264. Vgl. mit James, 689 ff. und Lempert, 1977, 1021 ff. McCormick, 540 ff. 12 Louisell/Hazard/Tait, 1098 ff. LaFave/Israel, 499 ff. 13 Louisell/Hazard/Tait, 1098 ff. LaFave/Israel, 499 ff. 14 LaFave/Israel, 1078 ff., 1163 ff. Louisell/Hazard/Tait, 1194 ff. Is James, 690. Lempert, 1021 ff. 16 Eke1öf, 1992, 13 ff., 132 ff. Ders.: SvJT 1978, 29 f. Haliden, TfR 1973, 55 ff. Goldsmith/Andersson, 67 ff. Stening, 32 ff. Ders.: Konflikt mellan tvä bevismodeller. SvJT 1979, 283-296. Klarni/Hatakka/Kastinen 1993, 118 ff. Lindell 1987, 150156. 17 Z. B. § 244 StPO.

8. Der Beweismechanismus

123

Das amerikanische Beweisrecht kennt eine Vielzahl von Regelungen darüber, was als relevanter Beweis in verschiedenen Beweissituationen angenommen werden darf.18 Die Zulassung eines irrelevanten Beweises kann als Begründung für eine Aufbebung des Urteils und ein Wiederaufnahmeverfahren angewendet werden. 19 Was die Relevanzvoraussetzung bedeutet bzw. bedeuten soll, ist nicht eindeutig definiert worden. Nach Wigmore sollte hier die induktive Form der Fakten maßgebend sein.20 Nach Thayer gibt es zwei Prinzipien, die .hier gelten müßten, namentlich daß 1. nichts erlaubt werden darf, das keine logische Beweiskraft in Anbetracht der Tatsache, die zu beweisen ist, hat, und daß 2. alles das, was diese logische Beweiskraft hat, zugelassen werden sollte, wenn es nicht im Gesetz oder nach einem klaren Policy ausgeschlossen ist.Z 1 James betont außerdem noch die Bedeutung der prozeduralen Regeln bei der Relevanzwertung.Z2 Sowohl das schwedische, deutsche als auch das amerikanische Beweisrecht kennen einige nach dem Gesetz verbotene Beweismittel, ganz ohne Hinsicht darauf, ob sie aus irgendwelchen Gründen relevant sind oder nicht. 23 Solche Regeln müssen natürlich immer beachtet werden, aber man muß sich daran erinnern, daß es bei diesen Regeln nicht um eine Diskussion über die Relevanz in dem hier gemeinten Sinne geht. Deshalb entspricht die Definition von Thayer, nach der die logische Beweiskraft dann vorhanden ist, wenn eine logische oder erfahrungsmäßige Verbindung zwischen dem BT und dem BF bzw. dem BF und HF besteht, dem faktischen Relevanzverhältnis besser und genauer.Z4

18 Siehe z. 8 . McNamara, Philip, The Canons of Evidence - Rules of Exclusion or Ru1es of Use?, in: The Adelaide Law Review 1985, 291-364. Kaplan/Waltz/ Park, 65 ff., 352 ff. McCormick, 540--599. LaFave/Israe1, 459 ff. 19 LaFave/Israe1, 1078 ff. Emanuel 1992, 236 ff. Lempert, 1027 ff. 20 " ••• in the offering of evidence in Court the form of argument is always inductive." Wigmore, 416. Kurs. im Orig. Vgl. aber James, 693 ff. 21 "The two leading principles should be brought into conspicuous relief, (1) that nothing is to be received which is not logically probative of some matter requiring to be proved; and (2) that everything which is thus probative should come in, unless a clear ground of policy or law excludes it." Thayer 1898, 530. James, 689 ff. (1941). Siehe auch Morgan, 185 ff. und McCormick, 541 ff. 22 James, 690 f. Vgl. auch Eggleston 1983, 79 ff. 23 Ekelöf, 1992, 23 ff. Löwe/Rosenberg, § 261 Rdnr. 106 ff. Hierüber gibt es speziell in den USA zahlreiche Regeln. Siehe darüber z. 8 . McCormick. 24 Thayer 1898, 530. "For practical purposes, then, it is sufficient to treat the use of litigous evidentiary facts as inductive in form." Wigmore, 416. Kurs. im Orig. James, 690 f.

124

4. Kap.: Grundzüge der Beweiswürdigung

I. Das kausale und logische Verhältnis Der Begriff der Kausalität wird in den verschiedensten Zusammenhängen mit verschiedensten Definitionen angewandt. 25 Heutzutage beschäftigen sich z. B. die Naturwissenschaften vor allem mit der sog. causa efficiens. 26 Nach dieser Auffassung sind sowohl Ursache als auch Wirkung bestimmte Ereignisse, zwischen denen ein bestimmtes Verhältnis besteht?7 Ereignisse sind entweder singuläre oder generische. 28 Singuläre Ereignisse sind zeitlich und räumlich bestimmte einzelne Entitäten, die eine unbegrenzte Menge Eigenschaften haben können. Generische Ereignisse sind allgemeine Eigenschaften, welche durch die singulären Ereignisse exemplifiziert werden.Z9 Das Kausalverhältnis kann entweder als ein Verhältnis zwischen zwei Typen von generischen Ereignissen verstanden werden: "C ist die Ursache von E" (C verursacht E), oder als ein Verhältnis zwischen zwei singulären Ereignissen: "c ist die Ursache von e" (c hat e verursacht)?0 Die Voraussetzung des allgemeinen kausalen Verhältnisses im Sinne des Relevanztests zwischen dem Beweisthema und dem Beweisfaktum kann unter Berücksichtigung des allgemeinen Kausalverhältnisses auf folgende Weise erklärt werden: Um als Beweisfaktum für das Beweisthema zu gelten, muß es nach dem erfahrungsmäßigen Wiisen JBÖ8liCb sein, daß der Inbalt des Beweisthemas die Ursache vom Beweisfaktum oder das Beweisfaktum die Ursache des Beweisthemas überhaupt sein kann. Das kausale Verhältnis hat zum einen Bedeutung als Kriterium für die allgemeine Tauglichkeit des Beweises und zum anderen als Grund des endgültigen Beweiswerts des jeweiligen Beweisfaktums, je nachdem, wie sicher der Beweismechanismus in dem konkreten Fall fungiert hat. 31

25 Siehe z. B. Weber, 98 ff. Niini1uoto 1983, 236 ff. Stegmüller, Das Problem der Kausalität, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift für Victor Kraft, Wien 1960, s 171-190. Vgl. Peczenik, Alexander, Causes and Damages, Lund 1979, 328 ff. 26 Niiniluoto 1983, 236 f. 27 Niiniluoto 1983, 238. Der Causa efficiens kann aber auch eine andere Bedeutung zugedacht werden: die Ursache kann ein Agent oder ein Täter sein. Die Wirkung ist dann das Ergebnis, das er zustande gebracht hat. Niiniluoto, 1983, 238. 2 8 Niiniluoto 1983, 238. 29 Niiniluoto 1983, 238. 30 Niiniluoto 1983, 238. 3 1 Ekelöf 1978, 29. Ders.: 1992, 132 ff. Ders.: ZZP 1978 64 ff. Haliden, 1973, 55 f. Stening, 35 f. Gärdenfors, 47. Goldsrnith/Andersson, 73. Klarni/Sorvettula/Hatakka, Evidentiary Value, 32 ff. Vgl. mit Lindeil 1987, 144 ff. und Bolding 1951, 55 ff.

B. Der Beweismechanismus

125

Es geht um ganz fundamentale Voraussetzungen, die von dem allgemeinen erfahrungsmäßigen Wissen über Kausalverhältnisse zwischen verschiedenen generischen Ereignissen abhängen. Im wissenschaftlichen Sinne werden Ursache-Wirkungs-Verhältnisse durch empirische Untersuchungen mehr oder weniger sicher bewiesen. Diese Kenntnis wird ausgenutzt, um die verschiedensten Phänomene zu erklären, und sie wird natürlich auch in den gerichtlichen Verfahren angewandt. Aber das Bestätigen eines solchen generellen Verhältnisses kann natürlich auch auf einer ganz allgemeinen Erfahrung basieren. 32 So ist es insbesondere bezüglich der Erkenntnis über das menschliche Verhalten und dessen Motiven. Die fundamentale Voraussetzung z. B. des Zeugenbeweises ist das generische kausale Verhältnis zwischen Ereignissen und Beobachtungen: Ereignisse verursachen Beobachtungen.33 Um irgendeinen Gegenstand als Objekt des Augenscheinbeweises akzeptieren zu können, muß dargetan werden, daß im allgemeinen ein kausales Verhältnis zwischen dem Objekt und der Tatsache, die dadurch bewiesen werden soll, existiert. So verursacht z. B. das Bremsen Bremsspuren, physische Gewalt verursacht physischen Schaden, das Zusammenstoßen zweier Autos verursacht die Beschädigung der Autos usw. Als Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung kann schon das Existieren des Erfahrungssatzes, der irgend etwas über das Kausalverhältnis zwischen generischen Ereignissen behauptet, in Frage kommen. Die Bestätigung von Erfahrungssätzen kann durch Sachverständige, die Spezialkenntnisse in irgendeinem wissenschaftlichen Bereich besitzen, geschehen, aber oft geht es auch um sehr allgemeine Kenntnis, welche diejenigen, die über Tatsachen entscheiden, ohne irgendwelche zusätzlichen Informationen schon aufgrund ihrer Lebenserfahrung oder ihrer allgemeinen Ausbildung besitzen. 34 Die Bestätigung dieses Kausalverhältnisses sagt jedoch notwendigerweise nichts von der Haltbarkeit des Kausalverhältnisses zwischen singulären Geschehnissen in einem einzelnen Fall. Es setzt ferner nicht voraus, daß man irgend etwas von der Existenz des konkreten Beweisthemas annehmen müßte. 35 Es legt freilich ganz allgemeine Vorvoraussetzungen dar, unter deren Geltung die Beweisführung und Beweiswürdigung durchzuführen ist. Es ist also wichtig zu bemerken, daß der relevancy-test in diesem Sinne gerade das allgemeine Verhältnis betrifft und nicht den konkreten Wert des Popper, 60. Hempel, 60 ff. Eggleston, 141 ff. Cohen 1977, 239, 274. Popper, 60. Hempel, 60 ff. Eggleston, 141 ff. Cohen 1977, 239, 274. Weber spricht von einem "Energieübertrag als sinnlich faßbarer realer Vorgang", der "wahre Aussagen über Kausalzusammenhänge" erlaubt. Weber, 117. 34 Ekelöf 1992, 13 ff., 123 ff. Stening, 1975, 37 ff. Lindeil 1987, 214 ff. Stein, 18, 25 ff. Musielak, 94. Bruns, 243 ff. Schum 1987, 312. 35 Vgl. die Kritik von Lindeil 1987, 154. 32

33

126

4. Kap.: Grundzüge der Beweiswürdigung

jeweiligen Beweismittels in dem jeweiligen Fall. Das ist eine Angelegenheit, die am Ende des Hauptverfahrens durch die Beweiswürdigung zu bestimmen ist. Diese eigentliche Beweiswürdigung (as a matter of fact) beschäftigt sich mit Kausalverhältnissen zwischen singulären Ereignissen in einzelnen Fällen. Es geht um die Haltbarkeit der Erfahrungssätze in einem jeweils vorgegebenen Fall: z. B. wie sicher ist es, daß, wenn wir ein singuläres Ereignis e vom Typ E haben, die Ursache dessen ein singuläres Ereignis c vom Typ C gewesen ist, oder wie sicher ist es, daß, wenn wir ein singuläres Ereignis c vom Typ C haben, die Wirkung dessen ein singuläres Ereignis e vom Typ E gewesen ist. 36 z. B.: wie sicher ist es, daß die Beobachtung eines Zeugen durch das im Gericht zu beweisende Geschehnis verursacht wurde und nicht von eigenen Vermutungen oder irgendwelchen äußeren Umständen wie Dunkelheit oder schlechte Beobachtungsfahigkeit beeinflußt wurde. Andererseits geht es darum, inwieweit die Zeugenaussage sich auf die Beobachtung gründet und nicht z. B. von eigenen Vorstellungen, durch das Lesen von Zeitungen oder Diskussionen mit anderen Zeugen beeinflußt worden ist. Es geht damit um zwei verschiedene Beweismechanismen37 : BM1 Das Geschehnis

Die Beobachtung

BM2 Die Beobachtung - - - - - - - - Die Zeugenaussage

Gibt es Unsicherheit über einen Mechanismus, so wird dadurch auch der Beweiswert der ganzen Zeugenaussage beeinflußt. II. Kausalität und Erklären des menschlichen Verhaltens Die Beweiswürdigung gründet sich auf Erfahrungssätze. Erfahrungssätze sind Aussagen über 1. strenge Naturkausalität, z.B.: Wenn einem der Kopf abgeschnitten wird, stirbt er, oder aber 2. statistische Naturkausalität, z. B.: Wenn A, so wird B mit x% Wahrscheinlichkeit folgen oder: Wenn B, so ist A mit y% Wahrscheinlichkeit die Ursache. Die wichtigste Form der Erfahrungssätze sind aber 3. Aussagen über menschliches Verhalten aufgrund all36 37

Niiniluoto 1983, 239 ff. Klami/Hatakka/Kastinen 1993, 119.

B. Der Beweismechanismus

127

gemeiner Lebenserfahrung. Diese Aussagen aufgrund der Lebenserfahrung haben a) einen gewissen Inhalt, z. B. "Menschen, die einmal wegen irgendeines Verbrechens verurteilt worden sind, sind auch zu weiteren Verbrechen geneigt, unehrlich o. ä." b) einen gewissen - mehr oder weniger - präzisen Grad der Sicherheit, z. B. ,,Alle ... die meisten . .. viele ... einige solcher Menschen sind zu weiteren Verbrechen geneigt" c) einen mehr oder weniger gewissen Grad der Zuverlässigkeit, die von den Umständen abhängig ist, auf denen die Erfahrungssätze basieren, z. B. ob das Verhalten der einmal Verurteilten statistisch untersucht worden ist und mit welchen Methoden.38 Es ist typisch für die Erfahrungssätze dieser Art, daß Richter (oder Schöffen) je nach der persönlichen Lebenserfahrung des Tatsachenermittlers sehr unterschiedliche Auffassungen über den Inhalt, die Sicherheit und Zuverlässigkeit dieser Sätze haben. Die Voraussetzung der kausalen Verbindung zwischen dem Beweisthema und dem Beweisfaktum bzw. dem Beweisfaktum und dem Hilfsbeweisfaktum als dem einzigen Kriterium des Verhältnisses ist auch kritisiert worden. Z. B. Eckhoff hat in Frage gestellt, inwieweit die Androhung einer Person, eine andere Person zu töten (und die darüber abzugebende Zeugenaussage als das BF) irgendein kausales Verhältnis zu der Tat (Mord, das BT) habe. 39 Hier geht es aber um drei Beweismechanismen, der erste zwischen der Bedrohung und der Tat, der zweite zwischen der Bedrohung und der Beobachtung und der dritte zwischen der Beobachtung und der Aussage. Von dem ersten Mechanismus kann folgendes gesagt werden: Es gibt verschiedene Typen von Erklärungsmodellen, die, um das menschliches Verhalten im allgemeinen zu erklären, angewandt werden. Diese Modelle werden in zwei Gruppen geteilt, je nachdem, inwieweit sie das Verhalten teleologisch oder kausal erklären und inwieweit den internen oder externen Zuständen Bedeutung zugemessen wird.40 Erklärungstypen des menschlichen Verhaltens KAUSAL

TELEOLOGISCH

INTERN

Kausale Erklärungen

Praktisch-syllogistische Erklärungen

EXTERN

Behavioristische Erklärungen

Funktionelle Erklärungen

38

39

40

Siehe auch Jarnes, 696 ff. Eckhoff 1988, 322 ff. Niiniluoto 1983, 304.

128

4. Kap.: Grundzüge der Beweiswürdigung

Nach den internkausalen und den internteleologischen Erklärungstypen werden Wünsche, Wertungen, Glauben u. ä. eines Menschen als Ursachen ihres Verhaltens verstanden. Nach der kausalen Tattheorie wäre es berechtigt zu sagen: ,,A droht, B umzubringen, weil er ihn umbringen will". Verwendet man das teleologische Erklärungsmodell, wird das menschliche Verhalten als ein Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen, verstanden, wobei der Ausgangspunkt eine mehr oder weniger deutlich ausgedrückte "Willenserklärung" oder Intention des Verhaltenden ist, welche der Form des sog. praktischen Syllogismus folgt. Von Wright hat sie folgendermaßen formuliert41: 1. X will jetzt E verwirklichen. 2. X glaubt, daß er E nicht erreichen wird, wenn er nicht A macht. 3. X beginnt A durchzuführen, falls er nicht gehindert wird.

Der Satz 1. drückt einen gewissen Zweck E einer Person X aus. Nach dem zweiten Satz glaubt X, daß die Tat A eine unbedingte Voraussetzung ist, um E zu erreichen. Die Schlußfolgerung ist dann das Verhalten, nämlich das Durchführen der Tat. Es gibt aber Erklärungsmodelle, die den internen Zuständen keine Bedeutung zurechnen, namentlich der Behaviorismus und die Methode der funktionalistischen Erkliiruft@. Nach der behavioristischen Theorie wird menschliches Verhalten nach einem "Stimulus-Response"-Schema erklärt, ohne daß man irgendwelche mentalen Zustände wie Wünsche, Wertungen oder Glauben mitrechnet. Das behavioristische Modell ist eine Art kausale Theorie, weil sie die verschiedenen Stimuli als Ursache des Response betrachtet, z.B. ,,X hat Brot gestohlen, weil er hungrig war". Das funktionalistische Modell erklärt ein Verhalten mit Hilfe von dessen gesetz- bzw. regelähnlichen Wirkungen. Es ist ein teleologisches Modell, weil es das Verhalten als eine Mittel-Zweck-Beziehung unter Berücksichtigung von äußeren Wirkungen betrachtet, z. B. "Personen begehen Wirtschaftskriminalität, um mehr Geld zu bekommen". Um derartige Schlußfolgerungen darlegen zu können, werden z. B. Motive, Pläne, Bedrohungen, Fähigkeit und Möglichkeit als Beweisfakten angewandt. Das Problem hinsichtlich solcher Beweisfakten ist die zugrundeliegende Tauglichkeit in einzelnen Situationen und bezüglich einzelner Personen. Aber auf einer ganz allgemeinen Ebene können eines oder auch mehrere dieser Erklärungsmodelle als methodologischer Ausgangspunkt angenommen werden. Sie können im Verhältnis zueinander als alternative oder kumulative Erklärungsmodelle betrachtet werden.

41

von Wright, Explanation and Understanding, London 1971.

B. Der Beweismechanismus

129

Entscheidend ist auch, was für eine Fragestellung jeweils zugrunde liegt: die kausale Erklärung antwortet auf die Frage "warum etwas geschehen ist", die teleologische dagegen auf die Frage "für was etwas geschehen ist". 42 Z. B. ,,A hat den B bedroht, weil er ihn umbringen will" oder ,,A bedroht den B, um ihn zu erschrecken". Bedeutungsvoll ist vor allem, daß, wenn wir nicht den Willen, die Wünsche, den Glauben u. ä. geistige Zustände eines Menschen als Ursache ihres Verhalten akzeptierten oder wenn das Verhalten nicht als eine intentionale Wirksamkeit angenommen wird, es völlig unnötig ist zu versuchen, Umstände wie z. B. Motiv oder Pläne auch im Gericht zu beweisen. Es wird behauptet, daß die geistigen Zustände eines Menschen nicht als Ursache für sein Verhalten angesehen werden können, sondern daß sie das Verhalten nur mehr oder weniger verständlich machen. Man kann dies mit den kausalen Verhältnissen zwischen Ereignissen in der Naturwissenschaft vergleichen; auch in der Wissenschaft gilt, daß das Erklären von Ursache und Wirkung es verständlich macht, warum etwas geschehen ist.4 3 Man wendet covering models an und subsumiert einzelne Fakten unter diesen Modellen. 44 Andererseits wird behauptet, daß der Erklärungswert solcher Modelle speziell dann sich mindert, wenn versucht wird, historische Ereignisse zu beweisen. Eine deterministische Erklärung eines bestimmten menschlichen Verhaltens setze namentlich voraus, daß alle Umstände, die Intentionen des Verhandelnden mitgerechnet, erklärt werden müßten. 45 Je mehr man von einer bestimmten Situation weiß, desto kleiner wird der Erklärungswert der allgemeinen, deckenden Erklärungsmodelle. Dies bedeutet, daß allgemeine Erfahrungssätze über das Verhalten von Menschen ihre Bedeutung verlieren, je mehr unsere Kenntnis von der einzelnen Person und ihrem persönlichen Verhalten - Motiven, Gewohnheiten, Denken, Eigenschaften usw. sich vergrößert. Die Schwierigkeit liegt natürlich darin, inwieweit es möglich ist, die psychischen Ursachen und Hintergründe jedes einzelnen Menschen, der vor 42 In der Wissenschaft hat die kausale Erklärung eine erhebliche Bedeutung, weil es eine Vielzahl von Ereignisse gibt, die kausal, aber nicht teleologisch erklärt werden können. Niiniluoto 1983, 264 ff., 302. 43 Niiniluoto 1983, 264 ff. 44 Niiniluoto 1983, 271 ff. Hempel, The Function of General Laws in History. 1942. Ders: Aspects of Scientific Explanation, New York 1965. Popper, 60. von Wright, Explanation and Understanding, London 1971. Siehe auch Klami/Hatakka/ Kastinen, 1993, 127 ff. 45 Siehe William Dray, Laws and Explanation in History, London 1967. Vgl. C. G. Hempel, Aspects of Scientific Explanation, New York 1965. Auch Niiniluoto 1983, 306 f. 9 Gräns

130

4. Kap.: Grundzüge der Beweiswürdigung

Gericht steht, zu untersuchen und zu beweisen, weil es oft hingenommen werden muß, daß Menschen nur selbst wissen können, was sie eigentlich denken oder gedacht haben; und haben sie unter Einfluß von z. B. Alkohol oder Drogen gehandelt, kann es auch für sie selbst ein Mysterium sein, wie sie gedacht haben, was ihre Absicht gewesen ist usw. 46 Hat man wenige spezifische Information, müßten die allgemeinen Sätze im Wissen darum angewandt werden, daß sie vielleicht in einzelnen Fällen weniger sicher funktionieren. Dann muß der Beweiswert solcher Fakten bezüglich des Verhaltens gering bleiben. Je mehr Information man von dem einzelnen Fall bekommt, desto weniger haben die allgemeinen Eifahrungssätze Bedeutung, weil sie nicht mehr in demselben Maße gebraucht werden können.47 Der zweite Mechanismus zwischen z. B. einer Bedrohung und der Beobachtung ist die Art der Beobachtung; inwieweit die Bedrohung eine mündliche oder eine schriftliche gewesen ist, aber auch z. B., inwieweit der Beobachter selbst die Bedrohung - aufgrund seines eigenen Erfahrungswissens - interpretiert hat. Dieser zweite Mechanismus des Zeugenbeweises ist in der Theorie meist problematisch. Umstände, inwieweit der Beobachter selbst die Bedrohung oder die darin zugrundeliegende Bedeutung aufgrund seiner eigenen Erfahrung interpretiert hat, müßten hier beachtet werden, und es bedeutet, daß der Mechanismus um so komplirierter wird, je mehr auch die Motive der Zeugen erklärt werden müssen. Es gibt im Lichte der Zeugenpsychologie ferner mehrere empirische Probleme hinsichtlich der Zeugenaussagen. Z.B. der Erfahrungssatz: "Falsum in uno, falsum in omnibus" ist im Lichte der empirischen Untersuchungen sehr zweifelhaft. 48 Eva Smith hat sogar festgestellt, daß die Glaubwürdigkeit eines Zeugen überhaupt keine statistische Frage ist, sondern im Gegenteil eine ganz individuelle Sache.49 Zeugen sind jedoch eine der wichtigsten Informationsquellen im juristischen Kontext. Wenn es so ist, daß allgemeine Erfahrungssätze bezüglich der Zeugen nicht angewendet werden können, wird es in der Tat schwierig den Zeugenbeweis überhaupt zu bewerten. Von großer Bedeutung ist auch, daß die Zeugen selbst kaum ihre eigene Glaubwürdigkeit bewerten können.50 Eckhoff hat ferner das Kausalverhältnis in einer anderen Bedeutung in Frage gestellt. Z. B. wenn das BT behauptet, daß ein Konstruktionsfehler einen Schiffbruch verursacht hat und ein Expertengutachten teils von 46 47 48 49 50

Siehe Klami/Sorvettula/Hatakka, Dolus Probatus, 128 ff. Lindeil 1987, 233 ff. Siehe spez. Lindeil 1987, 233 ff. Smith, 597. Srnith, 571 ff. So auch Eggleston 1983, 195 f. Siehe oben Kap. III.B.IV.

B. Der Beweismechanismus

131

diesem Fehler (BFI) teils von zugrundeliegender Gefährlichkeit (BF2) berichtet51 , so wäre es sehr zweifelhaft zu behaupten, daß das Beweisthema die Ursache solcher Beweisfakten sein müßte, weil sie zeitlich gesehen vor dem Thema existiert haben. Aber ein Kausalverhältnis zwischen BT und BF setzt nicht voraus, daß genau das BT das BF verursacht hat. Es ist durchaus möglich, daß das BF das BT verursacht hat. Es ist natürlich auch möglich, Schlußfolgerungen von einem kausalen Verhältnis sowohl aufgrund der Ursachen als auch der Wirkungen zu machen: der Konstruktionsfehler kann den Unfall verursacht haben. Seine allgemeine oder spezielle Gefährlichkeit ist aber eine Sache, die schwer mit Hilfe von strengen kausalen Schemen zu erklären ist. "Gefährlichkeit" ist kein bloßes Faktum, sondern beinhaltet auch Auslegung mit Hilfe von statistischer oder strenger Kenntnis über kausale Verhältnisse. Sie sagt aber nichts über das BT aus, sondern darüber, ob es bestätigt werden kann, daß der Fehler (BFI) den Schiffbruch im Lichte der zugrundeliegenden allgemeinen/speziellen Gefährlichkeit verursacht hat. Das von Eckhoff behauptete BF2 ist also kein selbständiges Beweisfaktum, sondern ein Teil vom BFI oder möglicherweise ein Hilfsbeweisfaktum, und hat demzufolge Wirkung auf das kausale Verhältnis zwischen dem Schiffbruch und dem Konstruktionsfehler. Mit dem logischen Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilen des Beweismechanismus ist gemeint, daß die Gesetze der Logik einerseits in allen Zusammenhängen benutzt werden können, aber andererseits müssen sie auch respektiert werden. Ein gutes Beispiel ist der logische Aufbau des Elirninierungsbeweises.52 Wir können jetzt folgende Vierteilung vornehmen 53 : I. Der Regelfall: das Beweisthema hat das Beweisfaktum verursacht. Ein bestimmtes Ereignis hat die Beobachtungen verursacht; daß der Angeklagte am Tatort gewesen ist, hat seine Fingerabdrücke an diesem Ort verursacht. 2. Der Ausnahmefall: Das Beweisfaktum hat das Beweisthema verursacht.

Z. B. spezielle Kenntnisse des Angeklagten haben verursacht, daß er die Tat auf eine bestimmte Weise begangen hat.

3. Das Verhältnis zwischen BT und BF kann aber auch logisch und nicht rein kausal sein. Angenommen, daß das BT lautet: Der Vertragsbruch

des Beklagten hat nicht die Schäden des Klägers verursacht. Der Beklagte hat jetzt zwei Alternativen:

51

52 53 9*

Eckhoff SvJT 1988, 324 f. Siehe unten Kap. V.G.l. Klami/Hatakka/Kastinen 1993, 121 f.

132

4. Kap.: Grundzüge der Beweiswürdigung

3 .1. Er kann versuchen, darzulegen, daß keine Vertragsverletzung geschehen ist: er legt einen Beweis über sein Verhalten vor, welches weiter unter Berticksichtigung des Vertrages und der Normten interpretiert wird. Gelingt es ihm, das Gericht davon zu überzeugen, daß keine Verletzung geschehen ist, kann gesagt werden, daß das BT die Beweisfakten über das Verhalten verursacht hat. Keine Verletzung = rechtmäßiges Verhalten. Das kausale Verhältnis basiert natürlich auf der normativen Interpretation. 3.2. Der Beklagte kann auch darzulegen versuchen, daß die Schäden wegen irgendeines anderen Umstands als der Vertragsverletzung verursacht wurden. Angenommen, ihm gelingt der Beweis, daß die Schäden von X verursacht wurden. Von diesem Faktum her kann eine logische Schlußfolgerung geführt werden, daß die behauptete Vertragsverletzung nicht die Schäden verursacht hat. Die Eliminierungsmethode ist ein typischer Fall von logischer Schlußfolgerung: wenn dargelegt worden ist, daß ein Ereignis E von entweder A oder B verursacht wurde und A eliminiert werden kann, dann folgt, daß B die Ursache sein muß. Hier muß natürlich Gewißheit über den Satz ,,A oder B" bestehen. 4. Das Verhältnis zwischen einem BF und BT kann eine mehr oder weniger normative Interpretation voraussetzen. Eine andere Situation der Auslegung ist vorhanden, wenn das Verhältnis auf einer nicht-kausalen Erklärung des menschlichen Verhaltens basiert. Z. B.: Angenommen, daß A nach der Zeugenaussage den B angeschrien hat: "Ich werde dich umbringen!". Gleich danach hat er in der Tat den B geschlagen. Beim Beweisthema geht um die Absicht des A, den B umzubringen. Die Beobachtung des Zeugen - die an sich mehr oder weniger unsicher sein kann - ist nicht das entscheidende Faktum, sondern die Aussage von A. Kann aufgrund dieser Aussage festgestellt werden, daß A die Absicht hatte, den B umzubringen? Dies ist ein Faktum über den geistigen bzw. psychischen Zustand von A, und nur A kann wissen, was er gedacht hat. Man muß die Aussage unter Berticksichtigung von allgemeinen Erfahrungssätzen über menschliches Verhalten bewerten und interpretieren: Was für Schlußfolgerungen können im allgemeinen aufgrundsolch einer Aussage im Hinblick auf die Absicht gemacht werden? Kann irgendeines der internen Erklärungsmodelle angewandt werden? Bedeutungsvoller in solchen Situationen ist aber die Information, die wir von der speziellen Situation haben: die Art der Gewalt, das Verhältnis zwischen A und B, Gewohnheiten von A usw. Um das Denken des A zu verstehen, müßten allgemeine Erklärungsmodelle, die auf allgemeiner Lebenserfahrung basieren, herangezogen werden: "Böse Menschen äußern zugrundeliegende Absichten laut verbal" oder "Je mehr Gewalt angewandt wird, um

B. Der Beweismechanismus

133

so ernsthafter die Konsequenzen, desto wahrscheinlicher ist die Tötungsabsicht". Solche Schlußfolgerungen müßten aber auch unter Berücksichtigung der speziellen Information über A, seine Gewohnheiten, sein Verhältnis zu B usw. bewertet werden. 54 Wir haben hiermit die Natur des Beweismechanismus diskutiert, um darzulegen, daß es um heterogene Elemente geht: kausale und logische Verhältnisse, Auslegung der Normen und Verständnis des menschlichen Verhaltens aufgrund verschiedener Erklärungsmodelle. Die nächste Frage ist, inwieweit es dem Beurteilenden möglich ist, die vorhandene Information in der Weise so zu bewerten, daß es sinnvoll ist, von Beweiswerten in bezug auf die Verhältnisse zwischen den Beweisfakten und -themen in Begriffen der Wahrscheinlichkeit zu sprechen.

54

Vgl. auch Lindeil 1987, 233 ff.

Kapitel V

Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit A. Einleitung Die Anwendung verschiedener Wahrscheinlichkeitsbegriffe in juristischen Zusammenhängen ist in diesem Jahrhundert stetig angewachsen. 1 Das Bewußtsein darüber, daß Tatsachenschlußfolgerungen auch bei Gerichtsverfahren induktive und deshalb Wahrscheinlichkeitsschlüsse sind, hat bedeutet, daß Juristen überall versucht haben, solche Beweiswürdigungsmethoden auszuarbeiten, in denen Wahrscheinlichkeitstheorien benutzt werden, um Erfordernisse des induktiven Schließens zu erfüllen. Dies kann speziell in der amerikanischen Rechtspraxis beobachtet werden. 2 Man spricht von einer "neuen Wissenschaft der Beweiswürdigung"3 . Aber es gibt überraschend große Meinungsverschiedenheiten über die Gründe der verschiedenen Wahrscheinlichkeitsbewertungen in den Gerichtsverfahren. Eines der größten Probleme scheint der Begriff Wahrscheinlichkeit selbst zu sein. Eleonora Bourmistrov-Jüttner hat 1986 die verschiedenen von den Juristen in den USA, Deutschland und Schweden von 1960 bis 1971 in der juristischen Literatur verteidigten Theorien untersucht, wobei sie festgestellt hat, daß "die Autoren meistens von vagen und sogar naiven Vorstellungen vom Wahrscheinlichkeitsbegriff ausgehen, ihn häufig mißdeuten oder ihn 1 Vgl. Bourmistrov-Jüttner, 79 ff. Die Diskussion, wie auch Bourmistrov-Jüttner betont, über die Anwendbarkeit und Bedeutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Rechtspraxis ist natürlich viel älter. Vgl. nur z. B. J. Bentharn, A Treatise on Judicial Evidence.(1825) G. Boole, On the Application of the Theory of Probabilities to the Question of the Combination of Testimonies or Judgments (1857), J. H. Wigmore, Evidence (1913), J. v. Kries, Über die Begriffe der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit und ihre Bedeutung im Strafrecht (1889) und G. F. Jarnes, 689705. 2 Kaplan/Waltz/Park, 352 ff. 3 Kaplan/Waltz/Park, 360. Lempert, 1986, 439. Schum macht einen Unterschied zwischen fünf verschiedenen Schulen: "1. The Pascal!Bayes School of Probability and Uncertainty, 2. The Bacon/Mili/Coben School of Inductive Probability, 3. The Shafer/Dempster School of Non-additive Beliefs, 4. The Zadeh School of Fuzzy Probability and Inference, and 5. The Scandinavian School of Evidentiary Value." Schum 1986, 826. Auf diese wird hier nicht eingegangen, weil es hier nur die hauptsächliche Absicht ist, die Grundzüge der von mir verteidigten Theorie vorzulegen.

A. Einleitung

135

für eine Trivialität halten"4 . Auch hat sie die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, daß sehr oft überhaupt keine Explikationen der verwendeten Wahrscheinlichkeitsbegriffe in den Schriften zu finden sind und davon abgesehen wurde, bestimmte Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung überhaupt zu erklären.5 So lange man davon ausgeht, daß es auch bei der gerichtlichen Beweiswürdigung um induktive Schlüsse, d. h. Wahrscheinlichkeitsschlüsse, geht, muß man jedoch in irgendeiner Weise bestimmen können, was es für ein Wahrscheinlichkeitsbegriff ist, der hier paßt. So schreibt Lindeil treffend6 : "Zu fragen, was für eine Methode bei der Beweiswürdigung angewendet werden sollte, heißt zu fragen, was es für ein Wahrscheinlichkeitsbegriff ist, auf dem sie basiert". Aber gibt es nur einen anwendbaren Begriff, oder sollte man die Anwendung von mehreren Begriffen hinzunehmen? Die Anwendbarkeit verschiedener Wahrscheinlichkeitsbegriffe ist davon abhängig, was der ontologische und epistemologische Grund der jeweils zugrundeliegenden Information ist und worüber die jeweilige Information eigentlich berichtet. In gerichtlichen Zusammenhängen geht es zwar schließlich um die Wahrscheinlichkeit eines einzelnen Ereignisses. Es ist dieser Umstand, der ganz entscheidend für die Anwendung von verschiedenen Wahrscheinlichkeitsbegriffen bei der gerichtlichen Beweiswürdigung ist. Sowohl Juristen als auch Philosophen haben die Anwendbarkeit von statistischen (objektiven, frequentistischen), logischen und subjektiven Wahrscheinlichkeiten auf die gerichtliche Beweiswürdigung untersucht. Es scheint jedoch die Annahme begründet zu sein, daß es dabei vor allem um die subjektive Wahrscheinlichkeit geht, weil die Beweiswürdigung einen bestimmten, rational begründeten Glaubensgrad des Beschlußfassers zu erreichen zielt. Was für eine Rolle die anderen Wahrscheinlichkeitsbegriffe hier spielen oder spielen sollen ist eine Frage, die in jedem einzelnen Fall sowohl aufgrund der zu stellenden Fragen als auch der vorhandenen Information beantwortet werden muß. 7

Bourmistrov-Jüttner, XII. Bourmistrov-Jüttner, XII. Sie vertritt aber bestimmt die Auffassung, daß die gerichtliche Beweiswürdigung in der Tat aus Wahrscheinlichkeitsschlüssen besteht und daß die Beurteilung juristischer Sachverhaltshypothesen aufgrund des subjektiven oder in bestimmten Fällen auch des objektiven Wahrscheinlichkeitsbegriffs am besten vorzunehmen ist und sein soll. 6 Lindeil 1987, 134. Meine Übersetzung. Kursivierung im Original. 7 Von der Strittigkeit über die Anwendung verschiedener Wahrscheinlichkeitsbegriffe, siehe z. B. Bourmistrov-Jüttner, 79 ff. und Nell, 18 ff., 61 ff. 4

5

136

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

B. Der objektive Wahrscheinlichkeitsbegriff Der objektive Wahrscheinlichkeitsbegriff kann auch als statistische, empirische oder Frequenzwahrscheinlichkeit bezeichnet werden. Gemeinsam für alle diese Begriffe ist, daß mit ihnen nur in Verbindung mit wiederholbaren Proben oder Vorgängen von Wahrscheinlichkeit gesprochen werden kann. 8 Vor allem von Mises und Reichenbach haben die Natur der Frequenzwahrscheinlichkeit in unserem Jahrhundert untersucht und sie entwickelt. Von Mises definiert Wahrscheinlichkeit als eine long-runjrequenz, den Grenzwert der relativen Häufigkeit eines Merkmals in einer Menge. 9 Er meint, daß man von Wahrscheinlichkeit nur dann reden kann, wenn "es sich um einen vielfaltig wiederholbaren Vorgang, um eine in großen Mengen auftretende Erscheinung, . . . um eine praktisch unbegrenzte Folge von gleichartigen Beobachtungen handelt". 10 Die relative Häufigkeit des Auftretens des fraglichen Ereignisses ist der Wert, dem es sich um so mehr annähert, aus je mehr einzelnen Vorgängen die Menge besteht. 11 Z. B. scheint sich beim Werfen von Münzen der Grenzwert von Kopf oder Zahl dem Wert 112 anzunähern, je öfter die Würfe wiederholt werden. Dies gilt jedoch nicht für eine geschlossene Menge von Würfen. Der Anwendungsbereich dieser Wabrscbeiaücbkeitstheorie ist deswegen auf liOkhe Gebiete begrenzt, in denen lange Beobachtungsreihen gemacht werden können, und sie ist vor allem bei Glücksspielen, in der Physik oder im Versicherungswesen anwendbar. Die Frequenztheorie macht es also sinnvoll, von verschiedenen statistischen Gesetzmäßigkeiten zu sprechen, z.B. "70% der Raucher werden Lungenkrebs bekommen", "die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein 50jähriger schwedischer Mann noch 15 Jahre lebt, beträgt 80%". Gegen von Mises' Theorie sind mehrere Einwände erhoben worden. Einer der wichtigsten ist, daß die auf diese Weise bestimmten W ahrscheinlichkeiten weder verifiziert noch falsifiziert werden können, weil man von einer unendlichen Menge von Proben ausgehen muß. 12 Dieser Einwand betrifft jedoch nur die Verwendbarkeit dieser Wahrscheinlichkeit bei Tests von empirischen Hypothesen, Theorien oder induktiven SchlußfolgerungenY 8 Schon die Definition von Aristoteles, nach der solches wahrscheinlich ist, was üblicherweise geschieht, enthält den Gedanken der WiederholbarkeiL Niiniluoto 1983, 55 ff. 9 von Mises, 263. 10 von Mises, 12. Kursivierung im Original. 11 von Mises, 263. 12 Stegmüller 1977, 37. Keynes, 92 ff. Niiniluoto 1983, 60 ff. 13 Stegmüller 1973, 32 ff. Bounnistrov-Jüttner, 38 ff.

B. Der objektive Wahrscheinlichkeitsbegriff

137

Einer der uns besonders interessierenden Einwände ist, daß eine korrekte Interpretation von Aussagen über Wahrscheinlichkeiten von Einzelereignissen aufgrund der Häufigkeitstheorie unmöglich ist. Deshalb lehnt z.B. von Mises es ausdrücklich ab, sich mit singulären Ereignissen zu befassen.14 Es gibt dennoch Wissenschaftler, vor allem Reichenbach und Salmon, die versucht haben, die Häufigkeitstheorie weiterzuentwickeln, so daß sie auch als Grund für Erwartungswertungen über Einzelereignisse angewandt werden konnte. Nach Reichenbach und Salmon bedeutet die Wahrscheinlichkeit ein Verhältnis zwischen zwei Klassen: die Wahrscheinlichkeit P(A/B) bezeichnet die relative Häufigkeit der Attributklasse A im Verhältnis zu der Referenzklasse BY Reichenbach und Salmon geben jedoch zu, daß man auch hier nicht von der Wahrscheinlichkeit eines Einzelereignisses sprechen kann. Statt dessen können aber die Klassen so gewählt werden, daß man ihnen ein gewisses "Gewicht" zumessen kann. 16 Die Lebenserwartung von 50jährigen schwedischen Männer ist ein gutes Beispiel. 17 Ein Versicherungsunternehmer bewertet z. B. aufgrund der Sterblichkeitsstatistiken, daß eine Wahrscheinlichkeit von 70% vorliegt, daß alle schwedischen 50jährigen Männer noch 15 Jahre zu leben haben. Nach der Frequenztheorie von von Mises bedeutet dies, daß, wenn wir unendliche Male einen Mann aus der Gruppe "50jährige schwedische Männer" heranzögen, die Wahrscheinlichkeit, daß er noch 15 Jahre leben wird, 70% ist. Eine Versicherungsfirma interessiert sich aber nicht für alle Männer, sondern für einen einzelnen Versicherungsnehmer. Die Lebenserwartung eines bestimmten Versicherungsnehmers braucht nichts mit der statistischen Lebenserwartung zu tun zu haben. Vielleicht ist er Raucher, hat dazu eine Asbestlunge, fünf seiner Vorväter sind an Herzinfarkt gestorben usw. Andererseits gibt es denjenigen, der sein Leben lang Sport getrieben hat, seine Ernährung kontrolliert hat, nie Übergewicht gehabt hat usw. Die Lebenserwartung eines einzelnen kann deshalb deutlich von dem allgemeinen statistischen Erwartungswert abweichen. Nach Reichenbach und Salmon können die 50jährigen Männer in Referenzgruppen eingeteilt werden, so daß z. B. alle Raucher eine Referenzgruppe und alle Sportler eine andere Referenzgruppe bilden. 18 Je nachdem, in welche Gruppe der einzelne gehört, könne dann eine gerrauere Lebenserwartung bewertet werden. Dies funktioniert in gewissem Grad gut, und oft 14 15

16 17

18

von Mises, 10 f. Reichenbach, 372 ff. Salmon 1966, 83 ff. Ders.: 1984, 34 ff. Reichenbach, 372 ff. Salmon 1966, 83 ff. Ders.: 1984, 34 ff. Das Beispiel hier ist eine Modifizierung von Ähnlichem bei Niiniluoto, 1983, 59. Reichenbach, 372 ff. Salmon 1966, 83 ff. Ders.: 1984, 34 ff.

138

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

verwenden Versicherungsfirmen derartig sondierte Referenzgruppe. Das Problem dabei ist aber, daß die Lebenserwartung sich ständig verändert, wenn weitere Merkmale beriicksichtigt werden.19 Aber je mehr Merkmale zur Bestimmung der Eigenschaften der Referenzgruppe verwendet werden, desto kleiner wird sie, so daß schließlich eine statistische Aussage nicht mehr möglich ist und es sich am Ende zeigt, daß das Individuum selbst das einzige Mitglied der Referenzgruppe ist. 20 Hier liegt auch die Schwierigkeit, die statistische Information als Beweis in gerichtlichen Verfahren anzuwenden, weil dort in der Regel von einzelnen Fällen die Rede ist. Es ist jedoch normal, daß statistische Informationen in den Gutachten von Sachverständigen benutzt werden.Z 1 Der Wert solcher Information ist davon abhängig, wie gut man den einzelnen Fall im Verhältnis zu der Referenzgruppe identifizieren kann. Ohne Zweifel gibt es in diesen Gutachten auch solche Information, auf deren Grund sehr sichere Schlußfolgerungen möglich sind. Vaterschaftsindex, DNA-Analyse, Fingerabdrucke, chemische und technische Analyse von Ursachen verschiedener Ereignisse wie Feuer, sind nur einige Beispiele des immer weiter wachsenden Bereichs der in Gerichten verwendeten statistischen Information. Es ist jedoch wichtig für den Richter, daß er den Hintergrund derartiger Information untersucht, so daß er weiß, mit welcher Sicherheit man auf ihrem Grund Scblußfolaenmgen in eiazelReD Fällen UeheA kalul.22 Dieser Umstand ist sehr wichtig, wird aber zu wenig bei der gerichtlichen Beweiswürdigung beachtet.

C. Der subjektive Wahrscheinlichkeitsbegriff Nach der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie sind verschiedene Wahrscheinlichkeitswertungen Ausdrucke unseres subjektiven Glaubens oder unserer Überzeugung über das Eintreten oder die Ursachen verschiedener Ereignisse, die relativ zu der uns verftigbaren Information aufgrund von Kenntnissen oder Erfahrung sind. 23 Es ist normal, daß solche Wertungen in ganz alltäglichen Situationen angewandt werden: "Wahrscheinlich Keynes, 92 ff. Niini1uoto 1983, 59 ff. Eggleston 1983, 18 ff. So auch Niiniluoto 1983, 59 ff. Nell, 24 ff. Keynes hat die frequentistische Wahrscheinlichkeitstheorie kritisiert und zutreffend konstatiert: "in the long run we are all dead". Zitiert in Niiniluoto 1983, 61. 21 Lempert weist auf eine LEXIS-Untersuchung hin, nach der die Anwendung des statistischen Beweises in der amerikanischen Rechtspraxis zwischen 1960 und 1979 drastisch gewachsen ist. Lempert 1986, 442. Siehe auch Eggleston 1983, 21 ff. 22 Damit ist die sog. "Wahrscheinlichkeit des zweiten Grades" gemeint. Siehe z.B. Klarni/Sorvettula!Hatakka, Evidentiary Value, 36 ff. Dies.: Studies, 71 ff. Lempert 1977, 1027 ff. 19

20

C. Der subjektive Wahrscheinlichkeitsbegriff

139

komme ich nicht rechtzeitig zum Mittag, weil ich noch viel Arbeit zu bewältigen habe", "Er hat wahrscheinlich unser Treffen vergessen, weil er nicht gekommen ist", "Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich irgend etwas Falsches gegessen habe, weil ich mich jetzt schlecht fühle" usw. In gerichtlichen Zusammenhängen können z. B. folgende Aussagen gedacht werden: "Es ist sehr wahrscheinlich, daß das Unterlassen von B, den Wasserhahn zu schließen, die Überschwemmung verursacht hat", "Er hat ein fast sicheres Alibi, weshalb er kaum seine Frau getötet haben kann", "Es ist mit Berücksichtigung des Berichts seiner Freundin sehr wahrscheinlich, daß genau er das Geld gestohlen hat." Nach der subjektiven Auslegung drückt die Wahrscheinlichkeit ein Verhältnis zwischen zwei Sätzen, Hypothese H und Evidenz E aus. Das Verhältnis ist weder logisch noch objektiv, sondern es wird als ein Verhältnis, das mit einem individuellen Index ausgerüstet ist, verstanden. 24 Das Problern bei den subjektiven Glaubensgraden ist aber genau der individuelle Index, weil es auf der individuellen Intuition basiert, die von Subjekt zu Subjekt variiert. Deshalb ist es hier schwer, zu rnetrisieren und zu präzisieren. 25 Im Rahmen der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie werden jedoch Normen für die rationale, d. h. konsistente und konsequente Verknüpfung von Glaubensannahmen miteinander angestrebt. Solche Normen besagen nicht, wie oder was tatsächlich gedacht wird, sondern stellen eine rationale Theorie des Schließens dar. Sie können mit den Normen des logischen Denkens verglichen werden; will man logisch denken, dann müssen die Regeln der Logik befolgt werden. 26 Diese elementaren Regeln zu kennen, hilft demjenigen, der Beschlüsse fassen muß, seine eigene Logik und die Schlußfolgerungen kritisch zu erforschen und zu überprüfen. 23 Der subjektive Wahrscheinlichkeitsbegriff wurde vor allem von Bruno de Finetti und Frank P. Ramsey entwickelt, obwohl schon Jacob Bernoulli, Laplace und Augustus De Morgan die Auffassung vertreten haben, daß man unter Wahrscheinlichkeit "the degree of belier• verstehen müßte. Ramsey, F. P., The Foundations of mathematics, and other Logical Essays, London 1931. de Finetti, B., La Prevision: Ses Lois Logique, Ses Sources Subjectives, annales de l'Institut Henri Poincare, Bd. 7 (1937), 1-68. Ders.: Probability, Induction and Statistics: The Art of Guessing, New York 1972. Andere Wissenschaftler, die diese Theorie entwickelt haben, sind Leonard J. Savage, The Foundations of Statistics Reconsidered, in Kyburg und Smokler (eds) Studies in Subjective Probability, New York 1964.; Patrick Suppes, Studies in the Methodology and Foundations of Science: Selected Papers from 1951 to 1969, Dordrecht 1969; und Richard Jeffrey, The Logic of Decision, New York, 1965. Siehe auch z. B. Niiniluoto 1983, 65. Cullison 1969, 551 ff. Bourmistrov-Jüttner, 22 ff. Nell, 32 ff., 74 ff. Eggleston 1983, 10 ff. 24 Niiniluoto 1983, 65 ff. Cullison 1969, 552. Bourmistrov-Jüttner, 22 ff. 25 "The degree of belief ... has no precise meaning unless we specify more exactly how it is tobe measured." Ramsey, 69. Bourmistrov-Jüttner, 22 ff. 26 Bourmistrov-Jüttner, 23. Vgl. auch Cullison 1969, 551 ff.

140

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

Wenn es um den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff geht, so muß erstens der Begriff der komparativen Wahrscheinlichkeit erklärt werden. Es geht um die Frage, was es bedeutet und unter welchen Voraussetzungen Ausdrücke wie "a ist höchstens so wahrscheinlich wie b", "a ist wahrscheinlicher als b" oder "a ist so wahrscheinlich wie b" gelten sollen.27 Wir lassen a und b Aussagen über Sachverhalte sein. "a :-:::; b" gilt für den Ausdruck "a ist höchstens so wahrscheinlich wie b".

"a < b" := ~ (b < a); a ist weniger wahrscheinlich als b. "a = b" := a :-:::; b Ab:-:::; a; a und b sind gleich wahrscheinlich. 28

Unter gewissen Bedingungen29 kann ein komparativer Wahrscheinlichkeitsraum definiert werden, innerhalb dessen die zweistellige Relation ::; gilt?0 Für die Metrisierung des komparativen Wahrscheinlichkeitsbegriffs sind mehrere Ansätze gegeben worden. Z.B. Savage hat das folgende Axiom dargelegt: Unter Geltung von31 : 1. P(a) 2: 0 2. P(q)

= 1, wo q eine Menge der logisch möglichen Zustände ist

3. P(a V b)

= P(a) + P(b) fllr a Ab= 0

27 Hier wird der Darlegung von Bourmistrov-Jüttner, 22 ff. in allen wesentlichen Punkten gefolgt. Siehe auch z. B. Savage, 30 ff. 28 Bourmistrov-Jüttner, 24. Es gelten die Symbole: V = "oder"; A = "und"; --+ = " ... wenn ... , dann ..."; +-+ genau dann, wenn .. .". 29 Bourmistrov-Jüttner, 24. Nach ihr sollen folgende Bedingungen vom Explikat des Wahrscheinlichkeitsbegriffs stets erfüllt sein (hier vereinfacht): 1. a :-:::; b V b :-:::; a; garantiert stets die Vergleichbarkeit von zwei Sätze aus n d. h. von dem Definitionsbereich P aus. 2. a :-:::; b A b :-:::; c --+ a :-: :; c; Transitivität. 3. 0 :-: :; a; eine logisch unmögliche oder kontradiktorische Aussage ist praktisch ausgeschlossen. 4. a Ab= b Ac= 111 --+ (a :-: :; b +-+ a V c :-:::; b V c); drückt die Monotonie von ~ bzgl. der Operation V aus. 5. Ist al, a2, . . . eine Folge von Sätze, für die gilt al E ai + 1 für alle i = 1, 2, .. . , so gilt ai :-:::; b, wenn für alle i gilt ai :-:::; b; der Grenzwert einer aufsteigenden Folge ai ist nicht wahrscheinlicher als eine obere Schranke für die W ahrscheinlichkeit der Glieder ai. Bourmistrov-Jüttner, 24 f. 30 Bourmistrov-Jüttner, 25 f. 31 Unter Voraussetzung eines Wahrscheinlichkeitsraums: "zu jedem komparativen Wahrscheinlichkeitsraum < Q, n, :-::::> gibt es genau eine reellwertige Funktion P auf n mit den Eigenschaften 1., 2. und 3." Bourmistrov-Jüttner, 27 mit Hinweisen. Q = Möglichkeitsraum von Ereignissen; n = Definitionsbereich von P, eine Mengenfunktion, deren Elemente Ereignisse sind; 0 = eine leere Menge. Vgl. auch Rüßmann 1987, 329 ff.

="...

C. Der subjektive Wahrscheinlichkeitsbegriff

141

gibt für den komparativen Begriff :S eine entsprechende Wahrscheinlichkeit

P, so daß gilt

a :Sb 0 sind, revidierte Wahrscheinlichkeifen gerechnet werden können. Sie sagen nichts darüber, wie diese Wahrscheinlichkeitswerte spezifiziert werden. Um sie anwenden zu können, müßten diese deswegen erst nach dem jeweils angewandten Wahrscheinlichkeitsbegriff und den zugrundeliegenden Voraussetzungen bestimmt werden. Die Formeln bilden jedoch das logische und rationale Fundament auch für die Beweiswürdigung aufgrund der subjektiven Wahrscheinlichkeitswertungen, ganz unabhängig von dem Faktum, ob man numerische Ausdrücke anwendet oder nicht, welches noch näher zu erörtern ist. Ein wichtiges Problem in dem hier relevanten Sinne ist, inwieweit das Axiom von der sog. zweiseitigen Wahrscheinlichkeit haltbar auch in den verschiedenen Beweissituationen der gerichtlichen Praxis ist.

E. Über die Anwendbarkeit des Axioms P(a) = 1- P("' a) bei der gerichtlichen Beweiswürdigung Die gerichtliche Beweiswürdigung hat vor allem zur Aufgabe, die Existenz der verschiedenen Tatsachenbehauptungen im Lichte der vorliegenden Information zu überprüfen. Parteien versuchen das Gericht davon zu überzeugen, daß genau die von ihnen vorgelegten meistens verschiedenen Tatsachenbehauptungen als Tatsachenprämisse des Urteils akzeptiert werden müssen. Diese Behauptungen bilden verschiedene Beweisthemen, die kontradiktorische sein können, wie in so einem Fall, in dem der Staatsanwalt behauptet, der Angeklagte sei schuldig, und der Angeklagte behauptet, er sei nicht schuldig, weil er ein Alibi hat. Man spricht also einerseits von dem Beweisthema (BT) und andererseits von dessen mehr oder weniger klaren Negation, dem Gegenbeweisthema ("' BT). Vor allem skandinavische und amerikanische Beweistheoretiker haben sich damit beschäftigt, ob man auch bei der Beweiswürdigung von dem Axiom P(BT) =I- P'("' BT) ausgehen kann. Mir scheint das Axiom P("' a) = I - P( a) in seiner Anwendung jedoch zu allgemeinen, weil das "' a in dem kolmogorovischen Axiom das logische Gegenteil des a ist, welches bedeutet das "' a "alles anderes aber nicht das a" bedeutet. Bei der Beweiswürdigung des Gerichts geht es jedoch oft um zwei bestimmte Alternativen. Wenn dort z. B. die Alternativen BT = "schuldig am Mord des M" und "' BT = "schuldig an der Tötung des M" als Beweisthemen vorliegen, gilt das "' BT nicht als "' a in dem oberen Sinne, sondern als ein besonderer Teil (ein gewisses Ereignis) innerhalb aller möglichen "' a.39

E. Über die Anwendbarkeit des Axioms P(a)

= 1- P(~ a)

145

Dies bedeutet, daß nicht gesagt werden kann, daß 30% Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß z. B. E den M ermordet hat und gleichzeitig 70% Wahrscheinlichkeit dafür, daß E den M . (nur) getötet hat. Demzufolge ist es eher irreleitend, in jedem Fall immer das Symbol ,...., BT für das jeweils alternative Beweisthema anzuwenden. Dessen Inhalt wird je nachdem bestimmt, was für eine Tatsachenbehauptung oder Norm es ist, die die Gegenpartei als ihr Beweisthema hervorhebt. Wenn die Alternativen schuldig/nicht schuldig sind und der Staatsanwalt Beweise nur für die Schuld des Angeklagten vorlegt, während der Angeklagte keinen Beweis vorlegt, haben wir eine Situation, wo P(BT) = a. Würde das Axiom akzeptiert, müßte davon ausgegangen werden, daß mit P(l - a) Wahrscheinlichkeit hingenommen werden müßte, daß er nicht schuldig ist, obwohl es keinen konkreten Beweis dafür gibt. Eigentlich bezeichnet aber P(l- a) nur einen Bereich der Unsicherheit, d.h. eine Grauzone, welche wegen der strafprozeßrechtlichen Maxime in dubio pro reo zugunsten des Angeklagten gerechnet wird. Ist die Unsicherheit zu groß, was dann der Fall ist, wenn der Beweiswert des Schuldbeweises das erforderliche Beweismaß nicht erreicht hat, trägt der Staatsanwalt (Staat und Gesellschaft) das Risiko der Ungewißheit, und der Angeklagte wird freigesprochen. Dieser Freispruch erfolgt aber nicht, weil es bewiesen ist, daß der Angeklagte unschuldig ist, sondern weil der Schuldbeweis nicht ausreicht. Es ist also nicht eine Frage irgendeines Beweiswertes für die Unschuld, sondern eines Bereichs der Unsicherheit und der allgemeinen Beweislast der Staatsanwaltschaft. Was Zivilfälle angeht, so gibt es keine allgemeine Maxime darüber, wie die Grauzone zwischen den Parteien verteilt werden müßte, sondern eine Menge von Regeln der sog. objektiven Beweislast. Es kann in Zivilsachen auch nicht axiomatisch hingenommen werden, daß ein schwacher Beweis für das Beweisthema des Klägers ein starker Beweis für das Beweisthema des Beklagten sei oder das Gegenteil; daß z. B. ein schwacher Beweis für eine schon erfüllte Leistung ein starker Beweis für die Nichtleistung derselben Schuld wäre. Es kommt dagegen darauf an, ob der Wert des vorgebrachten Beweises das Beweismaß erreicht hat oder nicht. Wenn dem nicht so ist, wird der Fall nach der Regel der objektiven Beweislast entschieden. Nehmen wir an, daß der Beweiswert für die Erfüllung einer Leistungsverpflichtung aufgrund eines von dem Schuldner (Beklagten) vorgebrachten Beweises 40% ist. Wir nehmen ferner an, daß der Beweiswert des vom Gläubiger vorgelegten Beweises 30% ist und er keinen Beweis für Nichtbe39 Allen hat in den USA über diesen Umstand- er spricht von ambiguity- eine sehr interessante Diskussion geführt. Siehe z.B. Allen, 1986, 407 ff. Ders.: 1994, 604 ff. Ders.: 1995, 23-31. 10 Gräns

146

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

zahlung vorgebracht hat und daß das geforderte Beweismaß bei 51 % liegt. Einen Fehler macht nun derjenige, der in diesem Fall behauptet, daß der Schuldner den Fall deswegen verlieren soll, weil die Wahrscheinlichkeit für die Nichtleistung aufgrund des von dem Schuldner vorgebrachten Beweises 60% ist. Nach der hier vertretenen Theorie sind die Beweiswerte 40% und 30%, aber zusätzlich gibt es eine Grauzone, d.h. eine Zone der Unsicherheit von 30%. Der Schuldner verliert den Fall, weil er nach einer objektiven Beweislastregel das Risiko der zu großen Unsicherheit tragen soll, trotzdem er einen sichereren Beweis vorgelegt hat als der Gläubiger. Man kann sich jedoch fragen, ob die zivilrechtliehen Beweislastnormen, nach denen die Grauzone zugunsten nur einer Partei gerechnet wird ganz und immer zweckmäßig sind. 40 Die Idee der axiomatischen Anwendung der formalen Wahrscheinlichkeit bei der Beweiswürdigung gründet sich darauf, daß die Wahrscheinlichkeit bzw. der Beweiswert der verschiedenen Beweisthemen und deren Negationen wenigstens teilweise ohne Berücksichtigung der eventuellen Unvollkommenheit der vorgebrachten Information bestimmt wird. Das auf der axiomatischen Beyes-Regel beruhende Nichtbeachten der Grauzone ist auch im Lichte der geltenden Beweislastregeln fehlerhaft, weil sie genau die Teilung der Grauzone regeln. Wäre es richtig, das Theorem axiomatisch anzuwenden, bräuchten wir keine Bew~eaeln iD Zivü.fällen. Das es eine positive Lösung bezüglich des Problems der Beweislast wäre, scheint für mich nicht ganz begründet zu sein. Wie später noch zu erörtern ist, kann die Grauzone z. B. auch aufgrund einer rationalen Argumentation und Bewertung in Einzelfällen geteilt werden, wonach eine Lösung auch durch einen relativierten Vergleich des von jeder Partei vorgebrachten Beweises gefunden werden kann.41 Verschiedene Beweisfakten können mitwirkend oder kontradiktorisch im Verhältnis zueinander wirken. Schlußfolgerungen aus einem Beweisfaktum oder mehreren Beweisfakten zu einem gewissen Beweisthema und zu dessen Gegenbeweisthema sind von allgemeinen Eifahrungssätzen abhängig und bestehen demzufolge aus induktiven Schlußfolgerungen, deren Beweiswert aufgrund der vorgebrachten Information zu bestimmen ist. Es ist deshalb möglich, bestimmte (andere als die Beyes-theoretischen) Wahrscheinlichkeitsmodelle bei der Beweiswürdigung anzuwenden. Die sog. Beweiswertmethode, die in dieser Arbeit vertreten wird, akzeptiert nicht die Negationsregel als ein Axiom, sondern als einen Sonderfall, der nur unter bestimmten Voraussetzungen anwendbar ist.42 Deshalb sind die Beweiswerte immer als Minimumwerte zu verstehen. Wären die Beweis40 41

Siehe unten Kap. VII.F.I. und H. Siehe unten Kap. VII.H.

F. Die traditionelle Statistik und Beweiswürdigung

147

werte als Maximumwerte verstanden, müßten sie sowohl die Wahrscheinlichkeit der Alternative, d. h. den eigentlichen Beweiswert, als auch die mögliche Grauzone enthalten. Es gilt demzufolge: P(BT)

+ P' ("' BT) :S 1.

F. Die traditionelle Statistik und Beweiswürdigung Eine viel diskutierte Frage ist die Anwendung des oben dargelegten Theorems von Bayes.43 Es gibt die Wahrscheinlichkeit des Beweisthemas unter Berücksichtigung neuer Information an und geht von der sog. Ursprungswahrscheinlichkeit (a priori, prima facie, the expected value, original probability usw.) des Beweisthemas aus.44 Diese Betrachtungsweise ist in Skandinavien auch als die Thema-Methode bekannt.45 Wichtig zu bemerken ist zunächst, daß das Bayes-Theorem von der Annahme ausgeht, daß das Beweisthema (BT) und dessen Negation (,...., BT) einander ausschließen, d. h., daß sie nicht gleichseitig wahr sein können und daß das Axiom einer gemischten Wahrscheinlichkeit angewendet wird. Die Anwendbarkeit des Theorems ist aber aus mehreren Gründen in Frage gestellt. In Schweden hat speziell Ekelöf dessen Anwendung bei der gerichtlichen Beweiswürdigung kritisiert. Die Kritik besteht aus mehreren Punkten:

42 Siehe spez. Ekelöf 1992, 134 ff. Ders.: SvJT 1988, 28 ff. Ders.: SvJT 1989, 27 ff. Sahlin, SvJT 1988, 39 ff. Klami/Sorvettula/Hatakka, Evidentiary Value, 31. Klami/Hatakka/Sorvettula, Burden of Proof, 131 ff. 43 Ekelöf 1992, 134 ff. Ders.: SvJT 1988, 28 ff. Ders.: SvJT 1989, 27 ff. Sahlin, SvJT 1988, 39 ff. Klami/Sorvettula/Hatakka, Evidentiary Value, 31. Klami/Hatakka/Sorvettula, Burden of Proof, 131 ff. Siehe auch z.B. Fienberg, Stephen E./Schervish, Mark J., The Relevance of Bayesian Inference for the Presentation of Statistical Evidence and for Legal Decisionmaking, in: 66 B.U.L.Rev. 1986, 771-798. Ekelöf 1992, 161 ff. Lindeil 1987, 146 ff. Rüßmann 1987, 329 ff. Ders.: 1990, 62 ff. Zahle, 172-178. Eggleston 1983, 41 ff. 44 Vgl. z. B. LaPlace, A Philosophical Essays in Probabilities, 11. de Finetti, Probability, Induction and Statistics, the art of guessing. London/New York/Sydney/ Toronto 1972, 143 ff. Savage, 46 ff., NeU, 50 ff. Bourmistrov-Jüttner, 18, 125, 212 ff. Bolding 1951, 58. Ders.: 1989, 75 ff. Lindeil 1987, 168 ff. Ekelöf 1992, 161 ff. Stening 1975, 42 f. 45 Stening, 33. Eckhoff 1943, 10 f. Ders.: SvJT 1988, 321-339. Ders.: 1992, 85103. Bolding 1951, 55 ff. Ders.: 1989, 75 ff. Lindeil 1987, 144 ff. Ders.: 1998, 101, 464 f. Rüßmann 1987, 329 ff. 10*

148

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

( 1) Eine axiomatische Anwendung der Negationsregel ist unrealistisch. Ein schwacher Beweis für das Beweisthema (BT) ist auf keine Weise ein starker Beweis für dessen Negation ('"" BT). Es ist deshalb realistischer, von der Möglichkeit einer Grauzone auszugehen, wie schon oben festgestellt wurde. (2) Das Bayes-Theorem setzt die Anwendung der sog. Ursprungswahrscheinlichkeit des Beweisthemas voraus. Worauf sie sich gründen soll, darüber gibt es verschiedene Auffassungen. Einige vertreten die Meinung, daß die Ursprungswahrscheinlichkeit des Beweisthemas auf dem geschätzten Beweiswert irgendeines Beweisfaktums (auch von nicht-statistischer Art) basieren soll. Z. B. nach Bourmistrov-Jüttner können beliebige Beweismittel als Grund für die "Apriori-Schätzung der Hypothese" angewandt werden.46 Sie schreibt: "So kann man der aprioretischen (oder intuitiven) Beurteilung auch ein Hauptbeweismittel zugrunde legen oder überhaupt das gesamte vorhandene Datum. In diesem Fall bleibt, falls keine zusätzlichen Informationen hinzukommen, diese aprioretische (intuitive) Beurteilung auch die Endurteilung des Falls."47 Sie scheint aber auch eine andere Auffassung vorzuziehen, nach der nicht alle Daten bei der Apriori-Wertung beachtet werden sollen. Sie schreibt anband eines Beispielfalles folgendes: "Die Apriori-Wahrscheinlichkeitsbeurteilung der juristischen Sachverhaltshypothese muß im Lichte eines für die Hypothese relevanten Datums erfolgen." Erfolgt die Apriori-Wahrscheinlichkeitsbeurteilung unter Berücksichtigung aller relevanten Daten, dann ist ein solches Urteil (das gleichzeitig ein AposterioriWahrscheinlichkeitsurteil ist) nicht wesentlich präziser als das traditionelle qualitative Urteil (der Unterschied zwischen beiden ist nur der, daß beim quantitativen Wahrscheinlichkeitsurteil dem qualitativen (üblichen) Endurteil numerische Werte zugeordnet werden). Will man eine präzisere Beurteilung der Hypothese, so muß man das subjektive Apriori-Wahrscheinlichkeitsurteil im Lichte nicht aller, sondern weniger relevanter Daten machen, um aufgrund der restlichen Daten die Aposteriori-Wahrscheinlichkeit der Hypothese abzuleiten."48 Nach Bourmistrov-Jüttner besteht die Apriori-Wahrscheinlichkeit also in einer subjektiven Bewertung des Beweiswerts weniger relevanter Daten. Wie dies zu beurteilen ist, erklärt sie nicht. Man muß jedoch beachten, daß es bei der Anwendung des Bayes-Theorems in der Tat eine erhebliche Bedeutung für den Ausgang hat, was für ein Wert als Apriori-Wahrscheinlichkeit gewählt wird. 49

Bourmistrov-Jüttner, 136. Bourmistrov-Jüttner, 136. 48 Bourmistrov-Jüttner, 215. Kursivierung im Original. Was sie unter Relevanz versteht, siehe 212 f. 46 47

F. Die traditionelle Statistik und Beweiswürdigung

149

Alle genannten Ansätze setzen jedoch nicht voraus, daß die AprioriWahrscheinlichkeit sich auf einen relevanten Beweis gründen müßte. Nach der sog. Thema-Methode kann sie ziemlich frei geschätzt werden und braucht kein kognitives Verhältnis zu dem BT zu haben50 - vorausgesetzt, daß der Apriori-Wert selbst nicht das BT ist. Die Situation ist natürlich von einer Situation zu unterscheiden, bei der es um das Beweisen von UrsacheWirkungs-Verhältnissen zwischen generischen Ereignissen geht, wenn etwa in Schadensersatzfällen über die generelle Kausalität gesprochen wird. Dann wird das statistische Datum als Ausgangspunkt genommen, was vollkommen richtig ist. Man muß sich aber daran erinnern, daß ein statistischer Beweis nichts über einen Einzelfall aussagt. Ist sowohl die Apriori-Wahrscheinlichkeit als auch der Beweiswert eines Beweisfaktums exakt, kann natürlich auch das Bayes-Theorem angewandt werden. Gemeinsam für die in diesem Zusammenhang oft diskutierten Fälle von blue and green cabs, gatecrashers oder agent orange ist, daß es bei ihnen nur einen statistischen Beweis gibt, der an sich also einen AprioriWert, aber keinen einzigen konkreten51 Beweis mit einem kognitiven Verhältnis zu dem vorhandenen Thema abgibt. 52 Das Problem ist, daß solche Fälle, wo diese Voraussetzungen ganz erfüllt wären, sehr ungewöhnlich sind. Nach der Beweiswertmethode geht man davon aus, daß, wenn die Apriori-Wahrscheinlichkeit kein kognitives Verhältnis zu dem Beweisthema hat, sie auch keinen Beweiswert an sich hat und nicht in demselben Sinne angewandt werden kann wie nach dem Bayes-Theorem. Es würde eine Art von Vorurteil bedeuten, irgendwelche ex ante-Annahmen im allgemeinen anzuwenden. 53

49 Faigman, David L./Baglioni, A. J. Jr., Bayes' Theorem in the Trial Process, Instructing Jurors on The Value of Statistical Evidence. 12 Law and Human Behaviour (1988). 1-17. Stening, 1975,43 f. 50 Lindeil 1987, 146 ff. Goldsmith/Andersson, 80. Vgl. Thomson, 214. 51 Es gibt jedoch verschiedene Versionen, und in einigen von ihnen gibt es z. B. auch eine schwache Zeugenaussage. Siehe Stening 1975, 90 ff. 52 Siehe z.B. Cohen 1977, 74. Tribe, 1340 ff. Nesson, Charles, The Evidence or the Event? On Judicial Proof and the Acceptability of Verdicts, 98 Harv.L.Rev. 1357 (1985). Ders.: Agent Grande meets the Blue Bus: Factfinding at the Frontier of Knowledge, 66 B.U.L.Rev. 521-539. Fienberg, Stephen E., Gatecrashers, Blue Buses and the Bayesian Representation of Legal Evidence, 66 B.U.L.Rev. 693-699. Kaye, D. H., The Paradox of the Gatecrasher and Other Stories, 1979 Ariz.St.L.J. 109. Gärdentors 1983, 44 ff. Eggleston 1983, 41 ff. 53 Ekelöf SvJT 1989, 32 f., Ders: 1992, 137 ff. So auch Shaviro, A., A Response to Professor Callen, 65 Tul.L.Rev., 499 f. (1991). Thomson spricht von der Erfordernis von individualized evidence. Thomson, 214 ff.

150

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

G. Grundzüge der Beweiswertmethode Was die anderen Axiome der bedingten Wahrscheinlichkeit, die Multiplikationsregel und die Additionsregel, anbelangt, so gelten sie auch nach der Beweiswertmethode bei der gerichtlichen Beweiswertbewertung. Normalerweise besteht der gesamte Beweisstoff aus mehreren Beweisfakten, zwischen denen auch unterschiedliche Verhältnisse vorkommen können. Als Per Olof Ekelöf seine Regeln für die Beweiswertmethode vorgelegt hat, betrachtete er das Axiom der formellen Wahrscheinlichkeit nicht als Grund für die Formeln oder untersuchte sie nur, sondern deduzierte selbst die Regeln. 54 Daß sie den Axiomen fast genau folgen, ist also in diesem Sinn ein Zufall, aber er zeigt deutlich den hohen Grad an Intelligenz, den Ekelöf besaß. Die hier zunächst vorgebrachten Formeln folgen im Grunde genommen den von Ekelöf ursprünglich deduzierten. Sie sind lediglich weiterentwikkelt, und ihre Anwendbarkeit auf verschiedene Situationen ist verdeutlicht worden. 5 5 I. Multiplikationsformel

Die Multiplikationsformel entspricht der soa. Kettensituation, die dann vorhanden ist, wenn mehrere Beweisfakten, deren gleichzeitiges Vorhandensein Voraussetzung für das Vorliegen des Beweisthemas ist, präsentiert worden sind. P ist die Wahrscheinlichkeit, mit der das Beweisfaktum BFI und das Beweisfaktum BF2 das Beweisthema BT beweisen. Diese Situation ist vorhanden, wenn sowohl das BFl als auch das BF2 wahr sein müssen, um das BT stützen zu können, z.B. ein Zeuge muß vor Ort gewesen sein (BF2), um korrekte Beobachtungen machen zu können (BF1). 56 P(BF11\ BF2)

~

P(BF1) x P(BF2).

54 "Since my (1963) there have appeared several contributions by different scholars to the theory of evidentiary value. lt was the formulas for combining different pieces of evidence that attracted most attention. In part I have had difficulties in understanding these works because of their use of a logical or mathematical method of representation. But I understand that my formulas for the chain and concurrence cases are in accord with the statistical rules for multiplication and addition. As I had not been acquainted with these rules, I had deduced them myself!", Ekelöf, My thoughts, 20. Siehe auch Bourmistrov-Jüttner, 89 Fn. 2., 91. 55 Haliden, TtR 1973, 55-64. Edman, 180-188. 56 Ekelöf 1992, 124 ff., 141 ff. Stening 1975, 65 ff. Klarni/Sorvettula/Hatakka, Evidentiary Value, 25. Dies.: Truth and Law, 435.

G. Grundzüge der Beweiswertmethode

151

Dabei wird angenommen, daß der Richter die beiden Wahrscheinlichkeiten getrennt voneinander bewertet, wobei es an sich möglich ist, daß sie tatsächlich einen gewissen Einfluß aufeinander haben können, obwohl dies hinsichtlich der Bewertung ein Denkfehler wäre. Es ist denkbar, daß man bei der Beweiswürdigung durch die Ausschaltung möglicher Alternativen eine Schlußfolgerung folgender Art anstellt57 : 1. AVBVC

2. ("' A

.t\ "'

B)

3. also C

Diese Schlußfolgerung ist natürlich vollkommen korrekt. Ihre Richtigkeit setzt allerdings voraus, daß die Sätze 1. und 2. wahr sind. Hier kann es aber Probleme geben, weil es sicher sein muß, daß die angewandten Alternativen wirklich die einzigen denkbaren sind und daß die Ausschaltung anderer Alternativen festgestellt werden kann. Können die Sätze 1. und 2. nicht mit Sicherheit bestätigt werden, sondern nur, daß sie wahrscheinlich sind, kann der Beweiswert der Schlußfolgerung nicht größer sein als der Kettenwert der Sätze 1. und 2. 58

II. Additionsformel Die Additionsformel für zwei voneinander unabhängige Beweisfakten ist folgende: 59 P(BF1 V BF2)

~

P(BFl)

+ P(BF2)- [P(BF1)

x P(BF2)]

Es wird vorausgesetzt, daß entweder BFl oder BF2 das BT beweist und daß sie wirklich unabhängig voneinander sind - z. B. zwei Zeugen, die nicht miteinander über den vorliegenden Sachverhalt geredet haben. Es ist dagegen durchaus möglich, daß gleiche Faktoren sowohl auf das BFl als auch auf das BF2 Auswirkung gehabt haben - z. B. daß die Dunkelheit es für beide Zeugen schwierig gemacht hat, genaue Beobachtungen anzustellen.60 Stening hat ein spezielles Problem bezüglich dieser Formel diskutiert: Wenn zwei Personen unabhängig voneinander berichten, daß sie etwas sehr K.lami/Sorvettula/Hatakka, Studies, 85 ff. Dies.: Evidentiary Value, 44 f. Ausführlich über den Eliminationsbeweis, siehe Ekelöf 1992, 150 ff. 59 Ekelöf 1992, 143 ff. Stening 1975, 80. Haliden, TfR 1973, 61. Edman, 184. K.lami/Sorvettula/Hatakka, Evidentiary Value, 25. Dies.: Studies, 83 f. Dies.: Truth and Law, 435. 60 Ihre persönliche Beobachtungsfähigkeit kann aber trotzdem unterschiedlich sein. 57

58

152

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

Außergewöhnliches erfahren haben, gibt die Formel einen scheinbar geringeren Wahrscheinlichkeitswert, als wenn die Beweiswerte der Zeugen getrennt bewertet würden. Ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses unter dem Aspekt der allgemeinen Lebenserfahrung sehr niedrig, folgt nämlich daraus, daß auch die Beweiswerte der Zeugenaussage niedrig sind, weil der angewandte Erfahrungssatz sagt, daß solche Dinge kaum stattgefunden haben können. 61 Stening ist der Meinung, daß der Erfahrungssatz den Beweiswert der Zeugenaussagen in der Weise beeinflußt, daß der Gesamtwert niedrig bleibt. 62 Hier ist es aber zu bemerken, daß der Erfahrungssatz nichts über die Beobachtungsfähigkeit der Zeugen an sich aussagt, sondern von der Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses im allgemeinen. Wenn jemand z. B. behaupten würde, daß er einen Löwen in einem schwedischen Wald frei herumlaufen gesehen hat, ist die erste intuitive Reaktion der Zuhörer sicherlich, daß er sich geirrt oder phantasiert haben muß, weil Löwen unserer Erfahrung nach in Schweden nicht frei herumlaufen können. Wir glauben ihm nicht, sondern verlangen mehr Beweise, um von dem Korrespondieren der Behauptung mit der Wirklichkeit überzeugt zu werden, d. h. die hohe allgemeine Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses erhöht den Grad der Gewißheit, die wir verlangen, um vom Gegenteil überzeugt zu werden. Es geht also um das Beweismaß und nicht wn den Beweiswert, weil der Beweiswert einer Zeugenaussage von der Richtigkeit der Beobachtung (und der darauf beruhenden Aussage) und nicht von der Wahrscheinlichkeit dessen, was beobachtet wird, abhängig ist. Will man also die Richtigkeit einer Aussage, nach der Löwen in schwedischen Wäldern laufen, untersuchen, dann muß vor allem die Fähigkeit des Zeugen, richtige Beobachtungen zu machen, in Frage gestellt werden. Die geringe Ursprungswahrscheinlichkeit des beobachteten Ereignisses soll aber nur das Beweismaß beeinflussen, jedoch nicht den Beweiswert des Zeugenbeweises. Wenn es um Ereignisse geht, die der Erfahrung nach wahrscheinlicher sind, z. B. daß ein Elch in der Mitte von Stockholm gesehen worden ist, würden zwei Zeugen vielleicht schon genügen, obwohl auch ein solches Ereignis einigermaßen ungewöhnlich ist. In solch einem Fall ist jedoch die Ursprungswahrscheinlichkeit höher als in dem Fall des Löwen; weshalb es begründet ist, das Beweismaß herabzusetzen. Die allgemeine Wahrscheinlichkeit eines in Stockholm herumlaufenden Elchs sagt aber auch hier nichts über die Beobachtungsfähigkeit der Zeugen. Wann immer es um solche ungewöhnlichen Geschehnisse geht, müßte nicht nur die Vertrauenswürdigkeit der Zeugen in Frage gestellt werden; es 6t 62

Stening 1975, 84 ff. Stening 1975, 84 ff.

G. Grundzüge der Beweiswertmethode

153

kann auch sein, daß man selbst den Erfahrungssatz in Frage stellen müßte. Die Lösung kann also vielleicht dadurch gefunden werden, daß das Vorhandensein des konkreten Beweises schon die der Beweiswürdigung zugrundeliegenden Erfahrungssätze beeinflussen kann. Gibt es mehr als zwei Beweisfakten, lautet die Formel: 1 - ((1 - P(BF1)) x (1 - P(BF2) x .. . (1 - P(BFn)J63

Dies bedeutet, daß bei mehreren an sich schwachen Beweisfakten der Gesamtwert des Beweises hoch wird. Gibt es z.B. vier Beweisfakten, die jeweils einen Beweiswert von 50% haben, gibt die Formel den Gesamtwert von 93,75% an. Aber dies setzt, wie bereits gesagt, die Unabhängigkeit der Fakten voneinander voraus. Deshalb ist es außerordentlich wichtig zu wissen, inwieweit irgendeine Abhängigkeit vorhanden ist. Hinsichtlich der Zeugenaussagen können z.B. folgende Umstände der Abhängigkeit gedacht werden (außer daß die Zeugen einander vielleicht kennen, Kontakt miteinander gehabt haben, dieselbe Zeitungen gelesen haben oder in sonst einer Weise durch dieselbe externe Wirkung beeinflußt sind): 1. Die Zeugen werden unter oder unmittelbar nach dem Ereignis durch irgendeine äußerliche Wirkung beeinflußt, z. B. in einem Auto sitzenden Zeugen hören sofort nach dem Unfall eine Erklärung des Fahrers: "Er ist bei Rot gefahren!" In derartigen Situationen besteht nach der Zeugenpsychologie die Gefahr, daß die Zeugen zugrundeliegende eigene Beobachtungen und Eindrücke mit denen anderer vermischen. 2. Die Zeugen erfahren, z. B. von der Polizei beim Verhör, was andere Zeugen bereits ausgesagt haben, z. B. wird A berichtet, daß der Verdächtigte schon durch B als Täter identifiziert worden ist. Es kann natürlich nicht exakt gesagt werden, wie dies Einfluß auf die Identifikation von A hat, aber von einem ganz unabhängigen Beweismechanismus kann nicht mehr die Rede sein. 3. Daß Zeugen, die z. B. Arbeitnehmer einer Partei sind, die Tendenz haben, über ihren Arbeitgeber günstige Zeugenaussagen zu leisten, ist eine oft behauptete Aussage. Dies muß nicht notwendigerweise absichtlich geschehen, sondern beruht oft auf gemeinsamen Diskussionen über einen Sachverhalt. 4. Anwälte wollen oft schon vorher wissen, was "ihr" Zeuge sagen wird; während der Diskussionen zwischen dem Anwalt und dem Zeugen kann deshalb die Unabhängigkeit verloren gehen.

63

Vgl. mit der Formel von Starkie in Sterring 1975, 90 ff.

154

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

m.

Einander widersprechende Beweisfakten

Wenn es um die Widersprüchlichkeit des Beweises geht, so gibt es mehrere denkbare Annäherungsweisen. Hier werden zwei davon vorgelegt. In ihnen werden keine solchen Kalkulationen angewandt, wo z.B. der Hauptbeweis den Beweiswert des Gegenbeweises schwächt, wonach der Gegenbeweis den Hauptbeweis mit dem reduzierten Wert schwächt. Dies geschieht deshalb nicht, weil solche Doppelkalkulationen zu komplex sind. Man muß namentlich beachten, daß die Beweiswerte sich hier auf nur ungefahre Würdigung gründen. Die Situation ist jedoch etwas anders geartet, wenn z.B. von exakten statistischen Werten die Rede ist. Es wird vorausgesetzt, daß ,. . ., (BF1 1\ BF2 ), d.h., es ist logisch unmöglich, daß sowohl BF1 als auch BF2 gleichzeitig wahr sein können. Die Formel für den Maximalwert des Beweises ist folgende 64: P(BF1 ) - [P(BFI) x P(BF2 )] 1 - [P(BF1 ) x P(BF2 )]

Es gibt auch eine Möglichkeit, daß sowohl BF1 als auch BF2 gleichzeitig wahr sein können, obwohl sie scheinbar kontradiktorisch sind. Z. B. in Zivilsachen, die Vertragsverhandlungen betreffen, können Zeugen widersprechende Aussagen vorlegen. Es gibt hier aber nicht nur zwei Möglichkeiten, d. h. einer von den Zeugen lügt, sondern drei; sie haben die Situation vielleicht unterschiedlich beurteilt, mit der Konsequenz, daß jeder seine eigene "Wahrheit" berichtet. Die Voraussetzung der logischen Unmöglichkeit ist dann nicht mehr sicher. Deswegen kann in derartigen Situationen eine andere Formel angewandt werden65 :

Die Anwendung der Formel führt zum Vorhandensein einer Grauzone; nämlich der Hauptbeweis schwächt den Gegenbeweis und vice versa. In einer Situation, wo beide am Anfang den Beweiswert = 1 (= 100% Sicherheit) haben, eliminieren sie einander, wenn die Formel angewandt wird. Haben wir z. B. zwei wissenschaftlich begründete, aber gegenteilige Behauptungen, so wird das Resultat eine vollständige Ungewißheit sein, solange es keine Methode gibt, mit der die eine oder andere Behauptung

64 Klami/Sorvettu1a/Hatakka, Evidentiary Value, 25 f. Dies.: Studies, 85 ff. Dies.: Truth and Law, 435. 65 Ekelöf 1992, 147 ff. Klami/Sorvettula/Hatakka, Evidentiary Value, 25 f. Dies.: Studies, 85 ff. Dies.: Truth and Law, 435.

G. Grundzüge der Beweiswertmethode

155

widerlegt werden könnte. Letztendlich erhalten deswegen beide Behauptungen den Beweiswert von 0. Wie ist die Situation aber gelagert, wenn der Gegenbeweis stärker als der Hauptbeweis ist? Ekelöf stellt fest, daß man in einer solchen Situation den Beweiswert für das Nichtexistieren des Beweisthemas bekommt, weil die Relation zwischen dem Haupt- und Gegenbeweis ihrer Natur nach nicht kausal ist.66 Aber sollte diesbezüglich wirklich ein solcher Unterschied aufgrund der Stärke des Gegenbeweises bestehen? In beiden Fällen wird nämlich der Beweiswert des Hauptbeweises geschwächt, wenn auch mit unterschiedlicher Stärke. Läßt man den Hauptbeweis den Wert des Gegenbeweises schwächen, bekommt man einen Wert, der die Unwahrscheinlichkeit des Hauptthemas indiziert. Aber es ist möglich, daß in beiden Fällen eine ziemlich weite Grauzone vorhanden ist, weil die einander widersprechenden Beweisfakten den Gesamtwert des Beweises vermindern. Zeidner hat einige Paradoxien in der Ansicht Ekelöfs nachgewiesen.67 Wenn wir annehmen, daß der Beweiswert des Hauptbeweises A 80% ist und der des Gegenbeweises B 70%, so gibt in diesem Fall die Formel einen Minimalwert von 54,5% für den Hauptbeweis und einen Maximalwert von 45,5% für den Gegenbeweis. Wird aber die Beweislast umgekehrt und der Gegenbeweis als Hauptbeweis behandelt, während der Hauptbeweis als Gegenbeweis behandelt wird, bekommen wir einen Minimalwert 31,8% für B und Maximalwert 68,2% für A. Wir bekommen also folgende Wertbereiche für A und B, je nachdem welcher von ihnen als Haupt- oder Gegenbeweis behandelt wird. Minimum 54,5% Maximum 68,2%. Minimum 31,8% Maximum 45,5%.

Hier gibt es jedoch keinen Widerspruch, weil die Maximalwerte immer die Grauzone enthalten. Man nimmt an, falls die Unsicherheit im Lichte eines neuen Beweises geklärt werden könnte und falls der neue Beweis für dieselbe Alternative spricht, daß der Maximalwert gleichzeitig der "richtige" Wert ist. In diesem Sinne ergibt die Kontradiktionsformel den Beweiswert der Negation des Beweisthemas, aber dieser Beweiswert ist theoretisch nicht derselbe wie der Beweiswert des Gegenbeweises. Auf die Weise, mit der die Minimalwerte behandelt werden, gibt es kein Paradox. Es ist zwar wichtig, daß die Hauptbeweiswerte genau als Minimalwerte behandelt werden und daß sie nicht die Grauzone enthalten. In Straffällen soll der Staatsanwalt die Beweislast tragen, und die Grauzone Ekelöf 1989, 28. Ders.: 1992, 149. Lindeil 1987, 144 ff. Zeidner, Ulf, Nägot om bevisföring vid tillämpning av sam- och motverkansformeln, SvJT 1992, 276-311. 66 67

156

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

soll wegen der Maxime in dubio pro reo zugunsten des Angeklagten bzw. dem Staatsanwalt zur Last gerechnet werden. In Zivilsachen ist die Situation etwas komplizierter, weil es keine einzige Beweislastnorm gibt, nach der z.B. die Beklagten immer geschützt werden sollten. Wie man die Grauzone in zivilrechtliehen Fällen dann teilen könnte, darauf kommen wir später zurück.68 Man muß zudem einen Unterschied zwischen dem Gegenbeweis und dem Gegensatzbeweis machen. Mit dem Gegenbeweis sind solche Beweisfakten gemeint, die den Beweiswert der Beweisfakten schwächen, z. B. ein Zeuge berichtet, daß das Auto des Beklagten mit sehr hoher Geschwindigkeit gefahren ist. Ein anderer Zeuge berichtet aber, daß der erste Zeuge die Geschwindigkeit kaum bewerten kann, weil er von dem Auto abgewandt stand. Hier ist der zweite Beweis der Gegenbeweis. Mit dem Gegensatzbeweis ist aber ein solcher Beweis gemeint, der für das jeweilige selbständige "" BT spricht. Ist das BT eines Staatsanwalts z. B., daß A den B umgebracht hat, und das ,...., BT des Angeklagten, daß er ein Alibi hat, so gilt der Alibibeweis als Gegensatzbeweis.69

H. Subjektive Wahrscheinlichkeit als Glaubensgrad Die Formeln basieren auf bestimmten Annahmen, die mehr oder weniger sicher sein können - z. B. die Unabhängigkeit der einander widersprechenden Beweisfakten. Es ist auch möglich, noch differenziertere Formeln darzulegen. Es ist aber nicht zweckmäßig, eine exakte theoretische Präzision bei der Anwendung der Formeln zu erlangen, und zwar vor allem deshalb, weil die Beweiswerte auf intuitiven Schätzungen über die Sicherheit gründen und gar nicht exakt sind. Solche Schätzungen mit weiterentwickelten Formeln eingehender zu behandeln wäre deshalb ziemlich sinnlos. Das Beweisthema besteht in den meisten Fällen aus einer Behauptung über ein stattgefundenes Ereignis in der Vergangenheit, mit dem die Beweisfakten zeitlich und räumlich verbunden sind, z. B. in einem Fall, wo eine oder mehrere Personen die Durchführung einer Straftat beobachtet haben. Es sind jedoch auch andere Möglichkeiten denkbar. Das Beweisthema kann auch eine Behauptung über einen Umstand in der Zukunft sein, z. B.: was für Schäden eine Straftat in der Zukunft verursachen wird. Es ist auch möglich, daß das Beweisfaktum dem Beweisthema zeitlich voraus liegt: ein Zeuge berichtet, daß der Angeklagte gedroht hat, X umzubringen, und X wird kurz darauf tatsächlich getötet. 68 69

Siehe unten Kap. VII.H. Ekelöf 1992, 14.

H. Subjektive Wahrscheinlichkeit als Glaubensgrad

157

Es besteht jedoch Zweifel hinsichtlich der Anwendbarkeit des Begriffes "Wahrscheinlichkeit", wenn von einzelnen Ereignissen in der Vergangenheit bzw. Zukunft gesprochen wird. Es wäre besser, wenn anstelle von Wahrscheinlichkeit im echten Sinne der Begriff "Gewißheit" oder "Überzeugungsgrad" angewandt würde, weil die subjektive Wahrscheinlichkeit letztendlich einen Grad von Gewißheit bzw. Glauben ausdrückt. Auch Bourmistrov-Jüttner richtet die Aufmerksamkeit auf diesen Umstand. Sie schreibt: "So verstanden drücken die präzisierten juristischen Wahrscheinlichkeitsurteile nichts anderes aus als die rationale Überzeugung des Richters vom (oder den rationalen Glauben des Richters an das) Bestehen bestimmter Sachverhalte aufgrundder zur Verfügung stehenden Informationen und Erfahrungen."70

In gerichtlichen Beweissituationen ist es zudem äußerst schwierig, ausnahmslos von einer reinen Gewißheit über die Wahrheit zu sprechen. So ist dies z.B. wegen folgender Umständen problematisch71 : a) Viele Fakten enthalten Interpretation über das menschliche Verhalten. In solchen Fällen ist es oft sehr schwierig, einen Unterschied zwischen der Wahrheit der Fakten und der Richtigkeit ihrer Auslegung zu machen. Z. B. die Auslegung über das, was die Vertragsparteien während der Verhandlungen gemeint haben bzw. gemeint haben müßten. b) Die Auslegung mehrerer rechtlicher Begriffe beruht im wesentlichen auf der kognitiven Seite der Fakten (in dem amerikanischen System die sog. mixed fact and law-Situationen). Ein typisches Beispiel ist der Begriff der "Fahrlässigkeit". c) Speziell in Straf- und Schadensersatzfällen werden Vergleiche nicht nur zwischen mehr oder weniger wahrscheinlichen faktischen Situationen geschlossen, sondern auch zwischen mehr oder weniger hypothetischen Situationen: Was wäre geschehen, wenn X sich auf eine andere Weise verhalten hätte? Speziell wenn er auf die Weise gehandelt hätte, die als seine Pflicht angesehen werden müßte. Solche hypothetischen Situationswürdigungen basieren teilweise auf normativen Wertungen, teilweise auf Annahmen über wahrscheinliche Wirkungen der hypothetischen Verhaltensaltemativen. Sie sind höchst relevant unter Berücksichtigung einer Menge von verschiedenen Beweissituationen: z. B. Absicht oder Fahrlässigkeit, Kausalität und Umfang der Schäden. Es ist festzuhalten, daß die Anwendung des Begriffs "Grad der Gewißheit" anstelle des Begriffs "Wahrscheinlichkeit" nicht die Anwendung der Modelle verhindert.

70 71

Bourmistrov-Jüttner, 61. Hervorhebung im Original. Klami/Sorvettula/Hatakka, Evidentiary Value, 28 f.

158

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

Nach Ekelöf geht es bei der Bewertung des Beweiswerts um die Wahrscheinlichkeit, mit der der Beweismechanismus in gleichartigen Beweissituationen funktioniert hat. 72 Er geht also von einer frequentistischen Wahrscheinlichkeitsauffassung aus. Auch Bolding und Stening vertreten sie.73 In Deutschland vertreten z. B. Weitnauer74, Schreiber75 , Musielak76 und Maassen77 die Auffassung, daß es bei der juristischen Beweiswürdigung um den objektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff im Sinne der relativen Häufigkeit geht. 78 Den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff vertreten z. B. Nell79 und Evers80. Bei den Angloamerikanern vertreten z. B. Cohen81 , Ball82 und 72 Ekelöf, 1992, 135. Nach ihm muß eine Wahrscheinlichkeitsbehauptung über ein konkretes Ereignis mit Berücksichtigung der Gewöhnlichkeit des Ereignisses innerhalb einer Population unter gleichartigen Verhältnissen verglichen werden. Er gibt zu, daß dies fiktiv ist, "ein heuristischer Trick". 135 Fn. 52. Auch Lindeil spricht von einer fiktiven Menge. Lindeil 1987, 140. Wenn die Anwendung probabilistischer Modelle so verstanden wird wie im Texte, sind solche Fiktionen jedoch ganz unnötig. Siehe auch Diesen, 1~23 . 73 Bolding 1989,58-75 ff. Sterring 1975,39 ff. 74 Nach Weitnauer läßt eine Wahrscheinlichkeitsaussage sich "sinnvollerweise nur in bezug auf ein Kollektiv, eine statistische Masse, nicht aber in bezug auf einen einzelnen Fall machen". Weitnauer, H., Wahrscheinlichkeit und Tatsachenfeststellung, in: Karlsruher Forum (1966), 6. 75 ~eiber defmiert den Beweiswen des Zeujenbeweismitt.els foljeDdetmaßen: Der Beweiswert ist "die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit der Aussage, diese wiederum . . . das Verhältnis der Anzahl der wahren Aussagen zu der Anzahl der wahren und falschen Aussagen". Schreiber, R., Theorie des Beweiswerts für Beweismittel im Zivilprozeß, (1968). 76 "Der Wahrscheinlichkeitsbegriff der Wahrscheinlichkeitstheorie, der für die Rechtswissenschaft Gültigkeit hat, läßt sich aber in objektiv bestimmbare Grade einteilen und an ihm kann es keineswegs liegen, wenn der Aufklärungseifer erlahmt und von vagen Vorstellungen bei der Tatsachenwürdigung ausgegangen wird. Wahrscheinlichkeit in diesem Sinn bedeutet der objektive Befund, der sich für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer bestimmtem Hypothese ergibt; seine Grundlage bildet die Feststellung der relativen Häufigkeit bestimmter Erscheinungen." und "Wenn von der Wahrscheinlichkeit im Einzelfall gesprochen wird, muß man sich darüber im klaren sein, daß hinter dieser Aussage eine aus Gründen sprachlicher Abkürzung übliche Ungenauigkeit liegt. Denn eine Wahrscheinlichkeitsaussage läßt sich immer nur bezüglich einer statistischen Masse, eines Kollektivs, nicht dagegen bezüglich eines Einzelfalles machen." Musielak 1975, 112. 77 "Dieser Wahrscheinlichkeitsbegriff, der auf sogenannten Häufigkeitstheorie der Wahrscheinlichkeit beruht, ist ohne weiteres auch auf die juristische Tatsachenfeststellung anwendbar." Maassen, 6. 78 Speziell Bourmistrov-Jüttner hat eine gewichtige Kritik gegen diese Äußerungen geführt. Siehe dies. 62 ff. 79 "Die Notwendigkeit eines subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriffs hat sich unter anderem daraus ergeben, daß der objektive Begriff als relativer Häufigkeit auf Einzelfälle nicht anwendbar ist." Nell, 60, 74 ff. 80 Evers, A., Begriff und Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für die richterliche Beweiswürdigung. Freiburg 1979.

H. Subjektive Wahrscheinlichkeit als Glaubensgrad

159

Lempert83 die frequentistische und z.B. Schum84, Cullison85 , Kaye86, Koehler und Shaviro87 die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie. 88 Die Anwendung der frequentistischen Wahrscheinlichkeitstheorie oder die Umdeutung der subjektiven Wahrscheinlichkeit zu derselben bei der Erklärung der Beweiswerte gibt m. E. nach ein fehlerhaftes Bild über das ab, um was es sich eigentlich handelt; vor allem deshalb, weil es kaum identische Beweissituationen gibt. 89 Es ist m. E. nach auch fehlerhaft, in diesem Zusammenhang über Wetten in dem Ramseyschen Sinne zu sprechen, obwohl die Theorie an sich den Begriff der komparativen Wahrscheinlichkeit erklären kann. Die Wettentheorie geht aber davon aus, daß man die Wahrscheinlichkeitsschätzung mit einem erwünschten Ereignis in der Zukunft in Verbindung setzt, welches relativ schwierig mit der Schätzung der Beweiswerte zu vergleichen ist. 90 Man darf jedoch nicht die Würdigung der Beweiswerte mit der Stellungnahme zum Risiko eines eventuell fehlerhaften Urteils vermischen. Was aber sind dann die Beweiswerte? Die Antwort ist die, daß sie Ausdrücke über einen rational begründeten Überzeugungs- bzw. Glaubensgrad Cohen 1977, 51 ff. "If we examine the courts' handling of problems of relevancy, we find that a form of frequency theory is continually applied to determine whether a particular piece of information changes the probability of a material proposition." Ball 1961, 812. 83 Lempert 1977, 1024 und dort der Fn. 18, 1025 ff. 84 " ••• I believe that the only extent interpretation which does merit serious consideration in juridical inference is the personalistic or subjective approach ..." Schum, D. A. The Case Against Pascal, in 77 Mich.L.Rev. 1979, 446-483, hier 477. 85 "Because lawsuits must be decided in short order ... , even when the evidence is equivocal or incomplete, it is also clear that the subjective theory is the only one that can sensibly be applied in typical fact-finding situations." Cullison 1969, 564. 86 " ••• there is nothing paradoxical or counterintuitive in thinking of legal factfinding in terms of the mathematics of probabi1ity and that the subjective definition of probability provides a meaningful interpretation of the probabi1ities involved in the legal process." Kaye 1979, 48. 87 "In addition to improving intemal consistency, the use of mathematica1 logic with respect to subjective probabilities may ameliorate the difficulties that fact-finders experience ...", Koehler, Jonathan J./Shaviro, Danie1 N., Verdical Verdicts: Increasing Verdict Accuracy through the Use of Overtly Probabilistic Evidence and Methods, in: 75 Comell.L.Rev. (1990) 247-279.. 88 Vgl. auch mit Finke1stein/Fairley 1970, 505. Sie versuchen den subjektiven Ansatz bei der Apriori-Wertung der Hypothese frequentistisch umzudeuten: "Although subjective probabilities can be used on this basis, we suggest that in the legal context they are 1ikely to be interpreted as expressing frequency, just as ,the chances of heads is one-half' expresses frequency." 89 So auch Bourmistrov-Jüttner, 63 f. 90 Anders z. B. Nell, 48, ff. 8I

82

160

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

der Subjekte sind, die teilweise auch auf der Anwendung der Modelle der Wahrscheinlichkeitsrechnung basieren müssen. Dabei geht es vor allem um die Schätzung von Beweiswerten aufgrund verschiedener Beweisfakten, um endgültige Beweiswerte für die jeweiligen Beweisthemen setzen zu können. Dies muß unter Berücksichtigung des Funktionierens eines zugrundeliegenden Beweismechanismus (BT/ BF und BM) geschehen, weil Beweiswerte von der Anwendbarkeit und Gültigkeit der Erfahrungssätze und Logik abhängig sind.

I. Formeln und Intuition Manche Kritiker der Beweiswertmethode - z. B. Lindell91 und Eckhoft-92 - haben hervorgehoben, daß eine diskursive Zerteilung verschiedener Beweisfakten mit den abgesonderten Beweiswerten bestimmte Nachteile bedeutet. Man verliert das Gesamtbild und die komplizierten Verhältnisse zwischen den Elementen der Wahrheit. Aber man muß sich fragen, ob bloße Intuition - oder z. B. das Bayes-Theorem - deshalb der Anwendung der Formeln vorzuziehen ist. Nach Ekelöf basiert sowohl die Würdigung der Beweiswerte verschiedener Beweisfakten als auch die des gemeinsamen Beweiswerts unentbehrlich auf Intuition: die Formeln gestalten nur ein gewisses heuristisches Hilfsmittel.93 Er hat insofern recht, weil sich erstens die subjektive Wahrscheinlichkeit als persönlicher Glaubensgrad wenigstens teilweise auf Intuition gründet und weil zweitens Überzeugung in juristischen Kontexten nicht nur eine Sache der Wahrscheinlichkeit, sondern auch von normativen Elementen ist. Auf der anderen Seite, was wieder zu betonen ist, sind die Formeln jedoch als heuristische Hilfsmittel deutlich einer bloßen Intuition vorzuziehen. Die Methode setzt namentlich eine sorgfältige Analyse eines jeden Beweises voraus, und durch Berücksichtigung der Formeln kann der Entscheidende die Haltbarkeit seiner eigenen Schlußfolgerungen überprüfen. Zu behaupten, daß die Formeln irgendeine unberechtigte Kontrolle über die Beweiswürdigung nehmen würden, heißt zu behaupten, daß man nicht bereit ist, die Rationalität und die logische Haltbarkeit seiner Würdigung zu überprüfen. Psychologische Untersuchungen haben bewiesen, daß auch professionelle Intuition fehlgehen kann, wenn es z. B. zur Würdigung von einander widersprechenden oder miteinander konkurrierenden Beweisen kommt. Es geschieht häufig, daß man u. a. den Effekt mehrerer konkurrierender 91 92 93

Lindeil 1987, 144 ff., 240 ff. Ders.: 1998, 474 ff. Eckhoff, SvJT 1988, 332 ff. Ders.: 1992, 97 f. Ekelöf 1992, 131 ff. So auch Lempert 1977, I 021 f.

I. Formeln und Intuition

161

Beweise unterschätzt - man geht davon aus, daß der gemeinsame Beweiswert nicht höher sein kann als der Wert des besten Beweises. Andererseits wird auch die Wirkung des kontradiktorischen Beweises unterschätzt.94 Wenn die Beweiswertmethode richtig verstanden wird, so setzt sie eine weitgehende und präzisierte Analyse des ganzen Beweisstoffs voraus, und zwar unter Berücksichtigung der Verhältnisse zwischen den Beweisthemen, den Beweisfakten und den Hilfsbeweisfakten mit der Hilfe verschiedener Erfahrungssätze und Logik. Die Aufgabe der Analyse ist jedoch vor allem, dem Beurteilenden dabei zu helfen, die Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit der Beweismittel aufzudecken, die Haltbarkeit der Erfahrungssätze und der logischen Schlußfolgerungen zu kontrollieren, den relevanten Beweis vom irrelevanten zu scheiden und das Verhältnis und die Wirkung verschiedener Beweismittel gegen- bzw. aufeinander zu kontrollieren. Sie ist in diesem Sinne ohne Zweifel viel besser als die intuitive, eher holistische Würdigung. Sie soll zudem als Ausgangspunkt für die schriftliche Justifikation der Tatsachenfeststellung angenommen werden, um die pro vel contra Argumente und die Schlußfolgerungen zu verdeutlichen. Es wird oft behauptet, daß die Beweiswertmethode dazu führt, daß nicht alle vorhandenen Informationen beachtet werden; zunächst deshalb, weil sie die Information über die Unwahrscheinlichkeit des Beweisthemas außer acht läßt, d. h., weil sie die Möglichkeit der Grauzone akzeptiert, zum anderen auch, weil sie die Apriori-Wahrscheinlichkeit nicht genug beachtet.95 Nach Lindell ist die Methode deshalb sogar rechtswidrig. 96 Er ist der Meinung, daß die Annahme der Grauzone die Beachtung einer außergerichtlichen Information bedeutet, was rechtswidrig ist, weil nur die im Gericht dargelegte Information beachtet werden darf. 97 Er hat jedoch nicht bedacht, daß es hier um zwei verschiedene Angelegenheiten geht: Einerseits um den Umfang des vorgebrachten Beweises, andererseits aber um die Schlußfolgerungen, die auf dessen Grund gezogen werden können.98 Lindeil behauptet auch, daß die Anwendung der Formeln die Freiheit der Beweiswürdigung einschränkt. 99 Hiergegen kann wenigstens folgendes ein94 Sahlin, 1983, Evidentiary Value, 102. "Studies of choice among gambles and of judgments of probability indicate that people tend to overestimate the probability of conjunctive events and to underestimate the probability of disjunctive events.", Cullison 1969, 552 mit Hinweisen. Kahneman/Tversky 1974. 185 Science 1974. 1129. Ekelöf 1992, 143 ff. Finkelstein/Fairley 1970, 418 ff. Eggleston 1983, 48 Vgl. z. B. Bourmistrov-Jüttner, 70 ff. Nell, 48 mit Hinweisen. Diesen, 37 ff. 9s Lindeil 1987, 144 ff., 160 ff. Ders.: 1998, 479 f. 96 Lindeil 1987, 144 ff., 160 ff. Siehe auch Diesen, 10 ff. 97 Lindeil 1987, 160 ff. 98 Detaillierte Kritik gegen Lindel1s Auffassungen: Ekelöf SvJT 1988, 23 ff. Sah1in, SvJT 1988, 39 ff. Klarni, Jff 1987. 11 Gräns

162

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

gewendet werden: Bevor die Formeln angewendet werden können, müßten bestimmte Grade der Überzeugung subjektiv eingeschätzt werden. Die Formeln sollen dem Beurteilenden helfen, die interne Logik bzw. die Fehler seiner Einschätzungen und Schlußfolgerungen zu verdeutlichen. Die Formeln sollten nicht als fertige Antworten produzierende Zaubertricks angesehen werden, weil sie dazu gar nicht in der Lage sind. Es ist nämlich wichtig, folgende Dinge zu bemerken: l. Auf dem kognitiven Verhältnis basierende Regeln und Regularitäten oder die Regeln der Logik und Wahrscheinlichkeit beschränken nicht unbegründet die freie Beweiswürdigung, sondern sie sind ganz im Gegenteil die Voraussetzung der freien Beweiswürdigung, vor allem, weil sie die Möglichkeit von Gutdünken und Zufalligkeit zu verhindem versuchen. 2. Die Forderung der Relevanz in der Form eines kausalen Verhältnisses zwischen Beweisthema und Beweisfakten bedeutet nicht, daß man in einem Einzelfall das Vorhandensein eines Beweisthemas annehmen müßte. 100 Ich habe schon früher eingewandt, daß dies keinesfalls mit der beweiswertmethodischen Auffassung übereinstimmt. Gibt es kein allgemeines, erfahrungsmäßiges kausales Glied zwischen einem Beweisthema und einem Beweisfaktum, wenn sie als generische Ereignisse betrachtet werden, kann natUrlieh der Beweismechanimms überhaupt nicht funktionieren. Aber die Beurteilung dieser möglichen Kausalität setzt nicht voraus, daß man irgend etwas über die konkrete Kausalität zwischen den konkreten, singulären Ereignissen schon allein deswegen annehmen müßte. 101 Wenn der Mechanismus nicht funktioniert, können wir aufgrund der vorhandenen Information nichts über das Korrespondieren zwischen einer Tatsachenbehauptung und der Wirklichkeit sagen. 3. Die Beweiswertmethode will auch den in der Praxis außerordentlich wichtigen Unterschied zwischen der Beweiswürdigung und dem Beweismaß verdeutlichen. Dies ist speziell unter Berücksichtigung der subjektiven Beweismaßtheorien sehr wichtig, die z. B. in Deutschland und den USA in der Gegenwart angewandt werden. 102

99 Lindeil 1987, 246 ff. Er hat selbst eine eigene Theorie von der "rechtsnormierten Beweiswürdigung" hergeleitet. Lindeil 1987, 291 ff. 10o Vgl. Lindeil 1987, 150 ff. 101 Vgl. auch Sahlin SvJT 1988, 39 ff. 102 Siehe unten Kap. VI.B. und C.

J. Die Anwendung numerischer Werte anstatt sprachlicher Ausdrücke

163

J. Die Anwendung numerischer Werte anstatt sprachlicher Ausdrücke

In einer schwedisch-finnischen Briefumfrage des Projekts "Recht und Wahrheit" wurden schwedische und finnische Richter befragt, wie sie bestimmte beweistheoretische Termini und Lehrsätze verstanden und welche Einstellung sie zu diesen hatten. Besonders interessant war, wie unterschiedlich in Schweden die Übersetzungen von verbalen Ausdrücken in Zahlen ausfielen: "Wahrscheinlich" konnte eine Glaubwürdigkeit zwischen 0 und 90% bedeuten; "offenbar" zwischen 50 und 100% usw. Dieses Ergebnis ist um so überraschender, da in Schweden die verschiedenen "Schulen" darum bemüht waren, die Anwendung der beweistheoretischen Termini zu homogenisieren. 103 Entsprechende Resultate wurden auch in Finnland bestätigt. 104 Die Anzahl der Befragten war ziemlich klein, aber die Resultate liegen trotzdem in Übereinstimmung mit der schwedischen, aber auch mit anderen entsprechenden Untersuchungen, die vor allem in den USA durchgeführt worden sind. Die amerikanischen Experimente sind sehr umfassend und legen Information über mehrere interessante Umstände vor. 105 Man hat z. B. untersucht, wie die verschiedenen, in dem anglo-amerikanischen Recht angewandten linguistischen Ausdrücke der Beweismaße numerisch ausgelegt sind. Alle Untersuchungen haben eindeutig gezeigt, daß die linguistischen Ausdrücke in der Tat unterschiedlich verstanden worden sind, welches an sich schon gegen die Annahme des Unelastischen Beweismaßes spricht, aber auch zu einigen Schwierigkeiten auf der methodologischen Ebene führt: Wenn diese in den Beweissituationen sehr oft angewandten Ausdrücke unterschiedlich verstanden werden, besteht die Gefahr des Mißverständnisses zwischen den beteiligten Beurteilenden. Es ist möglich, daß zwischen denen, die einen Dialog über den Beweisstoff führen, eine nur scheinbare Übereinstimmung 106 (Einmütigkeit) 107 herrscht: A kann sagen: ,,X ist wahrscheinlich", B stimmt zu. Trotzdem können sie ganz verschiedene Grade von Wahrscheinlichkeit meinen und auch verschiedene Meinungen über das Verhältnis "ihrer" W ahrscheinlichkeiten zu einem gemeinsamen - oder Klarni/Marklund/Rahikainen/Sorvettula, 474. Siehe auch Hatakka/Klarni, 25. Klami/Marklund/Rahikainen/Sorvettula, 474. Siehe auch Hatakka/Klami, 25. 105 Siehe das sechste Kap. B.I. und II. 106 Eine scheinbare Übereinstimmung besteht, wenn die an einem Dialog beteiligten Personen gleiche sprachliche Ausdruck verwenden, aber den Inhalt der Ausdrükke unterschiedlich verstehen. Aamio 1986, 108 ff. 107 Aamio wendet den Begriff ,.Einmütigkeit" an. Aarnio 1979, 115, ff. 103 104

11°

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5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

ihrem individuellen - Beweiswert und Beweismaß haben. Auch eine scheinbare Uneinigkeit 108 ist denkbar: A sagt: ,)( ist wahrscheinlich"; B sagt: ,.X ist offensichtlich". Es ist jedoch möglich, daß beide denselben Wert von z. B. 80% meinen, trotz des Unterschieds der sprachlichen Ausdrücke.109 Dieser Umstand ist im Licht der Untersuchungsresultate in der Tat ernst zu nehmen. Wenn es sich so verhält, daß verschiedene Personen diese Begriffe der normalen Sprache unterschiedlich verstehen und de facto auch anwenden, werden dadurch auch die fundamentalen Diskursregeln verletzt. Die Spielregeln eines jeden Diskurses, in dem es um Wahrheit und Richtigkeit geht, bestehen namentlich in vier Grundregeln, wovon eine besagt, daß verschiedene Sprecher den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen dürfen. 110 Diese Regel bezieht sich auf den Gebrauch von Ausdrücken durch verschiedene Sprecher. 111 Sie soll eine scheinbare Uneinigkeit aus dem Grund, daß sich hinter einem materiellen Meinungsstreit bloß ein sprachliches Mißverständnis verbirgt, verhindern. 112 Es ist vor allem deshalb wichtig, daß man zumindest versucht, den Grad seiner Überzeugung während des Dialogs in Ziffern anzugeben. Eine andere Möglichkeit ist, daß man innerhalb einer Rechtsordnung Konsens über den Bedeutungsinhalt der verschiedenen Ausdrücke zu erreichen versucht. Die Voraussetzung dafür ist, daß sowohl die Rechtspraxis als auch die Rechtswissenschaft hier einen offenen Dialog führen. Juristen verhalten sich jedoch traditionell skeptisch gegenüber der Anwendung von Ziffern: iudex non calculat. Speziell Tribe hat mehrere Einwände gegen die Verwendung von Ziffern und gegen den Gebrauch der Wahrscheinlichkeitstheorie im allgemeinen erhoben. Er stellt fest, daß 1. Laien und Juristen nicht mit Wahrscheinlichkeiten umgehen können, 2. die Quantifikation eines intentionalen und akzeptablen Risikos die Verurteilung eines Unschuldigen rechtfertigt, 3. eine Spezifizierung der erforderlichen Gewißheit könne die Erfordernisse eines legalen Beweismaßes in der Weise verwässern, daß man in der Praxis ein rechtswidriges Beweismaß anwendet. 113 Er ist zudem der Meinung, daß der Zweifel des Beurteilenden nicht Aarnio 1979, 115, ff. Klarni/Marklund/Rahikainen/Sorvettula, 474 ff. Hatakka/Klarni, 25 f. 110 Andere Grundregeln sind: 1. Kein Sprecher darf sich widersprechen, 2. Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt und 3. Jeder Sprecher, der ein Prädikat F auf einen Gegenstand a anwendet, muß bereit sein, F auch auf jeden anderen Gegenstand, der a in allen relevanten Hinsichten gleicht, anzuwenden. Alexy, 237 f. Diese Regeln sind Bestandteile auch in den Prinzipen und Regeln, die Aarnio in Verbindung mit dem "ordinary legal dogmatical research practice" vorgelegt hat. Aarnio, 1986, 196. 111 Alexy, 237 f. 112 Alexy, 237 f. Aarnio 1986, 196 f. 113 Tribe, 1329 ff. 1os 109

J. Die Anwendung numerischer Werte anstatt sprachlicher Ausdrücke

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quantifizierbar ist, und falls man es versuchte, bestünde die Gefahr, daß eine schon gewonnene subjektive Gewißheit dadurch verloren ginge. 114 Es gibt jedoch mehrere empirische Untersuchungen, die diesen Einwänden widersprechen. Nach Sirnon und Mahan können sowohl Richter, Laien und Studenten ohne weiteres zugrundeliegende subjektive Urteile über die Täterschaft des Angeklagten durch numerische Wahrscheinlichkeitswerte ausdrücken. 115 Kagehiro und Stanton haben aufgrund eines von ihnen durchgeführten Experiments mit 198 Studenten festgestellt, daß die Anwendung von numerischen Werten das Verständnis über die verschiedenen Beweismaße und den Gradunterschied zwischen verschiedenen Beweismaßen (hier wurde auch das dritte amerikanische Beweismaß clear and convincing evidence angewandt) nur verbesserte. 116 Wenn es um die von Tribe vermutete Erhöhung von Verurteilungen der Unschuldigen geht, so haben z. B. Sirnon und Mahan das Gegenteil feststellen können. Eine Übersetzung der subjektiven Wertungen in numerische Wahrscheinlichkeiten führte zu einer selteneren Verurteilungen, als dies der Fall war, wenn nur die Begriffe schuldig/nicht schuldig verwendet wurden. 117 Das strafrechtliche Beweismaß verlangt nicht eine Überzeugung ohne jeden Zweifel. Es ist aber behauptet worden, daß der in konkreten Fällen bestehende Zweifel nur theoretisch und überhaupt nicht numerisch oder auf sonst eine Weise ausdrückbar ist. 118 Es wird ferner behauptet, daß eine numerische Wertung eines Zweifels den Effekt hätte, daß der Zweifel in der Tat konkret wird; die Personen fühlen sich unsicherer, weshalb eine Verurteilung nicht mehr möglich ist. 119 Aber auch diese Behauptung wird nach den empirischen Experimenten nicht bestätigt: Nach Kagehiro und Stanton haben die Befragten eine absolute Gewißheit weder gefordert noch eine solche ausgedrückt, obwohl lediglich sprachliche Ausdrücke verwendet wurden: die Personen sind sich dessen bewußt, daß es einen Bereich an Zweifel gibt, obschon sie bereit sind, den Angeklagten zu verurteilen. 120 Eine numerische Quantifikation 114 Tribe, 1373. Vgl. auch Kahneman/Tversky, 1124 ff. Cohen 1977, 17 ff. Die Einwendungen und Paradoxa von Cohen und ihre Lösungen hat z. B. BourmistrovJüttner ausführlich diskutiert. Bourmistrov-Jüttner, 170 ff. Siehe auch Eggleston 1983, 34 ff. 115 Obwohl sie es vielleicht ungern machen. Simon/Mahan, 329 f. 116 Kagehiro/Stanton, 173 ff. ll7 Simon/Mahan, 322 ff. 11 8 Tribe, 1389 ff. Über die deutsche Diskussion, siehe Bourmistrov-Jüttner, 58 mit der Fn. 1. und 2. 119 Tribe, 1370 ff., 1390. uo Kagehiro/Stanton, 175.

166

5. Kap.: Beweiswürdigung und Wahrscheinlichkeit

hatte keinen Einfluß auf diese Angelegenheit. 121 Menschen fühlen sich ebenso sicher (bzw. unsicher), obwohl sie Ziffern anwenden. 122 Kagehiro und Stanton stellen deshalb ganz zu Recht fest, daß numerische Wertungen nur das explizit machen, was sprachliche Feststellungen schon implizit enthalten.123 Man soll jedoch bedenken, daß es keineswegs notwendig ist, numerische Werte in der schriftlichen Verkündigung der Beweiswürdigung anzuwenden. Es reicht deshalb aus, daß innerhalb jeder Rechtsordnung Übereinstimmung über die auf jeden Fall ungefähre numerische Bedeutungen der verschiedenen Wahrscheinlichkeitsausdrücke herrscht. Die Bedeutung und der Nutzen der numerischen Ausdrücke zeigen sich vor allem bei der diskursiven Analyse des Beweisstoffs, der Kontrolle eigener Schlußfolgerungen und der Diskussion mit anderen Bewertenden.

121 122 123

Kagehiro/Stanton, 175. Kagehiro/Stanton, 175. Kagehiro/Stanton, 175.

Kapitel VI

Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien A. Einleitung Sowohl in Deutschland als auch in den USA wird der subjektive Überzeugungsgrad eines Beurteilenden als Kriterium des gerichtlichen Beweismaßes genommen. Nach dieser Auffassung ist eine Tatsachenbehauptung dann "wahr", wenn der Beurteilende eine persönliche Überzeugung aufgrund des vorgebrachten Beweises von der Wahrheit des Beweisthemas bzw. des Gegenbeweisthemas erreicht hat. Die Frage, wann der Beurteilende sich überzeugt fühlen kann oder darf, wenn die Unmöglichkeit die absolute Wahrheit zu erreichen berücksichtigt wird, ist der Kernpunkt sowohl der deutschen als auch der amerikanischen Beweismaßdiskussion geworden. Man ist nicht bereit gewesen, die Wertung des für die Sicherheit erforderlichen Grades völlig in den Händen der bewertenden Subjekte zu belassen. Sowohl die Gerichte als auch die Rechtswissenschaftler haben deshalb versucht, den erforderten Grad oder dessen Kriterien so zu definieren, daß man trotz der Subjektivität von einem festen und sogar normativen Beweismaß sprechen könne. Es ist jedoch sehr schwer zu erklären gewesen, was der Unterschied zwischen der subjektiven und objektiven Seite des Beweismaßes genau ist. In Deutschland werden hauptsächlich zwei verschiedene Theorien vertreten, aber wie es sich zeigen wird, machen beide keinen Unterschied zwischen den zwei Seiten des Beweismaßes. Nach der in dieser Arbeit vertretenen Theorie gibt es aber einen klaren Unterschied zwischen den beiden Seiten; d. h. der subjektiv-intuitiven und der objektivnormativen. Um zu veranschaulichen, wie die subjektive Überzeugung als Beweismaß funktioniert, wird im folgenden eine Durchsicht der Doktrin und Praxis in Deutschland und den USA vorgenommen. Dabei wird zudem deutlich, warum sich die Theorien in ihren jetzigen Formulierungen voneinander überhaupt nicht oder auf jeden Fall sehr wenig unterscheiden. Trotz verschiedener Versuche hat man die Beweismaßnorm nicht objektiv auszulegen vermocht.

168

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

B. Deutschland: Überzeugung über Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit? Der § 286 I 1 ZPO lautet: "Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei."

Diese Regel betrifft sowohl die Beweiswürdigung als auch das Beweismaß. 1 Man geht einerseits davon aus, daß der Grundsatz der freien Beweiswürdigung durch den Ausdruck "nach freier Überzeugung" in diesem Paragraphen verankert ist, andererseits wird angenommen, daß sowohl dieser Ausdruck als auch der Ausdruck "für wahr oder nicht wahr zu erachten" die Kriterien des Beweismaßes sind. 2 Das Beweismaß soll nach h. M. und Praxis des BGH unelastisch sein, und es wird von einem Regelbeweismaß des "Vollbeweises" gesprochen.3 Wie der Paragraph auszulegen ist, ist Gegenstand von umfangreichen Diskussionen in der prozeßrechtlichen Literatur geworden. Begriffe wie "Überzeugung", "Wahrheit" und "Wahrscheinlichkeit" haben mehrere Erklärungen und Definitionen durch verschiedene Rechtswissenschaftler und die Rechtspraxis ethalten.4 Zu111 Kernprobtern wtn'de, inwieweit der Richter von der Wahrheit der Tatsachenbehauptung überzeugt sein müsse oder ob es vielleicht ausreicht bzw. möglich ist, daß er sich aufgrund eines gewissen Grades von Wahrscheinlichkeit überzeugt fühlen darf oder/und kann. Einige Autoren haben die Anwendung eines jeden Wahrscheinlichkeitsbegriffs in diesem Zusammenhang überhaupt nicht akzeptieren wollen, während andere betont haben, daß von "Wahrheit" überhaupt nicht die Rede sein kann. 5 Die Diskussion hinsichtlich der "Überzeugung von der Wahrheit" kontra "Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit" hat in Deutschland, so kann man vereinfacht festhalten, zu zwei verschiedenen Beweismaßtheorien geführt: die sog. subjektive Beweismaßtheorie gründet sich auf die erste 1 Stein/Jonas, § 286, Rdnr. 1-4. Musielak 1975, 109 f. Weber, 25 ff., 37 ff. Romme, 53. 2 Stein/Jonas § 286 Rdnr. 4 f. Döhring, 462 ff. Schneider 1971, 11. Musielak 1975,109 f. Ders.: 1977, 453. Weber, 25 ff. 3 Stein/Jonas § 286 Rdnr. 4. Romme, 62. Huber 1985, 179. 4 Siehe darüber z.B. Weber, 41 ff. Romme, 49 ff. Huber, 56 ff., 67 ff., 77 ff. Greger, 1978, 32 ff. 5 Siehe z.B. Musielak 1975, 114 f., 119. Musielak/Stadler, 75. Greger, 9 ff., 117. Romme, 49 ff. Walter, Beweiswürdigung, 89. Huber, 57. Kegel, 334. Prütting, Gegenwartsprobleme, 79, 84. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, 11 f.

B. Deutschland

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Auffassung, während die objektive Beweismaßtheorie von der letzteren Auffassung ausgeht. 6 Der Unterschied zwischen beiden Theorien ist aber vor allem deshalb kompliziert, weil Einigkeit darüber herrschen müßte, daß eine volle Sicherheit unmöglich zu erreichen ist. Deswegen soll sie auch nicht gefordert werden, sondern man muß sich immer mit einer Wahrscheinlichkeit irgendeines Grades begnügen. 7

I. Die subjektive und objektive Beweismaßtheorie

1. Zivilsachen Im zivilrechtliehen Bereich verteidigt die h. M. die subjektive Beweismaßtheorie. Sie basiert auf der Auffassung, daß die richterliche Überzeugung von der Wahrheit des BT das Kriterium des Beweismaßes ist. Die Grundzüge der subjektiven Theorie sind vor allem in dem sog. AnastasiaFall8 von 1970 zu finden. 9 Nach einer Reihe von Entscheidungen, in denen das BGH den Inhalt der § 286 1 I ZPO berührt hatte, hat es in diesem Fall eine verhältnismäßig lange Erklärung über das zivilrechtliche Beweismaß abgegeben: 10: "Denn nach § 286 ZPO muß der Richter auf Grund der Beweisaufnahme entscheiden, ob er eine Behauptung für wahr oder nicht wahr hält, er darf sich also gerade nicht mit einer bloßen Wahrscheinlichkeit beruhigen. Im übrigen stellt § 286 ZPO nur darauf ab, ob der Richter selbst die Überzeugung von der Wahrheit einer Behauptung gewonnen hat. Diese persönliche Gewißheit ist für die Entscheidung notwendig, und allein der Tatrichter ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen unterworfen hat die Entscheidung zu treffen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann. Eine von allen Zweifeln freie Überzeugung setzt das Gesetz dabei nicht voraus. Auf diese eigene Überzeugung des entscheidenden Richters kommt es an, auch wenn andere zweifeln oder eine andere Auffassung erlangt haben würden. Der Richter darf und muß sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den ·Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Das wird allerdings vielfach ungenau so ausgedrückt, daß 6 Diese ist jedoch eine Vereinfachung. Siehe darüber z. B. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 2. Baumgärtel, 28-35. 7 Vgl. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 1 f. 8 BGHZ 53, 245 ff. (Urteil vom 17.2.1970) = NJW 1970, 946 ff. = MDR 1970, 491 ff. In diesem Fall hat die Klägerin behauptet, sie sei die am 18.6.1901 geborene Großfürstin Anastasia Nikolajewna Romanow, die jüngste Tochter des letzten Zaren Nikolaus II. Die Klage blieb jedoch wegen nicht ausreichendem Beweis erfolglos. 9 Eine Durchsicht der Rechtsprechung, siehe Greger, 68-75; Huber, 56-66; Romme, 50 ff., 58-63. 10 BGHZ 53, 255 f. Kursivierung im Orig.

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6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

das Gericht sich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit begnügen dürfe; das ist falsch, falls damit von der Erlangung einer eigenen Überzeugung des Richters von der Wahrheit abgesehen werden sollte."

Die Hauptpunkte der subjektiven Beweismaßtheorie in Anlehnung vor allem an den Anastasia-Fall sind folgende 11 : Bei dem Beweismaß geht es um die volle richterliche Überzeugung über die Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung. 12 Nach dieser Auffassung gilt das subjektive Fürwahrhalten des Richters als das einzige Kriterium für die Feststellung von Tatsachen. 13 Es ist zu Recht der Kern der subjektiven Seite des Beweismaßes. Es ist jedoch sehr schwer, sich vorzustellen, wie ein Richter eine Beweisentscheidung gegen seine eigene Überzeugung überhaupt treffen könnte. Es wird anerkannt, daß eine Sicherheit von 100% nicht erforderlich ist weil sie unmöglich ist -, sondern der Richter darf sich, so z. B. im Anastasia-Fall zum Ausdruck gekommenen, "mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad der Gewißheit der dem Zweifel Schweigen gebietet, ohne ihn völlig auszuschließen, begnügen". 14 Dieser Grad der Gewißheit ist ferner u. a. dann vorhanden, wenn der Richter "als besonnener, gewissenhafter und lebenserfahrey.er Mann aus objektiven Gründen die gewonnene Wahrscheinlichkeit als genügend ansieht". 15 Solch ein genügender WahrscheiDlicbkeiliifad kaDn femer z.B. ,.eine an Sicherbeil grenzende Wahrscheinlichkeit" sein. Es ist hiermit gemeint, daß das BGH sich nicht gegen den Begriff "mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" gewendet hat, sondern lediglich ausgedrückt hat, daß Wahrscheinlichkeit auch eines hohen Grades nicht an die Stelle richterlicher Überzeugung hinsichtlich der Wahrheit treten kann. 16 11 Greger, 81 f. Huber, 89. Ders.: 1985, 177. Musielak 1975, 120 ff. Walter, 1979, 207. Maassen 1975, 23 ff. Prölss, 23 f. Hainmüller, 38. 12 Stein/Jonas § 286 Rdnr. 4. Leipold 1985, 9. Huber, 64. Greger, 20, 121. Rosenberg/Schwab/Gottwald, 659. 13 Stein/Jonas § 286, Rdnr. 2 f. mit Hinweisen. In Stein/Jonas wird der Meinung vertreten, daß das Beweismaß eine "Kombination objektiver und subjektiver Faktoren" ist. Stein/Jonas § 286, Rdnr. 2. Vgl. auch z. B. Greger, 82. 14 Vgl. z. B. Huber 69 ff. 15 BGHZ 53, 256. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 1 u. 4. Rosenberg/Schwab/Gottwald, 659. 16 Huber, 65 mit Hinweisen. Auch Greger meint, daß die richterliche Überzeugung nichts mit Willkür oder Ermessen zu tun hat oder haben kann. Er kritisiert deshalb die Auffassungen, nach denen die verschiedenen Begriffe der Wahrscheinlichkeit mit der Überzeugun~ im Einklang stehen kö~_ten. Er schreibt: "Wahrscheinlichkeit kann nicht an Uberzeugung grenzen, und Uberzeugung kann - . . . keine Grade haben". Greger, 20, 121. Er kritisiert die Auffassungen, nach denen die verschiedenen Begriffe der Wahrscheinlichkeit mit der Überzeugung im Einklang stehen könnten, welches z. B. Grunsky und Schneider hervorgehoben haben. Gruns-

B. Deutschland

171

Schon vor dem Anastasia-Fall hatte z.B. Greger auf die sehr verwirrende Begriffsanwendung der Rechtspraxis hingewiesen. Z.B. in DRiZ 1969, 53 hat das BGH die Begriffe "Überzeugung", "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", "für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit" und "Schweigen von Zweifel" offenbar für Synonyme gehaltenP Man kann sich fragen, inwieweit und ob überhaupt der Anastasia-Fall oder die danach von dem BGH ausgegebenen Fälle 18 diese Verwirrung ausgeräumt oder sie eher vertieft haben. 19 Es wird zudem betont, daß es im Anastasia-Fall einen Widerspruch gibt. Leipold hat eingewendet, daß eine Gewißheit mit der gleichzeitigen Möglichkeit eines Zweifels ein Widerspruch an sich ist. 20 Der Konflikt liegt offenbar darin, daß man einerseits eine persönliche Überzeugung hinsichtlich der Wahrheit verlangt, andererseits aber nur Wahrscheinlichkeit verlangen kann. Es ist zwar so, daß eine subjektive Überzeugung von der Wahrheit nur aufgrund dessen möglich ist, was im strikten Sinne lediglich wahrscheinlich ist. Dies ist die subjektive Seite des Beweismaßes. Die objektive Seite ist etwas ganz anderes. Nach dieser muß irgendein Grad von Wahrscheinlichkeit bestimmt werden, den der Beweiswert außerhalb der subjektiven Überzeugung erreichen muß. Diese zwei Seiten müssen aber getrennt voneinander gehalten werden. Ein Problem der subjektiven Theorie ist, daß sie durch die von ihren Anhängern vorgeschlagenen Objektivierungsgründe die Beweiswürdigung mit dem Beweismaß vermischt. Die Vertreter dieser Theorie geben insbesondere zu, daß die Überzeugung sich jedoch nicht auf das subjektive Meinen, Glauben oder Belieben des Richters stützen darf,21 sondern sie müsse auf irgendeine Weise kontrollierbar sein. Man hat deshalb versucht, bestimmte objektive Größen zu definieren, die es ermöglichen könnten, die Überzeugung zu kontrollieren. Diese Definitionen betreffen aber meistens die Beweiswürdigung, nicht das Beweismaß.

ky und Schneider sind zwar der Meinung, daß "eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit" für die Tatsachenfestellung genügend sei. Trotzdem fordern sie eine "volle Überzeugung" (Grunsky) bzw. "Gewißheit des Richters" (Schneider). Grunsky, 450. Schneider 1987, 18 f. Auch Huber führt gleichartige Kritik gegen Grunsky und Schneider, aber auch gegen Blomeyer und Esser an. Siehe Huber, 71 f. 17 Greger, 3. Vgl. auch mit Huber, 61 ff. 18 Vgl. z.B. die Entscheidung von 3.6. 1977, VersR 1977, 733 f. Huber, 65 f. 19 Vgl. Huber, 69 ff. 20 "Gewißheit mit Zweifeln ist ein Widerspruch in sich.", Leipold 1985, 9. So auch Romme, 61, und Stein/Jonas § 286 Rdnr. 3. 21 Musielak 1975 107. Ders.: 1977, 464. Kegel, 333 f. Bruns, 243. Greger, 16. Walter, 151. Huber, 69 f. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 2 und 3.

172

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

Die Objektivierung der Überzeugung geschieht nach der subjektiven Theorie dadurch, daß sie auf objektiven, vom Richter mitzuteilenden Gründen beruhen muß und nicht gegen Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze verstoßen darf. 22 Es muß jedoch zugleich angemerkt werden, daß diese Forderungen vor allem die Richtigkeit der Beweiswürdigung berühren. Denk-, Natur-, und Erfahrungsgesetze haben eine ausschlaggebende Bedeutung bei der sachgemäßen Beweiswürdigung und ihrer Wiedergabe. Sie verknüpfen die Beweisfakten mit dem Thema und die Hilfsbeweisfakten mit den Beweisfakten. Der Beweiswert der Beweisfakten hängt von dem Funktionieren des Beweismechanismus ab, welcher seinerseits von den Denk-, Natur-, und Erfahrungssätzen abhängig ist. Die Richtigkeit der Beweiswürdigung ist natürlich eine erste Voraussetzung einer jeden gerichtlichen Tatsachenfeststellung. Sie endet mit einem bestimmten Beweiswert, der auf der i. d. R. subjektiven Wertung des eigenen Glaubensgrades des Richters basiert. Es ist für gewöhnlich so, daß ein Richter sich von der Wahrheit oder Nichtwahrheit des einen oder anderen Beweisthemas am Ende der Beweiswürdigung überzeugt fühlt. Diese Überzeugung muß natürlich auf der vorgebrachten Beweismenge basieren, obwohl sie letzten Endes subjektiv ist. 23 Es ist aber auch möglich, daß der Beweis in irgendeinem objektiven Sinne unzureichend ist. Der Richter muß diesen Beweis jetzt auf iraeDdeiDe Weise kontrollier~ können. Dazu braucht er einen anderen Maßstab als seine eigene Überzeugung. Eine Alternative dazu ist, daß er seine Schlußfolgerungen kritisch analysiert, um ihrer Richtigkeit zu kontrollieren. Dazu muß er den Beweiswert des Beweises mit dem objektiven Beweismaß vergleichen. Es reicht also nicht, daß der Richter überzeugt ist, der Beweis muß darüber hinaus in einem objektiven Sinne ausreichend sein. Eine persönliche Überzeugung gründet sich auf die Beweiswürdigung, bedeutet aber gleichzeitig und genau deswegen, daß der Beweiswert je nach dem vorhandenen Fall und dem bewertenden Subjekt variiert. Dies führt zu einem unbestimmten Beweismaß, welches durch den Richter jeweils nach der eigenen Überzeugung frei bestimmt wird. 24 Will man dies verhindern, muß bestimmt werden, wie das objektive Beweismaß frei von der subjektiven Überzeugung zu bestimmen ist. Romme hat konstatiert, daß der "Überzeugungs"-Begriff in der Anastasia-Entscheidung in doppeltem Sinne gebraucht wird. Einmal als Beweis22 Musielak: 1975, 107. Ders.: 1977, 451 (463 f.). Greger, 16 f., 121 f. Walter, 151. Kegel, 321 (333 f.). Gottwald, 201. Rosenberg/Schwab, ZPR, 683. Fitting, I (65). Romme, 65. Baumgärtel, 29. 23 Speziell Greger hat betont, daß dies bedeutet, daß die richterliche Überzeugung nie von einem gewissen Grad von Irrationalität befreit werden kann. Greger, 17 ff. 24 So auch Romme, 63.

B. Deutschland

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maßbestimmung (Überzeugung von der Wahrheit) und einmal als Beweiswürdigungsvorgang (des Sich-Überzeugens). 25 Dies ist im Lichte der oben

genannten Definitionen nicht überraschend. Das Beweismaß - die persönliche Gewißheit - liegt zwar immer dort, wo der Richter - seiner eigenen Meinung nach - einen "für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit" o. ä. gewonnen hat. Obwohl die Überzeugung sich auf dem vorgebrachten Beweis und dessen Bewertung gründet, gibt es keinen einzigen Punkt, wo z. B. jeder vernünftige Richter sich überzeugt fühlen muß/sich nicht überzeugt fühlen darf. Von einem Regelbeweismaß, wovon der BGH in seiner Definition beim Anastasia-Fall ausgegangen ist, und dessen Existenz, welche die h. M. verteidigt und hervorhebt, kann aber, wenn diese Theorie akzeptiert wird, nicht die Rede sein, was auch z.B. Romme26 und Musielak27 betont haben.

Romme, 67. Nach Romme wird mit "dem ,für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit', eine bestimmte objektive Schranke für die freie Beweismaßbestimmung gesetzt. Innerhalb dieses Rahmens kann das Beweismaß jedoch schwanken, was mit der Ansicht der h. M. nicht in Einklang zu bringen ist; zudem kann dieser Begriff durch seine Elastizität und unklaren Inhalt gerade nicht die Funktion eines (Beweis-) Maßes erfüllen, die ihm die h.M. zuschreibt." Romme, 63. Kursivierung im Original. Auch Greger legt vor, daß "nach freier Überzeugung" von § 286 I ZPO, zu der Beweiswürdigung hinweist, während "für wahr zu erachten" das Beweiskriterium (Beweismaß) ist. Er schreibt ferner: "Mißt man gleichwohl, wie dies regelmäßig und zumeist ohne jede Begründung geschieht, dem im Gesetz für die Art und Weise der Beweiswürdigung verwendeten Merkmal der Überzeugung auch eine Bedeutung für die Bestimmung des Beweiskriteriums bei, so e~~ibt sich die merkwürdig anmutende Aussage, daß der Richter nach seiner freien Oberzeugung zu entscheiden habe, ob er überzeugt sei." Greger, 9. Siehe auch Baumgärtel, Rdnr. 69. 27 Musielak schreibt: "Die jedem Privaten zustehende Freiheit, subjektiv zu entscheiden, welcher Grad von Wahrscheinlichkeit für ihn als die Wahrheit gelten soll, kann der Richter für die von ihm zu erfüllende Aufgabe im Interesse einer möglichst gleichmäßigen Behandlung gleicher Fälle nicht beanspruchen. Sonst müßte als rechtmäßig hingenommen werden, daß der eine Richter bei dem geringfügigsten Wahrscheinlichkeitsübergewicht eine Tatsache als bewiesen ansähe, während ein anderer einen Wahrscheinlichkeitsgrad verlangte der einem mathematischen Beweis nahekäme." Musielak 1977, 465. Es wird auch darüber gesprochen, inwieweit der Richter in einer besonderen Stellung hinsichtlich der Feststellung der Tatsachen ist. Kegel meint, daß die "volle richterliche Überzeugung" nicht akzeptabel ist, sondern man sollte nur von einer "vollen Überzeugung" sprechen, d.h., daß der Richter nicht eine besondere Stellung bei der Feststellung von Tatsachen haben kann. Kegel, 334. Wenn es um die Beweiswürdigung geht, ist natürlich der Richter an die gleichen erkenntnistheoretischen Grundsätze gebunden wie andere Menschen. Aber wenn es um die Feststellung der Tatsachenprämisse unter Unsicherheit geht, so befindet sich der Richter in einer besonderen Stellung. Er hat insbesondere Entscheidungszwang. In einer Situation, wo ein rationaler Jedermann weder für noch gegen einer Tatsachenbehauptung wegen unzureichender oder mangelhafter Information entscheidet, muß ein Richter trotz der Unsicherheit eine Entscheidung treffen. Dabei nimmt er das Risiko in Kauf, daß die Entscheidung vielleicht fehlerhaft ist. Die 25

26

174

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

Dies hat vor allem deswegen Bedeutung, weil eine Beweismaßherabsetzung nach der h. M. nur in besonderen Fällen akzeptiert werden kann, namentlich wenn sie nach dem Gesetz erlaubt ist, wie z.B. in§ 287 ZP028 , oder wenn die Rechtspraxis sie als zweckmäßig und begründet ansieht, z. B. im Anwendungsbereich des Anscheinsbeweises, weil der Kläger sich in solchen Fällen in der Regel in einer Beweisnot befindet.29 Die subjektive Theorie ist sehr häufig kritisiert worden, und die Kritik gegen die h. M. ist, wie gesehen, in vielerlei Hinsicht wohlbegründet. Der Ausgangspunkt der von den Kritikern vertretenen sog. objektiven Theorie liegt dagegen darin, daß man nach ihr überhaupt nicht von "Wahrheit" bzw. Gewißheit in diesem Zusammenhang sprechen kann. Vielmehr geht es um Wahrscheinlichkeit und ihre verschiedenen Grade?0 Man spricht von einem "objektiven Beweismaß der Wahrscheinlichkeit". 31 Die Anhänger der objektiven Beweismaßtheorie erklären die vom Gesetz geforderte "Überzeugung" als "das Bewußtsein davon, daß der für die Tatsachenfeststellung erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht ist".32 Deswegen geht es also um "Wahrscheinlichkeitsüberzeugung", die auf die Wahrheit und Gewißheit als Überzeugungsgründe verzichtet hat. 33 Huber eiaer eveotuell fe~Uerbafteft Eaucbeiduag müaae er jedoch irgeadwie beachten, weil sie bei der Beweismaßwertung Bedeutung haben. Musielak hat (jedoch bezüglich des Zivilprozesses) geschrieben: "Die Überzeugung des Richters ist nicht Selbstzweck, sondern den Zielen des Prozesses untergeordnet. Hierin liegt ein bedeutsamer Unterschied eines beliebigen Privatmannes, dem es nicht verwehrt ist, seine Überzeugung aufgrund noch so abstruser Erwägungen zu bilden." Musielak 1977, 464. Solche Abwägungen haben aber auch im Strafprozeß Bedeutung. Siehe hierüber das zweite Kap. B.III.l. und das siebte Kap. F. I-VI. 28 Der § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO lautet: 1) Ist unter den Parteien streitig, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, so entscheidet hierüber das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung. Vgl. z.B. Gottwald, der die Meinung vertritt, daß dieser Satz ohnehin überflüssig ist, weil bezüglich des Beweismaßes für § 286 ZPO und § 287 ZPO gleiches gilt. Gottwald, 216, 218, 226. 29 Stein/Jonas § 286 Rdnr. 87-119b. Siehe auch z.B. Musielak 1977, 465 ff. Kegel, 329 ff. Leipold, 11 f. Grunsky, 453. Baumgärtel, Rdnr. 66. Romme meint, daß es nicht um eine generelle Beweismaßherabsetzung gehen kann, weil ein festes Beweismaß überhaupt nicht existiert. Romme, 132 ff., 137. Greger verzichtet auf jedes Abweichen von der "Überzeugung von der Wahrheit". Greger, 123 ff., 143 ff., 195. Walterund Prütting meinen aber, daß eine teleologische Reduktion des Beweismaßes hier zugelassen werden müsse. Walter, 191 ff., 205 ff. Prütting, 101, 108 ff. 30 "Denn im Grunde ist jeder Beweis ein Wahrscheinlichkeitsbeweis", Huber, 104. So auch Musielak 1975, 115 f. Ders.: 1977, 461. Maassen, 5 ff. Stein/ Jonas § 286 Rdnr. 1 f., 7. 31 Siehe z. B. Maassen, 32 ff. Huber, 103. 32 Musielak 1975, 118. Ders.: 1977, 462. Huber, 116 ff. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 1-4. Baumgärtel, Rdnr. 68. KODseqt.tenZen

B. Deutschland

175

hat hervorgehoben, daß die h. M., wenn sie von der "Wahrheit" spricht, das Wort "erachten" des § 286 1 ZPO vergessen zu haben scheint. Dieses "FürWahr-Erachten" sei nämlich seinem Charakter nach ein Urteil über Wahrscheinlichkeiten und nicht über Wahrheit. 34 Daß die objektive Theorie, weil sie von Wahrscheinlichkeit anstau von Wahrheit spricht, zu einem von der subjektiven Theorie strukturell verschiedenen Beweismaß führe, fallt mir aber schwer einzusehen. Die subjektive Theorie geht nämlich auch davon aus, daß der Richter "die gewonnene Wahrscheinlichkeit als genügend ansieht". Beide Theorien akzeptieren, daß man sich nur mit Wahrscheinlichkeit begnügen muß. Der Unterschied liegt zwar darin, daß die subjektive Theorie dem Richter aufgrund der Wahrscheinlichkeit erlaubt, subjektiv von der Wahrheit der Sache überzeugt zu sein,35 weil das Gesetz die "Wahrheitsüberzeugung" fordert? 6 Die Anhänger der objektiven Theorien haben die Auffassung auszuräumen versucht, daß die subjektive Überzeugung von der Wahrheit trotz des Wahrscheinlichkeitscharakters des Beweises möglich sei. 37 Dies scheint zunächst eine Paradoxie zu sein. Was die Objektivisten jedoch benötigen, ist irgendein anderer Maßstab als die persönliche Überzeugung, womit sich die Paradoxie auflöst. Huber behauptet, daß eine persönliche Wahrheitsüberzeugung sogar unzulänglich sei.38 Er meint ferner, daß, obwohl der erreichte Beweiswert sogar nahe bei 100% (z. B. in einem Abstarnmungsprozeß) liegen kann, man sich nicht damit täuschen darf, den Sachverhalt als "wahr" zu bezeichnen.39 Huber definiert die Überzeugung als "das Bewußtsein davon, daß der für die Tatsachenfeststellung erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht ist".40 Kollhosser spricht von einer möglichen Situation, in der der Richter sich überzeugt fühlt, gleichzeitig aber weiß, daß der Beweis nicht ausreichend ist, oder vielleicht sogar, daß er nicht überzeugt ist, er den Beweis aber als ausreichend annehmen muß. 41 Dies weist darauf hin, daß es irgendein ande33 Huber, 116. Musielak 1975, 118. Ders.: 1977, 451.; Ders., ZZP 99 (1986), 217. Maassen, 53. 34 Huber, 120. Vgl. Romme, 71 f., 86 ff. 35 Siehe jedoch Grunsky, 450. 36 So z.B. Greger, 121. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 2-4. 37 Z. B. Greger vertritt diese Meinung. Er schreibt: "Die Unmöglichkeit unfehlbarer Wahrheitserkenntnis hindert nicht die Bildung einer persönlichen Überzeugung von der Wahrheit." Greger, 121. 38 Huber, 116. 39 Huber, 117. 40 Huber 116. Er weist ferner darauf hin, daß die gesamte objektive Beweismaßtheorie hiermit übereinstimmt. Ders. 116 Fn. 154.

176

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

res Kriterium als die Überzeugung für die Feststellung geben muß. Kollhosser selbst meint, daß der Richter in solchen Fällen z. B. andere ähnliche Fälle als Maßstab anwendet. Dies ist jedoch kein endgültiges Kriterium, weil man sich fragen muß, was dann das Kriterium in den anderen Fällen gewesen ist. In solchen Fällen ist es jedoch außerordentlich wichtig zu wissen, auf welcher Position der Wahrscheinlichkeitsskala das Beweismaß liegen soll, und dies ist in der Tat die wichtigste Frage. Die "Objektivisten" haben vorgeschlagen, man solle mehrere abgestufte Wahrscheinlichkeitsgrade anwenden. Die meisten Autoren haben jedoch die Anwendung von exakten Prozentzahlen als unzweckmäßig abgelehnt, weil solche Zahlen ihrer Meinung nach nur bei rein objektiven, naturwissenschaftlich nachprüfbaren Tatsachen möglich sind.42 Statt dessen haben sie die Anwendung von verschiedenen verbalen Ausdrücken vorgeschlagen. Musielak geht in Anlehnung an die Rechtsprechung und die h. M. von einem im Regelfall vorgeschriebenen Beweismaß aus. Dieses Regelbeweismaß bezeichnen Ausdrücke wie "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", "jeden vernünftigen Zweifel ausschließender Grad von Wahrscheinlichkeit" oder "für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit, der dem Zweifel Schweigen gebietet, ohne ihn völlig auszuschließen". 43 Er meint ferner, daß mit der Unterstützung durch "triftige" Gründe von diesem im Regelfall vorgeschriebenen Beweismaß abgewichen werden könnte. Solche Gründe sind nach ihm die speziellen, in dem Gesetzestext niedergeschriebene Regeln, wie § 287 ZPO, die wegen der Beweisschwierigkeiten eine Beweismaßreduzierung billigen.44 Darüber hinaus kann die Rechtspraxis wegen der in gewissen Bereichen ständig auftretenden Beweisschwierigkeiten das Beweiserfordernis herabsetzten, und so wird es auch nach Musielak gemacht. 45 Solche Bereiche sind z.B. das Wiedergutmachungs-, Flüchtlings- und Sozialversicherungsrecht.46 41 "Persönlich bin ich hier zwar überzeugt, aber die Partei muß es beweisen, und das Beweisergebnis reicht objektiv nicht aus" bzw.: "So ganz sicher bin ich mir hier noch nicht, aber in , vergleichbaren Fällen' . . . haben wir auch nicht mehr an Beweis verlangt als hier vorliegt, dann muß es auch hier genügen.", Kollhosser, Helmut, Bespr. von. Gottwald, P., Schadenszurechnung und Schadensschätzung, und Walter, G., Freie Beweiswürdigung, in ZZP 96 (1983), 270 ff., hier 275. Siehe auch Musielak 1977, 454: "Denn es muß ein ungeklärtes Phänomen bleiben, wie denn die für unverzichtbar gehaltene persönliche Gewißheit des Richters von der Wahrheit eines Sachverhalts entsteht, wenn der Richter trotz Beweise, die ihm einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit liefern müßten und ihn nach herrschender Auffassung auch verpflichten, einen Beweis als erbracht anzusehen, weiterhin unüberwindbare Zweifel hat." Vgl. Greger, 24 ff. 42 Leipold 1985, 11. Huber, 114. Musielak 1977,458. Gottwald, 195, 201, 244. 43 Musie1ak 1977, 465 mit Hinw. 44 Musielak 1977, 465 ff.

B. Deutschland

177

Huber hat eine Skala von Abstufungen ausgearbeitet47 :

sicher ..

..... Beweismaßerhöhung

hoch wahrscheinlich .................

.......... Rege1beweismaß

sehr wahrscheinlich

..... Beweismaßreduzierung

überwiegend wahrscheinlich

...... Beweismaßreduzierung 0,5

0

Huber geht von einem Regelbeweismaß von "hoch wahrscheinlich" aus, weil das "Für-wahr-Erachten" dieses seiner Meinung nach voraussetzt. 48 Abweichungen von dem Regelbeweismaß sind in Ausnahmefällen möglich. Auch die gesetzliche Systematik geht nach Huber von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis aus. Er meint, daß Vorschriften manchmal erkennbar geringere oder erhöhte Anforderungen stellen, welches an den jeweiligen Formulierungen gesehen werden kann.49 Diese Vorschriften lassen sich nach Huber nicht ohne ein Regelmaß erklären.50 Dies ist m.E. nach eine Musielak 1977, 466. Musielak 1977, 466. 47 "Die Werte 0 und 1 stellen jeweils Grenzwerte dar; I gilt für das sichere, 0 für das unmögliche Ereignis. 0,5 bedeutet: gleiche Wahrscheinlichkeit für das gesuchte Ereignis, wie für dessen Gegenteil. Zwischen , überwiegend wahrscheinlich' und 0 wurde auf weitere Abstufungen verzichtet; sie wären selbstverständlich möglich, hätten aber keine praktische Relevanz. Nach oben hin ist jedoch eine größere Differenzierung geboten. Denn die hier vertretene Beweismaßtheorie - das darf vorweggenommen werden - kennt außer dem Regelbeweismaß (,hoch wahrscheinlich') eine Beweismaßerhöhung (,sicher') und zwei Beweismaßreduzierungen (,sehr wahrscheinlich' und ,überwiegend wahrscheinlich' ). ,Sicher' erfordert im übrigen nicht w = l, sondern w :S l, aber w ~ hoch wahrscheinlich." Huber, 115. 48 Huber, 122. 49 Huber, 122. 50 Huber, 122. 45

46

12 Gräns

178

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

realistische Betrachtungsweise, vor allem weil das effektive Funktionieren der Normen tatsächlich von dem mit ihnen angewandten Beweismaß abhängig ist. Es verwundert jedoch, warum Huber solche Ausdrücke wie "wahrscheinlich" und "glaubhaft" in seiner Skala weder angewandt noch ihre Stelle auf der Skala erklärt hat. Die Stufe von "sehr wahrscheinlich" ist für Huber jedoch kein Essential, sondern weist nur darauf hin, daß "nicht jede Beweismaßreduzierung ein Herabgehen bis zur überwiegenden Wahrscheinlichkeit erfordert und rechtfertigt".51 Insoweit könnten diese Ausdrücke zwischen "hoch wahrscheinlich" und "überwiegend wahrscheinlich" liegen. 52 Dies hat Huber jedoch nicht ausdrücklich bestätigt. Etwas anderes ist aber noch wichtiger. Es wird behauptet, daß das Beweismaß durch die Anwendung verschiedener Ausdrücke hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit objektiviert würde. 53 Aber es ist schwer einzusehen, wie dies geschehen soll bzw. warum das subjektive Element allein dadurch verloren ginge. Wir haben jedoch festgestellt, daß schon der Begriff "Überzeugung von der Wahrheit" als Maßstab zu einem individuellen und elastischen Beweismaß führt. Verschiedene Individuen verstehen die verschiedenen sprachlichen Ausdrücke sehr unterschiedlich. Insofern ist diese "objektive" Theorie keineswegs eine Alternative, zumindest nicht mehr als

in dem Sinne, daß man es durch die Stufen deutlicher macht, daß das

Beweismaß in verschiedenen Fällen variiert. Ansonsten ist es immer noch eine Frage des subjektiven Überzeugungsgrades.

Von den deutschen Rechtswissenschaftlern hat vor allem Romme diese Tatsache hervorgehoben. Er hat die Schlußfolgerung gezogen, daß man in Ermangelung einer praktikablen Beweistheorie ein ad hoc-Beweismaß, welches auf den jeweiligen Einzelfall bezogen ist, akzeptieren muß. 54 Seine Huber, 115. Huber, 115. 53 Z. B. Kegel, 334. 54 "Diese Feststellungen führen m. E. unausweichlich zu dem Schluß, daß ein abstrakt-generelles und damit objektiv feststehendes Beweismaß nicht existiere, zumindest aber nicht praktikabel sein kann, da seine Fixierung unmöglich ist. Die Bezeichnung von qualitativen Wahrscheinlichkeitsgrenzen (,hoch wahrscheinlich' etc.) täuscht darüber nur hinweg. Denn auch hier ist klar, daß damit nicht etwa ein für jeden Dritten nachvollziehbares Maß gemeint ist, sondern es sich dabei in der Regel um eine ,Erlebniswahrscheinlichkeit des Alltags' handelt. Dieses Erleben kann sich aber nur auf den konkreten Fall, d. h. die Informationen, die er bietet, und die individuelle Person des jeweils Urteilenden beziehen. Die Schlußfolgerung aus diesen Überlegungen kann nur lauten: In Ermangelung einer praktischen Beweistheorie einerseits und andererseits in Anbetracht der Tatsache, daß die Beweiswürdigung zwingend die Existenz eines Beweismaßes voraussetzt, erwächst das Beweismaß aus dem jeweiligen Einzelfall und muß in jedem Einzelfall für ihn neu bestimmt 51

52

B. Deutschland

179

Analyse erklärt, warum man nicht aufgrund der subjektiven Überzeugung von einem Regelbeweismaß ausgehen kann, sondern ein elastisches Beweismaß hinnehmen muß. Man muß sich jedoch daran erinnern, daß es zwei verschiedene Dinge sind, ob es einerseits um irgendwelche objektiven Maßstäbe bei dem Beweismaß geht oder nicht und ob es andererseits aber um ein Regelbeweismaß oder ein elastisches Beweismaß geht. Die Schwierigkeit der beiden Theorien ist u. a., daß sie von einem einseitigen Beweismaß ausgehen. Es kommt oft vor, daß man aufgrund der Theoriestreitigkeiten nicht daran denkt, daß es vielleicht etwas Richtiges in beiden Theorien gibt, was auch hier der Fall ist. Nach der in dieser Arbeit vertretenen Theorie hat das Beweismaß sowohl eine subjektive als auch eine objektive Seite. Beide Theorien haben also teilweise recht, obwohl sie es nicht erklären können, was der wahre Unterschied ist und wie man das objektive Beweismaß auf eine rationale Weise tatsächlich bestimmen kann. Diese Fragen werden eingehend im Kapitel VII. diskutiert. 2. Strafsachen

Die strukturellen Probleme des strafrechtlichen Beweismaßes unterscheiden sich nicht wesentlich von denen des zivilprozessualen. Ich halte es aber - trotz einiger möglicher Wiederholungen - für zweckmäßig, es separat zu behandeln. Der § 261 der deutschen StPO lautet: "Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung."

Der BGH hat bisweilen verschiedene Definitionen für die erforderte Gewißheit verwendet. In einer Entscheidung von 1950 hat er den Ausdruck "ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit .. ., dem gegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr laut werden können" angewandt. 55 Kurz darauf wurde eine ähnliche Definition in einem anderen Senat angewandt, nach dem eine Tatsachenfeststellung "das Schweigen der Zweifel eines besonnenen, gewissenhaften und lebenserfahrenen Beurteiwerden. Es richtet sich nach dem Evidenzgefühl des Richters, das sich auf die Informationen des jeweiligen Rechtsstreits gründet, m. a. W. danach, was dem Richter vor dem Informationshintergrund des Falles ,hoch wahrscheinlich' etc. erscheint. Eine Bindung des Richters besteht nur insoweit, als er Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze zu berücksichtigen hat. Eine Bindung des Richter durch ein abstrakt feststehendes Beweismaß existiert dagegen nicht." Romme, 88 f. 55 28 11.1950, NJW 1951, 122. (2. Senat) Z.B. Greger hält diese Formulierung für mißverständlich, weil es seiner Meinung nach bedeuten würde, daß "trotz Verwendung des Überzeugungsbegriffs doch ein objektiver Wahrscheinlichkeitsgrad als Kriterium für die Sachverhaltsfeststellung angesehen würde". Greger, 65. 12*

180

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

lers, nicht aber auch eine von niemand anzweifelbare absolute Gewißheit" erfordert. 56 In neueren Entscheidungen wird jedoch die Bedeutung der persönlichen Überzeugung des Richters über die Wahrheit als Maßstab betont. 57 Es fehlt aber nicht an Entscheidungen, in denen von einer "jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Sicherheit"58 oder "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit"59 oder "Überzeugung von der an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkei t"60 gesprochen wird. Die theoretische Diskussion über den Inhalt des strafrechtlichen Beweismaßes ist mit den Problemen der zivilprozessualen Beweismaßdiskussion direkt vergleichbar. Die Anhänger der subjektiven Theorie gehen davon aus, daß die richterliche Überzeugung von der Wahrheit als Maßstab des ausreichenden Beweises angewandt werden müßte. 61 Die objektive Theorie geht davon aus, daß ein eher allgemeiner Maßstab - Wahrscheinlichkeit irgendeines Grades - verwendet werden muß. 62 Wenn nur die persönliche Überzeugung als Maßstab hingenommen wird, müssen aber auch dessen praktische Folgen akzeptiert werden. Individuen werden auf sehr unterschiedlichen Grade von Wahrscheinlichkeit überzeugt, wie schon dargelegt wurde. Einige sind skeptischer als andere. Die persönliche Überzeugung eines Richters und demzufolge das jeweilige Beweismaß basiert dann nicht in allen Fällen auf dem gleichen Grad von Wahrscheinlichkeit, sondern auf einem unbestimmten Beweiswert, den der entscheidende Richter in dem jeweiligen Fall als genügend für seine persönliche Überzeugung angesehen hat. 63 Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gründet sich auf denselben Paragraphen wie das Beweismaß64, welches meiner Meinung nach die Vermischung der Beweiswürdigung mit dem Beweismaß in der deutschen Diskussion - sowohl der zivil- als auch strafrechtlichen - verursacht hat. Die BGH, NJW 1951, 83. Löwe/Rosenberg § 261 Rdnr. 8 und 9. Löwe/Rosenberg § 261, Rdnr. 7-9. "Unter Überzeugung ist eine bestimmte, aus dem Inbegriff der Verhandlung erwachsene, innere Stellungnahme des Richters zum Gegenstand der Untersuchung zu verstehen. Der Richter ist von einem tatsächlichen Hergang überzeugt, wenn er ihn zufolge der gewissenhaften Prüfung der vorgeführten Beweise unter strenger Beachtung des Grundsatzes, daß von mehreren Möglichkeiten allemal die dem Angeklagten günstigere anzunehmen ist, auch subjektiv für wahr hält." Löwe/Rosenberg, § 261, Rdnr. 7. Hervorhebung im Original. 58 BGHSt 5, 34. 59 BGHSt 11, 5. 60 BGHSt, 11, 1. 6t Siehe darüber z. B. Greger, 81 ff., 93 ff. 62 Greger, 88 ff. 63 Vgl. Löwe/Rosenberg § 261 Rdnr. 9. 64 Löwe/Rosenberg § 261 Rdnr. l u. 41 ff. 56 57

B. Deutschland

181

freie Beweiswürdigung ist mit Hilfe des Begriffs der subjektiv-objektiven Beweiswürdigung erklärt worden. 65 Nach Peters bedeutet dies, daß "die Beweiswürdigung ein nach objektiven Maßstäben sich vollziehender Wertungsvorgang ist".66 Die objektive Seite wird der Beweiswürdigung zugewiesen und die subjektive der richterlichen Überzeugung. 67 Als maßgebliches Kriterium für die Richtigkeit oder doch wenigstens für die Annehmbarkeil der Beweiswürdigung sollte nach der Meinung von z. B. Peters und Roxin die Nachvollziehbarkeil durch andere Richter angesehen werden.68 Walter hat eingewendet, daß das sog. Drittkontrollmodell, das einen Idealrichter oder "den besonnenen, lebenserfahrenen und gewissenhaften Beurteiler" als Maßstab zu haben behauptet, in Wirklichkeit untauglich ist, weil das Bild von einem solchen Idealrichter sich nicht mit der erforderlichen Genauigkeit definieren läßt. 69 Auch Peters gibt zu, daß der Mangel dieser Theorie einmal in der Zufälligkeit liegt, die sich aus der Zusammensetzung des prüfenden Gerichts ergibt, aber vor allem besteht er darin, daß eine solche Nachvollziehbarkeil - durch die Voraussetzung der richterlichen Überzeugung- wiederum zu einem subjektiven Maßstab führt. 70

.

Es ist aber zu bemerken, daß diese Dritt- bzw. Objektivitätskontrolle die Beweiswürdigung trifft und treffen soll. Das Beweismaß ist jedoch eine davon unterschiedene Angelegenheit. Die Vermischung beider kann klar z.B. in dem Schrifttum von Peters gesehen werden. Mit der Objektivierung der Überzeugung meint Peters die Gebundenheit der Beweiswürdigung an allgemeingültige Maßstäbe. Er betont einerseits, daß die Überzeugung mehr als ein Vermuten, Meinen, Glauben oder Für-wahrscheinlich-halten ist. Andererseits spielen aber nach ihm genau die persönlichen Erfahrungen, Gefühlskomponenten und Eindrücke bei der subjektiven Überzeugungsbildung eine Rolle, die nicht durch einen anderen Richter ersetzt oder beanstandet werden können. 71 Die Sicherung der Objektivität soll aber bestimmten Grundlagen bei der Beweiswürdigung folgen. 72 Er meint, daß die subjektive Beurteilungsfreiheit jedoch erst dann einsetzt, "wenn die allgemeingültigen Regeln (Grundlagen) über den Beweisumfang, die Beweiskraft des einzelnen Anzeichens und ihrer Gesamtheit die gesicherte Grundlage für die Gewinnung der richterlichen Gewißheit abgeben'm. Der Raum 65 66

67 68

69 70 71

72 73

Peters 1985, 298. Peters 1985, 298. Peters 1985, 298 ff. Löwe/Rosenberg § 261 Rdnr. 41 ff. Peters 1985, 299 f. Roxin 77 f. Wa1ter 166-172. Vgl. auch Greger, 115 f. Peters 1985, 299 f. Peters 1985, 303. Peters 1985, 300 ff. Peters 1985, 303.

182

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

der Beurteilungsfreiheit steht nach Peters unter der Verantwortung des Beurteilenden?4 Es ist natürlich so, daß der Richter die Gründe seiner Überzeugung durch eine Analyse der Beweiswürdigung kontrollieren soll. Darüber hinaus muß aber der Beweiswert des ganzen Beweises im Licht eines objektiven Beweismaßes ausreichend sein. Vor allem Bourmistrov-Jüttner hat den in der strafrechtlichen Praxis und Doktrin geforderten "persönlichen Grad von Sicherheit" u. ä. Definitionen kritisiert. Sie lehnt die Voraussetzung der "vollen Überzeugung von der Wahrheit" des Richters ab, weil der Richter sie nicht wissenschaftlich-rational erfüllen kann. 75 Sie spricht ferner von einer "Fiktion der Wahrheit", mit der die juristischen Urteile in Ausdrücke wie "man sei überzeugt", "man sei sicher", "der Sachverhalt ist wahr" oder "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt ist" gekleidet werden. 76 Dieser Trick geschieht nach Bourmistrov-Jüttner dadurch, daß man z. B. von einem nur erkenntnistheoretischen Zweifel spricht, der deshalb, weil er bloß theoretisch ist, zu vernachlässigen sei. 77 Dies ist jedoch, wie Bourmistrov-Jüttner zutreffend konstatiert, fast ausgeschlossen, weil es sehr ungewöhnlich ist, daß alle Beweismittel nur zugunsten eines Sachverhalts sprächen bzw. alle Beweismittel, die zugunsten eines anderen Sachverhalts sprechen, völlig unglaubwürdig seien.78 Sie richtet die Aufmerksamkeit darauf, daß die deutsche Doktrin UDd Rechtspraxis von einer Ja-Nein-Altemative ausgeht. Sie sieht dies jedoch als leicht erklärbar, weil eine solche Denkweise die Entscheidungsbildung vereinfacht und z. B. Sicherheit, Allgemeingültigkeit und Unanfechtbarkeit nur suggeriert. Wenn es jedoch um das subjektive Beweismaß geht, muß die persönliche Überzeugung über die Richtigkeit der eigenen Entscheidung verlangt werden. Bourmistrov-Jüttner trifft aber den Kern des Problems des subjektiven Maßstabes, wenn sie darauf hinweist, daß es der Preis solcher Entscheidungsbildung ist, daß "die Risiken einer Fehlentscheidung nicht adäquat oder überhaupt nicht bei der Entscheidungsbildung berücksichtigt werden". 79 Die Risiken einer Fehlentscheidung müssen aber durch eine diskursive Analyse aufgrund irgendwelcher relevanten Argumente bewertet werden. Dies soll frei von der subjektiven Überzeugungsbildung geschehen.

74

75 76 77

78 79

Peters 1985, 303. Bounnisrov-Jüttner, XI. Bounnistrov-Jüttner, 57 Bounnistrov-Jüttner, 59 Bounnistrov-Jüttner, 59 Bounnistrov-Jüttner, 59

f. mit Hinweisen. mit Hinweisen. mit Hinweisen. Kursivierung von mir.

C. Über die Elastizität der amerikanischen Beweismaße

183

C. Über die Elastizität der amerikanischen Beweismaße I. Zivilsachen Es herrscht in den USA eine relative Einigkeit darüber, wie das zivilrechtliche Regelbeweismaß definiert werden soll: Es wird im allgemeinen als more probable than not verstanden. 80 Die in verschiedenen Staaten und Gerichten angewandten Definitionen weichen zwar teilweise voneinander ab, der Grundgedanke ist jedoch der selbe. Normalerweise lautet sie wie folgt: 81 "To establish by a preponderance of the evidence means to prove that something is more likely so than not so. In other words, a preponderance of the evidence in the case means such evidence as, when considered and compared with that opposed to it, has more convincing force, and produces in your rninds belief that what is sought to be proved is more likely true than not true".

Empirische Untersuchungen darüber, wie die Richter bzw. Jurymitglieder und andere Personen das allgemeine, im amerikanischen Zivilprozeß geltende preponderance of the evidence-Beweismaß verstehen, bestätigen, daß die subjektive Würdigung aufgrund sprachlicher Definitionen zu einem elastischen Beweismaß führt. Sirnon und Mahan von der Universität Illinois haben schon Anfang der 70er Jahre eine Untersuchung darüber durchgeführt, wie die verschiedenen Beweismaße numerisch verstanden werden. In dieser Untersuchung hatten die Autoren die Möglichkeit, 69 ausgewählte, aktive Jurymitglieder zu interviewen. Dazu nahmen 88 Soziologiestudenten an dem Experiment teil. Die Resultate der Untersuchung wurden ferner mit einem von Sirnon schon früher durchgeführten ähnlichen Experiment mit 347 Richtern verglichen. 82 Sirnon und Mahan haben dabei u. a. untersucht, wie die Definition des preponderance of the evidence verstanden worden ist. Es zeigte sich, daß der definitionsmäßige Wert, > 50%, nicht mit den in Wirklichkeit angewandten Werten übereinstimmt. Die Resultate zeigen nämlich relativ große Unterschiede zwischen den individuellen Wertungen. Der Durchschnittswert des Wahrscheinlichkeitsgrades für the preponderance of the evidence bei den Richtern ist 6.1, bei den Jurymitgliedern 7.7 und bei den Studenten 7 .6. Es kann jedoch festgehalten werden, daß die Richter näher an der Definition blieben als die übrigen Gruppen. Dies kann mit der Erfahrung und Kenntnis sowohl der Praxis als auch der Doktrin 80 McCorrnick, 956 ff. Ball, 808 f., 818, 823 ff. Vgl. jedoch Eggleston 1983, 129 ff. 81 Simon, 319 Fn. 2. McCorrnick, 956 ff. 82 Simon, 103 ff. Simon/Mahan, 324 Tabelle Nr.4.

184

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

erklärt werden. Klar ist ferner, daß sowohl die Studenten als auch die Geschworenen den Begriff preponderance of the evidence im allgemeinen höher bewerten, als die Definition es voraussetzt. Individuelle Unterschiede sind jedoch in allen Gruppen zu beobachten. Das höhere Beweismaß von clear and convincing evidence wird in speziellen Fällen angewandt. Nach McCormick83 z.B. in: "1. fraud and undue influence 2. suits on oral contracts to make a will, and suits to establish the terms of a lost will 3. suits for the specific performance of an oral contract 4. proceedings to set aside, reform or modify written transactions or official acts on grounds of fraud, mistake or incompleteness, and 5. miscallenous types of claims and defenses, varying from state to state, where there is thought to be special danger of deception, or where the court considers that the particular type of claim should be disfavored on policy grounds."

Tabelle 1 Numerische Wertungen von "preponderance of the evidence" p

Richter

Geschworene

2 3 184 69 14 15 17 6 4 6 4 10

2 3 5

0.0-5.0 5.0 5.5 6.0 6.5 7.0 7.5 8.0 8.5 9.0 9.5 10.0

8 2

4 15 2

1 12 2

8

Studenten 1

4 1 9 3 17 11

13 4 14 5 5

P = Wahrscheinlichkeitsgrad. Die Ziffern in den drei Spalten daneben geben die Anzahl der Richter, Geschworenen und Studenten an, die den jeweiligen Wahrscheinlichkeitsgrad gewählt haben.

83

McCormick, 960 f.

C. Über die Elastizität der amerikanischen Beweismaße

185

Dieses Beweismaß liegt seiner Definition nach höher als das allgemeine preponderance of the evidencee. Doch auch clear and convincing evidence leidet an einer schwer zu verstehenden Definition, die letztendlich von der subjektiven Auslegung abhängig ist. 84 Obwohl der Beurteilende verstehen würde, daß hier ein höherer Grad von Gewißheit gefordert wird - z. B. 2: 70%, wie einige vorgeschlagen haben85 -ist es gleichermaßen schwer, von einem einheitlichen, festen Grad auszugehen, weil es immer noch möglich ist, verschiedene subjektive Auslegungen zwischen 70% und 100% anzuwenden Auch dessen Verhältnis zu dem preponderance of the evidenceBeweismaß wird unsicher, falls es tatsächlich so ist, wie die Untersuchung von Mahan und Sirnon gezeigt hat: daß nämlich das preponderance of the evidence-Maß nicht als ~ 51% verstanden wird, sondern nach der Ansicht einiger sogar der Definition des Maßes clear and convincing entspricht Eine interessante Frage ist es, warum in einigen Fällen ein höherer Grad gefordert wird. Zu dieser Frage gibt es aber keine einzelne Antwort. Im allgemeinen kann gesagt werden, daß dieser höhere Grad des Beweismaßes eher in Fällen, die auf dem equity basieren, angewandt wird, als in Fällen, die auf law basieren. Für eine nähere Analyse des Wesens und der allgemeinen und speziellen Elemente der equity-Fälle besteht hier aber kein Raum. Ein solches Unternehmen hätte schließlich eine sehr umfangreiche Untersuchung einer großen Anzahl von equity-Fällen vorausgesetzt.

II. Strafsachen Im anglo-amerikanischen Strafprozeß wendet man seit 1798 das allgemeine Beweismaß von guilty beyond reasonable doubt an. 86 Die Definition dieses normativen Begriffes variiert je nach einzelnen Staaten und Gerichten, aber die Unterschiede zwischen ihnen sind inhaltlich nicht groß. Der Richter muß sie, wie alle anderen rechtlichen Begriffe, der Jury mitteilen. Die Definitionen behandeln auf der einen Seite, was beyond a reasonable doubt in dem Fall bedeutet, wenn der Angeklagte verurteilt werden darf bzw. muß, und auf der anderen Seite, was dasselbe in dem Fall bedeutet, wenn er nicht verurteilt werden darf. Beyond a reasonable doubt im ersten Fall wird z. B. als fully satisfied, entirely convinced oder satisfied to a moral certainty verstanden. 87 Dennoch ist es auch als Synonym mit Wör84 Verschiedene semantische Definitionen sind z. B. "clear, convincing and satisfactory", "clear, cogent and convincing" und "clear, uneqvivocal, satisfactory and convincing". McCormick, 959 f. 85 U.S. v. Fatico, 458 F.Supp. 388. 86 Mc Cormick, 962. Eggleston 1983, 114 ff. 87 McCormick, 962 f. Marcus/Whitebread, 91 f. Taylor v. Kentucky, 436 U.S. 478 (1978). Cage v. Louisiana, 111 S.Ct. 328 (1990). Emanuel 1988, 434 ff.

186

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

tem wie clear, precise und indubitable verstanden worden. 88 Eine der berühmtesten Definitionen in dem Fall, wo reasonable doubt besteht bzw. bestehen soll, stammt von Chief Justice Shaw89 : "It is that state of the case, which, after the entire comparison and consideration

of all the evidence, 1eaves the minds of jurors in that condition that they cannot say they feel an abiding conviction, to a moral certainty, of the truth of the charge."

Diese Definition hat jedoch nach der Meinung vieler Autoren mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben.90 Einige andere Definitionen betonen mehr die Bedeutung des Begriffs als Grundlage eines Freispruchs auf z.B. folgende Weise91 : "Reasonable doubt, which will justify acquittal is doubt based on reason and arising from evidence or Iack of evidence, and it is doubt which reasonable man or woman might entertain, and it is not fanciful doubt, is not imagined doubt, and is not doubt that juror might conjure up to avoid performing unpleasant task or duty."

Das Problem der verschiedenen Definitionen liegt darin, daß sie sehr schwer für die Jurymitglieder zu verstehen sind. Es ist auch behauptet worden, daß die Definitionen an sich mehr Definierung brauchen als die ursprungliehe Phrase selbst.92 Deswegen gibt es auch Gerichte, die das Beweismaß nur dann für die Jury definieren. wenn entweder der Anaeklagte oder die Jurymitglieder selbst es verlangen.93 Richterliche Definitionen des Beweismaßes sind auch deshalb sehr problematisch, weil etwaige Fehler in dieser Hinsicht in vielen Fällen als reversible, d. h. ein neues Verfahren voraussetzende, angesehen worden sind. Es ist zudem normal, daß Jurymitglieder unterschiedliche Auslegungen durch die Parteien erhalten. Es ist natürlich verständlich, daß der Inhalt je nachdem, ob sie von dem Verteidiger oder dem Staatsanwalt ausgegeben wird, variiert. Was eine reasonable person ist oder wie nahe zur absoluten Wahrheit nahe genug ist, wird dagegen nicht erklärt. Man ist nämlich der Meinung, daß zu exakte Weisungen zu einer nicht akzeptablen Bindung des Beurteilenden führten. 94 Andererseits muß hier angemerkt werden, daß gerade der Black's Law Dictionary, sixth ed. St.Paul 1990, 161. Commonwealth v. Webster, 59 Mass. (5 Cush.) 295, 320 (1850). Siehe auch McCormick, 963. 90 McConnick, 963 u. die in Fn. 9 genannten Autoren. Eggleston 1983, 114 ff. 91 U.S. v. Johnson, C.A.N.Y., 343 F.2d 5,6. Zitate wie in Black's Law Dictionary (Fn. 648), 1265. 92 McCormick, 963 und dort Fn. 12. 93 McCormick, 963. · 94 Dane, 142 und die dort genannten Autoren. 88 89

C. Über die Elastizität der amerikanischen Beweismaße

187

Punkt, ob die reasonable jury ein solches Urteil hat fällen können oder nicht, ein zentrales Kriterium für die Aufbebung eines Juryurteils ist.95 Die Praxis ist hier aber alles andere als klar.96 In der schon oben genannten Untersuchung von Sirnon und Mahan wurden Richter, Jurymitglieder und Studenten gefragt, eine wie hohe Wahrscheinlichkeit sie verlangen würden, um satisfaction beyond reasonable doubt zu erreichen. Die Resultate werden hier in der Tabelle 2 dargelegt: 97 Tabelle 2 Das erforderliche Beweismaß in Straffällen p

0.0-5.0

Richter

Geschworene

Studenten

-

5

3

5.0

1

6

2

5.5 6.0

2

2 4

1

6.5

2

1

7.0

14

2

7.5

23

2

1

8.0 8.5

58 21

8 2

9 2

9.0 9.5

68

9

21

44

3

17

10.0

106

25

30

8

l -

1

Die Tabelle zeigt deutlich, wie unterschiedlich auch dieser Begriff verstanden worden ist. Im Gesamtdurchschnitt haben jedoch über 50% aller Beteiligten eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 8.6 verlangt. Die Mittelwerte sind 8.9 für die Richter, 7.9 für die Geschworenen und 8.9 für die Studenten. Aber wir sehen, daß es große Unterschiede zwischen den Individuen gibt. Die allgemeine Auffassung, nach der guilty beyond reasonable doubt eine Wahrscheinlichkeit über 9.0 voraussetzt, scheint ferner im Licht dieser Untersuchung unbegründet zu sein. Hinzu kommt, daß es Unterschiede zwischen verschiedenen Straftaten gibt, was nicht mit der gesetzlichen Definition übereinstimmt.98 Es wird zwar auch in den USA behauptet, 95 96 97

Siehe z. B. LaFave/Israel, 1078 ff. LaFave/Israel, 1078 ff. Simon/Mahan, 320 ff.

188

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

daß das Beweismaß in allen Strafsachen dasselbe sei und sein soll.99 In der Tabelle 3 wird gezeigt, wie unterschiedlich auch das strafrechtliche Beweismaß nach der Untersuchung von Sirnon und Mahan angelegt wurde. 100 Tabelle 3 Der erforderte Wahrscheinlichkeitsgrad rlir verschiedene Straftaten Straftat

Mittelwert der Wahrscheinlichkeitsbewertungen Richter

Geschworene

Studenten

Murder

9.2

8.6

9.3

Foreihle rape

9.1

7.5

8.9

Burglary

8.9

7.9

8.6

Grand larceny

8.8

7.8

8.5

Auto theft

8.8

7.8

8.5

Manslaughter

8.9

9.2

8.9

Petty larceny

8.7

7.4

8.2

Forgery

8.8

7.8

8.4

Wir sehen, daß die Werte je nach der Straftatart unterschiedlich sind. Zudem gibt es in jeder Gruppe Unterschiede zwischen verschiedenen Graden bei derselben Straftatart: nämlich bei murder und manslaughter bzw. grand larceny und petty larceny. Richter scheinen jedoch ziemlich nahe dem Wert 9.0 geblieben zu sein, während die Geschworenen und Studenten eher von diesem "Idealwert" abgewichen sind. Dies kann wiederum dadurch erklärt werden, daß die Richter Kenntnis von der herrschenden Auffassung sowohl in der Theorie als auch in der Praxis haben. Aber auch sie folgen einer Rangordnung in ihren Bewertungen. Daß die Unterschiede zwischen verschiedenen Straftaten (im Durchschnitt) sehr gering sind, könnte als Argument für einen nur scheinbaren Unterschied, der in der Wirklichkeit keine praktische Bedeutung hätte, eingewandt werden. Auf der anderen Seite, wie später festgestellt wird, können die Unterschiede im Licht der entscheidungstheoretischen Modelle auch rational erklärt werden. 101 Vgl. Twining, 391 ff. Es ist auch konstitutionell verankert worden. Siehe In re Winship, 397 U.S. 358 (1970). 100 Simon/Mahan, 328. 101 Siehe das siebte Kap. F.I-V. und G. 98

99

D. Kognitives oder normatives Beweismaß?

189

Sirnon und Mahan haben zudem bemerkt, daß es Unterschiede nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen den Bewertenden als Gruppen gibt. 102 Studenten erwiesen sich in ihrer Beurteilung vorsichtiger als Jurymitglieder, die alle Bevölkerungsschichten repräsentieren. 103 Auch zwischen der Jury und den Richtern sind Unterschiede zu bemerken. 104 Obwohl man nicht voraussetzt, daß Jurymitglieder bei ihrer Beweiswürdigung eine Wahrscheinlichkeitsskala anwenden würden, wird im allgemeinen anerkannt, daß es um Wahrscheinlichkeitsbewertungen gehen muß. Bei den verschiedensten Versuchen, reasonable doubt zu quantifizieren, ist man nämlich davon ausgegangen, daß Jurymitglieder erstens eine Wahrscheinlichkeit für die Schuld des Beklagten festlegen, wonach sie diese Wahrscheinlichkeit dann mit der von dem Richter ausgegebenen Festlegung vergleichen müssen. 105 Die Richter wurden befragt, ob sie glauben, daß Jurymitglieder die gegebenen Instruktionen einhellig verstehen und anwenden. Über 90% der befragten Richter haben dies geglaubt. 106 Im Lichte der Resultate hat sich dieser Glaube jedoch als unbegründet erwiesen. Interessant ist zudem, daß der Unterschied zwischen dem strafrechtlichen und zivilrechtliehen Beweismaß nach der Meinung der Geschworenen und Studenten gar nicht so deutlich und groß ist, wie es im allgemeinen angenommen wird. 107 Nur Richter haben einen klaren Unterschied zwischen diesen Beweismaßen gemacht, was wiederum dadurch erklärt werden kann, daß sie Kenntnis über die theoretischen Definitionen haben.

D. Kognitives oder normatives Beweismaß? Man muß sich fragen, wie das Nachdenken über das Beweismaß dann überhaupt verstanden werden sollte - kognitiv oder normativ? Einerseits wird davon ausgegangen - wie die h. M. sowohl in Deutschland als auch in den USA -, daß das Beweismaß eine Sache der subjektiven Überzeugung sei es hinsichtlich der Wahrheit, sei es hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit - ist. Andererseits will man die persönliche Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit als das alleinige Kriterium nicht akzeptieren. Deshalb wird sie verschiedenen, mehr oder weniger normativen Definitionen zugeschrieben. Simon/Mahan, 325, 329. Simon/Mahan, 325, 329. 104 Simon/Mahan, 325, 329. 105 Dane, 142: "It is assumed that each juror will assess the probability that the defendant committed the crime and, through the judge's instructions, arrive at some value for reasonable doubt on the same probability scale". Dane, 142. 106 Simon/Mahan, 329. 107 Vgl. Eggleston 1963, 180 ff. Ders.: 1977, 1 ff. Ders.: 1983, 114 ff. 102 103

190

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

Solche Definitionen haben sich aber sowohl theoretisch als auch in der Praxis als untauglich für die Objektivierung erwiesen. Die Schlußfolgerung sowohl der deutschen als auch der amerikanischen Beweismaßdiskussion bleibt, daß, wenn das Beweismaß in dieser Weise verstanden wird, hinzugefügt werden muß, daß es elastisch und subjektiv-kognitiv ist. Man hat aber bisher keine rationale Auslegung eines objektiv-normativen Beweismaßes ausarbeiten können. Eine normativ-objektive Auslegung des Beweismaßes ist eine Stellungnahme zum Risiko materiell fehlerhafter Entscheidungen und deren eventuellen Konsequenzen. Statt dessen hat man in Deutschland jedoch darüber diskutiert, ob man von Wahrscheinlichkeit oder Wahrheit sprechen kann oder soll. Dies ist schon deshalb erstaunlich, weil man sich immerhin darüber einig ist, daß es bei der Beweiswürdigung um Wahrscheinlichkeiten geht. Wenn es aber dann zu einer endgültigen Entscheidung kommt, gibt es jedoch nur zwei Alternativen, und zwar das Ja oder Nein bzw. überzeugt oder unsicher. Wie auch Bourmistrov-Jüttner gesagt hat, täuscht man sich auf diese Weise selbst, weil damit das ständige Risiko fehlerhafter Entscheidungen überhaupt nicht beachtet wird. 108 Auf der anderen Seite ist dies verständlich, weil die deutsche Diskussion eigentlich nur das subjektive Beweismaß trifft, aber nicht das objektive. Wird die Natur eines Beweises, lediglich wahrscheinlich zu sein, und die danach zwingend folgende Unsicherheit adäquat berücksichtigt, muß aber zugleich davon gesprochen werden, wie hoch die Unsicherheit sein darf, die unter Berücksichtigung ihrer möglichen Konsequenzen akzeptiert werden kann. Die Möglichkeit eines materiell fehlerhaften Urteils ist stets vorhanden, weshalb z. B. die im Kapitel II. diskutierten Wirkungen der Fehlerhaftigkeit beachtet werden müßten. Auch das Verflochtensein der Fakten mit dem Recht und die daraus resultierende Unsicherheit muß hier natürlich beachtet werden. Zudem riskiert man nicht nur den konkreten Fall und dessen konkrete Konsequenzen für die Parteien, sondern auch das zweckmäßige Funktionieren des Rechts. Traditionell wird die Beweisunsicherheit mit Hilfe von Regeln der objektiven Beweislast (der abstrakten Beweislast oder Feststellungslast, im anglo-amerikanischen Recht burden of persuasion) entschieden. 109 Die Anwendung solcher Regeln basiert auf dem gerichtlichen Entscheidungszwang: Wenn es unmöglich scheint, irgend etwas über den faktischen Sach108 Geht man von der Auffassung aus, daß das Gericht sich nur um die prozessuelle Wahrheit kümmern darf und überhaupt nicht an die materielle Richtigkeit der Urteile denken müsse, kann derartiges Denken verteidigt werden. 109 Siehe Stein/Jonas § 286 Rdnr. 25 ff. mit Hinweisen. McCorrnick, 947 ff. Ekelöf 1992, 58 ff. Lindeil 1987, 166 f. Bolding, 1989, 95 ff.

E. Nonnativität des Beweismaßes in Schweden

191

verhalt aufgrund des vorgelegten Beweises mit der erforderlichen Sicherheit zu sagen, werden diese Regeln als Rechtfertigung der Tatsachenentscheidung angewandt. 110 Eine der Hauptideen hinter den Beweislastregeln ist der ontologische Unterschied zwischen Sein und Sollen, dem kognitiven und normativen Denken. Traditionell ist die Beweiswürdigung eine kognitive Angelegenheit, die Beweislastregeln dagegen eine normative. Sie sollten deshalb getrennt behandelt werden. Die Beweislastregeln sind normative Gründe, um den Inhalt einer Tatsachenprämisse zu bestimmen. Sie sind aber vor allem Risikoverteilungsregeln, d. h. Antworten auf die Frage, von welcher Partei das Risiko der zu großen Unsicherheit der Tatsachenlage getragen werden soll. Die Anwendung der Beweislastregeln ist ihrerseits immer von dem jeweiligen Beweismaß, das auch eine Stellungnahme zu demselben Risiko ist, abhängig. 111 Dieser funktionelle Zusammenhang ist sowohl im deutschen als auch im amerikanischen Recht häufig unbeachtet geblieben.112 Dies kann darauf beruhen, daß die deutschen und amerikanischen Juristen das Beweismaß faktisch als eine kognitive Frage behandeln, weil sie von einem subjektiven Beweismaß ausgehen und weil sie trotz verschiedener Versuche zur objektiv-normativen Auslegung desselben nicht erklären können, wie solche Auslegungen sich von der subjektiven Überzeugung der Entscheidenden eigentlich unterscheiden.

E. Nonnativität des Beweismaßes in Schweden I. Fragestellung Anders ist die Situation aber seit langem in Schweden. Auch sie ist aber nicht ganz unproblematisch. Die schwedische Beweiswürdigungsnorm lautet: "Das Gericht hat nach gewissenhafter Prüfung von allerri, was sich ergeben hat, darüber zu entscheiden, was in dem Verfahren bewiesen worden ist"Y 3 Ein allgemeines 110 Stein/Jonas, § 286 Rdnr. 25 ff. Eke1öf 1992, 58 ff. Lindell 1987, 166 f. "If no burden of persuasion were acknowleged by the law, one possible result would be that the trier of fact would purport to reach no decision at all." McCormick, 948. 111 Ekelöf, 1992,58 ff. Maassen, 11. Nell, 210 ff. 112 Vgl. Maassen, 11. 113 RB 35:1. Hier übersetzt, wie Huber, 24. Etwas anders Nagel, Die Grundzüge des Beweisrechts im Europäischen Zivilprozeß, Baden-Baden 1967. "Das Gericht soll nach gewissenhafter Prüfung von allem, was vorgekommen ist, entscheiden, was im Prozeß bewiesen worden ist". Nagel, 226. siehe auch Holding, Sachaufklärung und Überzeugungsbildung im schwedischen Zivilprozeß, in: Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, Frankfurt a.M. und Berlin 1966, 57 ff.

192

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

Beweismaß haben die Schweden jedoch aus dieser Regel nicht abgeleitet, da sie lediglich als Einleitung und Ermächtigung zur freien richterlichen Beweiswürdigung verstanden worden ist. 114 Es gibt dagegen materielle, zivilrechtliche Rechtsregeln, in denen das Beweismaß zum Ausdruck gekommen ist - z. B. "vermutlich", "wahrscheinlich", "darf angenommen werden" usw .115 Im Strafprozeßrecht gibt es ein ausdrückliches Beweismaß für das Erlassen eines Haftbefehls oder die Erhebung der Anklage, aber es gibt keine allgemeine Beweismaßregel für die gerichtliche Verurteilung. 116 Nach der herrschenden Lehre in Schweden ist das Beweismaß durchaus eine Rechtsfrage. 117 Es ist ein Teil der Beweislastnorm und hat immer einen fixierten Platz auf der WahrscheinlichkeitsskalaY 8 Wo dieser Platz auf der Skala ist bzw. sein soll, ist jedoch eine strittige Frage, wenn es um Zivilsachen geht. Einigkeit herrscht jedoch darüber, daß die Beweistastnorm ohne einen definierten Beweismaßgrad relativ nichtssagend ist, weil dann die Partei, die die Beweislast tragen soll, nicht weiß, ein wie starker Beweis gefordert wird, um die Anwendung der Beweislastnorm zu verhindem.119 Außer in eindeutigen Fällen, muß der Richter Stellung zum Beweismaß und der Beweislast beim Verfahren nehmen. Diese richterliche Wirksamkeit haben verschiedene Rechtsgelehrte untersucht, darüber geschrieben und gestritten. Einen~eits geht es um die materiell-rechtlichen Zwecke der Normen, die der Richter beachten darf bzw. soll, andererseits um die soziale Stellung der Parteien und um die allgemeinen und speziellen Voraussetzungen der Wahrheitsfindung in der jeweiligen Situation.

II. Olivecrona und Ekelöf; Normzwecke als leitendes Ziel 1930 hat Karl Olivecrona in seinem Buch Bevisskyldigheten och den materiella rätten (Die Beweispflicht und das materielle Recht) die These vorgelegt, daß die Beweislastregeln in Zivilsachen denselben sozialen "Das Gericht hat nach gewissenhafter Prüfung des gesamten Tatsachenstoffes darüber zu entscheiden, was in dem Verfahren bewiesen worden ist", Bolding, 58. ll4 Lindell 1987, 16 ff. us Ekelöf SvJT 1982, 655 f. Ders.: 1992, 70 f. ll 6 Siehe z.B. Lindell1987, 16 f., 284 f. Ekelöf 1992, 116 f. Diesen, 74 ff. 117 Lindell 1987, 17. Ders.: 1998, 504. Ekelöf 1992, 11 f., 55. us Ekelöf, 1992, 59. Lindeil 1987, 20. Bolding 1951, 148 ff. Ders.: 1989, 97 ff. 119 Ekelöf, 1992, 61 f., 69. Bolding 1951, 170, 183 f. Ders.: 1989, 97 ff. Lindeil 1987, 17. Man braucht das Beweismaß natürlich überhaupt nicht zu diskutieren, wenn der vorgelegte Beweis offenbar schwach oder stark genug für die eine oder andere Tatsachenfeststellung ist oder wenn eine Tatsache oder ein Sachverhalt in einem dispositiven Fall anerkannt oder sonst unstrittig ist.

E. Nonnativität des Beweismaßes in Schweden

193

Zwecken dienen müssen wie die in dem jeweiligen Rechtsstreit gültigen materiellen Rechtsnormen. 120 Er ist der Ansicht, daß Rechtsnormen ihre beabsichtigte soziale Wirkungen nur dann erfüllen, wenn sie von Gerichten durchgesetzt werden. 121 Materielle Regeln müssen demzufolge mit Beweislastregeln komplettiert werden, um das Erreichen der Normzwecke auch in unklaren Fällen zu garantieren. 122 Er betonte jedoch mit Recht, daß diese Frage nicht mit dem Ziel der Beweiswürdigung vermischt werden darf. Ihr Ziel soll immer noch darin bestehen, aufgrund der vorgelegten Fakten ein so vollständiges Bild wie möglich über die Wirklichkeit zu schaffen. 123 Die Frage der Beweislast stellt sich nämlich erst, wenn Unsicherheit über die Wirklichkeit besteht. 124 In einer solchen Situation sollen die Gerichte durch Beweislastregeln die Verwirklichung von Normzwecken garantieren. 125 Ekelöf hat diese Auffassung stark verteidigt. Er betont, daß unter Berücksichtigung der Normzwecke die Beweislast und demzufolge das Beweismaß so reguliert werden sollte, daß das Erreichen der Normzwecke gewährleistet wird. 126 In Fällen, wo die Wahrheit sich nicht vollständig klären läßt, wird seiner Meinung nach die materielle Richtigkeit der Entscheidungen wegen der großen Bedeutung der Gewährleistungsfunktion weniger wichtig. 127 Er ist der Auffassung, daß eine Mehrzahl von Beweismaßausdrücken, die heutzutage in den schwedischen Gesetzen zu finden sind, vermieden werden sollten, hauptsächlich weil der Inhalt solcher Ausdrücke schwer zu definieren ist. 128 Dennoch führte es seiner Meinung nach in der Praxis zu Schwierigkeiten, irgendeinen Unterschied zwischen verschiedenen nahe beieinander liegenden Termen zu machen. 129 Deswegen hat er empfohlen, daß man die von ihm vorgelegten, standardisierten Beweislastpunkte anwenden soll, nämlich "vermutlich", "wahrscheinlich", "bewiesen" und "offenbar", 130 die graphisch weiter unten dargestellt sind. 131

Olivecrona, 130, 132 f. Olivecrona, 130. 122 Olivecrona, 130 f. 123 Olivecrona, 132. 124 Olivecrona, 132. 125 Olivecrona, 132. 126 Eke1öf 1992, 85 f. 127 Eke1öf 1992, 85. 128 Ekelöf 1992, 71. 129 Ekelöf 1992, 71. 130 Eke1öf 1992, 71. 131 Antagligt, sannolikt, styrkt, uppenbart, Eke1öf 1992, 71; Ders.: Fs Baur, 352. Ders.: ZZP 75, 289. 120 121

13 Gräns

194

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien Beweisthema BT 100%

offenbar bewiesen wahrscheinlich vermutlich

0

vermutlich wahrscheinlich bewiesen offenbar

100% Gegenbeweisthema - BT

Wie konkretisiert sich dann das Beweismaß in Einzelflillen? Ekelöf ist der Meinung, daß, wenn das Beweismaß aus der in dem einzelnen Fall sich konkretisierenden Norm nicht herausgelesen werden kann, man den Grad von "bewiesen" (styrkt) als ein allgemeines Beweismaß in Zivilsachen anwenden sollte. 132 Welche Partei die Beweislast in dem einzelnen, nichtregulierten Fall tragen soll, soll seiner Meinung nach hauptsächlich je nach den vorhandenen Normzwecken entschieden werden. 133 Hier folgt Ekelöf den Grundideen seiner sog. "Sanktionstheorie".134 Was dies in der Praxis bedeutet, wird mit Hilfe eines berühmten Beispiels von ihm dargelegt: 135 Nehmen wir an, daß eine Person ihrem Bekannten 500,- DM geliehen hat. Der Schuldner hat das Darlehen schriftlich anerkannt und versprochen, es so bald wie möglich zu leisten. Mehrere Jahre später stirbt der Gläubiger, und die Nachfolger finden das Papier mit dem Bleistiftvermerk "unbeEkelöf 1992, 69 f. Ekelöf 1992, 87 ff. 134 Ekelöf SviT 1988, 23: ,,Der Gedanke ist ja, daß die Rechtsprechung als ein Sanktionsmechanismus innerhalb einer Gruppe von Menschen funktioniert." Ders.: 1992, 89 ff. Übers. v. F.-J. Sauer. 135 Ekelöf 1992, 55 f. Meine Übersetzung mit einigen Modifizierungen in Details. 132 133

E. Nonnativität des Beweismaßes in Schweden

195

zahlt". Sie verlangen von dem Schuldner die Leistung. Weil er nicht bezahlt, erheben die Erben eine Leistungsklage gegen ihn. Während des Vorverfahrens behauptet der Schuldner, daß er die Schuld schon vor ein paar Jahren getilgt hätte. Damals habe er auch eine Quittung erhalten, sie sei dann aber verlorengegangen. Die Erben berufen sich ihrerseits darauf, daß der verstorbene Gläubiger ihrem Wissen nach sehr sorgfältig mit seiner Buchführung war, sie haben aber keinen Verbuchungseintrag über die Leistung gefunden. Im Hauptverfahren wird der Schuldner unter Eid angehört, wobei er seinen früheren Bericht wiederholt. Zudem tritt ein Zeuge auf, der behauptet, er sei bei der Leistung dabei gewesen. Ekelöf meint, daß man durch eine Garantie rechtzeitiger Leistungen das Funktionieren der Darlehenseinrichtung schützen muß, weil die rechtliche Bedeutung der Darlehenseinrichtung das Kreditleben befördert. Schuldnern soll deswegen im allgemeinen Sanktionsdruck auferlegt werden. Eine von diesen Sanktionen ist die Möglichkeit des Gläubigers, die Schuld im Zwangvollstreckungsverfahren zu verlangen. Eine andere ist die Beweislast, die auf der Seite des Schuldners liegen soll. 136 Hätten dagegen die Gläubiger die Beweislast, würde die Effektivität der "Zahlungsmoral" im allgemeinen schlechter, weil eine Nichtbezahlung sehr schwer zu beweisen ist. Deswegen müssen Schuldner bereit sein, ihre Leistungen mit einer Quittung zu beweisen, obwohl dies in einigen Fällen zur Doppelleistung führte. Dieser Nebeneffekt ist nach Ekelöf jedoch im Lichte der Normzwecke zu akzeptieren. 137 Zudem hat auch die bessere Möglichkeit eines Schuldners, einen Beweis vorzulegen, Bedeutung; so fällt es Schuldnern im allgemeinen leichter, einen Beweis schon vorher zu sichern, weil sie regelmäßig eine Quittung für ihre Leistungen verlangen können. Schuldner dürfen deswegen "auf dem Altar des Kreditlebens geopfert werden"Y 8 Nach der Meinung Ekelöfs müßten die Beweislast- und die Beweismaßnormen schon vorher so festgelegt werden, daß das Erreichen der Normzwecke gewährleistet wird. Gleichzeitig sollen diese Normen das allgemeine Verhalten regeln.139 Dies führt zur Anwendung eines festen Beweismaßes, welches nach Ekelöf normalerweise ziemlich hoch sein muß, und Ekelöf 1992, 89. Ekelöf 1992, 89 f. 138 Ekelöf 1992, 89 ff. Ders.: 1942, 6 ff., 75 ff., 85, 102. Ders.: SvJT 1952, 228. Ders.: SvJT 1988, 26 ff. 139 Ekelöf SvJT 1988, 26: ,,Ein Sanktionsmechanismus kann nicht nur so angewendet werden, daß eine bestehende Ordnung gesichert wird, sondern auch als ein Steuerungsmechanismus, um die Gesellschaftsmoral in Richtung eines neuen Verhaltens zu dirigieren." Ders.: 1992, 91. Übers. v. F.-J. Sauer. 136

137

13*

196

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

zwar auf seiner Skala der Wert "bewiesen", wovon nur in exzeptionellen Situationen abgewichen werden darf. 140 Die Werte auf der Skala, die unterhalb von "bewiesen" liegen, können nur dann angewandt werden, wenn das Gesetz oder Gewohnheitsrecht es erlauben, manchmal aber auch, wenn es spezifische Ursachen dafür gibt. Als solche spezifischen Ursachen nennt er "falltypische" Beweisschwierigkeiten 141 . Es ist nach ihm so, daß das Beweismaterial in einigen Fällen typischerweise in der "Machtsphäre" irgendeiner Partei liegt. 142 Als Beispiel nennt er das schwedische Kaufgesetz § 27 P.l., nach dem der Verkäufer die Beweislast darüber trägt, daß er die Verspätung der Lieferung nicht zu vertreten hat. So lange er namentlich den Kaufgegenstand in seinem Besitz hat, ist es ihm leichter zu beweisen, warum derselbe verspätet geliefert wurde. 143 Ekelöf konstatiert ferner, daß es z. B. in Schadensersatzfallen sehr schwer sein kann, nicht nur den Umfang des Schadens, sondern auch die Kausalität und Fahrlässigkeit zu beweisen. 144 In solchen Fällen sind die Möglichkeiten, den Beweis schon vorher sicherzustellen gering, was bei der Festlegung des Beweismaßes beachtet werden muß, so daß es entweder auf "wahrscheinlich" oder "vermutlich" herabgesetzt werden kann. 145 Dies stünde seiner Meinung nach auch mit den Normzwecken in Einklang, weil sowohl die präventive als auch die reparative Funktion des Schadensersatzinstituts wegen eines zu hohen Beweismaßes zu Lasten des Bekla&ten ins Leere gehen würde. 146 In Strafsachen soll das Beweismaß nach Ekelöf auf den Wert "offenbar" gesetzt werden. 147 Damit meint er dasselbe wie das im anglo-amerikanischen Recht angewandte guilty beyond a reasonable doubt. 148 Die Höhe des Beweismaßes beruht auf dem strikten Rechtssicherheitsbedürfnis. Er ist aber zugleich davon überzeugt, daß wegen des hohen Beweismaßes eine Mehrzahl derjenigen, die aufgrund des unzureichenden Beweises freigesprochen werden, eigentlich schuldig sind. 149 Dies sieht er jedoch als erforderlich an, um in Wirklichkeit Unschuldige zu schützen. 150 Ekelöf 1992, 69. Ekelöf 1992, 91 ff. Als Beispiel nennt Ekelöf hier die Beweislast der Nachfolger über die Sinnesstörung der Testamentgeber nach ÄB 13:2. 142 Ekelöf 1992, 94 " ... die größere Beweisschwierigkeit der einen Partei beruht darauf, daß sich das Beweismaterial sozusagen in der ,Machtsphäre' der Gegenpartei befindet." Ekelöfs Kursivierung. Übers. v. F.-J. Sauer. 143 Ekelöf 1992, 94. 144 Ekelöf 1992, 107 ff. 145 Ekelöf 1992, 110 f. 146 Eke1öf 1992, 107 f. 147 Ekelöf 1992, 117. 148 Ekelöf 1992, 117. 140 141

E. Normativität des Beweismaßes in Schweden

197

Ekelöf meint jedoch auch, daß es möglich sei, ein niedrigeres Beweismaß bei leichteren Straftaten anzuwenden. 151 Dies werde vor allem wegen leichterer strafrechtlicher Folgen gebilligt. Eine fehlerhafte Verurteilung ist in solchen Fällen weniger schädlich. 152 Andererseits sollte man aber nach Ekelöf daran denken, daß z. B. eine Geldstrafe für einige Personen schädlicher sein kann als eine Freiheitsstrafe für andere, z. B. für Wiederholungstäter. 153 Er meint ferner, daß Verurteilungen mit weniger Stützbeweis akzeptiert werden könnten, wenigstens dann, wenn es um durch den Angeklagten anerkannte und leichtere Straftaten geht. 154 Darüber hinaus könne auch das strafrechtliche Beweismaß, das die subjektiven Tatbestandsmerkmale betrifft, aufgrund von Beweisschwierigkeiten reduziert werden. 155 Im ganzen genommen kann festgehalten werden, daß sowohl Olivecrona als auch Ekelöf Normzwecke durchaus für das Leitprinzip bei der zivilrechtlichen Rechtsfindung halten, das Beweismaß macht hier keine Ausnahme. Diese starke rechtspolitische Stellungnahme hat zur Folge, daß z. B. Ekelöf ein im allgemeinen elastisches Beweismaß nicht akzeptiert hat, obwohl er zugestanden hat, daß ein zu hohes und festes Beweismaß nicht immer zweckmäßig sei. Es scheint auch der Fall zu sein, daß Ekelöf eine materielle Richtigkeit der zivilrechtliehen Entscheidungen für weniger wichtig hält, aber wenn man daran denkt, daß er sich intensiv darum bemüht hat, die Beweiswertmetbade zu rationalisieren und zu verbessern, kann man nur konstatieren, daß die Wirklichkeit dem ersten Anschein notwendigerweise nicht ganz entspricht. Wie Olivecrona hat aber auch Ekelöf das Wahrheitsargument im Lichte der Normzwecke als weniger wichtig angesehen. Es ist ein bewußtes Abwägen zwischen diesen beiden Argumenten. Und man muß zugestehen, daß das zweckmäßige Funktionieren der Normen in der Tat oft von dem mit ihnen in Übereinstimmung fungierenden Beweismaß und den Beweislastnormen abhängig ist. Es ist dann eine Wertungsfrage, ob man sogar auf den Opferaltar steigen soll, weil es auch zahlreiche Fälle gibt, wo andere Argumente wichtiger als der Normzweck scheinen.

149 150 151 152

l53 154 155

Eke1öf 1992, Eke1öf1992, Eke1öf 1992, Eke1öf 1992, Ekelöf 1992, Ekelöf 1992, Ekelöf 1992,

117. 117. 117. 118. 118. 118 f. 119.

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

198

111. Bolding und Lindell: materielle Richtigkeit als das wichtigste Ziel Während Olivecrona und Ekelöf die Funktion der Beweislastnormen als mitwirkend bei der Durchführung der Zwecke der materiellen Normen betonen, haben Bolding und Lindeil diesen Ausgangspunkt kritisiert, weil diese Betrachtungsweise ihrer Meinung nach die materielle Richtigkeit der Entscheidungen außer acht läßt. 156 Die materielle Wahrheit soll nämlich nach beiden das wichtigste Ziel der gerichtlichen Entscheidungen sein. 157 Dies bedeutet ihnen zufolge, daß von zwei Alternativen (in Zivilsachen) diejenige gewählt werden soll, für die es mehr Beweise gibt, d. h. diejenige, für die die "überwiegende Wahrscheinlichkeit" spricht. Graphisch hat Bolding dies wie folgt dargestellt: 158 -BT

BT p (BT)=O

p (BT) =0.~ P (-BT) = 0,5

P (-BT) = 1

offenbar

wahrvermutlich scheinlieh

vermutlich

P(BT)= 1 P (-BT)= 0

wahrscheinlieh

offenbar

Der Beweislastpunkt liegt auf der Mitte der Skala. Dies hat Bolding damit begründet, daß die Risiken eines eventuell fehlerhaften Urteils seiner Meinung nach in der Regel die Parteien in Zivilsachen gleichermaßen belasten sollen. 159 Andererseits hat er die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, daß Richter nicht nur diesen Umstand berücksichtigen sollen. Andere bedeutsame Umstände sind z. B. Rechtssicherheit, Beweismöglichkeiten und allgemeine soziale Stellung der Parteien.160 Sie müssen im jeweiligen Fall 156 157 158 159

160

Bolding Bolding Bolding Bolding Bolding

1983, 1983, 1951, 1983, 1983,

17. Lindeil 1987, 284 ff. Lindeil 1998, 433 f. 17. Lindell 1987, z.B. 90, 286. 121, 126. Ders.: 1989, 85 ff. 17. Ders.: 1989, 118 ff. 23. Ders.: 1989, 106 ff.

E. Nonnativität des Beweismaßes in Schweden

199

gesondert in Betracht gezogen werden, was zur Modifizierung des Beweismaßes führen kann. 161 So ist dies nach Bolding vor allem in Strafsachen der Fall, in denen das Risiko einer eventuell fehlerhaften Verurteilung den Angeklagten deutlich mehr belastet. 162 Auch Bolding vertritt aber die Auffassung, daß das Beweismaß in Strafsachen wegen unterschiedlicher Straftatarten und strafrechtlicher Folgen variiert und variieren soll. 163 Der Vergleich der Risiken zeigt deutlich den Unterschied zwischen den Fallgruppen der Zivil- und Strafsachen. Bolding ist der Meinung, daß es begründet ist, noch weiter zu gehen und innerhalb dieser zwei Gruppen mehrere Vergleiche anzustellen. In Hinsicht z.B. auf die Beweisschwierigkeiten in Schadensersatzfallen, die auch Ekelöf nennt, kann nach ihm argumentiert werden, daß sie eine Sonderstellung innerhalb des zivilrechtliehen Gebiets haben. 164 Aber es gibt auch andere Fallgruppen, wo solche speziellen Prägungen zu finden sind. Gesetze, die wegen eines besonderen Schutzinteresses - z. B. Verbrauchergesetze und Umweltschutzgesetze - erlassen sind, geben Anlaß dazu, den Schutzzweck für das wichtigste Argument zu halten. 165 Aber nicht nur dies. Es sind gleichzeitig solche Fallgruppen, wo die Beweismöglichkeiten und die soziale Stellung der Parteien eine große Rolle spielen. 166 Das Überwiegensprinzip soll nach Bolding in Zivilsachen als Ausgangspunkt genommen werden. 167 Gibt es Umstände, die gegen die Anwendung des Überwiegensprinzips sprechen, kann das Beweismaß seiner Meinung nach auch in Streitfällen modifiziert werden. Bestimmend ist nach Bolding das Risiko eines eventuell fehlerhaften Urteils. 168 Er hat aber nicht dargelegt, wie die Risiken gegeneinander abgewogen werden können, d. h. wie das Beweismaß in solchen Fällen konkretisiert werden kann. Sowohl Bolding als auch Lindeil sind also der Meinung, daß, wenn wir nur nach der materiellen Richtigkeit streben, das Überwiegensprinzip angewendet werden sollte, wenn gleichzeitig die Beweislast bei keiner Partei liegt. 169 Damit hätten wir ihrer Meinung nach eine Garantie für eine mögBolding 1983, 23. Ders.: 1989, 106 ff. Bolding 1983, 23. Ders.: 1989, 106 ff. 163 Bolding 1983, 23. Ders.: 1989, 106 ff. Er hat jedoch nicht genannt, um wieviel das Beweismaß in Strafsachen seiner Meinung nach variiert bzw. variieren könne. 164 Bolding 1989, 108. 165 Bolding 1989, 108. 166 Bolding 1989, 108. 167 Bolding 1951, 121 ff. Ders.: 1983, 8 ff. Ders.: 1989, 126. 168 Bolding 1951, 94 ff. Ders.: 1983, 21 ff. Ders.: 1989, 100 ff. l69 Bolding 1983, 8 f. Ders.: 1989, 118 ff. Lindeil 1998, 505 f. Siehe auch Ekelöf 1992, 60, 103 f. 161 l62

200

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

liehst große Zahl materiell richtiger Entscheidungen. 170 Diese Behauptung ist mit Recht stark kritisiert worden. 171 Man muß sich nämlich daran erinnern, daß die Unsicherheit sowohl vom Umfang des Beweismaterials als auch von dessen Zuverlässigkeit abhängig ist. 172 Bolding hat betont, daß die Kritik hier nicht beachtet hat, daß diese Behauptung die sog. Thematheorie als Ausgangspunkt hat. 173 Untersuchen wir also noch einmal die Lage nach der Thematheorie. Als Beispiel nehmen wir den Fall einer Leistungsklage. Der Schuldner hat die Beweislast für eine (behauptete) Erfüllung der Leistung. Nehmen wir an, daß der Beweiswert seines Beweises 40% beträgt. Nach der thematheoretischen Betrachtungsweise gibt dieser Wert einen axiomatischen Beweiswert von 60% zugunsten des Gläubigers, und zwar ohne irgendeinen Beweis seitens des Gläubigers. Warum dies bedeuten würde, daß die Nichtleistung wahrscheinlicher ist als die Leistung, ist nicht einzusehen, vor allem, wenn dies unter Berücksichtigung des vorgelegten Beweises für die Leistung hervorgehoben wird. Ich bin dagegen der Meinung, daß der Schuldner den Fall verliert, weil der Beweiswert seines Beweises das Beweismaß nicht erreicht hat. Die Rechtsfolge wird natürlich die sein, daß der Leistungsklage stattgegeben wird, aber nicht wegen einer vermuteten materiellen Richtigkeit der Nichtleistungsbehauptung, sondern weit der Sehuldner die Beweislast trägt. Wie die Angelegenheit in der Wirklichkeit ist, dafür gibt es aber in einem solchen Fall keine Garantie. 60% ist nicht der Beweiswert für die Negation des Beweisthemas, sondern der Bereich unserer Unsicherheit (die Grauzone) hinsichtlich der Wirklichkeit. 174 IV. Konflikt zwischen den Zielen? Weil der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nur nach der materiell richtigen Entscheidungen strebt, meint auch Lindell, daß die materielle Richtigkeit, auch wenn es um das Beweismaß und die Beweislast geht, als das wichtigste Ziel berücksichtigt werden soll. 175 Er will aber die Beach170 Lindell 1987, 287. Ders.: 1998, 434. Bolding 1989, 127. So auch Eckhoff 1943, 146 f. 171 Siehe darüber z.B. Ekelöf 1992, 103 ff. 172 Siehe z.B. Ekelöf, 105 f. Jonkka, 95. Vgl. mit der Diskussion über das angloamerikanische ,,preponderance of the evidence"-Maß. In den USA wird dieses Maß in Streitsachen mit der Begründung angewandt, daß die materielle Richtigkeit der Urteile nicht das wichtigste Ziel des zivilrechtliehen Prozesses ist! 173 Bolding, z.B. 1989, 13 ff. 174 Vgl. Ekelöf 1992, 135 ff. Er spricht von einer "Unsicherheitsmargina1e". 175 Lindell 1987, 90 f., 286.

E. Nonnativität des Beweismaßes in Schweden

201

tung der Normzwecke in der Rechtsprechung nicht gänzlich ablehnen. Er gesteht zu, daß sie durch die Auflegung der Beweislast nach Zweckmäßigkeitsargumenten der einen oder anderen Partei berücksichtigt werden könnten. Das Problem liegt nach ihm aber darin, daß in solchen Fällen außer acht gelassen wird, ob die Teilung auch die materielle Richtigkeit der Entscheidung fördert oder nicht. Somit stellt er fest, daß diese Argumente in Konflikt miteinander stehen können. 176 Es versteht sich von selbst, daß die freie Beweiswürdigung bei rationaler und annehmbarer Tatsachenentscheidung nach möglichst objektiver Behandlung des Beweismaterials strebt. Das Ziel der Beweisführung soll zwar sein, daß man Kenntnis darüber bekommt, was tatsächlich geschehen ist, um aufgrund dessen durch Beweiswürdigung die Sachlage bestätigen zu können, um ferner die Rechtsfrage aufzulösen. Dagegen haben die Beweislastnormen und/oder das Beweismaß nichts mit der eigentlichen Beweiswürdigung zu tun. Die Beweiswürdigung beschäftigt sich nämlich (hauptsächlich) mit den empirischen Gründen des jeweiligen Sachverhalts: Was ist als wahr oder sicher bzw. als unwahr oder unsicher aufgrund des vorgebrachten Beweises zu betrachten? Deswegen darf die reine Beweiswürdigung z.B. mit irgendeiner Steuerung des Verhaltens oder mit zweckmäßiger Abwägung überhaupt nicht vermischt werden. Lindell scheint dies jedoch so zu halten. Das kommt auch in seiner Kritik hinsichtlich des Beispiels von Ekelöf zum Ausdruck. Er schreibt: 177 "Denken wir uns, daß Schuldner aus irgendeinem sonderbaren Grund in Fällen nicht geleisteter Zahlungen oftmals gewinnen würden, so würde dies auf Kosten der Zwecke des materiellen Rechts erfolgen, wobei die handlungsdirigierende Funktion ausgehöhlt würde. Diese Verschiebung der Steuerung könnte dann durch eine Schärfung der Beweisforderung verhindert werden."

Daß Schuldner ihre Leistungen im Gericht nachweisen können, kann auf keinerlei Weise bedeuten, daß man dadurch das Kreditleben irgendwie schädigte oder daß der Zweck des Gesetzes ins Leere träfe. Wenn nämlich die Schuldner genug Beweise für ihre Leistungen darlegen können, muß dies als Grund für eine im rechtlichen Sinne unbegründete Leistungsklage angesehen werden. Der Zweck des Gesetzes ist also die eine Sache; eine andere ist es jedoch, ob der von dem Schuldner erforderte Beweis gelungen ist. Was Ekelöf mit dem handlungsdirigierenden Effekt gemeint hat, ist die Verlegung der Beweislast auf den Schuldner, um die Darlehenseinrichtung im allgemeinen zu fördern. Daß die Schuldner dann ihre Beweislast erfüllen können, dagegen hat er wohl nichts, und er hat nicht behauptet, daß eine solche Situation irgendwie schädlich wäre. 176 177

Lindeil 1987, 286 f. Lindeil 1987, 287. Meine Übersetzung.

202

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

Man muß aber immer vor Augen haben, daß die handlungsdirigierende Funktion der Beweislastnormen eine durchaus empirische Frage ist; Beweislastnormen sind in einer Weise subsidiär. Ob man sie in einem Prozeß überhaupt braucht, ist (1) von den Beweisressourcen der Parteien und (2) ihrer tatsächlichen Anwendung abhängig. Eine Prinzipiendiskussion ohne empirische Evidenz führt oft zu unnötigen Streitigkeiten. Der Fall scheint mir auch hier so zu sein. Während der Grundsatz der freien Beweiswürdigung die Wahrheitsfindung und damit die materiell richtige Entscheidungen fördert, so Lindell, bewirkt die auf Zweckargumente gegründete Beweislast ein ganz anderes Ziel. 178 Man kann dem nur zustimmen. Wichtig ist aber anzumerken, daß sowohl die materielle Richtigkeit als auch die Normzwecke gleichzeitig als Argumente gelten. Sie können miteinander in Konflikt stehen, brauchen es aber nicht. Hierzu kommen noch die Argumente der Beweismöglichkeiten und die soziale Stellung der Parteien hinzu. Um sie zusammen und im Verhältnis zueinander abwägen zu können, wird eine Methode benötigt, die es ermöglicht, alle Argumente an sich und im Verhältnis zueinander zu behandeln. V. Der Zusammenhang zwischen der Nonnauslegung

und dem Beweismaß naeh Lindeil

Wie Bolding meint auch Lindeil nicht, daß das Überwiegensprinzip die einzige Alternative sei. Er gibt nämlich zu bedenken, daß die Normzwecke und z. B. die Beweismöglichkeiten es verursachen können, daß das Beweismaß erhöht werden muß. Er ist jedoch der Meinung, daß ein zu hohes und festes Beweismaß im Widerspruch zum Zweck der materiell richtigen Entscheidungen und dadurch zu dem Prinzip der freien Beweiswürdigung steht. Deswegen hat er versucht, den Konflikt mit Hilfe von Gesetzauslegungsmethoden bzw. -prinzipien 179 zu lösen. Er betrachtet die Rechtsanwendung wohl auch als ein Mittel, um die Ziele der Gesetze zu verwirklichen.180 Deswegen soll nach ihm auch die Beweiswürdigung und die Stellungnahme zu der Beweislast und dem Beweismaß ,,rechtsnorrniert" sein. Er meint, daß Regeln auf eine bestimmte Weise ausgelegt werden müssen, um die Verwirklichung ihrer Zwecke zu garantieren, wobei auch das Beweismaß und die Beweislast denselben Zwecken angepaßt werden müßten. 181 Lindell 1987, 283. Lindeil wendet beide Begriffe an, jedoch ohne irgendeinen Unterschied zwischen "Methode" und "Prinzip" zu erklären. Siehe Lindell 1987, 274 ff. 180 Lindell 1987, 286 ff. 181 Lindell 1987, 288 f. 178 179

E. Nonnativität des Beweismaßes in Schweden

203

Lindells eigene Theorie des Beweismaßes hängt mit seiner - eben auch "rechtsnormierten" - Beweiswürdigungstheorie zusammen. Er meint, daß die Beweiswürdigung nie zu einem exakten Wahrscheinlichkeitswert führt, sondern eine Wertung des kleinsten und höchsten möglichen Werts, den man dem vorgelegten Beweis geben will, sei. 182 Deswegen braucht weder das Beweismaß noch der Beweiswert ein exakter Punkt auf der Wahrscheinlichkeitsskala zu sein, sondern eine Zone - "bewiesen" z. B. zwischen 0,6-0,8. 183 Wie die verschiedenen Beweismaßzonen und ihre kleinsten bzw. höchsten Werte bestimmt werden, hat er jedoch nicht erläutert. Der letzte endgültige Beweiswert wird mit Hilfe von dem im jeweiligen Fall für die zugrundeliegende materielle Regel angewandten Gesetzauslegungsprinzip gewählt. 184 Seine These ist also, daß es einen bestimmten Zusammenhang zwischen der jeweiligen Auslegungsmethode der materiellen Rechtsregeln und dem Beweismaß geben sollte. Wird eine Regel objektiv ausgelegt, soll das Überwiegensprinzip angewandt werden. 185 Wird eine Regel restriktiv ausgelegt, hat die Partei, die ihre Anwendbarkeit behauptet, die Beweislast für die Tatbestandsmerkmale der Regel. Wird eine Regel extensiv ausgelegt, hat die Partei, die ihre Nichtanwendbarkeit behauptet, die Beweislast Will man restriktive Auslegungen anwenden, soll der Richter den kleinsten Beweiswert des Beweises und das höchste Beweismaß in der Zone wählen, ist dagegen die extensive Auslegung zwingend, ist die Situation entgegengesetzt; dann sollen der höchste Beweiswert und das kleinste Beweismaß gewählt werden. 186 VI. Kritik 1. Zivilsachen

Schauen wir zunächst darauf, was unter der Gesetzesauslegung im allgemeinen verstanden wird. Diese Frage wurde schon vorher im Kapitel I diskutiert. Dort wurde festgestellt, daß mit der Rechtsauslegung eine Wirksamkeit gemeint ist, die durch die Anwendung von vorher festgelegten Rechtsquellen und deren Anwendungsregeln und -prinzipien die Deutung eines Gesetzestextes herauszufinden versucht. Der Inhalt der jeweils geltenden Norm besteht dann vor dem Auslegungsresultat

182 183 184

185 186

Lindeil Lindell Lindeil Lindell Lindeil

1987, 282. 1987, 282. 1987, 291. 1987, 293. 1987, 289.

204

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

Der begriffliche Inhalt der extensiven und restriktiven Auslegung in der Arbeit von Lindeil folgt den Definitionen, die sehr oft in Lehrbüchern der allgemeinen Rechtslehre zu finden sind. 187 Sie besagen, daß nach der extensiven Auslegung die Regel in allen solchen Fällen angewandt werden soll, die überhaupt als in dem Bedeutungsgebiet der Regel liegend angesehen werden können. 188 Die restriktive Auslegung dagegen führt dazu, daß die Regel nur in solchen Fällen angewandt werden kann, die ohne Zweifel zu deren Bedeutungsgebiet, nämlich in dem sog. Kembereich, gehören. 189 Was Lindeil dagegen mit der objektiven Auslegung gemeint hat, ist etwas schwerer herauszufinden. Er spricht einerseits von einer objektiven Auslegung, bei der "die sprachliche Bedeutung" des Gesetztatbestandes maßgebend sei. 190 Andererseits spricht er von einer objektiven Methode, die bei Regeln von "eher neutralem Charakter" ihre Anwendung finden soll. 191 Er schreibt: "Daß die objektive Auslegung aktuell wird, kann darauf beruhen, daß die Regel eine solche ist, daß Nutzen oder Interesse einer Entscheidung in eine Richtung nicht größer, sondern gleich mit einer Entscheidung in einer anderen Richtung sind." 192

Er meint also, daß eine objektive Auslegung dann (und deshalb) angewandt werden kann, wenn es dem Gericht gleichgültig ist, zugunsten welcher Partei der Fall entschieden wird. Lapidar gesagt, gibt es in Schweden keine Klarheit oder Einigkeit über die Definitionen der Auslegungsbegriffe. Einige gehen davon aus, daß mit der objektiven Auslegungsmethode eine Auslegung gemeint ist, die sich mit einer semantisch-grammatischen, logischen und/oder systematischen Ana187 Lindell 1987, 273 ff. Strömholm 1981, 412. Peczenik 1988, 244 ff. Siehe auch Aamio 1989, 257 f. Larenz, 174 ff. Engisch 1971, 100 ff. 188 Strömholm 1981, 412. Larenz, 174. Aarnio 1989, 257. Peczenik 1988, 245 f. 189 Strömholm 1981, 412. Larenz, 174. Aarnio 1989, 257. Peczenik 1988, 245 f. 190 "Eine berechtigte Annahme ist, daß ein Gericht bei der objektiven Auslegung, bei welcher die sprachliche Deutung des Rekvisits ausschlaggebend oder von großer Bedeutung ist, es als gleichgültig ansehen könnte, in welche Richtung der Ausschlag führt." Lindell 1987, 289. Ubers. v. F.-J. Sauer. 191 "Wir haben ferner die subjektive und die objektive Methode ... ", Lindeil 1987, 270; und: "Es ist schwerer, einen Zusammenhang zwischen der Höhe der Beweisforderung und der Deutung bei der Anwendung einer objektiven Methode zu sehen. Anscheinend beruht das darauf, daß eine solche Deutung bei der Anwendung von Regeln mit ,mehr neutralem' Charakter erfolgt." Ders., 289. Übers. von F.-J. Sauer. 192 "Daß eine objektive Auslegung aktuell wird, kann darauf beruhen, daß die Regel eine solche ist, daß der Nutzen oder das Interesse in der einen Richtung nicht größer, sondern gleichwürdig mit der Entscheidung in der anderen Richtung sind." Lindeil 1987, 289. Meine Übers.

E. Nonnativität des Beweismaßes in Schweden

205

lyse des Normtextes beschäftigt. 193 Die objektive Auslegung Lindells, die sich mit "der sprachlichen Bedeutung" beschäftigt, sollte unter diese Beschreibung - oder wenigstens unter den semantisch-grammatischen und logischen Teil - fallen. Eine derartige Auslegung wird manchmal in der Doktrin auch als echte bzw. rein sprachliche oder semantische Auslegung bezeichnet. 194 Darüber hinaus spricht man von einer objektiv-teleologischen Auslegung, da die sog. ratio legis maßgebend ist. Kennzeichnend für sie ist, daß der Sinn und Zweck des Gesetzes an die Zeit der jeweiligen Auslegungssituation gebunden wird. Der Gesetzestext wird aufgrund der (jeweils) gegenwärtigen maßgebenden Zweckargumente interpretiert (im Gegensatz zu subjektiv-historischen Zwecken). 195 Z. B Olivecrona und Ekelöf vertreten eine derartige Auslegungsmethode. Lindells Theorie griindet sich in hohem Maße auf die Idee, daß Normen in der Regel nach bestimmten Auslegungsmethoden - objektiven, restriktiven oder extensiven - interpretiert werden müssen. Man kann sich jedoch fragen, inwieweit die hier diskutierten Begriffe irgendwelche Methoden an sich bezeichnen, wie Lindeil behauptet. Vielmehr werden sie als Auslegungsprinzipien verstanden. 196 Z. B. die restriktive oder extensive Auslegung besagen nichts darüber, welche Rechtsquelle oder Argumente bei ihnen anzuwenden sind und welches Gewicht den Argumenten zuzurechnen sei. Die Schwierigkeit in der Theorie Lindells ist nämlich, daß er die teleologische Auslegung für irgendwie unterschieden von der objektiven, extensiven und restriktiven Auslegung hält. Dies ist deshalb der Fall, weil er sie als verschiedene Methoden ansieht und davon ausgeht, daß der Unterschied zwischen den Methoden auf dem Umstand beruht, eine wie große Bedeutung das teleologische Argument nach ihnen hat. Er meint, daß die restriktive und extensive Auslegung anderen Zwecken dienen könnte als die teleologische.197 Wird eine Regel z. B. restriktiv ausgelegt, wäre es ihm zufolge merkwürdig, wenn dieselbe Regel gleichzeitig teleologisch ausgelegt würde. 198 Es ist aber vielmehr und häufig so, daß das teleologische Argument als Begründung der restriktiven oder extensiven Auslegung angewandt Strömholm 1981, 403 f. Lindbiom 1989, 441. Peczenik 1988, 239 ff. Strömholm 1981, 383 f. Klami, Förel., 63. Aarnio 1989, 256. 195 Strömholm ist der Auffassung, die Ausdrücke "objektiv" und "subjektiv" sind untauglich. Strömholm 1981, 403 f. Siehe auch Aarnio 1989, 229 f.; Ders. 1986, 125 f. Und Larenz, 153 ff. 196 So z.B. Aarnio 1989, 256 ff. Ders., 1986, 95 ff. Peczenik 1974, 76. Ders.: 1988, 233 (Argumentationsmethoden). Larenz, 140, (Auslegungskriterien und methodische Gesichtspunkte). Klami 1989, 63 ff. (Metanormen). 197 Lindeil 1987, 290. 198 Lindeil 1987, 290. 193

194

206

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

wird. Lindeil selbst hat an sich auch betont, daß eine teleologische Betrachtungsweise sich als eine rechtspolitische Stellungnahme ausgeben kann, ob eine Regel restriktiv, extensiv oder objektiv auszulegen sei. 199 Dies bedeutet aber, daß die Theorie Lindells sich auf einen Widerspruch gründet. Die Anwendung der Theorie von Lindell würde bedeuten, daß der Beweiswert, das Beweismaß und die Beweislast i. d. R. von der Normenauslegung abhängig wären. Man kann sich jedoch fragen, ob sie auf diese Weise Hand in Hand gehen oder aber nur gehen sollten. Warum soll die Glaubwürdigkeit des Beweises aufgrund der vom Richter ausgewählten Argumentationsweise in der Rechtsfrage bestimmt werden? Sollte das Beweismaß oder die Beweislast wirklich von der Vagheit oder Ungenauigkeit der Regel abhängen? Z. B. soll die Regel der rechtzeitigen Leistungspflicht das Kreditleben befördern. Eine Regel, die besagt, daß Darlehen in abgemachter Zeit zurückzuzahlen sind, braucht normalerweise keine weiteren Deutungserklärungen, höchstens kann von der rein semantischen Auslegung gesprochen werden. Das Zweckargument hat einen neutralen Charakter bei der Auslegung der Regel. Trotzdem kann mit guten Gründen behauptet werden, daß die Frage, wer die Beweislast über die rechtzeitige Erfüllung der Leistung tragen soll, Bedeutung für die zweckmäßige Funktion der Normen haben kann (obwohl dies an sich eine empirische Frage ist), wie z. B. Ekelöf betoat hat, während dies nach Lindeil bedeutete, daß das Überwiegensprinzip angewandt werden müßte. Es ist natürlich begründet, auch Beweismaß- und Beweislastfragen mit Berücksichtigung des Sinns und Zwecks einer Norm zu diskutieren. Z. B. Regeln des Verbraucherrechts haben ihren Sinn und Zweck in dem Schutzinteresse der Konsumenten. Solche Gesetze sind mit Berücksichtigung der im allgemeinen schwächeren Stellung der Konsumenten erlassen worden. Man kann jetzt dafür argumentieren, daß diese schwächere Stellung auch bei der Auslegung der Beweislast und des -maßes beachtet werden soll. Dies soll aber ganz ohne Hinsicht darauf diskutiert werden, ob es bezüglich des Inhalts der materiellen Rechtsregel in dem jeweils vorliegenden Fall irgendeine Auslegungsfrage überhaupt gibt oder nicht. Ein gutes Beispiel ist die Diskussion in den Vorarbeiten des schwedischen Umweltschadensgesetzes. Nach dem § 2, 3 mom. Miljöskadelagen soll der Beschädigte "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit den Ursachenzusammenhang zwischen einer störenden Wirksamkeit und dem Schaden beweisen". In den Vorarbeiten wurde dieses Beweismaß mit der Unterstützung verschiedener Argumente begründet: Zum ersten hatte die Rechtspraxis schon seit 1981 dieses Beweismaß angewandt. Zum zweiten jedoch wurde die Aufmerksamkeit auf die Beweisschwierigkeiten der Beschädigten 199

Lindeil 1987, 290.

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207

gerichtet. Es wurde dargelegt, daß das Beweismaß besonders dann seine Berechtigung hat, wenn der Ursachenzusammenhang verwickelt und schwer verständlich ist, weil sonst - falls man nämlich einen hohen Anspruch für den Beweis des Beschädigten verlangen würde - die Haftungsregeln des Umweltschadensgesetzes einen großen Teil ihrer praktischen Bedeutung verlieren würden. Man wollte eine tatsächliche Wirkung des Gesetzes garantieren und hat ausdrücklich zugegeben, daß ein zu hohes Beweismaß die effektive Verwirklichung der Normzwecke verhindern würde. 200 2. Strafsachen Lindell hebt hervor, daß die strafrechtlichen Normen wegen des Legalitätsprinzips immer restriktiv ausgelegt werden müssen. 201 In dubio mitius besagt aber freilich, daß in unklaren Fällen die Auslegungsalternative gewählt werden soll, die das mildeste Resultat für den Angeklagten bedeutet.202 Ferner werden sowohl die extensive Auslegung als auch die Analogie in malam partem in der Regel als verboten angesehen. 203 Dagegen ist die "Auslegung" - eigentlich Anwendung204 - nach dem normalen Sprachgebrauch erlaubt und vielmehr sogar in der Regel geboten, weil man annehmen muß, daß die Wörter auch im Gesetzestext in dem Sinne gebraucht werden, in dem sie gemeinhin verstanden werden. Insoweit stimmt die Behauptung Lindells also nicht. Der Staatsanwalt trägt die Beweislast in Strafsachen. Nach Lindells Theorie beruht das auf dem Umstand, daß der Staatsanwalt die Anwendung der restriktiv auszulegenden bzw. ausgelegten Regel beantragt. Aber solch eine Erklärung ist wegen des Grundsatzes in dubio pro reo durchaus überflüssig. Schon dieser Grundsatz garantiert, daß der Richter in Zweifelsffillen zugunsten des Angeklagten entscheiden soll und daß der Staatsanwalt die Beweislast - mit hohem Beweismaß - tragen soll. Lindeil vermittelt die Auffassung, daß er den Grad "offenbar" als geltendes Beweismaß in Strafsachen akzeptieren würde. 205 Wie der Begriff "offenbar" seiner Meinung nach zu verstehen ist, hat er nicht erklärt. Darüber hinaus verliert die Zonentheorie Lindells wegen des restriktiven SOU 1983:7, 164-173. Siehe auch Prop. 1985/86:83, 48 ff. "Der Grundsatz ist entstanden aus Gründen der Rechtssicherheit und fordert eine restriktive Deutung der Strafgebote." Lindell 1987, 288. Übers. v. F.-J. Sauer. 202 Vgl. z.B. Strömholm 1981, 406 ff. Peczenik 1988, 252. 203 Darüber gibt es verschiedene Auffassungen. Z. B. nach Strömholm geht es nicht um ein absolutes Analogieverbot Strömholm 1981, 413. 204 So z. B. Frändberg, Om tolkning och förstäelse, i Annales Academire Regire Scientiarum Upsaliensis, 2611985-1986, 18. 205 Lindell 1987, 358 f. 200

201

208

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

"Auslegungszwangs" ihren Sinn in Strafsachen, weil bei der restriktiven Auslegung nach der Theorie immer der höchste Wert in der Beweismaßzone ausgewählt werden muß. Es macht keinen Sinn, irgendeine Zone z. B. für das, was mit "offenbar" gemeint ist, zu bestimmen, weil wir immer den höchsten Wert der Zone wählen müssen. Die untere Grenze der Zone hat dann keine Bedeutung mehr. Im ganzen genommen scheint es durchaus unakzeptabel, die Frage des Beweismaßes und der Beweislast mit der Auslegungsproblematik der materiellen Normen zu verknüpfen. Wie hoch der Beweiswert und das Beweismaß sein sollten oder wer die Beweislast tragen sollte, wird nicht dadurch beantwortet, was und wie genau oder ungenau der Inhalt der jeweils angewandten Normen sei. Daß das teleologische Argument sowohl hinter der Gesetzesauslegung als auch hinter dem Beweismaß und der Beweislast steckt, zeigt nur, daß auch Beweismaß und -last Bedeutung für die effektive Verwirklichung der Ziele und Zwecke der Gesetze haben. VII. Die Eliminationssmethode von Diesen Christian Diesen von der Universität Stockholm hat eine von den oben genannten Theorien ganz verschiedene Betrachtung des strafrechtlichen Beweismaßes vorgeschlagen. Er geht von dem anglo-amerikanischen Begriff "ohne vernünftigen Zweifel" aus und meint, daß das Problem des Beweismaßes durch die Anwendung einer Eliminierungsmethode gelöst werden kann. Diese Methode ist ihm zufolge eine Beweiswürdigungsmethode und als solche keinerlei neue und auch in Schweden sowohl in der Theorie als auch in der Praxis schon lange diskutiert. 206 Die Methode versucht die der These des Staatsanwalts entgegenzusetzende alternative Hypothese zu falsifizieren. Das Gericht soll nach Diesen ex officio alternative Hypothesen aus dem Prozeßmaterial konkretisieren.Z07 Kann das Gericht irgendeine alternative Hypothese nicht falsifizieren, soll der Angeklagte freigesprochen werden. 208 Die Methode setzt voraus, daß der Staatsanwalt seine Erforschungspflicht genügend erfüllt hat. 209 Nach Diesen muß der Umfang dieser Erforschungspflicht im allgemeinen nach den Umständen eines jeden einzelnen Falles bestimmt werden.Z 10 Wenn die Straftat z. B. leicht ist und vom Angeklagten zugegeben wurde, brauchen die Ergebnisse der Untersuchung nicht so 206 207 208 209 210

Siehe oben Kap. V.G.I. und III., Diesen, 81 ff., 120 ff. Diesen, 120. Diesen, 120. Diesen, 102 ff., 120. Diesen, 103 ff.

E. Nonnativität des Beweismaßes in Schweden

209

sicher zu sein, als wenn die Straftat schwer und nicht anerkannt ist. Das Gericht soll zuerst die Frage diskutieren, ob der Staatsanwalt seine Erforschungspflicht genügend erfüllt hat. Ist dies nicht der Fall, soll der Angeklagte freigesprochen werden. Wenn der Staatsanwalt jedoch seiner Erforschungspflicht genüge getan hat, muß das Gericht alternative Hypothesen aufgrund der Erforschung darstellen und derer Haltbarkeit im Hinblick auf die Beweise überprüfen. Gibt es im Licht des Beweises die realistische Möglichkeit einer anderen Alternative als die des Staatsanwalts, muß der Angeklagte freigesprochen werden. Kann jede andere Alternative falsifiziert werden, muß der Angeklagte verurteilt werden. Diese Methode des Eliminierens ist eine ganz normale Beweiswürdigungsmethode, wie schon in der Kap. V.G.III. dargelegt wurde. Ihr Vorteil ist vor allem, daß sie versucht, die Arbeit des Staatsanwalts und der Polizei so zu beeinflussen, daß die Untersuchung von Straftaten objektiver wird. Die Methode löst jedoch nicht das Problem des normativen Beweismaßes. Man muß sich namentlich daran erinnern, daß die ausschlaggebende Frage der akzeptablen Risikomarge immer noch beantwortet werden muß. Alternative Erklärungen, die sich mit dem vorgebrachten Beweis stützen lassen, beeinflussen den Beweiswert des Hauptbeweises und erhöhen dadurch die Risikomöglichkeit Es ist auch so, daß im Lichte des vorgebrachten Beweises fast immer die Möglichkeit eines anderen, alternativen Ablaufs besteht. Etwa weil die Information aufgrund verschiedener Fehlerquellen entweder mangelhaft oder auf sonst eine Weise unsicher ist. Diesens Methode geht von der ganz unrealistische Auffassung aus, daß es möglich sei, verschiedene Alternativen durchaus auszuschalten, wenn gleichzeitig eine Stütze für andere Alternativen im Prozeßmaterial gefunden werden kann. Theoretisch bedeutet dies jedoch, daß die Grauzone um so größer wird, je mehr alternative Erklärungen an denselben Beweis verankert werden können, weil die alternativen Hypothesen den Beweiswert voneinander beeinflussen. 2 ll Die Anwendung der in dubio pro reo-Regel ist dann eine vollkommen richtige Schlußfolgerung. Die Methode versucht zu konkretisieren, wo vernünftige Zweifel bestehen. Sie führt aber zur Anwendung eines subjektiv-kognitiven Beweismaßes. Es ist auch schwer zu verstehen, wie diese Methode in verschiedenartigen Fällen angewandt werden kann. Wir brauchen nur an solche Fällen zu denken, wo der Beweis aus voneinander widersprechenden Zeugenaussagen besteht, wie bei den meisten Vergewaltigungsfallen. Hätte man hier die Eliminierungsmethode angewandt, wäre es ganz unmöglich, in einem solchen Fall überhaupt ein Urteil zu fallen.

211

Siehe oben Kap. V.G.III.

14 Gräns

210

6. Kap.: Über die gegenwärtigen Beweismaßkriterien

Vlß. Zusammenfassung Trotz der verschiedenen Lösungsversuche und Auffassungen gibt es in Schweden eine relative Einigkeit über die Bedeutsamkeil von folgenden Umständen bei der Festlegung der Beweislast und des Beweismaßes: 1. die materiell-rechtlichen (rechtspolitischen) Ziele der Normen 2. die materielle Richtigkeit der Entscheidungen, 3. die Möglichkeit der Parteien, den Beweis und Beweismöglichkeiten im Verfahren schon vorher sicherzustellen und 4. die eventuelle soziale Ungleichheit der Parteien. Wie genau diese Umstände das Beweismaß beeinflussen bzw. beeinflussen sollten, ist dagegen strittig. Es ist jedoch anerkannt worden, daß sie zu einem elastischen, wenn auch abgestuften Beweismaß führen. Klar ist auch, daß die Höhe des Beweismaßes dadurch beeinflußt wird, welches von diesen Argumenten als das bedeutungsvollste angesetzt wird. Es fehlt aber eine systematisierte Behandlung dieser Argumente, sei es, daß sie alle oder mehrere von ihnen in demselben Fall als gleichermaßen bedeutungsvoll angesehen werden können. Eine Methode für eine solche Analyse, ihre Gründe und ihre Anwendung werden in Kapitel VII diskutiert.

Kapitel VII

Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß A. Über einige entscheidungstheoretische Grundbegriffe In der Entscheidungstheorie wird ein Unterschied zwischen einer normativen und einer deskriptiven Entscheidungstheorie gemacht. Die normative Entscheidungstheorie versucht, konsistente und konsequente Rationalitätskriterien für das Verhalten eines Entscheidenden zu formulieren; die deskriptive beschreibt das tatsächliche Entscheidungsverhalten. In dieser Arbeit geht es vor allem um die Rationalisierung der Entscheidungsarbeit eines Gerichts, und deswegen soll also von der normativen Theorie ausgegangen werden. Dabei gehen wir zum ersten davon aus, daß der Entscheidende, der Richter, ein rational Handelnder sein sollte, weil die Möglichkeit von materiell fehlerhaften Urteile in den gerichtlichen Zusammenhängen stets vorhanden ist. Solche Urteile haben immer bestimmte negative Konsequenzen, was der Richter in Betracht ziehen soll. In der Entscheidungstheorie wird ein Unterschied zwischen drei Begriffen gemacht: 1. Entscheidung unter Sicherheit 2. Entscheidung unter Risiko und 3. Entscheidung unter Unsicherheit. 1 Daß man entscheidungstheoretische Modelle bei der Feststellung des Beweismaßes und der Beweislast anwendet, beruht auf dem Gedanken, daß eine gerichtliche Entscheidung analog zu beliebigen anderen Beschlüssen ist, die unter Unsicherheit getroffen werden. 2 Eine Entscheidung unter Sicherheit bedeutet, daß sowohl die Umstände (in der Regel ein einziger) als auch die Handlungen nach der Beurteilung des Handelnden mit Bestimmtheit zu gewissen Resultaten führen. 3 Eine Entscheidungssituation unter Risiko liegt dann vor, wenn jede der in Frage kommenden Handlungen zu verschiedenen möglichen Resultaten führen kann. 4 Der Handelnde kann zwar nicht die relevanten Konsequenzen seines Handeins genau voraussehen, aber er ist in der Lage, den möglichen I 2 3 4 14*

Bourmistrov-Jüttner, 238 ff. Vgl. Bourmistrov-Jüttner, 59. Bourmistrov-Jüttner, 239. Bourmistrov-Jüttner, 239.

212

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Umständen und den Folgen seiner Handlungen bestimmte subjektive Wahrscheinlichkeiten zuzuordnen. 5 Wenn der Handelnde die Verwirklichungswahrscheinlichkeit den möglichen Umständen nicht zuschreiben kann, liegt eine Entscheidungssituation unter Unsicherheit vor. Die möglichen Umstände, die Handlungen wie auch die Konsequenzen sind ihm aber bekannt.6 Die erste Situation liegt in der gerichtlichen Entscheidungswirksamkeit dann vor, wenn das Gericht mit Gewißheit weiß, wie die Sachlage sich verhält, und wenn eine ganz routinemäßige Subsumierung möglich ist. Eine Entscheidungssituation unter Risiko liegt vor, wenn die Verwirklichungswahrscheinlichkeiten der verschiedenen Urteilsalternativen bewertet werden können. Dazu werden ihre Utilitäten ( U) bewertet, und diese werden mit der Wahrscheinlichkeit (P) der Verwirklichung dieser Alternativen multipliziert. Als Resultat bekommt man den Erwartungswert der Alternative: die Formel ist einfach: E = P x U. Die entscheidungstheoretische Methode von Bourmistrov-Jüttner, die sie für den Strafprozeß entwickelt hat, geht von dieser Grundannahme aus. Nach ihr soll der Beweiswert des Beweisthemas als der Wahrscheinlichkeitswert für die Realisierung des Tatbestandes angenommen werden. 7 Darüber hiaaus werde& die Utilitäten. d. h. die positiven Billwirk\miea der Alternativen, bewertet. Diese Methode ist eine normative Entscheidungstheorie für die Wahl zwischen vier verschiedenen Beschlußalternativen im Hinblick auf den Beweiswert der Alternativen (unter axiomatischer Geltung des Bayes-Theorems) und ihrer Utilitäten mit Berücksichtigung der Konsequenzen (die Höhe und/oder Art der Strafe), die ihrerseits im Lichte z. B. der präventiven oder resozialisierenden Effekte oder Gerechtigkeitsargumente zu bewerten sind. 8 Entgegen der Auffassung, daß es im Gericht um eine Entscheidungssituation unter Unsicherheit ginge, schreibt sie folgendes: "Gegen die Annahme, daß die Rechtspraxis eine solche Entscheidungssituation unter Unsicherheit sein könnte, spricht der Umstand, daß der Richter dann konsequenterweise seine Entscheidung ohne jeglichen Bezug auf den Sachverhalt fallen müßte (denn dieser wäre dann nach Voraussetzung völlig unbestimmt, d. h. nicht einmal subjektiv-probabilistisch bestimmbar). "9

s Bourrnistrov-Jüttner, 239. 6 7

8

9

Bourmistrov-Jüttner, Bourmistrov-Jüttner, Bourmistrov-Jüttner, Bourmistrov-Jüttner,

240. 292 f. 283 ff. 240.

A. Über einige entscheidungstheoretische Grundbegriffe

213

Ihre Theorie geht aber grundsätzlich davon aus, daß von dem Beweismaßinstrument ganz abgesehen werden kann: Nach ihrer Meinung ist das Beweismaß eigentlich eine Frage der subjektiven Wahrscheinlichkeit. Die überwiegende (bzw. die kumulativ überwiegende) Wahrscheinlichkeit ist nach Bourmistrov-Jüttner grundsätzlich die beste Alternative für die Bestimmung der Entscheidung. 10 Ihre Theorie ist natürlich in der Hinsicht formell richtig, daß das Berechnen der Erwartungswerte tatsächlich irgendeine Verwirklichungswahrscheinlichkeit voraussetzt. Ihre Theorie gründet sich jedoch auf drei, aus meiner Sicht gravierenden Fehlern: 1.: sie scheint die entscheidungstheoretischen Aspekte des Beweismaßinstruments nicht richtig einzusehen. 2.: sie geht davon aus, daß auch materiell fehlerhafte Entscheidungen Utilitäten, d. h. positive Einwirkungen, haben könnten. 3.: sie überläßt es dem Richter zu bewerten, was die Utilität der eventuell materiell richtigen Entscheidungen ist. Und 4.: sie geht davon aus, daß die Verwirklichungswahrscheinlichkeit auch der eventuell fehlerhaften Entscheidungen P(FE) irgendwie bewertet werden könne, und zwar axiomatisch, anband der Beweiswerte, die die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Entscheidung (E) angeben: P(FE) = 1 - P(E). Das Grundproblem ist aber hier die Übersetzung oder Umdeutung der Beweisunsicherheit zum Entscheidungsrisiko. Bourmistrov-Jüttner gibt zu, daß wir die Wahrscheinlichkeit eventuell fehlerhafter Entscheidungen nicht wissen können. Das ist richtig. Ihrer Ansicht nach sind aber die Wahrscheinlichkeit einer fehlerhaften Entscheidung und die akzeptable Fehlmarge praktisch genommen identische Dinge. Dies hängt damit zusammen, daß sie sowohl die Beweiswerte als auch die entscheidungstheoretischen Formeln auf das Axiom P(BT) = 1 - P("'"' BT) baut. Was die Beweiswerte betrifft, gibt es jedoch einen klaren Unterschied zwischen dem Fall, wo der Hauptbeweis zwar schwach ist, aber kein Gegenbeweis für die Unschuld des Angeklagten vorliegt, und dem Fall, wo der Hauptbeweis ebenso schwach ist, aber der Gegenbeweis aus z. B. einem schwachen Alibi besteht. Wenn der Gegenbeweis einen Beweiswert P( ,. . _, BT) = 0 hat, ist natürlich die Wahrscheinlichkeit eines fehlerhaften Freispruchs größer als in dem Fall, wo der Beweiswert des Gegenbeweises z. B. 20% ist. Ein Grundproblem ist hier die Nichtberücksichtigung der Grauzone, d. h. die völlige Umdeutung der Unsicherheit zum Risiko. Dies ist bei der Berechnung des akzeptablen Fehlerrisikos vollkommen richtig, nicht aber bei den Beweiswerten, weil die Beweissituationen sehr unterschiedlich sind, was die Stärke des Haupt- bzw. Gegenbeweises betrifft. Ein anderes Problem ist, daß der Grad der akzeptablen Unsicherheit, umgedeutet als Fehlrisiko, nicht dasselbe ist wie die statistische Häufigkeit 10

Bourrnistrov-Jüttner, 343 ff.

214

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

in der Entscheidungsmenge; dies hängt außer vom Beweismaß auch von der tatsächlichen Verteilung der Beweiswerte innerhalb der Sachmenge ab. In dieser Arbeit sind wir an dem Beweismaß als Stellungnahme zum Risiko und den Konsequenzen eines eventuell materiell fehlerhaften Urteils interessiert. Es wird ferner davon ausgegangen, daß der Utilitätswert eines materiell richtigen Urteils immer 1 (bzw. 100 auf der Skala von 0 bis 100) ist und ferner, daß fehlerhafte Entscheidungen nur Disutilitäten haben können. Zu beachten ist auch, daß das normative Beweismaß nichts mit der subjektiv-probabilistischen Beweiswürdigung oder der subjektiven Seite des Beweismaßes zu tun hat. Die richterliche Überzeugung über die Wahrheit ist das eine (d. h. das subjektive Beweismaß), ein anderes ist es aber, daß der Richter auch mit Hilfe eines normativ-objektiven Beweismaßes kontrollieren soll, ob der Beweiswert des Beweises ausreichend ist. Der endgültige Beweiswert wird also mit dem Wert des Beweismaßes verglichen. Schließlich wird davon ausgegangen, daß es unmöglich ist, irgend etwas über die Verwirklichungswahrscheinlichkeit einer eventuell materiell fehlerhaften Entscheidung zu sagen. Eine solche Möglichkeit ist aber stets vorhanden, und deshalb müssen ihre denkbaren Konsequenzen beachtet werden. Es geht deshalb grundsätzlich und trotz eventueller Umdeutung stets um die Entscheidungssituation unter Unsicherheit.

B. Das Modell von John Kaplan Der amerikanische Rechtswissenschaftler John Kaplan hat schon 1968 ein entscheidungstheoretisches Modell für den gerichtlichen Entscheidungsprozeß entwickelt. Sein Modell geht von der Feststellung von Disutilitäten (Kosten der eventuell fehlerhaften Tatsachenfeststellungen) aus. Er hat anstatt der Utilitäten die Disutilitäten ganz einfach aufgrund der convenience gewählt. Der Grund für diese Wahl liegt aber nicht darin, daß er etwas Prinzipielles gegen die Utilitätswertung gehabt hätte.11 Es ist zugleich aber begründet, wie schon mehrmals gesagt worden ist, in diesem Zusammenhang gerade über Disutilitäten anstau über Utilitäten zu sprechen. Beim Beweismaß geht es um eine Stellungnahme hinsichtlich der negativen Konsequenzen eines materiell fehlerhaften Urteils (weil sie nie positiv sein können). Der Gesetzgeber hat dagegen über die Utilitäten von materiell richtigen Urteile zu entscheiden. Es ist freilich die Aufgabe der Gerichte materiell richtige Urteile festzustellen, in welchem Fall die Utilität den Wert 1 (bzw. den höchsten Wert auf der Skala) bekommen muß.

11

Kaplan, 1071.

B. Das Modell von John Kaplan

215

Das Modell von Kaplan geht von zwei Begriffsbestimmungen aus 12: Di

=

Dg

=

Disutilität einer fehlerhaften Verurteilung (disutility of convicting an innocent man) und Disutilität eines fehlerhaften Freispruchs (disutility of acquitting a guilty man).

Um den Angeklagten verurteilen zu können, muß man zunächst einmal die erwartete Disutilität eines fehlerhaften Freispruchs höher bewerten als die erwartete Disutilität einer fehlerhaften Verurteilung, Pl(Dg) > n(Di). Dies bedeutet, daß man eine gewisse Minimalwahrscheinlichkeit P, mit welcher der Angeklagte schuldig sein muß, verlangen soll, und ferner, daß der Erwartungswert P(Dg) > 1- P(Di) istY Es muß auch beachtet werden, daß, obwohl Kaplan das Modell für den Strafprozeß entwickelt hat (vgl. Begriffsbestimmungen), es auch für eine zivilprozessuale Beweismaßherleitung angewendet werden kann. 14 Die Minimalwahrscheinlichkeit P kann dann weiter - unter der Annahme, daß Dg + Di > 0 ist - mit Hilfe folgender Formel hergeleitet werden. 15 1 - 1 +Dg/Di

P>----

Wenn die Disutilitäten in beiden Richtungen gleich sind, d.h. Dg/Di = 1, bekommen wir den Wert von wenigstens 112 für P. Dies ist nach Kaplan die Situation, wann immer das Beweismaß preponderance of the evidence ist. Das etwas höhere clear and convincing-Beweismaß erhält seine Berechtigung dadurch, daß ein fehlerhaftes, der Klage stattgebendes Urteil größere Disutilität hat als ein fehlerhaftes, die Klage abweisendes Urteil; wird z. B. einer denaturalization-Klage wegen einer materiell fehlerhaften Tatsachenprämisse stattgegeben, verliert der Beklagte seine amerikanische Staatsbürgerschaft, was für ihn natürlich schädlicher ist, als wenn der Beklagte seine Nationalität trotz fehlerhafter Abweisung der Klage behalten kann. 16 Wenn es um Strafsachen geht, ist erstens zu bemerken, daß die Alternativen keineswegs nur Freispruch oder Verurteilung sein müssen; sie können auch Verurteilung 1/Verurteilung2 (z. B. second-degree murder/manslaughter) sein. In Strafsachen ist die Disutilität einer fehlerhaften Verurteilung beträchtlich größer als die Disutilität eines fehlerhaften Freispruchs: deshalb

12 13

14 15 16

Kaplan, Kaplan, Kaplan, Kaplan, Kaplan,

1071. 1071 f. 1072. 1071 f. 1072.

216

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

muß das Beweismaß auch hoch sein, und zwar guilty beyond a reasonable doubt. 17 Nach Kaplan müßten aber die Disutilitäten in Strafsachen ganz individuell unter Berücksichtigung des Verbrechens und der Person des Angeklagten bewertet werden. 18 Seiner Meinung nach sollten Umstände wie z. B. ein guter Ruf des Angeklagten oder seine Position in der Gesellschaft berücksichtigt werden. 19 Ein wichtiges Argument ist seiner Meinung nach auch, daß einige Straftaten eine größere Rückfall-Quote haben als andere, was höhere Kosten für einen fehlerhaften Freispruch (Dg) bedeutet. Auch die Höhe der Strafe muß beachtet werden.Z0 Daß der gute Ruf des Angeklagten berücksichtigt werden muß, gründet sich auf dem im anglo-amerikanischen Recht unter bestimmten Voraussetzungen erlaubten Charakterbeweis21 , was in Deutschland oder Schweden jedoch grundsätzlich nur bei der Strafzumessung in Betracht gezogen werden darf. Man könnte nun, um den Charakterbeweis zu stützen, dahingehend argumentieren, daß eine fehlerhafte Verurteilung für einen Politiker auf der individuellen Ebene viel schädlicher sei als z. B. für einen Wiederholungstäter, aber dies ist im Hinblick auf das Gleichbehandlungsprinzips eine sehr zweifelhafte Argumentation. Im ganzen kann gesagt werden, daß die Auslegung der Beschlußutilität von Kaplan zu einfach und auf alle Falle viel zu individualistisch ansgelegt ist. 22

C. Die Kritik von Tribe und Bourmistrov-Jüttner: Analyse und Gegenkritik Das Modell von Kaplan ist vor allem von Tribe und Bourmistrov-Jüttner kritisiert worden. Tribe hat eingewendet, daß das Modell die Konsequenzen fehlerhaft spezifiziert. Er meint, daß die Designation Dg nicht den Unterschied zwischen der Utilität des Freispruchs eines Schuldigen U(Ag) und der Utilität der Verurteilung eines Schuldigen U( Cg) und die Designation Di nicht den Unterschied zwischen der Utilität des Freispruchs eines Unschuldigen U(Ai) und der Utilität der Verurteilung des Unschuldigen U (Ci) beachtet. 23 Seiner Meinung nach muß die Formel komplexer sein.Z4 Kaplan, 1073 ff. Kaplan, 1073 f.: " ... is that in any rational system the utilities (or disutilities) that determine the necessary probability of guilt will vary with the crime for which the defendant is being tried, and indeed with the particular defendant." 19 Kaplan, 1074. 2 Kaplan, 1074 f. 21 Siehe z.B. Emanuel 1988, 91 ff. 22 Vgl. auch die Kritik von Bourmistrov-Jüttner, 257. Milanich, 90 ff. 17 18

°

C. Die Kritik von Tribe und Bourmistrov-Jüttner: Analyse und Gegenkritik 217

Tribe behauptet zudem, daß die Werte von U(Cg), U(Ag), U(Ai) und U( Ci) - auf jeden Fall deren Differenz - teilweise von P abhängig seien.Z5 Er hat deswegen ein anderes, seiner Meinung nach klareres Modell vorgelegt:26 p:?: 1 + U(Cg)- U(Ag)/U(Ai)- U(Ci)

Die verschiedenen Utilitätswerte hat er folgendermaßen bewertet: 27 U(Cg) = (utility of convicting the guilty) U(Ai) = 2/3 (utility of aquitting the innocent) U(Ag) = 1/2 (utility of aquitting the guilty) U( Ci) = 0 (utility of convicting the innocent)

Die erwartete Utilität einer Verurteilung kommt zum Vorschein als EU(C) = P x U(Cg) + (1- P) x U(Ci), was zurück zu P führt, weil U(Cg) = 1 und U(Ci) = ü.Z8 P steht nach Tribe für die Wahrscheinlichkeit, daß der Angeklagte schuldig ist, d. h. für den Beweiswert des Schuldbeweises. (1 - P) ist dann die Wahrscheinlichkeit, daß er unschuldig ist.Z9 Tribe führt weiter aus, daß, wenn der Richter die Alternative "Freispruch" wählen will, es eine Wahrscheinlichkeit P gibt, mit der er die Alternative Ag erhalten wird, und eine Wahrscheinlichkeit (1 - P), so daß er Ai erhalten wird. Die erwartete Utilität für einen Freispruch ist dann folgende30: EU(A)

=Px

U(Ag) + (1 - P) x U(Ai).

23 Tribe, 1383 und dort in der Fn. 168. Auch Bourmistrov-Jüttner ist der Meinung, daß vier Beschlußalternativen beachtet werden müßten und daß es um ihre Utilitäten geht. Bourmistrov-Jüttner, 254 ff. 24 Tribe, 1383. 25 Tribe, 1383. 26 Tribe, 1383. Tribe legt dieses jedoch nicht als sein eigenes, alternatives Modell vor, weil er im allgemeinen gegen die Anwendung von solchen Modellen bei dem gerichtlichen Entscheidungsprozeß ist. Vielmehr verwendet er das Modell als Kritik gegen Kaplans Modell. 27 Tribe, 1379 ff. Die Ziffern, die er hier anwendet, sind jedoch klar zu "seinem Besten" und scheinen nicht ganz durchdacht zu sein. Man kann sich z. B. fragen, wieso es eine Utilität von 1/2 beim Freispruch eines Schuldigen gibt. Vgl. Milanich, 90 Fn. 14. 28 Tribe, 1380. 29 Tribe setzt die Geltung des Bayes-Theorems voraus. 30 Tribe, 1380.

218

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Wenn die Utilitätswerte eingestellt werden, erhalten wir: P X 1/2 + (1 - P) x 2/3

= (4- P)/6? 1

Dann müßte der Angeklagte verurteilt werden, wann immer der Erwartungswert der Verurteilung größer als der Erwartungswert des Freispruchs ist, also wann immer P > 417. Tribe ist in diesem Fall der Meinung, daß der Wert zu niedrig für eine Verurteilung ist. 32 Wie schon früher diskutiert wurde, muß man davon ausgehen, daß der Gesetzgeber (und nicht nur dieser) richtige Urteile von der Rechtsanwendung erwartet. Was für Konsequenzen richtige Urteile mit sich bringen, also welche Utilität bzw. Disutilität sie haben, ist nicht von der Judikative zu bewerten, denn dies hat der Gesetzgeber bereits getan. Deswegen kann auch gesagt werden, daß materiell richtige Urteile in beiden Richtungen immer denselben Nutzwert von 1 haben. Nach Tribe ist die Utilität einer richtigen Verurteilung größer als der Nutzwert eines ebenfalls richtigen Freispruchs. Es ist jedoch schwer zu begreifen, weshalb dies aus der Sichte eines Gerichts so sein muß. Aber wenn diese Utilitäten gleich groß (1) sind, kann man in der Entscheidungssituation von beiden absehen. DaS ein Schuldiger venuteilt wird, iu Gefiin8nis mu8, seine Familie in finanzielle Schwierigkeiten versetzt wird usw. sind natürlich Disutilitäten an sich, aber solche Konsequenzen haben keine Bedeutung, wenn man von der materiellen Richtigkeit der Tatsachenprämisse ausgeht. Die Aufgabe des Gerichts ist es, materiell richtige Entscheidungen zu treffen. Ob die externen Umstände bei der Strafzumessung dann beachtet werden, ist eine ganz andere Angelegenheit.

Ähnlich ist es auch in Zivilsachen. Hat jemand einen Schuldvertrag abgeschlossen, ist er auch zur Leistung des Schuldeos verpflichtet, trotzdem er deswegen in Konkurs gehen kann. Aber wenn der Gesetzgeber, wie in manchen Ländern, der Meinung ist, daß eine solche Verpflichtung in einigen Situationen zu streng ist, kann er versuchen, solche "Disutilitäten" der richtigen Entscheidungen (etwa bei der sog. Schuldensanierung) zu vermindern.

Tribe, 1380. "Consider the evidence and then vote to convict if and only if you think that the probability of the defendant's guilt exceeds 417.' &Block;Now, we might have qualms about the resulting procedural rule - because one regards a treshold probability of 417 as much too low, or because one objects in principle to the willing taking any measurable risk of convicting an innocent man, or because one regards unacceptable the cost of openly announcing that willingness- ...", Tribe, 1380 f. 31

32

C. Die Kritik von Tribe und Bourmistrov-Jüttner: Analyse und Gegenkritik 219

Das Modell von Tribe setzt zudem voraus, daß man auch den materiell fehlerhaften Urteile bestimmte Utilitäten zurechnen müßte. Es ist sehr schwer einzusehen, wie auf diese Art die Folgen von fehlerhaften Urteile eine positive Utilität haben könnten, und noch mehr ist es unverständlich, wie sie dann bewertet werden könnten. Wenn wir die Angelegenheit jedoch aus einer anderen Perspektive betrachten, wird deutlich, daß die negativen Konsequenzen und ihre Bedeutung für das einzelne Individuum konkreter bewertet werden können, wenn und falls der Richter die Möglichkeit eines materiell fehlerhaften Urteils bedenkt. Wenn wir diesen Gedanken als Ausgangspunkt nehmen und die Werte von U(Ai) und U( Cg) beide 1 sind, sieht das Modell von Tribe folgendermaßen aus: p

1

> -:------.-----:-~---;-~

- 1 + 1- U(Ag)/1- U(Ci)

Nach der Verteilung von Grofman und mit Hilfe der sog. regret-Matrix ist ferner bewiesen worden, daß: Disutilität(Ag) = 1 - Utilität(Ag), und Disutilität( Ci) = l - Utilität( Ci)_33

Hiernach sieht also die Formel Tribes wie die von Kaplan aus. Wir kommen also zu demselben Resultat (Disutilitäten der Ag bzw. Ci), weil und wenn Gerichte die Utilitätswerte der richtigen Entscheidungen überhaupt nicht zu berücksichtigen brauchen: Man kann also ohne weiteres von den Disutilitäten fehlerhafter Urteile ausgehen?4 Zum zweiten ist es sehr schwer herauszufinden, wie Tribe die Wahrscheinlichkeit P der Alternative Ag bewerten kann. Es muß zwar beachtet werden, daß P, d. h. der Beweiswert der Schuld, nicht bedeutet, daß die Wahrscheinlichkeit des fehlerhaften Freispruchs P ist. Es ist jedoch unmöglich zu sagen, was die Wahrscheinlichkeit eines fehlerhaften Urteils ist oder sein könnte. Das Modell von Tribe - oder wenigstens seine Formel - besagt nach ihm selbst, daß der Angeklagte verurteilt werden muß, wann immer der Erwartungswert der Verurteilung, also der Beweiswert des Haupt- oder Schuldbeweises x, ihre Utilität, den Erwartungswert des Freispruchs überschreitet. Die Formel für den Erwartungswert des Freispruchs und die daraus nach Tribe folgende Schlußfolgerung, nach welcher der Angeklagte verurteilt 33 Grofman, Bemard: Mathematical Models of Juror and Jury Decision-Making, in: Bruce Dennis Sales (ed.), The Trial Process 30&-351, hier 322 ff. 34 So auch Motsch, 336.

220

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

werden darf, wann immer P den Wert 4/7 überschreitet, ist in diesem Sinne mangelhaft. Tribe hat nicht beachtet, daß P hier zwei verschiedene Dinge bedeutet, nämlich einmal den Beweiswert für die Schuld (P 1)und einmal die Wahrscheinlichkeit des fehlerhaften Freispruchs (P2 ), wonach folgt, daß P 1 > (4- P 2 )/6. Man kann also nicht davon ausgehen, daß die Wahrscheinlichkeit eines fehlerhaften Freispruchs mit dem Beweiswert des Haupt- oder Schuldbeweises gleich ist. Die Formel wird deswegen untauglich, falls und weil der Wert P 2 nicht bekannt ist. Tribe behauptet falschlicherweise, daß die Utilitäten oder wenigstens ihre Unterschiede linear von P, d. h. von der Wahrscheinlichkeit der Täterschaft/ Nicht-Täterschaft, abhängig sind.35 Wenn es um das Modell von Kaplan geht, so sind die Alternativen "Verurteilung eines Unschuldigen" und "Freispruch eines Schuldigen", obwohl auch das Kaplan-Modell in diesem Sinne mangelhaft ist.36 Es ist jedoch schwer zu verstehen, wie solchermaßen die Disutilitären dieser Alternativen von der Wahrscheinlichkeit für die Täterschaft/Nicht-Täterschaft (dem Beweiswert der verschiedenen Beweisthemen) abhängig sein würden. Auch Bourmistrov-Jüttner behauptet, die Untauglichkeit des KaplanModelles bewiesen zu haben. Zum einen ist auch sie der Meinung, daß es um vier Entscheidungsalternativen gehen muß, ganz unabhängig davon, ob man von Utflitllten oder Disutilitltten spricht, was also zu der Schlußfolgerung führt, daß materiell richtige Entscheidungen negative Konsequenzen/ Disutilitäten und materiell fehlerhafte Entscheidungen positive KonsequenzenfUtilitäten hätten. 37 Die Unhaltbarkeit dieser Behauptung haben wir schon bewiesen. Sie vergleicht ferner das Kaplan-Modell mit einem "vollständigen entscheidungstheoretischen Modell" und behauptet, daß das erste zu Widersprüchen mit dem anderen führt und daß nach dem Kaplan-Modell auch dann die Verurteilung ableitbar sei, wenn die Wahrscheinlichkeit, d. h. der Beweiswert für die Täterschaft, kleiner ist als die Wahrscheinlichkeit für die Nicht-Täterschaft, was natürlich rechtswidrig wäre. Sie will dies anband eines Beispiels beweisen. Zuerst legt sie folgende Disutilitäten vor38 :

35 "At a minimun, therefore, because the utilities of the various consequences would themselves be functions of the apparent probability of the defendant's guilt, ... ". Tribe, 1382 f. 36 Siehe hierüber mehr im Abschnitt F. 37 Bourmistrov-Jüttner, 253 ff. 38 Bourmistrov-Jüttner, 254 f. Die niedrigste Disutilität ist 1, die höchste 3.

C. Die Kritik von Tribe und Bounnistrov-Jüttner: Analyse und Gegenkritik 221 Disutilität der Verurteilung eines Schuldigen Disutilität des Freispruchs eines Unschuldigen Disutilität des Freispruchs eines Schuldigen Disutilität der Verurteilung eines Unschuldigen

Dvs = 1 Dfu = 1 Dfs = 2.2 Dvu = 3

Außerdem sind folgende Wahrscheinlichkeitswerte angenornrnen39 : P( U1 ) P(U2 )

= 0.6, der Beweiswert für die Schuld

= 0.4,

der Beweiswert fur die Unschuld

Die Formel für den subjektiven Erwartungswert nach dem "vollständigen entscheidungstheoretischen Modell" der Verurteilung lautet: E(V)

= Dvs x P(U1 ) +Dvu x P(U2 )

und die Formel für den subjektiven Erwartungswert des Freispruchs: E(F)

= Dfs x P(Ui) + Dfu x P(U2)

Wir erhalten dann die folgenden Werte: E(V) = 1 X 0.6 + 3 x 0.4 = 1.8 E(F) = 2.2

X

0.6 + 1 x 0.4 = 1.72.

Somit muß der Freispruch gewählt werden, weil dieser zu einem geringeren Erwartungswert der Kosten führt. Sie legt dann vor, daß das Kaplan-Modell folgendermaßen funktioniert: Di(l - P)

= Dvu(1 - P) = 3 x

0.4 = 1.2

DgP = DfsP = 2.2 x 0.6 = 1.32

also ist DgP > Di(l - P). Dann müsse die Verurteilung gewählt werden. Ob es nach Bourrnistrov-Jüttner gerade hier einen Widerspruch gibt, erklärt sie nicht eindeutig, aber sie ist offensichtlich der Meinung, daß dieses Beispiel die Untauglichkeit des Kaplan-Modells zeigt. Diese Frage wollen wir im folgenden untersuchen.

39 UI ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Angeklagte der Täter ist und daß der Täter verurteilt wird. U2 dagegen die Wahrscheinlichkeit, daß der Angeklagte kein Täter ist und der Angeklagte nicht verurteilt wird. Siehe Bounnistrov-Jüttner, 244 ff., 255 und 257.

222

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Ein vollständiges entscheidungstheoretisches Modell geht davon aus, daß der Erwartungswert E einer Entscheidung von deren Nutzen und Wahrscheinlichkeit abhängig ist, d. h. E = P x U. Dann ist z. B. der Erwartungswert einer Verurteilung von der Wahrscheinlichkeit und dem Nutzen der (materiell richtigen) Verurteilung abhängig. Wollen wir aber den Erwartungswert für eine fehlerhafte Verurteilung bewerten, dann müßte sie von der Wahrscheinlichkeit der fehlerhaften Verurteilung und ihrem Nutzen abhängig sein. Diese Frage und die Unmöglichkeit, solche Wahrscheinlichkeiten zu bewerten, wurde schon oben diskutiert. Man muß hier zugestehen, daß das Kaplan-Modell, so wie er selbst dessen Voraussetzungen darlegt, in diesem Sinne mangelhaft ist. Er geht zwar von der Annahme aus, daß die Unwahrscheinlichkeit der Schuld (1 Beweiswert des Hauptbeweises) mit der Disutilität der fehlerhaften Verurteilung und die Unwahrscheinlichkeit der Unschuld (Beweiswert des Hauptbeweises) mit der Disutilität des fehlerhaften Freispruchs multipliziert werden könnte bzw. müßte. Die Wahrscheinlichkeit der tatsächlich fehlerhaften Verurteilung bzw. des Freispruchs ist aber grundsätzlich etwas anderes als das akzeptable Risiko einer fehlerhaften Entscheidung. Das Modell von Kaplan geht davon aus, daß man der Maximierung der Erwanungswene nachstrebt, d. h. in diesem Fall der Minimierung der Disutilität. Das Modell setzt voraus, daß die Verteilung der Unsicherheit zwischen den Alternativen "schuldig/nicht schuldig" eine wahrscheinlichkeitstheoretische Frage ist, so daß die Beweisunsicherheit als doppeltes Risiko verstanden wird: tertium non datur. Dabei berücksichtigt das Modell aber nicht die Tatsache, daß die Zurechnung der Schwäche des Hauptbeweises zugunsten der Alternative "nicht schuldig" in Strafsachen eine durchaus juristisch-normative Lösung ist und keinesfalls eine entscheidungstheoretische Notwendigkeit. Wie schon gezeigt, gibt es - trotz gleicher Stärke des Hauptbeweises erhebliche Unterschiede, was die Konkretisierung des Gegenbeweises betrifft. Wenn kein Gegenbeweis vorliegt, ist die Wahrscheinlichkeit der Unschuld beim Hauptbeweis mit 80% Beweiswert höchstens 20% (und wohl erheblich weniger), während man beim Gegenbeweis mit einem Beweiswert von 20% sagen kann, daß die Wahrscheinlichkeit der Unschuld eben diese 20% sind. Entscheidungstheoretisch ist es sehr wichtig einzusehen, daß das Prinzip in dubio pro reo auch eine strategische Lösung ist. Wenn die Mängel des Hauptbeweises als Wahrscheinlichkeit der Unschuld verstanden werden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen konkreten Gegenbeweis handelt oder nicht, bedeutet dies, daß man zugibt, daß eventuell keine Minimierung der beiderseitigen eventuellen Disutilität angestrebt wird, son-

D. Deutsche und amerikanische entscheidungstheoretisch geprägte Modelle 223

dem vielmehr nur eine Minimierung der Disutilität einer eventuell fehlerhaften Verurteilung. Dies ist besonders in Situationen gegeben, wo die Wahrscheinlichkeit der Unschuld wegen fehlender Gegenbeweise ~ 0 ist, es wird aber aufgrundder Mängel im Hauptbeweis auf z.B. ~ 20% bewertet. Dies ist auch als eine Antwort auf die Kritik zu verstehen, die Bourrnistrov-Jüttner gegen das Modell von Kaplan gerichtet hat. Nehmen wir aber jetzt die Möglichkeit an, daß wir irgendwelche Wahrscheinlichkeilen für die materielle Fehlerhaftigkeit bewerten können. Wir nehmen den Wert 0.6 als die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein Schuldiger freigesprochen wird (P) und den Wert 0.4 als die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein Unschuldiger verurteilt wird (1 - P). Die Disutilitäten sind dieselben wie oben. Das Resultat im Beispiel nach BourmistrovJüttner wird dann ganz rational: Zum einen ist die Wahrscheinlichkeit des fehlerhaften Freispruchs größer als die der fehlerhaften Verurteilung. Zum anderen ist aber die Disutilität der ersten Alternative kleiner. Der Erwartungswert des fehlerhaften Freispruchs wird jedoch größer als der der fehlerhaften Verurteilung. Also müsse ein eventuell fehlerhafter Freispruch gewählt werden. Um Kaplan recht zu geben, soll hier jedoch bemerkt werden, daß sein Modell eigentlich nicht darauf abzielt, irgendwelche Erwartungswerte auf diese Weise zu bewerten und auszurechnen, sondern das Beweismaß mit Berücksichtigung der Disutilitären von eventuell fehlerhaften Entscheidungen zu bewerten. Es ist ein Modell für die Herleitung eines Beweismaßes. Bourmistrov-Jüttner sieht es aber als ein Modell für die Herleitung von Entscheidungen aufgrund der Beweiswerte für das BT und dessen Negation und ihre Disutilitäten, wo es eigentlich gar keinen Platz mehr für irgendein Beweismaß gibt.

D. Einige deutsche und amerikaDisehe entscheidungstheoretisch geprägte Modelle I. Anwendung des Kaplan-Modelles nach Maassen und Motsch Maassen hat in seiner Arbeit "Beweismaßprobleme im Schadensersatzprozeß" (1975) eine starke Stellungnahme für die Anwendung der Entscheidungstheorie bei der Feststellung des Beweismaßes vorgeführt. Er hat das Modell von Kaplan als Ausgangspunkt genommen, um die Schlußfolgerung zu rechtfertigen, daß the preponderance of the evidence geltendes Recht auch im deutschen Schadensersatzprozeß sein sollte.

224

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Das Regelbeweismaß, das er als "an die Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" definiert, führe seine Meinung nach "zu einer erheblichen Bevorzugung des Gegners der beweisbelasteten Partei".40 Es ist nach ihm insbesondere ungerecht, die Interessen der nicht beweisbelasteten Partei automatisch viel höher zu bewerten und zu schützen als die der beweisbelasteten Partei.41 Es wäre dagegen normaler, daß man das Überwiegensprinzip anwendete, weil es in Schadensersatzprozessen um den Gewinn und Verlust der gleichen Summen geht. Dies verlange seiner Meinung nach auch die grundsätzliche Gleichstellung privater Parteien im Zivilprozeß.42 Bestimmend bei der Wertung der Disutilitäten sind nach ihm die individuellen und sozialen Kosten. 43 Auch Matsch hat die Anwendung des Überwiegensprinzips als ein allgemeines Beweismaß in Schadensersatzprozessen in Deutschland mit derselben Begründung wie Maassen verlangt. 44 Weder er noch Maassen - und wie es mir scheint auch nicht Kaplan45 -haben die Formel als ein heuristisches Modell für ein elastisches Beweismaß angenommen, sondern als eine theoretische Erklärung und Begründung eines festen Beweismaßes von 51 % in Schadensersatzprozessen oder in Zivilsachen im allgemeinen.46 Das Problematische dieser Ansätze besteht darin, daß man von vornherein die Möglichkeiten der Parteien, die Risiken eines fehlerhaften Urteils Maassen 54 f. Maassen 54 f. 42 Maassen 54 f. 43 Maassen 54 f. 44 Matsch, 334 ff. Er hat eine andere Formel zusammen mit Ruh abgeleitet: e = r/1 + r, wo r = G1/G2(G1 =Gewichtung eines Fehlers erster Art; G2 =Gewichtung eines Fehlers zweiter Art), e = Entscheidungsgrenze. Wenn W die für einen konkreten Fall ermittelte, die vorhandene Information restlos wiedergebende Gesamtwahrscheinlichkeit ist; die dem Richter vorgegebene Entscheidungsanweisung soll dann lauten: wenn W < e, so Freispruch und wenn W > e, so Schuldspruch. Wenn G1 = G2, d.h., wenn r = 1, beträgt e = 1/2 = 0, 5. Motsch, 335 ff. Das Modell stimmt mit der Formel von Maassen überein. Es gibt natürlich auch andere Rechtswissenschaftler, die das Überwiegensprinzip stützen, wie Kegel, und einigermaßen auch Musielak, aber sie haben die Idee aus Skandinavien übernommen und begründen dasselbe demzufolge nicht mit Hilfe der Entscheidungstheorie. 45 Kaplan betont, daß sein Modell hauptsächlich im Licht des Strafprozesses zu sehen ist. Er schreibt: "This Article will attempt to app1y some of the basic tools of decision theory to the factfinding process, particularly that of the criminal trial." Kaplan, 1065. 46 Kaye hat mit Hilfe von mathematischen Berechnungen gezeigt, daß die Anwendung des preponderance-Standards (unter gewissen Voraussetzungen) zu einer sozioökonomisch optimalen Verteilung der Kosten im Schadensersatzrecht führt. Auf die komplizierten Details seiner Beweisführung kann hier aber nicht näher eingegangen werden. Kaye 1982, 492 ff. 40 41

D. Deutsche und amerikanische entscheidungstheoretisch geprägte Modelle 225

zu tragen, gleich stark wertet. Diesem Denken liegt das Gleichbehandlungsprinzip zugrunde. Man muß sich jedoch daran erinnern, daß es hier um die Risiken eines fehlerhaften Urteils geht, nicht um die allgemeine Stellung der Menschen vor dem Recht und den Gerichten. Das Gleichbehandlungsprinzip ist eine Selbstverständlichkeit, wenn es um die Rechtsanwendung im allgemeinen geht; das Recht ist gleich für alle, ganz ohne Hinsicht auf das Individuum oder die soziale Stellung der Parteien. Eine Wertung der Tragfähigkeit der tatsächlichen Konsequenzen einer eventuell fehlerhaften Entscheidung ist aber hier mit dem Gleichbehandlungsprinzip nicht unbedingt direkt vergleichbar. Ein fehlerhaftes Urteil ist schon an sich Unrecht; deren Risiken und negative Konsequenzen müssen deshalb minimiert werden. II. Das ideale Beweismaß nach Bender Bender kritisiert stark das von der h. L. in Deutschland vorausgesetzte feste zivilrechtliche Beweismaß.47 Er meint, daß die Praxis sich daran auch nicht gehalten hat. 48 Er ist ferner mit der Beweismaßpräzisierung der h.L. unzufrieden. Er schlägt deshalb vor, daß man bei der Präzisierung zwei Parameter als maßgebend annehmen sollte49: 1. Die individuellen und sozialen Kosten, die die fehlerhafte Feststellung/

Nicht-Feststellung einer Tatsache zur Folge haben würde.

2. Die Wahrscheinlichkeit, daß das gefundene Beweismaß die Kosten der fehlerhaften Tatsachenfeststellung minimiert. Unter den Kosten versteht Bender sowohl die materiellen als auch die sozialen Kosten der Parteien und der Gesellschaft. Er schreibt50: "Ist nun aber das Beweismaß für den Vertragsschluß oder für den entstandenen Schaden zu hoch angesetzt, dann kommt es (jehlerhafterweise) oftmals nicht zur Schadensersatzpflicht Ist andererseits das Beweismaß zu niedrig angesetzt, könnten oftmals Personen mit Schadensersatzprozessen (eifolgreich) überzogen werden, die entweder gar keinen Vertrag abgeschlossen oder aber keinen Schaden verursachen haben. Das könnte dazu führen, daß viele aussichtsreiche (und der Gesellschaft und den Einzelnen nützliche) Vertragsanbahnungen vorsichtshalber unterbleiben oder daß manche Menschen zu ruinösen Ersatzleistungen verurteilt werden, obwohl sie gar keinen Schaden angerichtet haben."51 47 Bender R., 247 ff. Vgl. Bender, Rolf/Nack, Annin, Grundzüge einer allgemeinen Beweislehre, Deutsche Richterzeitung 1980, 122. 48 Bender R., 254. 49 Bender R., 251 f. Er betont auch, daß diese Parameter schon in der Gegenwart Einfluß auf das von den Richtern verwendete Beweismaß haben. 50 Bender R., 252. 51 Kursivierungen im Original.

15 Gräns

226

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Er will dennoch der Beweismöglichkeiten der Parteien im Verfahren und der Möglichkeit, den Beweis schon vorher zu sichern, Bedeutung zumessen und konstatiert, daß dies auch in dem § 287 ZPO zum Ausdruck gekommen ist. 52 Er kommt zu der Schlußfolgerung, daß ein ideales Beweismaß als Resultat des Zusammenfalls zweier Grenzmaße gefunden werden müsse. Diese Grenzmaße bezeichnen die Situation, wenn: "die Wahrscheinlichkeit, daß möglichst wenig fehlerhafte Tatsachenfeststellungen, ... , entstehen, am größten ist: 1. das Beweismaß so hoch festgesetzt ist, daß die beweisbelastete Partei es möglichst nicht erbringen kann, wenn der relevante Tatbestand nicht vorliegt, und andererseits, wenn, 2. das Beweismaß nur so hoch ist, daß die beweisbelastete Partei eine reelle Chance hat, das Beweismaß zu erbringen, wenn der Tatbestand tatsächlich vorliegt." 53

Er vertritt die Ansicht, daß in dem Fall, in dem diese beiden Grenzmaße zusammenfallen, das ideale Beweismaß gefunden worden ist. 54 Bender gibt ferner zu, daß die Schwierigkeit in der Tat darin liegt, wo das ideale Beweismaß dann sein müsse und wie es festgestellt werden könnte. Er ist jedoch der Meinung, daß das Beweismaß im allgemeinen niedriger sein könne, obwohl es verursachen würde, daß man mehr fehlerhafte, der Klage stattgebende Urteile als Konsequenz daraus erhielte.55 Die Schlußfolgerung Benders ist jedoch, daß ein festes Beweismaß nicht realistisch ist. Er plädiert dafür, daß man bei der Präzisierung Zahlen anwenden soll.56 Dies ist insofern möglich, weil er von dem subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff ausgeht. 57 Er hat folgende abgestufte Beweismaße vorgeschlagen58 : 1. Die Überzeugung von der Wahrheit 2. Die hohe Wahrscheinlichkeit 3. Die überwiegende Wahrscheinlichkeit 4. Die geringe Wahrscheinlichkeit

> 99,8% > 75% > 50% > 25%

Bender meint, daß man besondere Fallgruppen bestimmen sollte, für die das einzelne Beweismaß adäquat erscheint.59 52

53 54

55 56 57 58

59

Bender R., 253. Bender R., 254. Bender R., 254. Bender R., 254 f. Bender R., 248 ff. Bender R., 248 ff. Bender R., 258. Bender R., 258 f.

D. Deutsche und amerikanische entscheidungstheoretisch geprägte Modelle 227

Man kann sagen, daß die Ansätze Benders eine entscheidungstheoretische Annäherungsweise bedeuten, wenn auch ohne einen eigentlichen theoretischen Apparat. ID. Herleitung des strafrechtlichen Beweismaßes nach Marshall & Wise Marshall und Wise haben in ihrer Untersuchung über die Frage, inwiefern Individuen sich in der Praxis entsprechend dem Bayes-Entscheidungsmodell verhalten, ein Modell für die Maximierung der Utilitäten der verschiedenen Entscheidungsalternativen vorgeschlagen.60 Das Modell geht von folgender Nützlichkeitsmatrix aus: 61 Tatsächlicher Zustand des Angeklagten Entscheidung

Schuld

Unschuld

schuldig

"Treffer" (ST)

"falscher Alarm" (SFA)

unschuldig

"Fehlschluß" (UF)

"korrekte Ablehnung" (UKA)

Marshall und Wise ordnen dann drei feste Nützlichkeilen (Utilitäten) zu U(ST) U(UKA) U(UF)

0 0 - 1

Es folgt, daß nur U(SFA) variieren kann, d.h. U(SFA) = -x. P ist die Wahrscheinlichkeit der Schuld des Angeklagten. Um die Entscheidung "schuldig" abzuleiten, muß gelten: 62 {U(ST)

X

p

+ U(SFA) X

(1 - P)}

~

{U(UF)

X

p

+ U(UKA)

X

(1- P)}

Marshall/Wise, 257-269. Die englischen Bezeichnungen sind: hit (Treffer), false alarm (falsche Alarm), miss (Fehlschluß) und correct rejection (korrekte Ablehnung). Marshall/Wise, 257269. Vgl. Bourmistrov-Jüttner, 157. 62 Marshall/Wise, 257-269. 60 61

15*

228

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Mit Betrachtung der Utlitätswerte, gilt für P: 1 1 P> =--- 1- 1/U(SFA) 1 + 1/ X

Marshall und Wise mischen aber hier die Wahrscheinlichkeit der Schuld und Unschuld mit der Wahrscheinlichkeit eines fehlerhaften Freispruchs und einer fehlerhaften Verurteilung, die nicht auf diese Weise miteinander übereinstimmen. Die Utilitäten der richtigen Entscheidungen sind nach ihnen immer 0, die der fehlerhaften Entscheidungen aber immer < 0. Dies ist an sich richtig. Warum aber die Utilität des fehlerhaften Freispruchs immer -1 sein soll bzw. die Utilität der richtigen Entscheidungen immer 0, haben sie aber nicht erklärt. Sie haben auch nicht erläutert, worauf die Wertung der Utilitäten basieren sollte. Sie lassen jedoch die Utilität der fehlerhaften Verurteilung variieren, was zu einem elastischen Beweismaß führt. 63 IV. Die entscheidungstheoretische Begründung eines festen strafrechtlichen Beweismaßes nach Cullison

Auch das Modell von Cullison basiert auf dem Kaplansehen Modell. Cullison hat mit Hilfe der Aussage von lt is better to let 1,000 guilty men go free than to convict a single innocent man ein festes, strafrechtliches Beweismaß ausgeführt. 64 Er schreibt: "From the Standpoint of the Model of Rules, a jury can make two kinds of mistakes: (I) it can convict a defendant who is actually innocent (not guilty) under the rules, or (II) it can acquit a defendant who is actually guilty. Probability theorists would call these Type I and II errors, respectively. There is a definite connection between treshold probability (degree of belief) which should rationally trigger a conviction and the relative desirabilities (presumably negative quantities) of these two types of error. The connection is implicit in a statement like this: ,It is better to Iet 1,000 guilty men go free than to convict a single innocent man'. In other words, it is more desirable to make 1,000 Type II errors than it is to make a single I Type error, or D(I) < 1,000 x D(II), where D(I) represents the desirability of a Type I error and D(l/) the desirability of a Type II error."

Die Kaplan-Formel gibt dann das folgende Resultat: 1

1

P ?. 1+D(II)/ D(/) = 1+1 / 1,000 ::::: 99 •9

Man kann sich jedoch fragen, ob die Utilitätsswertung von Cullison zu einem in der Praxis anwendbaren Beweismaß führt; wer kann mit diesem 63 64

Vgl. auch mit der Kritik von Bourrnistrov-Jüttner, 261. Cullison 1977, 225-246.

E. Entwicklung des Kaplan-Modells

229

mit absoluter Sicherheit einen Unterschied machen, und wie realistisch ist es anzunehmen, daß es überhaupt erreicht wird? Zudem entspricht es nicht den nach den empirischen Untersuchungen tatsächlich angewandten Beweismaßen.65

E. Entwicklung des Kaplan-Modells In Anlehnung an das finnisch-schwedische Projekt Recht und Wahrheit ist das Kaplan-Modell noch weiterer entwickelt worden. Die Ausgangspunkte des zum ersten Mal im Jahr 1989 in der "Rechtstheorie" publizierten Modells sind folgende: Die Wertung der Beweiswerte verschiedener Beweisthemen soll unter Berücksichtigung der sog. Beweiswertmethode und ihren Voraussetzungen, die im Kapitel V diskutiert sind, geschehen. Der Bewertende soll seinen subjektiven Überzeugungsgrad numerisch auszudrücken versuchen, um die Rationalität und die Haltbarkeit der subjektiven Beweiswürdigung zu kontrollieren. Der Grad der subjektiven Überzeugung braucht nicht notwendigerweise kognitiv zu sein. Dies beruht darauf, daß die Beweisthemen nicht immer die Voraussetzung der Reduzierbarkeit erfüllen können. Der Beweiswert soll mit dem Beweismaßwert, der auf eine möglichst rationale Weise hergeleitet worden ist, verglichen werden. Eine subjektive Überzeugung hinsichtlich der absoluten Wahrheit ist nicht erforderlich, weil sie sich theoretisch nicht begründen läßt. Die bestehende Unsicherheit soll also ernstgenommen werden, weil sie in den allermeisten Fällen zwingend vorhanden ist. Man muß hier den funktionellen Zusammenhang zwischen dem Beweismaß und der Beweislast berücksichtigen. Das Beweismaß ist elastisch, und die Beweislastregel folgt dessen Richtung und Höhe. Das Beweismaß ist immer der Minimalwert, mit dem das Beweisthema bewiesen werden muß, um als Tatsachenprämisse gelten zu können. Bevor wir zu der Herleitung des Beweismaßes im Spezifischen übergehen, muß einiges zu den Beweislastregeln erläutert werden. I. Über die Beweislast: deutsche Diskussion

Es gehört zu den rechtsstaatliehen Prinzipien, daß der Staatsanwalt die relevanten Tatsachen der von ihm beanspruchten Normen beweisen muß. Während ferner der strafprozeßrechtliche in dubio pro reo-Grundsatz in dem Fall allgemeine Geltung findet, daß der Beweiswert des Schuldbewei65

Siehe Kap. VI.C.II. Vgl. mit der Kritik von Bourmistrov-Jüttner, 263 ff.

230

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

ses das Beweismaß nicht erreicht hat, ist der begrifflich-systematische Hintergrund der zivilrechtliehen Beweislastregeln sowohl in Schweden, Deutschland als auch in den USA unklar geblieben. In Deutschland vertritt die h. M. die Theorie, daß die Regeln der Beweislast nichts mit dem Beweismaß zu tun haben. 66 Man unterscheidet außerdem zwischen vier verschiedenen Beweislastbegriffen: nämlich subjektive, konkrete, objektive und abstrakte Beweislast 67 Die subjektive Beweislast reguliert, welche Partei ein bestimmtes Tatbestandmerkmal (in abstracto) beweisen muß; die konkrete Beweislast besagt, welche Partei in einer konkreten Prozeßsituation zu einem Beweisantritt aufgerufen ist. Die objektive Beweislast beantwortet die Frage, zu wessen Nachteil sich die Nichterweisbarkeit einer Tatsachenbehauptung auswirkt, und die abstrakte Beweislast besagt, wer - unabhängig von einem konkreten Prozeß - die objektive Beweislast trägt bzw. tragen soll. 68 Die objektive Beweislast findet Anwendung, wenn der Hauptbeweis gescheitert ist, d. h. wenn er nicht zur richterlichen Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der zu beweisenden Tatsache geführt hat. 69 Ist der erforderliche Überzeugungsgrad nicht erreicht, sieht der Richter vom ganzen Beweisstoff ab, in welchem Fall also die abstrakte/objektive Beweislastregel als die normative Begründung der Tatsachenentscheidung angewendet wird. Speziell Maassen hat die Lehre der vier verschiedenen Begriffe der Beweislast kritisiert, weil sie seiner Meinung nach häufig zu einer ganz verwirrenden Begriffsanwendung geführt hat. 70 Dies ist im Hinblick auf den Inhalt der Begriffe nicht überraschend. Maassen vertritt mit Recht die Meinung, daß die objektive Beweislast in dem hier gemeinten Sinn nichts mit dem Sinn des Wortes Beweislast zu tun hat, weil sie von jeder Beweistätigkeit der Parteien absieht.71 Die Beweislast müsse nach ihm zwar immer eine subjektive Last sein, bestimmte Tatbestandmerkmale mit einem bestimmten, im Beweismaß fest66 Maassen, 11 f. Greger, 15. Vgl. auch Romme, 153 ff. Vgl. aber Leipold 1985, 8. Baumgärtel, Rdnr. 58 ff. 67 Siehe z.B. Prütting, 6 ff. Musielak 1975, 19 ff. Baumgärtel, Rdnr. 9, 14, 21. 68 Siehe z. B. Prütting, 6 ff. Auch Rosenberg 11 ff. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 25 ff. Greger, 11 ff. Arens, Zivilprozeßrecht, 4. Aufl. 1988. Rdnr. 275 ff. Baumgärtel, Rdnr. 9-26. 69 Stein/Jonas § 286 Rdnr. 25 f. Musielak 1975, 19 ff. Arens, Zivilprozeßrecht, 4. Aufl. 1988, Rdnr. 275 ff. Leipold 1966, 64 f. Prütting, 6 ff. Romme, 153 ff. Greger, 11 ff. Baumgärtel, Rdnr. 10. 70 V gl. Maassen, 11 ff. 71 Maassen, 12.

E. Entwicklung des Kaplan-Modells

231

gelegten Grad von Wahrscheinlichkeit zu beweisen.72 Innerhalb dieses Begriffes kann dann von einer im Laufe des Prozesses von einer Partei zu der anderen verschiebbaren Last, einen Beweis über einen bestimmten Tatumstand vorzubringen, unterschieden werden. 73 Die konkrete Beweislast belastet nach Maassen normalerweise die Partei, die auch die abstrakt-subjektive Beweislast tragen muß. Er meint ferner, daß der Beweis dieser Partei erst einmal den Grad des Beweismaßes erreichen muß, wonach die Last sich zur anderen Partei umkehrt. Diese hat dann die Möglichkeit, durch einen Gegenbeweis die erreichte Wahrscheinlichkeit (den Beweiswert des Hauptbeweises) unter den Beweismaßgrad "zurück zu drücken", was zu einer neuen Umkehrung der konkreten Last führt usw. 74 Nach Maassen soll aber die abstrakte Beweislast parallel mit dem Beweismaß laufen. Bei Rosenberg/Schwab wird eine Einteilung von nur objektiver und subjektiver Beweislast vorgenornrnen?5 Die Definition der ersten stimmt mit der o.g. abstrakt-objektiven Beweislast überein. Die subjektive Beweislast ist nach ihnen die einer Partei obliegende Last, "bei Meidung des Prozeßverlustes durch eigene Tätigkeit den Beweis einer streitigen Tatsache zu führen". 76 Diese Last gibt es aber nach Rosenberg/Schwab nur in einem Verfahren mit Verhandlungsmaxime, in dem die Parteien selbst den Beweisstoff zu sammeln und vorzulegen haben. 77 Damit stimmt im wesentlichen die Vorlegung in Stein/Jonas überein. 78 Es wird ferner von einem allgemeinen Prinzip bzw. von Grundregeln der Beweislast gesprochen. Diese folgen der Lehre von Leo Rosenberg, nach dem jede Partei die Beweislast für das Vorhandensein aller Voraussetzungen der ihr günstigen Normen trägt, falls anderes nicht im Gesetz festgestellt ist (es gibt einige Beweislastregeln z. B. im BGB).79

Maassen, 13. Maassen, 13 f. 74 Maassen, 13 f. Er meint ferner, daß die abstrakte Beweislast zusammen mit dem Beweismaß auf einem festen Punkt liegen soll, aber daß diese Last nichts mit der konkreten Beweislast zu tun hat. Dies ist m. E. verwirrend, weil auch die konkrete Last nach ihm an das Beweismaß geknüpft sein sollte. 75 Rosenberg/Schwab, 634 ff. 76 Rosenberg/Schwab, 635 f. Nach Baumgärtel ist die subjektive Beweislast als eine "Vorwirkung" der objektiven zu verstehen. Baumgärtel, Rdnr. 15. 77 Rosenberg/Schwab, 636. 78 Stein/Jonas § 286 Rdnr. 25-29. 79 Rosenberg/Schwab, 637 ff. Stein/Jonas § 286 Rdnr. 34 ff., 42. Nach Stein/ Jonas ist diese "ungeschriebene Grundregel" nahezu allgemein anerkannt, Stein/ Jonas, Rdnr. 37. Baumgärtel, Rdnr. 142, 155. Speziell Leipold hat diese Lehre kritisiert. Leipold 1985, 17 ff. 72 73

232

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Was den Schadensersatzprozeß anbelangt, wird aber auch ein von dem allgemeinen Prinzip abweichender Grundsatz für die Beweislastverteilung vertreten. Z. B. Prölss vertritt die Auffassung, daß das allgemeine Prinzip dann eingeschränkt werden müsse, wenn die Schadensursache aus dem Gefahrenbereich des Schadenverursachers hervorgegangen ist. 8 Ferner soll der Beklagte, wenn es um eine Klage wegen unerlaubter Handlungen geht, es beweisen und die objektive Beweislast dafür tragen, daß der objektive und subjektive Tatbestand der Haftungsnorm nicht vorliegt. 81 In derartigen Fällen befindet sich der Geschädigte in Beweisnot, während der Verursacher des Schadens den Beweis vorlegen kann. 82 Interessant ist auch, daß Prölss die Forderung dieser Beweislast darüber hinaus mit Berücksichtigung des Präventivzwecks der Haftungsnormen verlangt.

°

Es scheint zudem so zu sein, daß die Rechtspraxis in manchen Fällen von der Grundregel abgewichen ist, was verständlich ist, weil diese Regel gar keine Antwort auf jede denkbare Situation gibt. In der deutschen Literatur sind mehrere Theorien und Prinzipien der objektiven Beweislastverteilung präsentiert, wobei z. B. folgende Argumente als relevant angesehen werden: eine überwiegende lebensmäßige Wahrscheinlichkeit für bestimmte Tatsachen (status quo), die Nähe einer Partei zum Beweis, die Möglichkeit, sich die Beweisbarkeit zu sichern, die Schwierigkeit, negative Tatsachen zu

beweisen,

so~ale

Risikoverteilung und Zweck der materiellen Rechtsnar- .

men83 . Die Diskussion über die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit der verschiedenen Argumente zeigt m. E. deutlich, daß eine rationale Methode für die Gewichtung der Argumente in verschiedenen Situationen fehlt. Die in dieser Arbeit verteidigte Methode ermöglicht die Beachtung mehrerer relevanter Argumente und derer Gewichtung im Verhältnis zu einander. II. Die Beweislast in den USA Im amerikanischen Beweisrecht unterscheidet man zwischen the burden of producing the evidence und the burden of persuasion. 84

Prölss, 65 ff. Prölss, 65 ff. 82 Prölss, 65 ff. 83 Stein/Jonas Rdnr. 43-53. Siehe speziell Baumgärtel, Rdnr. 160--169 mit zahlreichen Hinweisen. 84 McConnick, 947 ff. Siehe auch der sehr interessante Artikel von Theyer, in dem er die Anwendung des Beweislastbegriffes im anglo-amerikanischen Recht kritisiert, weil sie seiner Meinung nach sehr verwirrend ist und weil die zwei Beweislastbegriffe miteinander gemischt worden sind. Thayer 1890, 45-70. Trotz dieser schon alten Kritik scheint es mir, daß das Problem in den USA immer noch das gleiche ist. 80 81

E. Entwicklung des Kaplan-Modells

233

Der erste Begriff bezieht sich auf die Pflicht einer Partei, den Beweis für ihre Tatsachenbehauptung vorzulegen. Sie liegt zunächst i. d. R. beim Kläger, und sie kann im Laufe des Prozesses von einer Partei zu der anderen übergehen. 85 Hat die Partei, die sie jeweils trägt, diese Pflicht entweder genügend oder nicht genügend erfüllen können, kann der Richter den Fall mit dem sog. directed verdict zu einer Lösung bringen. 86 Hier entscheidet der Richter allein, inwieweit der vorgebrachte Beweis eine "Ja"-, "Nein"oder "Unklar"-Schlußfolgerung begründet. Im unklaren Fall muß die Tatsachenentscheidung der Jury überlassen werden. 87 Die Eigenart dieser Prozedur liegt also darin, daß der Richter beim unklaren Fall das Entscheiden der Jury überlassen muß, anstatt daß irgendwelche objektiven Beweislastregeln schon auf dieser Stufe angewandt würden. 88 Die burden of persuasion wird auch oft als risk of nonpersuasion bezeichnet, weil sie reguliert, wer den Fall verlieren soll, falls das Beweismaß nicht erreicht worden ist. 89 Die Regeln darüber, wer die burden of persuasion tragen soll, falls der Beweiswert nach der Meinung der Jury den erforderlichen Grad von Sicherheit nicht erreicht hat, werden der Jury vom Richter mitgeteilt. 90 Diese Regeln werden ferner nur dann angewandt, wenn der ganze Beweisstoff dargelegt worden ist.91 In Fällen, wo die Jury nicht mitwirkt, ist auch der Richter an sie gebunden.92 Welche Partei burden of persuasion jeweils tragen soll, wird aufgrund verschiedener Argumente entschieden. Normal sind nach McCormick folgende Argumente: 1. die Tendenz, diese Last auf die Partei zu legen, die eine Revidierung der status quo-Situation wünscht, 2. spezielle Policyargumente, wie die Beweismöglichkeiten der Parteien93 , 3. convenience (prozeßökonomische Aspekte usw.), 4. Gerechtigkeit und 5. Wahrscheinlichkeitsbewertungen. 94

McCormick, 948 ff. Siehe auch z. B. Emanuel 1988, 423 ff. McCormick, 952 ff. 87 McCormick, 952 ff. 88 McCormick, 952 ff. 89 McCormick, 947 ff. Thayer 1890, 45 ff. 90 McCormick, 947. 9t McCormick, 947. 92 McCormick, 947. 93 Vgl. auch mit Thayer 1890, 51. 94 McCormick, 950 ff. mit zahlreichen Hinweisen. Siehe speziell 952 und dort der Fn. 20. Siehe auch Emanue1 1988, 428 f. 85 86

234

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

m.

Die Beweislast in Schweden

In Schweden geht Ekelöf von einem vorher fixierten Beweislastpunkt aus, der dem Grad und der Richtung des Beweismaßes folgen sol1.95 Dieser Beweislastpunkt ist von der Beweisführung in einem konkreten Verfahren unabhängig. Welche Partei die Beweislast für ein Rechtsfaktum tragen soll, hängt davon ab, auf welcher Seite der Beweislastpunkt auf der Ekelöfischen Skala liegt. Der Begriff "Beweislast" wird nach ihm am besten dadurch erklärt, daß die Partei, die die Last trägt, den Fall nicht gewinnen kann, ohne daß sie einen Beweis für den vorgebrachten Tatbestand vorlegt. Wenn der Beweiswertpunkt kleiner als der entsprechende Beweislastpunkt ist, verliert diese Partei i. d. R. den Fall.96 Diese Last wird in Schweden die "echte" Beweislast genannt.97 Die Pflicht der Parteien, im Laufe des Prozesses konkrete Beweise vorzubringen, welche von der einen zu der anderen Partei übergehen kann, nennt man eine "falsche" Beweislast.98 Lindeil ist der Meinung, daß die "echte" Beweislast eigentlich bestimmend für die Pflichten der Parteien ist, die konkreten Fakten des Falles zu beweisen.99 Er sieht ferner nicht viel Sinn in einer abstrakten Regelung dieser Last, weil die Situationen, z. B. Beweismöglichkeiten bei den einzelnen Fällen, sehr unterschiedlich sein können. 100 Die Anwendung der objektiven Beweislastregeln bzw. burden of persuasion oder der "echten" Beweislast wird vor allem mit dem gerichtlichen Entscheidungszwang gerechtfertigt: Obschon es unmöglich ist, etwas Bestimmtes von der Tatsachenlage aufgrund des Beweises zu sagen, muß eine Entscheidung getroffen werden. 101 Diese Regeln sehen jedoch von dem ganzen Beweisstoff ab und sollten deshalb nicht Beweislastregeln genannt werden, weil sie vielmehr normative Risikoverteilungsregeln sind. Ihre Anwendung wird zusätzlich mit Hilfe von z. B. folgenden Argumenten begründet: Wenn die Parteien schon vorher wissen, wer von ihnen das Risiko tragen soll, können sie auch den Beschluß vorhersagen: unnötige Prozesse können dann vermieden werden, weil sie und ihre Anwälte ihre Siehe das sechste Kap. D.II. Ekelöf 1992, 63. 97 Ekelöf 1992, 64. 98 Ekelöf 1992, 63 f. Lindell 1987, 390 ff. 99 Lindell 1987, 392 ff. 100 Lindell 1987, 392 ff. 101 "If no burden of persuasion were acknowledged by the law, one possible result would be that the trier of fact would purport to reach no decision at all.", McCormick, 948. Thayer 1890, 45 ff., Greger, 11. Musielak 1975, 19 ff. Leipold, 1966, 64 f. Bruns, 248 ff. Ekelöf 1992, 53 ff. 95

96

F. Herleitung eines rationellen Beweismaßes

235

Aussichten im voraus beurteilen können. Diese Voraussehbarkeit sollte ferner auch so beeinflussen, daß die Beteiligten den Beweis schon im voraus sicherstellen, um ihn in einem eventuellen Prozeß vorlegen zu können. Man muß sich jedoch fragen, inwieweit diese Argumente haltbar sind. Und vielmehr noch muß man sich fragen, welche Relation sie zu der Unsicherheit der einzelnen Entscheidungssituationen und ihren Konsequenzen haben. Unsicher ist zudem noch, inwieweit der Ableitungseffekt in der Wirklichkeit funktioniert.

F. Herleitung eines rationellen Beweismaßes Die Projektgruppe Recht und Wahrheit hat aufgrund einer empirischen Untersuchung feststellen können, daß sowohl schwedische als auch finnische Richter ein sehr hohes Beweismaß sowohl in Straf- als auch in Zivilsachen anwenden. 102 Gleichermaßen scheint die Lage sowohl im Lichte der Praxis als auch der Literatur in Deutschland zu sein. Dies führt dazu, daß insbesondere die Beweislastregeln oft als Grund der Tatsachenentscheidung angewandt werden müssen. Dieser Umstand ist natürlich problematisch, falls und wenn die materielle Richtigkeit der Urteile angestrebt und als bedeutungsvoll angesehen wird. Man muß die Frage stellen, inwieweit die Anwendung dieser allgemeinen, von dem Beweis und den speziellen Umständen eines einzelnen Fall absehenden Beweislastregeln überhaupt gerechtfertigt ist. 103 In dem Projekt Recht und Wahrheit ist eine Methode entwickelt worden, die davon ausgeht, daß die Argumente hinter den Beweislastnormen schon bei der Herleitung des Beweismaßes beachtet werden müßten. Die Argumente sind in zwei Gruppen unterteilt, die sich auf die Zwecke der Rechtsanwendung beziehen 104: I. Wahrheit

1. Die allgemeine, auf dem erfahrungsgemäßen Wissen basierende Wahrscheinlichkeit der relevanten Tatsachen (A W).

2. Die Ursachen für und die Möglichkeiten von Parteien, den Beweis schon vorher sicherzustellen und ihn in dem Verfahren zu präsentieren: die Beweismöglichkeiten der Parteien (BM). Klami/Marklund/Rahikainen/Sorvettula, 593 f. Siehe auch Bolding 1983, 24 ff. Lindell 1987, 284 ff. Ders.: 1998, 517 ff. 104 Siehe z. B. Klami/Rahikainen/Sorvettula, 372 ff. Klami/Hatakka/Sorvettula, Burden of Proof, 127 ff. Hatakka/Klami, 42 ff. Klami/Kastinen/Hatakka 1993, 287 ff. 102 103

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7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

II. Zwecke 1. Zwecke und Ziele der materiellen Rechtsnormen:

Normzwecke (NZ).

2. Soziale und ökonomische Möglichkeiten der Parteien, die Konsequenzen eines eventuell materiell fehlerhaften Urteils zu tragen: sozioökonomische Risikotragfähigkeit (SR). Die Idee ist, daß gerichtliche Entscheidungen den Prinzipien der allgemeinen Beschlußtheorie aufgrund der Unsicherheit dariiber, inwieweit die Wahrheit und die Zwecke erreicht werden können, folgen müßten. Die Theorie geht also davon aus, daß in der Beschlußsituation Unsicherheit über das Erreichen sowohl der Wahrheit als auch der Zwecke entsteht. Es ist auch denkbar, daß ihre Relation zueinander unsicher ist: Man kann sich z.B. fragen, wie die Unsicherheit über die Wahrheit das Erreichen der Normzwecke beeinflußt. Wenn der Beschlußfasser die Ursachen und den Umfang der Unsicherheit nicht genau weiß, kann es sehr schwer sein, etwas Genaues auch über das Risiko zu sagen. Deshalb ist es in der Theorie möglich, verschiedene Relationen der Argumente zueinander zu denken: Sie können miteinander a) konkurrieren, b) einander widersprechen oder c) miteinander verflochten sein. 105

Es ist dann auch denkbar UBd nonnal, daß PenoReR verschiedene Auffassungen über den Inhalt und die Richtung der Beweislastregeln haben, weil es letztendlich eine Wertungssache ist, welches von den Argumenten als das wichtigste angenommen wird. In der heutigen Praxis wird gewöhnlich nur ein Argument pro Beweislastregel angewandt. Man kann sich jedoch fragen, warum nur ein Argument angewandt werden sollte, wenn mehrere Argumente relevant sind. Es ist z.B. denkbar, daß die allgemeine Wahrscheinlichkeit gegen die schwächere Partei spricht, die andere Partei aber eindeutig besser in der Lage wäre, die Konsequenzen einer eventuell fehlerhaften Entscheidung zu tragen, oder vielleicht deutlich bessere Möglichkeiten gehabt hätte, den Beweis schon vorher sicherzustellen und dem Gericht vorzulegen. In Straffallen spricht die allgemeine Wahrscheinlichkeit sicherlich oft gegen den Angeklagten. Dies ist schon deswegen so, weil es sehr ungewöhnlich erscheint, daß ganz Unschuldige im Gerichtsverfahren angeklagt werden. Der sozioökonomische Risikoaspekt spricht jedoch stark für das den Angeklagten freisprechende Urteil. Andererseits gibt es typische Straffälle, wo allein die Möglichkeiten, die Straftat zu beweisen, so schwer sind, 105 Siehe z. B. K.lami/Rahikainen/Sorvettula, 372 ff. Klami/Hatakka/Sorvettula, Burden of Proof, 127 ff. Hatakka/Klami, 42 ff. Klami/Kastinen/Hatakka 1993, 287 ff.

F. Herleitung eines rationellen Beweismaßes

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z. B. bei Sexualstraftaten, daß das Risiko eines fehlerhaften Freispruchs vermutlich im Lichte der Beweismöglichkeiten höher ist als bei anderen Falltypen. Sicher ist auch, daß die meisten Schulden sachgemäß und rechtzeitig beglichen werden. Die eindeutig bessere Möglichkeit der Schuldner, eine Erfüllung der Leistungspflicht zu beweisen, wird aber in der Praxis als Begründung der für die Schuldner nachteiligen Beweislast angewandt. Die Möglichkeiten der Parteien, die Konsequenzen eines eventuell fehlerhaften Urteils in solchen Fällen tragen zu können, können aber von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein. Andererseits dürfte es unwahrscheinlich sein, daß Gläubiger, die schon bezahlt wurden, gegen den Schuldner trotzdem einen Prozeß führen. Dies beruht eben auf dem Umstand, daß die meisten Schuldner eine Quittung verlangen. Ob solches dann aufgrund des Bewußtseins der Menschen hinsichtlich der Beweislastregel geschieht oder nicht, ist eine ganz andere Sache. Der Ausgangspunkt der Methode ist die Formel von Kaplan. Die Methode setzt jedoch voraus, daß die Disutilitäten im Licht der vier oben diskutierten Argumente erfolgen. Die Bedeutung oder das Gewicht der Argumente sollte jedoch hierarchisch geordnet werden, so daß jedes der relevanten Argumente berücksichtigt werden kann, gleichzeitig wird aber auch ihre spezielle Stellung beachtet. In Strafsachen müßte eine vorherige Rangordnung der Argumenten festgestellt werden, weil das SR-Argument (die sozialen Risiken eines eventuell fehlerhaften Urteils für den Angeklagten) immer das wichtigste sein muß. Aber auch andere Argumente, wie die Kontrolle und das Verhindern von Kriminalität, müßten berücksichtigt werden können. In Zivilfallen ist eine vorherige feste Rangordnung der Argumente nicht notwendig. Eine Wertung zwischen den vier Argumenten kann für jeden einzelnen Fall verschieden sein. Man kann sich auch eine solche Alternative denken, daß man verschiedene falltypische Gewichtungen festlegt. Die Disutilitätsskala kann im Prinzip frei gewählt werden. Es wird aber empfohlen, daß man eine Skala von 0--100 anwenden sollte. Der Gedanke ist der, daß man die Entscheidungsalternativen im Hinblick auf die verschiedenen Argumente miteinander in Relation setzt. Die Entscheidungsalternativen müssen keineswegs diametral entgegengesetzt werden. Es wird ferner nicht vorausgesetzt, daß die Summe der Disutilitäten Dg und Di 100 sei, weil nur ihre Relation bedeutungsvoll ist: z. B. 20/30 = 40/60 = 60/90. Es ist ferner durchaus möglich, mehrere Entscheidungsalternativen miteinander zu vergleichen, z. B. verschiedene Grade von Mord und Freispruch. Dann können verschiedene Alternativen paarweise miteinander in Relation gebracht werden, Dl/D2, D2/D3, Dl/D3. Es ist natürlich auch möglich, daß z. B. Freispruch ganz ausgeschlossen ist.

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7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Es muß zudem beachtet werden, daß die Methode nicht objektiv in dem Sinne ist, daß das Resultat frei von Wertungen wäre. Sie versucht auch nicht, es zu sein, und sie führt nicht zu einem objektiven, vom wertenden Subjekt freien Beweismaß. Die Argumente von A W, BM, NZ und SR sind ihrer Natur nach keine Meßbegriffe. Es ist durchaus möglich, daß es Unsicherheit über ihren Inhalt gibt. In diesem Falle wird ihr Argumentationsgewicht um einiges reduziert. Diese Methode soll dem Richter helfen, die Rationalität seiner Schlußfolgerungen zu kontrollieren. Wenn die Beweiswerte numerisch und auch in den allermeisten Fällen subjektiv geschätzte sind und wenn, ganz unabhängig davon, zusätzlich die Rationalität des Beweismaßes im Licht der relevanten Argumente kontrolliert werden kann und konkretisiert wird, dann kann der Entscheidende diese Seite der Bewertung mit der eigenen Intuition vergleichen. Die ganz subjektiv-intuitiven Überzeugungsgrade, die z.B. in den USA und Deutschland in der Gegenwart angewandt werden, führen zu einem individuell-elastischen Beweismaß. Die Menschen haben es hierbei schwer, die verschiedenen Beweismaßdefinitionen zu verstehen. Obwohl z. B. die schwedische Doktrin schon seit langem eine konstruktive Diskussion über die Gründe und die Natur des Beweismaßes geführt hat, ist auch sie in dieselben Schwierigkeiten geraten, weil die numerischen Beweiswertungen z. B. nach Ekelöf mit abstrakten Beweismaßgraden bewertet werden müssen. Das hier vertretene Modell bedeutet deswegen eine erhebliche Verbesserung der Argumentation. I. Bewertung der Disutilitäten

Die Methode geht davon aus, daß fehlerhafte Urteile immer irgendwelche Disutilitäten haben. Ist aber die Disutilität von Dg = 0, gibt die Formel, unabhängig von dem Wert der Di, das Beweismaß von 100% 106: 1

P?:. 1 +0/X = 100% Ferner, wenn die Disutilität von Di = 0, gibt die Formel, unabhängig von

Dg, das Beweismaß von oo 107 •

Daß man eine Sicherheit von 100% z.B. in Straffällen verlangt - wie z. B. offensichtlich Tribe - bedeutet eigentlich, daß man davon ausgeht, daß ein fehlerhafter Freispruch keine Disutilität hat. Dies wäre m. E. eine sehr 106 107

Klami/Hatakka/Sorvettula, Burden of Proof, 136. Klami/Hatakka/Sorvettula, Burden of Proof, 136.

F. Herleitung eines rationellen Beweismaßes

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merkwürdige Annahme. Wenn es nur um den Angeklagten und sein Leben ginge, könne dies vielleicht denkbar sein. Es würde jedoch auch bedeuten, daß es der Gesellschaft und z. B. den Straftatopfern völlig gleichgültig wäre, inwieweit Straftaten bestraft werden oder nicht. Klar ist auch, daß es undenkbar ist, daß eine fehlerhafte Verurteilung keine Disutilität hätte. Es ist ferner auch nicht denkbar, daß ein fehlerhaftes Urteil in der einen oder anderen Richtung in Zivilsachen keine Unkosten für die verlierende Partei haben könnte. Die dargelegte Methode ist auch hier rational. Sie sagt, daß es irrational ist, einerseits volle Sicherheit zu verlangen, andererseits ist es aber auch irrational, keinen Beweis zu verlangen. II. Allgemeine Wahrscheinlichkeit und Disutilität

Wir haben vorher von der Untauglichkeit der allgemeinen, d. h. der sog. Ursprünglichen oder prima facie-Wahrscheinlichkeit allein als Beweis in einzelnen Fällen gesprochen. 108 Die Intuition sagt, daß ein bestimmtes Geschehnis nach unserer allgemeinen Erfahrung um so wahrscheinlicher ist, je weniger Beweis für dessen Tatsächlichkeit gefordert wird; wir werden ganz einfach leichter von solchen Dingen überzeugt, die unserer Erfahrung nach normal sind. Und auch das Gegenteil: Je unwahrscheinlicher etwas ist, desto mehr Beweise verlangen wir hinsichtlich seines Vorkommens. Das Modell versucht die Rationalität einer solchen Intuition zu verdeutlichen und zu kontrollieren. Die Wertung der Disutilität im Lichte dieses Arguments ist ziemlich einfach. Je geringer die allgemeine Wahrscheinlichkeit der Tatsachenalternative, desto größer ist deren Disutilität und das Gegenteil. Muß eine Entscheidung unter Unsicherheit getroffen werden, dann wird die nach der allgemeinen Erfahrung wahrscheinlichere Alternative als wünschenswerter angenommen. Schon heute gibt es vielfache Beweislastregeln, die sich mit dem status quo-Argument begründen lassen. Meine Auffassung ist, daß es in dem sog. spill over-Effekt 109 wenigstens teilweise um die allgemeine Wahrscheinlichkeit geht. Wenn ein und derselbe Angeklagte für mehrere gleiche Straftaten gleichzeitig angeklagt wird und falls eine von ihnen als hinreichend bewiesen angesehen wird, sollte dies nicht als Beweis für seine Schuld in den anderen Fällen verwendet werden. Aber die allgemeine Lebenserfahrung sagt, daß ein Angeklagter, der einmal eine bestimmte Straftat auf bestimmte Weise begangen hat, sie auch mehrmals hat begehen können, was die allgemeine Wahrscheinlichkeit erhöht, daß der Angeklagte diese weiteren Straftaten auch begangen hat. Dann wird die Disutilität einer eventuell fehlerhaften Verurteilung im 108 109

Siehe oben Kap. V.F. Siehe oben Kap. III und IV.

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7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Lichte dieses Arguments in diesen sog. "spill over-Fällen" geringer. Und wenn der Angeklagte jedenfalls wegen einer Straftat verurteilt wird, verliert auch das Argument der sozialen Tragfähigkeit an Bedeutung, wenn es um eventuelle Fehlurteile bezüglich anderer Anklagen in demselben Prozeß geht. Man kann und soll natürlich in Frage stellen, ob es akzeptabel ist, das Beweismaß auf diese Weise herabzusetzen. Derspill over-Effekt ist im Hinblick auf die empirischen Untersuchungen jedoch ein Teil des gerichtlichen Alltags. Nach dieser Methode ist es an sich vernünftig, das Beweismaß in solchen Fällen etwas herabzusetzen. Die Methode erläutert auch teilweise, warum es sich so auch in der Praxis verhält. Es ist jedoch klar, daß es an sich rechtswidrig ist, das Beweismaß in solchen Fällen herabzusetzen. Klar ist auch, daß es nicht kontrolliert werden kann, falls das Beweismaß rein subjektiv-intuitiv ist. Die hier entwickelte Methode dagegen versucht, auch solche Rechtswidrigkeiten zu verdeutlichen und zu kontrollieren.

111. Beweismöglichkeiten und Disutilität Die Disutilität einer materiell fehlerhaften Entscheidung ist um so größer, je leichter es gewesen war, sie durch vorherige Sicherstellung des Beweises bzw. dessen VorlegUDg zu verhiDdern. Hier wird die eventuelle Pflicht oder die bessere Möglichkeit einer Partei, schon vor dem Verfahren Beweise zu sichern, als ihre Möglichkeit, den Beweis im Verfahren zu präsentieren, berücksichtigt. Es ist natürlich möglich, daß keiner der Parteien eine solche Pflicht zugesprochen werden kann oder daß keine von ihnen eine bessere Möglichkeit gehabt hat bzw. gehabt haben sollte, den Beweis entweder vorher zu sichern oder zu präsentieren. Dann wird das Argument neutral, was bedeutet, daß das Beweismaß 50% wird. Es ist auch möglich, daß beide Parteien in dieser Hinsicht als verantwortlich angesehen werden. In solch einer Situation sind die Disutilitäten in beide Richtungen gleich. Auch in dem Fall wird das Beweismaß 50%. Wenn es um Straffalle geht, hat der Staatsanwalt eine allgemeine Beweispflicht für alle relevanten Tatsachen der von ihm beanspruchten Norm. Es ist aber zudem der Fall, daß auch dem Beweisverhalten des Angeklagten, wenigstens unter bestimmten Voraussetzungen, Bedeutung zugemessen werden kann. Speziell wenn es sich erweist, daß er irgendeinen Beweis zerstört hat oder z. B. die Zeugen bedroht hat. Solche Umstände können zwar nicht als direkter Beweis für die Schuld verwendet werden, aber wenn es zum Beweismaß kommt, bedeutet dies, daß die Disutilität einer fehlerhaften Verurteilung im Licht dieses Arguments im Verhältnis zu der Disutilität des fehlerhaften Freispruchs kleiner wird.

F. Herleitung eines rationellen Beweismaßes

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Hier zeigt sich aber auch die Verflochtenheit der Argumente. Es kann zwar auch dahingehend argumentiert werden, daß es einen allgemeinen Erfahrungssatz gibt, nach dem es wahrscheinlicher ist, daß der, der den Beweis zerstören will oder der Zeugen bedroht, nicht ganz unschuldig ist. Die allgemeine Wahrscheinlichkeit für die Schuld des Angeklagten wird also größer. In derartigen Fällen ist es dann besser, beide Argumente zusammenzuführen und eine gemeinsame Wertung vorzunehmen. Eine spezielle Situation ist auch diejenige, in welcher der Angeklagte ein "Beweismonopol" hat. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn der Staatsanwalt keine Möglichkeit hat, eine bestimmte Tatsache zu untersuchen, ohne daß der Angeklagte dabei mitwirkt. Ich denke hier vor allem an die Unmöglichkeit des Staatsanwalts, irgendwelche speziellen Informationen z. B. von den ausländischen Bankkonten des Angeklagten zu bekommen. Dieses Problem ist im Bereich der Wirtschaftskriminalität immer größer geworden. Hier müßte die Disutilität eines eventuell fehlerhaften Freispruchs wegen der speziellen Beweisschwierigkeiten geringerer bewertet werden. Ein Straftatbereich mit besonders großen Beweisschwierigkeiten ist derjenige der Sexualverbrechen. Vergewaltigungen, Inzest, sexueller Mißbrauch von Minderjährigen und dergleichen sind Straftaten, wo der Beweis in den meisten Fällen vor allem aus den Aussagen der Beteiligten besteht. 110 Besondere Schwierigkeiten gibt es bei der Bewertung des Beweises der Unfreiwilligkeit des Geschlechtsverkehrs seitens der Frauen oder bei den Aussagen von Minderjährigen. Die Anwendung von allgemeinen Erfahrungssätzen kann hier in der Tat sehr schwierig sein, weil solche Sätze oft auf ganz individuellen Erfahrungen, reinen Vorurteilen oder moralischen Wertungen der Beurteilenden basieren können. 111 Unter Berücksichtigung derartiger Schwierigkeiten ist es sehr schwer, das allgemeine, sehr hohe strafrechtliche Beweismaß überhaupt zu erreichen, obwohl z. B. das schwedische HD dies ausdrücklich hervorgehoben hat. 112 Vom Standpunkt der "Richterpsychologie" kann die Lage ganz anders aussehen. Es ist nämlich durchaus möglich, daß der Beurteilende, der auf der intuitiven Ebene von bestimmten Tatsachen überzeugt ist, unbewußt sein allgemeines Beweismaß herabsetzt, um seiner Überzeugung recht zu geben. 110 Vgl. z.B. NJA 1993, 68: "In diesem Falle wie bei den meisten Sexualdelikten besteht der Beweis hauptsächlich aus den Aussagen der Kläger." NJA 1993, 77. Übers. v. F.-J. Sauer. 111 Vgl. Klami/Hämäläinen, 85 ff. 112 Das HD führte nach dem in Fn. 110 zitierten Satz des Falles NJA 1993, 68 weiter aus: "Dies hindert nicht daran, daß der Beweis als ausreichend für eine Verurteilung angesehen wird. Dabei wird vorausgesetzt, ( ...) daß der Gerichtshof es für außerhalb jedes vernünftigen Zweifels befindlich erachtet, daß der Angeklagte sich der ihm zur Last gelegten Tat schuldig gemacht hat." Übers. v. F.-J. Sauer. 16 Gräns

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7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Verglichen mit Fällen, wo solche Beweisschwierigkeiten nicht existieren, ist hinsichtlich der hier verteidigten Theorie die Disutilität des fehlerhaften Freispruchs im Verhältnis zu der der fehlerhaften Verurteilung in solchen Fällen kleiner. Deshalb ist eine Herabsetzung des Beweismaßes im Licht dieses Arguments sinnvoll. Aber hier muß natürlich darauf geachtet werden, daß es eigentlich rechtswidrig ist, das Beweismaß überhaupt herabzusetzen. Es wird aber sehr oft behauptet, daß das Beweismaß in genau solchen Fällen in Wirklichkeit niedriger ist. Aber wenn man nur von einem subjektiv-intuitiven Beweismaß ausgeht, kann es überhaupt nicht kontrolliert werden. Noch schwerer ist es, irgendwelche relevanten Argumente zu finden, um die subjektiv-intuitiven Überzeugungsgrade in diesen Fällen zu diskutieren. Das Modell gibt jedoch eine Möglichkeit, den subjektiv-intuitiven Überzeugungsgrad zu kontrollieren. Es sagt uns, daß es an sich sinnvoll wäre, daß Beweismaß in solchen Fällen herabzusetzen. Das Modell gibt aber gleichzeitig die Möglichkeit an die Hand, über die Ursachen der Herabsetzung offen mit Argumenten zu diskutieren. Wenn es dann tatsächlich so ist, daß es unmöglich scheint, das hohe rechtmäßige Beweismaß in solchen Fällen überhaupt zu erreichen, muß darüber diskutiert werden, was getan werden kann. Es berührt schwierige Fragen, aber es ist auf jeden Fall besser, sie zu diikutieren als den Kopf 4l den SaDd zu steck.eo, Wai daDD der Fall ist, wenn behauptet wird, daß das gleiche subjektiv-intuitive Beweismaß in allen Fällen angewandt werden soll und wird. Eine solche Behauptung ist im Lichte der empirischen Untersuchungen ganz einfach unhaltbar. Die Beweismöglichkeiten bei dem Beweis subjektiver Tatbestandsmerk-

male sind ein anderer Problemfall: der Angeklagte hat ein bestimmtes

Monopol bezüglich seiner Absichten und Kenntnisse. Beim Vorsatzbeweis spricht dieses Argument deshalb deutlich für ein etwas niedrigeres Beweismaß als bei der objektiven Seite der Straftaten. 113 Auf diese Problematik wird aber hier nicht näher aufgegangen.

IV. Normzwecke und Disutilität Wir haben schon im Kapitel II über die konkreten Konsequenzen fehlerhafter Entscheidungen unter Betrachtung der Normzwecke gesprochen. Es wurde festgestellt, daß fehlerhafte Entscheidungen immer negative Konsequenzen im Hinblick auf die Normzwecke haben müssen. Völlig zwecklose Normen können kaum in Geltung bleiben. Der Grad der Disutilität kann aber unter Umständen unterschiedlich sein. 113

Klami/Sorvettula/Hatakka, Dolus Probatus, l 00 ff. Ekelöf 1992, 119.

F. Herleitung eines rationellen Beweismaßes

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Das Gewicht des gewünschten Steuerungseffekts der Normen variiert je nach Rechtsgebiet. In Straffällen ist besonders in solchen Fällen die Disutilität einer eventuell fehlerhaften Verurteilung hinsichtlich dieses Arguments kleiner und die Disutilität des fehlerhaften Freispruchs größer, in denen der Effektivität der Kriminalitätskontrolle und des allgemeinpräventiven Effekts große Bedeutung zugemessen wird, z. B. bei Drogenkriminalität oder Gewaltstraftaten. Es kann auch unsicher sein, was der eventuelle sich in dem vorhandenen Fall konkretisierende Normzweck überhaupt ist 114, oder wenn es um Normkomplexe geht, kann es unbestimmt sein, welche der eventuell vielfältigen Zwecke als Argument gewählt werden soll. Man sollte die der konkreten Norm zugrundeliegenden Zweckargumente spezifizieren oder, falls es um einen Normkomplex geht, die wichtigsten von ihnen auszuwählen versuchen. Die Methode setzt jedoch nicht voraus, daß jedem Argument überhaupt Bedeutung zugemessen werden muß, wie schon gesagt wurde. Neutralität bedeutet aber an sich das Beweismaß von 50%. V. Sozioökonomische Risikotragfähigkeit und Disutilität Die sozialen und finanziellen Möglichkeiten der Parteien, eventuelle Konsequenzen eines fehlerhaften Urteils zu tragen, können an sich und vor allem in Zivilsachen sehr viel variieren. Der Gedanke ist der, daß die Disutilität eines materiell fehlerhaften Urteils um so geringer ist, je besser die sozialen und finanziellen Möglichkeiten sind, die Konsequenzen eines (eventuell) fehlerhaften Urteils für die eine oder andere Partei zu ertragen. Heutzutage ist dieser Aspekt offenbar nur auf bestimmten Gebieten in Betrachtung gezogen worden, z. B. im Verbraucher-, Arbeits-, Umwelt- oder Produzentenhaftungsrecht. 115 Man kann die Meinung vertreten, daß die sozioökonomischen Risiken beide Parteien gleich stark belasten sollten, wenn und weil es für beide um die gleiche Summe Geld geht. Hier steht der Gleichbehandlungsgedanke dahinter. Es muß jedoch daran gedacht werden, daß die Betonung des Gleichbehandlungsarguments womöglich zu hoch angesetzt ist, wenn es um die Konsequenzen nicht von richtigen Urteilen, sondern von eventuell materiell fehlerhaften Urteilen geht. Es ist wichtig, daß man die konkrete soziale bzw. ökonomische Situation der Parteien zu beachten versucht, weil es üblich ist, daß diese Situation 114 Auf dasselbe Problem wird oft in Verbindung mit der sog. teleologischen Auslegung hingewiesen. 115 Siehe z.B. Ekelöf 1992, 93 mit Hinweisen. Vgl. z.B. oben Kap. II.C.II. und Kap. VI.E.VI.2. (bezüglich des Umweltrechts). Siehe auch Ekelöf 1992, 93. 16*

244

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

unterschiedlich ausfallen kann. Auf solchen Rechtsgebieten, wo eine Partei einen schlechteren sozioökonomischen Status hat und wo die Gesetze diesen Umstand schon an sich beachten - wenn es also um die sogenannten Schutzgesetze geht - hat dieser allgemeine Normzweck ein besonderes Gewicht zugunsten des jeweils Geschützten. Aber auch in solchen Fällen können die besonderen Umstände des vorliegenden Falles unterschiedlich ausfallen, was beachtet werden muß. Z. B. dürften Versicherungsunternehmen im allgemeinen einen besseren ökonomischen Status haben als der einzelne Versicherungsnehmer, aber wenn es z. B. um Arbeitgeber oder Produktproduzenten geht, kann es im jeweiligen Fall durchaus Unterschiede geben, etwa wenn die Existenz von Unternehmen betroffen ist. Auch ist es natürlich möglich, daß beide Parteien in dieser Hinsicht gleich gute oder schlechte soziale und finanzielle Möglichkeiten haben. Die Disutilitäten können auf zwei Stufen bewertet werden: 1. Unter Betrachtung der konkreten Umstände des vorhandenen Falles

2. Unter Betrachtung eher abstrakter, für den Falltyp spezifischer Umstände Am zweckmäßigsten ist es hierbei, wenn man bei der abstrakten Ebene beginnt und danach ihre Elemente mit den konkreten Umständen des Falles vergleicht, um die Disutilitäteil möglichst kolllaet bewerten zu können Man muß insbesondere daran denken, daß es in einem konkreten Verfahren vor allem um die konkrete Streitsituation und um die Konsequenzen des Urteils für die jeweiligen Parteien geht. Es versteht sich von selbst, daß die Situation in Straffallen ganz anders aussieht als in Zivilsachen. In Strafsachen hat der sozioökonornische Status des Angeklagten unter Beachtung der Konsequenzen einer eventuell fehlerhaften Verurteilung im allgemeinen sehr wenig - wenn überhaupt - Bedeutung. Die Disutilität einer fehlerhaften Verurteilung z. B. wegen eines Mordes ist sicher maximal, und zwar ganz ohne Hinsicht auf den sozialen Status des Verurteilten. Deshalb scheint auch ein hohes und unelastisches Beweismaß ganz berechtigt. Daran hält die h. M. und Praxis sowohl in Deutschland, Schweden als auch in den USA fest. Dies ist jedoch schon wegen des heutigen, intuitiv-subjektiven Beweismaßes, wie dargestellt, eine unrealistische Annahme. In der Untersuchung von Sirnon und Mahan konnten Unterschiede in der Beweismaßwertung zwischen verschiedenen Straftatarten festgestellt werden. Auch Ekelöf und Bolding sind z. B. der Meinung, daß, je nach der Straftatart, ein etwas elastischeres Beweismaß akzeptiert werden könne. 116

116

Siehe Kap. VI. C. II. und E. II. und III.

F. Herleitung eines rationellen Beweismaßes

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Dies scheint im Licht dieses Arguments rational zu sein. Z. B. bedeuten die Konsequenzen einer eventuell fehlerhaften Verurteilung bei einem geringfügigen Diebstahlsfall keine gleich große Disutilität wie solche in einem Mordfall, weil die Strafen in diesen Fällen sehr unterschiedlich sind. Diese Betrachtungsweise geht von einer verhältnismäßig konkreten Bewertung der Disutilitäten aus. Ferner kann gedacht werden, daß die Disutilitäten einer Straftatart, je nach den erschwerenden oder mildemden Umständen (dem Grad des Schwerwiegens) unterschiedlich sein können. Man sollte das Beweismaß jedoch nicht wegen dieses an sich rationalen Arguments herabsetzen, weil es rechtswidrig wäre. Man kann sich jedoch fragen, was für eine Bedeutung dieses Argument überhaupt hat. Zum einen erklärt es nämlich, warum das subjektiv-intuitive Beweismaß auch in Straffällen variiert. Zum anderen kann, wenn man die Methode als eine Kontrolle des subjektiv-intuitiven Beweismaßes anwendet, eine solche intuitive, unbewußte Herabsetzung vermieden werden. Dies bedeutet, daß das Argument, wenn es richtig angewandt wird, in der Praxis eine Beweismaßerhöhung zur Folge hat. Die Auffassung von Aamio, nach der der Richter in einer NormenFakten-Unsicherheitssituation eine Billigkeitsahwägung zwischen verschiedenen Straftatgraden vornimmt, ist an sich denkbar117 • Man fragt sich jedoch, inwieweit es um eine Billigkeitsahwägung in der Rechtsauslegung geht oder vielleicht um einen Beweismaßunterschied, d. h. um die Herabsetzung des intuitiven Beweismaßes. In einer solchen Billigkeitsahwägung zeigt sich die Verflochtenheit des normativen und faktischen Denkens. Eine andere Frage ist, wie die Disutilität eines eventuell fehlerhaften Freispruchs im Licht dieses Arguments bewertet werden könnte bzw. sollte. Als andere Partei in Straffällen tritt natürlich nicht nur der Staatsanwalt auf, sondern auch das Interesse der Gesellschaft und des eventuellen Straftatopfers muß berücksichtigt werden. Daß die Gesellschaft fehlerhafte Freisprüche ertragen kann, liege einerseits der Auffassung zugrunde, daß solche Urteile nicht als gleichermaßen schädlich angesehen werden wie fehlerhafte Verurteilungen. Andererseits kann das Straftatopfer eine Entschädigung verlangen, z. B. in einem Schadensersatzprozeß unabhängig von einer eventuellen strafrechtlichen Verurteilung. Man muß jedoch beachten, daß die gesellschaftliche Tragfähigkeit bezüglich verschiedener Arten von Kriminalität sehr unterschiedlich ausfällt. Diese Disutilität ist zwar von den Konsequenzen abhängig, welche denkbar und wahrscheinlich sind, falls der Freispruch sich in der Tat als fehlerhaft erweisen würde. Es müßte hier der Gefahr der fortgesetzten Kriminalität mit Berücksichtigung des Strafregisters des Angeklagten und der Art der 117

Siehe Kap. I. A.

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7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Kriminalität Bedeutung zugemessen werden. Diese Umstände dürfen nicht als Beweis gegen den Angeklagten angewendet werden, aber sie könnten bei der Disutilitätsbewertung beachtet werden. Dieser Umstand beeinflußt natürlich nicht die Disutilität der fehlerhaften Verurteilung, kann aber als Argument für eine größere Disutilität im Fall eines fehlerhaften Freispruchs angewandt werden. Es ist zu betonen, daß dieses Argument nicht notwendig zu einem solchen Schluß führt, daß das Beweismaß bei schweren Verbrechen kleiner wird als bei geringfügigen Übertretungen. Bei schweren Verbrechen ist nämlich die Disutilität eines fehlerhaften Freispruchs immer erheblich, bei geringfügigen Übertretungen aber meist bei fast ~ 0. Deshalb kann der Vergleich der Disutilitäten auch für ein relativ hohes Beweismaß bei geringfügigen Übertretungen sprechen, obgleich die Disutilität einer fehlerhaften Verurteilung an sich klein wäre.

G. Gewichtung der Argumente und das endgültige Beweismaß Die Argumente haben einen unterschiedlichen Grad von Bedeutung bzw. Gewicht im Verhältnis zueinander, und zwar je nach den verschiedenen Fällen, Falltypen und/oder Rechtsgemeten. Wenn die Argumente als Begründung der Beweislastregeln angewandt werden, wird jedoch häufig nur eines von ihnen als Grund der jeweiligen Regel angenommen. Z. B. in Straffällen ist das SR-Argument wegen des Rechtssicherheitsinteresses eines einzelnen Individuums natürlich das wichtigste, aber meistens auch das einzige Argument, das als Begründung für die Beweislast des Staatsanwalts und das hohe Beweismaß angerufen wird. Gleichzeitig wird anerkannt, daß eine Sicherheit von 100% nicht gefordert werden kann, und zwar deshalb, weil jeder die Unmöglichkeit zugeben muß, eine solche Gewißheit zu erreichen. Andererseits wird aber über die Effektivität und die allgemein-präventive Funktion der Urteile eingehend diskutiert, als ob die materielle Wahrheit oder Fehlerhaftigkeit der Urteile weniger oder gar keine Bedeutung hätte. Aufgrund der Diskussion im Kap. II. ist jedoch deutlich geworden, daß fehlerhafte Urteile, Verurteilungen und Freisprüche auch unter Berücksichtigung dieser Zwecke Schäden nach sich ziehen. Und der wichtigste Punkt, dem Beachtung geschenkt werden muß: Fehlerhafte Freisprüche oder Verurteilungen können verschiedene Grade von Schäden haben. Welcher Grad von Bedeutung dann z.B. der allgemeinen Wahrscheinlichkeit und/oder den Beweismöglichkeiten zukommt, ist eine andere Angelegenheit. Aber ganz ohne Bedeutung sind auch sie nicht. Die Schwierigkeiten der Staatsanwaltschaft, bestimmte Straftaten (z. B. Wirtschaftskriminalität) oder Drogenkriminalität zu beweisen, sind bekannt.

G. Gewichtung der Argumente und das endgültige Beweismaß

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Man hat aber feststellen müssen, daß die Ineffizienz ausgehalten werden muß, eine große Zahl auch eventuell fehlerhafter Freisprüche und ihre Konsequenzen zu ertragen, so lange der Finanzhaushalt des Staates eine Erhöhung der Mittel bezüglich der polizeilichen und staatsanwaltschaftliehen Untersuchung nicht leisten kann. Auch die Verschärfung der Strafen wird nicht helfen, wenn und falls es allgemein bekannt ist, daß die meisten Verfahren mit einem Freispruch enden. Vielmehr würde eine Strafverschärfung ein noch höheres Beweismaß rechtfertigen, weil dann die Disutilität einer eventuell fehlerhaften Verurteilung größer wird. Die Diskussion über die Beweislastregeln in Zivilsachen geht sehr oft von einer Entweder-Oder-Stellung der verschiedenen Autoren und der Gerichtspraxis aus: Man entscheidet sich in der Regel für ein Argument, das dann als die wichtigste und auch die einzige Begründung der jeweiligen Regel angenommen wird. Gibt es ein anderes Argument, das ein größeres Gewicht in anderen gleichen Fällen zu haben scheint, so kann von der Hauptregel natürlich eine Ausnahme gemacht werden, in welchem Fall das bis dahin als notwendig empfundene Argument vielleicht ganz beiseite gelassen wird. Dies ist mit Berücksichtigung auch der Vorhersehbarkeit mißlich. Es ist normal, daß, wenn mehrere Argumente für eine Ausnahme sprechen, nicht verdeutlicht wird, inwieweit sie alle in zukünftigen Ausnahmefällen vorhanden sein müssen oder ob es vielleicht ausreichend ist, daß nur eines oder die meisten von ihnen eine Beweislastumkehr bzw. Beweismaßherabsetzung rechtfertigen können. Es wäre sinnvoller, davon auszugehen, daß jedes Argument in allen Fällen Relevanz beanspruchen kann, aber die Gewichtung der Argumenten diskutiert werden kann. Eine Erklärung für die gegenwärtige Situation ist es natürlich, daß man keine Methode gehabt hat, die Gewichtung der verschiedenen Argumente im Verhältnis zueinander zu bewerten. Die Projektgruppe Recht und Wahrheit hat dieses Problem ernst genommen und eine konkrete Methode für eine Bewertung der Gewichtung der Argumente vorgeschlagen. 118 Eine solche Gewichtung ist notwendig, weil die Argumente in verschiedenen Fällen einerseits stets relevant sind, andererseits aber mehr oder weniger Bedeutung haben können, und zwar je nach den speziellen Umständen des Falles bzw. des Falltyps. Die von Saaty vorgeschlagene Methode geht von einer paarweisen Vergleichung der Argumente aus: Man vergleicht die Wichtigkeit eines Arguments im Verhältnis zu der Wichtigkeit eines anderen. Man fragt z.B. wieviel wichtiger ist das Argument von AW in Verhältnis zum BM oder das BM-Argument verglichen mit NZ. Um dies vornehmen zu können, braucht man natürlich irgend118

Siehe z. B. Klami/Rahikainen/Sorvettula, 1988, 368 ff.

248

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

eine Skala für die Einordnung der Präferenzordnung der Argumente. Man könnte eine Skala von sprachlichen Ausdrücken - wie z. B. gleich wichtig, weniger wichtig, eindeutig wichtiger, viel mehr wichtiger und absolut wichtiger - anwenden. Um eine präzisierte Methode für die weiteren Rechnungen anwenden zu können, ist es aber besser und vielleicht notwendig eine numerische Skala zu verwenden. Saaty hat folgende numerische Werte für die Komparationsbegriffe bei der Wertung vorgeschlagen 119: Für gegebene Argumente A und B: wenn die Argumente A und B gleich wichtig sind: Schätzung 1 wenn das Argument A weniger wichtig als B ist: Schätzung 3 wenn das Argument A eindeutig wichtiger als B ist: Schätzung 5 wenn das Argument A viel mehr wichtiger als B ist: Schätzung 7 wenn das Argument A absolut wichtiger als B ist: Schätzung 9 Saaty hat auch die Möglichkeit beachtet, daß es insgesamt 9 Alternativen gibt, und zwar von 1 (A und B sind gleich wichtig) bis auf 9 (A ist 9 mal so wichtig wie B). Rein pragmatisch ist es jedoch sinnvoller, daß es nicht zu viele Alternativen gibt und daß sie sprachlich erklärt werden können. Deshalb hat er einen Kompromiß vorgeschlagen, bei dem 2, 4, 6 und 8 ausfallen, aber die Unterschiede bei der Betonung genauso markant sind wie bei der Anwendung der vollen Skala 1-9. Das paarweise Vergleichen kann am besten mit Hilfe einer 4 x 4 Matrix durchgeführt werden. Wir nehmen die Argumente von AW, BM, NZ und SR und wenden die Skala von Saaty an 120: Wichtigkeit

AW

BM

NZ

SR

6 4 1 1/4

6 4

1

5

BM

115

NZ

1/6 117

1 1/4 1/6

AW

SR

7

1

Ein Argument ist gleich wichtig, wenn es mit sich selbst verglichen wird: wenn die Reihe A W also die Säule A W trifft (A W, A W), ist der Wert 1. Dasselbe gilt natürlich für die anderen Argumente im Verhältnis zu sich selber. Diese vier Werte von 1 sind vorher gegeben. Man kann dann folgende sechs Vergleiche machen: AWIBM; AW/NZ; AW/SR; BM/NZ; Saaty, 18. Die Wertungen sind illusorische und z. B. nicht an irgendein Rechtsgebiet oder einen Rechtsfall gebunden. Saaty hat in seinem Beispiel diese Werte angewendet. Saaty, 19. 119

120

G. Gewichtung der Argumente und das endgültige Beweismaß

249

BM/SR und NZ/SR. Die letzten sechs Vergleiche sind umgekehrte zu den ersten sechs und deshalb ihre reziproken Werte. Wenn der Bewertende z. B. in der Position (AW, BM) den Wert 5 geschätzt hat, meint er, daß das AWArgument eindeutig wichtiger ist als das SM-Argument. Der reziproke Wert in der Position (BM, A W) ist dann 115. Wenn alle sechs Werte und ihre Reziprozität eingeschätzt worden sind, müssen die Präferenzordnung und der Gewichtungskoeffizient der Argumente auf ihren Grund hingeleitet werden. Nach Saaty gibt es hier vier alternative Methoden, die alle dieselben Schlußresultate geben, wenn die Voraussetzung der Konsistenz erfüllt ist. In unserem Fall ist aber eine vollständige Konsistenz nicht vorausgesetzt, weil die Argumente miteinander paarweise verglichen werden und nicht gleichzeitig alle im Verhältnis zueinander. Die vier Methoden haben zudem verschiedene Genauigkeitsgrade. Ich habe die Methode gewählt, die das genaueste Resultat ergibt. Die Methode ist folgende: Man multipliziert die n-Elemente auf jeder Reihe und rechnet die n-Wurzel des Multiplizierungsresultats, wonach die resultierenden Summen normalisiert werden. 121 Wir nehmen unsere Matrix als Beispiel. Es gibt hier vier Argumente. Wir erhalten: Pr(AW) = Pr(BM) = Pr(NZ) Pr(SR)

4y'1 X 5 X 6 X 7 4v'1/5 X 1 X 4 X 6 4v'1/6 X 1/4 X 1 X 4 4v'1/7 X 1/6 X 1/4 X 1

3,81 R! 1,48 R! 0,64 R! 0,28 R!

Die Normalisierung geschieht wie folgt: Man addiert die Summen, wonach jedes einzelne Resultat mit der Summe dividiert wird: Pr(A W) + Pr(BM) + Pr(NZ) +Pr(SR)

Wir bekommen dann Pr(AW) und Pr(SR) ~ 0,04.

~

0,61; Pr(BM)

R!

~

6,21

0,24; Pr(NZ)

~

0,10

Diese Summen bezeichnen die Gewichtungskoeffizienten der Argumente: Pr(AW)

= 61;

Pr(BM) = 24; Pr(NZ) = 10 und Pr(SR) = 4

Diese werden mit dem jeweiligen Resultat der Disutilitätsrechnung multipliziert, wonach man einen betonten Mittelwert errechnet. Das Resultat wird dann das endgültige Beweismaß.

121

Saaty, 19.

250

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Wir nehmen die Resultate der Disutilitätsrechnung im nächsten an, wonach sie mit den entsprechenden Gewichtungskoeffizienten multipliziert werden: Pmin (BT) Pmin(BT) Pm;n(BT) Pm;n(BT)

im im im im

Lichte der A W :2: 50; 50 X 61 Lichte der BM :2: 70; 70 X 24 Lichte der NZ :2: 80; 80 X 10 Lichte der SR :2: 90; 90 X 4

= 3050 = 1680 =

800 360

Die Summe der Multiplizierungsresultate beträgt 5890, welche mit der Summe der Gewichtungskoeffizienten - hier 99 - dividiert wird. Das endgültige Beweismaß ist dann Pmin(BT) 2: 59,5. Die Methode ist rein theoretisch ziemlich einfach und ergibt außerdem die Möglichkeit, die Anzahl der zu vergleichenden Argumente zu variieren, weil man immer von n-Anzahl Werte eine n-Wurzel nimmt. Dies ist deswegen wichtig, da es durchaus denkbar ist, daß auch mehreren Argumenten in dem jeweils vorhandenen Fall oder Rechtsgebiet Bedeutung zugemessen wird. Man kann die Methode natürlich wegen der praktischen Schwierigkeiten, sie in Einzelfällen anzuwenden, kritisieren. Die Schwierigkeit liegt vor allem in der numerischen Bewertung der relativen Wichtigkeit. Man kann jedoch von der sprachlichen Übersetzungen der numerischen Wertungen ausgehen, wie Saaty vorgeschlagen hat.

H. Lösung von Fällen, wo der P(BT)minund P("' BT)min ·Werte nicht erfüllt sind Die Methode geht davon aus, daß P(BT)min = 1 - P("' BT)min· Dies betrifft jedoch nur das Beweismaß, nicht die Beweiswürdigung - außer wenn der Beweis die Voraussetzungen der objektiven Wahrscheinlichkeit erfüllt -, wie im Kapitel V., E. dargelegt wurde. Es ist wegen der einseitigen Wahrscheinlichkeitsvoraussetzung möglich, daß die Grauzone so groß ist, daß die Minimalwerte des Beweismaßes nicht erfüllen worden sind: P(BT) < P(BT)min und P(,...., BT) < P(,...., BT)min

Was sollte der Entscheidende in einer solchen Situation machen? Es gibt folgende theoretische Möglichkeiten: 1. Die traditionelle Weise, nach der die (objektiven) Beweislastregeln -

besser: Risikozuweisungsregeln - angewandt werden. Wenn der Beweiswert für das BT bzw. "'BT den erforderten Grad von Sicherheit

H. Lösung von Fällen, wo Werte nicht erfüllt sind

251

nicht erreicht hat, wird von dem ganzen Beweis abgesehen. Der Fall wird mit Hilfe von normativen Regeln festgestellt. 2. Unter der Annahme, daß das Bayes-Theorem akzeptiert wird, kann die Lage folgende sein: Wenn der Beweiswert des BT das Beweismaß nicht erreicht hat, wird ,...., BT als Tatsachenprämisse - ganz ohne Hinblick darauf, ob es irgendeinen konkreten Beweis dafür gibt oder nicht - festgestellt. Nach diesem Modell wird die Grauzone ganz zugunsten der einen Partei gerechnet. Dies ist der Fall nach der traditionellen Praxis und Theorie in den USA. 3. Es wäre auch möglich - wenn von der allgemeinen Geltung des BayesTheorems, wie in dieser Arbeit, abgesehen wird - daß, wenn es einen konkreten · Beweis sowohl für das BT als auch das ,...., BT gibt, der Beweiswert des BT mit dem Beweiswert des ,...., BT verglichen wird, wonach man das Thema wählt, für das der Beweiswert höher ist. 4. Eine differenziertere Lösung ist, daß man die jeweiligen Beweiswerte des BT und ,...., BT mit den respektiven rationellen Beweismaßen vergleicht und dann die Alternative wählt, die die höhere Verhältniszahl ergibt. Das Schema ist hier folgendes: P(BT) > P("' BT) P(BZ)min < 1 - P(BT)min

Hier wird von der Grauzone abgesehen. Nehmen wir an, daß das Beweismaß für das BT d.h. P(BT)min;:::: 70% und für das P(,...., BT) > 30%, der Beweiswert für das BT,P(BT) = 60% und P("' BT) = 20%. Die Grauzone ist dann 20%. Wir erhalten:

Es ist also sinnvoller das BT als Tatsachenprämisse zu wählen. Die Methode geht davon aus, daß man trotz der eventuellen Grauzone nicht von dem vorgebrachten Beweis absieht und daß die Grauzone weder der einen noch der anderen Partei zugerechnet wird. Es existiert hier jedoch ein Problem. Die Methode führt insbesondere zur Feststellung von Tatsachenprämissen auch aufgrund von sehr wenig Beweis. Angenommen, daß der Beweiswert des BT eines Klägers z.B. 10% ist, es gibt aber keinen Beweis für die Behauptungen des Beklagten, d. h. für das ,...., BT . Dann müßte der Kläger trotz einer Grauzone von 90% den Fall gewinnen, und zwar ganz ohne Hinsicht auf die Höhe des Beweismaßes. Nach dem geltenden Recht müßte seine Klage - falls er auch die Beweislast trägt - aber abgewiesen werden.

252

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

Die Lösung ist, daß die Grauzone zwischen den Parteien zu 50/50 geteilt wird, um derartige Tatsachenurteile, wenigstens ab einer gewissen Grenze, verhindem zu können. Dann würde der Kläger den Fall nur dann gewinnen, wenn die Summe des Beweiswerts und seines Teils der Grauzone 2: P min (BT) ist. Es könnte aber auch dafür argumentiert werden, daß, wenn der Beweismechanismus tatsächlich für das BT- obwohl mit geringer Wahrscheinlichkeit - funktioniert hat und wenn es darüber hinaus keinen Gegenbeweis gibt, es implizieren muß, daß die Klage nicht ganz unbegründet sein kann. Der Beweis, obwohl gering, wird emstgenommen. In Straffällen muß die Grauzone zugunsten des Angeklagten gerechnet werden. Dies bedeutet, daß der Angeklagte freigesprochen werden muß, falls der Beweiswert für eine Verurteilung den erforderlichen P(BT)mi0 -Wert nicht erreicht hat und obwohl es vielleicht keinen Beweis für die Unschuld des Angeklagten gibt. Gesetzt z. B., daß das Beweismaß für das BT 2: 80% (Verurteilung) und für das "'BT > 20% (Freispruch) ist. In dem Fall, daß es wenig Beweis sowohl für das BT als auch das "'BT gibt, z.B. 70% für das BT und 15% für das "' BT , und die Grauzone beträgt 15%, so wird die Grauzone mit dem Beweiswert des Unschuldsbeweises summiert, d. h. der endgültige Wert ist 30%, was für den Freispruch ausreichend ist. Es muß jedoch beachtet werden. daß der Beweiswert des "' BT nach der Summierung immer noch 15% beträgt Um zu veranschaulichen, wie die Methode teils im Vergleich zu der gegenwärtigen Rechtsprechung wirken könnte und teils an sich funktioniert, wird im nächsten Teil ein schwedischer Rechtsfall, in dem es um eine Verbraucherversicherung geht, analysiert.

I. Beispiel: Verbraucherversicherung, NJA 1984, SOl In diesem Fall hatte A von dem Versicherungsgeber Ersatz wegen eines Autodiebstahls aus einer Kraftfahrzeugversicherung verlangt. Die aktuelle Rechtsfrage ging um die Beweislast und die Höhe des Beweismaßes, mit dem A den Diebstahl beweisen mußte, um sein Recht auf Ersatz zu bekommen. Der Sachverhalt ist folgender: A behauptet, ihm wurde sein Auto gestohlen. Das Auto wurde verbrannt und ohne die Nummernschilder gefunden. A hatte aber Schwierigkeiten, den Diebstahl zu beweisen, weil keine Einbruchsspuren am Auto zu bemerken waren.

Die Versicherungsfirma wendete ein, daß das Auto nur mit dem zum Auto gehörenden Schlüssel, den nur A in seinem Besitz hatte, gestartet

I. Beispiel: Verbraucherversicherung, NJA 1984, 501

253

werden konnte, und demzufolge behauptete die Versicherungsfirma, daß es gar kein Versicherungsfall war, sondern daß A den Fall selbst verursacht hatte. A hat auf einen Polizeibericht hingewiesen, nach dem es sich erwiesen hatte, daß Schlüssel von genau dieser Automarke (Ford) im allgemeinen für andere Autos derselben Marke verwendet werden konnten, was in letzter Zeit zu sehr vielen "Diebstählen ohne Einbruchsspuren" geführt hatte. Diese waren jedoch an einem anderen Ort, als A wohnte, geschehen.

Der schwedische Höchste Gerichtshof, HD, führte bezüglich der Beweislast und des Beweismaßes folgendes an: "Aus allgemeinen prozessualen Grundsätzen kann angesehen werden, daß der Versicherungsnehmer, der das Vorliegen eines Versicherungsfalls geltend machen will, die Beweislast dafür trägt. Bezüglich der Frage, ein wie hohes Beweismaß in Fällen von vorliegender Art an den Versicherungsnehmer gerichtet werden soll, ist folgendes zu beachten. Es ist oft aus natürlichen Ursachen unmöglich, einen vollen Beweis bezüglich eines unzulässigen Wegnehmens und Gebrauchs eines Autos vorzulegen. Deshalb erscheint eine allgemeine Herabsetzung des Beweismaßes geboten. Dabei darf eine Abwägung zwischen miteinander widersprechenden Interessen geschehen. Auf der einen Seite ist es dem loyalen Versicherungsnehmer wichtig, Sicherheit darüber zu erhalten, daß seine Versicherung ihm tatsächlich Schutz in einer Situation von großer finanzieller Bedeutung geben wird. Auf der anderen Seite ist es für die Versicherungsnehmer als Kollektiv bedeutungsvoll, daß die Risikonahme des Versicherungsgebers nicht so groß wird, daß die Prämien allzu hoch werden. Mit besonderer Beachtung des Schutzinteresses soll das Beweismaß so formuliert werden, daß der Versicherungsnehmer seine Beweispflicht erfüllt hat, da es sich unter Berücksichtigung aller Umstände erwiesen hat, daß das Vorliegen eines Versicherungsfalles wahrscheinlicher ist als dessen Nichtvorliegen. Bei der Beurteilung darf beachtet werden, daß der Versicherungsnehmer - der Verbraucher - im allgemeinen bedeutend schlechtere Möglichkeiten als der Versicherungsgeber hat, einen Beweis in Fragen technischer Natur, der bedeutungsvoll für die Wertung seiner Behauptungen ist, vorzulegen. Mängel in der technischen Ausrüstung, denen möglicherweise abgeholfen werden kann, sollen deshalb normalerweise über den Versicherungsgeber reguliert werden." Das HD hat zum einen interessanterweise eine ganz allgemeine Herabsetzung des Beweismaßes wegen der oft großen Schwierigkeiten, das unzulässige Wegnehmen und den unzulässigen Gebrauch eines Autos zu beweisen, begründet. Der Eigentümer befindet sich also schon im allgemeinen in einer Beweisnot, was die Herabsetzung des allgemeinen zivilrechtliehen Beweismaßes begründet hat. Das HD hat jedoch auf diesem Grund nicht sagen wollen/können, um

wieviel das Beweismaß herabgesetzt werden könnte. Bei der Wertung dieser

Herabsetzung hat es zunächst die speziellen Interessen des einzelnen Versicherungsnehmers für wichtig befunden. Andererseits meint das HD, daß es

254

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

von Gewicht ist, daß das Risiko der Versicherungsfirmen nicht allzu groß wird, weil dies zu Lasten aller Versicherungsnehmer gehen würde. Merkwürdig ist, daß das HD dann ferner feststellt, daß bei der Wertung die bedeutend schlechteren Möglichkeiten des Verbrauchers, technische Beweise vorzulegen, zu beachten sind und daß die Mängel in diesem Sinne auf die andere Partei übergehen müssen. Man fragt sich vor allem: bei der Wertung von was? Bei der Wertung des Schutzinteresses, des Beweismaßes, oder vielleicht bei der Wertung der Möglichkeiten des Verbrauchers, diesen Grad zu erreichen? Man hat namentlich aus dem Wortlaut die Auffassung entnommen, daß schon das Schutzinteresse die Anwendung des Überwiegensprinzips begründet hat. Es scheint aber vielmehr so zu sein, daß hier dem Versicherungsgeber eine Last zugeschoben worden ist, nämlich dem Gericht einen konkreten (technischen) Beweis vorzulegen. Dies ist in der Tat merkwürdig, falls damit gemeint ist, daß der Versicherungsgeber einen Beweis über das Vorliegen der Einbruchsspuren vorbringen müßte, was natürlich bedeutet, daß er, falls er das nicht kann, den Fall verlieren würde. Das Fehlen eines solchen Beweises bedeutet jedenfalls das Vorhandensein einer Grauzone. In normalen Fällen bedeutet die Beweislast, daß eine eventuelle Grauzone zugunsten der anderen Partei zugerechnet wird. Hier hat das HD jedoch wenn auch unklar - gesagt, daß der Versicherungsgeber durch die Grauzone nicht begünstigt werden soll. Obwohl das HD mit der Beweislast des Versicherungsnehmers laboriert und etwas anderes wenigstens nicht ausdrücklich gesagt hat, müßte man annehmen, daß hier nicht nur eine Herabsetzung des Beweismaßes, sondern eine situative Nichtberücksichtigung der sonst geltenden Beweislastregel durch die Nichtberücksichtigung der Grauzone geschehen ist. Das HD hat wohl auch gemeint, daß der Versicherungsgeber mittels eines technischen Beweises hätte dartun müssen, daß ein unzulässiges Wegnehmen ohne Einbruchsspuren im allgemeinen oder aber in dem konkreten Fall unmöglich ist. Damit wird aber die Beweislast in der Tat gewissermaßen umgekehrt. Darüber hinaus konstatiert das HD, daß es möglich sei, den Mängeln adäquat abzuhelfen, dies geschieht aber, speziell im Hinblick auf den Polizeibericht, ohne jede Begründung. Die Theorie des rationalen Beweismaßes besagt, daß die Disutilitäten im Lichte jedes bedeutungsvollen Arguments separat beurteilt werden müßten. Dies würde in diesem Fall folgendes bedeuten: Die allgemeine Wahrscheinlichkeit in diesem Fall besteht aus der Information des Polizeiberichts, nach dem es möglich und wahrscheinlich ist, daß das Auto gestohlen worden ist, da es zu dem Fabrikat gehört, das in der letzteren Zeit ohne Einbruchspuren gestohlenen wurde, weil das Auto

I. Beispiel: Verbraucherversicherung, NJA 1984, 501

255

mit einem zu anderen Autos gehörenden Schlüsseln, gestartet werden kann. Im Lichte der Ursprungswahrscheinlichkeit wäre es deshalb schädlicher, eine fehlerhafte, die Klage abweisende Entscheidung zu treffen, als eine fehlerhafte, der Klage stattgebende Entscheidung zu fällen. Dies bedeutet, daß die Disutilität eines eventuell fehlerhaften, der Klage stattgebenden Urteils eine geringere ist als die Disutilität eines die Klage abweisenden Urteils, also Di < Dg. Dann wird das Beweismaß im Hinblick auf dieses Arguments< 50%, was eine Beweislastumkehr bedeutet. Die allgemeinen und speziellen Möglichkeiten der Parteien, Beweise schon vorher sicherzustellen und diese in dem konkreten Verfahren dem Gericht vorzulegen, werden miteinander verglichen. Die Schwierigkeiten des Eigentümers, ein unzulässiges Wegnehmen und unzulässigen Gebrauch zu beweisen, werden mit der Möglichkeiten bzw. den Schwierigkeiten der anderen Partei verglichen, einen Beweis dafür anzuführen, daß der Versicherungsnehmer selbst den behaupteten Versicherungsfall verursacht hat. Gehen wir von der Beurteilung des HD aus, so ist es für den Versicherungsgeber (in diesem Fall durch den technischen Beweis) leichter zu beweisen, daß ein Versicherungsfall nicht vorliegt. Es folgt, daß die Disutilität eines eventuell fehlerhaften, die Klage abweisenden Urteils im Lichte der Beweismöglichkeiten größer ist als die Disutilität des eventuell fehlerhaften, der Klage stattgebenden Urteils, d. h. Dg > Di. Dann wird das Beweismaß für das BT (das Vorliegen des Versicherungsfalles) < 50%. Der allgemeine Normzweck ist in diesem Fall der Schutz des Verbrauchers, der darauf vertrauen können müsse, daß die Versicherung ihm den Schutz gibt, für den er bezahlt hat. Der Risikonehmer ist in dieser Hinsicht natürlich der Versicherungsgeber. Demzufolge ist auch hier Dg > Di, und das Beweismaß < 50%. Was die finanziellen Risiken anbelangt, so müßte klar sein, daß der Versicherungsgeber bessere Möglichkeiten hat, die Konsequenzen eines eventuell fehlerhaften, der Klage stattgebenden Urteils zu tragen: auch im Licht dieses Arguments ist also Dg > Di. Das Beachten der kollektiven sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen bei einer Beweislastumkehr ist wegen des präjudizierenden Effekts der HO-Entscheidungen wohlbegründet Es ist ein Contra-Argument zur Beweislastumkehr, was hier im Licht der konkreten Umstände begründet zu sein scheint. Dieses Argument spricht aber gegen eine Beweislastumkehr und bedeutet, daß Dg < Di ist. Obwohl es also sinnvoll ist, unter Berücksichtigung des einzelnen Falles die Beweislast umzukehren, müßte vor allem das höchste Gericht die weiteren Konsequenzen berücksichtigen. Wir müssen jedoch bedenken, daß, obwohl das HD auf die Beweislastumkehr verzichtet zu haben scheint, solch eine Beweislastumkehr, wie oben darge-

256

7. Kap.: Allgemeine Entscheidungstheorie und Beweismaß

legt wurde, hier konkret geschehen ist. Das bedeutet nach der Theorie, daß den konkreten Umständen mehr Gewicht gegeben wurde als den eher allgemeinen Konsequenzen. Unter Berücksichtigung der traditionellen Beweislastlehre ist der Fall so zu verstehen, daß der Versicherungsgeber die Beweislast dafür trägt, daß ein Versicherungsfall nicht vorliegt. Nach der hier verteidigten Theorie ist dies jedoch nicht der Fall. Die Methode gibt ein rationales Beweismaß sowohl für das BT als auch für das "' BT an. Wir sehen, daß es im Lichte aller Argumente sinnvoll ist, das Beweismaß für das BT als < 50% zu werten. Auf die Gewichtung der Argumente wird hier nicht näher eingegangen; das würde eben nicht die Richtung des Beweismaßes ändern, jedoch dabei helfen, das Beweismaß zu konkretisieren, d. h. um wieviel unter 50% es liegt. Unter Berücksichtigung der Beweiswerte und der Beweismaße ist es sinnvoller, der Klage stattzugeben, als sie abzuweisen. In diesem Fall gab es wenig Beweisfakten sowohl für das Vorhandensein des behaupteten Versicherungsfalles (z. B. eine Parteienaussage, nach der A sein Auto am vorhergehenden Abend auf dem Parkplatz abgestellt hat und den Schlüssel in seinem Besitz hatte, zudem eine ähnliche Aussage der Frau des A) als auch Beweisfakten gegen das Vorhandensein des behaupteten Versicherungsfalles (keine Einbruchsspuren). Sicher war nur, daß das Auto - völlig zerstört - iD einem Wald gefunden wurde. Das HD hat der Klage stattgegeben, und zwar vor allem mit der Begründung, daß der Polizeibericht als direkter Beweis für den Diebstahl in diesem konkreten Fall angewendet werden kann. Dabei muß aber beachtet werden, daß dieser Bericht nur von der allgemeinen Wahrscheinlichkeit, aber nichts von dem Geschehnisablauf in diesem konkreten Fall berichtet. Man kann sich fragen, ob es viel mehr so war, daß die allgemeine Wahrscheinlichkeit zusammen mit dem Schutzinteresse es begründeten, daß die Versicherungsfirma das Risiko tragen müsse. Wir sehen, daß die Anwendung der Methode zu demselben Resultat führt wie die Beweiswürdigung und das Argumentieren des HO .. Die Theorie und das Verwenden der Methode machen aber die Entscheidung eher verständlich, weil sie tatsächlich begründen, warum es sinnvoll ist, das Beweismaß für das Vorliegen des Versicherungsfalles herabzusetzen und warum es ferner sinnvoll ist, trotz einer großen Grauzone und trotzdem die Beweiswerte für das BT bzw. "' BT nicht ausreichend sind, der Klage stattzugeben.

Kapitel VIII

Zusammenfassung Die Normeri der Beweislast und des Beweismaßes spielen bei der Tatsachentindung und Urteilsbildung des Gerichtes eine äußerst bedeutsame Rolle. Ihre Wirkung ist nicht nur für die Lösung einzelner Rechtsfälle erheblich, sondern auch für das effektive Funktionieren und die Wirkung der Normen im allgemeinen. Die praktische Funktion und die Bedeutung dieser Normen zeigt sich deutlich, wenn die sich aus der Beweisfrage ergebende Unsicherheit diskutiert werden muß und wird, Die Unsicherheit verursacht ein lrrtumsrisiko, zu dem das Beweismaß eine Stellungnahme ist. Die Beweislastnormen ihrerseits haben eine funktionale Verbindung mit den Beweismaßnormen. Die Unsicherheit beruht am häufigsten auf der Mangelhaftigkeit der dem Gericht zur Verfügung stehenden Information. Diese die Information belastenden Mängel sind vom Gericht unabhängige Faktoren. Es ist jedoch die Verpflichtung eines Gerichts, diese Faktoren zu beachten und vor allem ihre Konsequenzen anzuerkennen. Es ist deshalb insbesondere wichtig, daß Gerichte sich kritisch gegen sich selbst und ihre eigene Beweiswürdigung stellen. In normativen Zusammenhängen geht es aber außer um bloße Fakten auch um normative Wertungen, die mit den Fakten manchmal untrennbar verflochten sind. Dies bedeutet, daß auch die materielle Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit wenigstens teilweise eine Auslegungsfrage ist. Die Stellungnahme zu der Frage, ein wie großes Risiko eines eventuell fehlerhaften Urteils in einzelnen Fällen akzeptiert werden kann, müßte unter Berücksichtigung der Konsequenzen solcher Urteile bewertet werden. Diese Konsequenzen sind Negationen der erwünschten Wirkungen materiell richtiger Urteile. Man strebt nach materiell und rechtlich richtigen Urteilen, weil solche Urteile im einzelnen Fall die Forderung der Rationalität erfüllen. In dieser Arbeit habe ich nachzuweisen versucht, daß eine rationale Verhaltensweise auch bezüglich des Risikos materiell fehlerhafter Urteile beibehalten werden kann und muß. Die in der Gegenwart angewandten Beweismaßnormen und ihre zugrundeliegenden Auslegungen gehen von einem gemeinsamen und allgemeinen Beweismaß aus. Diese Annahme wird u. a. mit der Stütze des Gleichbe17 Gräns

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8. Kap.: Zusammenfassung

handlungsprinzips, der Voraussehbarkeit und der Rechtssicherheit begründet. Es hat sich jedoch erwiesen, daß die Anwendung der in der Rechtsanwendung auch auf anderen Gebieten praktizierten sprachlichen Auslegungen darüber, was der Inhalt der Beweismaßnormen konkret sein soll, nicht diese Erfordernisse hat erfüllen können. Die in der Doktrin und Praxis angewandten Definitionen werden von verschiedenen Personen sehr unterschiedlich verstanden und angewandt. Es gibt Unterschiede zwischen einzelnen Richtern, Schöffen und Geschworenen, und zwar nicht nur in einzelnen Fällen, sondern auch in verschiedenen Falltypen. Man ist deshalb gezwungen gewesen anzuerkennen, daß die in der Gegenwart angewandten Beweismaße subjektiv-kognitiv und elastisch in der Praxis sind. Dies bedeutet aber auch, daß es mißlungen ist, durch die traditionelle Normenauslegung und ihre Methoden das Verständnis und die Anwendung dieser Normen zu beherrschen und zu steuern. Die Beweismaßnormen geben den erforderlichen Grad der Sicherheit an, daß eine Tatsache als bewiesen akzeptiert werden kann. Sie weisen einerseits auf die subjektive Überzeugung eines Richters hin. Andererseits wird aber verlangt, daß der Beweiswert des Beweises ausreichend sein muß. Es ist dann möglich, intuitiv überzeugt zu sein, ohne daß der Beweiswert des gesamten Beweises als Entscheidungsgrund im rechtlichen Sinne ausreichen würde. Gebt maA von einer zu intuitiven BeweiswürdigUDg aus, besteht die Gefahr, daß die Grenzen zwischen den zwei Aspekten des Beweismaßes verwischt werden. Die Diskussion über das Beweismaß besonders in den USA und Deutschland zeigen das deutlich. Der Bedeutungsinhalt von Beweismaßnormen ist eine an sich strittige Frage. Dies beruht hauptsächlich darauf, daß man die oben genannte Zweiteilung nicht beachtet hat. Man spricht von dem subjektiven und objektiven Aspekt des Beweismaßes, ohne es theoretisch richtig definieren zu können, was diese Aspekte sind. Daraus folgt, daß es sehr schwer zu sagen ist, was auch in der Praxis eigentlich der Unterschied ist. Diese Situation ist sehr unbefriedigend, weil gerade das Beweismaß die wichtigste Stellungnahme hinsichtlich des Risikos materiell fehlerhafter Urteile und ihre Wirkungen ist. Das subjektiv-kognitive Beweismaß ist insbesondere im Hinblick auf dessen eigentliche Bedeutung als Stellungnahme zu der akzeptablen Fehlermarge in einzelnen Fällen untauglich. Es berücksichtigt die Wirkungen der Unsicherheit gar nicht oder wenigstens ohne irgendeine rationale Analyse. Zwar, wie sonst in der Normenauslegung, geht es auch hier um verschiedene Argumente und ihr Gewicht im Verhältnis zueinander. Die auf der traditionellen Auslegungsweise beruhende Gewichtung durch Argumentation ist bezüglich des Beweismaßes zu undifferenziert und kann das subjektiv-kognitive Beweismaß nicht ausreichend explizieren. Um die Gewich-

8. Kap.: Zusammenfassung

259

tung auf eine rationale Weise durchführen zu können, wird hier eine Methode verwendet, die diese Gewichtungen explizit macht. Die hier diskutierte entscheidungstheoretische Methode gibt dem Entscheidenden eine Möglichkeit, sowohl relevante Argumente als auch ihre Bedeutung und ihr Gewicht explizit zu handhaben. Sie berücksichtigt die eventuellen Konsequenzen der Unsicherheit und des sich daraus ergebenden Risikos. Sie beachtet darüber hinaus, daß das Urteil in beiden Richtungen fehlerhaft sein kann. Es wird demzufolge z. B. offen anerkannt, daß auch fehlerhafte Freisprüche negative Konsequenzen haben, was bei der Herleitung des Beweismaßes beachtet werden muß. Die Methode gibt auch die Möglichkeit, auf eine rationale Weise über die Unterschiede und Besonderheiten der verschiedenen Falltypen und Normen bzw. Normbereiche im Hinblick auf Argumente zu diskutieren. Auch hier verdeutlicht diese Methode explizit die schon in der gegenwärtigen Praxis angewandten elastischen Beweismaße. Sie veranschaulicht die Tatsache, daß die Beweismaße z. B. in verschiedenen Typen von Schadensersatzfällen oder verschiedenen Straftaten und/oder Straftatgraden in der Tat unterschiedlich sind. Gleichzeitig erklärt sie, warum die Praxis sich hier - obwohl nicht bewußt - eigentlich ganz rational verhalten hat. Dadurch weist sie auch einen Weg, der von der Selbsttäuschung wegführt, daß ein elastisches Beweismaß irgendwie unakzeptabel sei, weil es nicht rational gerechtfertigt werden könne. Eine solche Selbsttäuschung verhindert aber jede vernünftige Diskussion über die Rechtaogemessenheit bzw. Rechtswidrigkeit eines elastischen Beweismaßes. Die Methode berücksichtigt, daß die Beweislastnormen und das Beweismaß notwendigerweise in einer funktionellen Verbindung miteinander stehen. Sie versucht, unnötige Beweislastentscheidungen zu verhindern, weil sie nicht von dem vorgebrachten Beweis absieht. Dadurch wird auch die Tatsache klar, daß es bei den Verfahren vor allem nicht nur um die Überzeugung der Richter oder Schöffen und Geschworenen geht, sondern vielmehr um die einzelnen Parteien und ihre Rechte und Verpflichtungen. Sie bietet die Möglichkeit, die Funktionen eines einzelnen Verfahrens und der Rechtsanwendung im allgemeinen in jedem einzelnen Fall zu berücksichtigen. Die Methode begünstigt weder die eine noch die andere Partei durch unelastische und einseitige Beweislastregeln, was heutzutage in den Zivilfällen der Fall ist. Dagegen berücksichtigt sie die konkreten Umstände des Einzelfalles, weil sie davon ausgeht, daß es kaum miteinander identische Beweissituationen geben kann und daß z. B. der Steuerungsbedarf bezüglich verschiedener Normen unterschiedlich ist. Diese Methode berücksichtigt also nicht nur die einzelnen Parteien, ihre Beweismöglichkeiten und die Tragfähigkeit des sozialen Risikos der jeweiligen Parteien, sondern auch 17*

260

8. Kap.: Zusammenfassung

die allgemeine Verwirklichung der Normzwecke, was eine besondere Bedeutung für das Funktionieren der Rechtsordnung im ganzen hat. Die Anwendung der Methode gründet sich auf exakte Formeln, die den logisch-methodologischen Grund der Theorie explizit machen. Eine denkbare Kritik gegen die Anwendung solcher Formeln ist, daß sie irgendwie zur Folge hätten, die Richter in der Weise zu beeinflussen, daß sie ihre Entscheidungen nicht mehr selbst kontrollieren können, weil statt der einzelnen Entscheidenden die Formeln die Entscheidungen produzieren. Dies ist aber eine Vermutung, die sowohl eine empirische als auch eine theoretische Begründung verfehlt. Die Methode beabsichtigt, dem Richter dabei zu helfen, über die bedeutungsvollen Argumente auf eine rationale Weise zu diskutieren und die Rationalität der eigenen Entscheidungsarbeit zu kontrollieren. Es ist nicht so, daß die Formeln den Richter kontrollieren sollen, sondern daß der Richter sich selbst mit Hilfe der Formeln kontrollieren soll. Die Formeln führen nicht zur Objektivität der Urteile, sondern zu kontrollierter Subjektivität. Sie geben die Möglichkeit, anstelle von Intuition und Holistik, den Beweisstoff diskursiv zu analysieren- zudem ermöglichen es diese Formeln, statt eines völlig subjektiv-kognitiven Beweismaßes ein sowohl die Wahrheit als auch das Recht beachtendes rationales Beweismaß herauszuarbeiten. Ferner: in verschiedensten Gebieten der Wissenschaft gibt es exakte Formelll, deren Reehtferti@ung nidtt d8duft:ll in Frage . gestellt wird oder werden kann, daß Praktiker sich oft mit viel gröberen Messungen begnügen. Andererseits besteht bei einigen vielleicht die Meinung, daß die Anwendung dieser Methode wegen genau dieser Formeln schwierig sein kann. Man soll derartige Schwierigkeiten jedoch nicht überschätzen. Die Formeln beabsichtigen vor allem, den Richter bei der selbstkritischen Prüfung der eigenen Rationalität zu helfen. Dies setzt jedoch voraus, daß es eine wissenschaftlich und vor allem entscheidungstheoretisch solide Grundlage gibt, die die Zuordnung der verschiedenen Elemente bei der Beschlußfassung in ein konsequentes und rationelles Schema ermöglicht. Es ist wünschenswert, daß die Anwendung der Methode eine Änderung auch in der Begründungspraxis der Beweismaßwertungen mit sich brächte. Wird nur die kognitiv-subjektive Wertungsweise angewandt, so folgt daraus, daß man die als untauglich erwiesenen Definitionen anwendet, was sowohl die Beschlußfasser als auch die Parteien und auch andere- z.B. die Rechtswissenschaft - darin täuschen kann, daß es tatsächlich die Praxis und geltendes Recht ist, daß feste Beweismaße angewandt werden und daß es sogar sinnvoll sei, dies zu tun. Es ist zwar so, daß es sinnvoll sein kann, ein herabgesetztes Beweismaß anzuwenden und/oder die Beweislast umzukehren, doch müssen solche Entscheidungen dann rational begründet werden. Wird das Beweismaß z. B. bei speziellen Straftattypen herabge-

8. Kap.: Zusammenfassung

261

setzt, müßten die rationalen Ursachen dafür explizit gemacht werden, anstatt daß man sein eigenes intuitives Beweismaß herabsetzt und dann behauptet, es sei das allgemeine sehr hohe Beweismaß angewandt worden, wofür jedoch der Beweiswert des vorgebrachten Beweises kaum ausreichend sein kann. Die Stellungnahme zu der akzeptablen Fehlermarge in einzelnen Beschlußsituationen ist bedeutungsvoll im Hinblick auf die Zwecke und Funktionen der gerichtlichen Rechtsanwendung, die Konjliktlösung, die Straftataufklärung in Einzelfällen, die effektive Durchsetzung der materiellrechtlichen Normzwecke, z. B. das Verhindem und die Kontrolle der Kriminalität, und schließlich auch im Hinblick auf den sog. handlungsdirigierenden Effekt des Zivilrechts. Fehlerhafte Urteile werden in der Praxis gefällt, sie können auch nicht völlig vermieden werden. Es ist aber meine Absicht gewesen, zu beweisen, daß die Beschlußrationalität, trotz der Unsicherheit darüber, inwieweit die Urteile materiell richtig oder fehlerhaft sind, gewährleistet werden kann.

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Sachwortverzeichnis Abschreckungseffekt 59, 64 f. additive Mengenfunktion 142 Additionsprinzip 143 Additionsregel 150 adversary system 75, 97, 104 Anastasia-Entscheidung 169 ff., 173 Anscheinsbeweis 80 aposteriori Wahrscheinlichkeit 148 apriori Wahrscheinlichkeit 144, 149, 155, 161 Argumentationstheorie 29 Auditorium 29, 31 Basissätze 37 Bayes Theorem 134, 147 ff., 160, 212, 217, 227, 251 behaviour modification model 62, 68 Beobachtungssätze 37 Beweiskette 107, 150 f. Beweismechanismus 24, 119, 124, 131, 133, 158 Beweisregel 21, 160, 162, 170, 172 Beweiswertmethode 27, 146 f., 160 f. Causa efficiens 124 dass action 68-71, 80, 84 clearly erroneus test 106 conjlict resolution model 62, 68 crime control model 50 f., 60 Denkgesetze 33, 139, 172, 179 directed verdict 233 Diskursrationalität 29, 31, 39 Dispositionsprinzip 46 double jeopardy clause 254 f. 18 Gräns

Drittkontrollmodell 181 due process 51, 53, 109 Eliminierungsmethode 151, 154, 204 f. empirische Wahrscheinlichkeit 136 Empirismus 36, 38 Erwartungswert, 137, 212-223 externe Rechtfertigung 28 Falsifikation 34 f. Fehlermarge 61, 87, 258 Fehlerquelle 45, 99 f., 114, 209 formale Wahrscheinlichkeit 98 ff., 107 frequentistische Wahrscheinlichkeit 135, 138, 158 f. Frequenztheorie 136 f. Gegenbeweis 82, 154 ff., 213, 222 f., 231, 252 Gegenbeweisthema 144, 146, 167 Gegensatzbeweis 156 Gewichtungskoeffizient 249 f. Grauzone 81, 91, 145-161, 209, 213, 250 ff. Grenzwert 136 Hand1ungsdirigierung 62-74, 77 f., 83 ff., 201 f., 261 harmless error 115 Hauptbeweis 82, 154 f. , 209, 213, 222 f., 230f. Indizienbeweis 99, 119 in dubio mitius 207 in dubio pro reo 59, 91, 145, 156, 207, 209,222,229

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Sachwortverzeichnis

Induktive Schlußfolgerung 29, 123, 134 ff., 142 Intersubjektivität 25, 36 f., 117 interne Rechtfertigung 28 Kausalität 80, 124, 126, 149, 157, 196 Kettenbeweis 150 Kohärenztheorie 43 komparative Wahrscheinlichkeit 140 f., 159 Konsensustheorie 29, 44, 47 Kontradiktionsbeweis 146, 154, 161 Kontradiktionsformel 155 Korrespondenztheorie 36, 43, 45 Logische Rationalität 28 long run frequenz 136 mathematische Wahrscheinlichkeit 142, 173 Mengentheorie 142 Monismus 37 Multiplikationsprinzip 143, 150 Negationsregel 146, 148 objektive Wahrscheinlichkeit 136 ff. Objektivitätskontrolle 181 Paradigma 30, 32 plain error 69, 71, 73, 115 Positivismus 38, 40

Pragmatische Wahrheitstheorie 44, 47, 89 public law Iitigation 69, 71, 73 Reduzierbarkeit 229, 37 ff., 45 reduktionistisch Betrachtungsweise 40 relevancy test 54, 121, 125 Reziprokität 249 Sanktionstheorie 62-65, 194 f. Sonderfallthese 30 spill over effect 98, 239, 240 Substitutionseffekt 94 Überwiegensprinzip 76, 81, 83, 177 f., 198 f., 202 f., 206, 213, 224, 226, 232 Ursprungswahrscheinlichkeit 26, 143, 147 ff., 255 Verifikation 35 ff. Wechselwirkung 18 Wettentheorie 159 Wiederaufnahmeverfahren 112 f., 123 Zeugenaussage 33, 41, 99-104 Zeugenbeweis 112, 126 f., 130, 132, 149, 152 ff., 241 Zeugenpsychologie 98, 100, 130, 153 Zonentheorie 203, 207