Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold: Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik 3515124675, 9783515124676

Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold wurde 1924 auf überparteilicher Basis als Veteranen- und Wehrverband gegründet. Es fan

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Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold: Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik
 3515124675, 9783515124676

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
I. EIN KOLOSS AUF TÖNERNEN FÜSSEN? DAS REICHSBANNER IM POLITISCHEN SYSTEM DER WEIMARER REPUBLIK
1. „WEHRLOS“? DAS REICHSBANNER ALS INSTITUTION DER WEHRHAFTEN DEMOKRATIE
2. „ROT“? DAS REICHSBANNER ALS ÜBERPARTEILICHES MASSENBÜNDNIS
3. „DEMOKRATIEGEFÄHRDEND“? DAS REICHSBANNER ALS STAATSTRAGENDE GEWALTORGANISATION
4. DER WEITERE ARBEITSAUFBAU
II. „FÜR FREIHEIT UND VATERLAND!“. DIE GRÜNDUNGSPHASE DER REPUBLIKANISCHEN BEWEGUNG (1919–1924)
1. VOM REGIMENT REICHSTAG ZUM REPUBLIKANISCHEN FÜHRERBUND. ANSÄTZE EINER REPUBLIKANISCHEN GEWALTKULTUR
2. DER REPUBLIKANISCHE REICHSBUND. ANSÄTZE EINER REPUBLIKANISCHEN ZIVILKULTUR
3. REPUBLIKANISCHE NOTWEHR. DAS KONZEPT EINER REPUBLIKANISCHEN HILFSPOLIZEI
4. NATIONALREPUBLIKANISMUS. GRÜNDUNGSERFOLG DES REICHSBANNERS UND GEISTIGE GRUNDLAGE DER REPUBLIKANISCHEN BEWEGUNG
5. DAS REICHSBANNER ZWISCHEN REPUBLIKANISCHER GEWALT- UND ZIVILKULTUR
III. WEHRHAFTE DEMOKRATEN. DIE ETABLIERUNG DES REICHSBANNERS IN ZEITEN DES BÜRGERBLOCKS (1924–1928)
1. SYMBOLFRAGEN SIND MACHTFRAGEN. VERSUCHE SYMBOLISCHER INTEGRATION UNTER SCHWARZ-ROT-GOLD
2. PREUß’ENS ERBEN. DIE ÜBERPARTEILICHE ARBEIT DES REICHSBUNDES
3. SI VIS PACEM, PARA PACEM. DAS REICHSBANNER ZWISCHEN WEHRHAFTEM LIBERALISMUS UND PAZIFISTISCHEM ANSPRUCH
4. REPUBLIKSCHUTZ PRIVAT. AKTIVITÄTEN UND GRENZEN DER REICHSBANNERARBEIT
5. SCHUTZTRUPPEN DER REPUBLIK. DAS SICHERHEITSKONZEPT DES REICHSBANNERS
6. DIE JÜDISCHE BETEILIGUNG IM REICHSBANNER UND DIE ANTISEMITISCHE REAKTION DER REPUBLIKFEINDE
7. DER INNERE FEIND. DIE NICHT-TÖDLICHE POLITISCHE GEWALT
8. MÄRTYRER DER REPUBLIK. DIE TÖDLICHE POLITISCHE GEWALT
9. EIN GESPALTENES MILIEU. DAS REICHSBANNER UND DIE ARBEITERPARTEIEN
10. DAS REICHSBANNER UM 1928
IV. DIE REPUBLIKANISCHE FRONT. INNERE KONFLIKTE UND DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM NATIONALSOZIALISMUS (JUNI 1928 – JUNI 1932)
1. STAATSBÜRGER IN UNIFORM. DAS REICHSBANNER IN ZEITEN DER GROßEN KOALITION
2. VERSKLAVUNG ODER FREIHEIT? GRENZEN UND ERFOLGE DER ARBEIT DES REICHSBUNDES
3. DIE GRÜNHEMDEN. EINE MILITARISIERUNG DES REICHSBANNERS?
4. AUSSERPARLAMENTARISCHE VERSUCHE EINER REPUBLIKANISCHEN SICHERHEITSPOLITIK
5. DAS WAHRE GESICHT DES (UN)DEUTSCHEN FASCHISMUS. DIE PUBLIZISTISCHE KONFRONTATION MIT DEM NATIONALSOZIALISMUS
6. GRÜNDUNG, PROBLEME UND LEISTUNGEN DER EISERNEN FRONT
7. HINDENBURGS VERRAT. DIE DROHUNG DES REICHSBANNER-VERBOTS UND DAS ENDE DES BRÜNING-KABINETTS
8. CHANCEN EINER ANTIFASCHISTISCHEN, ROTEN EINHEITSFRONT
9. BÜRGERKRIEG? DIE ESKALATION DER POLITISCHEN GEWALT ZWISCHEN REICHSBANNER UND SA
10. DAS REICHSBANNER UM 1932
V. „UNSERE TREUE WARD UNS ZUM LEICHENTUCH“. DIE ZERSCHLAGUNG DER REPUBLIK UND VERTANE CHANCEN (JULI 1932 – AUGUST 1933)
1. „EISERN DIE FRONT, TROTZ ALLEM!“ DAS REICHSBANNER IM SOMMER 1932
2. ARBEIT ODER UNTERGANG. DIE SPALTUNG DES REICHSBANNERS ÜBER DIE FRAGE DER ARBEITSBESCHAFFUNG
3. AUTORITÄRE DEMOKRATIE? DAS REICHSBANNER ZWISCHEN SCHLEICHER UND DER SPD
4. DIE MACHTERGREIFUNG. LETZTE REPUBLIKANISCHE AKTIONEN UND DIE WEITERE ESKALATION DER GEWALT
5. DAS REICHSBANNER IM WIDERSTAND 1933–45
VI. ECHOS DER KAMPFZEIT. DAS REICHSBANNER UND DIE WEHRHAFTE DEMOKRATIE NACH 1945
Antifaschismus oder wehrhafte Demokratie: Reichsbannerbiographien in DDR und BRD
Sozialdemokratisch oder überparteilich: Zum Verhältnis von Geschichts- und Parteipolitik
Täter oder Opfer: Politische Gewalt im Einsatz für die Demokratie
VII. ANHANG, QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
DOKUMENTENANHANG
STATISTIKANHANG
QUELLENVERZEICHNIS
ZEITGENÖSSISCHE ZEITUNGEN UND LEXIKA
LITERATUR VOR 1945
LITERATUR NACH 1945 UND QUELLENEDITIONEN
Register
NACHWORT

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Sebastian Elsbach

Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik

Weimarer Schriften zur Republik

Franz Steiner Verlag

10

weimarer schriften zur republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner Prof. Dr. Alexander Gallus Prof. Dr. Kathrin Groh Prof. Dr. Christoph Gusy Prof. Dr. Marcus Llanque Prof. Dr. Walter Mühlhausen Band 10

Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik Sebastian Elsbach

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. Die redaktionellen Arbeiten wurden unterstützt von der Axel Springer Stiftung, Berlin.

Umschlagabbildung: Kuhn, Willi (Hg.): Reichsbanner-Marsch-Album, 1. Flöte, Reichsbanner-Verlag, Berlin o.J. [um 1925] © Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold [1925] Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12467-6 (Print) ISBN 978-3-515-12472-0 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS I. EIN KOLOSS AUF TÖNERNEN FÜSSEN? DAS REICHSBANNER IM POLITISCHEN SYSTEM DER WEIMARER REPUBLIK ......................... 15 1. „Wehrlos“? Das Reichsbanner als Institution der wehrhaften Demokratie ............................................................................................. Weimar als wehrhafte Demokratie ........................................................ Republikanische Zivil- und Gewaltkultur .............................................. Stand der Reichsbannerforschung und Quellenbasis ............................. 2. „Rot“? Das Reichsbanner als überparteiliches Massenbündnis ................. These vom „sozialdemokratischen“ Reichsbanner ................................ Sonderbewusstsein und organisatorisches Eigengewicht ...................... 3. „Demokratiegefährdend“? Das Reichsbanner als staatstragende Gewaltorganisation ................................................................................ Demokratie- oder Staatsschutz? ............................................................. Zwei Ebenen des Gewalthandelns ......................................................... Widerstand gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus ................ 4. Der weitere Arbeitsaufbau .........................................................................

16 17 23 27 31 31 36 41 42 45 49 52

II. „FÜR FREIHEIT UND VATERLAND!“. DIE GRÜNDUNGSPHASE DER REPUBLIKANISCHEN BEWEGUNG (1919–1924) ......................... 55 1. Vom Regiment Reichstag zum Republikanischen Führerbund. Ansätze einer republikanischen Gewaltkultur ..................................................... Republikanische Truppen in der Revolution 1918/19 ........................... Organisation einer republikanischen Heerespolitik ............................... Widerstand gegen Kapp, Lüttwitz und andere Putschisten.................... Der Führerbund als Keimzelle der Reichsbanneridee............................ 2. Der Republikanische Reichsbund. Ansätze einer republikanischen Zivilkultur .............................................................................................. Vom militärischen Führer- zum zivilen Reichsbund ............................. Erweiterung der organisatorischen Reichweite...................................... Hindernisse republikanischer Zivilkultur............................................... Erzwungene physische Wehrhaftigkeit .................................................. 3. Republikanische Notwehr. Das Konzept einer republikanischen Hilfspolizei ............................................................................................. Polizei oder Militär zur Aufstandsbekämpfung? ................................... Reichsexekutionen gegen Sachsen, Thüringen – und Bayern?.............. Severings Kampf um das Gewaltmonopol............................................. Severings Widerstand gegen die Reichsbannergründung ...................... 4. Nationalrepublikanismus. Gründungserfolg des Reichsbanners und geistige Grundlage der republikanischen Bewegung ............................. Organisatorische Aspekte der Gründung ...............................................

59 62 67 70 77 80 80 83 87 92 96 98 102 105 110 114 115

6

Inhaltsverzeichnis

Das nationalrepublikanische Bindeglied ................................................ Verhinderte organisatorische Zusammenführung .................................. „Volkgemeinschaft aller Republikaner“ ................................................ 5. Das Reichsbanner zwischen republikanischer Gewalt- und Zivilkultur ....

121 126 128 134

III. WEHRHAFTE DEMOKRATEN. DIE ETABLIERUNG DES REICHSBANNERS IN ZEITEN DES BÜRGERBLOCKS (1924–1928) ... 139 1. Symbolfragen sind Machtfragen. Versuche symbolischer Integration unter Schwarz-Rot-Gold ........................................................................ Verfassungsfeiern ohne Verfassungsminister? ...................................... Schwarz-weiß-roter Gegendruck in Ländern und Reich........................ Schwarz-rot-goldener Kampf um Hindenburg ...................................... Im Flaggenstreit mit der DNVP und Hindenburg .................................. Mobilisierungserfolg Fürstenenteignung ............................................... 2. Preuß’ens Erben. Die überparteiliche Arbeit des Reichsbundes ................ Eigenständigkeit als „geistiges Reichsbanner“ ...................................... Föderalismusdebatten zwischen „Einheitsstaat“ und „organischem Prinzip“........................................................................................ Dualismus Preußen-Reich als „Lebensfrage“ der Republik .................. Republikanische Reformvorschläge zur politischen Polizei .................. Institutionalisierung des Austauschs in Demokratischen Klubs ............ 3. Si vis pacem, para pacem. Das Reichsbanner zwischen wehrhaftem Liberalismus und pazifistischem Anspruch ........................................... Reichsbanner und DDP – alltägliche Reibereien ................................... Das Engagement der DFG-Führung ...................................................... Der fruchtlose Streit mit den Radikalpazifisten ..................................... 4. Republikschutz Privat. Aktivitäten und Grenzen der Reichsbannerarbeit . Anweisungen für die Wahlkampfarbeit ................................................. Das Reichsbanner im Reichstagswahlkampf ......................................... Zivilkulturelle Aspekte des Republikschutzes ....................................... Fall Hörsing I: Kritik an der DNVP und Grzesinski .............................. Reichsbanner und Republikanische Beschwerdestelle .......................... 5. Schutztruppen der Republik. Das Sicherheitskonzept des Reichsbanners. Die britische Sicht auf die Wehrverbände ............................................. Severing und Schleicher gegen die Reichsbanner-Hilfspolizei ............. Um die Republikanisierung der Reichswehr ......................................... 6. Die jüdische Beteiligung im Reichsbanner und die antisemitische Reaktion der Republikfeinde ................................................................. Antisemitismus vom Kaiserreich zur Weimarer Republik .................... Das Reichsbanner als „Judenschutztruppe“? ......................................... Der „jüdisch, pazifistische Landesverrat“ des Reichsbanners ............... Gegenreaktionen: Anti-Antisemitismus und Sklarek-Skandal .............. 7. Der innere Feind. Die nicht-tödliche politische Gewalt............................. Grundsätzliches zur politischen, nicht-tödlichen Gewalt ......................

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Inhaltsverzeichnis

Sonderrollen: Kommunisten und Jungdeutscher Orden ........................ Hauptfeinde: Völkische und Stahlhelm ................................................. 8. Märtyrer der Republik. Die tödliche politische Gewalt ............................. Gewaltstatistik 1924–1928 ..................................................................... Die Thesen von Emil J. Gumbel ............................................................ Fallbeispiele 1924–1928 ........................................................................ Republikanische Justizkritik – Fallbeispiele Arensdorf und Hamburg . 9. Ein gespaltenes Milieu. Das Reichsbanner und die Arbeiterparteien ........ Das Reichsbanner als Stiefkind der SPD? ............................................. Wider den „Sozialfaschismus“: KPD und Reichsbanner ....................... Die kommunistische „Zersetzungsarbeit“ .............................................. 10. Das Reichsbanner um 1928......................................................................

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IV. DIE REPUBLIKANISCHE FRONT. INNERE KONFLIKTE UND DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM NATIONALSOZIALISMUS (JUNI 1928 – JUNI 1932) .............................................................................. 315 1. Staatsbürger in Uniform. Das Reichsbanner in Zeiten der Großen Koalition................................................................................................. Intensivierung der Bildungsarbeit im Jungbanner ................................. Führerschulung und staatliche Subventionen ........................................ Spannungen nach dem Ende der Großen Koalition ............................... 2. Versklavung oder Freiheit? Grenzen und Erfolge der Arbeit des Reichsbundes ......................................................................................... Staatliche Subventionen von Müller bis Brüning .................................. Gründung des Kartells der Republikanischen Verbände ....................... 3. Die Grünhemden. Eine Militarisierung des Reichsbanners? ..................... Gründung der Schutzformationen (Schufo) ........................................... Intensivierung der Schießausbildung im Reichskartell Republik .......... Ausbau des Wehrsports und „Bürgerkriegs“-Ängste............................. 4. Ausserparlamentarische Versuche einer republikanischen Sicherheitspolitik ................................................................................... Demokratisierung der Reichswehr? ....................................................... Öffentliche Kontrolle der Reichswehr? ................................................. Staatliche Front gegen Hilfspolizeipläne? ............................................. 5. Das wahre Gesicht des (un)deutschen Faschismus. Die publizistische Konfrontation mit dem Nationalsozialismus ......................................... Nationalsozialismus als „Volksseuche“ ................................................. Anti-NS-Satire der Illustrierten Reichsbanner Zeitung ......................... Theorie und Praxis der NSDAP ............................................................. Unbeantwortete Appelle an die Staatsträger .......................................... 6. Gründung, Probleme und Leistungen der Eisernen Front .......................... Der Machtverlust Hörsings als Motiv der Gründung............................. Weitere Zusammenarbeit mit der Regierung und bürgerlichen Republikanern .............................................................................

320 320 328 333 337 337 343 349 350 354 359 364 364 368 374 383 383 386 393 400 405 406 413

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Inhaltsverzeichnis

Neue Propagandamethoden im Wahlkampf für Hindenburg ................. 7. Hindenburgs Verrat. Die Drohung des Reichsbanner-Verbots und das Ende des Brüning-Kabinetts .................................................................. Das SA-Verbot ....................................................................................... Die Selbstauflösung der Schufo und Groeners Rücktritt ....................... 8. Chancen einer antifaschistischen, roten Einheitsfront ............................... Republikanische „Nationalbolschewismus“-Debatte ............................ Weiterer Schlagabtausch oder Verbrüderung? ...................................... 9. Bürgerkrieg? Die Eskalation der politischen Gewalt zwischen Reichsbanner und SA ............................................................................. Fallbeispiele 1929–1932 ........................................................................ Statistische Auswertung ......................................................................... Geographische Aspekte der politischen Gewalt .................................... 10. Das Reichsbanner um 1932......................................................................

418 427 429 433 437 438 442 448 450 459 465 474

V. „UNSERE TREUE WARD UNS ZUM LEICHENTUCH“. DIE ZERSCHLAGUNG DER REPUBLIK UND VERTANE CHANCEN (JULI 1932 – AUGUST 1933)....................................................................... 479 1. „Eisern die Front, trotz allem!“ Das Reichsbanner im Sommer 1932 ....... Ohlauer Blutsonntag und Potempa ........................................................ Der Preußenschlag: Option Reichsbanner?............................................ Alarmbereit beim Königsberger SA-Aufstand ...................................... 2. Arbeit oder Untergang. Die Spaltung des Reichsbanners über die Frage der Arbeitsbeschaffung .......................................................................... Abspaltung der Hörsingpartei – SRPD .................................................. FAD und zivil-militärische Kooperation der SRPD .............................. 3. Autoritäre Demokratie? Das Reichsbanner zwischen Schleicher und der SPD ........................................................................................................ Führerprinzip in Jungbanner und Vortrupp ........................................... Reichskuratorium für Jugendertüchtigung ............................................. Hilfspolizeiangebote an Schleicher ........................................................ 4. Die Machtergreifung. Letzte republikanische Aktionen und die weitere Eskalation der Gewalt ............................................................................ Publizistische Gegenwehr der „militanten Sozialisten“......................... Bundesgeneralversammlung und Exodus des Zentrums ....................... Reichsbannerverbot und SA-Hilfspolizei .............................................. Politische Tötungsfälle im Winterquartal 1933 ..................................... 5. Das Reichsbanner im Widerstand 1933–45 ...............................................

484 484 493 499 504 504 508 514 514 520 526 539 539 543 547 553 563

VI. ECHOS DER KAMPFZEIT. DAS REICHSBANNER UND DIE WEHRHAFTE DEMOKRATIE NACH 1945 .............................................. 567 Antifaschismus oder wehrhafte Demokratie: Reichsbannerbiographien in DDR und BRD .............................. 571

Inhaltsverzeichnis

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Sozialdemokratisch oder überparteilich: Zum Verhältnis von Geschichts- und Parteipolitik ...................................................... 575 Täter oder Opfer: Politische Gewalt im Einsatz für die Demokratie ..... 579 VII. ANHANG, QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ................... 583 Dokumentenanhang........................................................................................ 1. „Bericht über den Republikanischen Führerbund (R.F.B.) – SDHauptamt II 121“:........................................................................ 2. „Die Geschichte des Republikanischen Reichsbundes. Gruppe Süd- und Mitteldeutschland“:...................................................... 3. „Was will der Deutsche Republikanische Reichsbund?“: ................. 4. Liste der Reichsausschussmitglieder des Reichsbanners und des Reichskartells Republik: ............................................................. 5. Liste der wichtigsten Funktionäre und Unterstützer des Republikanischen Reichsbundes sowie angeschlossener Organisationen ............................................................................ 6. Liste von Mitgliedern und Führungspersönlichkeiten der republikanischen Bewegung mit ihren Tätigkeiten nach 1945 ... Statistikanhang ............................................................................................... 1. Liste politischer Tötungsfälle zwischen Januar 1924 und März 1933 ............................................................................................. 2. Liste mit nicht aufgenommenen Todesfällen ..................................... Quellenverzeichnis ......................................................................................... Zeitgenössische Zeitungen und Lexika .......................................................... Literatur vor 1945 .......................................................................................... Literatur nach 1945 und Quelleneditionen ..................................................... Register ..........................................................................................................

583 583 590 591 592 598 609 618 618 668 674 680 680 684 731

TABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Republikanischer Führerbund ............................................................... 69 Tabelle 2: Republikanischer Reichsbund ............................................................... 81 Tabelle 3: Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold ........................................................ 115 Tabelle 4: Politische Tötungsfälle 1924–1928 ..................................................... 278 Tabelle 5: Fallbeispiele für politische Tötungsfälle 1924–1928 .......................... 286 Tabelle 6: Fallbeispiele für politische Tötungsfälle 1929–1932 .......................... 450 Tabelle 7: Politische Tötungsfälle 1929–1932 ..................................................... 460 Tabelle 8: Politische Tötungsfälle 1924–1932 pro Jahr ....................................... 462 Tabelle 9: Politische Tötungsfälle in den Ländern und preußischen Provinzen 1924–1932 .......................................................................................... 468 Tabelle 10: Politische Tötungsfälle in ausgewählten Großstädten 1924–1932 ....................................................................................... 470 Tabelle 11: Politische Tötungsfälle in den Ländern und preußischen Provinzen 1924–1932 – Beteiligung der Gruppen .......................... 471 Tabelle 12: Politische Tötungsfälle Januar bis März 1933 .................................. 554 Tabelle 13: Fallbeispiele politischer Tötungsfälle in Preußen Januar bis März 1933 ........................................................................................... 555 Tabelle 14: Politische Tötungsfälle in ausgewählten Großstädten 1924 bis März 1933 ............................................................................................. 559 Tabelle 15: Politische Tötungsfälle in den Ländern und preußischen Provinzen 1924 bis März 1933 ........................................................ 561 ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Politische Tötungsfälle von 1924 bis März 1933 pro Quartal ....... 462 Abbildung 2: Politische Tötungsfälle 1924–1932 pro Jahr (relativ) ................... 463 Abbildung 3: Politische Tötungsfälle 1924–1932 pro Jahr (absolut) .................. 463

Abkürzungsverzeichnis

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AAN ACDP ADGB AdL AfSG APK ASPD ATSB AWO BA / BArch BB BBZ BfA BLA BrB BRD BTB BV BVerfG BVG BVZ CDU (Ost) CDU CSU C.V. DAAD DAZ DDP DDR DFG DGB DK DLfV DNVP DP DR DStP DSV DTZ DVFP DVP DZ EF

Archiwum Akt Nowych Archiv für Christlich-Demokratische Politik Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Archiv des Liberalismus Archiv für Sozialgeschichte Archiwum Państwowe w Koszalinie Alte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Arbeiter Turn- und Sportbund Arbeiterwohlfahrt Bundesarchiv Bayerischer Bauernbund Berliner Börsenzeitung Bund. Vereinigung freiheitlicher Akademiker Berliner Lokal-Anzeiger Bund republikanischer Beamter Bundesrepublik Deutschland Berliner Tageblatt Bundesvorstand Bundesverfassungsgericht Berliner Verkehrsbetriebe Berliner Volkszeitung Christlich-Demokratische Union Deutschlands (DDR) Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union in Bayern Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Deutscher Akademischer Austauschdienst Deutsche Allgemeine Zeitung Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutsche Friedensgesellschaft Deutscher Gewerkschaftsbund Demokratischer Klub Deutsche Liga für Völkerbund Deutschnationale Volkspartei Deutsche Partei Deutsche Republik Deutsche Staatspartei Deutscher Studentenverband Deutsche Tageszeitung Deutschvölkische Freiheitspartei Deutsche Volkspartei Deutsche Zeitung Eiserne Front

11

12 FAD FB FDP FES FZ GA GStA PK HStAD IfZM IRZ Jungba KAA KAS KPD Kartell LA NRW LDPD LfM LV MB MdB MdBV MdEP MdL MdNV MdR MdRWR MdVK MMA-H NBS NDPD NKF NL NLA NRW NSDAP NVA OB OG PKK prIM prJM PV

Abkürzungsverzeichnis

Freiwilliger Arbeitsdienst Republikanischer Führerbund Freie Demokratische Partei Friedrich-Ebert-Stiftung Frankfurter Zeitung Gründungsaufruf Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Hessisches Staatsarchiv Darmstadt Institut für Zeitgeschichte – München Illustrierte Reichsbanner [ab 1929: Republikanische] Zeitung Jungbanner Aktionsausschuss des Kartells der republikanischen Verbände Konrad-Adenauer-Stiftung Kommunistische Partei Deutschlands Kartell der republikanischen Verbände Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Liberaldemokratische Partei Deutschlands Liga für Menschenrechte Landesvorstand Monistenbund Mitglied des Deutschen Bundestages Mitglied der Bundesversammlung Mitglied des Europäischen Parlamentes Mitglied des Landtags Mitglied der Nationalversammlung Mitglied des Reichstages Mitglied des Reichswirtschaftsrates Mitglied der Volkskammer Moses Mendelsohn Akademie – Halberstadt Neue Blätter für den Sozialismus Nationaldemokratische Partei Deutschlands Neue Kampffront Nachlass Niedersächsisches Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationale Volksarmee Oberbürgermeister Ortsgruppe/n Parteikontrollkommission preußisches Innenministerium preußisches Justizministerium Parteivorstand

Abkürzungsverzeichnis

RA RB / Reichsbanner RBS RBZ RDP RESCH RFB RfH RIM RJB RjF RKKK RKO RKR RLB RPB RPD RR RRB RSB RU SA SAJ SAPD SBZ Schufo Schupo SDAP SED SH Sipo SOD SPD SPÖ SPS SRPD SS StA Stafo THStA ThIM TStA

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Reichsausschuss Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold Republikanische Beschwerdestelle Das Reichsbanner, auch: Reichsbannerzeitung Radikaldemokratische Partei Republikanischer Schutzbund Rotfrontkämpferbund Reichszentrale für Heimatdienst Reichsinnenministerium Reichsjugendbund Schwarz-Rot-Gold [später: Republikanischer Jugendbund] Reichsbund jüdischer Frontsoldaten Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung Reichskartell Republik Republikanischer Lehrerbund Republikanischer Pfadfinderbund Republikanische Partei Deutschlands Republikanischer Richterbund (Deutscher) Republikanischer Reichsbund Republikanischer Studentenbund Republikanische Union Sturmabteilung Sozialistische Arbeiterjugend Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Sowjetische Besatzungszone Schutzformationen Schutzpolizei Sozialdemokratische Arbeiterpartei Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Stahlhelm Sicherheitspolizei Sozialdemokratischer Ordnerdienst Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Österreichs Sozialdemokratische Partei des Saarlandes Sozialrepublikanische Partei Deutschlands Schutzstaffel Staatsarchiv Stammformationen Thüringer Hauptstaatsarchiv Thüringer Innenministerium Thüringer Staatsarchiv

14 UK USA USPD Abwehrverein VB VRP VVV VvV VZ WRV WTB Zentrum ZK ZPKK

Abkürzungsverzeichnis

United Kingdom / Vereinigtes Königreich United States of America / Vereinigte Staaten von Amerika Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Verein zur Abwehr des Antisemitismus Völkischer Beobachter Vereinigung Republikanische Presse Vereinigung Vaterländischer Verbände Vertrag von Versailles Vossische Zeitung Weimarer Reichsverfassung Wolff’s Telegraphisches Büro Deutsche Zentrumspartei Zentralkomitee Zentrale Parteikontrollkommission

I. EIN KOLOSS AUF TÖNERNEN FÜSSEN? DAS REICHSBANNER IM POLITISCHEN SYSTEM DER WEIMARER REPUBLIK Wir sind Demokraten, Republikaner. Freie Menschen. Was wir noch schaffen müssen, ist eine wirklich demokratische Republik und eine Gesellschaftsordnung für wirklich freie Menschen. […] Ja, Kämpfer sind wir auch; denn freie Menschen werden immer kämpfen. Nicht nur so, sondern wirklich. Mit Hingabe und Hintansetzung des eigenen Schicksals und Lebens. […] Einmal eingereiht in die Bataillone der Freiheitswehr, gibt es nur noch unerbittlichen Kampf. Unsre Väter waren unser Vorbild. Wir müssen desgleichen sein für alle Mitmenschen, und wenn der Kampf kein siegreiches Ende findet, auch für unsre Nachkommen. Unser Auge soll einen heiligen Fanatismus aussprechen, aber jede unsrer Handlungen soll so sein, daß damit für unsre große Sache geworben wird. Denk daran, junger Freund: Unbeugsamen Freiheitswillen!1

Der übliche Weg im Umgang mit der Weimarer Republik besteht darin, die vielschichtigen politischen Ereignisse dieser Zeit vom Ende her zu denken und dies heißt in der Logik der geschichtswissenschaftlichen Periodisierung von 1933 an abwärts bis zur vermeintlich unvollendeten Revolution 1918. Die angesichts der Entwicklung ab 1933 naheliegende Frage „Wie konnte es dazu kommen?“2 dominiert die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Weimarer Republik, was es schwierig macht, die enorme Dynamik der Periode zu erfassen und angemessen darzustellen. Dies bezieht sich auf große wie kleinere Fragen zur Geschichte der ersten Republik gleichermaßen. Das Interesse an ihrer Beantwortung ist durchaus nachvollziehbar und eine jede Studie zur Weimarer Republik kann ihrem Ende nicht ausweichen. Unbedingt zu vermeiden ist hierbei freilich ein argumentativer Kurzschluss, der eine Antwort auf diese oder jene Teilfrage zum Ende der Republik verabsolutiert und für die einzige Antwort auf die große Frage „Wie konnte es dazu kommen?“ hält. Ein weiteres verbreitetes Problem besteht dann, wenn die zweite große Frage „Musste es dazu kommen?“ einfach vergessen oder aber mit einem kategorischen „Ja“ beantwortet wird. Beispielsweise war die Regierungsweise Brünings genauso wenig alternativlos wie die Koalitionspolitik der SPD oder der staatliche Umgang mit den neuen Massenmedien. Vielmehr wurden in 1 2

RB-Rechenschaftsbericht 1933, S. 7f. Nicht zu verwechseln mit der Frage „Warum musste die Weimarer Republik scheitern?“. Das hierin enthaltene Narrativ eines notwendigerweise „gescheiterten“ Gemeinwesens – Wie kann ein willenloses, soziales Konstrukt überhaupt „scheitern“? – kann angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse der vergangenen 30 Jahre nicht aufrechterhalten werden. Die Kritik baute auf kulturwissenschaftlichen Ansätzen auf (siehe Gay 1987 u. Peukert 1987) und ist mittlerweile in Form eines Anerkennens von positiven Errungenschaften dieser Zeitperiode fester Bestandteil aller ernsthaften Auseinandersetzungen mit der Weimarer Republik (siehe etwa Winkler 1998, Hardtwig 2005 oder Büttner 2008). Das Scheitern-Narrativ ist vielmehr bereits selbst zu einem Forschungsobjekt geworden (siehe Föllmer/Graf 2005, Ullrich 2009 u. Thonfeld 2016).

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Ein Koloss auf tönernen Füssen?

diesen einzelnen Politikfeldern bestimmte, aber mitunter schwer identifizierbare Entscheidungen durch die verantwortlichen Personen getroffen, die bestimmte, aber mitunter ebenso schwer identifizierbare Konsequenzen für die Demokratie hatten. Doch allein eine Untersuchung der Entscheidungsdynamiken verspricht tiefergehende Erkenntnisse über die politischen Abläufe in der Weimarer Zeit. 1. „WEHRLOS“? DAS REICHSBANNER ALS INSTITUTION DER WEHRHAFTEN DEMOKRATIE Insbesondere in Bezug auf unseren Untersuchungsgegenstand sind diese Überlegungen von Bedeutung, da wohl kaum eine Organisation oder Einzelperson ihr Schicksal so eng mit jenem der Weimarer Republik als Ganzes verband wie das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, der Bund deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner. Die im Reichsbanner versammelten Männer hatten unentwegt geschworen, die Republik mit ihren Leben zu schützen und für ihre demokratischen Überzeugungen zu kämpfen. Als im Winter des Jahres 1933 der vielfach erwartete offene Widerstand gegen die Machtergreifung ausblieb, war die Enttäuschung im republikanischen Lager groß. Die Millionenorganisation des Reichsbanners hatte sich in den Augen vieler Zeitgenossen als „Koloss auf tönernen Füßen“1 entpuppt, welcher der entschiedenen Gewalt der Nationalsozialisten nichts entgegenzusetzen gehabt habe. So lautet zumindest eine nach wie vor gängige Beschreibung des Geschehens.2 Die aus der Bibel entlehnte „Koloss“-Metapher deutet – wenn man sie denn ernst nimmt – bereits auf das Problem dieser Sichtweise hin. Zwar bestanden laut Überlieferung die Füße des betreffenden Kolosses aus schwachem roten Ton, aber in dessen Körper fanden sich miteinander verschmolzen auch 1

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Die Formulierung „Koloss…“ findet sich bereits bei: Duderstadt 1933, S. 121. Auch Gustav Noske bezeichnete das Reichsbanner mit diesen Worten (laut Danner 1958, S. 208). Ebenso Hans-Ulrich Wehler (siehe Wehler 2003, S. 396. Zudem wird das Reichsbanner zum „zahnlosen Löwen“; Ebd., S. 610). Joachim Fest, dessen Vater im Berliner Reichsbanner aktiv war, beschreibt in seinen Erinnerungen die „tiefe Ohnmacht“ im Reichsbanner, dessen letzte Großkundgebung im Berliner Lustgarten im Februar 1933 bereits eine resignierte „Abschiedsveranstaltung“ vor einer „teilnahmslosen“ Menge gewesen sei (vgl. Fest 1997, S. 15 u. 20). Ähnlich auch die nachträgliche Bewertung von Sebastian Haffner über den „Verrat“ der republikanischen Parteien an ihren Unterstützern (siehe Haffner 2002, S. 127ff.). Das oben angesprochene Scheitern-Narrativ wurde nach 1933 von Nationalsozialisten und Exilanten gleichermaßen gepflegt, freilich aus unterschiedlichen Gründen (siehe Ullrich 2009, S. 39–78). Problematisch hieran ist dennoch, dass im Ergebnis beide Lager die NSPerspektive einer vermeintlich wehrlosen, kampflos zerfallenden Republik bestätigten, der angesichts der Problemhäufung das NS-Regime nachfolgen musste (so etwa die Ansicht bei Fest 1997, S. 15 u. 28 oder Volkow 2014). Weiterführend gilt dies auch für die Ansicht der ‚Vansittaristen‘, welche die Weimarer Republik als Camouflage einer deutschen Gewaltneigung betrachten und folgerichtig die Republik ausschließlich als „Inkubationskammer“ des Dritten Reiches ansehen. Diese Sichtweise findet sich aktuell etwa bei Jones 2017, S. 12f. u. 339ff. Als historischen Vergleich hierzu Coole/Potter 1941, S. XIff., XXXVIIIff. u. 323ff. Hätte das Reichsbanner nicht existiert, würden die ‚Vansittaristen‘ wohl recht behalten.

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schwarzes Eisen und goldenes Erz.3 Wo sind also in Bezug auf das Reichsbanner die wertvollen, schwarzen und goldenen Elemente zu entdecken und was hat es eigentlich genau mit dem vermeintlich schwachen, roten Ton auf sich? Weimar als wehrhafte Demokratie Das Wertvolle im Reichsbanner, wie in der Weimarer Republik insgesamt, wird sichtbar, wenn die Ereignisse im Lichte des Konzeptes der wehrhaften Demokratie – im Englischen „militant democracy“ – gesehen werden. Das Weimar keine „Republik ohne Republikaner“ war beweist bereits die bloße Existenz des Reichsbanners.4 Unzweifelhaft ist aber, dass die Weimarer Republik sich enormen wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Herausforderungen gegenübersah, mit denen sie letztendlich „überfordert“ war.5 Genauso richtig ist ferner die Aussage, dass die Weimarer Republik nicht an ihren Schwächen, sondern an der Stärke ihrer Gegner zugrunde gegangen ist.6 Eben dieses Fordern der ersten Republik durch starke antidemokratische Gegner macht sie für das Konzept der wehrhaften Demokratie aber interessant. Im Vergleich hierzu erfreute sich die vielfach als besonders wehrhaft gerühmte Bundesrepublik bislang eher einer Unterforderung. Die Weimarer Republik als im Vergleich zur Bundesrepublik wehrlos darzustellen, mochte in der Vergangenheit eine pädagogische Begründung haben, aber den historischen Tatsachen wurde diese Ansicht nie gerecht.7 Weimar überlebte rund ein Dutzend Aufstände und Putschversuche, während weder Bonn noch Berlin auch nur einen bewaffneten inneren Konflikt dieser Größenordnung überleben mussten.8 Sicherlich stellten die Rote Armee Fraktion, der Rechtsterrorismus oder aktuell das Wirken der islamistischen Terroristen eine Bedrohung der Demokratie 3 4 5 6 7

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Die betreffende Bibelgeschichte befindet sich im Buch Daniel, 2. So Böhles 2016, S. 9. Siehe Büttner 2008 u. aktuell Büttner 2017. So u.a. Nolte 2012, S. 271. Die Aussage, dass das „Scheitern“ der Weimarer Republik ein Ansporn für aktuelles Engagement für die Demokratie sein müsse, damit die Bundesrepublik nicht ein ähnliches Schicksal erleide, findet sich etwa bei Erdmann oder Schulze (siehe Erdmann 1980, S. 357f. u. Schulze 1987, S. 625). Zu nennen wären die Berliner Weihnachtskämpfe 1918, der Posener Aufstand 1918/19, der Januaraufstand 1919, der Münchener Karfreitagsputsch 1919, die Oberschlesischen Aufstände 1919–1921, der Kapp-Putsch 1920, der Ruhraufstand 1920, der Mitteldeutsche Aufstand 1921, die Rheinische Republik 1923, der Buchrucker-Putsch 1923, der Hamburger Aufstand 1923, der Hitler-Putsch 1923 und der Preußenschlag 1932. Barth betont jedoch, dass diese Häufung von bewaffneten Konflikten in den Nachkriegsjahren bis 1923 in Mittel- und Osteuropa den Normalfall darstellte, was auch für den Einsatz paramilitärischer Kräfte in diesen Konflikten gelte (siehe Barth 2016, insb. S. 37–62). Auch der Putsch gegen den Freistaat Preußen 1932 und die rasche Beseitigung der Demokratie danach waren im europäischen Vergleich keine historischen Sonderfälle, worauf Dreyer hinwies. Dass die Weimarer Republik aber überhaupt bis 1932 bzw. 1933 durchhielt, ist angesichts des europaweiten Zusammenbruchs der Demokratien in den 1920ern bemerkenswert (siehe Dreyer 2009, S. 186f.).

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dar. Der Weimarer Vergleich würde in diesem Fall aber, anders als meist behauptet, offenbaren, dass es sich bei diesen Bedrohungen um vergleichsweise kleinere Phänomene handelt. So kamen allein beim erfolgreich von der Polizei niedergeschlagenen Mitteldeutschen Aufstand 1921 deutlich mehr Menschen ums Leben als bei allen Terroranschlägen auf dem Boden der Bundesrepublik seit 1949 zusammengenommen. Bedeutender im politikwissenschaftlichen Sinne ist zudem, dass es bislang (Stand: September 2017) im Deutschen Bundestag keine Partei gab, die Terrorismus rechtfertigte oder sich schützend vor Terroristen stellte, so wie es NSDAP und KPD taten. Wann eine Demokratie zerfällt und wie man sie erhalten kann, sind eigentlich Fragen der Politikwissenschaft, die von einigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen die Weimarer Republik jedoch lange Zeit nicht mit besonderer Aufmerksamkeit bedachte.9 In zahlreichen Untersuchungen zum Themenkomplex der wehrhaften bzw. streitbaren Demokratie spielt die Weimarer Republik oftmals nur die erwähnte Rolle des Negativbeispiels.10 Bereits Karl Löwenstein, dessen Werk gemeinhin als Ausgangspunkt der politikwissenschaftlichen Nachkriegs-Debatte zum Konzept der wehrhaften Demokratie gilt11, hatte der Weimarer Republik eine „suizidale Lethargie“ bescheinigt.12 Auch in der staatsrechtlichen Debatte um die Weimarer Reichsverfassung (WRV) wurde in Anschluss an Carl Schmitt und Hans Kelsen vielfach ein Bild der ersten Republik als „wehrloser Demokratie“ gezeichnet, welche nicht zuletzt an der vermeintlichen Relativität ihrer Verfassung zugrunde gegangen sei. In dieser Debatte kam jedoch den Weimarer Republikanern Hugo Preuß und Hermann Heller, die sich beide sehr stark im Reichsbanner engagierten, nicht immer die ihnen angemessene Beachtung zu, was sich erst in jüngerer Zeit änderte.13 Dem gegenüber stehen im Anschluss an Juan Linz und Alfred Stepan politikwissenschaftliche Strukturanalysen, die versuchen, ein 9

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Aktuell erregte hierzu ein Beitrag von Tim B. Müller einiges Aufsehen (siehe Müller 2015 u. als Reaktion die entsprechenden Rezensionen auf hsozkult.de sowie Kailitz 2016 u. Kailitz (Hg.) 2017, S. 27f.). Dies ist laut Ullrich gewissermaßen der Standardplatz der Weimarer Republik im öffentlichen Erinnern der Bundesrepublik. So dient ein Verweis auf die erste deutsche Demokratie lediglich der Selbstvergewisserung, dass man sich in stabilen, vermeintlich normalen Zeiten befindet (siehe Ullrich 2009, S. 614ff.). Nur ist die relative politische Instabilität der Weimarer Republik gemessen an ihrer Zeitperiode eben genauso normal wie die relative Stabilität des westdeutschen Nachkriegsdeutschlands. Siehe aus der umfangreichen Literatur zum Werk und zur Biographie Löwensteins insbesondere: Lang 2007, van Ooyen (Hg.) 2007, Simard 2011, Plache 2013 u. Sollors 2014. Im Anschluss an Löwenstein nennt Brenner Weimar eine „wehrlose Demokratie“ und „Demokratie ohne Demokraten“ (siehe Brenner 1999, S. 98ff. Dort das Löwenstein-Zitat auf S. 99). Auch andere Autoren, die über die wehrhafte Demokratie schrieben, interpretierten die Geschichte Weimars ähnlich negativ (so u.a. Jesse 1981, S. 10ff., Fisch/Knütter 1985, Scherb 1987, Ridder 1992, Weckenbrock 2009, S. 23–32 oder Kirshner 2011). Hieran wurde bereits Kritik geübt und ein differenzierteres Weimar-Bild angemahnt (so u.a. Gusy 1991, Leggewie/Meier 1995, S. 181–204, Schönhoven 2002, Groh 2003, Rudolph 2005, S. 211ff., Dreyer 2009 oder Müller/Tooze 2015, insb. S. 263). Siehe zu Heller: Llanque (Hg.) 2010. Zu Preuß: Dreyer 2002 u. Lehnert 2012 sowie zu beiden Theoretikern: Groh 2010.

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breiteres Bild von den Krisen demokratischer Systeme in der Zwischenkriegszeit zu erarbeiten, wobei sich die Autoren später auf die (vorwiegend lateinamerikanischen) Demokratiekrisen der Nachkriegszeit konzentrierten.14 Demokratien sind mehr noch als Diktaturen hochkomplexe politische Systeme, deren Stabilität keinesfalls nur anhand ihres Verfassungstextes oder dem Zustand der dazugehörigen Staatsrechtsdebatte beurteilt werden kann. Auch die Verfassungswirklichkeit und zahlreiche andere Aspekte des politischen Systems fern der Verfassung haben für die Frage nach der Stabilität bzw. Wehrhaftigkeit einer Demokratie hohe Relevanz. Es ist schließlich nicht nur der demokratische Staat, der sich gegen Angriffe verteidigen muss, sondern die demokratische Gesellschaft insgesamt. Für die Weimarer Republik waren innere Unruhen und politische Gewalt von Beginn an Teile ihrer letztlich tödlichen Krise. Der demokratische Diskurs, der sich bereits in der Kaiserzeit in gewissem Umfang etabliert hatte, litt enorm unter der anhaltenden Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die seit der Revolutionszeit das politische Geschehen bestimmte.15 Zwar erlebte die Republik eine Phase der relativen Stabilisierung der Verhältnisse in den Jahren 1924 bis 1929, aber es wurde von Dirk Schumann zu Recht betont, dass auch in dieser Zeit politische Gewalt in einem nicht unerheblichen Maße vorhanden war. Bestimmte Praktiken der „kleinen Gewalt“, als Gegensatz zur „großen Gewalt“ der Bürgerkriegskämpfe in der Frühphase der Weimarer Republik, wurden demnach in die-

14 Siehe Linz/Stepan 1978 und hieran anschließend Lepsius 1978, Bracher 1980, Powell 1982, Arends/Kümmel 2000 u. Capoccia 2005. Als Pionierarbeit ohne Verbindung zu Linz und Stepan muss ferner Jasper 1963 angesehen werden. Brachers Überlegungen auf der entsprechenden Tagung konnten wohl keine allgemeine Akzeptanz verzeichnen. Im Schlusswort zur Tagung bzw. zum Tagungsband führte Erdmann aus, dass die Weimarer Republik „nicht an ihren Gegnern, sondern an sich selbst zugrunde gegangen“ sei und somit „Selbstmord“ begangen habe (vgl. Erdmann 1980, S. 346). Es gibt alternative Überlegungen über die Stabilität bzw. die Krise von Demokratien, wie etwa das von Wolfgang Merkel und Anderen entwickelte Konzept der „defekten Demokratie“ (siehe Merkel et al. 2003 u. zur aktuellen Einordnung Schmitter 2017), welches zunächst aber nicht auf die Zwischenkriegszeit angewandt wurde. Jüngst griffen mehrere Projekte zur Zwischenkriegszeit die politikwissenschaftlichen Analysekonzepte wieder auf (siehe etwa Kailitz (Hg.) 2017). Allerdings wird das Reichsbanner oder die Eiserne Front in diesen Debatten nicht eingehender berücksichtigt. So findet sich bei Arends/Kümmel die Aussage, dass das Reichsbanner weitgehend inaktiv gewesen sei. Dies ist insofern irritierend, als dass der SA, welcher das Reichsbanner aktiv in den Weg trat, eine relevante Rolle zugeschrieben wird (siehe Arends/Kümmel 2000, S. 195 u. 209). In anderen Debattenbeiträgen wird das Reichsbanner ebenfalls höchstens knapp abdisqualifiziert. Das Problem dieser politikwissenschaftlichen Debatten ist, dass sie sich auf den jeweils aktuellen Stand der Geschichtswissenschaften stützen müssen, welche jedoch mit wenigen Ausnahmen (insb. Rohe u. aktuell Ziemann) das Reichsbanner ignorierten, wohl da es nicht zum Scheitern-Narrativ passte. 15 Laut Powell sind Demokratien darauf angewiesen, Gewalt zu „managen“, um ihr Fortdauern zu sichern. „Democracy is a strategy of government based on the gamble that the potential for participation and responsiveness that it offers will make possible a resolution of conflict without violence. Where large-scale violence or coercion does appear, democracy is fundamentally threatened“ (Powell 1982, S. 154).

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ser Zeit einstudiert und konnten die politische Kultur maßgeblich beeinflussten.16 Wenn man den Vergleich zur politischen Gewalt in der End- und insbesondere der Anfangsphase der Weimarer Republik zieht, ist das Ausmaß der politischen Gewalt in diesen mittleren Jahren Weimars in absoluten Zahlen relativ gering. Wie Bingham Powell verdeutlichte, liegt das Gefahrenpotential von politischer Gewalt aber nicht in den absoluten Zahlen verborgen, sondern in der Tatsache, dass es die politischen Parteien und Gruppierungen sind, deren Anhänger sich physisch bekämpfen („violent interparty strife“) und so schrittweise dazu beitragen, dass eine friedliche Konfliktlösung – wie sie die Demokratie verlangt – unmöglich wird. In den von Powell untersuchten Fallbeispielen aus den 1960er und 1970er Jahren reichten pro Jahr bereits wenige Fälle von tödlicher politischer Gewalt zwischen den größeren Parteien aus, um das jeweilige System deutlich zu destabilisieren. In Ländern, in denen die größeren Parteien hingegen eine gemeinsame Front gegen den Einsatz von politischer Gewalt herstellen konnten, führten selbst Hunderte Tote nicht zu einer solchen Destabilisierung.17 Selbst in den mittleren Jahren der Weimarer Republik gelang es nicht, eine gemeinsame Front gegenüber dem Einsatz von politischer Gewalt zu etablieren, sondern jede Seite beklagte meist nur die eigenen Gewaltopfer oder eine diffuse, weil verallgemeinernde Verrohung der politischen Sitten. Politische Gewalt ist somit eng mit der politischen Kultur einer Gesellschaft verknüpft, was uns im hiesigen Kontext zu den Wehrverbänden führt.18 Hierbei handelt es sich um einen zeitgenössischen Begriff für einen Organisationstypus, der zwar Ähnlichkeiten zu rein paramilitärischen Verbänden hat, wie es sie zu den unterschiedlichsten Zeiten und Orten gab und gibt, aber sich hiervon durch einen kulturellen Anspruch (relativ) klar unterscheidet.19 Wehrverbände 16 Siehe Schumann 2001, S. 15–22 u. 359–366. Eine alternative Begriffsbezeichnung für „kleine“ bzw. „große Gewalt“ ist „Mikro-“ bzw. „Makrogewalt“ (siehe Zimmermann 2012). Schumann entwickelt auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der politischen Kultur, welcher in Anlehnung an Karl Rohe definiert wird (siehe zu Rohes wesentlichem Beitrag zur politischen Kulturforschung die entsprechenden Beiträge, in: Haberl/Korenke (Hg.) 1999 sowie einordnend Pickel/Pickel 2006, S. 123–132). 17 Siehe Powell 1982, S. 167ff. Als Fallbeispiele dienen Powell gewaltsame Konflikte in etwa drei Dutzend Ländern, darunter Frankreich, Irland, die USA, Indien, Venezuela und Japan, wobei jeweils die staatlichen und parteilichen Reaktionen auf die Gewalt im Vordergrund stehen. 18 Alternativ existiert in der Literatur der Begriff „politischer Kampfbund“ (siehe Posse 1931, Reichardt 2002 u. Voigt 2009), der jedoch dieselben historischen Organisationen beschreibt wie der Begriff Wehrverband und nach hiesigem Verständnis synonym zu benutzen ist. 19 Hierzu auch die Überlegungen bei Voigt 2009, S. 31–45. Der kulturelle Anspruch der rechten Wehrverbände ist dagegen kaum untersucht worden und wird hier eher als Postulat in den Raum gestellt. Zu bedenken ist, dass Stahlhelm, Wehrwolf und Jungdeutscher Orden alle über eigene Verlage verfügten, in denen die jeweiligen Führer und nahestehende Publizisten ihre Schriften veröffentlichten. Im Falle von Stahlhelm und Wehrwolf waren dies u.a. Ernst Jünger oder Franz Schauwecker, aber auch Hans Zehrer (siehe Berghahn 1966, S. 91–101). Es gab unterschiedliche Grade der kulturellen Aktivität, aber selbst eine genuin paramilitärische Organisation wie der Bund Oberland versuchte über ihren ideologischen Führer Ernst Niekisch an geistigem Einfluss in Rechtskreisen zu gewinnen, was auch gelang (siehe Rätsch-

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entstanden in ihren regionalen Keimzellen zu Beginn der 1920er aus privaten Initiativen heraus in Reaktion auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen bzw. als Teil dieser Auseinandersetzungen und wuchsen in der Zeit der Stabilisierung zu reichsweiten Massenorganisationen heran.20 Als Organisationen zur Wehrhaftmachung bestimmter Teile der Bevölkerung verstanden sie sich auch als Ersatz für die abgerüstete Reichswehr bzw. als deren Personalreserve. Später bildeten sich im Umfeld der radikalen Parteien Wehrverbände, die eher als deren Privatarmeen denn als private Heeresersatzorganisationen anzusehen sind. Es lassen sich in diesem Sinne die überparteilichen Wehrverbände (Reichsbanner, Stahlhelm, Jungdeutscher Orden, Wehrwolf) von den parteigebundenen Wehrverbänden (Sturmabteilung, Rotfrontkämpferbund) recht eindeutig trennen.21 Mit dem Anspruch der Überparteilichkeit betonten die betreffenden Wehrverbände ihre organisatorische Unabhängigkeit gegenüber den Parteien, auch wenn faktisch mehr oder weniger feste Bindungen zu einer oder mehreren Parteien bestanden, was den Zeitgenossen nicht entging.22 Das Reichsbanner übte als republikanischer Wehrverband ebenso physische politische Gewalt aus wie seine antirepublikanischen Pendants. Es wäre aber grundfalsch anzunehmen, dass das Reichsbanner in derselben Weise oder demselben Umfang physische Gewalt zur Erreichung politischer Ziele nutzte, wie dies die Wehrverbände der Nationalsozialisten und Kommunisten taten. Die Wehrverbände formulierten und praktizierten unterschiedliche Gewaltstrategien, mit denen der Einsatz von Gewalt als politisches Mittel wenigstens grundsätzlich gesteuert werden sollte. Die Gewaltstrategie des Reichsbanners war bereits 1924 in dessen Satzung formuliert worden, worin es in § 3 hieß: Der Bund wird: Kameradschaft und republikanische Gesinnung wecken und pflegen; die Reichsverfassung sowie die republikanischen Länderverfassungen schützen und sich den republikanischen Regierungen und Behörden in Fällen der Not zur Verfügung stellen; […]

Langejürgen 1997, S. 161f. u. 188ff. u. ausführlicher Elsbach 2015). Der Jungdeutsche Orden wiederum trat in paramilitärischer Hinsicht vergleichsweise wenig hervor und entfaltete dagegen eine sehr rege Propagandaarbeit auch in akademischen Kreisen (siehe Hornung 1958). Dass die kulturellen Aktivitäten der rechten Wehrverbände nicht minder gefährlich für die Demokratie waren als die paramilitärischen Übungen und Aufmärsche, muss unterstrichen werden. Eine Zivilkultur im hier verstandenen Sinne kann es definitionsgemäß bei den antidemokratischen Wehrverbänden nicht gegeben haben. 20 Es wäre interessant zu fragen, ob die Wehrverbände insgesamt als Agenten der Stabilisierung oder Destabilisierung auftraten. Zwar übten sie regelmäßig Gewalt gegeneinander aus, aber sie kanalisierten schließlich auch ein bereits vorhandenes privates Gewaltpotential. 21 Bei diesen parteigebundenen Verbänden trat die kulturelle Eigenständigkeit in Form von eigenen Verlagen usw. stark in den Hintergrund, aber Werkzeuge zur Durchsetzung von propagandistischen oder sonstigen kulturellen Vorgaben der Parteien waren SA und RFB trotzdem (zu SA und RFB: Longerich 1989, Reichardt 2002 u. Siemens 2017 sowie Voigt 2009 u. als zeitgenössische Publikation: RB-Unsere Gegner 1932). 22 So bezeichnete Mierendorff das Reichsbanner als „pseudopolitischen Verband“, dessen vermeintlich unpolitische Überparteilichkeit recht aufgesetzt sei (vgl. „Gesicht und Charakter der nationalsozialistischen Bewegung“ von Carlo Mierendorff, in: Die Gesellschaft Nr. 6/1930, zit. nach: Steinbach 1997, S. 49).

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Ein Koloss auf tönernen Füssen? Angriffe gegen Republikaner, republikanische Parteien, Gewerkschaften und alle sonstigen auf diesem Boden stehenden Organisationen mit allen ihm zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln bekämpfen und zurückweisen.23

„Schützen“, „Angriffe zurückweisen“, „sich zur Verfügung der Behörden stellen“ und Angriffe „mit gesetzlichen Mitteln bekämpfen“ sind Formulierungen aus einer eindeutig defensiven Gewaltstrategie, welche die rechtsstaatliche Ordnung bejaht und nicht versucht diese zu beseitigen. Angriffe auf Gegner der Republik, die ohne vorherige Provokationen erfolgen, sind aus dieser Perspektive heraus nicht nur rechtswidrig, sondern auch unvereinbar mit der Reichsbannersatzung. Die Wehrhaftmachung der eigenen Mitglieder nach § 2 wurde dementsprechend an den Zweck der Verteidigung von Republik und demokratischer Verfassung gebunden.24 Selbstverteidigung war für die Reichsbannermitglieder lediglich im Rahmen des Strafgesetzes möglich, wie bei allen bedeutenden Gelegenheiten von der Reichsbannerführung unablässig betont wurde.25 Diese defensive bzw. passive Gewaltstrategie des Reichsbanners wurde bereits von Dirk Schumann beobachtet und steht offensichtlich der aggressiven, offensive Gewalt fordernden Strategie von SA und Kommunisten diametral entgegen, welche den Rechtsstaat und die demokratische Verfassung gleichermaßen beseitigen wollten.26 Dass mit solchen von der jeweiligen Führung verkündeten Gewaltstrategien das Verhalten der jeweiligen Verbandsmitglieder in konfrontativen Situationen aber nicht vollständig kontrolliert werden konnte, ist ob des paramilitärischen Grundcharakters der Wehrverbände selbstverständlich. Im Vergleich mit professionellen Militärs fehlte es den Wehrverbänden an zahlreichen Sanktions- und Disziplinierungsmitteln. Die Wehrverbände waren als Vereine organisiert, sodass der Ausschluss von Mitgliedern bereits das härteste Sanktionsmittel darstellte. Die Männer schlossen sich den Wehrverbänden freiwillig an und erhielten durch ihre Mitgliedschaft zwar verschiedene, mitunter auch materielle Vorteile, aber die Wehrverbände waren für deren Mitglieder keine Arbeitgeber. Die ständige Selbstbeschreibung der Männer als „Soldaten“ der „Bewegung“, der „Republik“ 23 RB-Bundessatzung 1931, S. 3. 24 RB-Bundessatzung 1931, S. 2. 25 Siehe u.a. „Mitteilungen des Bundesvorstandes“, in: RBZ Nr. 15/1931 vom 11.4. Dort auch der deutliche Hinweis, dass den Mitgliedern nur dann Rechtsschutz gewährt werde, wenn eine Gewalttätigkeit ohne eigenes Verschulden also etwa vorherige Provokationen ausgebrochen sei. Ähnliche Ermahnungen im Gau-Rundschreiben vom 4.11.31, in: LA NRW, Abt. Westfalen, C 61, Nr. 9. 26 Siehe Schumann 2001, S. 254–269, wo Schumann die „Werte und Kampfesweisen“ der wichtigsten Wehrverbände beschreibt. Demnach waren sich die Gewaltstrategien des Reichsbanners und des Stahlhelms in manchen Aspekten durchaus ähnlich, da der Stahlhelm zwar die Republik ablehnte, aber Gewalt ab 1924 – zumindest öffentlich – nur als Selbstverteidigungsmittel propagiert wurde (siehe ebd., S. 266ff.). Das von Schumann gezeichnete Bild eines defensiven Reichsbanners wird auch von anderen Autoren geteilt. So heißt es bei Swett, dass die RB-Mitglieder keineswegs „radikal“ waren, sondern eher „gesetzte Familienmänner“ (vgl. Swett 2004, S. 139–160). Dass auch Familienmänner zu Gewalt fähig sind, sei hier erst einmal nur angemerkt, aber wir werden uns dem Problem von defensiver, tödlicher Gewalt unten näher widmen.

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oder des „Proletariats“ darf auf keinen Fall wörtlich verstanden werden.27 Einen Sold gab es in den Wehrverbänden genauso wenig wie eine unentgeltliche, einheitliche Ausstattung mit Uniformen, Ausrüstung und Waffen. Ganz im Gegenteil mussten die Männer als gewöhnliche Vereinsmitglieder monatliche Beiträge zahlen und auch ihre Ausstattung auf eigene Kosten anschaffen. Dieser sprachliche Aspekt einer Selbstbeschreibung als „Soldat“ bzw. „Armee“ führt uns jedoch zurück zur politischen Kultur der Wehrverbände und spezieller zur politischen Kultur des Reichsbanners als Organisation von militanten Demokraten. Republikanische Zivil- und Gewaltkultur Was das Handeln des Reichsbanners als Ganzes betrachtet auszeichnete, ist eine bemerkenswerte Ambivalenz zwischen einem zivilen, nicht-militärischen Teil des Organisationshandelns und einem (para-)militärischen Teil. Diese Ambivalenz wird hier mit dem Begriffspaar Zivilkultur und Gewaltkultur beschrieben. Diese Begriffe werden hier verstanden als politische Kultur der Zivilität und politische Kultur der Gewalt oder eben kurz Zivil- und Gewaltkultur. In den Sozialwissenschaften werden die Begriffe Zivil- und Gewaltkultur bzw. Zivilität und Gewalt regelmäßig als Gegensatzpaare gebraucht, ohne dass das tendenziell paradoxe Verhältnis zwischen beiden Polen ausreichend geklärt worden wäre.28 Eine Definition der Begriffe Zivil- und Gewaltkultur gibt es in den gängigen Nachschlagewerken aber weder einzeln noch als Paar. Der Begriff Zivilkultur besitzt eine stark normative, demokratische Komponente, da das Vorhandensein einer Zivilkultur als Voraussetzung für die Stabilität eines demokratischen Systems und einer demokratischen Zivilgesellschaft gesehen wird. Die systematische Forschung zur politischen Kultur von Demokratien begann als Debatte um das Konzept der „civic culture“ – auf Deutsch: Bürgeroder Zivilkultur – von Gabriel Almond und Sidney Verba. Heute gebräuchlicher ist der Begriff der politischen Kultur, da am normativen Konzept der „civic culture“ Kritik geübt wurde.29 So blieb beispielsweise die darauf aufbauende Debatte

27 Solche Selbstbeschreibungen sind freilich als Buchtitel recht beliebt (siehe bspw. Oomen 2007 u. Fuhrer 2011). Problematisch ist jedoch eine zu unkritische Übernahme solcher Selbstbeschreibungen, wenn etwa die SA als „Bürgerkriegsarmee“ tituliert wird (siehe Müller/Zilkenat (Hg.) 2013). Weder war die SA eine Armee noch war sie nach 1924 an einem Bürgerkrieg beteiligt. 28 Siehe Bauerkämper et al. 2006, S. 32 u. Reichardt, Zivilität 2004. 29 Siehe u.a. Meyer 2002 u. für die Debatte um „civic culture“: Almond/Verba (Hg.) 1992 u. Pickel/Pickel 2006, S. 59–77. Diese Debatte berührte auch die Weimarer Republik stark, da Almond und Verba argumentierten, dass diese an einem Mangel an „civic culture“ untergegangen sei, wobei sie aber immerhin die grundsätzliche Existenz von demokratischen Tendenzen berücksichtigten (vgl. Almond/Verba 1963, S. 38f.). Problematisch ist in diesem Sinne auch Almonds und Verbas Versuch die Zivilkultur in verschiedenen Ländern zu messen und auf diese Weise eine Art Rangliste zu erstellen.

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um den Begriff der Zivilgesellschaft recht unhistorisch bzw. auf die Nachkriegsgeschichte beschränkt.30 Das Reichsbanner ist hingegen ein geeignetes Beispiel einer historischen Organisation mit einer ausgeprägten Zivilkultur, als deren Ausdruck die Mitglieder des Bundes verschiedenste Gedenkveranstaltung für republikanische Persönlichkeiten oder Feiertage veranstalteten, in Reden und Schriften versuchten, das geistige Fundament der Republik zu festigen und insbesondere die jugendlichen Reichsbannermänner in politischen Bildungsveranstaltungen für die Demokratie begeistern wollten. Zu gegebenen Anlässen wirkten die Reichsbannermitglieder durch Interpellationen und auf anderen Wegen auf Regierungen und Politiker in ihrem Sinne ein. Sie betrieben also klassische Lobbyarbeit und riefen über ihre Presse die Regierung zu verantwortungsvollem demokratischem Handeln auf. Dies alles sind auch heute noch Tätigkeiten der Zivilgesellschaft, die bereits in der Weimarer Republik in vielfältiger Hinsicht ausgeprägt war.31 Was das Reichsbanner von allen heutigen und dem Großteil der damaligen demokratischen Zivilgesellschaft unterscheidet, ist das gleichzeitige Vorhandensein einer Gewaltkultur.32 Der Begriff der kulturellen Gewalt geht auf Johan Galtung zurück, der hiermit jene kulturellen Praktiken meinte, die direkt oder indirekt dazu dienen, physische („personal or direct violence“) oder strukturelle Gewalt zu legitimieren. Galtung nennt nationalistische Ideologien als Beispiele für kulturelle Gewalt, die er explizit als negativ betrachtet.33 Diesem Verständnis wird hier explizit nicht gefolgt, wenn von Gewaltkultur die Rede sein wird. Vielmehr werden unter diesem Begriff hier nur jene kulturellen Praktiken verstanden, die physischen Gewalthand30 So Gosewinkel/Rucht 2004. 31 Nur wenige Beiträge gehen auf die Zivilgesellschaft der Weimarer Republik ein, wo sich die Spannungen des Begriffs recht deutlich zeigten. So gab Berman kritisch zu bedenken, dass die Weimarer Republik auch an einer starken Zivilgesellschaft zugrunde gegangen sei und nicht etwa an einer schwachen. Berman lässt die helle Seite der Zivilgesellschaft, sprich das Reichsbanner, in ihrer Untersuchung aber außen vor (siehe Berman 1997). Berman unterstrich später die These, dass die Weimarer Zivilgesellschaft durch die Förderung der politischen Fragmentierung zum Ende der Demokratie beigetragen habe (siehe Berman 2011, S. 40f.). Mergel formulierte ebenso, dass die starke Ausprägung der Weimarer Zivilgesellschaft zu unerfüllbar hohen Erwartungen der Bürger an die politischen Institutionen führte (siehe Mergel 2004, S. 197ff.) und Reichardt unterstrich den zivilgesellschaftlichen Beitrag zur antidemokratischen Massenmobilisierung der NSDAP (siehe Reichardt, Zivilgesellschaft 2004, S. 227ff.). Dies sind insbesondere im Hinblick auf den historisierenden Ansatz wertvolle Überlegungen. Doch behandelt diese Arbeit die weiterhin unterrepräsentierten anderen, nämlich republikanischen Teile der Weimarer Zivilgesellschaft, die keineswegs pauschal mit den anti-republikanischen Teilen bewertet werden sollten. 32 Reichardt stellt in Bezug auf SA und RFB die Frage, ob man von einer „totalitären Gewaltpolitik“ sprechen könne, was zu verneinen sei, wobei es ihm vorwiegend um das Adjektiv geht. Gleichzeitig wird bei Reichardt klar, dass bei der SA nicht von einer einheitlichen Gewaltpolitik gesprochen werden kann (siehe Reichardt 2007). Auch die spätere Gewalt im Rahmen des Novemberpogroms 1938 war auf der Handlungsebene nicht das Ergebnis einer zentralen Steuerung, sondern hing von stark heterogenen, situativen Faktoren ab (siehe Kunze 2011, S. 24f.). 33 Siehe Galtung 1990 u. zur Einordnung Strecker 2016.

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lungen direkt vorausgehen oder zu ihrer nachträglichen Legitimierung beitragen. Anders als Galtung annimmt, ist erstens nicht jede Form gesellschaftlichen Zwangs sofort mit Gewalt gleichzusetzen.34 Zweitens gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem gewaltsamen Angriff und der physischen Abwehr eines solchen Angriffes. Es wurde gezeigt, dass das Reichsbanner von seiner Satzung her eine Organisation war, welche die Demokratie und den republikanischen Staat vor Angriffen schützen wollte, sodass eine defensive Gewaltstrategie formuliert wurde. Solche physischen Abwehrhandlungen, wie sie im Reichsbanner gefordert und praktiziert wurden, fanden eben nicht in einem kulturlosen, gewissermaßen luftleeren Raum statt, sondern wurden auf vielfältige Weise von Kultur begleitet, die im Sinne von Jürgen Habermas einen „Wissensvorrat“ darstellt, „aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich miteinander über etwas verständigen, mit Interpretationen versorgen.“35 Republikanische Gewaltkultur ist demnach als ein Wissensvorrat zu verstehen, aus dem sich die Reichsbannermitglieder mit Interpretationen über Gewalt versorgen und auf diese Weise miteinander über den Schutz der Republik und die Abwehr von Angriffen verständigen konnten. Jegliche Kultur wird durch Sozialisations- und Bildungsprozesse erlernt.36 Dies bedeutet, dass auch die republikanische Gewaltkultur in einem kommunikativen Prozess erlernt wurde und dieser Prozess lässt sich anhand von historischen Zeitungsartikeln, Reden, Satzungstexten und dergleichen untersuchen. Gewaltstrategie und Gewaltkultur hängen somit über mehr oder weniger steuerbare Lernprozesse eng miteinander zusammen. Konkrete Gewalthandlungen von Reichsbannermitgliedern waren jedoch nicht ausschließlich der Ausdruck bestimmter strategischer Richtlinien der Reichsbannerführung und/oder Folge der politischen Kultur der Organisation.37 Vielmehr ist anzunehmen, dass auch situative Aspekte eine Rolle spielten, deren Größe noch zu bestimmen sein wird.38 Andernfalls würde die Gefahr bestehen, dass die Betrachtung der politischen Gewalt auf statistische oder juristische Aspekte reduziert und in einen tendenziell oberflächlichen Zusammenhang mit Gewaltstrategie und Gewaltkultur des Reichsbanners gebracht würde. Einige treffende Beobachtungen über den Zusammenhang von Gewalt und Gewaltkultur lieferte bereits Pamela Swett in Bezug 34 Siehe Braune 2016, S. 345ff. 35 Vgl. Habermas 2009, S. 234. Diese Vorstellung von Kultur als „Wissensvorrat“ impliziert, dass dieses Phänomen nicht mit mathematischen Methoden gemessen werden kann. In diesem Sinne wird hier nicht versucht die Zivilkultur oder die Gewaltkultur des Reichsbanners zu messen, sondern lediglich beschrieben. 36 Siehe Habermas 2009, S. 239. 37 So gibt Habermas zu bedenken, dass jegliche Interaktion nur in einem Spannungsfeld zwischen den daran beteiligten Personen, der Gesellschaft und kulturellen Einflüssen möglich ist (siehe Habermas 2009, S. 240). 38 Zur Mikrosoziologie der Gewalt: Collins 2011. Der Einfluss von Charaktereigenschaften der jeweils betroffenen Personen kann hier mangels Quellen nicht untersucht werden. Über noch näher zu benennende Archivquellen wird aber ein Versuch zur Rekonstruktion der jeweiligen Handlungsabläufe von politischen Tötungsfällen gemacht.

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auf die Straßengewalt von SA und RFB, die allerdings von „culture of radicalism“ spricht. Furthermore, by looking at specific cases it becomes clear that the violence itself followed a common set of rules and behaviors. These standards were not sanctioned by any official body, but they too demonstrate that the disorder served a purpose in these people’s lives. Acts of violence were structured around ritualized displays of bravery and were based on commonly held assumptions about the defense of turf and comrades. Participants even expected that rules of “fair play” would be followed and censured those who did not stay within these bounds.39

Hier werden republikanische Gewaltkultur, Gewaltstrategie und konkrete Gewalthandlungen von Reichsbannermitgliedern als getrennte Aspekte der politischen Gewalt des Reichsbanners untersucht. Die meisten Mitglieder des Bundes waren uniformiert, präsentierten sich bei ihren Demonstrationen in Marschkolonnen mit entsprechender Musikbegleitung und waren kontinuierlich in physische Auseinandersetzungen mit ihren politischen Gegnern verwickelt. Hierbei erfüllte das Reichsbanner als Saalschutzorganisation für die Weimarer Zivilgesellschaft eine Funktion, deren Bedeutung angesichts schwacher Polizeikräfte kaum überbetont werden kann. Nicht nur die eigenen Veranstaltungen, sondern prinzipiell alle Versammlungen und Demonstrationen republikanischer Organisationen und Parteien wurden durch die Mitglieder des Reichsbanners vor gewaltsamen Störungen geschützt und es ist ohne Weiteres ersichtlich, dass ohne diesen Schutz die Aktivitäten dieser Organisationen und damit der demokratische Diskurs insgesamt empfindlich eingeschränkt worden wäre. Dass bei diesen Einsätzen Bundesmitglieder und Gegner gleichermaßen zu Schaden kamen, ist dabei die andere Seite der Medaille.40 Die Ambivalenz, die darin liegt, mit gewalttätigen Mitteln ein eigentlich ziviles Ziel erreichen zu wollen, ist bei praktisch allen Aspekten des Organisationslebens im Reichsbanner zu beobachten. So auch in der Publizistik des Bundes, da alle Artikel, die in der Reichsbannerpresse erschienen, von einer militärischen Sprache geradezu durchtränkt waren.41 Dies zeigt, was hier mit der Aussage gemeint ist, dass die Organisationskultur des Reichsbanners von zivilkulturellen und gewaltkulturellen Elementen geprägt war, die sich gegenseitig voraussetzten und sich eben nicht gegenseitig aufhoben.42 In politiktheoretischer Hinsicht standen 39 Swett 2004, S. 235f. 40 Die Wertschätzung des Reichsbanners etwa durch die Freien Gewerkschaften erklärt sich zu einem wesentlichen Teil aus diesem Aspekt. So wurde auf der ersten Sitzung des ADGBBundesausschusses nach den Septemberwahlen 1930 betont, dass es der „aufopfernden Arbeit des Reichsbanners zu danken [sei], daß in zahlreichen Orten die Abhaltung von Wählerversammlungen überhaupt möglich war.“ Gleichzeitig wurde vom ADGB eine substanzielle finanzielle Unterstützung des Reichsbanners beschlossen, dem als erste Rate 10.000 Mark zu überweisen seien (vgl. Jahn/Brunner (Hg.) 1988, S. 135 (Dok. 13)). 1932 schützten Wachen des Reichsbanners praktisch jedes Gewerkschaftshaus vor den sich häufenden Überfällen der Nationalsozialisten (siehe ebd., S. 647 (Dok. 117)). 41 Siehe Gräb 2018. 42 Eine ähnliche Feststellung macht Reichherzer, wenn er für die Zwischenkriegszeit eine „Hybridisierung“ zwischen „Zivilität“ und „Militarität“ benennt und nach dem entsprechenden Effekt einer „Bellifizierung“ der Zivilgesellschaft fragt (siehe Reichherzer 2012, S. 20). Hier

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die bereits erwähnte Republikaner Preuß und Heller dem Reichsbanner in dieser Hinsicht Pate, da beide Autoren die Wehrhaftigkeit der Demokratie gegen ihre Feinde nicht als Selbstzweck propagierten, sondern als wesentliche Voraussetzung für die generelle Existenz von Demokratie. Preuß’ Ausspruch, dass auch die „Majestät der Republik“ ihrer „Ruten und Beile“ bedürfe, fand im Reichsbanner ein vielfaches Echo. Heller wiederum prägte angesichts der Krise der Weimarer Republik ab 1929 das Konzept der „autoritären Demokratie“, was ebenfalls im Reichsbanner auf fruchtbaren Boden fiel.43 Stand der Reichsbannerforschung und Quellenbasis Dieser Ambivalenz des Reichsbanners, die auch eine allgemeine Ambivalenz des Konzeptes der wehrhaften Demokratie ist, wird in der Literatur selten Rechnung getragen. Es dominiert in der Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit ein Bild des Reichsbanners als friedfertiger und damit angesichts der Weimarer Zeitumstände zwar durchaus ehrenwerter, aber letztlich harm- und wehrloser Organisation, die keinen nennenswerten Einfluss auf das politische Geschehen besessen habe und also uninteressant ist, auch wenn es seit einigen Jahren Versuche gibt, mindestens das Adjektiv uninteressant vom Reichsbanner abzustreifen.44 Seit der bereits 1966 erschienenen umfassenden Studie zum Reichsbanner von Karl Rohe wurde nicht wird hingegen vorausgesetzt, dass in der Weimarer Zivilgesellschaft nicht jede Form der Wehrhaftmachung auf eine Steigerung des Kriegspotentials ausgerichtet war. 43 Zur wehrhaften Demokratie bei Preuß und Heller: Lehnert, Preuß 1993, S. 37ff., Dreyer 2002, Kap. 5 u. Groh 2010, S. 19ff. sowie Albrecht 2007 u. Rudloff 2007, S. 114ff. Zur (oft selbstverständlichen und daher nicht immer expliziten) Rezeption dieser Ideen im Reichsbanner u.a. Schützinger 1931 u. „Aufhebung der Pressefreiheit? Nein! Aufhebung der Verleumdungsfreiheit? Ja!“ von Theodor Haubach, in: RBZ Nr. 30/1931 vom 25.7. 44 In wissenschaftlichen Übersichtswerken zur Weimarer Republik spielte das Reichsbanner, wenn überhaupt, nur eine marginale Rolle und wird für gewöhnlich im Rahmen von drei Ereignissen knapp erwähnt (der Gründung des Bundes im Februar 1924, dem SA-Verbot im April 1932 und dem Preußenschlag im Juli 1932, siehe u.a. Kolb/Schumann 2013, S. 371 sowie Thoß 2008, Gessner 2009 u. Marcowitz 2012, S. 37ff.). Hinsichtlich des RB-Bildes in der Öffentlichkeit sei auf drei populärwissenschaftliche Publikationen verwiesen. In der Geo Epoche zum Thema Weimarer Republik findet sich gleich zu Beginn ein Bild einer Reichsbannerversammlung mit der Notiz, dass der Bund bis zu 3 Millionen Mitglieder besessen habe, was die Massenmobilisierung der Zeit illustrieren soll. Im Folgenden wird das Reichsbanner nur noch einmal kurz in einem Beitrag über die KPD erwähnt (siehe Geo Epoche Nr. 27/2007, S. 6f. u. 150). Im wesentlich umfangreicheren Spiegel-Buch zur Weimarer Republik wird das Reichsbanner ebenfalls nur zweimal knapp erwähnt, wobei beide Male die vermeintliche Harmlosigkeit des Bundes unterstrichen wird (siehe Klußmann/Mohr (Hg.) 2015, S. 115 u. 227). In der Zeit Geschichte zur Entwicklung der deutschen Demokratie seit 1789 wird das Reichsbanner immerhin einmal lobend erwähnt und dies bezeichnenderweise von Tim B. Müller (siehe Zeit Geschichte Nr. 3/2016, S. 70). Eine oberflächliche Suche in den OnlineArchiven überregionaler, deutschsprachiger Zeitungen lässt jedoch vermuten, dass das Thema Reichsbanner in den letzten Jahren tendenziell an Bedeutung gewinnt. Auch die WikipediaSeite über das Reichsbanner scheint regelmäßig bearbeitet und erweitert zu werden.

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mehr versucht, ein Gesamtbild dieser Organisation zu zeichnen.45 Wohl gibt es einige aktuelle, wertvolle Arbeiten zum Reichsbanner mit einem kultur- und/oder regionalwissenschaftlichen Schwerpunkt sowie einzelne Aufsätze, aber eine Untersuchung des Reichsbanners im Hinblick auf die politische Gesamtentwicklung der Weimarer Republik auf einer umfassenden Quellenbasis liegt nicht vor.46 Es ist spätestens seit Rohes Arbeit bekannt, dass die Unterlagen des Reichsbanners von dessen Vorstand 1933 vernichtet wurden, sodass das Innenleben des Bundes weitgehend im Dunkeln blieb.47 Durch Regionalstudien konnte mittlerweile zumindest in die untergeordneten Organisationsebenen einiges Licht geworfen werden.48 Die Akten der Sicherheitsbehörden des Reiches und Preußens ermöglichen jedoch weitere Erkenntnisse über die sicherheitspolitische Bedeutung des Reichsbanners als Ganzes. Neben der erwähnten Frage nach der politisch motivierten Straßengewalt bezieht sich dies hier vor allem auf die Beziehung des Reichsbanners zu den Trägern des staatlichen Gewaltmonopols und insbesondere auf die

45 Siehe Rohe 1966. Ziemann und Rossol lieferten in ihren kulturwissenschaftlich ausgerichteten Arbeiten zahlreiche neue Erkenntnisse über das Reichsbanner, aber sicherheitspolitische Aspekte und das Thema politische Gewalt bleiben hierbei außen vor (siehe Ziemann 2014 u. Rossol 2010). Böhles und Voigt erarbeiteten für Baden und Württemberg bzw. Sachsen umfangreiche Arbeiten, die tendenziell alle relevanten Bereiche abdecken, aber aufgrund der regionalen Perspektive die Entwicklungen auf der Reichsebene nicht umfassend darstellen können (siehe Böhles 2016 u. Voigt 2009). Toury lieferte in zwei Aufsätzen zudem wertvolle Erkenntnisse über die Vorgeschichte und das Innenleben des Reichsbanners (siehe Toury 1997). 46 Eine Zusammenfassung und Diskussion des damaligen Forschungsstandes bietet Ziemann 2011. Eine aktuellere Übersicht zur Reichsbannerliteratur findet sich bei Böhles 2016, S. 15– 21. Einen Überblick zu einschlägigen Regionalstudien bietet Schröder 2013, S. 218, Fn. 4. 47 Höchst bedauerlich ist, dass die schriftlichen Interviews, die Rohe seinerzeit mit den noch lebenden Reichsbannerführern geführt hatte, offenbar nicht mehr erhalten sind. Lediglich im Nachlass von Franz Osterroth befinden sich einzelne Schriftstücke, die einen geringen Einblick in Rohes Arbeitsprozess liefern (siehe FES, NL Franz Osterroth, 1/FOAC, Box 53, Mappe 138). Weniger informativ ist ein Schreiben Rohes an Wilhelm Keil (siehe FES, NL Wilhelm Keil, 1/WKAA, Mappe 38, Bl. 14). Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass dieser Verlust von Rohes Arbeitsunterlagen einen schweren Schlag für die Reichsbannerforschung darstellt, da erstens Rohes Ergebnisse ohne die Originalinterviews vielfach nicht überprüfbar sind und zweitens weitergehende Informationen in den Interviews enthalten gewesen sein dürften, die mangels anderer Quellen über das Innenleben der Reichsbannerbundeszentrale von hohem Wert gewesen wären. 48 Siehe die genannten Arbeiten von Böhles für den Südwesten und Voigt für Sachsen sowie für den Nordwesten die Arbeiten von Ulrich Schröder. Die Quellen ermöglichen nicht zu jeder Region eine ähnlich umfassende Darstellung, aber mindestens für Schleswig-Holstein und Oberbayern wäre ausreichendes Aktenmaterial für neue, akademische Studien über die dortigen RB-Gaue vorhanden. Auch eine größere Arbeit über das Reichsbanner im Ruhrgebiet wäre angesichts der dortigen Besonderheiten (relativ hoher Anteil des Zentrums, entmilitarisierte Zone, Nähe zu Frankreich) wünschenswert. Bislang existiert lediglich zum Wuppertaler Reichsbanner eine geeignete Regionalstudie (siehe Mintert 2002). Informativ ist zudem der Ausstellungskatalog zum Reichsbanner in Pommern (siehe Lysenko/Kretowicz/ Koppehl 2016).

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Polizei, als deren Hilfskraft sich das Reichsbanner vielfach angeboten hat.49 Hier wurden Akten des Reichsinnenministeriums (RIM), des Reichskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung (RKO), des Reichssicherheitshauptamtes, dessen Akten bis zum August 1932 zurückgehen, der Reichskanzlei, des preußischen Innenministeriums (prIM) und des preußischen Justizministeriums (prJM) ausgewertet, die zusammen mit zahlreichen Nachlässen und weiteren verstreuten Beständen den Quellenkorpus dieser Arbeit bilden. Aus diesen verstreuten Beständen sind die im Landesarchiv Schleswig erhaltenen Unterlagen des Reichsbannergaues von Schleswig-Holstein hervorzuheben, die m. W. einmalig sind und einen tiefen Einblick in die Finanzstruktur des Gaues bieten. Ähnlich ergiebig sind die Unterlagen des Reichssicherheitshauptamtes über die Organisationsstruktur der preußischen Reichsbannergaue, die ab August 1932 gesammelt wurden und auf einigen tausend Seiten einen Großteil der preußischen Reichsbannerstruktur überblicksartig darstellen.50 Hinsichtlich der verwendeten Quelleneditionen sind insbesondere die Quellen zur Geschichte der Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert hervorzuheben, die sehr wertvolle Hintergrundinformationen zur 49 Obwohl die Literatur über die Reichswehr und ihre maßgeblichen Akteure sehr umfangreich ist, findet sich darin i.d.R. keine Berücksichtigung des Reichsbanners oder seiner Vorläufer (so auch aktuell bei Keller 2014). Lediglich Carsten gab zu bedenken, dass eine Reichswehr, die nach 1930 mit dem Reichsbanner und der Polizei kooperiert hätte, ein „Fels in der Brandung“ gewesen wäre (vgl. Carsten 1964, S. 459). Über die Literatur zur Polizei in der Weimarer Republik kann das Gleiche festgestellt werden (siehe etwa Dams 2002, wo das Reichsbanner nur marginal erwähnt wird. Ebenso Leßmann 2000 u. Knatz 2003). Das Thema Hilfspolizei wurde ebenfalls nicht oder nur sehr knapp in Bezug auf die SA-Hilfspolizei von 1933 behandelt (siehe etwa Leßmann 1989, S. 389–397), während man auch die Einwohnerwehren im Jahr 1919, die im Wesentlichen eine Hilfspolizei waren, in diesem Sinne betrachten sollte (siehe Könnemann 1971 u. Bergien 2012, Kap. III.2). Sicherlich wurde das Reichsbanner nicht flächendeckend als offizielle Hilfspolizei eingesetzt, aber das Selbstverständnis des Bundes war hieran ausgerichtet. Der zeitgenössische Begriff Hilfspolizei mag wenig vertraut sein, aber auch im heutigen Polizeirecht ist für den Fall eines polizeilichen Notstandes die Inanspruchnahme von „Nichtstörern“ vorgesehen (siehe Thiel 2014, S. 130ff.). Staatlich organisierte Hilfspolizei gibt es heute in den Bundesländern Hessen, Sachsen, BadenWürttemberg und Bayern (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Freiwilliger_Polizeidienst; Stand: September 2017). Die Gründung oder Inanspruchnahme von privaten paramilitärischen Gruppen ist heute illegal und wird auch nicht durch das Widerstandsrecht des Art. 20 (4) GG abgedeckt (siehe Heinemann 2003). 50 Eine vollständige Auswertung dieser Unterlagen war im Rahmen dieser Arbeit nicht praktikabel, aber eine Studie zum preußischen Reichsbanner, die insbesondere das Thema der alltäglichen, nicht-tödlichen politischen Gewalt und den justiziellen Umgang hiermit aufgreifen könnte, wäre durchaus sinnvoll. Bestände der preußischen Polizei- und Justizbehörden zu gewaltsamen Auseinandersetzungen des Reichsbanners sind ebenfalls tausendfach vorhanden. Allein das Landesarchiv Berlin, das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und das Landesarchiv Koblenz verfügen zusammen über mehr als dreitausend relevante Aktenvorgänge, die begreiflicherweise hier nicht vollständig ausgewertet werden konnten. In der Literatur wird nur vereinzelt der Zusammenhang zwischen der alltäglichen Straßengewalt und dem Verhalten der Justiz untersucht (siehe Fülberth 2011 u. Swett 2004, S. 261–294), da eher die größeren, nicht-alltäglichen Justizskandale im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen (siehe Hannover/Hannover-Drück 1966, Steinitz 2008 sowie Rosenblum 2013).

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Eisernen Front (EF) enthalten, während das Reichsbanner bzw. die EF in anderen, gebräuchlichen Quelleneditionen meist nur marginal einbezogen wurden.51 Im Hinblick auf die sicherheitspolitische Relevanz des Reichsbanners und insbesondere das Thema der politischen Gewalt ist somit reichliches Quellenmaterial vorhanden, was – wenn man der Literatur in diesem Punkt Glauben geschenkt hätte – aber eigentlich nicht hätte sein dürfen.52 Das Reichsbanner war also doch keine tendenziell unwichtige, wehrlose Organisation, die mit dem allgemeinen Geschehen und insbesondere der Straßengewalt wenig bis nichts zu tun hatte. Die „Füße“ des millionenstarken republikanischen „Kolosses“ mussten ihre logischerweise gigantischen Abdrücke auch irgendwo hinterlassen. Dieser Frage muss somit inhaltlich nachgegangen werden, wenn man sich nicht mit einem pauschalen Verweis auf den vermeintlich schwachen „Ton“ zufriedengeben möchte.

51 Siehe Jahn/Brunner (Hg.) 1988. Einzelnes zum Reichsbanner noch bei Maurer et al. (Hg.) 1980 u. Michaelis et al. (Hg.) 1962, Kap. 17. In den Quelleneditionen existiert jedoch eine Leerstelle hinsichtlich der Vorgeschichte des Reichsbanners und den Verbindungen zum Republikanischen Führerbund und Republikanischen Reichsbund. Diese Leerstelle soll hier durch einen Dokumentenanhang behoben werden. 52 Dass das Reichsbanner in Überblickswerken zur Weimarer Republik kaum existiert, wurde bereits erwähnt. Auch sicherheitspolitische Studien konzentrieren sich i.d.R. auf die staatlichen Sicherheitsorgane, die Nationalsozialisten und die Kommunisten, aber befassen sich höchstens in den Marginalien mit dem Reichsbanner. Eine Ausnahme hiervon ist Schumanns bereits zitierte Arbeit zur politischen Gewalt in der preußischen Provinz Sachsen (siehe Schumann 2001), aber auch diese Ergebnisse in Bezug auf das Reichsbanner sind nicht ohne Weiteres auf die Reichsebene übertragbar, wie unten gezeigt wird. Auch die grundsätzliche Existenz von republikanischen Freikorps ist zwar schon lange bekannt (siehe Gordon 1959, S. 417 u. 420), aber gemeinhin wurde diesen Gruppierungen keine Bedeutung beigemessen, was beispielhaft die Problematik des Vom-Ende-her-Denkens zeigt. Es ist richtig, dass etwa der Republikanische Führerbund letztlich nur über einen begrenzten Einfluss verfügte, aber warum war dies so und welche konkreten Entscheidungen führten hierzu?

2. „ROT“? DAS REICHSBANNER ALS ÜBERPARTEILICHES MASSENBÜNDNIS Vorher lohnt es sich jedoch, auf einzelne Fehlurteile bzw. unzutreffende Meinungen über das Reichsbanner einzugehen, die bislang ein wesentliches Hindernis für die Beschäftigung mit dem Republikanerbund waren. Wenn hierbei bereits auf einzelne Forschungsergebnisse vorgegriffen wird, so ist dies zur Verdeutlichung der Probleme des bisherigen Forschungsstandes und für das weitere Verständnis der Arbeit notwendig. So wird beim Lesen dieser Einleitung aufgefallen sein, dass bislang vom Reichsbanner stets nur als „republikanischer“ und sogar „überparteilicher“ Organisation die Rede war und das Wort Sozialdemokratie erst jetzt fällt. These vom „sozialdemokratischen“ Reichsbanner Wenn heute überhaupt an das Reichsbanner erinnert wird, so geschieht dies meist in einem sozialdemokratischen Kontext. Das Reichsbanner wird dann mit Adjektiven wie „SPD-nah“ oder „sozialdemokratisch“ ausgestattet. Aber auch die Literatur über die bürgerlichen Politiker, Parteien und Verbände der Weimarer Republik geht in dieselbe Richtung.1 Auf die unbelegte Behauptung der DDR-Historiographie, dass alle Leistungen des Reichsbanners das alleinige Verdienst der „proletarischen“ Basis gewesen seien, die wiederum stets auf eine „rote Einheitsfront von unten“ mit der KPD hingearbeitet hätte, aber nur durch den permanenten 1

Siehe für das öffentliche Gedenken die oben erwähnten populärwissenschaftlichen Publikationen. In der Literatur zum politischen Katholizismus und der Zentrumspartei spielt das Reichsbanner selten eine Rolle und wenn doch, dann meist nur, um die Abgrenzung zu betonen (siehe Stump 1971, Hömig 1979, Blankenberg 1981, Ruppert 1986, Vogel 1989, S. 211– 248, Lehnert, Reichsbannerlager 1993, S. 103ff., Zimmermann 1994, S. 86ff., Krabbe 1995 u. Ummenhofer 2003, S. 250ff.), wohingegen man hervorheben muss, dass immerhin der Parteiflügel um Joseph Wirth sich stark im Reichsbanner engagierte, aber selbst in den WirthBiographien gibt es nur wenig Raum für den Republikanerbund (siehe Hörster-Philipps 1998, S. 312–329 u. Küppers 1997). Auch in Arbeiten zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden Heinrich Krone wird das Reichsbanner nur erwähnt (siehe Schwarz 1996 u. Hehl 1998). Kaum anders sieht es in der Literatur zum Weimarer Liberalismus aus (siehe Stephan 1973, Schneider 1978, S. 245–249 u. aktuell Hacke 2018). Dies mag auch an dem starken Fokus auf Theodor Heuss liegen, der im RRB aktiv war, aber dem Reichsbanner nur als passives Mitglied angehörte. Konsequenterweise bleiben daher die meisten Heuss-Biographien ohne Erwähnung des Reichsbanners (siehe Wirsching 2012, Soldwisch 2012 u. Radkau 2013. Lediglich Merseburger 2012, S. 261 erwähnt den Bund kurz). Aber auch in biographischen Arbeiten zu anderen prominenten DDP-Mitgliedern wird das Reichsbanner allenfalls knapp erwähnt (siehe Luckemeyer 1971, S. 141–150, Hanschel 1977, S. 308, Fischer 1983, Papke 1989, Wengst 1997, S. 46ff., Hausmann 2002 u. Kellmann 2015). Dieser klaren Tendenz entgegen steht lediglich Zirkels Biographie zu Berthold von Deimling, wo dessen Engagement im Reichsbanner angemessen berücksichtigt wird (siehe Zirkel 2008). Diese Dissertation wurde bezeichnenderweise von Benjamin Ziemann begleitet.

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„Verrat“ der „rechten“ Reichsbannerführung daran gehindert worden sei, muss hier nicht näher eingegangen werden.2 Werden nämlich das historische Reichsbanner und insbesondere dessen Publikationen in den Blick genommen, so wackelt die scheinbar selbstverständliche Zuordnung in ein einzelnes Milieu. In der Reichsbannerpresse – also der Reichsbannerzeitung (RBZ), der Illustrierten Reichsbanner Zeitung (IRZ) sowie mehreren Broschüren und Festschriften – konnte kein einziger genuin sozialdemokratischer Parteitext gefunden werden. Jedes publizierte Wort des Reichsbanners war republikanisch oder genauer gesagt nationalrepublikanisch, was bedeutet, dass sich ein Sozialdemokrat hierin ebenso wiederfinden sollte wie ein bürgerlicher Republikaner.3 Die These vom sozialdemokratischen Reichsbanner wird meist damit untermauert, dass bis zu 99% der Mitglieder des Bundes der Sozialdemokratie angehört bzw. nahegestanden haben sollen. Hierbei handelt es sich jedoch nur um eine Schätzung Karl Rohes, die angesichts der Quellenbeschränkungen auch durch neueste Erkenntnisse weder widerlegt noch bestätigt werden kann.4 Es wurde jedoch festgestellt, dass der Anteil von bürgerlichen Republikanern im Reichsausschuss des Reichsbanners im Laufe der Jahre zunahm und zuletzt über 30% betrug.5 Auch im Bundesvorstand und den Gauvorständen hielten Bürgerliche mitun2 3

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Vgl. Helmbold 1970, I-X u. Gotschlich 1987, S. 21ff. Siehe hierzu die Ausführungen zum Nationalrepublikanismus unten. In bisherigen Untersuchungen zum demokratischen Nationalismus in der Weimarer Republik blieb das Reichsbanner meist außen vor (siehe Heß 1978, Register u. Ruppert 1999, S. 214). Hingegen finden sich bei Rossol und Hochman einige Ausführungen über den „republican nationalism“ des Reichsbanners (siehe Rossol 2010, Kap. 4 u. Hochman 2016, u.a. S. 157ff.). Siehe Rohe 1966, S. 266ff. Rohe bietet dort eine kommentierte Zusammenstellung der verschiedenen Schätzungen der von ihm interviewten Zeitzeugen mit nur einen Verweis auf internes Aktenmaterial des Reichsbanners. Insbesondere bleibt auch für Rohe unklar, wie groß der Anteil der parteilich Unorganisierten im Reichsbanner gewesen ist, den er aber potentiell für nicht unerheblich hält. Diese Frage wird sich wohl nicht klären lassen, da größere Ortsgruppen des Reichsbanners ihre Mitglieder in Karteien verzeichneten, die alle nicht erhalten sind. Lediglich die kleinsten Ortsgruppen führten Mitgliederlisten in Buchform, wobei hiervon lediglich eine Handvoll erhalten ist, während es insgesamt über 6.000 Ortsgruppen gab. Angemerkt sei aber, dass von den Mitgliedern der RB-OG von Bad Blankenburg lediglich 40% der SPD und/oder einer Gewerkschaft angehörten (siehe TStA Rudolstadt, 99.2/10, Nr. 40). Mintert nennt für Wuppertal einen Mitgliederanteil der Parteilosen von um die 40%. Etwa 30–40% hätten zudem keiner Gewerkschaft angehört (siehe Mintert 2002, S. 30. Diese Angaben über die Mitgliederstruktur des Wuppertaler Reichsbanners wurden in der Lokalpresse veröffentlicht) Ähnlich sah es im Ortsverein Vegesack aus (siehe Schröder 2013, S. 294ff.). Diese Beispiele unterstützen die Annahme, dass der Anteil der parteilich Unorganisierten im Reichsbanner durchaus beträchtlich gewesen sein kann. Auf das Verhältnis des Reichsbanners zu den verschiedenen Richtungsgewerkschaften werden wir unten noch eingehen. Siehe Helmbold 1970, Anhang, S. 48. Helmbolds Ergebnisse konnten hier bestätigt werden (siehe Dokumentenanhang Nr. 4). Auf einer lokalhistorischen Ebene kam Wiedl zu demselben Ergebnis, wonach im Reichsbanner nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch bürgerliche Kreise in nennenswertem Maße vertreten waren. So hatte in Wetzlar z.B. der liberale Fabrikant Ernst Leitz das Reichsbanner sehr stark unterstützt (siehe Wiedl 2013, 261f.). Für den RB-Gau Baden konnte Böhles jüngst ebenfalls den großen Einfluss der Liberalen und

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ter wichtige Positionen in der Finanzverwaltung, der allgemeinen und der technischen Organisation des Bundes. Theodor Wolff, Ernst Lemmer, Heinrich Krone, Carl Spiecker, Joseph Wirth, Berthold von Deimling, Ludwig Haas, Wilhelm Nowack, Harry Graf Kessler, Fritz von Unruh, Wilhelm Abegg und viele weitere prominente Nicht-Sozialdemokraten waren für das Reichsbanner aktiv.6 Auch hinsichtlich der einfachen nicht-sozialdemokratischen Reichsbannermitglieder sollte nicht vergessen werden, dass diese Männer meist wie ihre sozialdemokratischen Kameraden der Arbeiterklasse angehörten, weswegen Theodor Haubach (SPD) im Reichsbanner bereits ein gutes Stück des Ideals der „Einheitsfront“ verwirklicht sah.7 Inwiefern soll es also gerechtfertigt sein, von einem (rein) sozialdemokratischen, „roten“ Reichsbanner zu sprechen? Die Tatsache, dass Rohe diese Sichtweise unterstützte, ist allein nicht ausreichend, da weder das Quellenmaterial, auf dem seine Arbeit basierte, dem aktuellen Forschungsstand entspricht, noch seine Interpretation dieses Materials zu neueren Erkenntnissen passt. Richtig an Rohes Ansicht ist, dass sich der Einfluss der SPD in der Endphase der Republik erhöhte, aber erstens wurde hieraus nie eine vollständige Sozialdemokratisierung des Reichsbanners und zweitens hatte Hörsing in all den Jahren zuvor stets auf die prinzipielle Unabhängigkeit seines Vorsitzes gepocht, wobei er auch schweren Konflikten mit der SPD nicht aus dem Weg ging, was schließlich zu seiner politischen Kaltstellung maßgeblich beitrug.8 Einen Ausschluss oder Austritt von bür-

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Zentrumspolitiker verdeutlichen, wobei er unterstreicht, dass dies von regionalen Faktoren abhing. Schon im benachbarten Gau Württemberg waren die bürgerlichen Parteien wesentlich zurückhaltender gegenüber dem Reichsbanner (siehe Böhles 2016, S. 199–220). Mindestens zu Lemmer und Spiecker wären weitergehende biographische Arbeiten sinnvoll, um die Position der bürgerlichen Republikaner im Reichsbanner anhand dieser beiden prominenten Fallbeispiele zu klären. Im Rahmen dieser Arbeit gibt es zwar einzelne biographische Informationen zu allen Genannten, aber eine ernsthafte biographische Auseinandersetzung hätte nicht einer, sondern mehrerer Dissertationen bedurft. Auch zu Hörsing existiert bislang keine biographische Arbeit, die über die Reproduktion von zeitgenössischen Anekdoten hinausginge. Hierbei ist auffällig, dass manche Historiker, die Hörsing mitunter noch persönlich erlebt hatten, so wie das RB-Mitglied Werner Stephan (siehe Wegner/Albertin (Hg.) 1980, S. 353 (Dok. 125)), ihn wesentlich positiver bewerten als es Rohe tut, der Hörsing knapp gesagt als einen eitlen, pöbelnden Haudrauf von minderer Intelligenz darstellt, wohl um demgegenüber den vermeintlich „jugendlich-sportlichen Frontsoldatentyp“ Höltermann in ein besseres Licht zu rücken (siehe Rohe 1966, S. 55–66, dagegen Stephan 1973, S. 337f., Matull 1973, S. 190ff. u. Toury 1997, S. 25–33). Dennoch sind die biographischen Angaben bei Rohe leider bislang der einzige größere Überblick zum engeren Führungszentrum des Reichsbanners, was nach Möglichkeit ebenfalls durch neue Forschungen korrigiert werden müsste. Einen geeigneten biographischen Überblick zu den prominentesten pazifistischen Aktivisten im Reichsbanner (Deimling, Schönaich, Schützinger, Mayr u. Hobohm) lieferte bereits Ziemann 2014, Kap. 6. Vgl. Bericht der Gaugeneralversammlung 1932, in: TStA Rudolstadt, 99.2/10, Nr. 41. Laut Haubach seien die Anhänger des Zentrums im Reichsbanner waschechte „Proleten“, während die Liberalen meist Angestellte oder anderweitig abhängig Beschäftigte seien. Rohes Arbeit stützte sich kaum auf Archivmaterial, sondern vor allem auf Publikationen des Reichsbanners und Gespräche mit Zeitzeugen. Gerade diese Gespräche, die Rohe vor allem

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gerlichen Republikanern hatte dieser aber nicht zur Folge. Erst die Machtergreifung führte im Februar 1933 zu einem deutlicheren Bruch innerhalb des Reichsbanners.9 Hierbei darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass selbst in diesen letzten Tagen des Bundes Liberale und Zentrumsmänner der schwarz-rot-goldenen Fahne treu blieben.10 Die Reichsbannerführung war immer bemüht, alle wichtigen Schritte im Einvernehmen mit den drei größten republikanischen Parteien – SPD, DDP und Zentrum – bzw. deren Vertretern im Reichsbannerbundesvorstand zu tun, aber hieraus mit Rohe abzuleiten, dass die Führung des Reichsbanners nicht in Magdeburg, sondern in der Berliner Lindenstraße, also der Parteizentrale der SPD, lag, ist völlig überzogen,11 wobei das Verhältnis des Reichsbanners zu all seinen Trägerparteien selbstverständlich nicht spannungsfrei war. Der überparteiliche Charakter des Reichsbanners wird in der jüngeren Literatur zum Bund durchaus anerkannt, ohne dass eine Problematisierung vergessen würde.12 Insbesondere bei Carsten Voigt und Benjamin Ziemann wird aber das Reichsbanner als Teil des sozialdemokratischen Milieus interpretiert und die praktischen Auswirkungen der offiziellen Überparteilichkeit des Bundes gering geschätzt. Richtig an dieser Interpretation ist, dass die Reichsbannermänner durch ihre bloße Mitgliedschaft im Bund nicht ihre Milieuzugehörigkeit verloren, sodass ein Großteil der Mitglieder des Reichsbanners im sozialdemokratischen Milieu beheimatet gewesen sein wird und indirekt auch das Reichsbanner zu einem Teil dieses Milieus wurde. Somit erfüllte das Reichsbanner für viele Mitglieder tatsächlich die Funktion einer sozialdemokratischen Vorfeldorganisation, die dazu diente, über gemeinsame kulturelle Vermit Unterstützern Karl Höltermanns und insbesondere Franz Osterroth führte, sind eine zentrale Quelle seiner Arbeit (siehe Rohe 1966, S. 475ff.). Solche Meinungsäußerungen können jedoch nicht einfach generalisiert werden, da es sich hierbei notwendigerweise um nachträgliche Interpretationen des Geschehens handelte und Rohe vertraut vielfach seinen Interviewpartnern zu unkritisch, während gerade Osterroth seine eigene geschichtspolitische Agenda verfolgte (siehe FES, NL Franz Osterroth, 1/FOAC, Box 53, Mappe 138). So lieferte Rohe nie den Beweis für seine griffige und daher viel zitierte These, die er aus diesen Interviews übernahm, dass die Politik des Reichsbanners immer vom SPD-PV gesteuert worden sei. Neben den Zeitzeugeninterviews führt er lediglich zwei aus dem Kontext genommene Sätze Hörsings und Höltermanns an sowie einen weiteren Absatz aus einem Brief des ostpreußischen Reichsbannerführers Meißner, in dem dieser sich über das Einmischen der SPD in die Frage des Reichskuratoriums für Jugendertüchtigung beschwert (siehe Rohe 1966, S. 337f.). Der Einfluss des SPD-Vorstandes war 1932 in der Frage des Reichskuratoriums sicherlich vorhanden, aber eigentlich ist Meißners Beschwerde ein Beweis dafür, dass dieser Einfluss nicht als selbstverständlich hingenommen wurde. 9 Im Sommer 1932 war ein Teil des Reichsbanners um Hörsing abgesplittert und hatte sich in dessen Sozialrepublikanischer Partei gesammelt. Dies war vor allem eine innersozialdemokratische Spaltung und keine zwischen bürgerlichen und proletarischen Republikanern (siehe hierzu unten). Die vorherige Abspaltung der SAP von der SPD hatte 1931 im Reichsbanner hingegen keine großen Spuren hinterlassen, da sich Linkssozialisten ohnehin kaum für den Republikanerbund interessiert hatten. 10 Ausführlicher hierzu unten. 11 So Rohe 1966, S. 337 und ähnlich bereits auf S. 62ff. 12 Siehe Böhles 2016, S. 189ff., Rossol 2008, S. 14 u. Toury 1997, S. 11.

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anstaltungen die eigenen Anhänger in die sozialdemokratische Bewegung, aber gleichzeitig auch in die Republik zu integrieren.13 Dies darf aber umgekehrt nicht zu dem Schluss führen, dass es dem Reichsbanner an organisatorischer und geistiger Unabhängigkeit von den Parteistrukturen der SPD gemangelt hätte. Hörsing insbesondere war kein klassischer Parteisoldat. Alle Wehrverbände, selbst die parteigebundenen, besaßen ein ausgeprägtes Sonderbewusstsein, welches sie in erster Linie aus ihrem Aktivismus schöpften.14 Man darf bei aller Gemeinsamkeit die mitunter beträchtlichen Differenzen zwischen der SPD und dem Reichsbanner genauso wenig vergessen wie (bei allen Differenzen) die Gemeinsamkeiten zwischen dem Reichsbanner und den bürgerlichen Republikanern.15

13 Siehe Voigt 2009 u. Ziemann 2014, insb. Kap. 3 u. 4. So mit einem mikroregionalen Schwerpunkt auf das bayerische Röthenbach auch Oberst 2013, S. 61ff. u. mit einem Schwerpunkt auf die Gedenkpraxis der Sozialdemokratie: Lehnert 1989. 14 So wurde etwa auf der Gauversammlung für Berlin und Brandenburg 1930 deutliche Kritik am SPD-dominierten Vorstand geäußert, der nicht den Aktivismus der Mitglieder wiederspiegele. Kritisiert wurde auch, dass nicht alle SPD-Vorstandsmitglieder in Reichsbanneruniform aufgetreten seien (vgl. Anträge zur Gauversammlung am 15. und 16. März 1930 in Berlin, in: BArch RY12/7, Bl. 20ff.). 15 Zum spannungsgeladenen Verhältnis der SPD zum Reichsbanner sei auf jene Stimmen in der SPD verwiesen, die den Bund als ein „militaristisches“, „notwendiges Übel“ ansahen und lediglich unter dem Druck der Rechtsradikalen bereit waren, ein solches Abwehrbündnis mitzutragen. Insbesondere bei Voigts Ausführungen über die sächsischen Verhältnisse wird dies deutlich, wo es dementsprechend enorme Vorbehalte innerhalb der SPD gegen das Reichsbanner gab, wobei diese Position letztlich nicht mehrheitsfähig war (siehe Voigt 2009, S. 212ff., 235 u. 438ff. sowie u.a. Opitz 1978, S. 275ff. u. Winkler 1988, S. 380f.). Auch in der biographischen Literatur zu Weimarer Sozialdemokraten ist das Reichsbanner keineswegs – wie man ob der These vom „roten“ Reichsbanner ja meinen könnte – besser vertreten als in der oben zitierten Literatur zu den bürgerlichen Republikanern (siehe Jung 1989, Hein 1989, Overesch 1992, Seebacher-Brandt 1994, Mittag 2001, Pehnke 2009, S. 53–60, Wojak 2009, S. 107ff., Smaldone 2009, Schumacher 2012, Weber 2012 u. Zibell 2015. Lediglich bei Zimmermann 2004 u. Marquet 2015 wird das Reichsbanner ausführlich behandelt). Anders sieht es jedoch für die Literatur zum rechten Flügel der SPD aus, wo das Reichsbanner wesentlich klarer, wenn auch nicht dominierend hervortritt (siehe Scholz/Oschilewski 1954, Hammer 1955, Manowski 1967, Heine 1977, Beck 1983, Beck 1986, Albrecht 1987, Steinbach 1997, Vogt 2006, S. 120ff., Heimann 2007, Schmeitzner 2007, S. 253, Vogt 2010, S. 255f. u. Altrichter 2012, S. 84ff.). Es scheint, als wäre diese Gruppierung bzw. deren BiographInnen in der Nachkriegszeit noch am ehesten bereit gewesen, das „Stiefkind“ (Toury 1997) namens Reichsbanner anzunehmen, was mit Rohes Beobachtung zu erklären sein könnte, dass im Reichsbanner bereits die Entwicklungstendenzen der Nachkriegs-SPD angelegt waren (vgl. Rohe 1966, S. 474). Dies mag stimmen, aber man sollte nicht übersehen, dass politisch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten dem Bund in ihren Autobiographien weiten Raum gewährten, was für die Heterogenität des Reichsbanners spricht (siehe etwa Löwenstein 1934, Buchwitz 1950, Lemmer 1968, Raloff 1995, Uhlmann 1998, Schulz 2000 u. Gyßling 2003).

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Sonderbewusstsein und organisatorisches Eigengewicht Das Reichsbanner war gewiss keine SPD-Truppe und auch kein „sozialistischer“ Wehrverband ohne eigenes Sonderbewusstsein.16 Rohe versuchte auch, eine Einordnung des Reichsbanners in einen europäischen Kontext vorzunehmen, was grundsätzlich sinnvoll erscheint, aber die Bedeutung dieser internationalen, antifaschistischen Zusammenarbeit darf nicht überschätzt werden, zumal diese Zusammenarbeit auch nicht institutionalisiert war. Julius Deutsch (SDAP), der damalige Vorsitzende des österreichischen, rein sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbundes, versuchte über die Betonung solcher Kooperationen seinen Verband zu stärken und regte zu diesem Zweck wiederholt, aber ohne Erfolg an, das Reichsbanner in einen rein sozialdemokratischen Parteiverband umzuformen und Bürgerliche explizit auszuschließen.17 Ja, das Reichsbanner war ein antifaschistischer Verband, der Kontakte zu anderen antifaschistischen Gruppierungen im europäischen Ausland pflegte, aber im Vordergrund der Auslandskontakte des Reichsbanners stand in Bezug auf Österreich und Südtirol stets der großdeutsche Gedanke und in Bezug auf alle übrigen Länder die sog. Pflege des Auslandsdeutschtums.18 Rohe urteilte über das Bemühen des Reichsbanners um die großdeutsche 1848er-Tradition hingegen, dass dieses ergebnislos, „blass“ und „künstlich“ gewesen sei.19 Demgegenüber konnte Marcel Böhles für das badische Reichsbanner zeigen, dass das dortige Gedenken an 1848 in vielfältiger Hinsicht stark ausgeprägt war und auch breitere Volkskreise eingebunden werden konnten.20 Das Adjektiv künstlich ist ferner kein gültiger Einwand gegen die Arbeit des Reichsbanners, da in sozialkonstruktivistischer Hinsicht auch Traditionen erst einmal geschaffen werden müssen, bevor sie zu etwas Selbstverständlichem, vermeintlich Natürlichem werden. Freilich wurde das Reichsbanner über die Eiserne Front 1932 enger an die SPD gebunden, wobei hierdurch die Spannungen nicht verschwanden, sondern sich eher noch erhöhten. Eine Tendenz hin zur Sozialdemokratie ist innerhalb des republikanischen Lagers sicherlich zu beobachten gewesen.21 Die SPD musste angesichts des rücksichtslosen Hasses der Nationalsozialisten auf „den Marxismus“ immer einen klaren Konfrontationskurs zur NSDAP einnehmen und es gehörte durchaus zur NS-Strategie, die hiermit einen Keil zwischen die republikanischen Parteien trieb, dass Veranstaltungen des Zentrums nicht gestört werden soll16 Siehe Rohe 1966, S. 200–226. 17 Siehe Deutsch 1926. 18 Hierzu etwa BArch N1174/6, Korrespondenz „Reichsbanner“ sowie unten. Ausführlich Hochman 2016. 19 Vgl. Rohe 1966, S. 232 u. 240. 20 Siehe Böhles 2016, S. 149–177. 21 Im Chemnitzer RB-Gau zogen sich die Liberalen bereits 1930 aufgrund lokaler Parteidifferenzen mit der SPD aus dem Reichsbanner zurück, was den dortigen Bund de facto in eine reine SPD-Organisation verwandelte. Das Zentrum war im sächsischen Reichsbanner aufgrund regionaler Gegebenheiten ohnehin immer nur eine marginale Größe gewesen (siehe Voigt 2009, S. 220ff u. 238ff.).

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ten, während die SPD mit konstanten Störungen rechnen musste. Wo es vereinzelt dennoch zu Übergriffen der SA auf Zentrumskreise kam, wurde dies mitunter von Hitler persönlich verurteilt und die Verantwortung hierfür auf „provokatorische Elemente“ in der SA geschoben.22 Aber nochmals: Diese Tendenz zur SPD darf nicht verabsolutiert werden, so wie es insbesondere in der bundesdeutschen Nachkriegsdebatte über das Reichsbanner und dessen Rolle in der Weimarer Republik getan wurde.23 Dies lag nicht zuletzt an der eingeschränkten Quellenlage vor der deutschen Wiedervereinigung, aber auch an einem weiteren Urteil Rohes, und zwar jenem über die Relevanz des Reichsbanners. So heißt es bei Rohe, dass das Reichsbanner „nur eine geliehene Existenz“ besaß, die in „unleugbarer Abhängigkeit von der SPD“ stand und folglich keine nennenswerten politischen Fragen vom Bundesvorstand entschieden werden konnten. So habe der Bund auf praktisch jede politische Eigeninitiative verzichten müssen.24 Diese und weitere Überspitzungen prägten das Bild des Reichsbanners in der Wissenschaft für mindestens eine Generation maßgeblich und dies nicht unbedingt in einer konstruktiven Weise. Wenn das Reichsbanner eine „abhängige“ und politisch unwesentliche Organisation sein soll, warum wäre es dann einer weiteren Beschäftigung wert?25 22 Vgl. „Hitler bremst. Ein Aufruf gegen Störungen von Zentrums-Versammlungen“, in: VZ Nr. 90/1933 vom 22.2. 23 Exemplarisch für die Debatte über das Reichsbanner vor Rohe sind die Beiträge im Sammelband über das Ende der Parteien. Matthias betrachtet dort das Reichsbanner als Teilaspekt der SPD-Geschichte, während in den Beiträgen zur DDP (Matthias/Morsey) und dem Zentrum (Morsey) das Reichsbanner kaum bzw. keine Berücksichtigung findet (siehe Matthias/Morsey 1960). Eine parallele Verortung des Reichsbanners findet in einem Sammelband von Lehnert und Megerle statt. Dort wird das Reichsbanner lediglich in Lehnerts Beitrag angemessen berücksichtigt, während es in den Beiträgen zur liberalen Erinnerungskultur (Bendikat) wenig und im Beitrag zum konservativen Milieu (Kotowski) keine Rolle spielt. Sogar im Beitrag über die KPD (Gailus) wird das Reichsbanner häufiger erwähnt (siehe Lehnert/Megerle 1989). Auch in anderen einflussreichen Arbeiten nach Rohe wurde nicht angezweifelt, dass das Reichsbanner als SPD-Unterorganisation zu behandeln sei (siehe etwa Winker 1986 u. Pyta 1989). Saage und Helmbold betonen in ihren Arbeiten zum Reichs-banner hingegen den Einfluss der bürgerlichen Kräfte, was durchaus als Kritik am Reichs-banner gemeint ist (siehe Saage 1986 u. Helmbold 1970). Bracher war wiederum schon 1955 der Ansicht, dass das Reichsbanner als überparteiliche, republikanische Sammlungsorganisation betrachtet werden müsse und auch Toury betonte dies (siehe Bracher 1984, S. 129 u. Toury 1997). 24 Vgl. Rohe 1966, S. 94 u. 337f. Rohe relativiert diese Urteile zwar, aber zitiert wurde er nicht mit diesen Relativierungen, sondern mit den Überspitzungen (siehe z.B. Stumpf 1971, S. 67 u. 142). Das Problem Rohes ist, dass er an diesen Stellen mündliche Aussage Walter Röders und anderer Zeitzeugen wiedergibt bzw. deren Urteile übernimmt. Aber selbst, wenn Röder oder ein anderer Reichsbannerführer die eigene Rolle in der Weimarer Republik nachträglich als gering und einflusslos bzw. das eigene Handeln nachträglich als nutzlos bewertete, ist dies noch lange kein wissenschaftliches Urteil, sondern höchstens der Ausgangspunkt für eine Analyse, die Rohe in diesen Punkten nicht liefert. 25 Rohe schließt seine Arbeit u.a. mit der Frage, ob der Ansatz des Reichsbanners den Faschismus mit dessen eigenen Mitteln bekämpfen zu wollen, nicht ohnehin von Beginn an zum Scheitern verurteilt war (siehe Rohe 1966, S. 474). Auch Lothar Albertin stellte in seiner Rezension zu Rohe fest, dass hiermit die Geschichte des Reichsbanners abschließend erforscht

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Rohe selbst deutet als Relativierung seines Urteils an, dass das Reichsbanner im Laufe der Zeit eine gewisse organisatorische Schwerkraft entwickelt habe, ohne neben der Erwähnung der Reichsbannerversicherung in Details zu gehen, obwohl er selbst die ungeheuerliche (und keineswegs unrealistische) Summe von 10 bis 12 Millionen Reichsmark als Jahresbudget des Reichsbanners nennt.26 Das Gesamtbudget ist ohne weitere Quellen kaum zu untersuchen, aber selbst der Teilaspekt der Reichsbannerversicherung ist ein sehr wichtiger Ansatzpunkt. Im Rahmen der schrittweise aufgebauten Reichsbannerversicherung wurden Mitglieder gegen die finanziellen und rechtlichen Folgen von politischen Gewaltmaßnahmen geschützt, wobei die Summen der geleisteten Zahlungen spätestens 1932 enorm waren. Allein in diesem Jahr wurden laut den offiziellen Angaben des Bundesvorstandes, der sich für die finanzielle Belastung der Mitglieder mit dieser Offenlegung rechtfertigen musste, insgesamt knapp 180.000 Reichsmark für Zahlungen zum Rechtsschutz und gut 55.000 Mark für Zahlungen wegen Arbeitsausfällen in Folge von Verletzungen im Dienst des Reichsbanners aufgewendet. In allen Jahren zusammengenommen wurden von der Reichsbannerversicherung knapp 800.000 Mark ausgezahlt.27 Zur Kontextualisierung dieser Zahlen sei gesagt, dass sich die einzelnen Zahlungen für den Rechtsschutz typischerweise in einem Rahmen zwischen 15 und 500 Mark bewegten, was bedeutet, dass allein 1932 mehrere tausend Gerichtsprozesse aus diesen Mitteln bestritten wurden.28 worden sei (siehe Albertin 1968, S. 464). Toury merkte treffend an, dass die weitgehende Abwesenheit des Reichsbanners selbst in der Spezialliteratur zur Arbeiterbewegung ihren Grund neben dem erwähnten Quellenmangel an der Zwitterrolle des Bundes zwischen SPDParteigarde und republikanischer Einheitsbewegung haben kann (vgl. Toury 1997, S. 11f.). 26 Siehe Rohe 1966, S. 76 u. 339. Rohe nennt fälschlicherweise den Schutz vor den finanziellen Folgen von Berufsunfällen als Zweck der Versicherung. Berufsunfälle waren durch die Reichsbannerversicherung aber nur im Todesfall mit einem Sterbegeld für die Angehörigen abgedeckt. Unfälle im Dienst der Organisation waren hingegen immer versichert (siehe RBBundessatzung 1931, S. 11f.). Die Aussage Rohes über das Gesamtbudget des Reichsbanners bezieht sich auf eine Angabe bei Knickerbocker 1932. Tatsächlich dürfte das Gesamtbudget mehrere Millionen Reichsmark betragen haben. So betrug allein der Jahreshaushalt des RBGaues Schleswig-Holstein (1 von 32 Gauen) stets über 100.000 Mark (siehe Hauptausgabenbuch der Gaugeschäftsstelle Kiel, in: LA Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 53). Neben dem Budget der Gaue müssten zudem die Direkteinnahmen des RB-BV aus Spenden und den Verkäufen von Vereinsbedarf, Schriften oder Merchandise-Artikeln berücksichtigt werden. So gab es etwa die RB-Margarine („ReiBaMa“) und verschiedene RB-Zigarettenmarken. Die Höhe dieser Einnahmen ist zwar unbekannt, aber die SA schöpfte einen Großteil ihres Budgets aus dem Verkauf der „Sturm“-Zigaretten (siehe Longerich 1989, S. 135 u. Siemens 2017, S. 97ff.). 27 Eigene Zusammenstellung auf Basis der RBZ. Für das Zahlenmaterial der vier Quartale 1932: „Mitteilungen des Bundesvorstandes“, in: RBZ Nr. 23/1932, Nr. 32/1932, Nr. 42/1932 u. 3/1933. Dort auch die Gesamtsumme. 28 In die Finanzstruktur des Reichsbanners auf Bundesebene sind kaum Einblicke möglich, aber immerhin existiert das Hauptausgabenbuches des Gaues Schleswig-Holstein, welches u.a. vielfältige Beispiele für Zahlungen im Rahmen der Rechtsschutzversicherung enthält (siehe LA Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 53). Der ganze Themenkomplex „Reichsbanner vor Gericht“ kann in dieser Arbeit nur angeschnitten werden, aber eine umfassendere Beschäftigung hiermit, etwa anhand von preußischen Fällen, wäre sinnvoll, wie oben bereits angemerkt wurde.

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Auch die genannte Summe für die Versicherung gegen Verletzungen im Dienst klingt zunächst nicht nach viel. Es wurden jedoch nur schwere Verletzungen abgesichert und diese meist mit Tagessätzen von 1 oder 2 Mark, wobei zu berücksichtigen ist, dass 1932 Arbeitslose und deren Familien nach Abzug von Miete, Gas etc. lediglich mit täglich etwa 30 Pfennig pro Person überleben mussten.29 Die genannte Summe von 55.000 Mark verteilt sich somit ebenfalls auf mehrere tausend Einzelfälle von gewaltsamen Zusammenstößen, in denen dank der Reichsbannerversicherung substanzielle Unterstützung für die Aktivisten und deren Angehörige geleistet werden konnte.30 Es lässt sich allein an diesem Aspekt zeigen, dass das Eigengewicht des Reichsbanners beträchtlich war. Ohne die Versicherung des Bundes wären tausende Gegner des Nationalsozialismus ohne finanzielle Unterstützung geblieben – ganz zu schweigen vom Schicksal ihrer Angehörigen – und es ist fraglich, ob sie ihren Kampf ohne diese Unterstützung hätten führen können. Die Einrichtung dieser Versicherung war aber eine freie Entscheidung des Reichsbannerbundesvorstandes und nicht der SPD. Hinsichtlich der Bedeutung des Reichsbanners lässt sich also sagen, dass auch solche vermeintlich technischen Fragen, für die das Reichsbanner unbestritten allein zuständig war, politische Konsequenzen nach sich zogen. Selbst wenn der vermeintliche Mangel an Eigenständigkeit des Bundesvorstandes zuträfe, bliebe die Tatsache, dass das Reichsbanner Angehörigen aller drei republikanischen Parteien eine Plattform für den gemeinsamen Austausch bot, ob nun auf den Bundesgeneralversammlungen, im Reichsauschuss, den Gau- und Ortsvorständen oder in den Spalten der RBZ und IRZ. Aktivisten und Funktionäre von SPD, DDP und Zentrum trafen sich bei diesen Gelegenheiten und diskutierten das Vorgehen angesichts der Bedrohungen für die Republik. Schon das Vorhandensein einer solchen Plattform für eine außerparlamentarische 29 Die Höhe der Zahlungen war von der Beitragsklasse (A, B, C, D) des Antragsstellers abhängig. Arbeitsausfälle von weniger als einer Woche (also leichtere Verletzungen) wurden nicht versichert. Der Tagessatz für einen ausgefallenen Arbeitstag in der Beitragsklasse A, der die allermeisten RB-Mitglieder angehörten, betrug 1 Mark. Für die Beitragsklasse D waren es 4 Mark. Antragssteller mussten zudem mindestens drei Monate vor dem Antrag zahlendes Mitglied im Reichsbanner gewesen sein (siehe RB-Bundessatzung 1931, S. 11). Zur Kontextualisierung der damaligen sozialen Situation samt Zahlenbeispielen: Winkler 1990, Kap. 1.1. 30 Zum Vergleich: Im Rahmen der SA-Versicherung wurden zwischen 1928 und 1932 insgesamt über 20.000 Schadensfälle finanziell unterstützt. Vom 1.1. bis zum 31.9.1932 waren es allein knapp 10.000 Fälle (siehe IfZM, NL Walter Luetgebrune, MA 616, Nr. 20 u. zur Kontextualisierung Laube 2002). Die dargestellten Zahlen für die Reichsbannerversicherung bewegen sich bei aller Vorsicht in der Auslegung auf einem vergleichbaren Niveau. Der Stahlhelm war wesentlich weniger in gewaltsame Auseinandersetzungen verwickelt und gab gut 3000 eigene Verletzte für den Zeitraum von 1923 bis 1933 an (siehe NSDFB 1935). Die Rote Fahne veröffentlichte ferner Statistiken der Roten Hilfe, die gut 19.000 Verletzte von 1923 bis 1931 verzeichnete, wobei aber aus propagandistischen Gründen – zur Förderung einer „proletarischen Einheitsfront“ – nicht angegeben wurde, wie viele hiervon Anhänger der KPD waren und wie viele der SPD und anderen politischen Gegnern der Nationalsozialisten zuzuschreiben sind (siehe „Zwei Jahre Hakenkreuzmord“, in: Rote Fahne Nr. 212/1931 vom 21.11. Spätere Statistiken wie Hartmann 1932 sind unvollständig).

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Kommunikation der Parteien ist nicht unwichtig. Das schwarz-rot-goldene Reichsbanner war in diesem Sinne ein aktiv handelndes Subjekt des politischen Geschehens und kein passives Objekt, wie wir in folgenden Kapiteln nicht zuletzt anhand der sicherheitspolitischen Initiativen der Reichsbannerführung diskutieren werden, denen die SPD so manchen Stein in den Weg legte.31

31 Rohe sprach dem Reichsbanner auch die direkte sicherheitspolitische Relevanz ab und wollte lediglich einen psychologischen Beitrag des Reichsbanners zur Stabilisierung der Republik erkennen (siehe Rohe 1966, S. 80). Rohe fehlte auch in diesem Punkt die Einsicht in die Akten des DDR-Staatsarchives, wo u.a. die Akten des RIM lagerten. Anders als Rohe konnte Berghahn für seine Arbeit zum Stahlhelm das Potsdamer Staatsarchiv jedoch besuchen, wobei er dank seiner Vermittlung einen wesentlichen Beitrag zur Erschließung des dort befindlichen, sehr umfangreichen Stahlhelm-Archives leisten konnte (siehe die Bestandsbeschreibung zu R 72, in: https://invenio.bundesarchiv.de/basys2–invenio/main.xhtml).

3. „DEMOKRATIEGEFÄHRDEND“? DAS REICHSBANNER ALS STAATSTRAGENDE GEWALTORGANISATION Das Reichsbanner war also eine abwehrbereite, überparteiliche Massenorganisation, die der Weimarer Republik mindestens in ihren stabilen Jahren als „Stützkorsett“ diente, wie es Jacob Toury formulierte.1 Aber diese Sichtweise auf das Reichsbanner ist keineswegs selbstverständlich, sondern vielmehr einem Gutteil der Literatur zur wehrhaften Demokratie diametral entgegengesetzt. Blicken wir erneut auf Karl Löwensteins Ansichten zur wehrhaften Demokratie. Dort heißt es über den richtigen Umgang mit dem nationalsozialistischen, von Emotionen getragenen Angriff auf die Demokratie wie folgt. One method of overcoming fascist emotionalism would certainly be that of offsetting or outdoing it by similar emotional devices. Clearly, the democratic state cannot embark on this venture. Democracy is utterly incapable of meeting an emotional attack by an emotional counter-attack. Constitutional government, by its very nature, can appeal only to reason; it never could successfully mobilize emotionalism; even its emotional ingredients are only a prelude to reason. The emotional past of early liberalism and democracy cannot be revived. Nowadays, people do not want to die for liberty.2

Der republikanische Emotionalismus des Reichsbanners musste für den Pessimisten Löwenstein folglich ein kontraproduktiver Ansatz sein.3 Über den (para-) militärischen, gewaltsamen Aspekt der Abwehr des Faschismus schwieg sich Löwenstein aus und konnte daher nicht sehen, dass auch Reichsbannermitglieder ihr Leben für die Freiheit opferten. Für ihn waren die paramilitärischen Wehrverbände lediglich als Instrument zur Zerstörung der Demokratie von Bedeutung.4 Nun war Löwenstein gewiss nicht der einzige Zeitzeuge der Weimarer Republik, der die gewaltsamen Mittel zu ihrer Verteidigung gering schätzte. Am anderen Ende des demokratischen Spektrums vertrat der ebenfalls schon genannte Julius Deutsch ähnliche Ansichten in Bezug auf die Rolle von paramilitärischen Verbänden. So heißt es bei Deutsch, der in den 1920ern das Konzept der „proletarischen Wehrhaftigkeit“ (als sozialistischer Spielart der wehrhaften Demokratie) 1 2 3

4

Vgl. Toury 1997, S. 92. Löwenstein 1937, S. 428. In seinen Erinnerungen vertritt Löwenstein dementsprechend das bekannte Bild der Weimarer Republik „ohne Republikaner“. Er selbst – ein DDP-Mitglied, welches Massenversammlungen mied – und viele andere hätten lange Zeit die Gegenkräfte zur Republik unterschätzt und nicht gesehen, dass der neue Staat in wesentlichen Teilen auf den alten Monarchismus gebaut worden sei. Diese Weimarer „Pseudo-Demokratie“ wäre demnach auch ohne den Nationalsozialismus untergegangen und hätte keinerlei Lebenschancen gehabt (vgl. Autobiographisches Manuskript Löwensteins, S. 131ff., in: Amherst College, Archives and Special Collections, Karl Loewenstein (1891–1973) Papers, Box 15a). Ein herzlicher Dank geht an Dr. Markus Lang, der die entsprechende Passage vermittelte. Siehe Löwenstein 1937, S. 424f. Dort ist von der Rolle der faschistischen „semi-military corps“ oder „party militias“ die Rede. Dass auch die Republik ihre „semi-militärische Miliz“ hatte, nimmt Löwenstein nicht wahr.

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vertreten und in den Bürgerkriegen Österreichs und Spaniens mitgewirkt hatte, dass sowohl bei der SPD als auch der österreichischen SDAP ein verfehlter „Aberglaube an die Gewalt“ entstanden sei. Man habe gedacht, dass sich jedes Problem der Arbeiterklasse mit Gewalt lösen lasse und dementsprechend eine „proletarische Putschromantik“ betrieben. So sei die Gewalt zu einem „Fetisch“ verkommen, demgegenüber die geistigen und ökonomischen Waffen des Klassenkampfes zurückgetreten seien. Die „historische Mission des Proletariats“ bestehe vielmehr darin „die Völker aus dem Joche kapitalistischer Knechtschaft in die Freiheit sozialistischer Gleichberechtigung zu führen, nicht aber darin, die Farbe der Ketten zu wechseln.“5 Demokratie- oder Staatsschutz? War der Ansatz des Reichsbanners, die anti-republikanische Gewalt mit republikanischer Gegengewalt bekämpfen zu wollen, grundfalsch? Man könnte das Reichsbanner in diesem Sinne als vigilantistische Organisation deuten, deren Mitglieder sich angesichts gewaltsamer Übergriffe zum gewaltsamen Selbstschutz gezwungen sahen. Hierdurch kann laut David Kowalewski jedoch leicht eine Gewaltspirale in Gang gesetzt bzw. weitergedreht werden, die letztlich nur zu noch mehr Gewalt führen müsste und höchstens vom Staat durchbrochen werden könnte.6 Ähnliche Überlegungen mögen hinter der Einschätzung Gotthard Jaspers stehen, der umfassend den staatlichen Republikschutz würdigte, aber das Reichsbanner für eine überflüssige und kontraproduktive Initiative hielt. So habe die Existenz des Reichsbanners laut Jasper den rechten Wehrverbänden eine willkommene Rechtfertigung für ihre eigene Fortexistenz geliefert und die staatlichen Versuche, die Wehrverbände zu bekämpfen, untergraben. Auch der Einsatz des Reichsbanners für die Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold habe „desintegrierend“ gewirkt, da nach wie vor weite Bevölkerungskreise den kaiserlichen Reichsfarben SchwarzWeiß-Rot verbunden gewesen seien, weswegen Jasper bereits die ursprüngliche Einführung von Schwarz-Rot-Gold für einen Fehler hielt.7 Man muss Jasper aber entgegenhalten, dass der republikanische Staat spätestens nach dem Amtsantritt Hindenburgs, der Ehrenmitglied im Stahlhelm war, keineswegs willens war, alle Wehrverbände gleichermaßen zu bekämpfen und führende Kreise in Militär und Reichsverwaltung ab 1930 (also dem Jahr, in dem Jasper bezeichnenderweise seine Untersuchung abbrechen lässt) sogar an einer Einbindung der Nationalsozialisten arbeiteten. Zwar profitierten die Reichsbannermitglieder von den häufigen Reichsamnestien für politische Straftaten, aber Hindenburg erließ diese Amnes5

6 7

Deutsch 1934, S. 8ff. Das Zitat auf S. 9. Damit revidierte bzw. konkretisierte Deutsch seine älteren Ansichten, als er festgestellt hatte, dass als letztes Mittel des Klassenkampfes in der Abwehr der Gewalt zur Gewalt gegriffen werden müsse (vgl. Deutsch 1930, S. 110). Er hatte jedoch stets Wert auf die Aussage gelegt, dass diese Wahl der Kampfmittel dem Proletariat aufgezwungen worden sei (vgl. Deutsch 1926, S. 117f.). Siehe Kowalewski 2002, S. 437ff. Vgl. Jasper 1963, S. 173f. u. 248f.

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tien sicherlich nicht zum Wohlgefallen des Reichsbanners, sondern um rechtsradikale Straftäter und selbst Kriegsverbrecher vor einer Strafverfolgung zu schützen.8 In Anlehnung an Kowalewski muss daher festgestellt werden, dass der republikanische Staat von Weimar zwar in der Lage gewesen wäre, die Gewaltspirale zwischen den Wehrverbänden zu durchbrechen, aber reaktionären Kreisen innerhalb dieses Staates nicht daran gelegen war, auf die rechten Wehrverbände und deren einschüchternde Wirkung auf die demokratische Zivilgesellschaft zu verzichten.9 Dieses Vorgehen ist keineswegs einmalig in der Geschichte. Vielmehr kann Kowalewski zahlreiche Beispiele aus der älteren und jüngeren Politik anführen, in denen gewählte Regierungen paramilitärische Gruppen zur Bekämpfung unliebsamer demokratischer Aktivisten oder Minderheiten förderten, was mit der Zeit oft außer Kontrolle geriet.10 Für das Reichsbanner bedeutet dies ein besonderes, aber ebenfalls nicht einmaliges Dilemma, da sich dessen Mitglieder vielfach gezwungen sahen, im Namen der Demokratie gegen Vertreter des republikanischen Staates zu agitieren und sich hierdurch den Ruf von Störenfrieden erarbeiteten, wobei sie die aktive und passive Unterstützung anderer Repräsentanten des 8

Zu den Amnestien siehe Christoph 1988. Zu Hindenburgs Haltung im Stahlhelm-Verbot 1929 auch Berghahn 1966, S. 131–142, wo durchaus hervorgehoben wird, dass Hindenburgs damaliger Verweis auf die Fortexistenz des Reichsbanners und die entsprechende Behauptung über eine uneinheitliche Anwendung des Rechts taktischer Natur war (ebd., S. 138f.). Nach der Aufhebung des Verbots 1929 sammelte der Stahlhelm dann im Auftrag des Büros des Reichspräsidenten Material über vermeintlich illegale Aktivitäten des Reichsbanners (ebd., S. 161f.). Was Berghahn nicht schreibt, ist, dass dies eine illegale und verfassungsfeindliche Handlung Hindenburgs darstellt. 9 Der Stahlhelm und andere kleinere rechte Wehrverbände verstanden sich zwar als antikommunistisch und insofern sogar als Organisationen zum Schutz des republikanischen Staates gegen innere und im Rahmen des Grenzschutzes auch äußere Feinde, aber in der Praxis war ihr Wirken nicht zu einem geringen Teil gegen die demokratische Zivilgesellschaft gerichtet. Trotzdem wurde der Stahlhelm nicht nur von Militärs, sondern auch von verschiedensten Politikern in Regierungsverantwortung auf vielfältige Weise unterstützt (siehe Berghahn 1966 u. Bergien 2012). 10 Zu nennen wären hier u.a. die American Protective League zur Bekämpfung der USamerikanischen Gewerkschaftsbewegung, die vom FBI unterstützte Secret Army Organization zur Einschüchterung von Journalisten und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, die ebenfalls vom FBI unterstützte Legion of Justice, die gewaltsam gegen die Kriegsgegnerbewegung vorging oder die NSA-getragene Anti-Communist League, die in den USA trotz ihres Namens vor allem gegen Immigranten aus Mittelamerika vorging. Der Ku-Klux-Klan dürfte aus dieser nur auf US-amerikanische Beispiele beschränkten, aber auch geographisch beliebig erweiterbaren Reihe abschließend die bekannteste Organisation sein (siehe Kowalewski 2002, S. 429ff.). Als Regel ist festzuhalten, dass das Personal dieser vigilantistischen Organisationen im inoffiziellen Staatsdienst meistens aus aktiven oder ehemaligen Soldaten, Polizisten oder Offizieren rekrutiert wurde. Hier liegt ebenfalls eine klare Parallele zum historischen Stahlhelm, dem praktisch alle Offiziere der Reichswehr und Reichsmarine nach ihrem Ausscheiden aus dem Staatsdienst beitraten (siehe BA Freiburg, N166/3, S. 19–23). Aber auch dem Reichsbanner gehörten zahlreiche aktive und ehemalige Staatsdiener aus Polizei und Armee an, was die Spaltung des staatlichen Gewaltmonopols in der Weimarer Republik widerspiegelte.

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Staates genossen. Der Kampf des Reichsbanners war also kein Kampf gegen die Republik, sondern ein Kampf von Demokraten um die Republik. Es ist klar, dass die Reichsbanner-Propaganda, die versuchte, die antirepublikanischen Verbände einzuschüchtern und auf demokratische Missstände aufmerksam machen wollte, mitunter nicht ohne emotionale, überspitze oder aggressive Töne auskam, was Teil der republikanischen Gewaltkultur des Bundes war. Hierdurch konnte die Arbeit des Reichsbanners jedoch erneut in ein schlechtes Licht gerückt werden. Musste der Versuch, die Republik mit Emotionen und lautstarken, teils martialischen Appellen zu verteidigen, nicht dazu führen, dass rationale, abwägende Stimmen als Basis für einen demokratischen Diskurs abgedämpft wurden?11 Tatsächlich ist es eine etablierte Ansicht, dass weder physische noch verbale Gewalt in Demokratien eine positive Rolle zur Systemintegration spielen kann, während totalitäre Regime auf Gewalt als Mittel zur Massenintegration bauen und ohne Gewalt nicht funktionieren würden.12 War also das gewaltsame Reichsbanner gar eine halb-totalitäre Organisation oder etwa Teil eines republikanischen Faschismus, der die Demokratie untergrub? Bleiben wir beim Aspekt der physischen Gewalt. Anders als die Gegner des Reichsbanners ging der Bund nie mit militärischer Gewalt gegen den republikanischen Staat oder dessen Vertreter vor, sondern verstand sich explizit als staats- und demokratietragend. Dieser Dualismus führte zu dem Dilemma des 20. Juli 1932, als bewaffnete Staatsorgane 11 In Bezug auf die „junge Rechte“ der SPD, also dem Kreis um die Neuen Blätter für den Sozialismus (NBS), vertritt Vogt diese Ansicht, wenn er urteilt, dass der Irrationalismus eine Ursache der demokratischen Krise gewesen sei und folglich diejenigen, die die Auseinandersetzung nicht mit rationalen Argumenten führen wollten, sondern ein Programm der autoritären Demokratie vertreten hätten, eine Mitschuld am Untergang der Weimarer Republik trügen (vgl. Vogt 2010, S. 281). Vogt hebt zwar an anderer Stelle hervor, dass die „junge Rechte“ keineswegs das Reichsbanner dominiert hätte, aber er stellt gleichzeitig fest, dass das Reichsbanner ihnen einen guten Nährboden bot (siehe Vogt 2006, S. 120ff.). Die positive Verbindung zwischen dem Reichsbanner und der „jungen Rechten“ wurde bereits vorher verschiedentlich festgestellt (siehe etwa Winkler 1988, S. 653–660) und müsste Vogts Logik zufolge bedeuten, dass auch das vermeintlich irrational auftretende Reichsbanner eine Mitschuld am Untergang der Demokratie trug. Man sollte allerdings nicht Emotionalität mit Irrationalität gleichsetzen und sich zudem die Frage stellen, wie in einem emotionalisierten politischen Umfeld die Demokratie zu verteidigen wäre, wenn nicht durch einen rationalen Umgang mit vorhandenen politischen Emotionen? Vogt scheint – sicherlich nicht als Einzelfall – die Demokratie auf eine Regierungsform für schönes gesellschaftliches Wetter zu reduzieren. Kritik an Vogts Ansatz bereits bei: Rudloff 2007, S. 105f. u. 118. Heller selbst betonte, dass ein demokratischer Führer in Krisenzeiten sich nicht emotional von der Masse mitreißen lassen dürfe und anders als bei dem „Wunderaberglauben“ der „Genie-„ und „Gewaltreligion“ eben nicht als starker Mann auf eine politische Kaltstellung des Parlaments oder gar des Volks hinarbeiten dürfe, sondern an Recht gebundenes, verantwortliches und zuordenbares Regierungshandeln schaffen müsse (vgl. Heller, Genie 1931, S. 62f. u. 67f.). Diese Repräsentanten [der Bürger, Anm.], vor allem aber die Regierung, müssen den Mut zur Entscheidung und Verantwortung haben. Ein sächsischer Minister hat das entsetzliche Wort geprägt: „Lieber mit den Massen irren, als daß die Massen an uns irre werden.“ Mit solchen Maximen behält man zwar vorläufig seinen Posten, die Massen aber werden erst recht irre an einem Führer, der ihnen immer nur folgt, anstatt sie zu führen. (Ebd., S. 63). 12 Siehe Schumann 1997 u. Schumann 2010.

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begannen, sich offen gegen die Demokratie zu wenden. Dass der Bund in dieser Situation stillhielt, wurde ihm selten positiv angerechnet, sondern als Zeichen der Schwäche interpretiert. Aber die Gründe für dieses Stillhalten gehen tiefer als gemeinhin angenommen wird. Nicht nur die Theorie der wehrhaften Demokratie lässt für eine militante, aber republikanische Privatorganisation wie das Reichsbanner keinen Platz, sondern auch die aktuelle Gewaltforschung kennt das Reichsbanner fast nicht. Folgerichtig sind Fälle, in denen Reichsbannermitglieder sich mit Gewalt für die Demokratie einsetzten, in der Literatur nicht nur unbekannt, sie sind aus einer theoretischen Perspektive heraus scheinbar auch unmöglich.13 Zwei Ebenen des Gewalthandelns Um dieses Dilemma zu lösen, werden hier mehrere Aspekte untersucht.14 Dies sind zunächst die staatlichen Sicherheitsorgane, die das Reichsbanner umwarb und versuchte, zu einem Vorgehen gegen den Nationalsozialismus zu bewegen, wobei die Quellenbasis hierfür bereits dargestellt wurde. Zudem muss im Anschluss an unsere Überlegungen zur Gewaltkultur angeschlossen werden. Während hiermit die kulturellen, also die sprachlichen, festlichen, propagandistischen und andere Aspekte der Reichsbannerarbeit gemeint sind, existiert als logische Konsequenz der republikanischen Gewaltkultur auch eine republikanische Gewalt. Wie diese Gewalt aussieht und welche Konsequenzen sie hat, kann keine kulturwissenschaftliche Untersuchung zeigen,15 sondern nur eine Betrachtung und 13 So sieht etwa Herlemann das Reichsbanner zwar als Organ der wehrhaften Demokratie, aber sie nennt eines ihrer Kapitel dennoch „Kampflos in den Untergang“ (siehe Herlemann 1999, S. 27 u. 73). Andernorts differenziert sie jedoch zwischen dem Verhalten der SPD-Führung und derjenigen des Reichsbanners, welche auf eine gesteigerte Militanz gedrängt habe, was den „Untergang auf Raten“ nicht aufgehalten habe (siehe Herlemann 2001, S. 59–70). Ferner kann die Fragestellung bei Brejora die Verbindung zwischen Demokratie und der Gewalt des Reichsbanners nicht fassen, da er nur auf den Preußenschlag blickt und die alltägliche Gewalt außer Acht lässt (siehe Brejora 2013). Diese Sichtweise ist aber älter. So heißt es bei den ‚Vansittaristen‘, dass das Nichthandeln von Braun und Severing beim Preußenschlag durch ihren mangelnden demokratischen Rückhalt zu erklären sei, der nicht einmal ausgereicht habe, um eine Handvoll Soldaten und eine illegale Verordnung aufzuhalten (vgl. Coole/Potter 1941, S. XXXVIII). Dies ist oberflächlich betrachtet durchaus überzeugend, aber geht an der Problemtiefe des Preußenschlages sowie der komplexeren Rolle des Reichsbanners vorbei. 14 Die Arbeit versteht sich in dieser Hinsicht als Beitrag zu einer Sicherheitsgeschichte der Weimarer Republik. Die Debatten um den Begriff der securitization als Strategie zur Generierung von politischer Legitimität berührten bislang die Weimarer Republik kaum (siehe Hikel 2011 u. Rossol 2015. Zur breiteren Debatte: Buzan et al. 1998, Balzacq 2011, Zwierlein 2012, Conze 2012 u. Conze 2017). Die RB-Mitglieder verstanden ihr Gewalthandeln durchaus als Reaktion auf eine unsichere Gesamtlage, die zu einem Legitimitätsgewinn für die Republik führen sollte. Zu fragen ist, ob und wie dies erreicht wurde. 15 Es gibt in kulturwissenschaftlichen Arbeiten mitunter das Problem, dass die Ebenen der semantischen Auseinandersetzung und der physischen politischen Gewalt bzw. des allgemeinen politischen Machtkampfes nicht klar genug getrennt werden. So werden semantische Diffe-

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soziologische Analyse der Mikroebene der Gewalt.16 Die Mitglieder des Reichsbanners waren kontinuierlich der physischen Gewalt der Republikfeinde ausgesetzt. Sie starben und töteten im Rahmen dieses Kampfes. Das Handeln der Republikaner in den extremen Gewaltsituationen der 1920er und 1930er ist praktisch unerforscht, was allerdings auch für die Forschungslage zu den meisten rechten Wehrverbänden gilt.17 Lediglich zum Gewalthandeln der Nationalsozialisten und Kommunisten gibt es größere Untersuchungen, wobei die Literatur zur SA überwiegt und oft ein regionaler Schwerpunkt auf Berlin gelegt wird.18 Dies führt uns zur zweiten Ebene des Gewalthandels auf der Makroebene. Ein Problem der bisherigen Literatur ist, dass darin keine eigenständigen Untersuchungen zum statistischen Ausmaß der politischen Gewalt über einen längeren Zeitraum gemacht, sondern lediglich zeitgenössische, meist preußische Polizeistatistiken zitiert und diskutiert werden. Diese zeitgenössischen Statistiken über die Todesopfer der politischen Gewalt haben sicherlich einen hohen Wert, aber erstens sind sie nur für einzelne Jahre oder Monate verfügbar und zweitens haben sie mehrere methodische Probleme. In den betreffenden Angaben werden nämlich die Todesopfer meist nicht namentlich aufgeführt, sondern lediglich summarisch erfasst, wodurch keine Aussagen über die geographische Verbreitung der Gewalt getroffen werden können. Zudem arbeiten die Statistiken mit der kaum nachprüfbaren Angabe „Angreifer“, sodass man Aussagen darüber erhält, wie oft die SA in diesem und jenem Zeitraum „angegriffen“ hat, wie oft die Kommunisten „angriffen“ usw. Dass das Reichsbanner in diesem Sinne eher selten als „Angreifer“ genannt wird, führte in der Literatur dazu, dass das Bild des passiven, wehrlosen Reichsbanners renzen verkürzend als das eigentliche Feld des Machtkampfes um die Republik interpretiert, während sie nur ein Teil dieses Kampfes sind. Die Republik ging aber nicht unter, weil die Republikaner einen semantisch-kulturellen Kampf verloren (so mindestens tendenziell aber Weinrich 2013, S. 106–121 u. Retterath 2016, S. 414). Ob man einen semantischen Kampf verlieren kann – soll dies quantitativ oder qualitativ gemessen werden? – sofern man sich überhaupt daran beteiligt, sei dahingestellt. Fakt ist, dass die Republikaner sowohl sprachlichargumentativ als auch physisch bis zu dem Zeitpunkt in der deutschen Öffentlichkeit aufrecht standen, als die SA-Hilfspolizei ihre staatlich gestützte Terrorkampagne entfaltete (so auch Ziemann trotz vorheriger Kritik an der Effektivität der semantischen und geschichtspolitischen Kämpfe der Republikaner; Ziemann 2014, S. 267f., 281ff. u. 316). 16 Grundlegend für diesen Ansatz ist: Collins 2011. Collins nutzt jedoch vornehmlich Fotos und Videoaufnahmen von Gewalthandlungen, was hier mangels Quellen nicht möglich ist. 17 Zum Stahlhelm und Jungdeutschen Orden siehe Hornung 1958, Berghahn 1966, Klotzbücher 1966, Malinowski 2003, Hoffstadt 2010 u. Hoffstadt 2013 sowie zu beiden Verbänden Crim 2016 u. Benz (Hg.) 2012, S. 585ff. Lediglich Schumann 2001 beinhaltet Erkenntnisse über die kulturelle Ebene der politischen Gewalt. Derzeit arbeitet Dennis Werberg an einer Dissertation über den Stahlhelm, die sich auch diesem Aspekt widmen wird. 18 Bereits vielfach genannt wurden Schumann 2001 u. Swett 2004. Ebenfalls wichtig ist Wirsching 1999, wo das Reichsbanner allerdings nur marginal durch den Spiegel der kommunistischen und nationalsozialistischen Quellen einbezogen wird. Für die SA bieten Reichardt und aktuell Siemens aufschlussreiche Studien (siehe Reichardt 2002 u. Siemens 2017). Die KPDund SA-Gewalt behandeln in der älteren Literatur ferner Rosenhaft 1983, Bessel 1984, insb. Kap. 6 u. Balistier 1989, insb. S. 150–167 sowie aktueller und mit einem Schwerpunkt auf Berlin Fülberth 2011. Weitere Literatur zur SA bei: Benz (Hg.) 2012, S. 587ff.

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gestärkt wurde.19 Sobald man jedoch die Mikroebene der Gewalt in den Blick nimmt, wird deutlich, dass diese polizeiliche Unterscheidung zwischen „Angreifer“ und „Angegriffenem“ recht künstlich ist, da die vielfältigen (vorwiegend) kulturellen Praktiken zur Provokation des Gegners außer Acht gelassen werden. Es scheint mitunter so als hätten die staatlichen Stellen lediglich gefragt, welche Seite in einem politischen Zusammenstoß ein Todesopfer zu beklagen hatte, um diese Seite dann zum „Angegriffenen“ zu erklären und die andere Seite zum „Angreifer“.20 Sicherlich stimmt dies oft mit den tatsächlichen Abläufen der Gewalthandlungen überein, aber häufig liegen die staatlichen Statistiker damit auch falsch. Es kann hier eine Reihe von Fällen aufgeführt werden, in denen diejenige Seite, die zuerst physische Gewalt ausübte, auch das Todesopfer zu beklagen hatte. Solche Fälle von Notwehr gehen in den zeitgenössischen, summarischen Statistiken unter und werden mit gezielten Anschlägen aus dem Hinterhalt, absichtlichen oder unabsichtlichen Tötungen in der Hitze des Straßenkampfes und anderen Delikten vermischt. Auch der politische Hintergrund der summarisch aufgezählten Taten kann ohne weitere Angaben nicht überprüft werden und es ist somit unklar, welche Kriterien die staatlichen Statistiker nutzten, um eine Tat als „politisch“ bzw. „unpolitisch“ einzustufen.21 Es scheint, dass die staatlichen Stellen mitunter eine zu enge Definition eines politischen Tötungsfälles vertraten.22 19 So z.B. Reichardt 2007, S. 388. Ohne das Reichsbanner zu berücksichtigen führt Hardtwig in seinen Überlegungen zur Diskurs- und Ideengeschichte der Gewalt in der Weimarer Republik ebenfalls aus, dass die politische Kultur der republikbejahenden Kräfte nicht an Spektakeln und Gewalt ausgerichtet gewesen sei und auch insofern traditionsbefangener war als diejenige der republikzerstörenden Kräfte (siehe Hardtwig 2005, S. 19). Die Geschichte des Reichsbanners bietet reichlich Ansätze, um solche Aussagen zu widerlegen, wobei bereits Knickerbocker auf den Umstand verwies, dass man die höhere Beteiligung der Nationalsozialisten und Kommunisten an der Straßengewalt im Vergleich mit dem Reichsbanner und dem Stahlhelm nicht zu einem Qualitätssiegel stilisieren sollte. Auch sonst sind Knickerbockers Ausführungen zu den Wehrverbänden bemerkenswert treffsicher und das insbesondere, wenn man sie mit Aussagen anderer Zeitgenossen oder Teilen der späteren Literatur vergleicht. So prophezeite er richtig, dass Hitler, sobald er an die Macht komme, seine SA zu einer Art „faschistischer Miliz“ aufrüsten werde (siehe Knickerbocker 1932, S. 112–122). Im Übrigen gibt es bis heute kaum Untersuchungen, die alle relevanten Wehrverbände vergleichend betrachten (siehe das mitunter als Standardwerk gehandelte Heft eines Nationalbolschewisten: Posse 1931, dort zum Reichsbanner S. 59ff. sowie aus der neuesten vergleichenden Literatur Gräb 2018 und der regionale Vergleich bei Böhles 2016, Kap. 5.2). Hier werden ebenfalls einige Vergleiche zu anderen Wehrverbänden gezogen, aber diese können nicht umfassend sein. 20 Dies bezieht sich etwa auf die vielzitierten (z.B. bei Bessel 1984, S. 76, Leßmann 1989, S. 266, Reichardt 2002, S. 59 oder Swett 2004, S. 232ff.) statistischen Zusammenstellungen in GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 120f. Die Unterscheidung zwischen „Angreifer“ und „Angegriffenem“ hatte damals nicht zuletzt eine hohe juristische Bedeutung, da die „Angreifer“ vor Gericht mit höheren Haftstrafen rechnen mussten. Eine Folge dieser wie gesagt recht künstlichen Trennung war, dass Kommunisten wesentlich häufiger als vermeintliche „Angreifer“ zur Verantwortung gezogen wurden, während die Gerichte oftmals bereit waren, den i.d.R. sehr provozierend auftretenden Nationalsozialisten ein Notwehrrecht zuzugestehen (hierzu unten ausführlicher). 21 Hierzu beispielsweise GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 121, Bl. 337f., wo der Fall des Nationalsozialisten Heinrich Messerschmidt nicht als „politischer Mord“ bezeichnet wird, da

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Angesichts der unvollständigen Quellenlage kann hier weder eine vollständige Detailuntersuchung noch eine (wirklich) vollständige Statistik aller politischen Tötungsfälle in der Weimarer Zeit vorgelegt werden. Es wurde aber versucht, eine möglichst große Anzahl von polizeilichen und gerichtlichen Akten zu ermitteln, über die erstens ein genauerer Einblick in die Mikroebene des Gewalthandelns erlangt werden konnte und zweitens eine Basis gefunden wurde, auf welcher die partei-offiziellen Quellen über politische Tötungsfälle überprüft werden können.23 Diese Listen sind der Literatur schon lange bekannt, aber es wurde dennoch auf eine Auswertung verzichtet.24 Hier erfolgt keine unkritische Übernahme dieser Listen, die vielmehr durch staatliche Akten ergänzt und korrigiert wurden.25 So kann aus den staatlichen und partei-offiziellen Quellen ein breites Bild von dem statistischen Ausmaß der tödlichen politischen Gewalt gezeichnet werden, anhand dessen auch das bislang nicht beachtete Gewalthandeln der Republikaner untersucht und ins Verhältnis gesetzt werden kann.

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er zwar im Rahmen eines Zusammenstoßes zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten starb, aber der Hauptteil der Verantwortung für den Zusammenstoß bei den Nationalsozialisten gesucht werden müsse. Sicherlich ist dies kein „Mord“, aber ein politischer Tötungsfall im hier verstandenen Sinne liegt zweifellos vor. Ob Messerschmidts Fall Eingang in die staatlichen Statistiken fand oder nicht, kann ohne eine namentliche Auflistung eben nicht überprüft werden, was ein wesentliches Problem der summarischen Polizeistatistiken verdeutlicht. Der Fall legt ferner nahe, dass es unwahrscheinlich ist, dass diesen Statistiken, die von verschiedenen Stellen zu verschiedenen Zeiten erstellt wurden, einheitliche Definitionen der verwendeten Kategorien zugrunde liegen. Für weitere Ausführungen über das hiesige Verständnis von politischen Tötungsfällen siehe die Erläuterungen zur entsprechenden Liste im Statistikanhang. Dort auch mehr über die Zuverlässigkeit der partei-offiziellen Totenlisten. In der Literatur enthält der von Mommsen und Hirschfeld herausgegebene Sammelband zur politischen Gewalt einige sehr förderliche Ideen zur Gewalt in der Zwischenkriegszeit. So insbesondere in den Beiträgen von Jens Petersen zu Italien und Gerhard Botz zu Österreich. Die dortigen Beiträge zur Weimarer Republik von David B. Southern, Eve Rosenhaft und Peter H. Merkl bleiben hingegen statistische Untersuchungen über das Gesamtmaß der Gewalt schuldig (siehe Mommsen/Hirschfeld 1982). Dies waren vor allem Aktengänge der Justiz- und Innenministerien Preußens im GStA PK, die durch Vorgänge aus Hamburg und Bayern ergänzt wurden. Collins benennt staatliche Akten als mögliche Quelle für die mikrosoziologische Untersuchung von Gewaltsituationen (siehe Collins 2011, S. 51ff.). Akten aus dem Freistaat Sachsen konnten leider nicht ermittelt werden und auch Voigt nennt keine einschlägigen Akten (siehe Voigt 2009). Dass hier Zeitungsberichte weitgehend ausgespart werden müssen, hat schlicht arbeitsökonomische Gründe. Gleichwohl dürfen auch Zeitungsberichte der demokratisch orientierten Presse nicht als reine Tatsachenberichte gelesen werden. Siehe etwa Reichardt 2002, S. 55ff. Eine erkenntnisfördernde Überwindung dieses Problems der partei-offiziellen Angaben, die sich nur auf die eigenen Toten bezogen, lieferten für einen anderen Kontext bereits Petersen und Botz (siehe Petersen 1982, insb. S. 332–348 u. Botz 1982, insb. S. 350ff.).

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Widerstand gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus Es wurde in Bezug auf die Nationalsozialisten verschiedentlich bemerkt, dass gewalttätige Handlungen mit einer entsprechenden Sprache im Einklang stehen. Was also – so muss man analog fragen – ist der Zusammenhang zwischen dem Gewalthandeln der Republikaner und ihrer Argumentation und Sprache? Es wäre verfehlt, so zu tun, als seien die Demokraten der Zwischenkriegszeit eine Ansammlung von depressiven, angstgestörten Pazifisten gewesen, die hilflos oder indifferent dem Untergang ihrer Demokratie zugesehen hätten. Magnus Schwantje, der als Autor von Werken wie Hat der Mensch das Recht, Fleisch zu essen? sicherlich nicht im Verdacht steht, ein gewaltaffiner Mensch gewesen zu sein, schrieb zur Frage der berechtigten Gewaltanwendung Folgendes: Kein Mensch kann sein Leben ohne Gewaltanwendung erhalten. […] Es gibt auch Gewalttaten der Liebe und der Gerechtigkeit; und mit ihnen kann man Gewalttaten der Bosheit und der Ungerechtigkeit so gut bekämpfen wie Feuer mit Wasser. Wenn jemand bei der Verteidigung des Lebens eines andern sein eigenes Leben bewusst in Gefahr bringt, so vollbringt er, auch wenn er dabei Gewalt anwendet, eine moralische Heldentat.26

Wenn ein Veganer und Pazifist hiermit seine Wehrhaftigkeit so treffend begründen kann, wäre es unhistorisch, den Reichsbannermitgliedern ihren Anspruch auf berechtigte Gewaltanwendung von vornherein als ‚demokratiegefährdend‘ abzusprechen.27 Die Depression, die wehrhafte Demokraten wie Löwenstein oder Deutsch nach 1933 ereilte und die noch heute in ihren Texten zu greifen ist, führt uns zurück zum eingangs dargestellten Problem des Vom-Ende-her-Denkens. Sicherlich ist das Ende der Demokratie in Deutschland mit allen katastrophalen Folgen ein Grund für Traurigkeit. Die scharfe und teils emotionale Kritik am Handeln der republikanischen Politiker und Aktivisten, die bereits unmittelbar nach der Machtergreifung einsetzte,28 soll hier keineswegs einfach beiseitegeschoben werden. Nur darf man diese Position nicht ihrerseits unkritisch behandeln. Zunächst ist es nachweislich falsch, mit diesen Schriften zu behaupten, dass die Republikaner zu Gewaltanwendung unfähig gewesen seien, nur weil sie nicht

26 Schwantje 1927, S. 125f. 27 Ob sich Schwantje im Reichsbanner engagierte, ist nicht bekannt, aber breite Teile des organisierten Weimarer Pazifismus haben dies getan, wobei eher die bürgerlichen Pazifisten zum Reichsbanner neigten und weniger die Linkssozialisten. Erst Ende der 1920er kam es zu größeren Spannungen mit der Deutschen Friedensgesellschaft, dem Dachverband der Pazifisten, der allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits eine radikalpazifistische Wende vollzogen und seinen Masseneinfluss eingebüßt hatte. Nichtsdestotrotz erfüllte der Pazifismus für einige Zeit eine wichtige Brückenfunktion zwischen Sozialdemokraten und linksbürgerlichen Kreisen (so Toury 1997, S. 15. Ferner zum Thema: Lütgemeier-Davin 1982, S. 294–301, Wette 1991, Kap. 5, Lipp et al. (Hg.) 2010, S. 31, Mulligan 2013, Eichenberg/Newman 2013 u. natürlich insb. Ziemann 2014). 28 Noch bekannter als die Schriften von Deutsch und Löwenstein dürfte in diesem Sinne Julius Lebers Schrift Die Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie von 1933 sein (siehe Leber 1976, S. 179–246).

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so blutdurstig waren wie die Nationalsozialisten.29 Auch wäre es unrealistisch anzunehmen, dass biographisch betrachtet ein tiefer Bruch durch einen Reichsbanneraktivisten gehen musste, bevor sich diese Person im Widerstand gegen den Nationalsozialismus nach 1933 engagieren konnte. Vielmehr setzten die betreffenden Republikaner ihr Engagement aus der Zeit vor 1933 unter stark geänderten Bedingungen fort, sodass sich dessen Form und Wirkung wandelte, aber die Menschen und ihre Motivation für ihr politisches Handeln dieselben blieben. Es ist mit Wolfgang Benz durchaus bedenkenswert, das Reichsbanner als einen der wichtigsten Teile des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus vor 1933 zu betrachten, wobei Benz später insbesondere die Leistung des Reichsbanners zur Abwehr des Antisemitismus betonte, die von anderen Autoren bereits herausgearbeitet wurde.30 So sprach Arnold Paucker, der 1932 kurzzeitig dem Berliner Jungbanner angehört hatte, vom Anteil des Reichsbanners an der Abwehrarbeit bzw. dem Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, wobei er sich neben eigenen Erfahrungen auf umfassende Gespräche mit Zeitzeugen stützen konnte.31 Das Verhältnis des Reichsbanners zu jüdischen Organisationen wie dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) und dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) wurde danach verschiedentlich untersucht und die grundsätzlich positive Form der Zusammenarbeit betont.32 Als wirklich eng konnte diese aber nicht bezeichnet werden, da eine zu enge, öffentliche Zusammenarbeit für beide Seiten Nachteile bedeutet hätte.33 Warum war es aber nicht möglich, eine engere Kooperation zwischen dem Reichsbanner und jüdischen Abwehrorganisationen zu etablieren, wenn doch mit dem Nationalsozialismus ein gemeinsamer Gegner bestand? Lag es an der Strategie des Reichsbanners, die ohne Gewalt nicht auskam, während der C.V. lediglich die propagandistische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus führen wollte? Es ergibt nicht zuletzt aufgrund der sehr lückenhaften Quellenlage Sinn, in dieser Frage den Blick auf andere kleinere Organisationen der Weimarer Zivil29 So berichtete Wilhelm Hoegner über ein Zufallstreffen mit Himmler und Heydrich in einem bayerischen Café, dass er und seine Begleiter wohl die Gelegenheit gehabt hätten, die NSFührer zu erschießen, aber „[w]ir waren weder Hunde noch Jäger, wir waren triebarme Verstandesmenschen und hingen keinen finsteren Gedanken nach“ (vgl. Hoegner 1979, S. 167). 30 Siehe Benz 2001 u. Benz 2011. Benz’ Text über den Widerstand vor 1933 ist Folge einer Ausweitung des Widerstands-Begriffs (zur Begriffsbildung: Benz/Pehle 2001, S. 9ff.). Zum Verhältnis der deutschen Juden zum Schutz der Republik bereits Mosse 1966, insb. S. 35ff. 31 Siehe Paucker 1969 u. bereits Paucker 1966, S. 452ff. Herrn Paucker verdanke ich einige hilfreiche Anregungen. Zu seinen Erfahrungen in den letzten Jahren der Weimarer Republik siehe Paucker 2003. Pauckers wichtigster Zeitzeuge war Walter Gyßling, dessen Erinnerungen mittlerweile publiziert wurden (siehe Gyßling 2003). 32 Siehe Knütter 1971, S. 213ff., Dunker 1977, Toury 1997, S. 93–113, Walter 1999, S. 152ff., Barkai 2002, S. 198ff. u. Nicolai 2016, S. 29. Hierzu auch die im Erscheinen begriffene Arbeit von Christian Dietrich. 33 Siehe Toury 1997, S. 105. Auch mit dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus bestanden vielfältige Kontakte, aber ebenfalls keine enge, regelmäßige Zusammenarbeit. Zum Abwehrverein und zum C.V. ferner: Suchy 2003, Zeiß-Horbach 2008 u. Benz (Hg.) 2012, S. 92ff.

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gesellschaft zu weiten, die ähnliche Ziele wie das Reichsbanner verfolgten, aber andere Mittel nutzten. Neben den genannten Organisationen betrifft dies insbesondere den (Deutschen) Republikanischen Reichsbund (RRB) und das hierauf bauende Kartell der republikanischen Verbände. Diese rein zivilkulturell ausgerichteten Gruppen verfügten, anders als das Reichsbanner, nicht über eine Gewaltkultur und es dürfte interessant sein zu fragen, wie sie ihren Kampf um die Republik führten.34 Des Weiteren wäre der RjF zu nennen, der ähnlich wie das Reichsbanner als Kriegsteilnehmerverband organisiert war, aber nicht den Charakter eines Wehrverbandes trug.35 Die katholischen Kreuzscharen wiederum waren als Wehr- und Saalschutzverband der Zentrumspartei gedacht und insofern dem Reichsbanner ähnlicher als der RjF. So steht zusätzlich die Frage im Raum, warum diese Organisationen der religiösen Minderheiten ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Reichsbanner wahrten, welches ja eine Sammlungsbewegung aller Republikaner unabhängig von ihrer Partei- oder Religionszugehörigkeit sein wollte. Zwar behaupteten die antirepublikanischen, meist protestantischen Gegner dieser Verbände gern, dass der RjF oder die Kreuzscharen lediglich ein Anhängsel des Reichsbanners seien, was von den jeweiligen Verbandsspitzen aber stets zurückgewiesen wurde. Zwischen solchen Abgrenzungen und den vielfach gemeinsamen Zielen gab es einen Kooperationsspielraum zum Schutz der Republik.

34 Zum RRB bzw. dem Kartell existiert kaum Literatur (siehe Fricke et al. (Hg.) 1983, S. 482f., Fricke et al. (Hg.) 1985, S. 179ff., Fricke et al. (Hg.) 1986, S. 97ff. u. Voigt 2009, S. 95ff.), während zu einzelnen Mitgliedsorganisationen des Kartells der republikanischen Verbände hingegen größere Arbeiten vorliegen oder in Planung sind. So für den Republikanischen Richterbund, die Republikanische Beschwerdestelle und die von der Republikanischen Union getragene Zeitschrift Deutsche Republik: Schulz 1982, Jung 1987 u. Seiterich 1988. Zudem wird Anne Friedericke Otto in ihrer kommenden Dissertation über die republikanische Schulpolitik im Ruhrgebiet auch die Republikanischen Lehrerverbände berücksichtigen. Auch aus diesem Grund konzentrieren wir uns hier auf die Geschichte des RRB bzw. Kartells, der als organisatorischer Nukleus einer republikanischen Bewegung anzusehen ist und weniger auf die Einzelorganisationen dieser Bewegung. 35 Zum RjF: Dunker 1977, Berger 2006, S. 187–203, Rosenthal 2007, Kap. 3 u. Grady 2010.

4. DER WEITERE ARBEITSAUFBAU Es wurden einige Teilaspekte der Untersuchung bereits angeschnitten, die thematisch und organisationsgeschichtlich bewusst weit angelegt ist, um die Komplexität der Probleme, denen sich das Reichsbanner gegenübersah, angemessen bearbeiten zu können. Gegliedert ist die weitere Arbeit in vier zeitlich abgegrenzte Teile, die sich mehr oder weniger stark an bestimmten Daten in der Geschichte des Reichsbanners und der Weimarer Republik orientieren. Die drei Schwerpunkte der Arbeit (Wehrhafte Demokratie, Überparteilichkeit und politische Gewalt) werden in allen Hauptteilen in thematischen Kapiteln eine Rolle spielen. Die Abfolge der Hauptteile ist somit chronologisch, während die Hauptteile intern thematisch gegliedert sind. Zur chronologischen Abgrenzung der Hauptteile sei gesagt, dass zunächst die erweiterte Vorgeschichte des Reichsbanners behandelt wird, die sich – wohl nicht zufällig – mit der Anfangsphase der Weimarer Republik deckt. Bereits wenige Wochen nach der Revolution von 1918 gab es erste genuin demokratische Gewaltorganisationen im neuen Deutschland, die sich im Republikanischen Führerbund sammeln sollten. Der Republikanische Reichsbund als weiterer überregionaler Vorläufer des Reichsbanners war hingegen mehr an der zivilkulturellen Arbeit interessiert und hatte ebenfalls gewisse Mobilisierungserfolge erzielt. Dieser erste Hauptteil endet mit der Gründung des Reichsbanners 1924 und beleuchtet eher sicherheitsgeschichtliche Aspekte der hierfür notwendigen Vorarbeiten.1 Der zweite Hauptteil behandelt die Phase der Bürgerblockkabinette zwischen 1924 und 1928. Die Rahmenbedingungen für die Arbeit des Reichsbanners waren in dieser Zeit gänzlich anders, als sie es in der Phase der Großen Koalition werden sollten, die 1928 wiederauflebte und den dritten Hauptteil abstecken wird. Zwar endete die Große Koalition 1930, aber auch das Präsidialkabinett Brünings, welches bis 1932 halten sollte, war auf die Tolerierung derselben Parteien angewiesen. Insbesondere ein Blick auf die Besetzung des Reichsinnenministeriums zeigt den Unterschied, der die Einteilung dieser zwei mittleren Hauptteile rechtfertigt. So war dieses Amt zwischen 1924 und 1928 vorwiegend mit Männern besetzt, die dem Reichsbanner ablehnend, wenn nicht offen feindlich gegenüber standen.2 Ab Juni 1928 bis zum Mai 1932 waren im Reichsinnenministerium hingegen mit Carl Severing, Joseph Wirth und Wilhelm Groener drei Männer aktiv, die das Reichsbanner grundsätzlich freundlich sahen und dem Bund – bei aller Skepsis, die Severing und mehr noch Groener besaßen – in verschiedenen Formen wichtige Unterstützung zukommen ließen. 1

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Es fehlt hier der Raum und der Ansatz, um die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen für die Stabilisierung der Republik 1924 herauszuarbeiten, aber so viel sei gesagt, dass nicht nur Wirtschaftspolitik für die Stabilisierung der Demokratie verantwortlich gewesen sein kann, sondern nicht zu einem geringen Teil auch der Einsatz der Republikaner auf der Straße. Die Amtszeit von Wilhelm Külz (DDP) bildet eine Ausnahme, aber hinsichtlich des Reichsbanners trat Külz soweit hier bekannt ist nicht besonders in Erscheinung.

Arbeitsaufbau

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Im vierten und letzten Hauptteil schließlich wird die Zeit ab dem Amtsantritt Franz von Papens im Juli 1932 behandelt, der dem Reichsbanner wiederum feindlich gesonnen war. Diese Monate bis zur Durchsetzung des NS-Regimes waren von einem offenen Machtkampf um die Republik geprägt, den das Reichsbanner und mit ihm die Republik bekanntermaßen verlieren sollten. Die Dynamik dieser Zeit darf jedoch nicht vernachlässigt werden und auch die sonstige Haltung der Republikaner verdient Beachtung. Mit der Installierung der SA-Hilfspolizei am 22. Februar 1933 – auch dieses Datum, welches den „Geburtstag“ des Reichsbanners markiert, wird kein Zufall gewesen sein – begann die Zerstörung des Reichsbanners als letzter machtpolitischer Stütze der Republik. Die Erlassung des Ermächtigungsgesetztes am 24. März war demgegenüber lediglich ein symbolpolitischer, pseudolegaler Akt.3 Nachdem das Reichsbanner zerschlagen war, gab es für die Weimarer Zivilgesellschaft keinen Schutz mehr vor dem Terror der Nationalsozialisten, und was folgte, sind die hinlänglich bekannten Stufen der Machtergreifung (Berufsbeamtengesetz, Gleichschaltung bzw. Verbot der Parteien und Gewerkschaften usw.).4 Sicherlich ist es angesichts dieses grausigen Endes des Reichsbanners und der Republik nicht leicht, die Vielschichtigkeit ihrer Gesamtgeschichte im Blick zu behalten und vorhandene Leistungen zu würdigen. Aber wie es Peter Gay treffend formulierte, war die Weimarer Republik eine Zeit des Ausnahmezustandes. Es bleibt demgemäß nach wie vor von höchster Wichtigkeit, diesen Ausnahmezustand nicht mit Kurzlebigkeit zu verwechseln und wissenschaftliche Skepsis, nicht aber Fatalismus walten zu lassen. Auch das Reichsbanner war anfällig, wie dessen Ende bewies, aber es war nicht von vornherein verdammt.5 Dieser Koloss leuchtete vielen Zeitgenossen als schwarz-rot-goldenes, demokratisches Vorbild und die Beimischung von Ton kann aus heutiger Sicht diese Strahlkraft, die der Koloss zu 3

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Folgerichtig setzte sich Höltermann am 23. März 1933 dafür ein, dass die SPD-Fraktion nicht am Theater in der Kroll-Oper teilnehmen sollte, um den Nationalsozialisten keinen weiteren Vorwand für ein Blutbad an seinen Reichsbannermännern zu geben, doch wurde er laut Hoegner von zahlreichen Mitgliedern der Fraktion niedergeschrien, die sich offenbar ihren wenigstens symbolischen Widerstand nicht nehmen lassen wollten (siehe Hoegner 1979, S. 97). Sehr lebhaft ist auch die Erinnerung des Görlitzer Reichsbannerführers Otto Buchwitz an die Sitzung des 24. März und die in der Kroll-Oper herrschende Pogromstimmung. Demnach saß Buchwitz dort in Erwartung des SA-Terrors mit geladenem Revolver in der Tasche und war bereit sich schlimmstenfalls selbst zu erschießen (siehe Buchwitz 1950, S. 147ff. Eine ähnlich bedrückende Schilderung bei Stampfer 1957, S. 265ff.). Dass die SPD-Fraktion um Otto Wels diesen Tag durchstand, ist sicherlich ein Zeichen des persönlichen Mutes gewesen, aber an den machtpolitischen Gegebenheiten änderte diese „Nein“-Geste nichts. Die anwesenden Parlamentarier konnten im Gegenteil fast schon froh sein, dass das Ermächtigungsgesetz durchging, da andernfalls dieser Rest des Reichstags wohl sofort brutal beseitigt worden wäre. Vor diesem Hintergrund die Abstimmung als frei und legal zu bezeichnen ist ebenso unangemessen, wie die parteipolitische Ausschlachtung des Abstimmungsverhaltens in der frühen Bundesrepublik. Wehler gibt fälschlicherweise an, dass das Reichsbanner nicht formal verboten worden sei (siehe Wehler 2003, S. 610). Richtig ist, dass es in Preußen erst im Mai 1933 verboten wurde, während es in anderen Ländern bereits Anfang März soweit war. In Anlehnung an Gay 1987, S. 10.

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Ein Koloss auf tönernen Füssen?

Lebzeiten besaß, nicht wirklich mindern, auch wenn das bleierne Leichentuch, welches sich 1933 über ihn senkte, nur schwer und erst allmählich gelüftet wird.

II. „FÜR FREIHEIT UND VATERLAND!“.1 DIE GRÜNDUNGSPHASE DER REPUBLIKANISCHEN BEWEGUNG (1919–1924) Wer ist der Feind? – Der Feind ist die politische und ökonomische Reaktion, die Rückführung in das Zeitalter der Zöpfe und Perücken, der Souveräne und Korporäle – der Feind heißt: Potsdam! Jenes Potsdam des Gardeschnürleibs und des Profossen, jenes Potsdam, in dem Fridericus Wilhelmus rex seine eigenen Kinder prügelte wie die Hunde, jenes Potsdam der Stalljunker und Mätressen, der Saufgesellschaft „Tabagie“ und des königlichen Weintrogs, des „polnischen Mörsers“, jenes Potsdam, das die Kantorstochter Dorothea Ritter auspeitschte, das den Leutnant Katte um ein Nichts exekutierte und dessen Geschmack sich beschränkte auf Wachparaden und Seiltänzersprünge, auf Humben und Pfeifen, auf Tabak und Kommiß! […] Kameraden, wenn wir uns zum Kampf stellen für den friedbringenden Volksstaat, für die Erlösung des friedlosen Europa – dann soll Weimar die Parole sein!2

Geboren aus dem Zusammenbruch des Kaiserreiches war die Weimarer Republik die erste deutsche Demokratie, aber sie war auch ein erfolgreicher Versuch, den deutschen Nationalstaat vor der Zerteilung zu retten. Es sollte nicht der falsche Eindruck entstehen, dass eine solche Zerteilung quasi automatisch die späteren Gräuel des Nationalsozialismus verhindert hätte. Ein in viele Kleinstaaten zersplittertes Deutschland im Herzen Europas wäre der Ausgangspunkt weiterer Konflikte und Kriege inklusive erwartbarer Kriegsverbrechen gewesen, so wie es nach den Teilungen der Vielvölkerimperien in Mittel- und Osteuropa geschah. Die Abwendung einer Teilung des Staates und die Etablierung der parlamentarischen Demokratie in der ersten Krisenphase der Republik (1919 bis 1924) war keineswegs ein Selbstläufer und genauso wenig bestimmten die in dieser Zeit aufgenommenen Hypotheken den Ausgang der zweiten Krisenphase (1929/30 bis 1933). Die Demokratie in Deutschland verfügte im Vergleich mit anderen mitteleuropäischen Staaten über beachtliche gesellschaftliche Reserven in der Verwaltung, der Presse, der Wissenschaft, dem Vereinswesen und nicht zuletzt der Wirtschaft.3 Gleichzeitig waren die wirtschaftlichen wie politischen Auflagen der Sie1

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Siehe „Für Freiheit und Vaterland! Ein Wort zu Beginn“ von Konrad Haenisch, in: DR Nr. 1/1923 (in: StA Hamburg, 135–1, I–IV, Nr. 4391). Aufgrund der möglicherweise beabsichtigten Namensgleichheit zweier Publikationen unter dem Titel Deutsche Republik wird hier einheitlich die Abkürzung DR verwendet. Schützinger, Kampfbrevier 1924, S. 131. Im Gegensatz zu Deutschland musste sich etwa die neu gegründete Republik Polen mühsam um die Integration von drei sehr unterschiedlichen Landesteilen bemühen. Weder die Verwaltung, noch das Zivilrecht oder das Bahnwesen waren im neuen Staat einheitlich. In der Armee wurde eine Vielzahl von Sprachen gesprochen und die religiösen und ethnischen Minderheiten machten neben der polnischen Mehrheit gut 30% des Staatsvolkes aus. Zudem führte Polen einen verlustreichen Krieg mit seinem größten Nachbarn und weitere bewaffnete Grenzkonflikte mit allen Übrigen. Die Wirtschaft des agrarisch geprägten Landes war schwach und das Bevölkerungswachstum das damals höchste in Europa. Politische Gewalt, Attentate und

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„Für Freiheit und Vaterland!“ (1919–1924)

germächte, die im Vertrag von Versailles (VvV) festgehalten worden waren, zwar groß, aber ohne erdrosselnde Wirkung und die bis 1932 konsequent durchgeführte Verständigungspolitik brachte der Republik manche Erleichterungen.4 Insgesamt ließ dies den politisch Verantwortlichen nicht viel, aber dennoch ausreichenden Spielraum um den Erhalt der Demokratie zu sichern, mindestens aber die Machtergreifung der Nationalsozialisten zu verhindern. Die politischen Kräfte, welche die Basis der Republik bildeten, waren in allen gesellschaftlichen Milieus des damaligen Deutschlands zu finden. Innerhalb der Arbeiterbewegung, des Liberalismus und des christliche Konservatismus gab es jeweils bedeutende Strömungen, welche die parlamentarische Demokratie bejahten und gleichzeitig Kräfte, die diese Regierungsform ablehnten, was entsprechende Folgen für die Parteienlandschaft der Weimarer Republik hatte. Während KPD, DVP und DNVP abgesehen von ihrer Ablehnung bzw. Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie aber nie einen gemeinsamen Nenner finden konnten, war es SPD, DDP und Zentrum (bzw. deren Vorläufern) noch während des Krieges gelungen, sich auf eine Arbeitsgrundlage zu einigen und gemeinsam eine Ausweitung der freiheitlichen Grundrechte und insbesondere des Wahlrechtes anzustreben. Der wesentliche Erfolg der als Weimarer Koalition bekannten Parteienkonstellation war die Ausformulierung und Inkraftsetzung der republikanischen Reichsverfassung durch Friedrich Ebert (SPD) am 11. August 1919. Dieser Meilenstein der deutschen Geschichte musste gegen beträchtliche Widerstände durchgesetzt und von Beginn an verteidigt werden, da in der Anfangszeit insbesondere die KPD in ihrer Feindschaft zur Republik kompromisslos war und auch der Rechtsradikalismus rasch erstarkte. Die DVP konnte zumindest für einige Jahre (1923 bis 1929/30) zu einer Stützung der Republik herangezogen werden, was auf den maßgeblichen Einfluss des Parteivorsitzenden Gustav Stresemann zurückzuführen ist.5 Auch die DNVP war für insgesamt zwei Jahre an der Reichsregierung beteiligt und mit Eberts Nachfolger Paul von Hindenburg (parteilos, DNVP-nah) stellte dieses Lager für viele Jahre den Reichspräsidenten der Republik. Wir werden aber noch sehen, dass diese Beteiligung der DNVP die gesellschaftlichen Spannungen verstärkte

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Ausschreitungen waren ebenfalls Teil der polnischen Zwischenkriegszeit. Die Probleme Polens waren somit wesentlich größer als diejenigen Deutschlands und trotzdem gelang in Polen die staatliche Konsolidierung. Dennoch blickt die aktuelle polnische Historiographie mitunter nicht sehr gütig auf den ersten Lebensversuch der Demokratie in Polen, sondern bewertet ähnlich wie die ältere deutsche Weimarforschung das Unternehmen als zum Scheitern verurteilt. So dominieren etwa bei Kornat, wenn er über die Chancen der polnischen Außenpolitik, die Lage des Landes zu verbessern, schreibt, Beurteilungen wie „sehr unwahrscheinlich“, „unmöglich“, „nicht möglich“, „große Hindernisse“ und dergleichen (siehe Kornat 2012, S. 13–66, hier vgl. S. 47–56). Es scheint, dass nicht nur ein „Weimar-Komplex“ zu konstatieren ist, sondern dass dies ein mittel- und osteuropaweites Phänomen darstellt. Zur Zweiten Polnischen Republik: Krzemiński 1993, S. 45–79, Borodziej 2010, S. 97–188 u. aktuell HeinKicher 2017. Außenpolitische Fragen müssen in dieser Untersuchung verständlicherweise weitgehend außen vor bleiben. Gleiches gilt mit einigen wichtigen Ausnahmen auch für die Wirtschaftspolitik. Siehe ausführlich Richter 2002, Teil 3.

Einleitung

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statt sie abzubauen. Hindenburg sollte schließlich mit der Ernennung Adolf Hitlers (NSDAP) zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 das Ende der Republik einleiten. Aber bereits seit der Anfangsphase der Republik hatten rechtsradikale Elemente den politischen Mord in die deutsche Politik gebracht und zahlreichen engagierten Republikanern das Leben genommen. Unter diesen Märtyrern der Republik stehen die Ermordeten Walther Rathenau (DDP) und Matthias Erzberger (Zentrum) an erster Stelle, doch waren sie beileibe nicht die einzigen Kämpfer für die Demokratie, die ihren Einsatz mit ihrer Freiheit, Gesundheit oder eben dem Leben bezahlen mussten. Wenn die Entscheidung über die verfassungsmäßige Ordnung letztlich eine Machtfrage ist, also eine Frage der politischen Gewalt, so müssen wir unseren Blick nicht nur auf die angreifenden Kräfte richten, also auf DNVP, NSDAP und KPD, sondern auch auf die defensiven Kräfte. Es ist vielfach behauptet worden, die Republikaner hätten sich in den ersten Krisenjahren naiv-blauäugig verhalten und sich in einem blinden Vertrauen auf die moralische Qualität ihrer Zweckpartner in der ehemals Preußischen Armee befunden. Diese Interpretation würde jedoch das Versagen einzelner Verantwortlicher wie Gustav Noske (SPD) in unzulässiger Weise generalisieren.6 Es ist auch nicht ausreichend, die Stabilisierung der Republik ab 1923/24 mit der wirtschaftlichen bzw. wirtschaftspolitischen Entwicklung zu erklären, wenn hierbei innenpolitische Aspekte der Stabilisierung ausgeblendet werden.7 Der mit zivilen, aber auch mit gewaltsamen Mitteln ausgetragene Kampf von wehrhaften Demokraten in den Jahren von 1919 bis 1924 hat zur Stabilisierung der Republik beigetragen. Die Gründung des Reichsbanners war kein Befreiungsschlag aus dem Nichts, sondern vielmehr das Ergebnis eines jahrelangen politischen Konfliktes und Reifungsprozesses, dessen Stationen wir im Folgenden eingehender betrachten wollen. Der Mobilisierungserfolg des Reichsbanners wäre nicht denkbar gewesen ohne die vielfältige lokale Vorarbeit verschiedenster republikanischer Organisationen, die in allen Teilen des Reiches existierten und ohne deren Saalschutz mancherorts keine republikanischen Versammlungen mehr möglich waren.8 Doch gibt es nur zwei Vorläufer des Reichsbanners, die ebenfalls reichsweite Verbreitung fanden: der Republikanische Führerbund (1919–1922) und der Republikanische

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Siehe Noske 1920. Hörsing gehörte bereits damals zu den parteiinternen Kritikern Noskes und versuchte schon 1919 materialreich auf eine Änderung von dessen Politik hinzuwirken (siehe Wette 1987, S. 600). Im Übrigen war Noske, anders als mitunter behauptet, kein Mitglied des Reichsbanners, da er die von dieser Seite auch in den späteren Jahren geübte Kritik an seiner Politik offenbar übelnahm (siehe ebd., S. 742). Augenfällig ist etwa Winklers Erklärung der Stabilisierung, die praktisch ausschließlich als wirtschaftliche Stabilisierung interpretiert wird (siehe Winkler 1985, S. 670–734). Zu diesem Punkt bereits oben sowie die Vorgeschichte des Reichsbanners bei Rohe 1966, S. 29–43, der sich auf die regionalen Vorläuferorganisationen konzentrierte. Für einen verbandseigenen Überblick: „Vorläufer des Reichsbanners. Teil 1“, in: RBZ Nr. 8/1929 vom 23.2. u. „Vorläufer des Reichsbanners. Teil 2“, in: RBZ Nr.10/1929 vom 9.3. sowie zur Einordnung Toury 1997.

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Reichsbund (1921–1933).9 Alle anderen Vorläufer, wie die Republikanische Notwehr10 in Magdeburg, die Vereinigung Republik11 in Hamburg und Bremen, der Neue Stahlhelm12 in Schlesien, die Sicherheitsabteilung der SPD in München oder die Schutzstaffel der SPD in Nürnberg, waren jeweils lokal organisiert und gingen auf die Initiativen von örtlichen Republikanern zurück.13 Dementsprechend hatten sie allesamt lokale Zielsetzungen und hierin unterschieden sie sich in einem wesentlichen Punkt vom Reichsbanner, welches den Schutz der gesamten Republik und nicht nur den einer bestimmten Region, Stadt oder politischen Gruppe zum Ziel hatte. Anders der Führerbund und der Reichsbund, die versuchten, auf die Reichspolitik Einfluss zu nehmen. Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die Geschichte dieser Organisationen zu werfen und zu versuchen, deren Aktivitäten in ihrem jeweiligen Gesamtzusammenhang verständlich zu machen. Bereits hier wird sich die Trennung zwischen einer zivilkulturellen und einer gewaltkulturellen Herangehensweise sichtbar machen, die auch den weiteren Verlauf der Untersuchung bestimmen wird. Es wird daher zunächst ein Blick auf die Organisationsgeschichte des Führerbundes sowie dessen militärhistorischen und gewaltkulturellen Kontext geworfen (II.1.). Danach werden der Reichsbund und dessen Bemühungen zur zivilkulturellen und politischen Festigung der Republik untersucht, wobei erste Kontinuitätslinien dieser Bünde zum Reichsbanner herauszuarbeiten sind (II.2.). Schließlich muss auf die sicherheitspolitische Lage der Jahre 1923/24 genauer eingegangen werden, um den Kontext der Reichsbannergründung verständlich zu machen, da die Republikaner angesichts der Unruhen stets für sich in Anspruch nahmen, in Notwehr gehandelt zu haben (II.3.). Abschließend werden die organisationsgeschichtliche Gründung des Reichsbanners und die ideengeschichtliche Grundlage der republikanischen Bewegung beleuchtet (II.4.) und ein ergänzendes Zwischenfazit gezogen (II.5.).

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Diese Betonung der gesonderten Bedeutung der beiden Bünde bereits bei Toury 1997, S. 16 u. 70f. Auch der schon 1917 unter dem Vorsitz Erich Kuttners gegründete Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen (RKKK) ist sicherlich zu den Vorläufern des Reichsbanners zu zählen, ohne jedoch die spezifisch klassenüberwindende Eigenschaft des Reichsbanners besessen zu haben, da er nur Mitglieder der beiden Arbeiterparteien umfasste (zum RKKK bereits Toury 1997, S. 13f., Weiß 2005 u. Ziemann 2014). Siehe Höltermann 1929 u. Herlemann 1999, S. 34ff. Hierzu BArch R1507/3063, Bl. 16 (Lagebericht Bremen vom 18.6.24). Dort ein Bericht über die Selbstauflösung und den Übertritt aller Mitglieder der Vereinigung Republik zum Reichsbanner auf einer Versammlung am 12.6. Ferner: Schröder, Bremen 2014, S. 124ff. Hierzu BArch R1507/3063, Bl. 5 (Vermerk des Breslauer Wehrkreiskommandos) sowie Matull 1973, S. 98ff. Dort auch zum SOD in Breslau. Zu den beiden letztgenannten Organisationen: „Vorläufer des Reichsbanners. Teil 1“, in: RBZ Nr. 8/1929 vom 23.2 sowie Gerstenberg 1997, S. 119–135. Siemens betont, dass die NSDAP den Begriff „Sturmabteilung“ gewissermaßen von der SPD stahl (siehe Siemens 2017, S. 7f.). Im Staatsarchiv München findet sich u.a. eine farbige Postkarte der SPD-SA von 1923 mit dem stilisierten Logo, wobei die Buchstaben mittig ineinandergreifen, statt schräg wie bei der NS-SA (siehe StA München, Polizeidirektion München, Nr. 6886, Bl. 1).

1. VOM REGIMENT REICHSTAG ZUM REPUBLIKANISCHEN FÜHRERBUND. ANSÄTZE EINER REPUBLIKANISCHEN GEWALTKULTUR Es wurde verschiedentlich behauptet, das Reichsbanner sei eine „verspätete Gründung“ gewesen, da wichtige Weichenstellungen der Anfangsjahre bereits geschehen waren und im Gegenteil der Beitrag des Reichsbanners zur Militarisierung des politischen Lebens die Situation der Republik zusätzlich verschlechterte. Man nehme hier nur die vielfältigen kleinen wie großen Spitzen gegen das Reichsbanner in der linksrepublikanischen Weltbühne. Neben der reinen Saalschutztätigkeit des Reichsbanners konnten die Weltbühne-Autoren, die von einer „Zweiten Republik“ träumten, im Republikanerbund keinen positiven Wert sehen. Die staatstragende Komponente des Reichsbanners wurde sogar so gedeutet, dass der Bund einen möglichen Reichswehrputsch gegen das Proletariat mittragen werde, weswegen es besser sei, „die Gewehre zu zerbrechen“ und auf das Verbot aller Wehrverbände hinzuwirken.1 Die linksintellektuellen Außenseiter der Weltbühne illustrieren bestens die tief sitzende Skepsis gegenüber dem „Militarismus“ und Patriotismus des Reichsbanners im republikanischen Lager, der wesentlichen Anteil an der vermeintlich „verspäteten“ Gründung des Bundes hatte, die am 22. Februar 1924 erfolgte und damit erst am Ende der ersten Krisenphase der Republik.2 Die Idee des Reichsbanners wurde aber nicht erst in dieser Zeit des militärischen Ausnahmezustandes geboren, sondern bereits wesentlich früher. Eine Zusammenführung aller demokratisch gesinnten Kräfte innerhalb der damals noch monarchisch ausgerichteten Armee war schon im Ersten Weltkrieg angedacht worden.3 Dass 1

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Siehe u.a. „Blockwahlen!“ von [Peter] Alfons Steiniger, in: Die Weltbühne Nr. 45/1924 vom 4.11. oder „Reichsbanner“ von Heinz Pol, in: Die Weltbühne Nr. 46/1925 vom 17.11. u. „Der kalte Putsch“ von *, in: Die Weltbühne Nr. 50/1925 vom 15.12. Andere Autoren wie Kurt Hiller waren dem Reichsbanner gegenüber ambivalenter eingestellt und versuchten sich an einer konstruktiv gemeinten Kritik, die letztlich aber gleichfalls auf eine machtpolitische Kaltstellung des Bundes hinausgelaufen wäre, da Hiller der Idee einer „proletarischen“ Einheitsfront zwischen Reichsbanner und RFB anhing (siehe „Republikanische Krönungsfeier“ u. „Reichsbanner und Reichswehr“ beide von Kurt Hiller, in: Die Weltbühne Nr. 19/1925 vom 12.5. u. 51/1925 vom 22.12.). Zur Einordnung Hillers und der Weltbühne: Gallus 2012 u. Münzner 2015 sowie Ziemann 2014, S. 246f. An diesem Tag wurde die erste Fassung der Satzung des Reichsbanners vom damaligen Gründungsvorstand unter dem Vorsitz von Hörsing beschlossen. Hörsings Taschenkalender bestätigt dieses Datum mit dem Vermerk „Gründungsversammlung Schwarz-Rot-Gold“ (siehe FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 3, Nr. 5). Wolfgang Heine hatte gegenüber Hörsing geäußert, dass die Reichsbannergründung eine „großartige Idee“ wäre, die aber reichlich spät umgesetzt worden sei und er eine solche Organisation 1919 bitter nötig gehabt hätte (vgl. Schreiben Heines an Hörsing vom 7.4.24, in: BArch N2111/218, Bl. 9). Auch Ludwig Haas hatte in einer Reichstagsrede geäußert, dass das Reichsbanner schon wesentlich früher hätte gegründet werden müssen (siehe Rohe 1966, S. 304). Siehe Stampfer 1953.

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„Für Freiheit und Vaterland!“ (1919–1924)

hiermit der preußische Militarismus überwunden werden sollte, wollten die Weltbühne-Autoren nicht anerkennen. Die militärischen Erfordernisse des Krieges hatten eine enorme Ausweitung der sozialen Basis des Heeres zur Folge gehabt, die nichtadeligen Soldaten bis dahin ungeahnte, wenngleich klar begrenzte, Aufstiegsmöglichkeiten bot. Während Offiziere bürgerlicher Herkunft in der Preußischen Armee vor 1914 noch Ausnahmeerscheinungen waren, musste bereits in der Anfangsphase des Weltkrieges der Offiziersersatz vermehrt aus dem Bürgertum und sogar aus der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterklasse rekrutiert werden. Das bis dato abgeschottete Offizierskorps wurde durch das Kriegserlebnis zwangsläufig aufgelockert, wobei sich dieser Effekt mit der zunehmenden Länge des Krieges und den entsprechenden Verlusten im Offizierskorps verstärkte. In der Truppe entwickelte sich eine ebenfalls bis dato ungekannte Kameradschaftlichkeit zwischen einfachen Soldaten und Frontoffizieren, die ebenfalls in ärmlichen Lebensverhältnissen zurechtkommen mussten und sich nicht allabendlich im Offizierskasino von der Truppe abtrennen konnten. Es bildete sich ein krasser Gegensatz zwischen dem Leben an der Front und dem damit korrespondierenden Selbstverständnis „des Frontsoldaten“ heraus, der in idealisierter Form das ideologische Leitbild aller Wehrverbände der Weimarer Zeit werden sollte und das unabhängig von ihrer sonstigen politischen Ausrichtung. Im scharfen Gegensatz zum „Frontsoldaten“ wurden die Vertreter der Etappe gesetzt, also der rückwärtigen Abschnitte des militärischen Operationsgebietes, welches mit Korruption, luxuriösen Ausschweifungen und allgemeiner Drückebergerei assoziiert wurde.4 Aus militärhistorischer Perspektive ist hingegen unzweifelhaft, dass die in der Etappe erbrachten logistischen und anderen Leistungen für den Verlauf des Krieges von ebenso großer, wenn nicht sogar größerer Bedeutung waren als die individuellen Leistungen der Frontsoldaten im eigentlichen Kampfgeschehen. Für die später in der rechtsradikalen Presse verbreitete Behauptung, dass sozialdemokratische (und „jüdische“) Propaganda unter den Fronttruppen für die Spaltung der Soldatengemeinschaft zwischen Front und Etappe verantwortlich sei, gibt es keine historischen Belege.5 Im Gegenteil verpflichtete sich die SPD, während des Krieges mehrheitlich dazu auf eine grundsätzliche Oppositionshaltung zu verzichten (Burgfriedenspolitik)6 und propagierte unter ihren Anhängern die militärischen Tugenden der Opferbereitschaft und Vaterlandstreue anhand des Vorbildes von Ludwig Frank (SPD), 4

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Ein Beispiel aus den zahlreichen literarischen Umsetzungen des Frontsoldaten-Mythos ist der Roman Auferstehung. Eine Legende aus der Wahrheit des Krieges von Hermann Schützinger. Dort wird die Gemeinschaft aller Frontsoldaten unabhängig von sozialer Herkunft oder religiösem Bekenntnis beschworen, die selbst die feindlichen, französischen Frontsoldaten umspanne. Der Bösewicht des Romans ist folglich kein Franzose, sondern ein deutscher Etappen-Offizier, ein „Major“ ohne Namen (siehe Schützinger, Auferstehung 1924). Diese „Dolchstoß“-Erzählung wurde bereits in der Weimarer Zeit als Legende bzw. Lüge demaskiert (siehe z.B. Kuttner 1924, Schützinger, Zusammenbruch 1924 oder Deimling 1930, S. 227–259. Dort ist ein mitunter hitziger Briefwechsel Deimlings mit Ludendorff über die Frage des Waffenstillstandes abgedruckt). Die Gegenposition z.B. bei: Herzfeld 1928. Siehe Miller 1974 u. aktueller Pyta/Kretschmann (Hg.) 2011.

Vom Regiment Reichstag zum Republikanischen Führerbund

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der aus einem jüdischen Elternhaus stammte und als Freiwilliger bereits kurz nach Kriegsausbruch an der Front starb. Eine sozialdemokratische „Zersetzungspropaganda“ gab es in der Truppe schlicht nicht.7 Hiermit zusammenhängend stellt sich die Frage, ob es von Seiten der SPD während des Krieges angestrebt wurde, eine Art parteinahen Soldatenverband aufzubauen. Friedrich Stampfers zitierte Bemerkung lässt vermuten, dass dies höchstens angedacht wurde, aber es keine Versuche gab, die Idee umzusetzen. Innerhalb der SPD-Führung wurde gesehen, dass die Heeresleitung den Aufbau eines solchen Verbundes und einen dementsprechenden Versuch einer Politisierung des Heeres mit drakonischen Strafen unterbunden hätte. Die Bildung von Soldatenverbänden war in der Preußischen Armee grundsätzlich untersagt und dementsprechend war es für die SPD auch unmöglich, einen parteinahen Soldatenverband aufzubauen, solange diese Armee intakt war. Lediglich zu karitativen Zwecken, also vor allem der Hinterbliebenenfürsorge und Denkmalpflege, war es aktiven Soldaten erlaubt, sich vereinsmäßig zusammenzuschließen. Ausgeschiedene Soldaten hingegen organisierten sich mit Selbstverständlichkeit in Traditions- und Veteranenverbänden, deren Dachorganisation namens Kyffhäuserbund sich zwar offiziell als „unpolitisch“ deklarierte, aber faktisch gesehen eine monarchistische, antirepublikanische Politik verfolgte.8 Diese Strategie der Maskierung einer genuin politischen Position sollte die Republik bis zu ihrem Ende begleiten, auch wenn sie von republikanischer Seite bereits früh durchschaut wurde. So formulierte der Reichsbannerpublizist Emil Julius Gumbel (SPD) seine Kritik des „Unpolitischen“ wie folgt. Wo ist ein republikanischer General in der Reichswehr? Die Generale sind unpolitisch, d.h. monarchistisch. Zerstört das Schlagwort von den unpolitischen Beamten, von den unpolitischen Generalen, von den unpolitischen Professoren! Ihre Pseudounpolitik wäre das stärkste Argument gegen sie, aber sie sind nicht unpolitisch. Unpolitik ist ihnen Monarchismus. […] Ich sage das Euch wenigen Republikanern, die Ihr noch an der Macht seid. Bewahrt die Macht, […] werdet hart gegen Eure Feinde! Wenn nicht, so werden sie bald hart gegen Euch sein.9

Als Gumbel diese Kritik an der Reichswehr 1924 formulierte, waren wichtige Weichenstellung über die Natur der Armee bereits gefallen. Es liegt daher nahe zu fragen, warum es in der Republik in der Anfangsphase nicht gelungen war, eine loyale Streitmacht aufzustellen.10 7

Zu den gesellschaftlichen und politischen Vorbedingungen der Revolution: Winkler 1985, S. 19–33. Zur neueren Auseinandersetzung mit der Dolchstoßlegende siehe Sammet 2003. Zum Erinnerungskult um Frank im Reichsbanner siehe unten. 8 So hatte der Kyffhäuserbund 1925 alle RB-Mitglieder ausgeschlossen, was zu einer publizistischen Auseinandersetzung über die politische Einstellung des Kyffhäuserbundes führte. Eine Artikelsammlung hierzu in: BArch R1501/113501, BL. 112ff. Darin insb. „Kyffhäuserbund und Reichsbanner“ von Ludwig Haas, in: BTB Nr. 312/1925 vom 16.8. u. ein Artikel in der Kriegerzeitung Nr. 35/1925 vom 30.8. Zum Kyffhäuserbund ferner siehe Fricke et al. (Hg.) 1985, S. 325ff u. 538–547. 9 Aus „Die Republik und ihre Feinde“ von Emil J. Gumbel, in: RB-Reichsverfassung 1924. 10 Aktuell zu dieser Frage Keller 2014.

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Republikanische Truppen in der Revolution 1918/19 Mit dem Zusammenbruch des Preußisches Heeres und auch der Armeen der anderen Teilstaaten im Herbst 1918, war es für Soldaten möglich geworden, sich politisch im Sinne der Demokratie zu betätigen. Die Selbstorganisation in den Arbeiter- und Soldatenräten der Revolutionszeit waren ein großer Einschnitt in das bis dahin unangefochten ausgeübte Monopol des monarchistischen Offizierskorps, wobei sich die Bildung der Soldatenräte und die Auflösung des Feldheeres gegenseitig bedingten. Die Anhänger der SPD hielten in diesen Selbstverwaltungsgremien in der Regel eine absolute Mehrheit, aber auch bürgerliche Vertreter und vor allem Unabhängige Sozialdemokraten waren ebenso in den Räten repräsentiert. Als Instrumente zur Durchsetzung eines neuen Herrschafts- bzw. Ordnungssystems verstanden sich die Räte mehrheitlich aber nicht, sondern lediglich als dezentrale Notlösungen bis zur Abhaltung allgemeiner Wahlen, um ein Mindestmaß an quasistaatlicher Organisationsfähigkeit aufrechtzuerhalten.11 Durch die Rückführung und Demobilisierung des millionenstarken Feldheeres innerhalb weniger Wochen waren die zivilen und militärischen Behörden vor gewaltige logistische Probleme gestellt. Vielfach kam es zu chaotischen Zuständen, aber mehr als die grobe Kontrolle des militärischen Zusammenbruches konnte realistischerweise von den Verantwortlichen nicht verlangt werden und diese Erwartung wurde insbesondere mit Hilfe der Soldatenräte weitgehend erfüllt, die mit dem Fortschreiten der Demobilisierung ihre Funktion verloren.12 Auch wenn manche Zeitgenossen und politisch Handelnden sich als Teil einer radikalsozialistischen Revolution nach russischem Vorbild fühlten, so war die Errichtung einer Arbeiterdiktatur nicht das politische Ziel der SPD. Das Hauptziel der tatsächlich angestrebten demokratischen Revolution, nämlich die Durchsetzung einer parlamentarischen, repräsentativen Demokratie, wurde mit der WRV erfüllt und dies 1918/19 mehr gegen die Widerstände von Links als den Widerstand von Rechts. Die Gefahr des Rechtsputschismus wurde erst ab 1920 akut, als reaktionäre Kreise sich daran machten, die Errungenschaften der demokratischen Revolution zu beseitigen. Die Auseinandersetzungen der USPD-Führung mit den SPD-Vertretern im Rat der Volksbeauftragten, die schließlich in den Wintermonaten 1918/19 in einer Serie von Linksputschen und Aufständen kulminierten, war begründet in einer realitätsfernen Überschätzung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten durch die USPD. Dass diese Männer ihre wesentlichste Fehleinschätzung mit Vertretern des rechtsradikalen Lagers teilten und annahmen, der Zusammenbruch des Kaiser-

11 Zum Thema Räte: Winkler 1985, insb. S. 198ff. Die Bildung von Betriebsräten war freilich eine wesentliche Errungenschaft der Revolutionszeit, die bis heute nachwirkt und zur Demokratisierung der deutschen Gesellschaft beiträgt. Gesetzgeberische Kompetenzen haben die Betriebsräte aber nicht. Die von linkssozialistischer Seite propagierte Idee einer „Rätedemokratie“ als vermeintliches Alternativmodell zur parlamentarischen Demokratie wurde mit ihnen also nicht verwirklicht. 12 Siehe Wette 1991, Kap. 4.

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reiches sei ein Ergebnis ihrer radikallinken Politik, sollte in den kommenden Jahren noch fatale Wirkungen entfalten.13 Die lebensbedrohliche Herausforderung, die Linksradikale für die gerade im Entstehen begriffene Weimarer Republik darstellten, ist nicht kleinzureden. Die Berliner Weihnachtskämpfe nach der Meuterei der Volksmarinedivision, der Januaraufstand, die blutigen Märzkämpfe sowie die Zerschlagung der Münchener und der Bremer Räterepubliken im Frühling 1919 waren eine schwere Last für den demokratischen Konstituierungsprozess, wobei neben den eigentlichen Aufständen die brutale Aufstandsbekämpfung durch Regierungstruppen ebenfalls eine schwere Hypothek werden sollte.14 In diesen primär vom reorganisierten Militär geführten Kämpfen kam den Räten, anders als noch bei der Demobilisierung, kein entscheidender Einfluss zu. Durch ihre politische Spaltung in den umkämpften Gebieten waren die Räte in militärischer Hinsicht vielmehr handlungsunfähig. Ihre direktdemokratische Organisation, die dem militärischen Prinzip von Befehl und Gehorsam zuwiderlief, trug das Übrige dazu bei, dass eine Verteidigung der Republik durch die Arbeiterbewegung in dieser Situation sehr erschwert wurde. Der im Weltkrieg zum Unteroffizier aufgestiegene Sozialdemokrat Hermann Schützinger schilderte die Einsatzprobleme der durch Soldatenräte bestimmten militärischen Verbände in eindringlichen Worten. So sei die Aufstellung einer zuverlässigen republikanischen Truppe, welche die gewählte bayerische Regierung unter Johannes Hoffmann (SPD) vor den Truppen der Münchener Räterepublik hätte verteidigen können, nicht daran gescheitert, dass kein ausreichendes Personal aus der Arbeiterschaft vorhanden war. Im Gegenteil seien die Mannschaften der in Nürnberg und Regensburg gebildeten Gruppen durch ihre Gewissenhaftigkeit und Qualität aufgefallen. Unter den Offizieren sei zwar mancher „unverbesserliche Hetzer und Reaktionär“ gewesen, aber auch „aufrechte Demokraten“ und „warme Freunde der Arbeiterschaft“. Die Verwendungsfähigkeit der republikanischen Truppen sei jedoch durch zwei Faktoren auf Null reduziert worden. Erstens habe die Einmischung der Soldatenräte in die Offiziers- und Führerwahl viel böses Blut hinterlassen. Kaum ein fähiger Offizier sei im Amt belassen worden, sondern fast ausschließlich unselbstständige JaSager. Zweitens hätten die Soldatenräte auf dem operationellen Gebiet einen ausschließlich negativen Einfluss gehabt. Mal war den Truppen das Wetter zu schlecht gewesen, um zu marschieren. Mal war der Stahlhelm zu schwer, um getragen zu werden. Mal war der Sold zu niedrig, um überhaupt zum Dienst anzutreten. Die Führung habe aus Angst vor einer sofortigen Abwahl jeden Einwand umgesetzt, sodass es nur unter größten Mühen möglich gewesen sei, die Truppe 13 Zur Aneignung der Dolchstoßthese durch die radikale Linke: Sammet 2003, S. 193ff. 14 Hierzu aktuell Jones 2017. Zur Niederschlagung der Bremer Räterepublik: Kuckuk 2010. Kuckuk betont, dass es Noske in Bremen darum gegangen sei, ein Exempel zu statuieren und die tatsächliche militärische Gefahr, wenn überhaupt vorhanden, gering war (vgl. ebd., S. 75ff.). An anderen Fronten, so vor allem in Berlin und München war die militärische Gefahr für die Regierung und gewählte parlamentarische Versammlungen größer. Aktuell erlebt die Debatte um die Revolution aufgrund des Jubiläums einen starken Auftrieb, nachdem sie lange eher stiefmütterlich behandelt wurde (siehe Gallus (Hg.) 2010).

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überhaupt in Richtung München in Bewegung zu setzen. Dort sei sie aufgrund des Bremsens des Soldatenrates aber ohnehin nie angekommen. Nur wenige Teile der republikanischen Truppen seien überhaupt in Kämpfe verwickelt worden und Schützingers Abteilung musste bereits bei Freising ohne Feindkontakt den Rückzug antreten, da die Truppe das Ausführen weiterer Befehle verweigerte. Dieses komplette Versagen der republikanischen, bayerischen Truppen habe erst den Weg freigemacht für den Einsatz der norddeutschen Freikorps und Reichswehr, deren Einsatz und damit deren Gräueltaten hätten verhindert werden können, wenn nur der Einfluss der Soldatenräte rechtzeitig beseitigt worden wäre, so Schützingers Fazit.15 Während in Bayern SPD-nahe Truppen also keine größere Rolle spielten, konnten vergleichbare Einheiten in Berlin durchaus einen wesentlichen Beitrag zur Beruhigung der militärischen Lage leisten. Mehrere Tage vor dem Einsatz der auf Noskes Initiative hin gebildeten Freikorps in den Berliner Januarkämpfen hatten sich aus eigenem Antrieb heraus Anhänger der SPD zu FreiwilligenRegimentern zusammengeschlossen, die gegen die Aufständischen eingesetzt wurden. Das Regiment Reichstag, welches unter dem Kommando des VorwärtsRedakteurs Erich Kuttner16 (SPD) stand, das Regiment Liebe und die aus dem Zusammenschluss beider Regimenter am 19. Januar hervorgegangene Republikanische Schutztruppe umfasste mehrere tausend Mann und war mit Karabinern und MGs ausgerüstet. Mit Hilfe dieser von Sozialdemokraten geführten Einheiten gelang die Befreiung der Mehrheit der von den Aufständischen besetzten Gebäude in der Berliner Stadtmitte, darunter der Reichstag und das Brandenburger Tor, ohne dass auf die Hilfe von auswärtigen Freikorps hätte zurückgegriffen werden müssen. Das Freikorps Reinhard, welches bereits vor dem 10. Januar in Berlin operierte, hatte nur den südlichen Teil des Regierungsviertels um die Wilhelmstraße herum besetzt, wobei es hierbei wie auch bei späteren Einsätzen dieser 15 Vgl. Schützinger, Kampfbrevier 1924, S. 53ff. In diesem Kontext verweist Schützinger interessanterweise auf das Beispiel der Roten Armee, deren Aufbau und Einsatz ohne die rasche Entmachtung der Soldatenräte durch die Bolschewisten nicht möglich gewesen wäre (vgl. ebd., S. 48ff.). Ein weiteres in republikanischer Hinsicht wesentlich positiveres Gegenbeispiel ist für Schützinger die erfolgreiche Republikanisierung des Österreichischen Heeres durch die dortige Sozialdemokratie. Die deutsche Sozialdemokratie müsse sich dies zum Vorbild nehmen und ihr distanziertes bis offen ablehnendes Verhältnis zur Armee grundlegend ändern, so Schützingers militärpolitische Grundforderung (vgl. ebd., S. 55ff.). Aus einer entgegengesetzten Perspektive schilderte Beyer den Kampf der bayerischen Roten Armee gegen die „Weißgardisten“ der Regierung Hoffmanns (siehe Beyer 1988, S. 126ff.). Zur Rolle Schützingers in München besser: Ziemann 2014, S. 242f. 16 Zu Kuttner: Ingenthron 2000 u. knapp Stampfer 1957, S. 212. Kuttner gehörte zum Gründungsvorstand des Reichsbundes der Kriegsbeschädigten und Kriegsteilnehmer (RKKK), war aber kein Radikalpazifist, was u.a. sein Erinnerungsbuch an seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg belegt, wo er sich eindeutig positiv über das damalige Kameradschaftserlebnis äußerte (siehe Kuttner 1916). In den 1920ern und 1930ern veröffentlichte er u.a. eine Broschüre gegen den Antisemitismus (siehe Kuttner 1930), aber auch kritische Militärpublizistik. In seinem holländischen Exil verfasste Kuttner weitere historische Werke mit einem wissenschaftlichen Anspruch.

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Truppe zu Kriegsverbrechen an den Aufständischen kam, was die mangelnde republikanische Zuverlässigkeit dieser Truppe bereits offenkundig gemacht hatte. Der Einsatz, der vor allem aufgrund der Morde an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg berüchtigten Truppenteile der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, war militärisch gesehen unnötig und erfolgte auf Befehl des Volksbeauftragten für Heer und Marine Gustav Noske, der die bereits in Berlin operierenden Truppen als unzuverlässig und kampfunfähig dargestellt hatte.17 Dies zeigte eine SPDinterne Spannung, die um die Frage der Kooperation mit der alten Heeresleitung kreiste.18 Noske hatte den Berliner Stadtkommandeur Anton Fischer (SPD) zu diesem Zeitpunkt bereits entmachtet und die Kommandogewalt in die Hände von Armeeoffizieren gelegt, da er kein ausreichendes Vertrauen in die Möglichkeiten Fischers mehr besaß.19 Fischer wurde wie auch Kuttner und dessen Mitstreiter der Annäherung zwischen Noske und den alten Militärs geopfert. Ihre Position innerhalb der SPD wurde durch Noske nachhaltig geschwächt, da er nicht ohne Erfolg versucht hatte, Fischer, Kuttner und anderen Sozialdemokraten die Verantwortung für die vermeintliche Notwendigkeit des Einsatzes der rechten Freikorps zuzuschieben. Heute ist es wissenschaftlicher Konsens, dass Noske die Hauptverantwortung für diese militärpolitische Weichenstellung zugeschrieben werden muss und die militärische Leistung der SPD-nahen Regierungstruppen keineswegs ihre politische Kaltstellung rechtfertigte.20 Fischer und insbesondere der aus einem 17 Diese Position verallgemeinerte Noske und begründete hiermit sein Vertrauen auf die rechtslastigen Freikorps (siehe Noske 1920, S. 70–75). Im Bezug auf die Republikanische Soldatenwehr mag dies teilweise richtig gewesen sein, da hierin zahlreiche Anhänger der USPD versammelt waren, die sich weigerten, gegen die Aufständischen im Januar einzuschreiten. Die Republikanische Soldatenwehr war aber von den Regimentern Reichstag und Liebe klar getrennt (siehe Gordon 1959, S. 30f.). 18 Das berühmte und teils berüchtigte sog. Ebert-Groener-Bündnis vom November 1918 stellte den Ausgangspunkt dieser Kooperation dar (siehe hierzu Mühlhausen 2007, Kap. 2 u. 6 sowie Keller 2014). Geheim waren die Absprachen zwischen der Armeeführung und dem Rat der Volksbeauftragten freilich nicht. 19 Fischers Vorgänger Otto Wels war im Dezember von der Volksmarinedivision als Geisel genommen worden, um die Auszahlung des Soldes zu erzwingen, was die sog. Weihnachtskämpfe auslöste. Die Regierungstruppen konnten Wels nicht befreien und so musste den Forderungen der meuternden Truppen stattgegeben werden, was das Amt des Stadtkommandeurs nachhaltig beschädigte. Fischer rechtfertigte seine Handlungen und versuchte Noskes Argumente in einer Broschüre zu entkräften, was aufgrund der mangelnden Unterstützung durch den SPD-Vorstand aber wenig effektvoll war (siehe Fischer 1922). Fischer konnte in der RBZ aber mehrere Artikel publizieren, um seine Position zu verteidigen. Das Buch Regiment Reichstag von Kurt Lamprecht entlarvte er etwa als historisch völlig unhaltbar, da Lamprecht historische Namen, Orte und Geschehen beliebig seiner Grundthese anpasse, dass die SPD die Revolution „verraten“ habe (vgl. „Literarische Geschichtsklitterung“ von Anton Fischer, in: RBZ Nr. 27/1931 vom 4.7.). Korrekterweise muss man feststellen, dass Lamprecht nicht den Anspruch aufstellte, ein wissenschaftliches Werk verfasst zu haben (siehe Lamprecht 1931, S. 5), weswegen es allerdings auch keine brauchbaren Informationen über die Geschichte des Regimentes enthält, obwohl der publizierende Fackelreiter-Verlag dies behauptete (siehe ebd., S. 259ff.). 20 So bereits Winkler 1985, S. 123f. u. Wette 1987, S. 321–332.

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jüdischen Elternhaus stammende Kuttner waren in den folgenden Jahren Opfer gezielter Rufmord-Kampagnen, die von Rechts- und Linksradikalen, aber auch von links stehenden Republikanern und SPD-Mitgliedern betrieben wurde. Dass der Hauptfinanzier des Regimentes Reichstag, der Unternehmer Georg Sklarz,21 ebenfalls einen jüdischen Familienhintergrund hatte, trug zur jahrelangen antisemitischen Hetze gegen Kuttner nicht unwesentlich bei.22 Das Verhalten Noskes war andererseits insofern kein Alleingang, als dass innerhalb der SPD-Führung keine Ambitionen bestanden, eine parteinahe Truppe aufzubauen, die als Konkurrenz zur existierenden Armee hätte dienen können oder auch nur zu versuchen, einen maßgeblichen Einfluss auf das Heer zu gewinnen, wie es der österreichischen Sozialdemokratie gelungen war. Die traditionell skeptische Ablehnung vieler SPD-Politiker und ihrer Anhänger gegenüber der Preußischen Armee war über Jahrzehnte gewachsen und folglich nicht innerhalb weniger Wochen aus der Welt zu schaffen und die folgenreichen, außenpolitisch bedingten Rüstungsbeschränkungen trugen ihr Übriges dazu bei, dass die Macht des alten Offizierskorps nicht gebrochen, sondern nur wenige Monate nach dem militärischen Zusammenbruch wieder gefestigt werden konnte. Dies macht Kuttners Bemühungen um die Schaffung eines republikanisch zuverlässigen Heereskörpers aber noch bedeutender. Es ist offensichtlich, dass seine Initiative aus einer extremen Notsituation heraus entstand und weder einen bewussten Plan zur Basis hatte, noch auf den dauerhaften Rückhalt der Partei hoffen konnte. Der Respekt für den Professionalismus der alten Armee war nicht nur in der bürgerlichen Bevölkerung, sondern auch in der SPD enorm. Hieraus entstand die Bereitschaft, auf das Urteil und das Expertenwissen der Offiziere zu vertrauen. Ein Vertrauen, welches im Fall Noskes in den Tagen des Kapp-Putsches bitter enttäuscht werden sollte.23

21 Laut Fischer hat Sklarz das Regiment Reichstag mit der inflationsbedingt damals eher geringen Summe von 300.000 Mark aus eigener Tasche finanziert, ohne hiervon in irgendeiner Weise finanziell profitiert zu haben (vgl. „Literarische Geschichtsklitterung“ von Anton Fischer, in: RBZ Nr. 27/1931 vom 4.7.). Weiteres hierzu und auch über den Sklarz-Prozess von 1924 bei Toury (siehe Toury 1997, S. 109). 22 Siehe hierzu wie auch zum eigentlichen Einsatz der Regimenter Reichstag und Liebe Ingenthron 2000, S. 156ff. Zu den juristischen und publizistischen Auseinandersetzungen von und um Kuttner siehe ebd., S. 303ff. 23 Ein weiterer Grund dafür, dass führende SPD-Politiker eher den Militärs vertrauten als neuen Akteuren, lag darin, dass die Revolutionszeit auch eine Zeit für politisch fragwürdige Opportunisten war. Zu entscheiden, wem die eigene Sicherheit anvertraut werden kann und wem nicht, ist in solchen Umbruchszeiten natürlich schwierig. Ein solch fragwürdiger Opportunist war bspw. Josias von Heeringen (eine Namensverwechslung ist möglich), der dem damaligen preußischen Innenminister Wolfgang Heine anbot, eine private Schutzorganisation aufzubauen, die heimlich vom Staat finanziert werden sollte, aber allein der Kontrolle Heeringens unterstanden hätte, um so die Rüstungsbeschränkungen der Alliierten zu umgehen. Es war durchaus berechtigt, dass Heine auf dieses fragwürdige Angebot, welches ihn allein dem guten Willen von Heeringen ausgeliefert hätte, letztendlich nicht einging (siehe BArch N2111/206).

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Organisation einer republikanischen Heerespolitik Doch unabhängig von Noske und der Mehrheit des Parteiestablishments hatten Sozialdemokraten und andere Republikaner eine wichtige Lehre aus den Revolutionstagen und den folgenden Kämpfen gewonnen. Wenn die Republik auf ein sicheres Fundament gestellt werden soll, so könne dies nicht ohne einen republikanisch zuverlässigen, militärischen Schutz geschehen. Ein „unpolitisches“ Heer, wie es zahlreichen Offizieren und Konservativen vorschwebte, war eine Gefahr für die Republik und eine Quelle zusätzlicher Unsicherheit in Krisenzeiten. Hermann Schützinger, der im Krieg zu einem vehementen Kritiker des preußischen Militarismus geworden war und sich 1924 enthusiastisch im Reichsbanner engagieren sollte, hatte ein klares Rezept gegen diesen Missstand. Ein funktionierendes Heer, so Schützinger, könne nicht direktdemokratisch organisiert werden. Daher müsse die republikanische Zuverlässigkeit der Truppen auf einem anderen Weg sichergestellt werden. Die politische Bildung der Offiziere und Mannschaften voranzutreiben und ihnen ein rationales, wenn möglich wissenschaftliches Verständnis von dem Wert der Republik, eine „Überzeugung von der sozialen und nationalen Sendung der deutschen Republik“ zu vermitteln, sah Schützinger als den sichersten Weg zur Überwindung eines potentiell für die Republik tödlichen Missstandes. In diesem Sinne sei es für den Bestand der Republik ebenfalls von kritischer Bedeutung, die gefühlsmäßige Entfremdung zwischen dem Heer und der Bevölkerung zu überwinden, womit Schützinger vor allem die Arbeiterschaft meint, die durch das preußische Kastendenken bewusst vom Staat und seinen Institutionen ferngehalten worden sei.24 Diese gesellschaftliche Kluft zwischen Republik und Heer zu überwinden, war das erklärte Ziel eines militärhistorisch gesehen höchst bemerkenswerten Verbandes, der von der Weimarforschung oft ignoriert wurde, da er nur wenig tatsächlichen Einfluss auf die generelle militärpolitische Richtung nehmen konnte.25 Die Gründe hierfür werden noch zu klären sein. Wichtiger ist aber erst einmal der folgende Umstand: Der Republikanische Führerbund (FB)26 wurde bereits im Juni 1919 und somit praktisch unmittelbar nach dem Ende der Kämpfe um München im Mai gegründet. Schützinger, Fischer, Kuttner, der zum ersten Vorstand des Führerbundes gehörte, und andere Republikaner hatten die Vereinsgründung mit dem Anspruch vorangetrieben, das Wehrproblem der jungen Republik lösen zu wollen und auf eine umfassende Republikanisierung der Machtinstitutionen Armee und Polizei hinzuwirken. Somit war der FB von seiner Zielsetzung her gesehen eine dem Reichsbanner gleichkommende Organisation, wobei 24 Vgl. Schützinger, Kampfbrevier 1924, S. 42ff. 25 Lediglich bei Wette 1987, S. 377–388 sowie Ingenthron 2000, S.180ff. findet sich eine relativ umfassende Betrachtung des FB, ohne dass beide einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ferner noch mit Einzelinformationen zum FB: Carsten 1964, S. 82ff., Fricke et al. (Hg.) 1985, S. 544f., Toury 1997, S. 16f., Winkler 1998, S. 116 u. Mühlhausen 2007, S. 376ff. 26 Um eine Verwechslung mit dem kommunistischen Rotfrontkämpferbund zu vermeiden, wird hier das Kürzel FB gewählt, obwohl in den Quellen für beide Bünde das Kürzel RFB verwendet wird.

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enge personelle Überschneidungen zu dem fünf Jahre später gegründeten Reichsbanner bestanden.27 Die Führungsriege des FB war hierbei überparteilich zusammengesetzt, was es zusätzlich rechtfertigt, den FB als einen Vorgänger des Reichsbanners zu betrachten.28 Das größte Problem bei der Erforschung des FB ist die Quellenlage, da ähnlich wie beim Reichsbanner und anderen republikanischen Organisationen das Aktenmaterial des Führerbundes nicht erhalten ist und zudem kaum Material aus anderen Quellen überliefert ist.29 Für unsere Untersuchung ist der FB jedoch von besonderem Interesse. Schließlich waren die Möglichkeiten zur Republikanisierung der Reichswehr vor dem Wehrgesetz von 1921 und der endgültigen Implementierung der Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrags wesentlich besser als in den darauf folgenden Jahren.30 Da aber zeitgenössische Quellen zum FB sehr rar sind, muss auf nachträgliche Betrachtungen der Beteiligten zurückgegriffen werden sowie auf eine weitere Quelle, deren Existenz vielleicht ebenso überrascht wie die Existenz des Führerbundes selbst: eine Denkschrift der Gestapo von 1936. Während die Forschung den FB als im Allgemeinen unwichtig, weil nicht erfolgreich darstellt, war er für die Gestapo-Beamten in ihrer Jagd auf republikanische Aktivisten immerhin wichtig genug, um langwierige Untersuchungen und personenbezogene Nachforschungen durchzuführen. Ein Ergebnis dieser Bemühungen ist die genannte Denkschrift, die begrenzten Aufschluss über den Führerbund bietet. Wir erfahren, dass der FB am 15. Juni 1919 in Berlin gegründet wurde, er in Landes- und Ortsverbände gegliedert war und die politische Führung beim Bundesvorstand lag, der einem Bundestag genannten Zentralgremium verantwortlich war. Aus der Denkschrift, die wesentliche Inhalte der Satzung des FB vom 29. und 30. Mai 1920 wiedergibt, lässt sich folgende zusammenfassende Tabelle anfertigen.31

27 So waren folgende Personen im FB und Reichsbanner führend aktiv: Anton Fischer (SPD), Erich Kuttner (SPD), Karl Freiherr zu Brandenstein (SPD), Hans Emil Lange (SPD), Hermann Schützinger (SPD), Fritz Endres (SPD), Otto Nuschke (DDP), Hellmut von Gerlach (DDP) und Wilhelm Abegg (DDP) (siehe BArch R58/617). 28 Diese Bewertung bereits bei Wette 1987, S. 387f. 29 In der Metasuchmaschine für Archivmaterial „archivesportaleurope.net“ finden sich für den Suchbegriff „Republikanischer Führerbund“ 2 Treffer. Der Begriff „Republikanische Reichsbund“ bringt 17 Treffer und der Begriff „Reichsbanner“ ganze 295 Treffer. Hiermit ist nicht das gesamte existierende Archivmaterial beschrieben, sondern nur ein Vergleichswert gegeben. 30 Siehe hierzu Keller 2014, der den FB nicht berücksichtigte. 31 Die Denkschrift ist zu finden in: BArch R58/617, Bl. 25–40. Die Denkschrift wird im Folgenden mit den Seitenangaben der Denkschrift und nicht den Blattangaben der Akte zitiert (siehe Dokumentenanhang Nr. 1). Zu den politischen Zielen des FB ferner eine Zusammenstellung aus dem Reichswehrkreis III (siehe Hürten (Hg.) 1979, S. 199f. (Dok. 108)).

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Tabelle 1: Republikanischer Führerbund

Name Mitgliedschaft Sitz Aufgaben / Tätigkeiten

Ausrichtung Organe Zahl / Verbreitung

Republikanischer Führerbund (FB) „Aktiv“ = Offiziere und Unteroffiziere der Armee oder Polizei, „Passiv“ = „Jeder Freund der Bewegung“, keine Unterschiede nach Konfession oder Parteizugehörigkeit Berlin Sammlung aller republikanisch gesinnten Führer der Armee und aller republikanisch Gesinnter außerhalb der Armee, Erfüllung der Armee mit republikanischem Geiste, Unterstützung einer republikanischen Personalpolitik in Armee und Polizei, Schutz der Republik vor gewaltsamen Umsturzversuchen Republikanisch, überparteilich, areligiös Die Stunde32, Nachrichten des Republikanischen Führerbundes33 Einige Tausend34, reichsweit zahlreiche Ortsgruppen mit Schwerpunkten in Norddeutschland und Nordbayern

Besonders bemerkenswert waren die personalpolitischen Forderungen des FB. So verlangte die Reichskonferenz des Führerbundes 1920 eine Besetzung aller Führungsstellen der Armee mit Republikanern, das politische Vollbürgerrecht aller Soldaten, einschließlich des aktiven und passiven Wahlrechtes35 und die völlige Unterstellung der Armee unter die Zivilgewalt mittels der Einsetzung von Zivilkommissaren.36 All dies zusammengenommen lief auf eine völlige Abkehr vom preußischen Militarismus hinaus. Der FB vertrat diese Positionen nicht nur innerhalb der Armee, sondern auch nach außen mittels der republikanischen Presse (Vorwärts, Frankfurter Zeitung, Münchener Post und andere) und durch Aufrufe 32 Die Stunde diente mehreren kleineren Vereinigungen als Sprachrohr und verdeutlicht den direkten Zusammenhang zwischen dem FB und dem RRB, dessen Verbandsorgan Die Stunde anfänglich war (siehe Toury 1997, S. 16f.). Einzelne Nummern der Zeitschrift sind überliefert, aber enthalten kaum Informationen über das Innenleben des FB. 33 Diese Publikation ist m.W. nicht überliefert. Jedenfalls ist sie nicht an den gängigen Orten gesammelt worden, sodass lediglich einzelne Zitate aus der Denkschrift bekannt sind. 34 Die überlieferten Mitgliederangaben schwanken zu stark, um eine genauere Aussage zu treffen. Die Gestapo-Denkschrift geht von 3.000 bis 4.000 Mitgliedern aus (siehe BArch R58/617, S. 3), während Fischer den Mitgliederstand für das Jahr 1920 mit 18.000 angibt (siehe „Der Republikanische Führerbund“ von Anton Fischer, in: RBZ Nr. 37/1929 vom 14.9.). Es ist möglich, dass beide Zahlen richtig sind, sich aber auf verschiedene Zeitpunkte beziehen, was in den Quellen nicht hinreichend genau angegeben ist. 35 An den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 beteiligten sich zum ersten Mal in der deutschen Geschichte auch Soldaten. In den folgenden Parlamentswahlen wurde dieses Recht wieder zurückgezogen. 36 Diese Positionen wurden später auch im Publikationsorgan des Reichsbanners vertreten (siehe Saage 1986, S. 286ff.). Ingenthron nennt und bespricht insbesondere die diesbezüglichen Artikel Kuttners, also: „Die Republikanisierung der Wehrmacht“, in: Vorwärts Nr. 329/1919 vom 30.6. u. „Die Ziele des Republikanischen Führerbundes“, in: Vorwärts Nr. 364/1919 vom 19.7. (nach Ingenthron 2000, S. 180f.).

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und Flugblätter37 sowie Eingaben an Regierungsstellen.38 Bei der Aufstellung dieser Forderungen soll der Führerbund laut der Denkschrift vom Reichspräsidenten Ebert, dem 1920 ernannten Reichswehrminister Otto Geßler (DDP) und Teilen der Ministerialbürokratie unterstützt worden sein, wobei die Denkschrift jedoch offen lässt, wie weit diese Unterstützung ging und bisherige Erkenntnisse der Literatur mitunter auf das Gegenteil schließen lassen.39 So soll der ehemalige Reichsquartiermeister und damalige Reichsverkehrsminister Wilhelm Groener dem FB mit starken Vorbehalten begegnet sein.40 Auch Geßler kann nicht bescheinigt werden, dass er den Führerbund vorbehaltlos unterstützt hätte. So hielt er diesem nach dem Kapp-Putsch vor, für zahlreiche Fälle von Disziplinwidrigkeiten bis hin zur Aufhetzung verantwortlich zu sein.41 Demgegenüber zitiert die Gestapo-Denkschrift eine Publikation des FB vom Mai 1920, wonach Geßler die Mitgliedschaft von Reichswehrangehörigen im FB nicht ablehnte und gegenüber einer Delegation des FB ausgesagt habe, dass er gegen jegliche Maßregelung von FB-Mitgliedern durch ihre militärischen Vorgesetzten einschreiten werde.42 Die Haltung Eberts zum FB war hingegen positiver, aber auch der Reichspräsident war insbesondere nach dem Kapp-Putsch in seinem Einfluss auf das Reichswehrministerium begrenzt.43 Widerstand gegen Kapp, Lüttwitz und andere Putschisten Keine Zweifel bestehen für die Verfasser der Denkschrift jedoch darin, dass der FB zu den schärfsten Gegnern des Kapp-Putsches gehörte.44 Die junge Republik erlebte mehrere Putsche und Putschversuche, doch hatte der Einmarsch der Ehrhard-Brigade in Berlin im März 1920 sicherlich die schwersten Konsequenzen. Neben der offensichtlichen Verantwortung der Putschisten und ihren Unterstützern in der DNVP und DVP,45 ist auch das mangelhafte Krisenmanagement der

37 Siehe BArch R904/459 u. ZSG157/74. 38 Siehe Hürten 1997, S. 203. Dort wird von einer Eingabe des FB an den Reichspräsidenten Ebert berichtet, dass dieser sich für die Verwendung von republikanischen Offizieren in der Armee einsetzen solle. Hierzu auch Mühlhausen 2007, u.a. S. 368. 39 Vgl. BArch R58/617, S. 3ff. 40 Siehe Carsten 1964, S. 83. Ferner verwies Groener in einem Schreiben darauf, dass Ebert und Noske seine Ansicht zum FB teilen würden (siehe Hürten (Hg.) 1977, S. 188 (Dok. 71)). 41 Siehe Hürten (Hg.) 1979, S. 170f. (Dok. 92). 42 Vgl. BArch 58/617, S. 7f. 43 Siehe Mühlhausen 2007, Kap. 8, insb. S. 376ff. 44 Umfassende Quellensammlungen zum Putsch bieten: Könnemann/Schulze (Hg.) 2002 u. Hürten (Hg.) 1989. Aus der Literatur insbesondere: Erger 1967, Wette 1987, S. 627–686 sowie aktuell Keller 2014, Kap. 7. Zum FB finden sich Einzelinformationen in den Quellensammlungen. 45 Hierzu u.a. Könnemann/Schulze (Hg.) 2002, S. 176f. (Dok. 123). Die Rechtsparteien erhofften sich von den Putschisten die Verkündung baldiger Neuwahlen, welche die Regierung Bauer versucht hatte, um mehrere Monate zu verschieben, da zu Recht ein Rechtsruck durch

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Regierung von Gustav Bauer (SPD) für einen Gutteil des Schadens verantwortlich zu machen. So wurde versäumt, den Putschisten in Berlin militärischen Widerstand entgegenzusetzen, der zwar angesichts der lokalen Unterlegenheit wenig Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, doch wäre die Signalwirkung für den Rest des Reiches, wo die Kappisten auf wesentlich weniger Unterstützung hoffen konnten, nicht zu unterschätzen gewesen. Dass der Putsch schließlich zusammenbrach, ist neben den Gegenmaßnahmen der Regierung auf die mangelhafte Vorbereitung der Putschisten, eine ambivalent abwartende Haltung vieler Konservativer sowie die Verweigerung der Ministerialbürokratie zurückzuführen.46 Nicht zu vergessen der Generalstreik, von dem sich die Regierungsmitglieder zwar unter dem Druck der Reichswehr distanzierten, der aber allen im engeren Sinne politisch Beteiligten überdeutlich die Widerstände der Arbeiterschaft gegen das Putschkabinett vor Augen hielt. Ohne den Streik hätten die Putschisten sich wahrscheinlich in ihrem Glauben bestätigt gefühlt, dass die Republik keine populäre Anhängerschaft hatte.47 Die Mitglieder des FB gehörten jedenfalls zu jenen Teilen der Reichswehr und der Polizeikräfte, die sich entschieden auf die Seite der angegriffenen Regierung Bauer stellten und als Konsequenz auch gewaltsamen Auseinandersetzungen mit kapptreuen Truppen nicht aus dem Weg gingen.48 Im Nachhall des Putsches die Wahlen befürchtet wurde. Ausführlicher zu den Haltungen der Parteien: Erger 1967, insb. 161–171. 46 Vgl. Keller 2014, S. 222–243. Gleichlautende Kritik auch bei Heine 1944, Bl. 221ff. (unveröffentlichtes Manuskript, in: BArch N2111/473, 474, 476, 491, 492 u. 493). Heine kritisiert vor allem, dass die Reichsregierung es unterlassen habe, vor ihrer Flucht aus Berlin die preußische Regierung, der die Berliner Sipo unterstand, zu kontaktieren. Heines Rolle während des Kapp-Putsches bedarf noch einiger Klärung, die hier nicht geleistet werden kann, aber die mitunter pauschale Darstellung Heines als vermeintlicher Bündnispartner der Putschisten (so Könnemann 1971 u. Könnemann/Schulze (Hg.) 2002, u.a. S. 571 (Dok. 372)) muss als falsch zurückgewiesen werden, da keinerlei Belege für positive Kontakte zwischen Heine und den Putschisten bekannt sind. Im Gegenteil stritt Heine öffentlich ab, jemals in Verhandlungen mit den Kappisten gestanden zu haben (siehe ebd., S. 298f. (Dok. 220)) und selbst, wenn er indirekt an Verhandlungen beteiligt war, so wie sein Parteifreund Albert Südekum, sollte man ihm nicht automatisch einen Strick daraus drehen, sondern sich um historisierende Klärung bemühen (so für Südekum Bloch 2009, S. 257ff.). Dennoch wurde Heine neben Noske und Südekum von Seiten der SPD, der USPD und den Freien Gewerkschaften die Hauptschuld für den Putsch zugeschrieben, was zu seiner Absetzung führte (siehe Winkler 1985, S. 322ff. u. Könnemann/Schulze (Hg.) 2002, u.a. S. 271 (Dok. 202), 566f. (Dok. 368), 599ff. (Dok. 384) u. 855 (Dok. 566)). 47 Zum Generalstreik: Erger 1967, S. 191–206 u. Winkler 1985, S. 295–324. Keller übergeht diese positiven Aspekte des Generalstreiks mit dem Hinweis auf dessen negative Auswirkungen für das Ansehen der Regierung in der Reichswehr und die dem Streik nachfolgenden Gewalteskalationen. Nicht vernachlässigt werden sollten auch die bürgerlichen Unterstützer des Generalstreiks, wie etwa Carl v. Ossietzky oder Otto Nuschke, die sich hiervon die effektive Bekämpfung der Reaktion und eine Konsolidierung der Demokratie versprachen (siehe Könnemann/Schulze (Hg.) 2002, S. 447f. (Dok. 313)). 48 Siehe „Der Republikanische Führerbund“ von Anton Fischer, in: RBZ Nr. 37/1929 vom 14.9. Fischer gibt an, dass der FB dem Kappisten Max Bauer ultimativ zum Rückzug seiner Truppen aufgefordert habe, da sonst die Anhänger des Führerbundes gewaltsamen Widerstand ein-

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war es der FB, der entschiedene Konsequenzen verlangte. So forderte der FB insbesondere eine Entwaffnung der Putschisten, also der Baltikum-Truppen, der Ehrhard-Brigade, der Zeitfreiwilligenformationen, nebst der bewaffneten Studenten und Offiziere außer Dienst. Personalpolitisch interessant ist neben einer Rücktrittsforderung an Noske (nicht aber an Heine), insbesondere die Forderung des FB nach Bestrafung und Entlassung aller am Putsch beteiligten Offiziere und hiermit zusammenhängend die „Aussiebung der reaktionären Elemente aus den Truppen“, wobei je ein Vertrauensmann des FB in die Personalabteilungen des Reichswehrministeriums und der Sicherheitspolizeien der Länder (Sipo)49 bestellt werden solle. Diese Forderungen wurden öffentlich verbreitet und auch persönlich an Reichspräsident Ebert herangetragen.50 Nun sind diese durchaus vielversprechenden Ideen bekanntermaßen nicht umgesetzt worden. Stattdessen wurde Hans von Seeckt (später DVP) zum wichtigsten Mann der Reichswehr, der wie kein Anderer die „unpolitische“ Republikferne des Heeres verkörperte. Republikanisch orientierte Offiziere wurden in den folgenden Monaten weder befördert noch für ihre Treue zur Regierung Bauer belohnt, sondern ihrerseits „ausgesiebt“ oder anderweitig gemaßregelt. Über die Argumente der Gegner der republikanischen Offiziere bietet die Denkschrift der Gestapo ebenfalls Aufschluss, wobei nicht überraschen dürfte, dass die NSBeamten auf Seiten der Gegner des Führerbundes stehen. So erfahren wir, dass leiten würden, was von Bauer auch befolgt worden sei. Da Fischer aber den Ort dieser Geschehnisse nicht angibt, lassen sie sich kaum überprüfen. In der oben erwähnten Quellensammlung finden sich einzelne Belege für den militärischen Widerstand gegen den KappPutsch und es ist unwahrscheinlich, dass Anhänger des FB hieran keinen Anteil hatten. Dieser Aspekt des Putschverlaufes gehört jedoch offenbar nicht zu den Schwerpunkten der Quellensammlung, die dem bewaffneten Widerstand der Arbeiterschaft dagegen sehr viel Raum gewährt (siehe für den militärischen Widerstand gegen den Putsch: Könnemann/Schulze (Hg.) 2002, S. 183 (Dok. 130), 274 (Dok. 206), 686 (Dok. 444), 687f. (Dok. 446 u. 447) u. 968f. (Dok. 632)). Ob Julius Leber ebenfalls dem FB angehörte, ist unklar, aber auch er leistete mit seinem Truppenteil in Hinterpommern Widerstand gegen die Kappisten, weswegen er später aus der Reichswehr entfernt wurde (siehe Leber 1976, S. 13f. u. Altrichter 2012, S. 79). Eine Schilderung des polizeilichen Widerstands gegen die Kappisten in Mecklenburg bei Schulz 2000, S. 29–35. Hervorzuheben an den Ereignissen in Mecklenburg ist die Bewaffnung von Arbeitern als legaler Hilfspolizei. Nach dem Putsch kam es zu Verhandlungen über die Einreihung dieser Männer in die reguläre Sipo (siehe Könnemann/Schulze (Hg.) 2002, S. 861 (Dok. 570) u. 875ff. (Dok. 581)). Hörsing stellte sich in Magdeburg ebenfalls entschieden gegen den Putsch. Eine Hilfspolizei wurde anscheinend aber nicht gebildet, da sich das Militär anders als in Mecklenburg passiv verhielt und es nicht zu offenen Kämpfen mit der Polizei kam (siehe Könnemann/Schulze (Hg.) 2002, S. 682 (Dok. 438) u. 696ff. (Dok. 456)). 49 Die Sipo ist, wie der Name bereits nahelegt, der Vorläufer der Schupo und existierte von 1919 bis 1920. Zur preußischen Polizeireform siehe Alexander 1992, S. 125ff. Als biographisches Fallbeispiel: Herrberger 2011. 50 Vgl. BArch R58/617, S. 6f. sowie Könnemann/Schulze (Hg.) 2002, S. 277 (Dok. 210) u. 440f. (Dok. 309). Insbesondere die personalpolitischen Forderungen des FB wurden auch von zahlreichen anderen Akteuren im republikanischen Lager und der USPD geteilt (siehe Könnemann/Schulze (Hg.) 2002, S. u.a. 848f. (Dok. 561) u. 855 (Dok. 566)). Zu Eberts Reaktion bereits oben.

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der FB mit seinen Forderungen „politische“ Motive in die Reihen der „unpolitischen“ Armee hätten tragen wollen, was nicht nur die „Verwendungsfähigkeit“ der Reichswehr zum äußeren Schutz des Reiches vor Invasionen gemindert hätte, sondern auch den inneren Schutz vor Aufständen, die selbstredend nur von links zu befürchten gewesen seien. Denn, so erfahren wir weiter, der FB sei in Wahrheit keine verfassungstreue Organisation gewesen, sondern kommunistisch unterwandert worden. Dieser Vorwurf wurde keineswegs von den Nationalsozialisten nachträglich erfunden. Bereits kurz nach dem Ende des Kapp-Putsch tauchten im Reichswehrministerium Anschuldigungen auf, dass der Führerbund zum „Sammelpunkt aller radikalen Elemente“ geworden sei und an der Aufstellung einer kommenden „Roten Armee“ arbeite.51 Über das Ende des FB gibt es bislang keine gesicherten Erkenntnisse, doch waren die Beamten der Gestapo in diesem Punkt besonders inquisitiv. Deren Denkschrift geht davon aus, dass sich der FB nach einer „kommunistischen Unterwanderung“ in einen radikalen (also „kommunistischen“, tatsächlich wohl eher USPD-nahen Teil) und einen nicht-radikalen Teil spaltete. Besonders im größten Landesverband Berlin seien die radikalen Elemente zu finden gewesen und nach einem Konflikt mit der Bundesleitung in Finanzfragen sei letztere aufgelöst worden, während die Landesverbände als selbstständige Teile weiterbestanden hätten. Die Tätigkeit des FB sei jedoch nach der Auflösung der Bundesleitung 1920 weitgehend zum Erliegen gekommen.52 Während eine gezielte Unterwanderung des FB durch die damals noch recht schwache KPD unrealistisch erscheint,53 könnten finanzielle Probleme durchaus zu Konflikten zwischen den Einzelgliedern des Bundes geführt haben. Die genauen Gründe für die Auflösung des FB sind somit nicht aus der Denkschrift zu entnehmen, doch versuchte die Gestapo bis weit in das Jahr 1937 hinein, einzelne ehemalige Führungspersönlichkeiten des FB ausfindig zu machen und deren Werdegang nach zu verfolgen. Das Ziel hierbei war, den NS-Sicherheitsapparat von „politisch Unzuverlässigen“ zu säubern.54 Als Ergebnis dieser Untersuchungen sind einzelne Vernehmungsprotokolle und Aussagen vorhanden, die weitere Details über die Geschichte des Führerbundes beinhalten. So wurde vom ehemaligen FB-Führer Emil Knapp (SPD) ausgesagt, dass nicht eine Spaltung als Ursache für die Auflösung anzusehen sei, sondern der mangelnde Rückhalt des FB in den re51 Vgl. Könnemann 1971, S. 403f. (Dok. 29). Ähnlich die Ansichten des Wehrkreisbefehlshabers in Schlesien Lequis über den FB, der Truppenteile zu Meutereien aufgerufen habe, um „das Heft in die Hand zu bekommen“ (vgl. Hürten (Hg.) 1979, S. 115f. (Dok. 52)). 52 Vgl. BArch R58/617, S. 8–12. 53 Eine Entwicklung des FB in Richtung der USPD kann mangels Belegen nicht völlig ausgeschlossen werden. So wurden, wie gezeigt, einzelne personalpolitische Forderungen des FB durchaus auch von den Unabhängigen geteilt (siehe oben). 54 Bspw. versuchten Gestapo-Beamte über mehrere Monate einen ehemaligen Leutnant der Berliner Sipo namens Rassow zu finden, der ein führender „Linksradikaler“ im FB gewesen sein solle. Als Folge hiervon wurde gegen den Polizeibeamten Ernst Rassow, der seit August 1932 Mitglied der NSDAP war, ermittelt und ein Beförderungsstop verhängt, bis Rassow die Gestapo davon überzeugen konnte, dass es sich um eine Namensverwechslung gehandelt habe, woraufhin man ihn mangels Beweisen vom Haken ließ (siehe BArch R58/617, Bl. 44ff.).

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publikanischen Parteien, die den Einfluss des FB auf die Personalpolitik der Regierung nicht geschätzt hätten. Statt die Initiative des FB zu begrüßen, hätten die Weimarer Parteien den Führerbund als Konkurrenzunternehmen von „Futterkrippenjägern“ verstanden.55 1922 sollte sich der Führerbund freiwillig auflösen, da dessen Mitglieder keine Möglichkeit sahen, weiter für ihre Ziele innerhalb der Armee zu arbeiten. Der FB konnte die sich abschottende Militärkaste zwar nicht aufbrechen, aber laut Anton Fischer war es nach dem Kapp-Putsch immerhin gelungen, einen wichtigen personalpolitischen Sieg zu erringen. Die Ernennung von Hugo Kaupisch zum Kommandeur der Berliner Schutzpolizei (Schupo) verbucht Fischer in diesem Sinne als größte Errungenschaft des FB. Kaupisch war Major der Preußischen Armee gewesen und hatte im Generalstab des Oberkommandos der 8. Armee gearbeitet, die während des Ersten Weltkrieges an der Ostfront eingesetzt wurde. Der Personalie Kaupisch verdeutlicht, wie ein im Zuge der Seecktschen Politik der „Entpolitisierung“ der Reichswehr ausgesonderter Mann einen sicherheitspolitisch zentralen Posten erlangten konnte. Hugo Kaupisch, der ab 1920 bis 1926 das Amt des obersten Berliner Polizeioffiziers ausübte, war laut Fischer eine derjenigen Personen, die sich um die Niederschlagung des Putschversuches der Schwarzen Reichswehr in Küstrin im Herbst 1923 besonders verdient gemacht hatten. Kaupisch habe sich damals loyal zur Regierung Stresemanns verhalten und zusammen mit Fischer belastendes Material über die Verbindungen der Putschisten zur obersten Armeeführung unter Seeckt gesammelt. Deren gemeinsamer Plan sei es gewesen, Seeckt zum Reichskanzler zu machen und auf dieser Grundlage eine „nationale Diktatur“ zu errichten. Trotz ihrer eigenen Überwachung durch Spitzel der Reichswehr56 hätten Fischer und Kaupisch ihr Material aber den amtlichen Stellen in Preußen rechtzeitig zuleiten können, sodass entsprechende polizeiliche Gegenmaßnahmen eingeleitet wurden. Laut Fischers Darstellungen habe auf Kaupischs Befehl hin die Berliner Schupo die Reichswehr-Kaserne in Spandau um55 Die Aussage Knapps ist zu finden in: BArch R58/617, Bl. 66ff. Weitere Vernehmungen sind auf den nachfolgenden Blättern zu finden. Knapp wurde im Gegensatz zu anderen Befragten vom NS-Regime aus politischen Gründen verfolgt und seine Aussage war folglich das Ergebnis eines Verhörs. Die von Knapp beschriebene Sichtweise von SPD-Führern auf den FB gab es jedoch tatsächlich und war insbesondere bei Noske ausgeprägt (siehe etwa Noskes abfällige Bemerkung über den FB in: Noske 1920, S. 199 sowie ausführlicher zum Streit zwischen Noske und Kuttner: Ingenthron 2000, S. 186ff.). Auch OB Emil Lueken (parteilos, später DVP) hielt dem Reichsinnenminister Erich Koch-Weser (DDP) in einem Brief vor, dass der FB aus „in hohem Maße minderwertigen“ Persönlichkeiten bestehe, auf deren republikanische Gesinnung man nicht zählen könne (vgl. Hürten (Hg.) 1979, S. 123 (Dok. 57)). 56 Die innerdeutschen nachrichtendienstlichen Aktivitäten der Reichswehr sind bekannt. Der berühmteste Spitzel der Reichswehr dürfte Adolf Hitler heißen, der im Auftrag der Reichswehr die rechtsradikale Szene in München überwachen sollte. In allen Teilen des Reiches gab es solche Aktivitäten, wobei nicht nur radikale, sondern auch republikanische Politiker und Aktivisten überwacht wurden (siehe FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19 u. den damit zusammenhängenden Unmut über Hörsings Veröffentlichung zur „Magdeburger Spitzelzentrale“ in Kreisen des Bürgertums und der Reichswehr: BArch N1039/23, Bl. 98ff. u. BA Freiburg RH53/4/247, insb. Bl. 26–33).

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zingelt und Sicherungsposten an den Hauptverkehrsachsen im Westen Berlins aufgestellt, sodass ein befürchteter Einmarsch von abtrünnigen Armeegruppen hätte verhindert werden können. Dies habe das militärische Kalkül der Putschisten durchkreuzt und wesentlich dazu beigetragen, dass der den Putsch anführende Major Bruno Buchrucker bereits in Küstrin von seinen Unterstützern innerhalb der Armee fallen gelassen und entmachtet wurde, womit gleichzeitig alle Diktaturpläne um Seeckt aufgegeben worden waren.57 Die Aufstellung einer republikanischen Polizeimacht blieb für die im Führerbund versammelten Aktivisten auch nach ihrem jeweiligen Ausscheiden aus der Armee ein erreichbares Ziel. Hans Lange schilderte in einem Artikel für die RBZ diesen Weg von der Reichswehr über den Führerbund in eine republikanisch ausgerichtete Landespolizei anhand seiner persönlichen Erlebnisse. Im Frühjahr 1919, so beginnt Lange, war er als Major der Reichswehr mit seinen Truppen in Stettin stationiert. Erschrocken darüber, dass die Armee nicht nur bei Linksradikalen, sondern auch innerhalb der republikanisch gesinnten Arbeiterschaft auf eine so deutliche Feindschaft traf – man hielt die „Noske-Soldaten“ aufgrund ihres Vorgehens gegen linksradikale Putschversuche fälschlicherweise für Unterstützer der Monarchie – war Lange umso erfreuter, als er von der Gründung des FB um Fischer und Kuttner hörte. Das Bemühen von Lange, einen Kontakt zu Fischer und Kuttner herzustellen, wurde jedoch von seinen Vorgesetzten in der Reichswehr sabotiert, die seine Briefe abfingen und ihn durch seinen Attaché überwachen ließen. Als Lange hiervon erfuhr, war er jedoch erst recht entschlossen, dem FB beizutreten und wurde auf der Gründungsversammlung des FB in Berlin zum zweiten Vorsitzenden gewählt.58 Hieraufhin wurde Lange seines Dienstes enthoben mit der Begründung, er sei einem „politischen“ Verein beigetreten, was Reichswehrangehörigen untersagt war. Auch die anderen Mitglieder des FB seien innerhalb der Reichswehr von den späteren Putschisten um Lüttwitz bekämpft worden, ohne dass ihnen von Noske der Rücken gestärkt worden sei. Innerhalb der Polizei habe sich der FB jedoch bestens entwickelt, sodass hier ein Gegengewicht zu den reaktionären Teilen der Armee aufgebaut werden konnte. Nach dem Kapp-Putsch seien es jedoch nicht die Putschisten gewesen, die „ja nur ihre Befehle aus Berlin befolgt hätten“, sondern die Mitglieder des FB, die als „Verräter“ 57 Vgl. „Der Republikanische Führerbund“ von Anton Fischer, in: RBZ Nr. 37/1929 vom 14.9. Zu Kaupisch knapp: Gordon 1959, S. 75 (Dort „Kaupitsch“). In der sehr knappen Literatur zum Buchrucker-Putsch wird angenommen, dass die Niederschlagung des Putsches ein Verdienst Seeckts gewesen sei, da dieser rechtsputschistische Aktionen abgelehnt habe (so Gordon 1959, S. 230f. u. Carsten 1964, S. 188), was auch in neueren Arbeiten nicht anders gesehen wird (siehe etwa Mühlhausen 2007, S. 650). Diese knappe Auseinandersetzung mit dem Buchrucker-Putsch relativiert aber tendenziell dessen Gefährlichkeit für die Republik und lässt auch vom Ereignishergang vieles offen, sodass die Angaben Fischers nicht vollständig überprüft werden können. Lediglich Sauer bietet eine nähere Auseinandersetzung mit dem Putsch und der proaktiven Rolle der preußischen Polizei bei dessen Niederschlagung, was sich grundsätzlich mit Fischers Angaben deckt, ohne dessen oder Kaupischs Namen zu erwähnen (siehe Sauer 2008, S. 120ff.). 58 Der Vorsitz des FB scheint oft gewechselt zu haben, sodass es keine gesicherten Erkenntnisse darüber gibt, wer zu welchem Zeitpunkt an der Spitze des Bundes stand.

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und „Befehlsverweigerer“ aus der Reichswehr aussortiert wurden. Lange berichtet weiter, dass er nach seinem erzwungenen Ausscheiden aus der Reichswehr von Johannes Stelling (SPD), dem damaligen Innenminister und späteren Ministerpräsidenten von Mecklenburg, zum Chef der Mecklenburger Sipo bestellt wurde.59 Lange verweist hier auf einen Erlass Noskes, laut dem die Mitgliedschaft im FB für Reichswehrangehörige nicht verboten war, diese aber auch nicht explizit beworben wurde. Noske hatte sich somit nach außen dem FB gegenüber neutral reserviert verhalten. Intern ließ es Noske jedoch nicht an Kritik gegenüber dem FB mangeln. So hieß es in einem internen Schreiben über die Gründung des FB, dass weder die Regierung noch das Reichswehrministerium etwas hiermit zu tun hätten. Die Reichswehroffiziere müssten nicht befürchten, dass eine politische Vereinigung wie der FB Einfluss auf die Reichswehr gewinnen würde. Er, Noske, habe als Sozialdemokrat lange den Übelstand bekämpft, dass sich politische Präferenzen auf Personalentscheidungen ausgewirkt hätten und er werde keinesfalls dazu beitragen, dass dieser „alte Übelstand“ wiedereingeführt werde. Die Reichswehr müsse ein streng „unpolitisches Werkzeug“ sein, sodass ein republikanisches Bekenntnis keine Voraussetzung für eine Führungsstelle in der Reichswehr sein dürfe. Die Politik des FB drohe hingegen einen Keil in die Reichswehr zu treiben, was sogar zum Verfall der Reichswehr führen könne.60 Noskes Argumentationslinie ist aber insofern fragwürdig, als dass der antirepublikanische Deutsche Offiziersbund anders als der FB als „unpolitisch“ eingestuft wurde und dementsprechend beworben werden konnte. Immerhin – so muss man konstatieren – wurde der FB nicht gleich verboten, so wie es Noskes wiederholt von Lüttwitz und anderen hohen Reichswehroffizieren angetragen worden war.61 In Bayern wurde der FB im September 1920 sogar als „reichswehrfeindliche“ Vereinigung verboten und auch die Nachfolgeorganisation „RepublikanerBund“ wurde aufgelöst.62 Angesichts solcher Verhältnisse ist es nicht verwunderlich, dass republikanische Offiziere höchstens ausnahmsweise in die Reichswehr übernommen wurden. 63 Es war eine naheliegende Wahl, wenn diese Männer in die republikanischen Polizeistrukturen übernommen wurden, aber auch in militärpolitischer Hinsicht wurden neue zivilgesellschaftliche Wege gesucht, um die eigenen Ziele durchzusetzen.

59 Vgl. „Erinnerungen an den Republikanischen Führerbund“ von Hans E. Lange, in: RBZ Nr. 48/1929 vom 30.11. Langes Ausführungen decken sich in wesentlichen Punkten mit der oben zitierten Denkschrift. Stelling sollte nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Ministerpräsidenten Vorsitzender des Berliner Reichsbanners werden. 60 Vgl. Schreiben Noskes an den Verteiler des Wehrkreiskommandos vom 17.7.19, in: BA Freiburg RH69/39, Bl. 53. Auch in Hürten (Hg.) 1977, S. 177ff. (Dok. 64). 61 Siehe Carsten 1964, S. 82ff., Hürten (Hg.) 1977, S. 335 (Dok. 174) u. Hürten (Hg.) 1979, S. 200 (Dok. 108). 62 Vgl. Geyer 1998, S. 119f. So auch die Gestapo-Denkschrift: BArch R58/617, S. 7. 63 So bereits Gordon 1959, S. 75ff.

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Der Führerbund als Keimzelle der Reichsbanneridee Wir haben festgestellt, dass der FB als ein Zusammenschluss von Armeeangehörigen versuchte, die Reichswehr im republikanischen Sinne zu beeinflussen und somit an der Herausbildung einer republikanischen Gewaltkultur gearbeitet hatte, die als Gegengewicht zur preußischen, „unpolitischen“ Gewaltkultur gedacht war, welche die Reichswehr maßgeblich prägte. Die wesentlichen politischen Merkmale dieser republikanischen Gewaltkultur wurden bereits genannt (politisches Vollbürgerrecht der Soldaten, zivile Kontrolle der Streitkräfte, inneres Bekenntnis der Soldaten zur Demokratie). Doch auch in der alltäglichen Praxis zwischen Soldaten und Offizieren wären die Konsequenzen solcher Maßnahmen zu spüren gewesen. Den republikanischen Kriegsteilnehmern im FB schwebte das Idealbild einer Gleichwertigkeit von Soldaten und Offizieren vor. Nicht länger sollten Klassenunterschiede und Kastendenken die Armee in oben und unten teilen, da dies in der Logik der republikanischen Kriegsteilnehmer maßgeblich zur Niederlage im Ersten Weltkrieg beigetragen hatte. Der FB vertrag somit durchaus radikale militärpolitische Reformideen, die am Wesenskern der alten Preußischen Armee rüttelten. Das Organisationsprinzip und die Aufgabenstellung des Bundes waren hierbei klar begrenzt und seine Existenz war ab dem Zeitpunkt fragwürdig geworden, ab dem Armeeangehörigen die Mitgliedschaft im FB untersagt war oder dies von Seiten der Vorgesetzten zumindest mit schweren Repressalien beantwortet wurde. Einen wirklichen Umschwung zugunsten des FB hätte nur ein starker republikanischer Reichswehrminister erreichen können. Geßler, der oft abfällig als „GeßlerHut“, als demokratisches Feigenblatt der „unpolitischen“ Seecktschen Reichswehr bezeichnet wurde, war kein solcher Mann und sein Vorgänger Noske vertraute zu sehr auf das Reichswehrestablishment, was es diesem ermöglichte, ihn zu hintergehen.64 Reichspräsident Ebert hatte zwar ein offenes Ohr für die Initiativen des FB, aber war nicht bereit und ohne eine entsprechende parlamentarische Rückendeckung wohl auch nicht in der Lage, die personalpolitischen Forderungen der Republikaner durchzusetzen. Nach der erfolgten Abschottung der Reichswehr unter Seeckt gab es für den FB kaum mehr Möglichkeiten, erfolgreich unter den Armeeangehörigen für die Republik zu werben, ohne als „Wehrkraftzersetzer“ oder gar „Hochverräter“ angefeindet zu werden.65 Es fehlte schlicht an der institu64 Möllers bezeichnet Geßlers Rolle als die eines „politischen Blitzableiters“ für die eigentlich verantwortlichen Wehrpolitiker im RWM (siehe Möllers 1998, S. 387). Zu Geßler ferner: Luckemeyer 1971, S. 136ff. Dort wird das persönliche Verhältnis zwischen Haas und Geßler betont, der dank Haas stets einen direkten Draht zum RB-BV gehabt habe, auch wenn dies ohne größeren politischen Effekt geblieben sei. Haas war von 1924 bis 1928 einer der Stellvertreter Hörsings im BV (siehe Lemmer 1968, S. 71f.). Vorteile ergaben sich für das Reichsbanner aus Geßlers Zugehörigkeit zur DDP keine. So durfte der Bund bspw. 1926 nicht zu einem militärischen Staatsbegräbnis erscheinen, obwohl alle Rechtsverbände durch das RWM geladen wurden (siehe Wegner/Albertin (Hg.) 1980, S. 373f. (Dok. 129)). 65 Ein entsprechender Hochverrats-Prozess gegen drei FB-Mitglieder wurde 1920 geführt und wie so oft in solchen Fällen eingestellt (siehe BArch R3003/849). Die Prozesse dienten denn auch mehr der Einschüchterung und sollten auch in den kommenden Jahren wiederholt i. d. S.

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tionellen Grundlage für eine konstruktive Arbeit, da es den alten Offizieren erfolgreich gelungen war ihre bisherigen Privilegien zu verteidigen. Die Republikaner waren gezwungen, eine andere Organisationsform zu finden, wenn der Kampf nicht aufgegeben werden sollte, und im Republikanischen Reichsbund sollten sie diese Form für finden. Bevor wir uns mit dem Reichsbund befassen, sei aber noch ein Einschub erlaubt. Es ist hier bislang vor allem die Haltung von Sozialdemokraten bezüglich des Wehrproblems der Republik behandelt worden, was der Quellen- aber vor allem der Literaturlage geschuldet ist. Dies soll aber nicht heißen, dass Bemühungen zur Republikanisierung der Armee nur von Sozialdemokraten geleistet wurden. Auch Bürgerliche haben sich aus ehrlichen Motiven heraus für die Weimarer Republik eingesetzt, wie das Beispiel der Marburger Volkskompagnie zeigt. Im Zuge des Widerstandes gegen den Kapp-Putsch formierte sich in Marburg eine Zeitfreiwilligentruppe, die nach Aussagen ihrer Führer nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit dem Herzen auf Seiten der Republik stand.66 Erbittert über die ambivalente Haltung der örtlichen Reichswehr und der „reaktionären“ Zusammensetzung des bereits bestehenden Freiwilligenkorps in Marburg hatten sich Anhänger der SPD, der DDP, des Zentrums und parteilose Republikaner in einem neuen Freiwilligenkorps unter der schwarz-rot-goldenen Flagge gesammelt. Die Führung lag bei republikanisch gesinnten Studenten, die der DDP nahestanden, darunter waren Henning Duderstadt (RPD), der spätere Redaktionsleiter der IRZ, Ernst Lemmer (DDP, später DStP), der spätere stellvertretende Bundesvorsitzende des Reichsbanners und Gustav Heinemann (DDP), der nach dem Zweiten Weltkrieg Präsident der Bundesrepublik Deutschland werden sollte. Diese Männer versuchten, ein Gegengewicht zum schwarz-weiß-roten Marburger Studentenkorps zu bilden, wurden laut späteren Aussagen hieran von ihren militärischen Vorgesetzten aber gehindert. Die innere Führung der Marburger Volkskompagnie war laut Duderstadt darauf ausgerichtet, die Differenz zwischen Offizieren und Mannschaften zu überwinden, den Schutz der Verfassung in den Herzen der Soldaten zu verankern und ein gutes Verhältnis zu allen Teilen der Bevölkerung aufzubauen. Hierbei wurden in der Volkskompagnie keine Unterschiede hinsichtlich der Religion der Soldaten gemacht, was praktisch gesehen vor allem bedeutete, dass der Antisemitismus des schwarz-weiß-roten Studentenkorps abgelehnt wurde. Diese Formation hatte es jüdischen Korporierten nicht gestattet sich anzuschließen, während Duderstadt die patriotische Verbundenheit aller Soldaten der Volkskompagnie hervorhebt. Die ehemaligen Mitglieder der Volkskompagnie betonten den Vorbildcharakter ihrer Formation für eine republikanische Armee und setzten sich für eine Reform der Armee nach den Anregungen des FB ein. Sie versuchten ferner, auf eine Aufklärung des Massakers in Mechterstädt mitzuwirgenutzt werden, um das Militär von unliebsamen zivilgesellschaftlichen Einflüssen abzuschotten. 66 Siehe etwa „Die Republik unseres Herzens!“ von Henning Duderstadt, in: DR Nr. 2/1923 (in: StA Hamburg, 135–1, I–IV, Nr. 4391). Zahlreiche Mitglieder des FB sollten sich im RRB stark engagieren.

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ken, welches vom Marburger Studentenkorps am 23. März 1920 begangen worden war.67 Dieser Mord an 15 unbewaffneten Zivilisten wurde von Seiten der Armeeleitung verharmlost und eine strafrechtliche Verfolgung verhindert, woran auch die Eingabe der ehemaligen Mitglieder der Volkskompagnie nichts ändern konnte. Aber dies ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Gräueltaten, die von rechtsgesinnten Freikorps während der Weimarer Anfangsjahre verübt wurden.68 Nicht erst der Hitler-Putsch im November 1923 war ein Weckruf für alle Anhänger der Demokratie, der bedrohten Republik beizustehen und sich für ihren Schutz einzusetzen. Dass die Bemühungen Kuttners, Fischers, Lemmers und aller anderen Republikaner in dieser Zeit nicht fruchteten, ist den politischen Umständen des Zusammenbruches, dem militärpolitischen Versagen Noskes und der darauf folgenden militärpolitischen Abstinenzhaltung der republikanischen Parteien geschuldet, die erst mit der Zeit aufgebrochen werden konnte.

67 Vgl. Denkschrift an den Reichswehrminister Geßler vom 8.4.1920, in: ACDP, NL Ernst Lemmer, 041–6 sowie „Marburg und Mechterstädt. Erinnerungen an den Kapp-Putsch“ von Ernst Lemmer, in: RBZ Nr. 11/1930 vom 15.3. Ferner: Lemmer 1968, S. 67ff., Hausmann 2002, S. 200f. u. Heither/Schulze 2015. 68 Siehe Gumbel 1922, Southern 1982, Nagel 1991 u. Sauer 2004.

2. DER REPUBLIKANISCHE REICHSBUND. ANSÄTZE EINER REPUBLIKANISCHEN ZIVILKULTUR Mit dem Republikanischen Reichsbund (RRB) tritt eine zweite Organisation in den Fokus unseres Interesses, die sich in wesentlichen Punkten vom FB unterschied, jedoch in gleichfalls zentralen Fragen eindeutige Gemeinsamkeiten aufweist. Einleitend kann festgestellt werden, dass die spätere Gründung des Reichsbanners auf zwei Ebenen erfolgte. Erstens eine Ebene der Gewaltkultur, in der das Reichsbanner als Fortsetzung des FB und der republikanischen Selbstschutzverbände sowie als potentielle Hilfspolizei gesehen werden kann. Sinn und Zweck dieser Bestrebungen war stets die gewaltsame Verteidigung der Republik gegen äußere und innere Gegner.1 Zweitens eine zivilkulturelle Ebene, die das Engagement des Reichsbanners für die Verfassung, die republikanischen Reichsfarben und eine demokratische Staatsauffassung betont und das Reichsbanner eher als Fortsetzung bzw. als Ersatz für den Republikanischen Reichsbund erscheinen lässt. Wir wollen nun versuchen diese zweite, zivilkulturelle Ebenen näher zu beleuchten. Vom militärischen Führer- zum zivilen Reichsbund Anders als der Führerbund war der Reichsbund eine rein zivil ausgerichtete Organisation, die aber gleichfalls republikanisch eingestellt war. Der RRB verstand sich explizit als organisatorische Fortsetzung des Führerbundes und dementsprechend gab es mancherlei personelle Überschneidungen.2 Die Geschichte des RRB ist genauso wenig erforscht wie diejenige des Führerbundes. Es finden sich hier und da Bezüge in der Literatur, die nur an einer Stelle zu einem Gesamtüberblick zusammengesetzt wurden, der als Lexikonartikel aber denkbar knapp ausfallen musste. Wir stehen in Bezug auf den RRB erneut vor einem Quellenproblem, da die Unterlagen des Reichsbundes oder auch nur einer seiner Teilorganisation nicht erhalten sind. So muss aus verschiedenen Quellen das Wissen um den Reichsbund zusammengetragen werden. Ein lexikalischer Artikel über den RRB bietet folgende Grundinformationen zum Charakter des Reichsbundes, wobei bereits einzelne Ergänzungen gemacht wurden.3

1 2

3

Hierzu unten ausführlicher. Siehe Dokumentenanhang Nr. 2 u. Nr. 5. So war der erste Vorsitzende des RRB der oben erwähnte Karl Freiherr zu Brandenstein und auch Schützinger, Ehrler, Abegg sowie Hans Lange waren im Reichsbund aktiv. Siehe Fricke et al. (Hg.) 1983, S. 97ff. Eine Satzung des Reichsbundes ist zu finden in: BArch R43I/768, Bl. 158ff. Zu den Zielen und Forderungen des RRB: Dokumentenanhang Nr. 3.

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Tabelle 2: Republikanischer Reichsbund Name Mitgliedschaft Symbole / Sitz Aufgaben / Tätigkeiten

Ausrichtung Organe

Zahl 4 5

Republikanischer Reichsbund (später: Deutscher Republikanischer Reichsbund) Männer, Frauen und Jugendliche4 republikanischer Gesinnung, korporativer Anschluss republikanischer Organisationen5 Reichsadler, Farben Schwarz-Rot-Gold, Weimar (später: Frankfurt am Main, Berlin) Vertiefung des republikanischen Geistes und die Pflege einer republikanischer Staatsgesinnung, Förderung der Kooperation aller republikanischen Parteien und Organisationen, Verwirklichung der in der Verfassung enthaltenen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ideen Nationalrepublikanisch, überparteilich, areligiös Die Stunde (1921/22), Deutsche Republik (1923/24),6 Mitteilungsblatt des Deutschen Republikanischen Reichsbundes (1928– 1932)7 sowie die Publikationsorgane der angeschlossenen Verbände8 und Landesverbände9 Mehrere Zehntausend10 in 11 Landesverbänden11

Hiermit wurden Personen über 18 Jahren und unter 30 Jahren gemeint. Laut DR Nr. 5/1924 waren dem RRB folgende Organisationen korporativ angeschlossen: Liga Junge Republik (Berlin-Neukölln), RR (Berlin), Reichsbund für Siedlung und Pachtung (Berlin), RJB (Berlin), RLB (Gießen, Oberhessen), RB (Magdeburg), Deutscher Monistenbund (Hamburg). Ein solcher Anschluss bedeutete nicht, dass die betreffenden Verbände ihre organisatorische Eigenständigkeit einbüßten. 6 Einzelne Nummern in: StA Hamburg, 135–1, I–IV, Nr. 4391 (dort auch Material zur Hamburger OG des RRB) sowie der Bibliothek des BArch-Lichterfelde. 7 Dieses Vereinsorgan des RRB lag für diese Arbeit ebenfalls nicht vollständig vor, sondern stand nur mit einzelnen Nummern zur Verfügung (siehe BArch R1501/125668n, Bl. 4 (Mitteilungen des RRB vom 16.7.1928) u. BArch R58/6239 (Mitteilungen des RRB Nr. 28/Jg. 4 vom April 1931)). 8 Also u.a. die RBZ des Reichsbanners, Die Justiz des Republikanischen Richterbundes, Die Jungrepublikanische Warte des Republikanischen Jugendbundes, Der Bund der Vereinigung freiheitlicher Akademiker und Der Wegweiser des Republikanischen Lehrerbundes. Im Rahmen dieser Arbeit konnten diese Publikationen nicht alle ausgewertet werden, da der Fokus hier auf dem RRB liegt. 9 Der RRB-LV Bayern Nord gab von 1924 bis 1926 ein eigenes Organ heraus: Das Panier. Freiheitliche Blätter zur Pflege des republikanischen Staatsgedankens. Auch diese Publikation lag nur in Einzelnummern vor (Siehe u.a. FES, NL Franz Osterroth, 1/FOAC, Box 53, Mappe 140). 10 Laut Fricke (Hg.) 1983, S. 97 hatte der RRB im Zeitraum 1923/24 etwa 20.000 Mitglieder. Hingegen besaß allein der Württemberger Landesverband laut eigenen Angaben über 10.000 Mitglieder (siehe Brief Rossmanns an Higler vom 23.9.23, in: BArch N2104/471, Bl. 37f.). Ferner meldete der Vertreter der Reichsregierung in München in einem Brief vom Januar 1922, dass der RRB in Südbayern 6.000 Mitglieder habe (siehe BArch R43I/768, Bl. 2). Wenn jeder der 11 Landesverbände mehrere tausend bis über zehntausend Mitglieder hatte, könnte die Gesamtmitgliederzahl durchaus bis zu 100.000 Personen betragen haben.

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Der RRB war im Vergleich zum FB wesentlich breiter aufgestellt und versuchte eine umfassende Sammlung der republikanischen Zivilgesellschaft zu erreichen. Neben der SPD und der DDP, war auch der ebenfalls linksstehende Bayerische Bauernbund im RRB vertreten.12 Der Gründungsaufruf des Reichsbundes war ein eindeutiges und kämpferisches Bekenntnis zur Republik. In dem von Karl Freiherr von Brandenstein (SPD), Eduard David (SPD), Ernst Klein, Hugo Preuß (DDP) und Karl Vetter (RPD)13 als Hauptverantwortliche gezeichneten Aufruf des RRB vom 6. März 1921 heißt es, dass allen Gegnern der Republik eine „geschlossene republikanische Front“ entgegengestellt werden müsse. Zwar sei die Republik, das „Werk von Weimar“, auf Basis des Mehrheitswillens des deutschen Volkes gegründet worden, aber die jüngsten Erschütterungen hätten gezeigt, dass eine festere „geistige Verankerung“ der Republik nötig sei. Die Verfasser streichen die nationalen Leistungen der Republik heraus, in dem sie betonen, dass nur die Gründung der Republik das Reich vor der „Zertrümmerung“ bewahrt habe und nur der Weiterbestand der Republik einen „Bürgerkrieg“ verhindern könne. Dem müsse der republikanische Wiederaufbau Deutschlands entgegengestellt werden. Alle engagierten Republikaner beiderlei Geschlechts sollten sich hieran beteiligen und sich um das schwarz-rot-goldene „Freiheitsbanner“ scharen, welches bereits in den deutschen Freiheitskämpfen von 1815 und 1848 geweht habe. Der Aufruf schließt mit dem Anfang der dritten Strophe des Deutschlandliedes von Hoffmann von Fallersleben: „Einigkeit und Recht und Freiheit…“.14 Der Aufruf trägt die Namen von 69 Prominenten, wobei besonders bemerkenswert ist, dass zwei ehemalige Reichsinnenminister (David und Preuß) sowie aktive und ehemalige Innenminister von Preußen (Severing), Bayern (Endres) und Thüringen (Brandenstein und August Baudert) auf der Unterzeichnerliste wiederzufinden sind und der Reichsbund somit auf wertvolle Kompetenzen in Polizeiund Verfassungsfragen zurückgreifen konnte. Die Unterzeichnerliste des Gründungsaufrufes ist auch ob der sonstigen Prominenz recht beeindruckend. Mit An-

11 Laut DR Nr. 5/1924: Niedersachsen (Sitz: Hannover), Berlin-Nordostdeutschland (Berlin), Hansa (Hamburg), Sachsen-Schlesien (Chemnitz), Bayern-Süd (München), Bayern-Nord (Nürnberg), Württemberg (Stuttgart), Baden (Karlsruhe), Hessen (Darmstadt), Thüringen (Weimar), Hessen-Nassau (Frankfurt a. M.). 12 Siehe den Bericht des RKO vom 11.7.21, in: BArch R1507/402, Bl. 7f. Mitglieder des Bauernbundes gehörten später auch dem Reichsbanner in führenden Positionen an (siehe Rohe 1966, S. 313). 13 Karl Vetter schied nach der Gründung der Republikanischen Partei Deutschlands (RPD) Anfang 1924 aus dem Vorstand des RRB aus, da die Parteineugründung von Haenisch, Hermann Luppe und Preuß als Zersplitterung der Linken abgelehnt wurde. Daraufhin war Preuß 1924 in den Vorstand des RRB aufgerückt. Dies geht aus einem Schriftwechsel im Nachlass Haenischs vom Jahreswechsel 1923/24 hervor (siehe BArch N2104/235, Bl. 1ff.). 14 Vgl. „Gründungsaufruf des RRB“, in: Vorwärts Nr. 109/1921 vom 6.3. oder BTB Nr. 109/1921 vom 6.3. Zur Gründungsgeschichte des RRB ferner knapp die Gründungsdenkschrift von 1922. Darin auch der explizite Hinweis auf die enge Verbindung zum FB (siehe RRB 1922 u. Dokumentenanhang Nr. 2).

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ton Erkelenz, Gustav Radbruch,15 Erhard Auer, Konrad Haenisch, Friedrich Dessauer, Ludwig Haas, Theodor Heuss, Otto Hörsing,16 Paul Kampffmeyer, Ernst Lemmer, Paul Löbe, Carl von Ossietzky, Ludwig Quidde, Otto Nuschke, Friedrich Stampfer, Hermann Luppe und Kurt Tucholsky sind nicht einmal alle der wichtigsten Persönlichkeiten genannt, die sich mit ihrer Unterschrift dem RRB zur Verfügung stellten. Neben zahlreichen Landesministern, Landtagsabgeordneten, Lokalpolitikern und Journalisten finden sich fünf Professoren,17 zwei Staatsund zwei Ministerpräsidenten18 sowie der ehemalige Reichskanzler und amtierende Vizekanzler Gustav Bauer. Der Reichsbund wurde von liberalen Politikern wesentlich mitgestaltet, wobei die Mehrheit der Unterzeichner des Gründungsaufrufes der SPD zuzuordnen war. Die DDP war aber stark vertreten und auch parteilose bürgerliche Republikaner finden sich auf der Unterzeichnerliste, während die Zentrumspartei mit lediglich einer Person nur sehr schwach repräsentiert war. Die regionalen Angaben zu den Unterzeichnern zeigen ferner einen klaren Schwerpunkt des RRB in Berlin, Thüringen, Hessen und Bayern. Die überparteiliche Zusammensetzung des RRB steht somit einwandfrei fest, auch wenn das fast völlige Fehlen der katholischen Zentrumspartei genauso auffallen muss, wie das relative Zurücktreten von republikanischen Militärs oder Polizeioffizieren.19 Die Zusammensetzung der Unterzeichnerliste zeigt jedoch, wie sich der harte Kern des Republikanischen Führerbundes im RRB sammelte und zahlreiche weitere Kreise aus der Verwaltung, Kultur und Politik für ein gemeinsames republikanisches Bündnis gewonnen werden konnten. Erweiterung der organisatorischen Reichweite Friedrich Dessauer, Professor der Physik, Politiker und Publizist, war das einzige Zentrumsmitglied auf der Unterzeichnerliste des RRB, was seine damalige Außenseiterrolle innerhalb des Zentrums offensichtlich macht. Von vielen seiner Parteifreunde unterschied sich Dessauer in diesen Anfangsjahren der Republik darin, dass er keine Scheu davor hatte, die sozialpolitischen Forderungen der SPD anzuerkennen. Während es für alle deutschen Katholiken weiterhin verboten war, einer sozialdemokratisch orientierten und damit in den Augen der Kirche „unkatholischen“ Organisation wie den Freien Gewerkschaften anzugehören, war Dessauer bereit, der SPD inhaltlich entgegenzukommen. Die von Dessauer gegründe15 Vielfältige Beispiele für die spätere Zusammenarbeit des Reichsbanners mit Radbruch bietet das Protokollbuch des Gaues Schleswig-Holstein (siehe LA Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 30, u.a. Bl. 7f.). 16 Insbesondere Hörsings Beteiligung in dieser Sache verdeutlicht die Verbindung zwischen dem RRB und der Magdeburger Gründerzelle des Reichsbanners, wobei über die Natur dieser Verbindung wenig bekannt ist (siehe Toury 1997, S. 17f.). 17 Friedrich Dessauer, Ludwig Quidde, Gustav Radbruch, Martin Rade und Walther Schücking. 18 Bernhard Adelung und Carl Ulrich (beide Volksstaat Hessen) sowie Wilhelm Buck (Sachsen) und Theodor Tantzen (Oldenburg). 19 Henning Duderstadt, Ernst Lemmer, Fritz Ehrler, Hans Emil Lange, Willy Meyer.

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te Rhein-Mainische-Volkszeitung war das intellektuelle Flaggschiff der katholischen Linken in der Weimarer Republik und trug wesentlich zum innerkatholischen Reform- und Modernisierungsprozess bei. Diesem Prozess stand die kirchliche Hierarchie allerdings nur in engen Grenzen positiv gegenüber. Die Volkszeitung wurde aber erst 1923 gegründet und konnte auf die unmittelbaren Anfangsjahre der Republik somit keinen Einfluss nehmen. Was SPD und Zentrum in dieser Zeit vor allem trennte, war die Sozialpolitik und erst die von Dessauer und anderen betriebene, langwierige Auflockerung festgefahrener Positionen konnte dazu beitragen, diesen Graben von beiden Seiten zu überbrücken. Der RRB war von Beginn an eine geeignete Plattform für ein solches Unterfangen, was sich in den späteren Jahren bestätigen sollte.20 Ein weiterer Punkt, der den Reichsbund klar vom Führerbund unterschied und zu dessen Erfolg beitrug, war die Frage der Mitgliedschaft von Frauen und Jugendlichen. Der RRB machte es sich explizit zum Ziel, alle republikanisch Gesinnten Personen zu organisieren und es kann gezeigt werden, dass sowohl im Falle der republikanischen Frauenbewegung als auch dem der republikanischen Jugendbewegung dieses Ziel weitgehend umgesetzt werden konnte. Während sich aufgrund der Quellenlage über die einfachen Mitglieder keine Aussage treffen lässt, ist eindeutig, dass im Laufe der 1920er der Frauenanteil in den Führungsgremien deutlich stieg. Unter den Unterzeichnenden des Gründungsaufrufes waren 1921 nur zwei Frauen (oder 3,1%) zu finden.21 Im Arbeitsausschuss des RRB waren 1921 gar keine Frauen vertreten. Hingegen waren im Jahr 1928 bereits 3 von 9 Mitgliedern des Reichsvorstands (33%) sowie weitere 5 von 54 Mitgliedern des Reichsausschusses des RRB (9,3%) Frauen.22 Zum Vergleich waren 1928 im Reichstag gerade einmal 30 von 491 Delegierten Frauen (6,1%).23 Frauen waren im RRB also vergleichsweise stark vertreten und für die republikanische Bewegung nicht verloren.24 Der in der Literatur anzutreffende Einwand, dass der RRB 20 Zu Dessauer: Blankenberg 1981 u. Habersack 2011, insb. S. 206ff. sowie breiter zur katholischen Friedensbewegung Riesenberger 1976. 21 Minna Cauer (DDP) und Emma Sachse (SPD). 22 Dies waren im Reichsvorstand: Anna Blos (SPD), Julie Meyer (DDP u. C.V.) und Christine Teusch (Zentrum). Im RA waren es: Clara Bohm-Schuch (SPD), Wilhelmine Haenisch (SPD), Frau Schierloh, Hedwig Wachenheim (SPD) und Frau Wittstock (siehe Dokumentenanhang Nr. 5). 23 Eigene Zählung auf Basis von Wikipedia. 24 Diese Ansicht bei Ziemann 2011, S. 44ff., wobei er hiermit auf die Folgen des Wehrverbands-Charakter des Reichsbanners hinweist und kritisiert, dass dort Frauen prinzipiell vom Vereinsleben ausgeschlossen wurden. Man sollte nicht meinen, dass eine solche vereinsmäßige Politisierung von Frauen automatisch progressiv wirkte, wie verschiedene rechtskonservative Frauenorganisationen belegen dürften (siehe etwa zum Bund Königin Luise, der die Frauenorganisation des Stahlhelms bildete: Berghahn1966, S. 33f. u. Förster 2011, insb. S. 328–346). Ferner gab es auch im Umkreis einzelner OG des Reichsbanners republikanische Frauengruppen. So der Frauenbund Schwarz-Rot-Gold in Gießen, der als Ergänzung zum dortigen Reichsbanner gegründet wurde (vgl. „Ein Frauen-Reichsbanner in Gießen“, in: VZ Nr. 583/1925 vom 10.12.). Auf der Bundesgeneralversammlung 1926 wurde die Gründung eines reichsweiten RB-Frauenbundes diskutiert und mehrheitlich abgelehnt. Der Gau Volks-

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eine inaktive Organisation gewesen sei, trifft nicht zu. Es wäre falsch, in die Tatsache, dass im Führerbund wie auch später im Reichsbanner nur Männer als Mitglieder zugelassen waren, eine prinzipielle Frauenfeindschaft bzw. eine besonders paternalistische Haltung hineinlesen zu wollen. Natürlich war die Weimarer Republik als Erbin des Kaiserreiches eine stark vom Paternalismus geprägte Gesellschaft. Frauen war es weiterhin nicht erlaubt, in der Polizei oder der Armee Dienst an der Waffe zu leisten. Es wäre aber ob dieser gesellschaftlichen Tatsache widersinnig gewesen, wenn der Führerbund nach potentiellen weiblichen Mitgliedern in der bzw. für die Armee oder Polizei gesucht hätte. Der Versuch des RRB, Frauen verstärkt in einem republikanischen Sinne zu politisieren und für die Republik zu gewinnen, war in dieser Hinsicht nicht als Abwertung, sondern als Aufwertung ihrer gesellschaftlichen Rolle gemeint. Eine „Wehrhaftmachung“ der Frauen wurde von republikanischer Seite in einem geistigen und damit zivilkulturellen, nicht aber einem militärischen, gewaltkulturellen Sinne gefordert und insofern machte es Sinn, republikanisch gesinnte Frauen für eine Mitgliedschaft im Reichsbund zu gewinnen, zumal die parteinahen Frauenorganisationen eine Umwerbung ihrer Mitglieder durch das Reichsbanner auch explizit ablehnten. Für den RRB hingegen forderte die Jungrepublikanerin Hildegard Rogge, dass die in der Republik verstärkten schulischen Bemühungen um junge Frauen dazu genutzt werden sollten, ein republikanisches Staatsbewusstsein in den Köpfen zu verankern. Die Frau, so Rogge, habe nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich politisch einzubringen.25 Während die weibliche Jugend vor 1933 nicht flächendeckend in militärähnlichen Zwangsorganisationen organisiert wurde, war die Militarisierung der männlichen Jugend bereits seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im vollen Gange. Insbesondere die bündisch organisierte Jugend rückte zu Beginn der 1920er Jahre stetig nach rechts, womit ihre Mitglieder für die Sache der Republik verloren zu gehen drohten.26 Der RRB versuchte diesem Gesamttrend entgegenzuwirken und staat Hessen war u.a. ein Befürworter einer solchen Gründung, was auf der Gauversammlung am 7.2.26 von der OG Gießen beantragt und diskutiert wurde (siehe HStAD, G 12 B, 33/3, Tages- und Geschäftsordnung zur außerordentlichen Versammlung des Gaues Volksstaat Hessen, Antrag 13). Nicht zu vergessen ist ferner die Lehrerin und Verbandsaktivistin Margot Krohn (1892–1981), die eingeschriebenes Mitglied im Breslauer Reichsbanner gewesen ist und deren Nachlass sich im Landesarchiv Berlin befindet (siehe die knappen biographischen Angaben bei Röder (Hg.) 1983, S. 398. Dort wird Krohn als „erstes“ weibliches RB-Mitglied bezeichnet, sodass weitere weibliche Mitglieder existiert haben können). 25 Vgl. „Die Erziehung der Frau zur republikanischen Staatsgesinnung“, in: Jungrepublikanische Warte Nr. 2/1923 vom 1.5. (in: BArch R43I/768, Bl. 18f.). 26 Allgemein zur bündischen Jugend in der Weimarer Zeit: Weinrich 2013 u. Ahrens 2015, die vorwiegend auf die rechtsnationalen Jugendgruppen konzentriert sind. Diese Klage über den Abfall der Jugend von der republikanischen Sache ist recht alt (siehe etwa Gay 1987, S. 107ff.) und bedürfte einer Überarbeitung, die auch das Wirken republikanischer Jugendorganisationen angemessen berücksichtigt. Weinrichs Überlegungen zum Jungbanner sind gemessen an der übrigen Arbeit recht knapp und es müssten weitere republikanische (selbst explizit bündische) Jugendverbände wie die Republikanischen Freischaren oder die Republikanischen Pfadfinder untersucht werden.

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gründete 1923 aus diesem Antrieb heraus den Reichsjugendbund Schwarz-RotGold (RJB, später: Republikanischer Jugendbund) als Jugendorganisation des RRB. Dessen Leitung lag bei Georg Helle, der auch das Publikationsorgan des RJB, die Jungrepublikanische Warte, herausgab und maßgeblich mitgestaltete. Das grundsätzliche Ziel der Jungrepublikaner war es, die Kluft zwischen den bürgerlichen Jugendorganisationen und denen der Arbeiterklasse zu überwinden. Auch symbolpolitisch forderten sie die Versöhnung von Nation und Republik im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold, wie beispielsweise das folgende Gedicht „Weg der Jugend“ verdeutlicht. Freiheit, dir hat sich Geist und Leib vermählt. / In tausend Kämpfen sind wir kraftgestählt, / Weil unser Banner auf dem reinen Grunde / Den Wahrspruch einer bessern Zukunft trägt, / Und wer nach uns mit seinem Schwerte schlägt, / Der höre es: Uns schreckt nicht Tod, nicht Wunde! / Wir gehen ohne Speere in die Schlacht. / Das freie Auge spricht: Recht geht vor Macht. / Und das Symbol des Siegs ist der Gedanke. / Das Volk der Arbeit hört den großen Eid: / Dir unsre Kraft nun und in Ewigkeit! / Wo ist der Feind? Er trete in die Schranke! / Das Banner, das zu unsern Häupten rollt / Mit seinen heiligen Farben schwarz-rot-gold, / Muß aller Welt den Sinn des Kampfes zeigen. / Es geht um Freiheit, Einheit, Vaterland! / Zum großen Bunde reiht sich Hand an Hand. / Die Jugend kämpft. Ihr ist der Sieg zu eigen!27

Die Ideale „Einheit, Freiheit, Vaterland“ müssten somit etwas sein, wofür man mit friedlichen, geistigen Mitteln eintritt.28 Die Mittel der Gegner, wie der politische Kampf selbst, werden aber gleichzeitig pathetisch verklärt. Eine romantisierte Waffe wie das „Schwert“ ist im Gedicht das Mittel der rückwärtsgewandten Republikfeinde. Die jungen Republikaner müssten angesichts dessen aber nicht verzagen, denn das „Volk“ stehe in diesem Kampf auf der Seite Aller, die sich um das „heilige Banner“ mit den Farben Schwarz-Rot-Gold sammeln würden. Es finden sich zahlreiche aggressiv konnotierte Wörter und Redewendungen im Gedicht, doch ist der politische Kontext dahinter nicht angreifend, sondern defensiv, und eben diese aggressive Abwehrhaltung zu vermitteln ist der Kerninhalt des Textes.29 Defensiv bedeutet also nicht wehrlos. Aus dieser Abwehrhaltung muss in Notwehr zur Verteidigung des eigenen Lebens aber auch aufgrund der „heiligen“ Verehrung der Freiheit in jenem Moment ein Angriff werden, in dem diese ungesühnt verletzt wurde. Die Mittel der Wahl können, auch wenn sie sich auf eine rein geistige Ebene beschränken, durchaus aggressiv sein, wie eine Aufruf des Satirikers Hardy Worm an die Jungrepublikaner verdeutlicht.

27 „Der Weg der Jugend“ von Max Mackens, in: Jungrepublikanische Warte Nr. 2/1923 vom 1.5. (in: BArch R43I/768, Bl. 16). 28 „Kämpfende, nicht raufende Jugend!“ ist eine beliebte Parole im Reichsbanner gewesen. So beim Bundesjugendtreffen des Reichsbanners 1930. Dort sprach der preußische Kulturminister Adolf Grimme, der für eine dezidiert republikanische Gesinnung unter Jugendlichen warb (siehe „Kämpfende, nicht raufende Jugend!“ von E. R. Müller, in: RBZ Nr. 24/1930 vom 24.6. sowie der Schriftwechsel zwischen Grimme und Hörsing, in: GStA PK, VI. HA, NL Adolf Grimme, Nr. 1752, Bl. 7ff.). 29 Zur prinzipiell defensiven Grundhaltung der Republikaner bereits oben.

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Wir jungen Republikaner, die wir zur Republik halten, weil nur in dieser Staatsform Verwirklichung unserer Ideale blühen kann, müssen mit faszistischem Tempo den Kampf aufnehmen gegen diese ewig den Säbel schleifenden Paffke-Naturen. Gegen die Anbeter der Gewalt, die gar nicht das moralische Recht haben, sich über den Franzoseneinfall [gemeint ist die Ruhrbesetzung 1923, Anm.] zu entrüsten, weil die Taktik ihrer Politik dieselbe ist, die Herr Poincaré jetzt anwendet. Die republikanische Jugend hat die Pflicht, auf eine Verständigung mit Frankreich zu drängen und den Boden zu ebnen für gedeihliches Zusammenarbeiten beider Nationen. Auf daß sie nicht in Jahrzehnten gezwungen sind, sich in Schützengräben von Granaten zerreißen zu lassen.30

Es sollte offensichtlich sein, dass solche emotionalen, aggressiven Zeilen vor allem in Krisenzeiten eher geeignet waren, jugendliche Menschen für die Sache der Republik zu interessieren als höchstens mittelfristig wirksame Erziehungsmaßnahmen. Gleichwohl war auch der RRB stark um die geistige Vertiefung der Demokratie bemüht.31 Hindernisse republikanischer Zivilkultur Nicht nur über die Ausweitung der Mitgliederbasis versuchte der Reichsbund, verstärkt in die Gesellschaft zu wirken und zu einer zivilkulturellen Festigung der Republik beizutragen. Zu diesen Bemühungen sind vor allem die republikanisch motivierten Festivitäten und Erinnerungsveranstaltungen des RRB zu zählen, aber auch rechtspolitische Initiativen, wie etwa das Öffentlichmachen von (verfassungs-)rechtlichen Missständen. Zahlreiche Belege über die Arbeit des RRB zeigen, wie versucht wurde, die Öffentlichkeit zu erreichen. So wurden die Ziele des RRB durch öffentliche Vortragsreihen zu republikanischen Themen, Publikationen, Aufrufe, Feiern oder Kundgebungen beworben.32 Denn die Republik brauche, so der RRB-Vorsitzende Konrad Haenisch, ebenso ihre „hohen Weihefeste wie das Christentum“ und einen entsprechenden „Bekennermut und Selbstvertrauen“ der Republikaner.33 Zudem versuchten die Aktivisten, Kontakte zu den jeweils amtierenden Regierungen und dem Reichspräsidenten zu knüpfen. Während zu Ebert offenbar kontinuierlich gute Beziehungen bestanden, war der RRB im Falle der Regierungen stark von der allgemeinen politischen Konjunktur abhängig.34 Im Kabinett von Joseph Wirth wurde im Frühjahr 1922 nur darüber 30 „Zu diesem Rummel“ von Hardy Worm, in: Jungrepublikanische Warte Nr. 2/1923 vom 1.5. (in: BArch R43I/768, Bl. 18). 31 Zu den Ansätzen einer republikanischen Bildungs- und Schulpolitik siehe die Beiträge von Fritz Mascheck und Wolfgang Knauth, in: RRB Landesverband Sachsen-Schlesien (Hg.) 1924, S. 6f. (in: AdL, Bestand Alfred Brodauf, N91–9) sowie Dokumentenanhang Nr. 3. 32 Zahlreiche Beispiele hierfür im Nachlass des RRB-Vorsitzenden Konrad Haenisch: BArch N2104/471 sowie die Zusammenstellung der Ziele des RRB unten (siehe Dokumentenanhang Nr. 3). 33 Vgl. „Es lebe die Republik! Zum 11. August“ von Konrad Haenisch, in: DR Nr. 2/1923 (in: StA Hamburg, 135–1, I–IV, Nr. 4391). 34 Die guten Kontakte zwischen Ebert und dem RRB sind im Nachlass von Konrad Haenisch belegt (siehe BArch N2104/82, insb. Bl. 25–34). Auch einer der Söhne Eberts – Karl Ebert –

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nachgedacht, die Kundgebungen des RRB zugunsten der Republik zu unterstützen.35 Der Innenminister des Kabinetts Cuno, Rudolf Oeser (DDP), zeigte sich offener gegenüber den Anliegen des RRB und hielt die Festrede bei einer Gedächtnisfeier des RRB zugunsten des 1848er-Politikers Ludwig Bamberger. Diese Veranstaltung sollte, wie auch Oeser hervorhob, zur Bildung eines republikanischen Traditionsbewusstseins beitragen, welches die junge Republik dringend brauchte.36 Auch bei anderen Gelegenheiten versuchte der Reichsbund, mit großangelegten republikanischen Veranstaltungen die Öffentlichkeit zu erreichen. Besonders die Feiern zum Gedenken an den 1922 ermordeten Außenminister Walther Rathenau und die jährlichen Verfassungsfeiern wurden von langer Hand geplant, wobei der RRB vom Reichsinnenministerium unterstützt wurde, wo die Zuständigkeit für alle Fragen rund um die Verfassung lag und dem auch das Amt des Reichskunstwartes unterstellt war. Doch war es gerade dieses für die Arbeit des Reichsbundes so zentrale Ministerium, welches in der Weimarer Republik ständigen Wechseln ausgesetzt war. In den 14 Jahren der Republik bekleideten ganze 17 Personen das Amt des Innenministers, womit die durchschnittliche Amtstätigkeit kaum ein Jahr betrug. Auf dieser Basis war es äußerst schwierig, eine dauerhafte Kooperation zwischen Innenministerium und Reichsbund zu erreichen. Die überparteiliche Ausrichtung des RRB erleichterte dieses Vorhaben jedoch. Die ministerielle Unterstützung der Verfassungsfeier des Reichsbundes im Jahr 1923, mit deren Organisation in der Amtszeit von Oeser begonnen wurde, konnte auch nach dem Amtsantritt von Wilhelm Sollmann (SPD) im August aufrechterhalten werden.37 Beide republikanischen Minister waren bemüht, die Verfassungsfeier am 11. August möglichst volkstümlich zu gestalten, um nicht nur die eigenen Parteigänger, sondern breitere Kreise der Bevölkerung zu erreichen und so das republikanische Bewusstsein auch der politisch Indifferenten zu stärken.38

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gehörte dem RRB in einer leitenden Position an (siehe BArch R1501/113561, Bl. 7). Zum Reichsbanner unterhielt Ebert später ebenfalls gute Beziehungen. Die RB-Mitglieder dankten es ihm bei zahlreichen Gelegenheiten mit herzlichen Grußbotschaften, die bei größeren Veranstaltungen des Reichsbanners verlesen wurden (siehe z.B. Münchener Post Nr. 156/1924 vom 8.7., VZ Nr. 559/1924 vom 25.11. oder Vorwärts Nr. 92/1925 vom 24.2.). Anlässlich des von Ebert angestrengten Beleidigungsprozesses veranstaltete der Berliner Reichsbannergau eine Unterstützungskundgebung für Ebert auf dem Gendarmenmarkt, die von 4.000 RB-Mitgliedern besucht wurde, wobei Ebert eine persönliche Dankesansprache hielt (siehe Vorwärts Nr. 22/1925 vom 14.1.). Vgl. BArch R43I/768, Bl. 2–6. Vgl. BArch R43I/768, Bl. 26. Zu Sollmann: Ebert 2014, insb. Kap. IV.4. Laut Ebert war das spätere Reichsbanner für Sollmann ein „ideales Betätigungsfeld“ (vgl. ebd., S. 338f.). Vgl. BArch R1501/113561, Bl. 4ff. Dort der Schriftwechsel zwischen dem RIM und dem Berliner RRB.

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Auch andere Bemühungen des Reichsbundes um die Republik wurden von republikanischen Amtsinhabern unterstützt.39 Probleme mussten aber in dem Moment auftauchen, in dem das Amt des Innenministers von einem Mann ausgefüllt wurde, der weniger klar auf dem Boden der Verfassung stand. Der allgemeine Rechtsruck im Krisenjahr 1923 wirkte sich auch auf die Kontakte zwischen Reichsbund und Regierung sehr negativ aus. Dies konnte auch nicht durch engagierte Republikaner innerhalb der Ministerialbürokratie ausgeglichen werden.40 Die Gründe für die Verschlechterung der Beziehungen sind eindeutig auf Seiten der Regierung zu suchen. Der später für seine verständigungsorientierte Außenpolitik viel gelobte Stresemann hielt es mit seiner Amtstätigkeit als Minister der Republik für vereinbar, auf einem Parteitag der DVP die Errichtung eines „Volkskaisertums“ sowie die Wiedereinführung der Farben Schwarz-Weiß-Rot zu verlangen, während sein Kanzler Wilhelm Marx (Zentrum) sich nach dem erneuten Ausscheiden der SPD aus der Regierungskoalition darum bemühte, die als rechtsradikal, antisemitisch und antirepublikanisch einzustufende DNVP ins Boot zu holen.41 Der RRB musste, wenn er seine in der Verfassung festgehaltenen, republikanischen Ideale nicht aufgeben wollte, diese Zustände kritisieren und tat dies in einem offenen Schreiben an die Regierung im April 1924, was durch entsprechende Zeitungsartikel begleitet wurde. In dem Schreiben wurden weitere Verfehlungen des neuen Innenministers Karl Jarres (DVP) angeprangert und eine Klage gegen Jarres wegen dessen verfassungswidrigem Verhalten betreffend der Vorgänge in Bayern angekündigt.42 Während reichsweit der im Oktober 1923 verhängte militärische Ausnahmezustand im Februar 1924 bereits aufgehoben und in einen zivilen Ausnahmezustand umgewandelt worden war, hatte sich die bayerische Regierung dazu genötigt gesehen, den militärischen Ausnahmezustand für Bayern aufrechtzuerhalten. Diese Maßnahme richtete sich, wie bei den damaligen Verhältnissen in der „Ordnungszelle Bayern“ nicht anders zu erwarten war, vor allem gegen linksgerichtete 39 Dies wird in einem Schriftwechsel zwischen dem Reichsinnen- und dem Reichspostministerium angedeutet, ohne dass klar wird, worin diese Unterstützung konkret bestand (siehe BArch R1501/113561, Bl. 10f.). In dem betreffenden Schriftwechsel ging es um den Telefonanschluss der RRB-Reichsgeschäftsstelle. 40 Als reger Unterstützer des RRB ist bspw. der Ministerialdirigent Arnold Brecht anzusehen (siehe BArch R1501/113561). Zu Brecht siehe dessen zweiteilige Autobiographie Brecht 1966 u. Brecht 1967. 41 Zum Antisemitismus in der DNVP: Jones 2016. Ferner verfügte Stresemann auch über persönliche Kontakte zur Stahlhelmbundesführung um Franz Seldte (DVP), die erst Ende 1927 abrissen, als Seldte aus der DVP austrat. Vorher hatte Stresemann jedoch gehofft, den Stahlhelm als Plattform für seine Politik benutzen zu können (siehe Berghahn 1966, S. 75–91 u. 115–122). Danach wandte sich Stresemann wiederum dem Jungdeutschen Orden zu (siehe Hornung 1958, u.a. S. 68 u. 92). Diese Ausrichtung Stresemanns gegenüber den rechten Wehrverbänden bleibt in gängigen Biographien unterbelichtet, aber nicht in der DVPMonographie von Ludwig Richter (siehe etwa Pohl 2015, Register u. Richter 2002, Register). 42 Siehe Brief des RRB-Reichsvorstandes an Marx vom 14.4.24, in: BArch R43I/768, Bl. 34– 39. Diese Klage wurde erwartungsgemäß vom Oberreichsanwalt abgewiesen, da eine Klage gegen ein Mitglied der Regierung nur vom Reichstag ausgehen könne (siehe ebd., Bl. 51f.).

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und republikanische Kreise. Die November-Putschisten um Adolf Hitler konnten auf diese Weise von einem bayerischen Gericht verurteilt werden, welches Hitler und andere Mitangeklagte, darunter der spätere Innenminister von Thüringen Wilhelm Frick (NSDAP), in den Hauptanklagepunkten für schuldig befand, aber nur lächerlich geringe Strafen verhängte, wenn man bedenkt, dass der Putsch knapp zwei Dutzend Menschen das Leben gekostet hatte. Wäre Hitler nach geltendem Reichsgesetz vor einem Sondergericht des Reiches angeklagt worden, so hätte er nicht zu Festungshaft verurteilt werden können, sondern hätte, wie es in der Notverordnung Eberts über den militärischen Ausnahmezustand vorgeschrieben war, für seinen Hochverrat mit dem Tode bestraft werden müssen.43 Diese und andere Missstände anzuprangern verstanden die Mitglieder des RRB als ihre staatsbürgerliche Pflicht. Im Frühjahr 1924 beteiligte sich der Reichsbund rege am Wahlkampf der republikanischen Parteien zur Reichstagswahl. Die Landesverbände berichteten von einer aktiven Wahlwerbung mittels Flugzetteln, schwarz-rot-goldenen Plakaten und Zeitungsanzeigen, die nach Möglichkeit nicht in republikanischen, sondern in Rechtsblättern oder Generalanzeigern geschaltet wurden. Öffentliche Kundgebungen und Rednerversammlungen waren selbstverständlich ebenfalls ein Teil der Wahlarbeit des RRB. Der Pazifist und Jurist Arnold Freymuth (SPD) thematisierte als Hauptredner auf einer RRBVeranstaltung in Stuttgart den Hitler-Prozess. Auch der Landesverband HessenNassau veranstaltete eine große Demonstration gegen den Ausgang des Prozesses, wobei Haenisch als Hauptredner den Prozess eine „innenpolitische Gefahr“ und eine „Schande für Deutschland“ nannte. Auch die anderen republikanischen Parteien waren auf der Kundgebung mit Redebeiträgen von Ernst Michel (Zentrum) und Emmy Beckmann (DDP) vertreten. Ein solcher Dreiklang der republikanischen Parteien sollte später auch die Regel bei Kundgebungen des Reichsbanners werden. Mit dem Reichsbanner teilte der RRB auch sein Engagement gegen den Rechtsradikalismus. So konnte ebenfalls anlässlich der Reichstagswahl im Mai 1924 der Landesverband Sachsen-Schlesien berichten, dass 40 Veranstaltungen zum Thema „Wider das Hakenkreuz“ durchgeführt werden konnten.44 Die Abwehrhaltung der Republikaner bringt ein offenes Schreiben des RRBVorstandes an die Reichsregierung vom 14. April 1924 auf den Punkt, wobei die Haltung der Reichsregierung gegenüber Bayern stark kritisiert wird. Ehre und Moral verbieten uns zu schweigen. Wir Deutschen Republikaner sind nicht mehr gewillt, längerhin die Vergewaltigung des Rechtes in der Deutschen Republik stillschweigend 43 Siehe Notverordnung des Reichspräsidenten zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung vom 27.9.23, §5. Diese ist z.B. zu finden in: BArch R43I/2703, Bl. 157. Gleiche Kritik am Handeln der Reichsregierung übte Heine, wobei er nicht auf die Notverordnung Eberts eingeht. Heine verweist allerdings darauf, dass während der Präsidentschaft Eberts Todesurteile nur in Ausnahmefällen vollstreckt wurden (vgl. Heine 1944, Bl. 263f.). Die Notverordnungspolitik Eberts mittels des Art. 48 wird auch in der heutigen Literatur kontrovers diskutiert (siehe u.a. Gusy 1997, S. 108ff. u. Mühlhausen 2007, Kap. 15). Zum Hitler-Prozess als „Tiefpunkt bayerischer Justizgeschichte“ ferner Kiiskinen 2005, S. 216–243. 44 Alle Beispiele für die Versammlungs- und Wahlkampftätigkeiten des RRB in: DR Nr. 5/1924.

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hinzunehmen. Was sich jetzt abspielt ist nicht mehr zu vereinbaren mit den alten überlieferten Begriffen von Deutscher Ehre und Deutscher Treue.45

Es ist nicht verwunderlich, dass die Reichsregierung solche Initiativen als Angriff auf sich wertete und nach internen Beratungen den Kontakt zum Reichsbund abbrach.46 Dass der RRB auf diese Weise in den Konflikt zwischen Bayern und dem Reich hineingezogen wurde, war keinesfalls Zufall, sondern hatte eine Vorgeschichte. Bereits 1921, als der Bund gerade gegründet worden war, hatte die bayerische Polizei beim Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung (RKO) angefragt, ob dort Material über den RRB vorliege, welches man für ein Verbot dieser Organisation verwenden könne.47 Anders als beim Führerbund konnten die bayerischen Behörden beim RRB aber keinen Vorwand für ein Verbot finden, da die Aktivitäten des RRB sich praktisch ausschließlich in einem kulturpolitischen Rahmen bewegten, was gleichzeitig nicht bedeutet, dass die Republikaner nicht von anderen Repressalien betroffen waren. So wurden Führungskader des Reichsbundes mit herbeikonstruierten Strafanzeigen überzogen und nicht vor Angriffen auf ihre Person geschützt.48 Die Versammlungen des RRB waren wiederholt Zielscheiben für rechtsradikale Störungsversuche, was wiederholt ein Anlass für die Behörden war, diese Versammlungen mit dem Argument zu verbieten, dass von ihnen eine Gefahr für die öffentlichen Sicherheit ausginge. Dies wurde nicht nur in Bayern praktiziert, sondern auch in anderen rechtsregierten Ländern wie Thüringen.49 Angesichts dieser Bedrohungen für ihre Organisationstätigkeit und ihre Gesundheit waren die Republikaner 1923/24 erneut vor die Wahl gestellt, entweder ihre Bemühungen für den Erhalt der Republik einzustellen oder ihre politische Betätigung den Umständen anzupassen. 45 Aus dem Schreiben in: BArch R43I/768, Bl. 34–39. Darin heißt es weiter, dass ein Staat sich selbst aufgebe, wenn er das Recht nicht mit äußerster Härte gegen seine Kritiker anwende, sondern sie mit rechtswidriger Milde behandele. Konkret wird es als „Vergewaltigung des Rechtes“ beklagt, dass völkische Kreise nicht einmal dann als Hochverräter behandelt würden, wenn sie wie Hitler und Ludendorff mit Waffengewalt gegen die Einrichtungen der Republik vorgingen. Die grundsätzliche Berechtigung der republikanischen Justizkritik ist durch die Weimarforschung anerkannt worden (siehe insb. Rasehorn 1985 u. Rasehorn 1988). 46 Siehe BArch R43I/768, Bl. 40–52. So erwog Jarres offenbar ein Antwortschreiben herauszugeben, sah aber davon ab, um ein weiteres Presseecho zu vermeiden. Dem RRB-Brief an den Kanzler war ein Schreiben Haenischs an Ebert vom 2.3. vorausgegangen mit dem wir uns unten befassen werden. 47 Vgl. BArch R1507/402, Bl. 5ff. Der RKO sammelte hieraufhin Material über den RRB und kam zu den Schluss, dass keine Gründe für ein Verbot der republikanischen Organisation zu finden seien. Beobachtet wurde der RRB jedoch bis zur Abschaffung des RKO im Jahr 1929. 48 Siehe „Ein bayerischer Polizeiskandal“, in: Leipziger Volkszeitung Nr.245/1921. Dort wird über das Vorgehen der bayerischen Justiz gegen Adolf Schmalix und dessen Verhaftung und Misshandlung durch die Polizei berichtet. Schmalix ist uns bereits als Führungsfigur des FB bekannt, was weiter die personellen Verbindungen zwischen beiden Bünden veranschaulicht. 49 Beispiele hierfür in: Münchener Post Nr. 19/1921, „Unter dem Terror der Faschisten“, in: Vorwärts Nr. 109/1923 vom 6.3., „Über Reichswehr und Republik“, in: BVZ Nr.531/1923 sowie „Münchener Versammlungsverbot“, in: BTB Nr. 109/1923.

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Erzwungene physische Wehrhaftigkeit Der RRB ist uns bislang nur als Kultur- und Lobbyorganisation bekannt, welche für republikanische Ideale und politische Ziele mit gewaltlosen Mitteln eintrat. Jedoch brachten es die Verhältnisse mit sich, dass auch im Reichsbund Abteilungen für Saal- und Versammlungsschutz gegründet wurden. Dies geschah aber nicht unter zentraler Regie, sodass unklar bleibt, ob es in allen Landesgruppen des RRB militante Formationen gegeben hat. Mindestens in jenen Teilen des Reiches, in denen die Republikaner besonders hart von ihren Gegnern angegriffen wurden, scheint es solche Initiativen im Reichsbund aber gegeben zu haben.50 Der RRB in Sachsen und Schlesien unter der Leitung von Arthur Neidhardt (SPD) war, wie auch andernorts, aus dem FB hervorgegangen und hatte dort einen eindeutig militanten Charakter, wobei viele Führungsfiguren des RRB später im Reichsbanner aktiv werden sollten.51 In der Freien Hansestadt Bremen, die aufgrund der antirepublikanischen Regierung als „Klein-Bayern an der Weser“ bezeichnet wurde, war der Saalschutz des RRB sogar in einem separaten Verband organisiert. Der Vortrupp Reichsadler zog ähnlich wie die republikanische Bewegung Bayerns das besondere Interesse der örtlichen Sicherheitsbehörden auf sich, weswegen einzelne Informationen über ihn in den Akten des RKO zu finden sind. Wie der Bremer Vertreter des RKO berichtete, war der Vortrupp aus der örtlichen Jugendorganisation des RRB hervorgegangen und dementsprechend jung waren seine Mitglieder. Diese waren mit Uniformen ausgestattet, die jenen der völkischen Verbände so stark ähnelten, dass man die Gruppe nur anhand ihrer schwarzrot-goldenen Armbinden erkennen konnte, was anscheinend mehrfach zu Verwechslungen führte. Anfangs hatte der Vortrupp eine Stärke von etwa 60 meist jungen Männern. Später waren es 200, die den Schutz der Veranstaltungen, die Verteilung der Flugblätter des RRB und derartige Tätigkeiten organisieren sollten. Laut Beschluss der Bundesleitung des RRB war der Vortrupp ursprünglich als permanente Organisation für die Jungrepublikaner gedacht,52 während sich repub-

50 Siehe Toury 1997, S. 65ff. Für Berichte über militärische Aktivitäten des RRB in Baden und Württemberg ferner: „Ein auffälliger Fund“, in: Schwäbischer Merkur Nr. 273/1923 u. R1507/402, Bl. 40ff. In Bayern gab es unter der Leitung von Schützinger einen sozialdemokratischen Wehrverband namens „Republikanischer Schutzbund“, der auch völkische Versammlungen sprengte (siehe Hitler 1980, S. 525ff.), wobei unklar ist, ob eine direkte Verbindung zum RRB bestand. In Ostpreußen und Königsberg existierte zu diesem Zeitpunkt kein Landesverband des RRB, dafür gab dort seit dem November 1923 einen Wehrverband namens „Republikanischer Führerbund“, der organisatorisch nicht mit dem FB verbunden war (siehe BArch R43I/768, Bl. 158 u. „Vorläufer des Reichsbanners. Teil 2“, in: RBZ Nr. 10/1929 vom 9.3.). 51 Vgl. Voigt 2009, S. 95ff. Ferner: „Vorläufer des Reichsbanners. Teil 2“, in: RBZ Nr. 10/1929 vom 9.3. Neidhardt z.B., der sich als Berufssoldat am deutschen Kolonialfeldzug in China beteiligt hatte, war ab 1924 Vorsitzender des Chemnitzer Reichsbanner und wechselte später an die Spitze des Reichsbanner Gaus Berlin-Brandenburg (siehe Röder et al. (Hg.) 1983, S. 523). 52 Diese Formulierung in der Akte des RKO legt die Vermutung nahe, dass auch in anderen Landesgruppen des RRB Vortrupps organisiert wurden und nicht nur in Bremen. Allerdings

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likanische Kriegsteilnehmer im zu diesem Zeitpunkt frisch gegründeten Reichsbanner zusammenfinden sollten. Im Verlauf des Jahres 1924 war man jedoch dazu übergegangen, den Vortrupp in die Bremer Sektion des Reichsbanners zu integrieren. Das Bremer Reichsbanner konnte somit auf besten Vorarbeiten aufbauen. Selbst mit der Organisierung von Rad- und Motorradfahrerabteilungen war bereits im Vortrupp begonnen worden. Die Bremer Sicherheitsbehörden begrüßten diese Selbstschutzinitiative der Republikaner nicht. In einem Bericht der Bremer Polizei wurde der Vortrupp sogar als „Organ des Klassenkampfes“ bezeichnet, der sich staatliche Aufgaben anmaße.53 Solche Formulierungen sprechen in diesem Fall mehr für die politische Voreingenommenheit der betreffenden Bremer Beamten als gegen die Mitglieder des Vortrupps. Für den Moment wollen wir aber einen anderen Umstand festhalten. Auch wenn der RRB zu Beginn als zivile Vereinigung aller Republikaner und Republikanerinnen gegründet wurde und seine Ziele mittels friedlicher Mittel erreichen wollte, sahen sich die Mitglieder des Reichsbundes aufgrund der allgemeinen Entwicklung gezwungen, militante Formationen zu bilden, was mit der Gründung des Reichsbanners zusammenfloss. Hierbei ist allerdings zwischen einer organisatorischen und einer propagandistischen Notwendigkeit zu unterscheiden. Richtig ist, dass republikanische Versammlungen systematisch gestört und verhindert wurden. Eine organisatorische Notwendigkeit für den Aufbau eines eigenen, privaten Saalschutzes bestand dort, wo die Polizei nicht willens oder in der Lage war, die Sicherheit republikanischer Versammlungen zu garantieren. Dies war beispielsweise bei der Nachwahl zum Reichstag in Oberschlesien 1924 notwendig, wo republikanische Versammlungen ohne den Schutz des Reichsbanners unmöglich gewesen wären, aber auch kulturelle Veranstaltungen, wie etwa die kontroversen Theaterstücke Leopold Jessners, waren von gewalttätigen Störern betroffen.54 Grundsätzlich war es die Aufgabe des Reichsbannersaalschutzes, der ab 1930 von den sog. Schutzformationen (Schufo) übernommen wurde, Gewalttätigkeiten durch ein entschlossenes Auftreten vorzubeugen und einen ruhigen Ablauf von Veranstaltungen zu gewährleisten. Hierzu wurde von den Saalschützern persönliche Zurückhaltung, geistige und körperliche Disziplin verlangt sowie

ist nur für Bremen diese Organisation nachweisbar, was u.a. an der besonderen Aktivität der dortigen Sicherheitsbehörden liegen könnte. 53 Vgl. R1507/402, Bl. 50f. u. 60 sowie FES, Bestand Reichsbanner, 4/RSRG, Box 1. Dort findet sich eine Mappe mit Material über den RRB in Bremen, in der auch der Gründungsaufruf des Vortrupps Reichsadler enthalten ist. Dieser wurde in der Bremer RRB-Zeitung Die freie Hanse Nr. 3/1924 vom 28.3. verbreitet, welche in Teilen ebenfalls in dieser Mappe zu finden ist. Zur Reichsbannergründung in Bremen: Schröder, Bremen 2014, S. 123ff. 54 Vgl. „Die Reichstagsnachwahl in Oberschlesien“ von Ernst Lemmer, in: FZ Nr. 718/1924 vom 25.9. Lemmer verwies auch in seinen Memoiren auf die hohe Bedeutung des RBSaalschutzes für den Weiterbestand der Demokratie (siehe Lemmer 1968, S. 165f.). Jessner wiederum engagierte sich im RRB und im Reichsbanner wohl auch aus solchen gewaltsamen Erfahrungen heraus. Eine entsprechende Schilderung des Verlaufs eines seiner Theaterstücke bei: Gay 1987, S. 148ff. Zum Saalschutz bereits oben.

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eine engste Kooperation mit der Polizei angemahnt.55 Es leuchtet ein, dass diese Aufgabe nur von jüngeren, gesunden Männern ausgeübt werden konnte. Gleichzeitig waren Uniformen, Aufmärsche und andere vom Militär entlehnte Tätigkeiten und Symbole bereits etablierte Teile der bündischen Jugendkultur und folglich wichtig, um junge Männer für die eigene Organisation zu gewinnen und zu begeistern. Geld wurde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht als wichtigster Anreiz benutzt, zumindest gibt es zur Höhe der Aufwandsentschädigung für Saalschutztätigkeiten keine aussagekräftigen Quellen.56 Saalschutz wurde von den veranstaltenden Organisationen im Vorfeld einer Versammlung beim jeweiligen lokalen Reichsbanner angefragt und in der Regel auch gewährt.57 Die Aufwandsentschädigung wurde dann von der betreffenden Organisation an das Reichsbanner gezahlt. Hoch genug für ein geregeltes Auskommen der Saalschützer waren diese allerdings wohl nicht, sondern allenfalls ein Nebenverdienst. Wie auch für die sonstigen Tätigkeiten der republikanischen Aktivisten gilt für den Saalschutz, dass dieser vor allem aus ideellen Gründen geleistet wurde. Für die Tätigkeiten des RRB wie des Reichsbanners hat dieser Umstand große Bedeutung. Der fehlende finanzielle Anreiz musste mit propagandistischen Maßnahmen ausgeglichen werden. Der ganze agitatorische Aufwand, der nicht nur nach außen, sondern auch im Inneren der Bünde betrieben wurde, wäre sonst soziologisch betrachtet schwer zu erklären. Oder anders formuliert: Wären das Reichsbanner oder seine Vorläuferorganisationen nach rein ökonomischen Prinzipien funktionierende Unternehmungen von „Söldnern des (jüdischen) Kapitals“ gewesen, wie es die republikfeindliche Presse gern behauptete.58 so hätte weitgehend darauf verzichtet werden können, die eigenen Mitglieder zu überzeugten und militanten Republikanern zu machen, wobei wir die propagandistischen Aspekte dieser Wehrhaftmachung am Beispiel der Jungrepublikaner bereits kennen gelernt haben. Die Wehrhaftmachung wurde zu einem guten Teil durch die angesprochenen militärähnlichen 55 Diese allgemeinen Anweisungen für den Saalschutz nach: Rundschreiben des RB-BV an sämtliche Gauvorstände Nr. 40 vom 2.12.29, in: BArch R1501/125668j, Bl. 234ff. Neben diesen allgemeinen Anweisungen gab es sehr konkrete, professionelle Anweisungen über den technischen Ablauf und die Organisation des Saalschutzes (siehe ebd., Bl. 237ff. sowie Technischer Führer 1930, S. 111ff.). 56 Für den RRB gibt es keine Belege darüber, ob überhaupt eine Entschädigung gezahlt wurde oder nicht. Da diese beim Reichsbanner später aber gezahlt wurden, sollte man davon ausgehen, dass dies früher ebenfalls geschehen ist, wobei auch für das Reichsbanner unklar ist, wie hoch die Beträge tatsächlich waren. Am wahrscheinlichsten ist, dass der jeweilige Veranstalter für den Saalschutz zahlen musste und die Höhe der Aufwandsentschädigung individuell ausgehandelt wurde. 57 Beispiele hierfür in: AdL, Bestand Wilhelm Nowack, N26–8. Dort werden mehrere Veranstaltungen der DStP im Rahmen des Reichspräsidentschaftswahlkampfes 1932 aufgelistet, für die beim Berliner Reichsbanner um Saalschutz gebeten wurde. Verantwortlich für die Organisation und Koordinierung des Saalschutzes war in diesem Fall der technische Leiter des Berliner RB-Gaues Albert Brych. Andere Beispiele für die Saalschutztätigkeit bei Veranstaltungen der SPD, der RfH und der DFG finden sich in den Unterlagen der OG Husum (siehe LASchlewig-Holstein, Abt. 385 I, Nr. 19 u. 20). 58 Hierzu unten ausführlich.

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Praktiken erreicht, doch auch durch etwas, dass trotz der mangelhaften Quellenlage gut zu erforschen ist, nämlich die in den Publikationen von Reichsbund und Reichsbanner erhaltene politische Idee des Nationalrepublikanismus, welcher als gemeinsame geistige Grundlage beider Bünde anzusehen ist. Diese Entwicklung einer teilweisen Militarisierung innerhalb des Reichsbundes wie der republikanischen Bewegung insgesamt, die der Gründung des Reichsbanners unmittelbar vorausging und diese bedingte, muss eindeutig als (erneute) Tendenz hin zur einer republikanischen Gewaltkultur gesehen werden, die der RRB 1922/23 versucht hatte, durch zivilkulturelle Maßnahmen zu ergänzen. So wurde der erzwungene Rückzug der Republikaner aus der militärpolitischen Mitgestaltung unterlaufen, ohne dass die kulturellen Aktivitäten des RRB hierdurch verdrängt wurden. Das Beispiel des Bremer Vortrupps sollte verdeutlicht haben, dass sich bei den Aktivitäten der Jungrepublikaner zivilkulturelle und gewaltkulturelle Elemente vermischten und nicht etwa das Eine durch das Andere ersetzt wurde. Um diesen kontraintuitiven Umstand besser zu verstehen, müssen wir die politischen Rahmenbedingungen des Ausnahmezustandes 1923/24 im Blick behalten. Dass das Reichsbanner nur wenige Tage vor der Aufhebung des militärischen Ausnahmezustandes im Februar 1924 gegründet wurde, sollte uns aufmerksam machen für den Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen.

3. REPUBLIKANISCHE NOTWEHR. DAS KONZEPT EINER REPUBLIKANISCHEN HILFSPOLIZEI Als Konrad Haenisch im März 1924 auf den insgesamt knapp fünf Monate währenden militärischen Ausnahmezustand zurückblickte, konnte er ihm keinerlei positiven Aspekte abgewinnen. Während die Verfechter des Ausnahmezustandes diesem einen großen Erfolg bescheinigten und von einer Rettung des Staates in diesen Monaten schrieben und redeten, war es Haenisch, der die Folgen des Ausnahmezustandes als einen vollendeten „trockenen Putsch“ bezeichnete.1 In einem Schreiben an seinen Parteifreund Ebert kritisierte Haenisch dessen Krisenpolitik harsch. Die Zeit des militärischen Ausnahmezustandes sei das „trübeste Kapitel der Nachkriegsgeschichte“, da es der demokratisch nicht legitimierten Reaktion gelungen sei, den Geist der Verfassung effektiv auszuhöhlen. Haenisch kritisiert die von Ebert gestützte Praxis des Regierens per Notverordnungen als „Zerrüttung des Parlamentarismus“, was eine ernste Gefahr für den Weiterbestand der Demokratie und damit den Weiterbestand der deutschen Nation darstelle. Wie früher im Kaiserreich, sei es der Reaktion gelungen, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Die Republik werde an demselben „Lügensystem“ zugrunde gehen, das auch dem Kaiserreich zum Verhängnis wurde. Es habe geheißen, der Ausnahmezustand werde zum Wohle des Volkes gebraucht, während er in Wahrheit genutzt wurde, die vom Militär ausgeführte Reichsexekution gegen Sachsen und Thüringen abzudecken. Der vermeintliche Erfolg dieses einseitigen Vorgehens gegen linksregierte Länder, während die rechtsdominierte „hochverräterische Regierung“ Bayerns unbehelligt geblieben war, stünde in keinem Verhältnis zu den gesellschaftlichen Kosten. Der Einsatz der Reichswehr insbesondere in Sachsen habe die Gräben zwischen der republikanischen Bevölkerung und der Armee nur vertieft. Haenisch sah die Republik in keinem Moment in der Gefahr, von einem Linksputsch hinweggefegt zu werden, wie es die reaktionären, antirepublikanischen Kreise kontinuierlich behauptet hatten, um den Ausnahmezustand zu rechtfertigen. Die Macht der Polizei und insbesondere der preußischen Schupo hätte ausgereicht, um jegliche Gefahr von Links abzuwenden, so wie es während des Mitteldeutschen Aufstandes im März 1921 und des Hamburger Aufstandes im Oktober 1923 der Fall war.2 Dass die Schupo im Herbst 1923 nicht zur Absiche-

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Bereits zu Beginn des Jahres 1923 wurde auf Versammlungen des RRB vor reaktionären Versuchen gewarnt, die Republik mittels eines trockenen Putsches von innen her zu beseitigen. Diese Gefahr erschien manchen Rednern des Reichsbundes fast noch größer zu sein als die Gefahr offener Putschversuche und bewaffneter Aufstände. So etwa die Ansicht von Tucholsky oder auch Schützinger (siehe „Vom Republikanischen Reichsbund“, in: FZ vom 8.1.1923). Zum Mitteldeutschen Aufstand insb.: Knatz 2000 u. Mühlhausen 2007, S. 740ff. Zum Hamburger Aufstand: Danner 1958, Kap. 4 u. Fuhrer 2011, S. 108–118. Ferner: „Der Hamburger

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rung gegen Rechtsputsche eingesetzt, sondern die exekutive Gewalt den Militärs übertragen wurde, bezeichnete Haenisch als „Selbstmord der Republik“. Wenn die angespannte Situation überhaupt eine Diktatur verlangt hätte, so Haenisch, hätte es eine „wirklich republikanische Diktatur“ sein müssen. Wenn die Reichsregierung die Machtmittel der Polizei für unzureichend befunden hätte, hätte sie notfalls die deutschen Republikaner zum Schutz der Republik und zur personellen Verstärkung der Polizei aufrufen müssen. Das stattdessen praktizierte Vorgehen der Reichsregierung habe hingegen die deutschen Republikaner in die Arme einer revolutionären Bewegung getrieben, was trotz bzw. gerade wegen des Ausnahmezustandes zu einem Bürgerkrieg führen müsse. Die republikanische Bevölkerung dürfe auf Dauer nicht schutzlos der Bedrohung durch die antirepublikanischen, rechten Wehrverbände ausgeliefert bleiben. Haenischs Verdikt über die Krisenpolitik fällt daher eindeutig aus. Es sei ein Irrtum zu glauben, dass die deutschen Republikaner ohne Überzeugung und Lebenswillen seien und dies alles noch länger ertragen würden. Nicht einmal im Kaiserreich wäre eine solche „Vergewaltigung der Freiheit des deutschen Volkes“ gewagt worden, so Haenisch abschließend. Im Namen des Reichsbundes forderte er von Ebert, den Ausnahmezustand zu beenden und der Republik zuverlässige Machtmittel auf Reichsebene in die Hand zu geben, was durch einen schnellen Umbau und eine Republikanisierung der Reichswehr erreicht werden solle. Die bisherige Regierungspraxis in Bayern und die Tolerierung dieser Zustände durch das Reich widersprächen der Verfassung, die allen Staatsbürgern ihren Schutz gewähre und nicht nur den Bürgerlichen.3 Haenischs Worte sind emotional und gerade wenn man bedenkt, dass er sie an den obersten Repräsentanten der Republik richtete, sehr fordernd. Aber diese Eingabe entsprang keiner plötzlichen Gefühlsaufwallung angesichts der Ereignisse des Schreckensjahres 1923. Wir wissen bereits, dass die grundsätzliche Forderung der Schaffung eines republikanischen Machtmittels bereits 1919 unter anderem von Seiten des Führerbundes aufgestellt worden war. Was Haenisch im Namen des Reichsbundes nun erneut forderte, war eine Neutralisierung der Reichswehr in innenpolitischer Hinsicht und eine konsequente Stärkung der Polizei als innenpolitischem Machtmittel, was mit klaren personellen Konsequenzen vor allem in der Reichswehr verbunden werden sollte. Hierbei wurde Haenisch von engagierten Republikanern unterstützt, die ihrerseits versuchten, Druck auf Ebert und andere Regierungsstellen aufzubauen. Doch die hier zutage tretende Differenz über die Notwendigkeit einer republikanischen Hilfspolizei begann nicht erst im Frühling 1924, als die Stabilisierung der Republik bereits ausgerufen worden war.

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Aufstand. Ein Beitrag zur Geschichte der Kommunisten-Revolte vom 23. Oktober 1923“ von Theodor Haubach, in: RBZ Nr. 42/1931 vom 17.10. Vgl. Schreiben Haenischs an Ebert vom 2.3.24, in: BArch N2104/82, Bl. 25–34. Ebert war seinem Parteifreund aufgrund des Schreibens offenbar nicht böse, wie eine Einladung zum Abendessen in Eberts Privatwohnung belegt (siehe Schreiben Eberts an Haenisch vom 6.5.24, in: Ebd., Bl. 39). Zur Rolle des RRB in den Zeiten des Ausnahmezustands bereits oben. Forderungen nach einer „Diktatur“ zum Schutz der Republik gab es auch andernorts. So beim Reichsinnenminister Sollmann (siehe Ebert 2014, S. 240ff.).

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Polizei oder Militär zur Aufstandsbekämpfung? Bereits unmittelbar nach Verhängung des militärischen Ausnahmezustandes am 27. September 1923 waren sich die im Reichsbund versammelten Republikaner über dessen negativen Charakter im Klaren.4 Die Ortsgruppe des RRB in Frankfurt am Main beispielsweise nannte den Ausnahmezustand in einer Eingabe an den Regierungspräsidenten von Wiesbaden eine „schwere Gefahr für die Republik“ und forderte dessen baldige Aufhebung.5 Otto Hörsing (SPD), Oberpräsident der preußischen Provinz Sachsen und Mitunterzeichner des RRBGründungsaufrufes, forderte in einem Brief an den Reichskanzler Stresemann ebenfalls die baldige Beendigung des militärischen Ausnahmezustandes und dessen Umwandlung in einen zivilen Ausnahmezustand. Im Einvernehmen mit den Wehrkreisbefehlshabern, die kraft des militärischen Ausnahmezustandes die Regierungsgewalt in ihren Wehrkreisen übernommen hatten, sei die öffentliche Sicherheit nicht länger zu gewährleisten, so Hörsing. Diese Anregung Hörsings wurde von Ernst Weber (DDP) im Namen der sozialliberalen Regierung des Freistaats Anhalt geteilt. Von beiden Seiten wurde beklagt, dass die Wehrkreise mit den Ländergrenzen und damit den politischen Verhältnissen nicht übereinstimmten, sodass im Falle des Freistaats Anhalt die faktische Militärregierung im aus Anhaltinischer Sicht fernen Dresden beim Wehrkreis IV lag, während die Provinz Sachsen durch die Wehrkreise IV (Dresden) und III (Berlin) zerschnitten wurde. Die politischen Konsequenzen, so die Vertreter der zivilen Verwaltungsstellen, seien gravierend und liefen im Endergebnis keineswegs auf eine Beruhigung der Lage hinaus. Laut Weber sei im Gegenteil die Arbeiterschaft sehr über die Einsetzung der Militärdiktatoren erbittert. Was die örtlichen Republikaner insbesondere gegen den Machthaber des Wehrkreises IV, den Generalleutnant Alfred Müller, aufgebracht habe, sei das Verbot der Republikanischen Notwehr durch eine Verordnung Müllers vom 13. Oktober. Es könne jetzt nur noch schwer eine weitere Radikalisierung der Arbeiterschaft und ein Einflussgewinn der Kommunisten verhindert werden.6

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Der Ausnahmezustand des Reiches war seinerseits eine unmittelbare Reaktion auf die Ausrufung des Ausnahmezustandes in Bayern am 26.9. und hob diesen juristisch gesehen zweifelsfrei auf, was von den bayerischen Machthabern in hochverräterischer Weise aber nicht befolgt wurde (hierzu die betreffenden Verordnungen in: BArch R43I/2703). Hierzu Gusy 1997, S. 384ff. u. Mühlhausen 2007, S. 675ff. Diese Eingabe vom 3.10.23 in: BArch N2104/471, Bl. 41. Vgl. Brief Hörsings an Stresemann vom 7.10.23 u. Brief Webers an Stresemann vom 15.10.23, beide in: BArch R43I/2703, Bl. 212 u. 222. Hörsings Schreiben auch in: Hürten (Hg.) 1980, S. 89 (Dok. 43). Dort auch ein Bericht über die Verhandlung des Reichsrats zum Ausnahmezustand vom 18.12.23 (siehe ebd., S. 206ff. (Dok. 140)). Auch aus anderen Teilen des Reiches erhielt die Reichsregierung starken Gegenwind. So forderten Württemberg und Baden ebenfalls eine Abwandlung oder Abschaffung des Ausnahmezustandes, da sie nicht bereit waren, ihre Hoheit über die Landespolizei an das Militär abzugeben (vgl. BArch R43I/2703, Bl. 174ff. u. 198ff.). Hierzu auch Mühlhausen 2007, S. 653f. u. Nakata 2002, S. 121f.

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Hinzuzufügen ist, dass Hörsings Eingabe ohne die Unterstützung aus Anhalt von der Reichsregierung wohl nicht einmal mit einer Antwort gewürdigt worden wäre.7 Hörsing hatte sich durch seine entschieden republikanische Politik zwangsläufig in einen Gegensatz zur Reichsregierung gebracht. Maßgeblich aufgrund seiner Initiative war bereits seit 1922 unter der Leitung von Karl Höltermann (SPD), dem damaligen Chefredakteur der Magdeburger Volkszeitung, die Republikanische Notwehr aufgebaut worden.8 Sie sollte der Landespolizei im Notfalle eines Putsches republikanisch zuverlässiges Ersatzpersonal bereitstellen, wobei sich die Mannschaften vorwiegend aus Jungsozialisten und republikanischen Kriegsteilnehmern zusammensetzten. Dass eine solche Verstärkung notwendig werden konnte, hatten nicht nur die Kämpfe während der Revolutionszeit in Berlin verdeutlicht. Während des ersten Aufstandes in Oberschlesien von 1919 sowie des Mitteldeutschen Aufstandes im März 1921 war es Hörsing, der erst als Staatskommissar für Oberschlesien und später als Oberpräsident der Provinz Sachsen bei der Beendigung der Aufstände leitend beteiligt war.9 Es dürfte nicht überraschen, dass Hörsing aufgrund dieses Engagements von Seiten der deutschen Kommunisten und der polnischen Nationalisten als „(Feme-)Mörder“, „Diktator“ oder „(Arbeiter-)Verräter“ bzw. „Klein-Noske“ angefeindet wurde, wobei sich dieses Urteil in den jeweiligen historiographischen Traditionen bis weit in die Nachkriegszeit hielt.10 Innerhalb der republikanischen Presse hingegen war Hörsing aufgrund seiner Leistungen überregional berühmt geworden, wobei der Hass

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Siehe die Vermerke in: BArch R43I/2703, Bl. 213 u. 223. Zur Republikanischen Notwehr bereits Rohe 1966, S. 39ff. u. Toury 1997, S. 72ff. Hörsing erhielt den Schlesischen Adlerorden 2. Klasse für seine „tatkräftige Unterstützung der Grenztruppen“, wie es in der Verleihungsurkunde hieß. Verliehen wurde der Orden vom Oberkommandierenden der Provinz Schlesien General-Leutnant von Friedeburg. Der Orden samt Ernennungsurkunde ist zu finden in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 17. Toury betont jedoch, dass Hörsing bereits damals eine ambivalente Haltung zur Armeeführung innehatte (siehe Toury 1997, S. 26ff.) Es sind zu Hörsings Zeit in Oberschlesien ferner vereinzelte Angaben aus der autobiographischen Literatur bekannt (siehe Severing, Schlosser 1950, S. 244 u. Groener 1957, S. 479 u. 504f. sowie Michaelis et al. (Hg.) 1960, Kap. 1.4 u. Matull 1973, S. 199ff.). Morsey erwähnt, dass Hörsing aufgrund eines Konfliktes mit dem Zentrum über die schlesischen Autonomieforderungen zurücktrat (siehe Morsey 1966, S. 343). Abgesehen von Tourys Ausführungen finden sich lediglich bei Nakata und Hitze genauere Angaben zu Hörsings Tätigkeit in Oberschlesien (siehe Nakata 2002, u.a. S. 67ff. u. Hitze 2002, S. 216–256). Zum Konflikt mit Polen um Oberschlesien ferner: Behrens 2013 u. Conrad 2014, insb. S. 164–180. 10 So Miller 1978, S. 266f. sowie eher kritisch gegenüber Hörsing: Hitze 2002, S. 328 u. 504. Als Beispiele für die kommunistische Historiographie über den „Arbeitermörder“ Hörsing: Helmbold 1970, S. 32ff. u. Gotschlich 1987, S. 15ff. Zur polnischen Historiographie: Przewłocki 1989 u. Lis 2015. Auffällig sind in diesem Sinne auch die antisemitischen Töne in der Propaganda gegen Hörsing. So bezeichnete die Gazeta Opolska Hörsings engen Mitarbeiter den „Juden Gotthilf“ als eigentlichen Strippenzieher in Oberschlesien (siehe Hitze 2002, S. 286). Später sollte die Rote Fahne Hörsing und Crohn als „Knechte des jüdischen Finanzkapitals“ bezeichnen (hierzu ausführlicher unten).

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der rechtsradikalen Republikfeinde nicht lange auf sich warten ließ.11 Hörsing dürfte eine der am häufigsten karikierten Personen der Weimarer Republik gewesen seien, wobei sich die kommunistische wie die rechtsradikale Presse vor allem über seine kurze, kräftige Statur in gehässiger Weise lustig machte.12 Neben Hörsing war mit Carl Spiecker (Zentrum) ein weiterer Republikaner maßgeblich an den Auseinandersetzungen in Oberschlesien beteiligt, der uns im weiteren Verlauf der Untersuchung ebenfalls noch häufiger begegnen wird. Da aber weder zu Hörsing noch zu Spiecker umfassende biographische Ausarbeitungen existieren, welche die Situation in Oberschlesien erhellen könnten, müssen wir uns hier mit eigenen Urteilen zurückhalten. Fest steht, dass republikfeindliche Kreise sowohl Hörsing als auch Spiecker die politische Verantwortung für die rechtsradikalen Fememorde zuschieben wollten. Gerichtlich konnten diese Anschuldigungen nicht erhärtet, aber auch nicht zweifelsfrei widerlegt werden, sodass uns nur die Zurückhaltung in dieser Frage bleibt.13 Die in Oberschlesien eingesetzten, meist rechts orientierten Verbände der Schwarzen Reichswehr waren unzweifelhaft für zahlreiche Gewaltdelikte an der Zivilbevölkerung verantwortlich und einige der bereits damals ultranationalistisch eingestellten Freikorpskämpfer waren später in der NS-Bewegung aktiv.14 Während des Mitteldeutschen Aufstandes hingegen hatte die Polizei allein die Kampfhandlungen führen können, ohne auf das Militär oder rechte Hilfstruppen zurückgreifen zu müssen und tatsächlich sprach das jeweilige Endergebnis klar für die Polizei. Anders als bei vorherigen Aufständen wurde die Zivilbevölkerung geschont, was dazu beitrug, dass die politische Lage beruhigt werden konnte und die den Aufstand anführende KPD enorm an Rückhalt in der Bevölkerung verlor. Gleichzeitig konnte die Niederschlagung des Aufstandes nicht von rechtsradikalen Kreisen vereinnahmt werden.15 Aus diesen Erfahrungen hatte Hörsing offensichtlich die Lehre gezogen, dass die Bereitstellung von republikanisch zuverlässigen Sicherheitskräften von essentieller Bedeutung war, wenn die Republik nicht wei-

11 Hierzu einige an Hörsing gerichtete Schmähbriefe und Todesdrohungen, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19 u. Mappe 24. Auch in diesen Anfeindungen fehlten vulgärste antisemitische Drohungen nicht. 12 Hierzu ausführlicher unten. Ein Beispiel für ein polnisches Plakat gegen Hörsing als „Henker der Polen“ findet sich auf europeana.eu. 13 Zur gerichtlichen Aufarbeitung der Fememorde in Oberschlesien: Nagel 1991 u. Sauer, Oberschlesien 2006. Zu Spieckers Wirken in Oberschlesien zudem: Hitze 2002, insb. S. 269ff. Hitze bezeichnet dramatisierend Spiecker als „deutschen Geheimdienstchef in Oberschlesien“ (vgl. ebd., S. 344). 14 Siehe neben den oben genannten Belegen: Sprenger 2008, S. 155ff. 15 Zum Mitteldeutschen Aufstand oben und ferner: Michaelis et al. (Hg.) 1960, Kap. 4 u. Alexander 1992, S. 134ff. sowie Knatz 1998. Auch Schützinger äußerte sich über den Einsatz der Polizei während des Mitteldeutschen Aufstandes positiv, wobei er hervorhob, dass ein Einsatz des Militärs in dieser Situation zu noch mehr Toten und politischer Radikalisierung geführt hätte, wie es im Ruhrgebiet nach dem Einsatz des Militärs während des Ruhraufstandes 1920 zu beobachten gewesen sei (vgl. Schützinger, Kampfbrevier 1924, S. 27ff.).

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ter ernsthaften Schaden nehmen sollte.16 Der Appell von 1.500 (unbewaffneten) Mitgliedern der Republikanischen Notwehr vor dem Oberpräsidium Hörsings am 15. April 1923 in Magdeburg sollte ein deutliches Zeichen zugunsten der Republik und gegen die Reaktion von rechts und links sein. Im Vergleich zum späteren Reichsbanner hatte die Republikanische Notwehr aber ein klares Defizit. Sie war eine ausgesprochen sozialdemokratische Organisation, was dazu beitrug, dass Hörsing sich nicht nur bei Rechtsradikalen, sondern auch in bürgerlichen und militärischen Kreisen weiter unbeliebt machte. Die bereits erwähnte Auflösungsorder des Generalleutnants Müller dürfte somit von Bürgerlichen nicht ohne Genugtuung aufgenommen worden sein. Hörsing und Höltermann waren aber nicht so leicht von ihren Plänen abzubringen und ignorierten das Verbot Müllers kurzerhand, auch wenn dies rechtlich vielleicht fragwürdig war. Im Gegenteil wurden Mitglieder der Republikanischen Notwehr in Absprache mit dem preußischen Innenminister Carl Severing (SPD) zu Hilfspolizisten der preußischen Schupo ernannt, was bereits ab dem 7. September erfolgt war. Zusammen mit der regulären Polizei sollten die Republikaner einen möglichen Marsch von bayerischen Rechtsverbänden auf Berlin abwehren. Aufgrund der Einigkeit zwischen Hörsing und Severing war Müller gezwungen, das Verbot der Republikanischen Notwehr wieder zurückzuziehen.17 In Mitteldeutschland wurde der Einsatz einer republikanischen Hilfspolizei aufgrund der inneren Streitigkeiten der bayerischen Rechtsputschisten nicht mehr notwendig. In Hamburg hingegen wurden im Zuge des kommunistischen Aufstandes mehrere hundert Männer der republikanischen Vereinigung Republik als Hilfspolizisten herangezogen, was wesentlich dazu beitrug, dass örtliche Polizeikräfte schnell die Überhand gegen die schlecht vorbereiteten Linksputschisten gewinnen konnten.18 Insofern war es nur konsequent, wenn Hörsing und die Ver16 So bereits Hörsing in einer Stellungnahme an den Reichstagspräsidenten Paul Löbe (SPD) vom 8.6.20 in: BArch N2178/42, Bl. 3ff. Hörsing verwies darauf, dass die Polizei bereits unterbesetzt sei und nicht weiter abgebaut werden dürfe, wie es von den Alliierten in ihren Rüstungsauflagen gefordert wurde. Hierzu bereits Nakata 2002, S. 101. 17 Zur Republikanischen Notwehr die Angaben oben sowie „Vorläufer des Reichsbanners. Teil 1“, in: RBZ Nr. 8/1929 vom 23.2. Ein lebendiges Planspiel über den möglichen Einsatz einer republikanischen Polizeikraft in Mitteldeutschland gegen aus dem Süden anrückende Putschisten bietet: Schützinger, Kampfbrevier 1924, S. 18ff. Die positive Zusammenarbeit von Hörsing und Severing gegenüber Müller betont auch Toury 1997, S. 77. Ferner zwei Schreiben Müllers vom 16.11. u. 5.12.23, beide in: Hürten (Hg.) 1980, S. 139ff. (Dok. 88) u. 183f. (Dok. 127). Hierin schildert Müller seine Auffassung über die rechtliche Lage im Ausnahmezustand und Hörsings vermeintliches Fehlverhalten. 18 Zur Vereinigung Republik bereits oben. Die Hilfspolizisten übernahmen in Hamburg keine eigentlichen Kampfeinsätze, sondern übten Hilfsaufgaben aus, sodass die kasernierte Polizei für die Kämpfe frei wurde. Auch Schützinger hob hervor, dass Hilfskräfte nicht primär für Kampfeinsätze gedacht waren, da sich „auf diesem Gebiete nicht von Laien improvisieren“ lasse und einer Hilfspolizei die Hilfsaufgaben zugeteilt werden müssten, was offensive militärische Aktion aber nicht grundsätzlich ausschließe (vgl. Schützinger, Kampfbrevier 1924, S. 63–80. Die dortigen Skizzen beschreiben u.a. den Ablauf eines Anmarsches, einer Räumung, einer Abriegelung und eines Angriffes auf eine befestigte Stellung).

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treter des Reichsbundes auf den Einsatz einer um republikanische Hilfspolizisten verstärkten Polizei gegen die Rechtsputschisten drängten und nicht bereit waren, dem Militär ihr Schicksal in die Hand zu geben. Reichsexekutionen gegen Sachsen, Thüringen – und Bayern? Dass ein blindes Vertrauen auf die republikanische Zuverlässigkeit des Militärs keineswegs gerechtfertigt war, bewies Otto von Lossow, der Befehlshaber des Wehrkreises VII (München). Er verweigerte der Reichsregierung offen den Gehorsam, als diese von ihm im Oktober ein Vorgehen gegen die bayerischen Amtsträger verlangt hatte, was – man muss es eigentlich nicht gesondert betonen – ein erneuter Fall von Hochverrat war. Dies führte dazu, dass der Reichsregierung keinerlei Machtmittel mehr übrigblieben, um der Reichsverfassung in Bayern Geltung zu verschaffen. Lossows Meuterei ereignete sich am 18. Oktober. Am 29. Oktober versetzte Müller der Republik einen weiteren schweren Schlag, als er die demokratisch gewählte sächsische Regierung unter Erich Zeigner (SPD) gewaltsam absetzte und rund eine Woche später auch die thüringische Regierung unter August Frölich (SPD). In beiden Ländern war die SPD eine Koalition mit der KPD eingegangen, wobei die personelle Beteiligung der KPD jeweils nur wenige Tage gedauert hatte. Anders als in Bayern hatte es in Sachsen und Thüringen aber (noch) keinen offenen Bruch mit der Reichsverfassung oder andere Verfehlungen der Länder gegenüber dem Reich gegeben, sodass die von höchsten Stellen abgesegnete und von Militär durchgeführten Reichsexekutionen juristisch fragwürdig blieben.19 Das aus Sicht der Militärs Ausschlag gebende Argument für die Reichsexekution in Sachsen, war die Bildung von sogenannten Proletarischen Hundertschaften aus Anhängern der Arbeiterparteien, die teilweise bewaffnet und von der Regierung Zeigerns als Verstärkung der sächsischen Polizei aufgebaut wurden.20 Die Parallele zur Republikanischen Notwehr in der preußischen Provinz Sachsen ist offensichtlich. Aus der Sicht der Unterstützer Müllers war die vorwiegend aus Sozialdemokraten bestehende Republikanische Notwehr den Proletarischen Hundertschaften gleichgestellt und wurde als eine „revolutionäre“ Bedrohung gese-

19 Siehe Mühlhausen 2007, Kap. 14, Kachel 2011, Kap. 2.3 u. Pohl 2015, S. 227ff. 20 Hierzu Unger 2005, S. 131ff. Zeigners Hauptmotiv bei der Bildung der Hundertschaften war offenbar das Schutzbedürfnis gegen Übergriffe rechter Wehrverbände und insbesondere der Schwarzen Reichswehr. So forderte er von Severing noch kurz vor seiner Absetzung Material über die Tätigkeit der Schwarzen Reichswehr an (siehe Schreiben Zeigners an Severing vom 27.9.24, in: FES, NL Carl Severing, 1/CSAB, Mappe 226). Das Schreiben belegt das Engagement Schützingers für die Regierung Zeigner, der den Plan verfolgte, die Hundertschaften in eine reguläre sächsische Hilfspolizei umzuwandeln. Zu den Thüringer Selbstschutzformationen siehe Oberesch 1992, S. 91ff. Zu den Proletarischen Hundertschaften ferner: Hürten (Hg.) 1980, u.a. S. 26f. (Dok. 11).

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hen.21 Die politische Haltung der Republikanischen Notwehr unter Höltermann und Hörsing war freilich nicht „revolutionär“, sondern republikanisch. Severing hatte bereits im Mai 1923, also parallel zum ersten öffentlichen Auftritt der Republikanischen Notwehr, alle Proletarischen Hundertschaften in Preußen verboten, was mit ihrer vermeintlichen Nähe zur KPD begründet wurde. Ob die Proletarischen Hundertschaften aber tatsächlich Instrumente des „revolutionären Klassenkampfes“ gewesen sind, muss mindestens angesichts der späteren Entwicklungen angezweifelt werden. Die Propaganda der KPD und auch der Rechtsradikalen bemühte sich nach Kräften, dieses Bild über die Proletarischen Hundertschaften zu verbreiten, was deren Bewertung in der Forschungsliteratur wesentlich bestimmen sollte.22 Tatsache ist, dass sich nach der Gründung des Reichsbanners zahlreiche ehemalige Mitglieder und Formationen der verbotenen Proletarischen Hundertschaften dem Republikanerbund anschlossen und somit auf eine Verteidigung der Republik festlegten. Unabhängig von den Absichten der Kommunisten waren die einfachen Mitglieder der Proletarischen Hundertschaften und eine wohl nicht geringe Anzahl der Führer nicht an „revolutionären“ Aktionen, sondern vor allem am proletarischen und republikanischen Selbstschutz interessiert. Innerhalb des Reichsbanners tat man sich später schwer, die organisationsgeschichtliche Erbschaft der Proletarischen Hundertschaften anzuerkennen, was wohl an der republikfeindlichen Propaganda für bzw. gegen die Hundertschaften lag. Anerkannt wurde diese Erbschaft im Falle des sächsischen Reichsbanners trotzdem. In der RBZ wurden der Republikanische Führerbund, der RRB und die Hundertschaften, die 1923 immerhin 15.000 Mitglieder in Sachsen umfassten, als gleichberechtigte Vorläufer des sächsischen Reichsbanners aufgeführt.23 Insgesamt überwogen vor allem im Reichsbund die Stimmen, die eine Kooperation von Sozialdemokraten mit Kommunisten im Rahmen der Proletarischen Hundertschaften klar ablehnten. Selbst der Mitteldeutsche Landesverband des RRB verlangte keineswegs eine Aufrechterhaltung der Hundertschaften, wohl aber den Einsatz einer entschieden republikanischen Hilfstruppe. In einem gemeinsamen Schreiben der RRB-Landesverbände von Südwest- und von Mitteldeutschland an Ebert forderten die Unterzeichner, dass sich der Reichspräsidenten für den Einsatz der Reichswehr gegen die meuternden Truppen in Bayern einsetze. Die Reichswehr und die Schupo seien durch verfassungstreue Bürger zu verstärken, die vornehmlich aus den (Freien) Gewerkschaften entnommen werden 21 Toury belegt hingegen, dass auch bürgerliche Kreise die Bildung der Republikanischen Notwehr begrüßten und deren Versammlungsschutz in Anspruch nahmen (siehe Toury 1997, S. 76f.). 22 Voigt betont in Abgrenzung hierzu die Führungsrolle der Sozialdemokratie in den Proletarischen Hundertschaften Sachsens und Thüringens, die eine „De-Facto Hilfspolizei“ mit Ordnungsfunktion dargestellt hätten (siehe Voigt 2009, S. 83–95). 23 Siehe „Vorläufer des Reichsbanners. Teil 2“, in RBZ Nr. 10/1929 vom 9.3. sowie Voigt 2009, S. 84f. Für Thüringen nannte die RBZ als Vorläufer des Thüringer Reichsbanners einen sozialdemokratischen „Republikanischen Selbstschutz“, der im November 1923 als Hilfspolizei zur Verfügung gestanden habe, aber aufgrund der Reichsexekution nicht zum Einsatz kam (vgl. „Vorläufer des Reichsbanners. Teil 2“, in RBZ Nr. 10/1929 vom 9.3.).

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sollten, um das weitere Eindringen reaktionärer Elemente in die Reichswehr zu verhindern. Diese Aktion müsse im Geheimen vor sich gehen, bis die bayerischthüringische Grenze effektiv besetzt werden könne. Dann erst solle Ebert mit einem offiziellen Aufruf zum Schutz der Republik an die Öffentlichkeit treten.24 Diese Anregungen wurden nicht umgesetzt, da sich die Reichsregierung nach dem Zusammenbruch des Hitler-Putsches nicht gegen ein gewaltsames Vorgehen gegen die weiterhin verfassungswidrig agierende Regierung Bayerns entschließen konnte. Für die Republikaner bedeutete dies eine Niederlage, der sie notgedrungen zusehen mussten. Was aber war der Grund für das offensichtliche Zurückweichen gegenüber den autoritären Kräften und vor allem den Militärs? Der hessische Polizeihauptmann Karl Heinrich (SPD u. RRB) fand hierauf eine klare Antwort, welche die wesentlichsten Ideen der Reichsbannergründung vorwegnahm, ohne dass Heinrich zum eigentlichen Magdeburger Gründerkreis um Hörsing zu zählen wäre. In zwei Briefen, die er an den bayerischen SPD-Führer Erhardt Auer und an Haenisch richtete, führte Heinrich aus, dass für ihn das Grundproblem der aktuellen politischen Situation das „ungesunde“ Verhältnis der Sozialdemokratie zur deutschen Nation sei. Der grundfalsch verstandene und geführte Klassenkampf von „Provinzagitatoren“ – Heinrich lässt offen, wen er konkret meint, aber seine Anspielung betrifft wohl in erster Linie Zeigner – habe auf der Gegenseite eine „geschlossene Kampffront der bürgerlichen Welt“ erzeugt, der die Sozialdemokratie zwangsläufig unterlegen müsse. Im Ergebnis drohe die Republik durch den Machtverlust der SPD „einseitig kapitalistisch zu verkommen“, was sogar noch bedenklicher als die mögliche Wiedereinführung der Monarchie sei. Die Verantwortung trügen eindeutig jene Republikaner, die lieber in „typisch deutscher Art“ ihre Sonderinteressen verteidigen würden als entschlossen zur Republik und zum Parlamentarismus zu stehen. Wenn nun die Reaktion den Parlamentarismus „zu einer Farce herabwürdige“, könne man sich nicht wundern, wenn die republikanische Jugend dies mit Verbitterung ansehe und das Vertrauen in ihre Führer und die Möglichkeit einer friedlichen Lösung der gesellschaftlichen Konflikte verliere. Die Jugend, egal ob rechts oder links, sei dieses zermürbenden Kampfes überdrüssig und verlange eine „befreiende Tat“, die ihr bislang nur der Rechtsradikalismus anbieten könne. Damit die Jugend für den Kampf um die Republik begeistert werden könne, müsse man ihr ein nationales und kein internationales Ziel vorgeben, wobei Heinrich klarstellt, dass er ein nationales Ziel ohne Chauvinismus im Sinne eines gesunden Weltbürgertums meine. Die „Entfesselung eines nationalen republikanischen Geistes“ werde sehr rasch mit dem „Spuk der Reaktion“ aufräumen, so Heinrich. Der RRB müsse in diesem Sinne auf die Jugend einwirken, die jenseits der republikanischen Parteien zum Vaterland herangeführt werden müsse. Selbst wenn die SPD über diese Frage zerfalle, müsse das Interesse des Vaterlandes höhergestellt werden. Diese Interessen müssten mit „geistigen Waffen“ verteidigt werden, um einen Bürgerkrieg abzuwenden und eine echte „deutsche Schicksalsgemeinschaft“ zu errichten. Der Sozialismus sei stark genug, auch diese Entwicklung auszuhalten und die SPD werde schlimmstenfalls nach 24 Vgl. Schreiben des RRB an Ebert vom 5.11.23, in: BArch N2104/471, Bl. 52.

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einem Zerfall neu erstehen müssen. Gleichzeitig macht Heinrich klar, dass die Anhänger der Republik den Niedergang des republikanischen Gedankens nicht kampflos mitansehen dürften. Sollte eine neue Betonung des nationalen Gedankens von Seiten der Republikaner nicht ausreichen, müsse man bereit sein, gegen die Erniedrigung der Republik auf die Barrikaden zu gehen, um wie 1848 sein Leben für die Freiheit zu opfern. Noch könne der RRB den Ausbruch eines offenen Kampfes aber abwenden, wenn er zu einer Sammlung aller republikanisch gesinnten Kräfte mit einem öffentlichen Aufruf beitrage und in diesem Sinne auf Ebert und den Reichstag einwirke.25 Severings Kampf um das Gewaltmonopol Wie wir wissen, wurde Heinrichs Idee einer nationalrepublikanischen Sammlungsbewegung mit der Gründung des Reichsbanners nur wenige Wochen später, am 22. Februar 1924, umgesetzt.26 Während Haenisch, Heinrich, Höltermann und Hörsing sich alle sehr rege an diesem Projekt beteiligten und auch Ebert dem Reichsbanner wohlwollend gegenüberstand, fehlte (bis 1927) ein wichtiger Name auf der Unterstützerliste des Reichsbanners: Carl Severing.27 Das Reichsbanner verstand sich als Verein zur Organisation eines republikanischen Personalersatzes für die Polizei und die Reichswehr und in diesem Sinne als (potentielle) Hilfspolizei bzw. Hilfstruppe, welche die Republik gegen Putschversuche von rechts und links verteidigen wollte.28 Nun war Severing zwar ein entschiedener Republikaner, wie uns bereits seine Unterschrift auf dem RRB-Gründungsaufruf und sein 25 Vgl. Schreiben Heinrichs an Auer vom 30.12.23 u. Heinrichs an Haenisch vom 31.12.23, in: BArch N2104/471, Bl. 75ff. Toury merkt an, dass Heinrichs Sprachgebrauch Parallelen zu den Sammlungsparolen linksliberaler Kreise um die Zeitschrift Die Hilfe aufweist (siehe Toury 1997, S. 86f.). Ferner Erler 2007, S. 13ff. Heinrich begann seine Polizeikarriere, die ihn später nach Berlin führen sollte, in der preußischen Provinz Hessen-Nassau. 26 In seinen Memoiren macht Wilhelm Dittmann (SPD, zeitweise USPD) die Aussage, dass die Gründung des Reichsbanners aufgrund einer Initiative des SPD-PV erfolgte, für den Dittmann 1924 als Sekretär gearbeitet hatte (siehe Dittmann 1995, S. 878). Laut Rohe und (darauf aufbauend) Adolph soll die Gründungsidee von Otto Wels gestammt haben, der wiederum Hörsing hiervon überzeugt habe. Beide stützen sich auf Aussagen Stampfers und Neidhardts (siehe Rohe 1966, S. 44–55 u. Adolph 1971, S. 174). Diese Darstellung mag insofern stimmen, als dass die Gründung des Reichsbanners selbstverständlich in Absprache mit den Parteivorständen der SPD und DDP erfolgte. Daraus aber eine Art „Einsatzbefehl“ für Hörsing abzuleiten, würde die zahlreichen lokalen Vorarbeiten verkennen, die nicht nur in Magdeburg ohne Zutun der SPD-Parteileitung geleistet wurden und der Parteizentrale mehr Bedeutung zumessen als ihr nach Lage der Dinge zusteht (so bereits Toury 1997, S. 69). Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass die Idee einer überparteilichen Sammlung aller republikanischen Selbstschutzorganisationen im Reichsbanner vom Gründerkreis um Hörsing und Höltermann ausging, was durch Aussagen von Gustav Ferl und Ernst Lemmer bestätigt wird (siehe Adolph 1971, S. 174, Anm. 253 u. Lemmer 1968, S. 71f.). 27 Siehe Dokumentenanhang Nr. 4. 28 Siehe u.a. der entsprechende Paragraph 2 der Satzung (siehe RB-Satzung 1931 oder die Satzung von 1924, in: BArch R43I/767, Bl. 3).

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Einsatz für die Republikanische Notwehr gezeigt haben sollte, aber er war auch ein vorsichtig abwägender Innenpolitiker.29 Severing wusste, dass das Konzept der Hilfspolizei ein hohes Risiko für das staatliche Gewaltmonopol barg. Ferner war die Realisierung des Konzeptes mit nicht unbeträchtlichen organisatorischen Problemen behaftet, so vor allem auf dem Gebiet der Finanzierung und Einsatzleitung.30 Aber Severing stand der Idee einer republikanischen Hilfspolizei trotzdem nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, sondern war bereit, in extremen Notfällen auf Hilfspolizisten zurückzugreifen. Er unterstützte 1923 sogar die Idee einer überparteilichen Republikschutz-Organisation, wobei Severing wie auch Hörsing ein Zusammengehen von Sozialdemokraten und Kommunisten strikt ablehnte und für die Erweiterung der (Weimarer) Reichsbanner-Koalition um die DVP eintrat. Blicken wir zurück auf den Kontext dieser Idee: den Ruhrkampf.31 1923 bestand mit der Schupo ein funktionierender Polizeikörper in der Hand des preußischen Innenministers, der aber im Zuge der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen ab Januar 1923 nicht mehr in weiten Teilen Rheinpreußens eingesetzt werden konnte, was für die örtliche Sicherheitslage schwere Folgen hatte. Der Staatskommissar für das besetzte Gebiet Ernst Mehlich (SPD) berichtete Severing, dass die Ausweisung der Schupo durch die Besatzer zu einem Machtvakuum geführt habe, welches von den Kommunisten zur Bildung Proletarischer Hundertschaften genutzt werde. Die Besatzer würden diese Aktivitäten tolerieren, so Mehlich. Aus Eigeninitiative heraus hätten sich aber Selbstschutzorganisationen gebildet, die vielerorts einen notdürftigen Ersatz für die Polizei darstellen würden. In Gelsenkirchen sei es bereits zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen kommunistischen Hundertschaften und Selbstschutzverbänden gekommen. Mehlich forderte daher von Severing die Unterstützung der Selbstschutzverbände und „drakonische Maßnahmen“ gegen die Hundertschaften, um weiteren Zusammenstößen und damit einer Radikalisierung der Arbeiterschaft vorzubeugen. Severing teilte die Einschätzung, dass klare Maßnahmen gegen die Proletarischen Hundertschaften getroffen werden müssten, damit die parallellaufenden Bemühungen zur Bekämpfung der rechten Wehrverbände nicht unterlaufen würden. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, so Severing, dass die preußische Regierung nach Links Milde walten lasse, während sie Rechts hart zugreife. Zur örtlichen Bekämpfung der Proletarischen Hundertschaften mahnte Severing die Bildung eines „Ordnerdienstes“ durch die Parteien der preußischen Koalition (SPD, DDP, Zentrum und DVP) an, der mangels polizeilicher Alternativen die Sicherheit im besetzten Gebiet wieder herstellen müsse, was mit der Bildung der rheinischen Hilfspolizei realisiert wurde.32 29 Siehe Alexander 1992, insb. die allgemeinen Einordnungen auf S. 11ff. u. 257ff. 30 Hierzu unten ausführlicher. 31 Zu Severings Haltung gegenüber Hilfspolizeikonzepten: Toury 1997, insb. S. 46ff. Dort auch zu Severings Haltung in Bezug auf republikanische Wehren im östlichen Grenzgebiet, die er ebenfalls unterstützte. 32 Vgl. Schreiben Mehlichs an Severing vom 22.3.23 u. Schreiben Severings an Mehlich vom 29.3.23, in: FES, NL Carl Severing, 1/CSAB, Mappe 104, Bl. 120f. Zur „Ersatzpolizei“ im Ruhrgebiet 1923 ebenfalls: Schmidt 2008, S. 81–92 u. 168ff., der der rheinischen Hilfspolizei

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Mehlich war nicht der Einzige, der eine entschlossene Antwort der republikanischen Staatsorgane auf die anhaltende Unruhe verlangte und demgegenüber Severing seinen Willen ausdrückte, auch die DVP zum Schutz der Republik heranziehen zu wollen. Der preußische Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff (DDP) zeige sich ebenfalls besorgt über die anhaltende öffentliche Debatte um einen drohenden Bürgerkrieg und zu befürchtende Putschversuche der KPD. Aus diesem Grund regte er im Namen der DDP bei Severing die Bildung einer „Abwehrorganisation“ an, die – und hier trafen sich die Vorstellungen von Severing und Höpker-Aschoff – aus den Parteien der preußischen Koalition hervorgehen müsse. Er habe aber die Befürchtung, dass die DVP und die SPD ein solches Zusammengehen ablehnen würden. Dennoch dürfe man nicht untätig bleiben. Bis zur Bildung einer solchen Abwehrorganisation müsse die Polizei durch verfassungstreue Bürger verstärkt werden, also insbesondere durch Beamte und Mitglieder der Freien Gewerkschaften, was auf der Verwaltungsebene in enger Kooperation mit den Regierungspräsidenten erfolgen könne, so Höpker-Aschoff. In seinem Antwortschreiben stimmte Severing diesen Plänen grundsätzlich zu und versprach die Anregungen Höpker-Aschoffs auf der nächsten Sitzung des interfraktionellen Ausschusses vorzutragen. Zur Beruhigung führte Severing aber gleichzeitig an, dass die KPD sich bisher als „kraftlos“ erwiesen habe und ein Bürgerkrieg nicht zu befürchten sei. Auch habe er bereits Maßnahmen zur Auffüllung der Schupo durchgeführt. Die Verstärkung durch Hilfspolizisten sei in Preußen aber nur in gefährdeten Städten erfolgt.33 Aber nicht nur aus den Reihen der SPD und der DDP wurde von Severing eine eindeutige Linie in Bezug auf die Frage der Hilfspolizei gefordert. Gegenüber dem hessischen Innenminister Otto von Brentano di Tremezzo (Zentrum) stellte Severing klar, dass er sog. „Abwehrhundertschaften“ der SPD, die auch im Volksstaat Hessen gegründet worden waren,34 in Preußen nicht anders behandeln werde als die Wehrverbände der Rechten und folglich jegliche Amtsanmaßung von dieser Seite bekämpfen werde.35 Die Unterstützung der Regierung und ihrer Sicherheitsorgane durch verfassungstreue Bürger begrüße er und es sei durchaus erwünscht, wenn die verfassungstreuen Parteien, also einschließlich der DVP, geeignete Bürger für die Auffüllung der Sicherheitsorgane mustern würden, deren eine republikanische, gewerkschaftsnahe Ausrichtung bescheinigt, wobei die Hilfspolizisten später mehrheitlich in die reguläre Polizei übernommen wurden. 33 Vgl. Schreiben Höpker-Aschoffs an Severing vom 21.7.23 u. Schreiben Severings an HöpkerAschoff vom 29.8.23, in: FES, NL Carl Severing, 1/CSAB, Mappe 107, Bl. 149f. 34 In Hessen existierte vor der Gründung des Reichsbanners ein Sozialdemokratischer Ordnerdienst (SOD) mit etwa 1.000 Mitgliedern, die den Saal- und Versammlungsschutz der Partei übernahmen sowie für besonders gefährdete SPD-Politiker wie Scheidemann einen Personenschutz organisierten. Zudem verfügte der SOD bereits über einen Nachrichtendienst, mittels dessen die rechten Wehrverbände und insbesondere die Schwarze Reichswehr überwacht wurde (vgl. „Vorläufer des Reichsbanners. Teil 1“, in: RBZ Nr. 8/1929 vom 23.2.). 35 Bezeichnenderweise wurde die rheinische Hilfspolizei Severings von Rechtskreisen und der Reichswehr als „verkappte sozialistische Hundertschaften“ bezeichnet (siehe Schmidt 2008, S. 88).

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Einsatz aber ausschließlich unter der Aufsicht und aufgrund von Anweisungen der staatlichen Organe zu erfolgen habe.36 Severings Worte mögen selbstverständlich klingen. Sie sind es aber keineswegs. Nicht nur die Aushöhlung des Parlamentarismus musste 1923 jeder Republikaner mitansehen und beklagen, sondern auch die Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols. Die DVP nahm in diesem Konflikt eine Zwischenrolle ein, da sie einerseits in Preußen und für einige Monate auch im Reich eine Koalition mit der SPD eingegangen war, andererseits aber zur Verfassung ein zwiespältiges Verhältnis pflegte und auch bereit war, rechtsradikale, antisozialdemokratisch gesinnte Wehrverbände wie den Stahlhelm zu unterstützten. Wenn Severing also eine Beteiligung der DVP an handfesten Maßnahmen zum Schutz der Republik vor drohenden Putschversuchen forderte, so war dies eher ein beschwörender Appell als tatsächlich realisierbare Politik. Während die Anhänger der DDP sich, wie wir gesehen haben, vorbehaltlos im Rahmen von überparteilichen Organisationen wie dem Führerbund und dem Reichsbund engagierten, war das Zentrum immerhin teilweise beteiligt. Vertreter der DVP hingegen waren durchweg nur auf der Gegenseite der rechten Wehrverbände zu finden,37 die ihrerseits an einer Kooperation mit der Polizei nicht interessiert waren, sondern Anschluss an die Reichswehr suchten. Aufgrund des verlorenen Ruhrkampfes hatte die aus dieser Kooperation heraus entstandene Schwarze Reichswehr einen erheblichen Auftrieb erlebt. Eine Vielzahl an rechten und rechtsradikalen Wehrverbänden war in der Regel unabhängig voneinander mit lokalen Abteilungen der Reichswehr eine nichtöffentliche Kooperation eingegangen. Sie hatten für die Reichswehr ein Mitgliederreservoir zu organisieren und auszubilden, welches im Falle von militärischen Auseinandersetzungen der Armee rasch Soldaten bereitstellen sollte. Wir wissen bereits von den Auseinandersetzungen um den Republikanischen Führerbund, dass republikanische Kräfte spätestens seit dem Kapp-Putsch aus der Armee aussortiert worden waren. Es sollte daher nicht überraschen, dass von den zahlreichen Wehrverbänden der Schwarzen Reichswehr kein einziger republikanisch eingestellt war. Offiziell gab es die Schwarze Reichswehr nicht und mehrere hundert Personen, die das Gegenteil behauptet hatten oder auch nur die Aktionen der Schwarzen Reichswehr zufällig beobachteten, waren von Angehörigen der Schwarzen Reichswehr kurzerhand ermordet worden. Diese Fememorde waren wohlorganisiert und ihre juristische Aufarbeitung wurde in den 1920ern aus politischen Motiven bewusst verschleppt. Die Schwarze Reichswehr war somit genau das, was republikanische Politiker und Aktivisten seit 1919 hatten verhindern wollen. Eine Ansammlung von privaten Gewaltorganisationen, die wenn überhaupt nur lose 36 Vgl. Schreiben Brentano di Tremezzo an Severing vom 30.8.23 u. Schreiben Severings an Brentano di Tremezzo vom 17.9.23, in: FES, NL Carl Severing, 1/CSAB, Mappe 109, Bl. 122f. 37 Hierzu etwa die diversen Äußerungen über den Stahlhelm und den Jungdeutschen Orden in den DVP-Führungsgremien (siehe Kolb/Richter (Hg.) 1999). Es ist nicht bekannt, dass DVPAnhänger als Hilfspolizisten rekrutiert worden wären.

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vom Staat kontrolliert werden konnte und deren Mitglieder eine konstante, ernste Bedrohung für die Republik und ihre Bürger waren.38 Severings Strategie gegenüber diesen Verbänden war – wenn schon kein generelles Verbot der Schwarzen Reichswehr, deren Existenz ohnehin geleugnet wurde, gegen den Willen der Reichswehrführung und Reichsregierung durchgesetzt werden konnte – ihren Einsatz im Landesinneren gegen politische motivierte Aufstände zu verhindern, indem die Landespolizei die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit allein in die Hand nahm. Ein Problem war hierbei der Personalersatz und die allgemeine Mannstärke der Polizei, die durch die Rüstungsauflagen des Versailler Vertrag deutlich unter dem eigentlichen Bedarf lag. Mit dem Konzept der Hilfspolizei sollte dieses Problem in extremen Notsituationen abgeschwächt werden. Hinzu kam, dass die Landespolizei über die nötige Ausrüstung und Bewaffnung verfügen musste, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Severing pochte gegenüber dem Reichswehrminister Geßler darauf, dass Waffenbestände nicht allein im Rahmen des Landesschutzes und damit in Reichweite der Schwarzen Reichswehr gelagert werden sollten, sondern der Polizei zu übergeben waren. Dieser stand laut VvV neben ihrer üblichen Bewaffnung eine Reserve von 50.000 Gewehren zu. Severing forderte Geßler dazu auf, dass diese Reserve der Polizei von der Reichswehr auch tatsächlich übergeben werden müsse und nicht wie bislang in den unkontrollierten Depots der Schwarzen Reichswehr gelagert werde. Wenn die Wehrkreiskommandos diese Waffen den jeweiligen Oberpräsidenten als obersten Polizeiherren für ihre Provinzen übergeben würden, würde die Polizei für eine angemessene Bewachung dieser Bestände durch verfassungstreue Bürger sorgen.39 Zwar blieb die vielfältige, meist verdeckte Zusammenarbeit der Reichswehr mit den rechten Wehrverbänden auch in den folgenden Jahren eine Tatsache, aber es gelang Severing und anderen Verantwortlichen nach den Revolutionsjahren, die Polizei wieder zum Hauptverantwortlichen für die innere Sicherheit zu machen. Die Polizeikräfte unterlagen wie gesagt zwar ebenfalls den Bestimmungen des VvV und auch die Schupo erlebte regelmäßige Besuche der Interalliierten Militär-Kontrollkommission, welche die Nichtverwendbarkeit der Polizei für den Kriegsfall weitgehend sicherstellte. Aber hinsichtlich ihrer Bewaffnung, Organisation und Motorisierung war die Schupo keineswegs unzureichend aufgestellt, 38 Zur Schwarzen Reichswehr: Sauer 2004 u. Bergien 2012. Die Schwarze Reichswehr war in ihren Ansätzen bereits seit der Amtszeit Joseph Wirths ausgebaut worden, um in den Grenzkonflikten mit Polen eingesetzt zu werden (siehe Hörster-Philipps 1998, Hitze 2002, S. 403ff. u. Bergien 2012, S. 114ff. Zu Geßlers Rolle in dieser Frage ferner: Möllers 1998, S. 146ff.). 39 Vgl. Schreiben Severings an Geßler vom 9.5.23, in: FES, NL Otto Braun, 1/OBAA, Box 7, Mappe 1. Dort weiteres Material über die illegale Kooperation der Reichswehr mit rechten Wehrverbänden. Ferner zu Severings Bemühungen gegen die Schwarze Reichswehr: Bergien 2012, S. 127f. Ob Bergiens Wortschöpfung („republikanischer Bellizismus“) in Bezug auf Severings Politik angebracht ist, sei einmal dahingestellt, da es Severing schließlich nicht darum ging, die staatlichen Machtmittel für einen äußeren Konflikt („Bellum“) zu stärken, sondern das innere, staatliche Gewaltmonopol mittels einer Stärkung der Polizeikräfte zu verteidigen.

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um Unruhen oder Aufstände zu bekämpfen.40 Der hauptsächliche Schwachpunkt der Polizei blieb lediglich das Personal, welches in Krisensituationen mittels einer Hilfspolizei aber relativ schnell gelöst werden konnte. Freilich war auch Republikanern im Reichsbanner nicht daran gelegen, eine „Massenarmee“ aus Hilfspolizisten heranzuziehen, die auch für Kriegseinsätze hätte missbraucht werden können. Vielmehr stellte Schützinger bereits 1924 klar, dass die Reform der Reichswehr und eine ausreichende Ausstattung der Schupo immer Vorrang gegenüber Hilfspolizeiplänen hätten, da ein drohender Bürgerkrieg ohnehin nicht mit Hunderttausenden, sondern wahrscheinlich nur mit kleinen, beweglichen Verbänden von wenigen Zehntausend gekämpft werde und einer Hilfspolizei in einem solchen Konflikt höchstens unterstützende Aufgaben zukommen würden.41 Das Jahr 1923 hatte sogar gezeigt, dass lokal schon wenige hundert Hilfspolizisten einen großen Unterschied für die Sicherheitslage machen konnten. Severing konnte sich sicher sein, dass er dieses Hilfspersonal praktisch sofort aus dem Reichsbanner rekrutieren konnte. Die Entscheidung darüber, ob es zur erneuten Bildung einer Hilfspolizei kam, blieb ihm und den anderen Innenministern überlassen. Severings Widerstand gegen die Reichsbannergründung Im Frühjahr 1924 schienen zentrale Probleme der preußischen Landespolizei bereits gelöst zu sein. Die Waffenbestände der Polizei waren ausreichend, um selbst eine größere Anzahl an Hilfspolizisten auszurüsten und mit dem Reichsbanner stand eine reichsweite Organisation für die Rekrutierung von Hilfspolizisten bereit, was der Schupo und Severing von Seiten der Reichsbannerführung auch öffentlich angeboten wurde.42 Von besonderer Wichtigkeit war, dass es sich beim Reichsbanner um keine reine SPD-Organisation handelte, sondern es gelang, auch zahlreiche Deutschdemokraten und einzelne Zentrumspolitiker für eine Mitarbeit zu gewinnen. Insbesondere muss hervorgehoben werden, dass die Reichsbannerführung anfangs versuchte, auch Mitglieder der DVP zu gewinnen, was aber nach deutlichen Absagen von dieser Seite wieder aufgegeben werden musste.43 Seve40 Siehe hierzu für die sächsische Schupo: Unger 2005, S. 93–114. Auch Schmid stellt eine Konsolidierung der Polizeiarbeit im Ruhrgebiet in diesem Zeitraum fest (siehe Schmid 2008, S. 93–113). Liang urteilte sogar, dass die Berliner Polizei zwischen 1920 und 1925 immer „Herr der Lage“ gewesen sei (vgl. Liang 1977, S. 112ff.). 41 Vgl. Schützinger, Kampfbrevier 1924, S. 12ff. 42 So etwa in dem RBZ-Leitartikel „An die Gewehre!“, in: RBZ Nr. 23/1925 vom 1.12. oder dem Interview Hörsings mit der Chicago Daily Mail vom 20.9.24, in: BArch R43I/767, Bl. 49ff. 43 Zum Bemühen um die DVP: Vgl. Rohe 1966, S. 312f. Bereits Rohe stellt fest, dass das Reichsbanner erst nach der Zurückweisung durch die DVP diese Partei als gegnerisch eingestuft habe. So richtete sich der Wahlaufruf des Reichsbanners zur Reichstagswahl im Dezember explizit gegen KPD, DNVP und DVP (siehe RB-Wahlaufruf vom Dezember 1924, in: AfSG, Otto Landsberg Collection, Nr. 44). Aber noch im September 1924 hatte Hörsing geäußert, dass ggf. eine Koalition mit der DVP angestrebt werden solle (vgl. Interview Hörsings mit der Chicago Daily Mail vom 20.9.24, in: BArch R43I/767, Bl. 49ff.). Der RRB hingegen

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ring blieb jedoch skeptisch. Er lehnte einen Beitritt zum Reichsbanner ab und setzte sich für eine baldige Wiederauflösung des Bundes ein, wie er in einer Aussprache im preußischen Landtag im Herbst 1924 bekannt gab. Er habe dies in dem Glauben getan, dass die „anderen Parteien“, also DVP und DNVP, in gleicher Weise auf die ihnen nahestehenden Verbände einwirken würden, was bislang aber nicht erfolgt war. Während Abgeordnete der SPD und der DDP die Gründung des Reichsbanners als notwendig verteidigten, hielt Hans von Eynern (DVP) Severing vor, dass das Reichsbanner eine offensichtlich von der SPD gelenkte Organisation sei. Es sei klar, dass sich innerhalb der SPD der „radikale Hörsing-Flügel“ gegen die „mildere, staatsmännische Richtung“ Severings durchgesetzt habe.44 Die Worte von Eynerns kann man fast noch als gemäßigt auffassen, wenn man die systematische Propaganda der DVP und der DNVP gegen das Reichsbanner bedenkt. Vor allem der Reichstagsabgeordnete Fritz Geisler (ab 1924 DNVP, vormals DVP), tat sich mit mehreren Broschüren und einer Serie von Rednerversammlungen in diesem Kampf gegen das Reichsbanner hervor.45 Severings Appelle an die Parteien des rechten Bürgertums stießen auf taube Ohren, was ihn aber nur zögerlich dazu brachte, auch seinen Widerstand gegen das Reichsbanner aufzugeben.46 Er versuchte weiterhin, mäßigend auf das Reichsbanner und seine Mitglieder einzuwirken, indem er etwa auf einer Reichsbannerversammlung in Kiel davon sprach, dass das Reichsbanner keine politischen Funktionen wie früher die Selbstschutzorganisationen übernehmen dürfe. Diese hätten nach ihrer Organisation und nicht nach ihrer jeweiligen Satzung gelebt, die stets die Hoheit der Polizei anerkannten, während sich die Selbstschutzorganisationen sprach sich auf Reichsebene nicht gegen bestimmte Parteien aus, sondern warb für die Wiedererrichtung der Weimarer Koalition und eine europäische Verständigung (siehe „Wahlaufruf des RRB“ von Haenisch, Luppe und Preuß, in: VZ Nr. 509/1924 vom 25.10.), während der sächsische Landesverband offenbar bei der Maiwahl 1924 nur für die SPD geworben hatte (siehe ein entsprechendes Wahlplakat in: Lipp et al. (Hg.) 2010, S. 31). Die DVP ihrerseits pflegte eine klare Ablehnung des Reichsbanners, die sie auch in ihrem Wahlaufruf ausdrückte, worin es hieß, dass „Bannerparolen“ eine Gefahr der Überhebung und Verhetzung mit sich brächten. In diesem Kontext waren auf dem Reichsparteitag der DVP in Halle Mitglieder des Reichsbanners auch explizit nicht zugelassen (vgl. „Volkspartei und Schwarz-Rot-Gold“, in: Vorwärts Nr. 557/1924 vom 26.11.). Interessant ist auch die Äußerung Stresemanns, dass der geringe Wahlerfolg der DVP im Dezember 1924 auch auf die Agitation des Reichsbanners zurückzuführen sei, da hierdurch die bürgerlichen Wähler zu den radikalen Parteien getrieben würden (siehe Kolb/Richter (Hg.) 1999, S. 585 (Dok. 59)). Im Vergleich zur Maiwahl 1924 sank im Dezember der Stimmanteil der Nationalsozialisten aber deutlich, während DNVP und DVP leicht zulegen konnten, sodass Stresemanns These recht haltlos wirkt. 44 Vgl. „Severing als Schirmherr des Reichsbanners“, in: DAZ Nr. 472/1924 vom 7.10. u. „Der Streit um Severing“, in: BTB Nr. 478/1924 vom 8.10. 45 Hierzu unten ausführlich. 46 Die DVP-Führung hatte 1923 Severing für seine mäßigenden Worte an die eigenen Anhänger und sein Eintreten für die Große Koalition gelobt, was sie 1924 nicht davon abhielt, an der Verdrängung von Severing und dessen Partei aus der preußischen Koalition zu arbeiten (siehe Kolb/Richter (Hg.) 1999, S. 464ff. (Dok. 51) u. 517f. (Dok. 56)). Severing wurde auch aus den Reihen der DDP hierfür kritisiert, so etwa von Hugo Preuß (siehe Stalmann (Hg.) 2009, S. 756 (Dok. 439)).

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in der Realität Amtsaufgaben angemaßt hätten. Das Reichsbanner dürfe „kein anders gefärbter Stahlhelm“, „kein anders gefärbter Jungdeutscher Orden“ werden, sondern müsse eine „bessere, höhere“ Organisation werden, die die Verfassung mit Leben erfülle und für das Ansehen der Republik im Ausland kämpfen müsse. Die öffentliche Sicherheit könne die Polizei aber alleine besser gewährleisten.47 Man könnte Severings Worte auch so interpretieren, dass er das Reichsbanner für überflüssig hielt, während er eine rein zivilkulturelle Organisation wie den Reichsbund lebhaft begrüßte.48 Dies war eine Möglichkeit, mit den Ereignissen von 1923 umzugehen, die Severing bis zum erzwungenen Ende seiner Tätigkeit im preußischen Innenministerium am 20. Juli 1932 weitgehend durchhalten sollte. Er überschätzte die Bereitschaft der rechtsbürgerlichen Parteien, sich mit der republikanischen Verfassung zu arrangieren, war aber gleichzeitig nicht bereit, das Reichsbanner als Kampforganisation der Republik rückhaltlos zu bejahen. Es sollte den rechten Wehrverbänden kein Anlass geboten werden, um ihre Gewaltpolitik weiter fortzuführen. Die Strategie Severings gegenüber diesen Kräften war vielmehr, das staatliche Gewaltmonopol gegen alle Seiten zu verteidigen, um dem republikanischen Staat Respekt zu verschaffen. Er wusste, dass das Konzept der von Seiten des Reichsbanners propagierten Hilfspolizei zwar rein juristisch betrachtet verfassungstragend und republikanisch war, da Bürgern, die sich nicht zur Verfassung bekannten, die Aufnahme in eine Hilfspolizei untersagt war. Doch die entsprechenden Paragraphen waren in der Praxis bereits wiederholt unterlaufen worden, so beim Einsatz von Rechtsradikalen in den Freikorps ab 1919, aber auch beim Einsatz der Hilfspolizei im Freistaat Sachsen nach der Reichsexekution 1923.49 Der Dresdner Wehrkreiskommandant Müller hatte nach seiner Machtübernahme entschieden, dass die sächsische Landespolizei kein zuverlässiges Instrument für seine Vorstellungen von Ruhe und Ordnung sein könne. Wie bereits die Angehörigen des Führerbundes aus der Armee gedrängt worden waren, so wurden 1923 die Republikaner aus der sächsischen Landespolizei gedrängt. Das prominenteste Opfer dieser Säuberung ist für uns ein alter Bekannter: Hermann Schützinger. Schützinger wurde aufgrund seines Einsatzes für die Interessen der Republik erst in den Ruhestand versetzt, bis er schließlich aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Die Federführung für diese Umstrukturierung der Landespolizei lag im Reichswehrministerium bei einem Mann, der uns ebenfalls noch weiter beschäfti47 Vgl. „Die Kämpfer der Republik“, in: VZ Nr. 486/1924 vom 12.10. u. „Minister Severing für das Reichsbanner“, in: Vorwärts Nr. 483/1924 vom 13.10. Zitate aus dem Vorwärts. 48 Severing hatte bereits den Gründungaufruf des RRB von 1921 unterzeichnet. Wann sein Eintritt in den RRB-RA erfolgte, ist nicht bekannt (siehe Dokumentenanhang Nr. 5). 49 In Bayern wurde bereits mit der Organisation Escherich (kurz „Orgesch“) eine Notpolizei aufgebaut, deren Mitglieder stark nach rechts tendierten. Auch nach dem Verbot der Orgesch in Folge des Kapp-Putsches wurden rechtsradikale Ersatzorganisationen wie der Bund Bayern und Reich oder das sog. Notbann mit staatlicher Unterstützung gegründet (zur Orgesch: Posse 1931, S. 12–19. Zu den Ersatzorganisationen: Hürten (Hg.) 1980, S. 247ff. (Dok. 169) sowie Nußer 1973).

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gen wird, nämlich Major Kurt von Schleicher. Aber nicht nur auf der obersten Ebene der Polizeioffiziere wurden „unzuverlässige“ Elemente aussortiert. Müller ließ eine Hilfspolizei zusammenstellen, die versuchte, die reguläre Polizei zu verdrängen und deren Aufnahme in die Landespolizei eine der Bedingungen für die Wiederherstellung verfassungsmäßiger, parlamentarischer Verhältnisse in Sachsen war. Die wieder SPD-geführte Landesregierung schränkte jedoch die Überführung von Hilfspolizeibeamten durch hohe Einstellungskriterien teils erfolgreich ein.50 Severing musste diese Entwicklungen aufmerksam beobachtet haben und es ist anzunehmen, dass er dem Einsatz einer republikanischen Hilfspolizei auch deswegen skeptisch gegenüberstand, weil er den Konflikt mit der Reichswehrführung nicht verschärfen wollte und schlimmstenfalls den Rechtsparteien ein Argument für eine Reichsexekution gegen Preußen zur Hand gegeben hätte, wenn Severing das „sozialistische“ Reichsbanner zu den Waffen rufen sollte. Eine Reichsbanner-Hilfspolizei wäre somit in den Händen des preußischen Innenministers eher ein schwerer Schmiedehammer gewesen als ein Chirurgen-Skalpell, welches der diplomatische Severing wohl bevorzugt hätte.

50 Vgl. BArch R43I/2964. Dort die Auseinandersetzung über die Finanzierung der sächsischen Hilfspolizei, deren Subventionierung vom Reich abgelehnt wurde (Bl. 24ff.) sowie die personellen Konsequenzen wie das Ausscheiden Schützingers (Bl. 45ff.) und die Widerstände der sächsischen Landesregierung bei der Übernahme der Hilfspolizisten in die Landespolizei (Bl. 72–89). Ob Reichsinnenminister Jarres die Finanzierung der sächsischen Hilfspolizei aus Reichsmitteln nur aus finanziellen oder auch aus politischen Motiven heraus bekämpfte, bleibt unklar.

4. NATIONALREPUBLIKANISMUS. GRÜNDUNGSERFOLG DES REICHSBANNERS UND GEISTIGE GRUNDLAGE DER REPUBLIKANISCHEN BEWEGUNG Der ungemeine und auch von den Nationalsozialisten nicht wiederholte Organisationserfolg des Reichsbanners ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass es nach den Erfahrungen von 1923 einen enormen Bedarf nach einem Zusammenschluss aller wehrhaften Demokraten in der deutschen Bevölkerung gab.1 Dank der vielfältigen lokalen Vorarbeiten von republikanischen Aktivisten konnte das Reichsbanner zu seinem Gründungstag, dem 22. Februar 1924, bereits auf mehrere hunderttausend Mitglieder verfügen.2 Otto Hörsing berichtete im Herbst 1924 von dem weiteren Mitgliederwachstum des Bundes, dass seit dem ersten Großauftritt des Reichsbanners zum Verfassungstag am 10. August 1924, als reichsweit verbandseigenen Angaben gemäß 260.000 Mitglieder des Reichsbanners Demonstrationen und Veranstaltungen für die Verfassung und die Republik durchgeführt hatten. Das Reichsbanner sei im Schnitt um 32.000 Mitglieder bzw. 216 Ortsgruppen pro Woche gewachsen. Schon bald werde man drei Millionen Mitglieder im Bund versammelt haben, so Hörsing über die weiteren Aussichten des Bundes.3 Auch wenn diese Zahlen übertrieben sind, so muss festgestellt werden, dass selbst bei nur halb so viel Wachstum diese republikanische Welle von 1924 die braune Welle von 1930 bis 1932 weit übertraf. Die NSDAP konnte erst nach 1930 über hunderttausend Mitglieder organisieren.4 Die Grundidee dieses Erfolges war, wie es Schützinger schrieb, gegenüber den deutschen Nationalisten die „symbolische Oberhand“ zu erlangen und nicht länger folgenlose Protestveranstaltungen im Dunkeln abzuhalten. Öffentlichkeit und Emotionalität wurden bewusst gesucht, um insbesondere die unentschlossene Jugend, aber auch unpolitisch eingestellte 1

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Zum eigentlichen Gründungsprozess: Rohe 1966, S. 44ff. u. Toury 1997, insb. S. 80–92. Die Magdeburger „Gründerzelle“ des Reichsbanners bestand aus einer Gruppe von lokalen SPDGrößen um Hörsing und Höltermann sowie einzelnen bürgerlichen Republikanern. Siehe FZ vom 28.2.1924. Dort wird von über 500.000 Mitgliedern gesprochen. Vgl. „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und seine Gegner“ von Otto Hörsing, in: BTB Nr. 506/1924 vom 24.10. Paul Löbe nannte in einer Reichstagsrede die Zahl von 60 neuen OG pro Tag (siehe Vorwärts Nr. 267/1924 vom 8.6.). Zu den NS-Mitgliederzahlen: Kellerhof 2017, S. 171ff., der die Ungenauigkeit der parteieigenen Statistiken hervorhebt, da die tatsächliche Mitgliederanzahl keineswegs mit den vergebenen Mitgliedsnummern übereinstimme. Dass im Reichsbanner in ähnlicher Weise bei der Vergabe der Mitgliedernummern verfahren wurde, ist möglich, aber unwahrscheinlich, da sich in den Mitteilungen des BV in der RBZ über verlorene Mitgliedsbücher alle Zahlenkohorten beginnend mit zweistelligen Nummern und aufsteigend zu drei-, vier-, fünf-, sechs-, bis hin zu siebenstelligen Zahlenreihen finden. Sofern die RBZ in einer Volltextsuche verfügbar wäre, könnte die Mitgliederentwicklung des Reichsbanners an diesen verlorenen Mitgliedsbüchern rekonstruiert werden. Unzweifelhaft ist aber, dass das Reichsbanner über ein Vielfaches der tatsächlichen Mitgliederanzahl der NSDAP verfügte.

Nationalrepublikanismus und Reichsbannergründung

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Erwachsene für die Republik zu gewinnen.5 Als Organisation von ehemaligen Kriegsteilnehmern war die Mitgliedschaft im Reichsbanner logischerweise auf Männer beschränkt. Frauen sollten in dem militärisch geprägten Männerbund nur als Unterstützerinnen Platz haben, was damaligen Rollenvorstellungen entsprach. Durch die schrankenlos erscheinende Gewalt der Rechtsradikalen aufgeschreckt, waren die Mitglieder des Reichsbanners keinesfalls länger bereit, den politischen Ereignissen tatenlos ihren Lauf zu lassen. Organisatorische Aspekte der Gründung Die Furcht vor einem Bürgerkrieg war 1923/24 auch in der republikanischen Bevölkerung groß und angesichts der Putsche und täglichen Gewalttaten nicht unbegründet. Die Verbitterung über von Rechtsradikalen, Militärs und sogar regulären Polizeikräften begangene Gewalttaten wuchs. So führten die als „Blutsonntag von Halle“ bezeichneten Schießereien zwischen der Polizei und kommunistischen Demonstranten auch in verfassungstreuen Kreisen zu Protesten am Vorgehen der Polizei.6 Das Reichsbanner war auch ein Mittel, um diese Angst vor weiterer Eskalation und einem Bürgerkrieg zu organisieren und in konstruktive politische Bahnen zu lenken. Folgende Merkmale des Reichsbanners können wir als charakteristisch festhalten.7

Tabelle 3: Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold Name Mitgliedschaft Symbole / Sitz Aufgaben / Tätigkeiten

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Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Bund republikanischer Kriegsteilnehmer (später: Bund deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner) Ehemalige Kriegsteilnehmer, männliche Deutsche, jugendliche Republikaner Reichsadler, Farben Schwarz-Rot-Gold, Magdeburg „Wiederaufbau Deutschlands“, geistige und körperliche Jugendpflege, Sport, Demonstrationen, Abwehr von rechten wie linken Angriffen auf die Republik, Hilfe in Unglücks- und Katastrophenfällen, Kontakte zu ausländischen Bruderorganisationen

Vgl. Volkswacht für Schlesien Nr. 113/1924 vom 15.5. (in: BArch R1507/3063, Bl. 9). Hierzu Vorwärts Nr. 231/1924 vom 17.5. u. Schreiben Hörsings an Severing vom 13.5.24, in: BArch R1501/113561, Bl. 34. Allgemein zum Blutsonntag von Halle die Materialsammlung in: FES, NL Carl Severing, 1/CSAB, Mappe 114 sowie Schumann 2001, S. 203–210. Schumann betont ebenfalls, dass das Reichsbanner auch als Gegenreaktion auf solche Ereignisse gegründet wurde. Siehe RB-Bundessatzung 1931.

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Ausrichtung Organe Zahl Gliederung 8

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Nationalrepublikanisch, überparteilich, areligiös Das Reichsbanner (RBZ) und Illustrierte Reichsbanner Zeitung (später: Illustrierte Republikanische Zeitung, IRZ)8 sowie ab 1927 die Deutsche Republik9 Offiziell 3,5 Millionen,10 realistischer sind 1,5 Mio.11 31 Gaue12 sowie mehrere Ortsgruppen im Ausland13

Während die RBZ neben Artikeln und Notizen vor allem über Vereinsinterna berichtete, richtete sich die IRZ an ein wesentlich breiteres Publikum und enthielt neben Fotoserien, auch zahlreiche Reiseberichte und Auslandsreportagen. Offenbar wurde zeitweise vom BV überlegt, die beiden Zeitungen zusammenzulegen und diese neue Zeitung mit einer Abonnentenversicherung auszustatten, was jedoch beides nicht umgesetzt wurde (siehe die Stellungnahme des ADGB-Bundesausschusses vom 24./25.11.27, in: Kukuck/Schiffmann (Hg.) 1986, S. 998 (Dok. 176)). Die Deutsche Republik wurde von der Arbeitsgemeinschaft entschiedener Republik um die drei Reichsbannerehrenmitglieder Joseph Wirth, Paul Löbe und Ludwig Haas gegründet und gezielt in allen OG und der Vereinspresse beworben (siehe Schreiben Wirths an Hörsing vom 1.8.27, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19). Die Zeitung wurde von Wirth als staatspolitisch hochkarätige Ergänzung der RBZ und IRZ angepriesen und ist in diesem Sinne als RB-Organ aufzufassen, auch wenn hierin keine Vereinsnachrichten verbreitet wurden. Siehe Posse 1931, S. 65, Meyers Lexikon 1929, S. 88 (dort: 3,14 Mio. RB-Mitglieder 1928) und Der Große Brockhaus 1933, S. 525 (dort: 3,5 Mio. RB-Mitglieder 1932). Siehe Schreiben RKO an RIM vom 2.4.27, in: BArch R1501/125668j, Bl. 49f. Die Gaue gliederten sich wiederum in Kreise und OG. Neben dieser „politischen“ Gliederungsebene bestand parallel eine technische Gliederung in Bezirke, Abteilungen, Kameradschaften, Züge und Gruppen (vgl. Helmbold 1970, S. 39ff.). Ferner wurden 1931 die beiden Rheingaue zusammengelegt (hierzu Mintert 2002, S. 57ff.). Die Gaue samt Sitz der Gauleitung waren laut Helmbold 1970, S. 38: Baden (Mannheim), Brandenburg-Berlin (Berlin), Braunschweig (Braunschweig), Chemnitz (Chemnitz), Franken (Nürnberg), Groß-Thüringen (Weimar), Halle-Saale (Halle), Hamburg, Bremen, Nordhannover (Hamburg), Hannover (Hannover), Freistaat Hessen (Darmstadt), Hessen-Kassel (Kassel), Hessen-Nassau (Frankfurt a. M.), Leipzig (Leipzig), Magdeburg-Anhalt (Magdeburg), Mecklenburg-Lübeck (Rostock), Mittelschlesien (Breslau), Niederschlesien (Görlitz), Oberbayern-Schwaben (München), Oberpfalz u. Niederbayern (Regensburg), Oberschlesien (Hindenburg), Oldenburg, Ostfriesland, Osnabrück (Rüstingen), Östl. Westfalen (Bielefeld), Ostpreußen (Königsberg), Ostsachsen (Dresden), Pfalz (Ludwigshafen), Pommern (Stettin), Rheinprovinz (Düsseldorf), Schleswig-Holstein (Kiel), Westl. Westfalen (Dortmund), Württemberg-Hohen-zollern (Stuttgart), Zwickau (Zwickau). Wie Helmbold feststellte, orientierte sich die geographische Einteilung der Gaue an den Provinz- bzw. Ländergrenzen und den SPD-Partei-bezirken (vgl. ebd., S. 37), wobei man ergänzen muss, dass sich die SPD-Parteibezirke wiederum an Länder und Provinzgrenzen sowie den Wahlkreisen orientierten und die entsprechende Gliederung des Reichsbanners insofern nicht ausschließlich dem SPD-Parteiinteresse diente, wie mitunter behauptet wurde. Die Mitglieder der Auslandsgruppen des Reichsbanners gehörten i.d.R. der deutschsprachigen Diaspora oder Minderheit in ihrem Land an. Inhaltlich verfolgten die Gruppen vor allem zivilkulturelle Ziele, während gewaltkulturelle Aktivitäten nicht üblich waren. Die OG in Buenos Aires etwa veranstaltete Festlichkeiten, Ausflüge sowie Bildungskurse und hatte als größte außerdeutsche Reichsbannergruppe 80 Mitglieder, was verglichen mit anderen Vereinigungen von Auslandsdeutschen viel war. Geleitet wurde sie von Gottfried Hilger jr., dem Redakteur der deutschsprachigen Zeitung Argentinisches Tageblatt (vgl. „Schwarz-rotgoldene Wacht am La Plata“ von Oskar Teuscher, in: RBZ Nr. 52/1929 vom 28.12.). Aus-

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Die grundlegenden Parallelen zwischen dem Reichsbanner und dessen Vorläuferorganisationen lagen somit neben den personellen Überschneidungen vor allem in der politischen Ausrichtung des Bundes. Es gab deutliche Unterschiede was den Aufgabenbereich, die Mitgliedschaft, den Sitz und vor allem die Mitgliederzahl betraf. Die Ermittlung von zuverlässigen Mitgliederzahlen ist im Nachhinein vor das große Problem gestellt, dass praktisch keine Mitgliederverzeichnisse des Reichsbanners erhalten sind und in zeitgenössischen Publikationen des Bundes höchstens auf einer lokalen Ebene Mitgliederzahlen veröffentlicht wurden.14 Die Mitgliederzahlen aller Wehrverbände waren gut gehütete Geheimnisse der Bünde, da mit ihnen Propaganda betrieben wurde. Man wollte besonders groß und damit einflussreich erscheinen, sodass man von einem Überbietungswettbewerb zwischen den einzelnen Wehrverbänden sprechen kann. Dementsprechend schwer ist es, belastbares Material über die tatsächliche Größe der Wehrverbände zu finden, wobei das Reichsbanner als größter dieser Verbände keine Ausnahme ist. Der RKO, Hermann Emil Künzer (DDP), gilt gemeinhin als bestinformierte Quelle zum politischen Radikalismus der 1920er und er beobachtete auch das Reichsbanner als zwar verfassungstreuen Verein, der aber aus Sicht mancher Zeitgenossen im Ruf des Linksradikalismus stand. Aus den Lageberichten des RKO wird jedoch ersichtlich, dass er diese Einschätzung nicht teilte und dem Reichsbanner nur relativ wenig amtliche Aufmerksamkeit schenkte.15 Dennoch sind diese Lageberichte wertvolle Quellen zu Geschichte des Reichsbanners. Die Position des RKO brachte es mit sich, dass er Informationen zu allen Wehrverbänden sammelte, was für einen Vergleich der Relation der Mitgliederstärke zwischen den Verbänden – und letztlich kommt es hierauf an und weniger auf absolute Zahlen – von besonderem Wert ist. Demnach verfügten laut den Informationen des RKO die größeren Wehrverbände über folgende Mitgliederstärken (Stand: 1927): Stahlhelm 500.–600.000, Wehrwolf 20.–25.000, Jungdeutscher Orden 70.000, Reichsbanner 1.500.000, Rotfrontkämpferbund max. 100.000.16 Daraus ergibt sich, dass das Reichsbanner etwa doppelt so groß war wie alle anderen Wehrverbände zusammengenommen. An diesem Größenverhältnis sollte das Anwachsen der SA ab 1929 auch nicht viel ändern, da sich landsgruppen des Reichsbanners bestanden in den USA (Chicago, New York, Saint-Louis, Milwaukee), Argentinien (Buenos Aires), Brasilien (Porto Alegre, Santa Maria, Blumenau), Südafrika (Pretoria), Lettland (Riga), den Niederlanden (Amsterdam), Spanien (Sevilla) sowie in Danzig (vgl. „Schwarz-Rot-Gold im Ausland“, in: RBZ 1/1928 vom 1.1. u. RBRechenschaftsbericht 1933, S. 15). 14 Zu diesem Forschungsproblem mit Hinweisen auf mögliche Wege zu dessen Behebung bereits oben. 15 Dies ist auch in einzelnen handschriftlichen Bemerkungen belegt, die zu einseitigen Berichten von lokalen Polizeibehörden von Künzer gemacht wurden. So schrieb Künzer bspw. Vermerke wie „?“ oder „Unsinn!“, wenn er Einseitigkeiten in der Berichterstattung oder kritiklos aus der Rechtspresse übernommene Falschmeldungen über das Reichsbanner entdeckte. Insbesondere den Sonderberichten der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth bescheinigte Künzer intern, dass deren Darstellungen an Objektivität mangele (siehe BArch R1507/3065, Bl. 68f., 87–103 u. 106–117). 16 Vgl. Schreiben RKO an RIM vom 2.4.27, in: BArch R1501/125668j, Bl. 49f.

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die Mitgliedschaft des nationalsozialistischen Wehrverbandes aus bereits bestehenden Verbänden speiste, während die parallele Neumobilisierung von Jugendlichen in der SA auch für das Reichs- bzw. Jungbanner zu verzeichnen ist.17 Eine interne Denkschrift des Reichsbanners nennt etwa 80.–100.000 Mann als realistische Kampfstärke der SA, was etwa der Hälfte der damals (Herbst 1931) offiziellen Mitgliederzahlen entsprochen hätte.18 So führte die rechtsradikale Bedrohung für die Republik dazu, dass das Reichsbanner ab 1929/30 eine zweite „Gründungswelle“ erlebte, sodass eventuelle Neumobilisierungen der SA für das rechte Lager wohl mehr als ausgeglichen werden konnten.19 Eine andere Frage ist die der regionalen Mitgliederverteilung des Reichsbanners. Laut einer Aussage Hörsings lag das geographische Zentrum des Reichsbanners in „einem weiten Streifen von Hamburg, Mitteldeutschland, Sachsen und Schlesien bis nach Ostpreußen, mit einem starken Ableger in Berlin“.20 In Südund Westdeutschland sowie dem Nordosten war das Reichsbanner somit tendenziell schwächer. Eine Auflistung der Gesamtstärke der insgesamt 32 Gaue des Reichsbanners existiert nicht, aber zumindest eine Zusammenstellung der mitgliederstärksten Gaue findet sich in einem Lagebericht des internen Nachrichtendienstes der KPD. Demnach hatte das Reichsbanner bei einer Gesamtmitgliederzahl von 1,5 Mio. folgende Mitgliederzahlen in den größten Gauen (Stand: 1925): Berlin-Brandenburg in ca. 500 Ortsgruppen etwa 103.000 Mitglieder, MagdeburgAnhalt in 329 Ortsgruppen etwa 60.000 Mitglieder, Thüringen in 241 Ortsgruppen etwa 71.500 Mitglieder, Hessen-Kassel in 292 Ortsgruppen etwa 82.800 Mitglieder, Sachsen21 in 243 Ortsgruppen etwa 124.600 Mitglieder, Niederschlesien in

17 Zur Mitgliederentwicklung der SA: Longerich 1989, S. 78–93, Fischer 1991, insb. S. 129ff., Siemens 2017, S. 36ff. u. zur gesamten NSDAP Kellerhof 2017, S. 240f. Zur zweiten „Gründungswelle“ des Reichsbanners bereits oben sowie unten. 18 Siehe RB-Unsere Gegner 1932, S. 5ff. (in: FES, NL Franz Osterroth, 1/FOAC, Box 53, Mappe 140). 19 So Voigt 2009, S. 129f. u. ausführlicher S. 446ff. Knickerbockers Angabe, dass nach dem Aufstieg der NSDAP das Reichsbanner rund eine Million neue Mitglieder aufnehmen konnte, ist zwar nicht gänzlich unwahrscheinlich, aber sie lässt sich kaum überprüfen (siehe Knickerbocker 1932, S. 118ff.). Es ist jedoch klar, dass der Trend in diese Richtung ging. In den ersten sechs Monaten nach der Septemberwahl 1930 wurden im Gau Schleswig-Holstein 13 OG neu gegründet, 20 OG deutlich ausgeweitet und in 28 Orten Jungbannerabteilungen gegründet (siehe Gauvorstandssitzung vom 8.4.31, in: LA Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 30, Bl. 29). Dies dürfte einem Wachstum von ~10% entsprechen, welches sich im Laufe des Jahres 1931 verstetigte. Verglichen mit dem 4. Quartal 1930 verdoppelte sich die Summe der Einnahmen durch Beitragsgelder im 4. Quartal 1931 nahezu (siehe Einnahmebuch des Gaues, in: Ebd., Nr. 54). Auf der Gaugeneralversammlung in Thüringen wurde 1932 berichtet, dass seit 1930 eine Nettozunahme der Mitgliederschaft um 5.800 Personen zu verzeichnen war. Im selben Zeitraum wurden 57 OG neu gegründet, d.h. ein Anstieg von 180 auf 237 OG (siehe Bericht der Gaugeneralversammlung 1932, in: TStA Rudolstadt, 99.2/10, Nr. 41). 20 Vgl. Interview Hörsings mit der Chicago Daily Mail vom 20.9.24, in: BArch R43I/767, Bl. 49ff. Eigene Übersetzung aus dem Englischen. 21 Hiermit sind wohl die vier Gaue des Freistaates Sachsen gemeint: Dresden, Leipzig, Chemnitz und Zwickau mit dann jeweils etwa 30.000 Mitgliedern. Voigt schätzt tendenziell niedri-

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191 Ortsgruppen etwa 30.400 Mitglieder, Oberschlesien in 142 Ortsgruppen etwa 41.000 Mitglieder, Rheinprovinz in 372 Ortsgruppen etwa 34.700 Mitglieder sowie Halle-Merseburg in 191 Ortsgruppen etwa 42.700 Mitglieder.22 Diese Auflistung stammt zwar von politischen Gegnern des Reichsbanners, aber bestätigt in groben Zügen die Angaben Hörsings über die regionalen Schwerpunkte des Bundes. In weiteren Lageberichten des RKO finden sich teils ähnliche, teils widersprechende Größenangaben zu einzelnen Gauen. So soll die Berliner Ortsgruppe, als die reichsweit mit weitem Abstand größte Ortsgruppe, über etwa 35.000 Mitglieder in 20 Kameradschaften verfügt haben, was die obige Gesamtstärke des Gaues Berlin-Brandenburg eher zu hoch erscheinen lässt.23 Auch die offizielle Angabe der Gaugeneralversammlung des Thüringer Reichsbanners nannte mit 32.000 Mitgliedern in 362 Ortsgruppen (Stand: Ende 1925) weit weniger Mitglieder als der KPD-Bericht. Dies stellte trotzdem ein rasantes Wachstum dar, da es noch zu Beginn des Jahres 1925 nur halb so viele Mitglieder und weniger als halb so viele Ortsgruppen in Thüringen gegeben hatte, nämlich 16.000 Mitglieder in 168 Ortsgruppen.24 Was Süddeutschland betrifft, so wird dort das Reichsbanner mit der Ausnahme des Gaues Baden tatsächlich relativ schwach gewesen sein.25 Im Gau Franken soll das Reichsbanner laut offiziellen Aussagen des Gausekretärs immerhin 23.000 Mitglieder gehabt haben, während es in der Ortsgruppe München etwa 6.000 Mann waren.26 Das Württemberger Reichsbanner hingegen soll 1925 nur 4.000 Mitglieder besessen haben, wobei mit 1.600 fast die Hälfte hiervon in der Ortsgruppe Stuttgart organisiert waren.27 Gleichzeitig scheint das Größenverhältnis zwischen dem Reichsbanner und den anderen Wehrverbänden in Württemberg nicht anders gewesen zu sein als im Rest des Reiches.28 In Thüringen hingegen waren zu Beginn des Jahres 1925 die

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gere Mitgliederzahlen für die 1920er Jahre, da erst ab 1929 ein deutlicher Mitgliederzustrom stattfand (siehe Voigt 2009, S. 446ff.). Siehe BArch RY1/I2/706/12, Bl. 14. Vgl. Nachrichten des Polizeipräsidenten von Berlin vom Januar 1926, THStA, P 251, Bl. 26. Derselbe Bericht auch in: BArch R1507/3066, Bl. 29. Vgl. „Der Vormarsch des Reichsbanners“, in: Vom Volk Nr. 60/1926 vom 23.3. Dies ist eine der wenigen verbandseigenen Angaben zum Mitgliederstand. Siehe zum Südwesten: Böhles 2016, Kap. 3.1. Demnach hatte der Gau Baden im Vergleich zum übrigen Reichsbanner eine normale Größe, während der Gau Württemberg nur wenige tausend Mitglieder hatte und damit unterdurchschnittlich groß war. Vgl. Nachrichten der Polizeidirektion München, Bericht vom 11.2.26, in: THStA, P277, Bl. 18 sowie Sonderbericht der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 6.4.26, in: THStA, P 274, Bl. 70. Vgl. Nachrichten des Polizeipräsidiums Stuttgart, Bericht vom 9.6.25, in: THStA, P270, Bl. 123. Zum Reichsbanner in Württemberg: Böhles 2016, insb. S. 51ff. u. 62ff. So waren im selben Zeitraum in Württemberg nur 250 Personen im Jungdeutschen Orden, 300 im Wiking, 270 im Wehrwolf, 80 im Stahlhelm, 250 im Bund Oberland und 200 in anderen Rechtsverbänden organisiert, was einer Gesamtstärke der Rechtsverbände von lediglich 1350 entspricht (vgl. Nachrichten des Polizeipräsidiums Stuttgart, Bericht vom 27.7.25, in: THStA, P270). In späteren Jahren wuchs die Zahl der Mitglieder leicht, ohne den Württemberger Sonderfall grundsätzlich zu ändern. Zu den einzelnen Wehrverbänden in Württemberg: Böhles 2016, S. 223ff. (Stahlhelm), 238ff. (RFB) u. 245f. (SA). Ein Grund für die deutlich

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Rechtsverbände wesentlich stärker als das Reichsbanner. So waren dort insgesamt etwa 26.400 Personen in republikfeindlichen Wehrverbänden organisiert, wobei im Falle der Rechtsverbände Doppelmitgliedschaften nicht auszuschließen sind.29 Gesetzt den Fall, dass diese Verbände im Laufe des Jahres nicht enorm wachsen konnten, hätte das Reichsbanner gegen Ende des Jahres 1925 diesen Mitgliederrückstand in Thüringen aber zumindest verringert. Dies ist nur ein Ausschnitt, der aufgrund der Quellenlage nicht alle Gaue umfassen kann. Es wird aber deutlich, dass das Reichsbanner, anders als der Reichsbund und auch der Führerbund, sich im gesamten Reich etablieren konnte, womit es seine selbstgesetzte Aufgabe, den Schutz der gesamten Republik mittragen zu wollen, wesentlich besser erfüllen konnte als die zahlreichen Lokalverbände wie die Republikanische Notwehr oder die Vereinigung Republik. Wie bereits seine Vorläufer wurde auch das Reichsbanner von den Republikfeinden nicht begrüßt. Die objektiv bestehenden Bemühungen und Erfolge bei der republikanischen Umwerbung bürgerlicher Kreise wurden als „Feigenblatt“ und dergleichen abgetan. Das gemeinsame Engagement mit jüdischen Verbänden wie dem C.V. und dem RjF war Anlass dafür, dass das Reichsbanner in rechtsradikalen Kreisen antisemitisch angefeindet wurde. So wurde das Reichsbanner als „Krebsgeschwür“ verunglimpft, welches mit „undeutschen Rabbinern“ kooperiere.30 An anderer Stelle wurde dem Reichsbanner von den Rechtsradikalen vorgeworfen, dass es geringere Attraktivität von Wehrverbänden in Württemberg könnte ferner darin zu suchen sein, dass dort die Polizei bis weit in die 1920er Jahre nicht auf Landesebene organisiert worden war, sondern auf kommunaler Ebene in Form von Bürgerwehren (siehe Funk/Pütter 1992). Die Bildung von lokalen privaten Selbstschutz- bzw. Wehrverbänden erscheint vor diesem Hintergrund überflüssig. 29 Der Jungdeutsche Orden verfügte über 13.500 Mitglieder in 320 OG, der Stahlhelm über 6.400 Mitglieder in 130 OG, der Wehrwolf über 2.000 Mitglieder in 75 OG und der Bund Scharnhorst über 500 Mitglieder in 25 OG in Thüringen, während der RFB inklusive des Roten Jungsturmes 4.000 Mitglieder hatte (vgl. Bericht des ThIM an den RKO vom 20.2.25, in: BArch R1507/3065, Bl. 19). Das Reichsbanner hatte in Thüringen dieser Quelle nach 16.750 Mitglieder zu Beginn des Jahres 1925, was der oben zitierten Angaben des RB-Gaues entspricht. 30 Solche Ansichten über das Reichsbanner waren selbst in Polizeibehörden zu finden. So vor allem in rechtsregierten Ländern wie Bayern. Die Polizeidirektion Nürnberg-Fürth war besonders bemüht bei der polizeilichen Überwachung des Reichsbanners, sodass zahlreiche ausführliche Lageberichte über den Bund von dieser Behörde ausgearbeitet wurden. In diesen Berichten finden sich die erwähnten irreführenden Einschätzungen über den politischen Charakter des Reichsbanners, aber auch organisationsgeschichtlich relevante Informationen. So berichtete die Polizeidirektion, dass in Franken der C.V. und der RjF bereits von den ersten Sitzungen an maßgeblich am fränkischen Reichsbanner beteiligt waren. Ob diese und andere Informationen angesichts der offensichtlich rechtsradikalen Einstellung der Berichterstatter aber glaubwürdig sind, bleibt offen. Die oben zitierten Aussagen über das Reichsbanner stammen aus einem Bericht der Polizeidirektion vom 25.6.24, wo auch die entsprechenden Zeitungsartikel als vermeintlich objektive Quellen wiedergegeben werden. Die Berichte der Polizeidirektion sind an verschiedenen Orten zu finden. Hier vgl. Bericht der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth Nr. 3786/II vom 25.6.24, in: BArch R187/273 sowie zahlreiche weitere Berichte in: BArch R1507/3063–3067.

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mit „fanatisierten Polen“ zusammenarbeite.31 Zur Ehre des Reichsbanners muss festgestellt werden, dass es sich diesen Hass der Rechtsradikalen verdient hatte. Bereits der Gründungsaufruf des Bundes war eine entschlossene Kampfansage an alle reaktionären, republikfeindlichen Kreise, wobei der Gründungsaufruf des Reichsbundes von 1921 in Ton und Sache noch einmal übertroffen und auch die Kriegstreiberei und der Antisemitismus der Völkischen klar verurteilt wurde. Das nationalrepublikanische Bindeglied „Kriegsteilnehmer, Republikaner!“, so beginnt der vom Bundesvorstand unter Hörsing und Höltermann gezeichnet Gründungsaufruf des Reichsbanners. Nicht länger dürfe dem Treiben der sich vaterländisch nennenden Kreise zugesehen werden. Diese Männer seien dabei, einen „Bürgerkrieg“ zu entfesseln, der das deutsche Volk spalten und den mit der Gründung der Republik begonnenen „Wiederaufstieg“ der Nation zunichtemachen werde. Republik und Verfassung seien Garanten für die staatliche Einheit Deutschlands. Daher müssten sich alle republikanisch gesinnten Kriegsteilnehmer und waffentüchtigen Männer im Reichsbanner zusammenschließen, um dem „nationalistischen und bolschewistischen Demagogentum“ entgegenzutreten. Den Republikfeinden müsse mit Aufklärung und Werbung für den republikanischen Gedanken begegnet werden, aber notfalls sollten die Republikaner auch bereit sein, sich den Behörden zur Abwehr aller Gegner der Republik zur Verfügung zu stellen. In einer expliziten Verurteilung des Antisemitismus der rechten Wehrverbände wurde im Aufruf auf das gemeinsame Fronterlebnis von Protestanten, Katholiken, Freidenkern und Juden hingewiesen. Kameradschaftlichkeit wird somit als etwas definiert, was sich über religiöse Unterschiede hinwegsetzt,32 während der Antisemitismus sogar die „Seelen der Kinder vergifte“, Deutschland „in der Welt lächerlich mache“ und eine „innenpolitische wie außenpolitische Gefahr“ darstelle. Somit wird der Antisemitismus als ein Teil des Problemkomplexes dargestellt, der die Einheit des Reiches und der Nation bedrohe.33

31 Diese Ansicht fand ebenfalls ihren Eingang in polizeiliche Akten. So beim LKA Stettin, wo behauptet wurde, dass das Stettiner Reichsbanner nur aus „fanatischen Polen“ bestehe und aus diesem Grund überwacht werden müsse (siehe APK, Starostwo Powiatowe w Zlotowie, II. Administracja wewnetrzna (policyjna), B.G. 7, Nr. 273 Reichsbanner). 32 Das Reichsbanner wurde mitunter als antireligiöser Verband angegriffen, was jedoch keine Begründung in der Reichsbannerpublizistik findet. Dort wurde im Gegenteil die Notwendigkeit der Versöhnung zwischen den Religionen untereinander sowie zwischen den christlichen Kirchen und der Republik angemahnt (siehe etwa die Beiträge von Emil Fuchs und Carl Ulitzka, in: RB-Reichsverfassung 1924). Darüber hinaus fand satzungsgemäß keine nennenswerte Beschäftigung mit religiösen Fragen in der Reichsbannerpublizistik statt. 33 Vgl. den Gründungsaufruf des Reichsbanners vom 22.2.1924. Zu finden in RBZ Nr.1/1924 vom 15.4. (in: BArch R43I/767, Bl. 4) oder in Auszügen bei Michaelis et al. (Hg,) 1962, S. 425f.

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Diese Betonung des Zusammenhanges von Nation und Republik wurde nicht nur von den meist sozialdemokratischen Unterzeichnern des ReichsbannerGründungsaufrufes vertreten, was angesichts der vorausgegangenen Zusammenarbeit im RRB nicht überraschen kann.34 So formulierte das RRB-Gründungsmitglied Hugo Preuß ebenfalls 1924 in seinem Beitrag zur Bundesverfassungsfeier des Reichsbanners in Weimar ähnliche Gedanken und forderte Solidarität zwischen bürgerlichen Republikanern und Sozialdemokraten ein.35 Auch die Ablehnung des Antisemitismus gehörte unabhängig von der Parteizugehörigkeit zum Grundkanon der reichsbannernahen Publizistik. So sprachen sich Bundesmitglieder mit verschiedenfarbigen Parteibüchern deutlich gegen den Antisemitismus aus und insofern ist Toury zuzustimmen, der dem Reichsbanner eine stabilisierende Wirkung im Kampf gegen den Antisemitismus zusprach.36 Zum Thema Antisemitismus ließ sich im Schriftgut des RRB zwar keine direkte Aussage finden, was aber vor allem daran liegt, dass nicht alle Ausgaben der Vereinsorgane (Die Stunde, Deutsche Republik) vorliegen. Von einer geistigen Gemeinsamkeit zwischen RRB und Reichsbanner in diesem Punkt dürfte jedoch auszugehen sein.37 Beide Bünde teilten ferner einen klaren Bezug auf die 1848er Bewegung, der wesentlich für das Selbstverständnis der Republikaner war, da hierin das Zusammengehen von Republik und Nation historisch verankert wurde. Für die RBZ ist bereits an anderer Stelle gezeigt worden, dass in ihr dem Thema „Schwarz-Rot-Gold in der deutschen Geschichte“38 und insbesondere der Märzrevolution von 1848 viel Raum gegeben wurde.39 Beim Reichsbund wurde dieses Thema aber gleichfalls in 34 Siehe zum RRB-Gründungsaufruf bereits oben. 35 Siehe „Fünf Jahre Reichsverfassung“ von Hugo Preuß, in: RB-Reichsverfassung 1924. Dort auch die Beiträge der RRB-Gründungsmitglieder Karl Vetter, Ludwig Haas und August Baudert. Insgesamt waren knapp die Hälfte der wichtigsten RRB-Funktionäre auch in einer führenden Funktion im Reichsbanner tätig (siehe Dokumentenanhang Nr. 4 u. Nr. 5). 36 Siehe Kosler 1922, Kuttner 1930 u. Heuss 1932, S. 31ff. u. 105ff. sowie Toury 1997, S. 113. 37 So war eine entschiedene Bekämpfung des Antisemitismus auch im Schrifttum von Preuß verankert, der in Reichsbanner und RRB führend hervortrat (siehe Dreyer 2002, Kap. 5). Biographische Arbeiten zu den Führungspersönlichkeiten des RRB oder Reichsbanners sind ansonsten leider rar. 38 So der selbsterklärende Titel des Buches Jäger 1925. 39 Vgl. Saage 1986, S. 277ff. Dort heißt es auf S. 279: „Es besteht kein Zweifel, daß im „Reichsbanner“ die 48er-Revolution als der entscheidende Meilenstein auf dem Weg Deutschlands zur demokratischen Republik gefeiert wurde […]“. Als beispielhafter Artikel: „LoeweGedenkfeier“, in: RBZ Nr. 7/1927 vom 1.4. Dort wurde über eine Gedenkfeier zu Ehren des republikanischen Politikers Wilhelm Loewe berichtet. Die Festrede hielt Prof. Hermann Hummel (DDP). Ausführlicher zum Geschichtsbild des Reichsbanners: Bryden 2010, Ziemann 2014 sowie Böhles 2016, S. 167–177. Die in diesen Publikationen geführte Auseinandersetzung um die geschichtspolitischen Aktivitäten des Reichsbanners dreht sich im Wesentlichen um die Frage, wie ernst es den Republikanern mit dem Gedenken an 1848 war und welchen Erfolg diese Aktivitäten zeitigten. Bryden betont zu Recht, dass 1848 intern eine zentrale Rolle zur Selbstlegitimierung des Bundes spielte, was insbesondere auch für die Ausübung legitimer Gewalt im Namen der Freiheit und den hiermit zusammenhängenden „quasi-religiösen“, republikanischen Märtyrerkult gelte (vgl. Bryden 2010, S. 663ff.). Auch Böhles hebt hervor, dass das Gedenken an die Opfer von 1848 mit dem Gedenken an die ak-

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die Selbstdarstellung des Bundes einbezogen. So widmete 1924 der RRB Landesverband Sachsen-Schlesien dem Jubiläum der Märzrevolution eine eigene Festschrift, dessen Titelseite ein Porträt Robert Blums zierte. Der Bezug auf die republikanische Tradition Deutschlands ist dabei kein Selbstzweck, sondern wird als Argument für aktuelle politische Auseinandersetzungen benutzt. Im Leitartikel führte Robert Riemann (Monistenbund) aus, dass gerade das Bürgertum der Leistungen Blums und anderer bürgerlicher Republikaner gedenken sollte. Während es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade bürgerliche Kreise gewesen seien, die sich zu Freiheit und Demokratie bekannt und so zu gesellschaftlichem Fortschritt beigetragen hätten, hätten sich ebendiese Kreise nach der gewaltsamen Niederschlagung der Märzrevolution durch die preußischen Militaristen entpolitisiert und darauf zurückgezogen, ihren Wohlstand zu mehren. Die ebenfalls mit gewaltsamen Mitteln erreichte Einigung des Reiches 1871 und der folgende wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands hätten diese Tendenz nur weiter verstärkt. Nun, nach dem Zusammenbruch des preußischen Militärstaates, müsse sich daher das Bürgertum bewusst von der eigenen politischen Entmündigung lossagen und aktiv am Ausbau der Republik mitarbeiten.40 In dieselbe Kerbe schlägt ein Artikel von Hugo Preuß in ebendieser Festschrift. Preuß stellt fest, dass nur in einer demokratischen Staatsform der friedliche Ausgleich der konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen und damit die Einheit des Reiches garantiert sei. Demokratie und Nation seien somit keine Gegensätze, wie die Reaktion behaupte, sondern würden sich gegenseitig bedingen. Der kaiserliche Obrigkeitsstaat hingegen basiere genauso wie das kommunistische Staatsmodell auf dem Kampf der Klassen gegeneinander und damit dem Bruderkampf, der letztlich ein Aufblühen partikularistischer Tendenzen und damit das Auseinandertreiben des Staates bedeute. Nationale Einheit, demokratische Freiheit und staatspolitische Solidarität seien hingegen die drei Fundamente der Weimarer Reichsverfassung von 1919, die es in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu verteidigen gelte.41 Auch in Gedichtform wird in der RRB-Festschrift unter dem Titel „Zum 18. März“ ein Bezug zwischen Republik, Nation und 1848 hergestellt. tuellen Opfer des Kampfes um die Republik im jeweiligen Festablauf verbunden wurde (siehe Böhles 2016, S. 149ff.). Zu dieser Debatte muss zudem angemerkt werden, dass auch der Vormärz und die preußischen Heeresreformer in das Traditionsverständnis des Reichsbanners integriert wurden. So unterstrich bspw. Theodor Körner eine republikanische Lesart von Clausewitz, der entgegen verbreiteter Auffassungen eine Unterordnung des Militärs gegenüber der Politik gefordert habe, so wie es im republikanischen Frankreich der Fall gewesen sei (vgl. „Ein Philosoph der Gewalt. Zu Clausewitz’ 100. Todestag“ von Theodor Körner, in: RBZ Nr. 46/1931 vom 14.11.). 40 Vgl. RRB Landesverband Sachsen-Schlesien (Hg.) 1924, S. 1. (in: AdL, Bestand Alfred Brodauf, N91–9). Riemanns Artikel spiegelt die wesentlichen Inhalte seines Buches SchwarzRot-Gold. Die politische Entwicklung des Bürgertums seit 1815 wieder (siehe Riemann 1921). 41 Vgl. RRB Landesverband Sachsen-Schlesien (Hg.) 1924, S. 2. (in: AdL, Bestand Alfred Brodauf, N91–9). Zu Preuß und dessen republikanischer Publizistik siehe ferner: Dreyer 2002, insb. S. 216ff.

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„Für Freiheit und Vaterland!“ (1919–1924) Der Märzsturm brauste jauchzend durch die Lande / Und trug mit sich ein starkes Frühlingsahnen. / Da fielen ab des Winters harte Bande, / Im Winde flatterten die jungen Freiheitsfahnen. / So schritten sie, die 48er Helden, / Zum hohen Ziel: Ein tatgewordener Gedanke. / Ein heilig’ Feuer, angefacht aus inn’ren Welten, / Die Freiheit fordernd, traten kühn sie in die Schranke. […] / Doch drohen düster uns erneut Gefahren. / Nicht nur der Feind will hassbereit uns knechten. / Auch die, die einst des Volkes Herren waren, / Sie greifen nach den alten, aufgegebenen Rechten! / So lasst uns denn vereint zusammenstehen / Und todbereit für unsre Freiheit fechten! / Im ärmsten Sohn des Volkes noch unsern Bruder sehen / Im Kampfe der Republik mit finstren Mächten. / Des Vaterlandes Einheit steht auf schwankem Boden, / Es paart sich Krämergeist mit Herrenseele. / Heraus mit euch, ihr Jungen, lichtumlohten, / Daß euch der Geist von 48 sich vermähle! […]42

Die eindeutige Absicht des Autors ist eine Kontinuitätslinie zwischen den aktuellen Angriffen auf Republik und Verfassung und dem Freiheitskampf der 1848erBewegung gegen die absolutistisch regierenden Könige und Fürsten herzustellen. Diese Verbindung hat Konsequenzen für das transportierte Geschichtsbild wie auf die Definition bzw. das Verständnis des aktuellen Feindes.43 Die Publizistik des Reichsbanners ist besonders verdient darum, die Gefahr des Nationalsozialismus frühzeitig erkannt und verschiedenste Aspekte der NS-Bewegung und Politik sowie Gegenstrategien diskutiert zu haben.44 Auffällig an der Gefahrenbeschreibung in diesem Gedicht ist, dass die Gegner von Republik und Einheit jene seien, „die einst des Volkes Herren waren“ und nun wieder ihre „aufgegebenen Rechte“ wiedererlangen wollen, um das „Volk“ zu „knechten“. Somit besitzt das Gedicht eine antimonarchistische Stoßrichtung. Es ist nur folgerichtig, dass der Versuch, Nation und Republikanismus zusammenzudenken, zu einer Wahrnehmung des Monarchismus als „unnational“ führt.45 Wie wir bereits aus dem Gründungsaufruf des Reichsbanners wissen, wurden die rechten Wehrverbände, die sich wie der Stahlhelm für die Monarchie aussprachen, von republikanischer Seite als nichtnational angesehen, das heißt es wurde davon ausgegangen, dass der „falsche“ Nationalismus der Rechten nur vorgetäuscht und eine Verschleierung ihrer persönlichen oder dynastischen Interessen war.

42 Autor: Artur Bretschneider. Abgedruckt in: RRB Landesverband Sachsen-Schlesien (Hg.) 1924, S. 3. (in: AdL, Bestand Alfred Brodauf, N91–9). 43 Als Beispiel für Darstellungen zur Geschichte der republikanischen Bewegung in Deutschland in der RBZ siehe die Artikelserie von Manfred Stimming, die 1931 in knapp ein Dutzend Teilen erschien, wobei er mit dem Streben nach Freiheit und Individualismus bei den alten Germanen begann (vgl. „Der demokratische Gedanke in der deutschen Vergangenheit. 1. Teil“ von Prof. Manfred Stimming, in: RBZ Nr. 18/1931 vom 2.5.). 44 So bereits Saage 1986, S. 289ff. 45 In diesem Sinne waren zahlreiche Artikel in der Reichsbannerpresse verfasst. So etwa „Nie wieder Hohenzollern!“ von Rochus Aper, in: IRZ Nr. 47/1932 vom 19.11. Auf die höchst polemischen und zum Teil recht fragwürdigen Artikel Apers werden wir unten noch zu sprechen kommen. Hier sei nur soviel gesagt, dass die Redaktion der RBZ die betreffenden Artikel meist mit einer kurzen Distanzierung abdruckte. Nichtsdestotrotz war Aper mit seinen Enthüllungsartikeln einer der regelmäßigsten Beiträger der RBZ und IRZ.

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Solche Zuschreibungen geben Auskunft über die Selbstwahrnehmung der Republikaner wie auch über deren Wahrnehmung ihrer Gegner.46 Ideengeschichtlich betrachtet gibt es keinen Maßstab, anhand dessen die Authentizität der verschiedenen Nationalismen gemessen werden könnte. Fakt ist, dass jeder Nationalismus eine Gruppenidentität mittels solcher positiven und negativen Zuschreibungen leistet und hiermit eine Abgrenzung vorgenommen wird. In unserem Fall ist das Ziel der teils aggressiven nationalrepublikanischen Abgrenzung aber nicht primär ein ausländischer, sondern ein inländischer Gegner, den man für sich gewinnen und nicht vernichten will. Diese Ausrichtung hing jedoch von aktuellen politischen Konstellationen ab und konnte sich potentiell auch in Richtung eines ausländischen Gegners verschieben. So wird im Gedicht „Bekenntnis“ das Kriegserlebnis der republikanisch gesinnten Soldaten von 1914 thematisiert. Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt, / bloß wir haben sie nie mit einem Namen genannt. / Als man uns rief, da zogen wir schweigend fort, / auf den Lippen nicht, aber im Herzen das Wort / Deutschland. / Wahre Liebe war schweigsam, sie brütete tiefversteckt. / Nun ihre Zeit gekommen, hat sie sich hochgereckt. / Schon seit Monden schirmt sie in Ost und West dein Haus / Und sie schreitet gelassen durch Sturm und Wettergraus. / Deutschland. / Daß kein fremder Fuß betrete den heimischen Grund, / stirbt ein Bruder in Polen, liegt einer in Flandern wund. / Alle hüten wir deiner Grenze heiligen Saum. / Unser blühendes Leben für deinen dürrsten Baum, / Deutschland. / Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt, / bloß haben sie nie bei ihrem Namen genannt. / Herrlich zeigte es aber deine größte Gefahr, / daß dein ärmster Sohn auch dein getreuester war. / Denk es, o Deutschland.47

Es dürfte nicht verwundern, dass dieses Gedicht, welches ohne einen direkten Verweis auf Republik oder Demokratie auskommt, in der Zeit des Nationalsozialismus im Sinne der Machthaber interpretiert wurde. Hierbei handelte es sich jedoch eindeutig um einen Missbrauch.48 Der Autor des Gedichts Karl Bröger (SPD) spielte eine führende Rolle im Nürnberger Reichsbanner und konnte nach 1933 die bewusste Fehlinterpretation seines Werkes nicht verhindern. Blicken wir jedoch genauer auf den Text seines Gedichts, so erkennen wir, dass nicht nationalistische Verherrlichung in der finalen Anrufung „o Deutschland“ ausgedrückt wird, sondern vielmehr eine Anklage hierin enthalten ist. Es ist „Deutschland“, also die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft, welche bislang nicht gesehen habe, dass „ihre ärmsten Söhne“ also die Arbeiterschaft, auch ihre „getreuesten Söhne“ seien. Erst die Not des Krieges habe die „stumme Liebe“ offensichtlich gemacht 46 Mit Ziemann lassen sich diese Zuschreibungen in zwei Gleichungen ausdrücken, wobei auch das Kriegserlebnis der Beteiligten einbezogen wird. So gilt für die Selbstwahrnehmung der Republikaner die Gleichung: Front = echter Nationalismus = Reichsbanner = Friede = Solidarität mit den Gegnern = Schwarz-Rot-Gold. Die Gleichung des „nationalistischen Lagers“ hingegen sei aus Sicht der Republikaner gekennzeichnet durch: Etappe = falscher Nationalismus = Rechtsverbände = den Krieg unterstützend = Kapitalinteressen = schwarz-weiß-rot (siehe Ziemann 2014, S. 146). Man könnte hieran anlehnend urteilen, dass der Nationalrepublikanismus des Reichsbanners inklusiver Natur war, während der Stahlhelm einen exklusiven, protestantischen Nationalismus vertrat. Die Literatur zum Rechtsnationalismus in der Weimarer Republik ist Legion (siehe hier allein das Übersichtswerk Breuer 2010). 47 Autor: Karl Bröger. Abgedruckt u.a. in: RBZ Nr. 1/1924 vom 15.4. 48 So bereits Ziemann 2014, S. 315f.

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und es geht nicht zu weit, die implizierte Parallele zwischen 1914 und 1924 mitzugehen. In beiden Jahren sah sich „Deutschland“ in seiner Existenz bedroht und die „ärmsten Söhne“ waren in beiden Situationen zur Verteidigung aufgerufen. Dass die korrespondierende Anrufung des bürgerlichen Deutschlands nicht nur auf taube Ohren gestoßen ist, zeigt das zitierte Gedicht „Zum 18. März“. Darin wird der Ruf „des ärmsten Sohnes“ erwidert, wenn das lyrische Ich „im ärmsten Sohn noch seinen Bruder sehen“ will, und in der Tat waren Reichsbanner und Reichsbund Organisationen, in denen sich bürgerliche Republikaner und republikanische Arbeiter für ein gemeinsames Ziel vereinigten. Gemeinsam konnten sie nun Brögers „Republikanische Hymne“ anstimmen, deren bekannteste Zeile lautet: „Deutsche Republik, wir alle schwören, letzter Tropfen Blut soll dir gehören.“49 Verhinderte organisatorische Zusammenführung Der wesentliche Kerninhalt der nationalrepublikanischen Gründungsidee des Reichsbanners war somit derselbe wie bei der Gründung des Reichsbundes. Wenn – wie es hier getan wird – davon auszugehen ist, dass es keine größeren politischen oder geistigen Differenzen zwischen dem Reichsbanner und dem RRB gegeben hat und vielfach sogar dieselben Personen in den Führungsgremien der Bünde saßen, warum kam es dann nicht zu einem organisatorischen Zusammenschluss?50 Der RRB gilt zwar als Vorläuferorganisation des Reichsbanners, doch löste er sich anders als alle anderen Vorläufer nicht auf, sondern setzte nach 1924 seine eigenständige Arbeit fort und wir werden diese in den folgenden Teilen weiter beleuchten. Dies war jedoch kein von vornherein festgelegter Lauf der Ereignisse. Auch den damals Verantwortlichen war klar, dass Doppelstrukturen bei einer starken Überschneidung der politischen Ziele sinnlos sind. Bereits im August 1924 gab es daher konkrete organisatorische Annäherungsversuche zwischen Reichsbanner und Reichsbund. Auf einer Reichskonferenz des RRB im Oktober wurde ein von Hermann Luppe51 (DDP) eingebrachter Vorschlag angenommen, 49 Die Hymne auch abgedruckt in: RRB Landesverband Sachsen-Schlesien (Hg.) 1924, S. 2. (in: AdL, Bestand Alfred Brodauf, N91–9). Der betreffende Schwur wurde bei praktisch jeder größeren Veranstaltung des Reichsbanners im Chor gesprochen. 50 Es gab ab 1924 zahlreiche Veranstaltungen, die gemeinsam vom RRB und dem Reichsbanner organisiert wurden. Da der RRB nicht in allen Regionen des Reiches vertreten war, konnte dies nicht überall geschehen. Als Beispiel für solche Veranstaltungen: „Die Schutzgarde der Republik. Landesverbandstagung des RRB in Plauen“, in: VZ vom 14.9.24. 51 Luppe, der ab 1924 zum Vorstand des RRB gehörte, war für mehrere Jahre der OB Nürnbergs und laut einer Mitteilung der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth der wichtigste Redner des fränkischen RB-Gaues (siehe BArch R1507/3063, Bl. 256). Zu Luppes politischem Lebensweg siehe ferner dessen Autobiographie: Luppe 1977, insb. S. 143ff., 179ff. u. 243ff. Laut Luppe soll Hörsing für das Scheitern der Einigungsbemühungen zwischen RRB und Reichsbanner verantwortlich gewesen sein (ebd., S. 145), was aber nicht unbedingt den Tatsachen entsprechen muss.

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demgemäß die Schaffung einer das Reichsbanner und den RRB umspannenden republikanischen Organisation anzustreben sei. Kernidee war hierbei die Schaffung von zwei eigenständig agierenden Abteilungen. Die erste Abteilung war rein „militärisch“ gedacht (Gewaltkultur = Reichsbanner), während der zweiten Abteilung alle „staatspolitischen“ Aufgaben zugefallen wären (Zivilkultur = RRB). Entsprechende Verhandlungen des RRB-Vorstands mit Hörsing und Höltermann waren im Dezember 1924 praktisch abgeschlossen. So hieß es in einem Rundschreiben des RRB vom 12.12., dass zur Förderung der Einheit der „republikanischen Bewegung“ ein Kartell der vereinigten republikanischen Vereine gegründet werde, an dessen Spitze eine führende republikanische Persönlichkeit stehen müsse, die weder dem Vorstand des Reichsbanners noch dem des RRB angehöre. Die Leitung des Kartells solle einem Gremium übertragen werden, welches alle beteiligten Verbände vertrete. Hier kämen neben Reichsbanner und RRB mehrere Verbände in Frage: der Republikanische Richterbund (RR), die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG), der Republikanische Lehrerbund (RLB),52 der Reichsbund für Siedlung und Pachtung, die Liga Junge Republik, der Deutsche Monistenbund, das Kartell der republikanischen Studenten, der Republikanische Offiziersbund,53 der Republikanische Rechtsanwaltsbund, der RJB, die Liga für Menschenrechte (LfM) und der Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen (RKKK). Alle angeschlossenen Verbände hätten ihre jeweiligen Aufgabenbereiche, wobei dem Reichsbanner ausschließlich (!) die machtpolitische Sicherung der republikanischen Staatsform und ihrer Regierungen zufalle. In einem Festakt im Oberpräsidium in Magdeburg sollte das Kartell am 28. Dezember 1924 ins Leben gerufen werde.54 Aus einer Niederschrift über die Gründungstagung von Gerhart Seger (SPD) als Vertreter der DFG geht hervor, dass die meisten der eingeladenen Verbände erschienen und sich über die Notwendigkeit einer Dachorganisation grundsätzlich einig waren.55 Ferner habe Seger berichtet, dass Hörsing auf allgemeinen Wunsch

52 Hierzu siehe „Vom Republikanischen Lehrerbund“ von Prof. Ludwig Hüter, in: RBZ 10/1927 vom 15.5. Hüter stellt den RLB vor und berichtet von dessen Problemen. So hätten sich die republikanischen Parteien abgesehen vom Zentrum viel zu wenig um die Lehrer bemüht und einer reaktionären Schulpolitik nicht genug Widerstand entgegengesetzt. 53 Zu diesem Bund ist leider nichts weiter bekannt, als dass er seinen Sitz in Köslin hatte und von einem Oberleutnant Stegemann geleitet wurde. Eine organisatorische Verbindung mit dem Republikanischen Führerbund erscheint wahrscheinlich, kann aber nicht belegt werden. 54 Dieser Abschnitt folgt dem das RRB betreffende Schriftverkehr von Haenisch in: BArch N2104/471, insb. Bl. 213, 227ff. u. 254–261. Dort neben dem Schriftwechsel zwischen Hörsing – der im Frühjahr 1924 wohl noch etwas skeptisch gegenüber dem RRB war – und Haenisch auch eine Ermahnung von Haenisch und Preuß an den RRB-Vorstand über ein drohendes Scheitern der Verhandlungen aufgrund der offenen Frage des Publikationsorgans. 55 Die anwesenden Organisationen wurden vertreten durch: Hörsing und Horst Baerensprung (SPD) für das Reichsbanner, Josef Higler und Fritz Fay (SPD) für den Reichsbund, Siegfried Rosenfeld (SPD) und Hermann Großmann (DDP, später SPD) für den Richterbund, Otto Lehmann-Russbüldt und Erwin Berger für die LfM, Seger und Prof. Georg Schümer (SPD, vormals DDP) für die DFG, Albert Höft (SPD) für den Reichsbund für Siedlung und Pach-

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hin versuchen solle, prominente republikanische Politiker als Vorsitzende des Kartells zu gewinnen. Offenbar wurde an Wirth (Zentrum) als ersten, Löbe (SPD) als zweiten und Erich Koch-Weser (DDP) als dritten Vorsitzenden gedacht.56 Die Gründung eines Kartells der republikanischen Verbände gelang somit, aber es war den Beteiligten nicht möglich, eine engere organisatorische Verbindung daraus zu entwickeln. Das Kartell blieb eine reine Dachorganisation ohne eigene Finanzmittel und trat kaum in Erscheinung. Dies hing eng mit der Krise des RRB von 1925 zusammen. Haenisch und Preuß verstarben in diesem Jahr und Luppe als einzig verbliebener (ehrenamtlicher) Vorsitzender des Reichsbundes konnte es nicht gelingen, diese Lücke zu schließen. Diese Tiefphase des RRB hing wohl auch mit dem Aufstieg des Reichsbanners zusammen, da zahlreiche meist sozialdemokratisch orientierte Republikaner den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf den weit größeren Bund verlagerten. Ab 1926 konnten die Führungsprobleme des RRB aber gelöst werden und der Reichsbund nahm erneut seine volle Tätigkeit auf. Es war nicht so, dass das Reichsbanner den Reichsbund dauerhaft verdrängte. Vielmehr konnte der RRB als kleinerer, aber wesentlich akademischer geprägter Bund Aufgaben erfüllen, die eine wehrhafte Massenorganisation wie das Reichsbanner höchstens ansatzweise angehen konnte, zumal das Reichsbanner nicht nur in rechtsradikalen Kreisen in den Ruf geriet, eine reine SPDOrganisation zu sein. Umgekehrt war der Reichsbund nicht gezwungen, eigene Saalschutzverbände aufzustellen, da er sich stets auf die Unterstützung des Reichsbanners verlassen konnte. Beide Bünde müssen als komplementär und nicht als konkurrierend wahrgenommen werden.57 „Volkgemeinschaft aller Republikaner“ Bevor wir auf die Zeit ab 1924 genauer eingehen können, sei eine weitere Klarstellung gestattet. Weder der Reichsbund noch das Reichsbanner waren sozialistische Organisationen, auch wenn dies vor allem in der republikfeindlichen Presse behauptet wurde und diese Aussage selbst in der heutigen Literatur regelmäßig zu finden ist.58 Sicherlich waren Mitglieder der SPD maßgeblich an der Führung beitung, Richard Maroke für den RKKK, ein „Magdeburger Vertreter“ für den Monistenbund sowie Anna Selo und Otto Friedländer für das Studentenkartell. 56 Vgl. BA Koblenz N1212/10. Dort auch ein Schreiben Quiddes an die RB-Geschäftsstelle in Magdeburg, in dem er sich für die Einladung zur Kartellsgründung bedankte. Die DFG werde gern beitreten und er freue sich auf den RB-Bundestag am 22.2.25 (vgl. Schreiben Quidde an RB-Geschäftsstelle vom 26.1.25, in: BA Koblenz N1212/11). Auffällig ist die personelle Überschneidung zwischen diesem angedachten Kartellvorsitz (Wirth/Löbe/Koch-Weser) und der später realisierten Arbeitsgemeinschaft entschiedener Republikaner (Wirth/Löbe/Haas). 57 Gegenteilige Auffassungen in der Literatur gehen davon aus, dass der RRB nach 1924 nicht mehr aktiv gewesen sei, was in den folgenden Kapiteln widerlegt werden kann. Die Arbeit des Reichsbundes ist schlicht und ergreifend nicht angemessen untersucht worden, weswegen diese falsche Sichtweise entstehen konnte. Als Literatur zum RRB siehe bislang nur: Fricke (Hg.) 1983, S. 97ff. Dort der Lexikonbeitrag von Werner Fritsch. 58 Hierzu bereits oben.

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der Bünde beteiligt und ohne die Anhängermassen der SPD wäre das Reichsbanner wohl nur ein weiterer Wehrverband unter vielen gewesen, aber die Idee des Nationalrepublikanismus war betont klassenübergreifend und nicht einseitig sozialdemokratisch. Die Mitglieder des Reichsbanners leisteten durch ihren Beitritt ein „Bekenntnis“ zur deutschen Nation und zum republikanischen Staat im Sinne Brögers, aber nicht notwendigerweise zu einer Zukunftsvision des demokratischen Sozialismus, der sie unabhängig vom Reichsbanner natürlich trotzdem anhängen konnten. Das Reichsbanner wurde in diesem Sinne richtig als Beweis der Hinwendung der Arbeiterschaft zum Staat und zur Nation interpretiert.59 Dieses explizite Ziel, welches durch eine konsequente „Erziehungsarbeit“ erreicht werden sollte, verfolgten prominente Sozialdemokraten in der Reichsbannerpublizistik, die in ihren Artikeln die Verbindung zwischen Arbeiterschaft und Nation betonten und den Alleinanspruch der Rechten in dieser Hinsicht nicht gelten lassen wollten, wobei diese Bestrebungen mit dem Werben für die Demokratie Hand in Hand gingen.60 Joseph Wirth, als Repräsentant des linken Zentrumsflügels, äußerte sich hierzu in der RBZ eindeutig zustimmend. Selbst die „verbitterten Teile“ der SPD hätten sich über das Reichsbanner dem Weimarer Staat und den Farben Schwarz-Rot-Gold zugewandt. Wenn es dennoch weiterhin eine Entfremdung zwischen dem Staat und der Arbeiterschaft gäbe, sei läge dies in der Verantwortung der autoritären Machthaber der Vorkriegszeit.61 Somit konnten auch bürgerliche Republikaner wie Wirth im Reichsbanner eine geeignete Plattform für ihre Politik entwickeln, womit das Reichsbanner eine Bindung der Zentrumspartei an die Republik unterstützte. Seine Kritiker innerhalb der Zentrumspartei rief Wirth zu einer kompromissbereiteren Haltung auf, da ein polemisches Opponieren gegen die SPD nur der Reaktion in die Hände spiele.62 Das Ziel des Reichsbanners war, wie es Johannes Fest (Zentrum) formulierte, die Herstellung einer „Volksgemeinschaft aller Republikaner“.63 Der Begriff „Volksgemeinschaft“ ist keineswegs nur als völkischer Begriff aufzufassen, auch wenn er im Selbstverständnis des Dritten Reiches eine zentrale Rolle spielte. Vielmehr wurde in der republikanischen Diskussion über die Republik eine eigenständige Verwendung dieses Begriffes gepflegt, die anders als bei den Rechtsradikalen nicht auf eine gewaltsame Exklusion bestimmter Bevöl59 Siehe Rohe 1966, S. 245–258. 60 So bereits Rohe 1966, S. 259ff. sowie als Quellenbelege die Beiträge von Paul Löbe, Phillip Scheidemann, Wilhelm Sollmann und Otto Landsberg, in: Löbe et al. 1925, RBGründungstag 1925 u. Landsberg 1924. 61 Vgl. „Arbeiterschaft und Staatsidee. Nur scheinbare Staatsbejahung?“ von Joseph Wirth, in: RBZ Nr. 5/1929 vom 2.2. Wirth reagierte mit diesem Artikel auf das Buch Der moderne deutsche Sozialismus von Theodor Bauer, worin die Staatsbejahung der Sozialdemokratie und des Reichsbanners als nur scheinbar und oberflächlich kritisiert wurde. Wirth sah sich von rechts starker Kritik an seinem Engagement im vermeintlich „sozialistischem“ und damit „religionsfeindlichem“ Reichsbanner ausgesetzt (so die Position des Deutschnationalen Otto Rako, in: Rako 1930). 62 Vgl. „Republikaner!“ von Joseph Wirth, in: RB-Gautreffen 1927, S. 9–18. 63 Vgl. „Zentrum und Reichsbanner“ von Hans [Johannes] Fest (Mitglied des Berliner Gauvorstandes), in: RB-Prenzlauer Berg 1928, S. 14f.

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kerungskreise hinauslief.64 „Völkisch“ ist dieser Appell an eine Überwindung der Klassengrenzen also nicht, aber ist er „nationalistisch“? Lassen wir in dieser Frage den prominentesten Vertreter des „rechten“ Flügels im Reichsbanner zu Wort kommen: Theodor Haubach. Er und zahlreiche andere prominente sozialdemokratische Reichsbannermitglieder hatten sich im sog. Hofgeismarer Kreis zusammengeschlossen und dort eine antimarxistische und nationale Lesart des Sozialismus vertreten, wobei sie hiermit innerhalb der SPD jedoch in einer Minderheitenposition blieben und auch im Reichsbanner höchstens in den letzten Monaten vermehrt an Einfluss auf das Organisationshandeln des Bundes gewinnen konnten.65 In den Gauen und der Publizistik übten insbesondere Bröger, Haubach und Carlo Mierendorff schon vorher Einfluss. Darüber ob seine Position – und damit sein Einfluss im Reichsbanner – als „nationalistisch“ zu bezeichnen sei, hatte Haubach später eine klare Haltung. So äußerte er gegenüber einem marxistischen Kritiker, dass er unter „Nationalismus“ eine „Verabsolutierung des Nationalen“ verstehe, während ein Nationalismus ohne diesen negativen Totalitätsanspruch besser als „liberaler Patriotismus“ oder „proletarisches Nationalbewusstsein“ zu beschreiben sei. „Nationalismus“, so Haubach, werde auch von ihm scharf bekämpft und jede Unterstellung, dass Haubach oder einer seiner engen publizistischen Mitstreiter den Faschismus idealisieren würde, sei auf falschen Zitaten gebaut. Mit den echten Nationalisten wie Hitler, Ernst Niekisch66 oder Hans Zehrer habe man nichts gemein.67

64 Siehe u.a. Wildt 2009, Kroll 2013 u. Retterath 2016. 65 Hierzu bereits oben. So wurde der Hofgeismarer Franz Osterroth erst im Sommer 1932 zum Bundesjugendleiter ernannt, nachdem sich der vorherige langjährige Jungbannervorsitzende der Hörsing-Abspaltung angeschlossen hatte. Mierendorff, Schumacher und Leber waren lokale Reichsbannerführer ohne größeren Einfluss auf die Bundesleitung. Zum Verhältnis des Reichsbanners zu den „Jungen Rechten“ der SPD: Beck 1986 und Vogt 2006. 66 In der Tat grenzte sich das Reichsbanner von dem ehemaligen Sozialdemokraten Niekisch klar ab, der einer der maßgeblichen Köpfe hinter der ASPD in Sachsen war, was mit dessen „nationalsozialistischen Tendenzen“ begründet wurde (siehe „Reichsbanner und ASPD“, in: RBZ Nr. 3/1928 vom 1.2. sowie Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom Oktober, November und Dezember 1926, in: THStA, P 256, Bl. 143, 161 u. 187. Zu Niekischs ideologischer Entwicklung vom Sozialdemokraten zum völkischen Bolschewisten: Pittwald 2002 u. Elsbach 2015. Zum Konflikt um die ASPD ferner: Rohe 1966, S. 323f. u. Voigt 2009, S. 207ff. Interessanterweise hatte auch Schleicher die Entwicklung der ASPD verfolgt (siehe Schreiben Schleichers an RIM vom 25.11.26, in: BArch R1501/113502, Bl. 117). Anscheinend begrüßte man im RWM die Abspaltung als willkommene Rechtsentwicklung innerhalb der Sozialdemokratie. 67 Vgl. „Nationaler Linkssozialismus? Eine Erwiderung“ von Theodor Haubach, in: DR Nr. 12/1932 vom 18.12. sowie die Antwort seines Kritikers im selben Heft. Schifrin vertrat die Position, dass der deutsche Nationalismus und schon der einfache Appell an das nationale Gefühl in Deutschland mit dem Marxismus unvereinbar seien, da hier die nationale Revolution bereits 1871 abgeschlossen wurde. Höchstens in den Kolonien habe Nationalismus noch einen positiven Wert als Mittel zur Erkämpfung der Freiheit und daher dürfe allein Europa als übernationale Einheit bejaht werden (vgl. „Sozialistischer Antinationalismus“ von Alexander Schifrin, in: Ebd.) Zu Schifrin ferner: Schöler 2007.

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Tatsächlich wird man auch dem Reichsbanner höchstens dann unterstellen können, eine aggressiv-nationalistische Außenpolitik vertreten zu haben, wenn man die vielfältigen Äußerungen von Reichsbannergrößen aus dem Kontext nimmt. So erteilte Höltermann dem Reichsbanner hinsichtlich der gerade von Nationalisten heiß debattierten „Schuldlüge“, also der Kriegsschuldparaph des VvV, einen klaren Rat: „Unter sich lassen!“. Sicherlich könne kein vernünftiger Mensch die im Rausch des Sieges ausgesprochene These einer Alleinschuld des Deutschen Reiches am Ausbruch des Weltkrieges vertreten, so Höltermann weiter, aber man dürfe den legitimen Protest hiergegen nicht für den innerpolitischen Kampf missbrauchen, so wie es die Rechte tue.68 Gleichzeitig bemühte sich die Reichsbannerpresse, die Verständigungspolitik in Richtung Frankreichs und Polens sowie die historische Aufarbeitung über das tatsächliche Ausmaß der Schuld der deutschen Reichsleitung am Ausbruch des Krieges zu unterstützen.69 Dies passte auch durchaus in das nationalrepublikanische Profil des Bundes. Schließlich konnte nicht die Demokratie für diese politischen Fehler verantwortlich gemacht werden, da den gewählten Volksvertretern fataler Weise in der Vergangenheit kein ausreichender Einfluss auf die monarchische Reichsleitung gewährt worden war.70 Die wahren Verantwortlichen von damals gehörten folgerichtig nicht zu der ausgerufenen republikanischen „Volksgemeinschaft“.71 68 Vgl. „Zum 28. Juni. Unter sich lassen!“ von Karl Höltermann, in: RBZ Nr. 25/1929 vom 22.8. 69 Siehe etwa „Gespräch mit Oberst Pirot“ von Kurt Lenz u. „Deutschland und Polen. Verständigung tut not!“ von Dr. G.W., beide in: RBZ Nr. 19/1930 vom 10.5. sowie „Die Kriegsschuld“ von Eugen Fischer[-Baling], in: RBZ Nr. 26/1929 vom 29.6. Zu diesem Themenkomplex bereits ausführlicher Ziemann 2014, u.a. S. 184ff. Hinzuzufügen wäre, dass ab 1931 in der Reichsbannerpublizistik verstärkt kritische Artikel über die Entwicklung in Polen erschienen, dessen „Faschisierung“ unter der Leitung Pilsudskis – des „polnischen Mussolinis“ – zu einer unmittelbaren Gefahr für die Republik werde (vgl. „Gewaltpolitik in Polen. Demokratie im Endkampf mit dem Faschismus“ von Viktor Kalinowski, in: RBZ Nr. 1/1931 vom 3.1. u. „An des Reiches Grenze im Osten“, in: IRZ Nr. 50/1931 vom 10.12.). Verständigung mit Polen stand in diesem Kontext nicht mehr auf der Tagesordnung. 70 Eine vergleichbare doppelte Anklage an die Autoren des VvV und die alten Machthaber formulierte bereits Josef Higler in seinem Vorwort zur Gründungsdenkschrift des RRB (siehe RRB 1922, S. 3ff.). 71 Auf die verschiedenen Aspekte des demokratischen Revisionismus kann hier nur verwiesen werden, aber im Gegensatz zu den Revisionisten der rechtsradikalen Parteien versuchten die Weimarer Demokraten, den VvV mit rechtlichen und kulturellen Mitteln aufzuweichen und nicht mit Gewalt (siehe Niedhart 2013 u. Ruppert 1999, insb. S. 191–211). So vertrat etwa Carl Ulitzka im Verhältnis zu Polen einen „kulturellen Revisionismus“, der auf die Rückgewinnung ganz Oberschlesiens ohne Gewalt oder wenigstens eine Verbesserung der Lage der deutschen Minderheit in Polen abzielte (siehe „Die deutsch-polnische Frage“ von Carl Ulitzka, in: RBZ Nr. 8/1931 vom 21.2. sowie einordnend Hitze 2002, Kap. 3.5). Das Reichsbanner unternahm in Oberschlesien regelmäßige „Grenzlandtagungen“, auf denen Ulitzka und Hörsing sprachen, was von polnischer Seite zwar kritisch beäugt, aber anders als die parallelen Stahlhelm-Tagungen nicht als gewaltsame Bedrohung wahrgenommen wurde (siehe mehrere Berichte des polnischen Konsuls in Oppeln über das Reichsbanner, in: AAN, 2/482/0/1, Nr. 11 –Reichsbanner). Diese Akten verdeutlichen ferner den dominierenden Anteil des Zentrums im oberschlesischen Reichsbanner.

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Der Nationalrepublikanismus war – anders als der Nationale Sozialismus der Hofgeismarer – eine überparteiliche Idee, in dem Sinne, dass sich sowohl Anhänger der SPD, der DDP und des Zentrums hierin wiederfinden konnten. Daher war der Nationalrepublikanismus mit keiner verbindlichen Festlegung in sozialen oder wirtschaftlichen Fragen verbunden. Es war lediglich ein Minimalkonsens zu beobachten, der von der Reichsbannerpresse in der Regel streng eingehalten wurde. In den Spalten der RBZ finden sich zahlreiche Artikel über die Frage der inneren Siedlung bzw. Landreform, aber weiter als bis zu dieser Frage, welche die republikanischen Parteien scharf von der DNVP als Partei der ostelbischen Großgrundbesitzer trennte, reichte der Konsens in Wirtschaftsfragen nicht. Lediglich in den Jahren der verheerenden Wirtschafts- und Arbeitskrise ab 1929 erhielt auch die Frage der Arbeitsbeschaffung durch einen Freiwilligen Arbeitsdienst ein starkes Gewicht in den Publikationen des Reichsbanners, wobei dies gleichermaßen auf die Überlegungen von Gewerkschaftern aller Reichsbanner-Richtungen zurückzuführen ist. Andere wirtschaftliche Fragen oder gar theoretische Diskussionen über den Sozialismus sind in der Reichsbannerpresse hingegen nicht zu finden. Die Idee des Nationalrepublikanismus hatte folglich vor allem einen zivilkulturellen, staatspolitischen Gehalt, der um die republikanischen Symbole und die Geschichte der deutschen Demokratie kreiste sowie in einer scharfen Ablehnung antirepublikanischer Ideen bestand. Dies war als Minimalkonsens immerhin ausreichend, um eine breite Sammlung von republikanischen Aktivisten zu erreichen, die Männer – und im Reichsbund auch Frauen – aus den verschiedenen Sozialmilieus der Weimarer Gesellschaft umfasste. Diese Personen wurden von rechts wie von links als „Klassenverräter“72 bzw. „Unterstützer der Roten“73 angegriffen. Die republikanische Bewegung blieb aber bis zum Ende der Republik bestens organisiert und verfügte über mehr Mitglieder als die kommunistische und die rechtsradikale Bewegung zusammengenommen. Dies sollte den Einwand widerlegen, dass eine vermeintlich „gehaltlose“ Idee wie der Nationalrepublikanismus es nicht schaffen konnte, dauerhaft Sympathisanten und Aktivisten an die republikanische Bewegung zu binden. Zum Nationalrepublikanismus gehörte ferner eine dezidiert großdeutsche Ausrichtung.74 Das Reichsbanner pflegte beste Beziehungen zu seinem österreichischen Bruderverband, dem Republikanischen Schutzbund (RESCH), was sich sogar in der Mitgliedschaft zweier Österreicher im Reichsausschuss des Reichsbanners ausdrückte. Julius Deutsch und Theodor Körner gehörten zur obersten Führung der österreichischen Sozialdemokratie und unterstützten wie auch andere Politiker aus Österreich und Südtirol das Reichsbanner mit Wort und Tat, was

72 Siehe die Anmerkungen zu Hörsings Darstellung in der DDR-Historiographie oben. 73 Dies eine Ansicht vor allem der NS-Geschichtsschreibung (siehe Rose 1933). 74 Für den RRB ist die personelle Verbindung nach Österreich ob der Quellenlage schlechter belegbar, aber in der Publizistik ist diese Tendenz ebenfalls sehr präsent (siehe das Gastwort von Karl Renner in: RRB 1922, S. 9 u. die entsprechende Anschluss-Forderung des RRB in Dokumentenanhang Nr. 3).

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zahlreiche Reisen und Redeversammlungen belegen.75 Was das Reichsbanner und den RESCH aber klar trennte war zweierlei. Erstens war der RESCH anders als das Reichsbanner nicht eine potentielle Hilfspolizei, sondern ein bewaffneter Kampfverband der SDAP, der neben der regulären österreichischen Armee bestand und über schwere Waffen verfügte, die auch offen zur Schau getragen wurden. Zweitens war der RESCH eine ausschließlich sozialdemokratische und damit sozialistische Organisation, die aufgrund der österreichischen Verhältnisse nicht bereit war, positive Kontakte zu bürgerlichen Kreisen aufzubauen.76 Folgerichtig bestanden zum RRB soweit bekannt keine Kontakte. Vor allem Julius Deutsch versuchte, das österreichische, klassenexklusive Model als betont „antifaschistische“ Alternative zu klassenübergreifenden Abwehrkonzepten den Reichsbannermitgliedern nahe zu bringen.77 Er vertrat diese Position, die einen Ausschluss der bürgerlichen Republikaner aus dem Reichsbanner verlangte, in Publikationen und auch auf Redeversammlung des Reichsbanners, wo seine Vorschläge in diesem Punkt aber nicht aufgenommen wurden. Die Verbindungen zum RESCH wurden von Seiten des Reichsbanners mit einer großdeutschen Ausrichtung des Bundes begründet und nicht mit einem sozialistischen, internationalen Antifaschismus, was sich nicht mit der Tatsache ausschloss, dass die Mitglieder des Reichsbanners und des Reichsbundes den Nationalsozialismus ebenfalls scharf bekämpften. 75 Siehe Dokumentenanhang Nr. 4 sowie als Belege für die Beteiligung des RESCH an den Verbandsaktivitäten des Reichsbanners u.a. „Reichsbannertag in Hamburg“, in: Vorwärts Nr. 87/1926 vom 21.2., „Gruss des Republikanischen Schutzbundes“, in: RBZ Nr. 3/1931 vom 17.1. u. „Für Südtirol! Reichsbannerkundgebung gegen nationalsozialistischen Verrat“, in: Vorwärts Nr. 25/1932 vom 16.1. Diese organisatorische Zusammenarbeit ist auch in den Akten des RKO belegt (siehe u.a. Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom Februar 1926, in: THStA, P 256, Bl. 23 u. Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom Juni 1927, in: THStA, P 257, Bl. 108). Ferner publizierten Führer des RESCH auch in der Reichsbannerpresse, so Körner, Deutsch, Karl Renner und Karl Heinz (siehe u.a. „Abwehr in Österreich“ von Karl Renner u. „Die Lage Deutsch-Österreichs“ von Karl Heinz, in: RBZ Nr. 40/1929 vom 5.10.). 76 Die verbandseigene Sicht auf den RESCH bei: Deutsch 1934, S. 19–30. Ferner Naderer 2004. Der RESCH war eine einseitig militärische Organisation und ist auch deswegen kaum mit dem Reichsbanner zu vergleichen. So veranstaltete der RESCH (oft bewaffnete) Demonstrationen oder gesellige Abende, aber Bildungsveranstaltungen und dergleichen zivilkulturelle Aktivitäten sind in der Literatur nicht beschrieben worden. 77 Hierzu insbesondere Deutsch 1926. Deutsch versuchte, ein europaweites Netzwerk von antifaschistischen Organisationen aufzubauen, aber hatte hiermit in den 1920ern wenig Erfolg. Nennenswerte organisatorische Verbindungen des RESCH gab es neben Deutschland nur in die Tschechoslowakei, Belgien und Lettland, wo rein sozialdemokratische Selbstschutzverbände bestanden (vgl. ebd., S. 96–110). Insbesondere zum lettischen Arbeitersport- und Schutzbund unterhielt das Reichsbanner rege Kontakte. So entsandte 1930 das Reichsbanner eine größere Delegation zur 10–Jahres-Feier des lettischen Bundes in Riga. Theodor Haubach hatte bereits 1928 erstmals Riga besucht und sich auch weiterhin für eine enge Kooperation mit den lettischen Republikanern eingesetzt (siehe „Reichsbanner in Riga. Eindrücke einer Reise“ von Theodor Haubach, in: RBZ Nr. 35/1930 vom 30.8. u. „Kongress des lettischen Schutzbundes“, in: RBZ Nr. 15/1932 vom 9.4. sowie BArch R1501/125668j, Bl. 243ff.).

5. DAS REICHSBANNER ZWISCHEN REPUBLIKANISCHER GEWALT- UND ZIVILKULTUR Die Annahme, dass das Reichsbanner eine „verspätete Gründung“ gewesen sei, sollte bereits durch die dargestellten Bemühungen innerhalb der republikanischen Zivilgesellschaft vor 1924 widerlegt sein. Es ist durchaus gerechtfertigt, in Bezug auf die recht heterogene Gruppe von republikanischen Vereinen, Parteien und Kulturorganisationen von einer republikanischen Bewegung zu versprechen, wenn man bedenkt, dass sich eine Vielzahl dieser Gruppierungen 1924 im Reichsbanner mit dem gemeinsamen Ziel zusammenschloss, die Republik vor weiteren Angriffen zu schützen. Hinzu kommt, dass bereits 1921 mit der Gründung des Reichsbundes eine Sammlung aller Republikaner versucht wurde, die zwar keinen Massenanhang, aber zumindest eine große Zahl an republikanischen Aktivisten und Politikern gewinnen konnte. Diese zwei Sammlungsbewegungen – Reichsbanner und Reichsbund – werden hier als Kern einer sicherlich nicht homogenen, aber von ihrem nationalrepublikanischem Ziel her einheitlichen republikanischen Bewegung bezeichnet, was auch durch die personellen Überschneidungen zwischen beiden Bünden sowie die Überschneidungen mit den sie mittragenden zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgedrückt wurde.1 Von den republikanischen Parteien unterschied sich die republikanische Bewegung darin, dass sie ihre Ziele primär außerhalb der Parlamente erreichen wollte. Der Reichsbund war tendenziell bürgerlicher und akademischer als das vergleichsweise proletarisch bzw. sozialdemokratisch geprägte Reichsbanner, aber auch im Reichsbanner gab es einen nicht unwesentlichen Teil an bürgerlichen Aktivisten.2 Die konzeptionellen Unterschiede zwischen beiden Bünden dürfen nicht ausgeblendet werden. Der Reichsbund war letztlich ein klassischer Honoratiorenverein, wie er in der Kaiser1

2

Die Beteiligung von republikanischen Organisationen und Aktivisten am Reichsbund wurde oben bereits thematisiert. Helmbold zeigte in seiner Analyse der Reichsbannerführung, dass der Anteil der Bürgerlichen mit der Zeit anstieg. Die Zahlen sind für den BV, dessen Beisitzer und den RA zusammengenommen wie folgt: 1924: SPD = 68%, Zentrum = 5 %, DDP = 27%; 1928/29: SPD = 58,3%, Zentrum 8,1%, DDP = 25,4%, keine Partei bzw. Partei nicht feststellbar = 8,2%; 1933: SPD = 57,5%, Zentrum = 7,5%, DStP = 24,3%, keine Partei bzw. Partei nicht feststellbar = 10,7% (Helmbold 1970, Anhang S. 48). Zum Vergleich war der Anteil der sozialdemokratischen Funktionäre im Reichsbund wesentlich niedriger. So für das Jahr 1928: Liberale Parteien = 24,6%, SPD = 39,6%, Zentrum = 15,1% sowie keine Partei bzw. Partei nicht feststellbar = 18,9% (siehe Dokumentenanhang Nr. 5). Die kontinuierlichen Aktivitäten bürgerlicher Mitglieder des Reichsbanners in führenden Positionen sind auch biographisch belegbar. So etwa im Falle des 2. Vorsitzenden der Berliner OG des Reichsbanners Wilhelm Nowack (DDP). Nowack war seit 1924 im Reichsbanner führend aktiv und blieb dies bis zu dessen Auflösung 1933 (siehe das Mitgliedsbuch und den Schriftverkehr Nowacks in: AdL, Bestand Wilhelm Nowack, N26–2 u. –5). Der Bundesrechenschaftsbericht der Generalversammlung im Februar 1933 als letzte größere Publikation des Reichsbanners war bspw. von Nowack als verantwortlichen Redakteur ausgearbeitet worden (siehe RB-Rechenschaftsbericht 1933, S. 16, Impressum).

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zeit üblich war, aber was ihn von diesen Vereinen abhob, war seine demokratische Zivilkultur. Hieran waren zu Beginn führende Politiker der SPD und der DDP sowie einzelne Vertreter des Zentrums und des Bayerischen Bauernbundes beteiligt, aber auch eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivisten aus der pazifistischen Bewegung. Ferner wurde versucht, Republikanerinnen einzubinden sowie eine republikanische Jugendbewegung mit aufzubauen. Während der Reichsbund bei der Beteiligung von weiblichen Republikanern im Laufe der 1920er Erfolge vorweisen konnte, wurde er bei der Sammlung von jugendlichen Republikanern schnell vom Reichsbanner übertrumpft. Dies hing nicht unwesentlich damit zusammen, dass das Reichsbanner als Massenorganisation neuen Typus innerhalb der republikanischen Bewegung alle paramilitärischen bzw. gewaltkulturellen Aktivitäten monopolisieren konnte. Von Seiten des Reichsbundes trennte man sich im Laufe des Jahres 1924 bewusst von jeglichen Bemühungen, aus den Jugendverbänden einen Saal- und Versammlungsschutz zu bilden, was dem Verbandsprofil entsprach und den Reichsbund zu einer rein zivilkulturellen Einrichtung machte. Im Falle des Reichsbanners hingegen findet sich eine Mischung aus zivil- und gewaltkulturellen Aktivitäten, was wir in den folgenden Kapiteln eingehend gegenüberstellen wollen. Das Gedenken des Reichsbanners an die Weltkriegstoten und die Märtyrer der Republik oder die Veranstaltung von Republikanischen Tagen war beispielsweise vom Ablauf her betrachtet ein genuin zivilkulturelles Engagement, wobei ein genauerer Blick auf das Selbstverständnis der beteiligten Republikaner und den politischen Sinn dieser Veranstaltungen zeigt, dass man ihnen einen gewaltkulturellen Aspekt aber nicht absprechen kann. Es vermischten sich im Reichsbanner diese zwei Aspekte und dies sowohl in die eine als auch die andere Richtung. So war die Hauptbeschäftigung der Jugendverbände des Reichsbanners zwar das Marschieren, Wandern und (Wehr-)Sport treiben, aber zivilkulturelle Bemühungen um die politische Bildung der Jugendlichen waren ebenfalls ein fester Bestandteil der Verbandsaktivitäten. Man könnte diese durchaus bewusste Vermischung von zivil- und gewaltkulturellen Aktivitäten im Reichsbanner dafür kritisieren, dass hierdurch ein Beitrag zur „Militarisierung“ der politischen Kultur der Weimarer Republik geleistet wurde.3 So äußerte Theodor Heuss (DDP) in seinen Memoiren, dass ihn die „Kostümierung“, die „Brachialgewalt“ und der „Märtyrerkult“ des Reichsbanners abgeschreckt habe, auch wenn er selbst dort „einige Male mitgemischt habe“ und hierdurch wenigstens sein Netzwerk stärken konnte.4 Was Heuss, der hier nicht nur für sich selbst, sondern eine ganze Reihe bürgerlicher Republikaner spricht, am Reichsbanner ablehnte, waren nicht die Ziele des Bundes, sondern dessen Art und Weise, diese zu erreichen. Die Wehrverbände waren als Ergänzung der politischen Massenparteien offensichtlich den im Kaiserreich sozialisierten, „alten“ Eliten (und auch kritische Akademiker wie Ossietzky gehörten hierzu) wesentlich 3 4

Hierzu bereits die Kritik der Weltbühne oben. Vgl. Heuss 1963, S. 358ff. Heuss berichtet dort über seine Bekanntschaft zu Theodor Körner – dem späteren Bundespräsidenten Österreichs – den er ohne das Reichsbanner wohl erst viel später kennen gelernt hätte.

fremder als der Weimarer Jugend, die sich enthusiastisch in den Wehrverbänden engagierte. Daher war es wichtig diesen Enthusiasmus für die Republik zu mobilisieren. So begründete Otto Hörsing diese Umwerbung der Jugend mit Paraden und Märsche in seinen (unvollendeten) Memoiren damit, dass dies nun mal von den Jugendlichen gewünscht worden sei. Während „die Alten […] immer über meinen Militarismus [orakelten]“, habe die Jugend zugestimmt und habe „marschiert und [ge]übt wie einst die Soldaten.“ Hörsing stimmt in diesem Abschnitt seiner Erinnerungen, der von seiner Militärdienstzeit handelt, die er mit nur 17,5 Jahren begann, ein Lob der Preußischen Armee an, welche „die größte Schule der deutschen männlichen Jugend“ gewesen sei, die trotz ihrer Schwächen „vielen Männern Haltung, Sauberkeit, Disziplin, Ordnung, Einfügung ins Ganze“ sowie „Denken, Sich umsehen und den Mannesmut“ gelehrt habe. Kein Sportverein könne diese Schule ersetzen, so eine von Hörsings Rechtfertigungen der späteren Gründung des republikanischen Wehrverbandes. Hörsing berichtet an dieser Stelle aber auch explizit über die schlechten Seiten des Soldatenlebens. So habe ihn die körperliche Misshandlung von Soldaten, der oft überflüssige Dienst, das dauernde Brüllen, das schlechte Essen und der standesmäßige Graben zwischen Mannschaften, Unteroffizieren und Offizieren sehr bedrückt. Über die Anfeindung von Sozialdemokraten durch Offiziere berichtet Hörsing ebenfalls, der aufgrund einer Zettelverteilaktion als „Roter“ und „Bebelschwein“ beschimpft sowie mit Festungshaft bedroht wurde, was Hörsing lediglich aufgrund seiner ansonsten musterhaften Dienstleistung erspart blieb.5 Die Anfeindung der Sozialdemokratie durch das preußische Offizierskorps, die auch die Mitglieder des Republikanischen Führerbundes erleben mussten, war somit nichts Neues. Dennoch findet sich bei Hörsings Reichsbanner wie schon beim Führerbund eine grundsätzliche Bejahung des Militärischen an sich, auch wenn die preußische Militärtradition verständlicherweise kritisch bewertet wurde. Das Reichsbanner trug also durchaus bewusst zum Fortbestehen einer politischen Gewaltkultur bei, indem es militärähnliche Formen und Praktiken pflegte und diese einer neuen Generation nahebrachte. Gleichzeitig wurde aber versucht, diesen Formen und Praktiken einen neuen, nämlich demokratischen Inhalt zu geben. Die preußische Gewaltkultur sollte durch eine republikanische Gewaltkultur verdrängt werden. Die uniformierten Aufmärsche, die Feierlichkeiten wie praktisch das gesamte Engagement des Reichsbanners erfolgten in diesem Sinne zur Stärkung und zum Schutz der Republik. Dass diese Bemühungen in späteren Jahren vom Aufstieg der NSDAP, der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg 5

Vgl. Meine Lebenserinnerungen 1874–1905, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 1, S. 20ff. Hörsing führte in seinen Erinnerungen ebenfalls an, dass es vor allem dem wachsenden Einfluss der SPD unter August Bebel zu verdanken sei, dass sich um die Jahrhundertwende herum das Leben der einfachen Soldaten verbessert habe und der Graben zwischen Offizieren und Mannschaften verringert werden konnte, was für die Soldaten unmittelbar bedeutete, dass der Ton und die Behandlung sich ihnen gegenüber besserte (vgl. ebd., S. 22ff.). Hörsing vertrat somit die Ansicht, dass die SPD bereits in der Kaiserzeit in der Lage war, die militärische Praxis in einem sozialen Sinne zu beeinflussen und dasselbe folglich auch in der Weimarer Republik versucht werden musste.

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abgewürgt wurden und sich eventuelle positive Aspekte der Reichsbannerpolitik wenn überhaupt erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zeigen sollten, darf nicht den Blick auf den Ausgangspunkt dieser Bemühungen verstellen. Die Militarisierung der Politik war aufgrund der nicht vorhandenen Kontrolle des Militärs durch zivile Stellen bereits vor der Gründung des Reichsbanners eine Tatsache war. Schon während des Ersten Weltkrieges war Deutschland von den Militärdiktatoren Hindenburg und Ludendorff regiert worden. Die Ernennung Seeckts zum „verfassungsmäßigen“ Militärdiktator war 1923 also kein Novum und der Einfluss der Militärs nicht einfach wegzudiskutieren. Wohl aber konnte versucht werden, diesen Einfluss auf einer machtpolitischen Ebene zu verdrängen, indem mit der Polizei eine republikanische Gegenmacht aufgebaut wurde, was vom Reichsbanner – trotz einzelner Differenzen mit Severing – nach besten Kräften unterstützt wurde, wobei gleichzeitig auf eine Reform der Reichswehr hingearbeitet wurde. Dass dieses „sich einmischen“ von Zivilisten und Privatpersonen in sicherheitspolitisch sehr sensible Frage nicht allen Politikern und Militärs willkommen war, ist fast schon selbstverständlich. Die Gründung des Reichsbanners war jedoch weniger eine Verschärfung der politischen Gewaltkultur als eine defensive Reaktion auf die bereits bestehende politische Kultur der Gewalt, welche den Bestand der Republik bedrohte. Dass die Vereinigung von Reichsbanner und Reichsbund letztlich nicht zustande kam, ermöglicht in den Augen des Sozialwissenschaftlers ein willkommenes Experiment, da nun geprüft werden kann, welche Erfolge und Misserfolge zwei von ihrem Organisationstyp her so unterschiedliche Vereine, die dennoch dieselbe nationalrepublikanische Zielsetzung hatten, in den kommenden Jahren erleben sollten.

III. WEHRHAFTE DEMOKRATEN. DIE ETABLIERUNG DES REICHSBANNERS IN ZEITEN DES BÜRGERBLOCKS (1924–1928) Tatsächlich ist die gesamte Arbeit der jungen deutschen Republik als eine Rettungsaktion größten Stiles zu werten. Die Organisationsform für diese Rettungsaktion lieferte die neue Reichsverfassung. Der neue republikanische Staat bedeutet einen Notbau, der das Volk zur Überwindung der größten Unbilden und Schwierigkeiten befähigen soll. Dieser Notbau braucht Stützen und Träger. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold will und soll ihm die stärkste Stütze sein. Verfassungsfragen sind Machtfragen, die Verfassung als solche ist ein Fetzen Papier, entscheidend ist die wirkliche ungeschriebene Verfassung, die gebildet wird von den gesellschaftlichen Machtfaktoren und dem sich daraus ergebenden Parallelogramm der Kräfte, so verkündete schon Ferdinand Lassalle. Die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit liefert die glänzendste Illustration für diese Sätze. Aus Lassalles Gedankengängen heraus ist das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold entstanden.1

Das mittlere Jahrfünft der Weimarer Republik zwischen 1924 und 1929 gilt gemeinhin als Phase der Stabilisierung, auch wenn in jüngerer Zeit stets ein mehr oder weniger großes „relativ“ in Anführungszeichen hinzugefügt wurde. Es ist interessant, dass meist wirtschaftspolitische Gründe für die allgemeine Beruhigung der Politik verantwortlich gemacht werden – namentlich die Währungsreform („Rentenmark“) und die im Dawes-Plan enthaltenen Reparationserleichterungen – und weniger sicherheitspolitische Aspekte.2 Nun müsste man auf die negativen Konsequenzen der wirtschaftlichen Stabilisierungsgründe verweisen. So entledigte sich das Reich im Zuge der Währungsreform seiner Inlandsschulden, was die inflationär bedingten Vermögensverluste des Mittelstandes und gleichzeitig die Abhängigkeit Deutschlands vom ausländischen Kapitalmarkt zementierte. Dies wiederum sollte in der Finanzkrise 1929 zur volkswirtschaftlichen Katastrophe führen. Der Dawes-Plan auf der anderen Seite war letztlich wenig mehr als eine beruhigend gemeinte Reaktion der Alliierten auf die französische Eskalationspolitik des Krisenjahrs 1923.3 Wir wollen hier die ökonomischen Seiten der Weimarer Krise allerdings nicht in den Fokus nehmen, sondern bei der Innenpolitik bleiben. Auch die mittleren Jahre Weimars waren von anhaltenden Konflikten geprägt, von denen mehrere den Wesenskern der republikanischen Verfassungsordnung berührten. Politisch betrachtet dominierte seit dem Ende der Regierung Stresemanns im November 1923 bis zu den Wahlen 1928 die als Bürgerblock bezeichnete Koalition rechter Parteien unter dem Zentrumskanzler Wilhelm Marx und dem Parteilosen Hans Luther (vormals DVP), wobei mehrfach die Zusammensetzung der Regierung verändert wurde. Unterm Strich war es Marx gelungen, seinen bereits 1924 ge1 2 3

Hörsing 1929, S. 179. Siehe Winkler 1985, S. 670–736 sowie einordnend Kolb/Schumann 2013, S. 162f. Näheres hierzu in Brecht 1966, S. 443ff. u. Brecht 1967.

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Wehrhafte Demokraten (1924–1928)

hegten Plan umzusetzen und die DNVP in die Regierungsverantwortung zu ziehen, auch wenn zunächst Luther dieses Experiment zu verantworten hatte. Es war bereits davon die Rede, dass eine republikanische Staatsgesinnung nicht zum Programm der Deutschnationalen gehörte und daher ihre Einbindung in die Regierung auf Seiten der Republikaner Befürchtungen wachrief. So hatten führende wie nicht führende Mitglieder der DNVP den Kapp-Putsch offen begrüßt oder sogar wie Walter von Keudell, der 1920 preußischer Beamter war, die Putschisten aktiv unterstützt. Als Keudell 1927 das Amt des Reichsinnenministers besetzten konnte und damit ebenfalls für Verfassungsfragen verantwortlich war, ließ dies republikanische Befürchtungen um die Verfassungsordnung nicht unbegründet erscheinen.4 Andererseits nahm in diesen Jahren der relativen Stabilisierung die Zahl der politisch motivierten Tötungen rasant ab. Dass die Rechtsradikalen, als Hauptverantwortliche für die politische Gewalt, ihre Ziele in der Regierung und nicht nur auf der Straße verfolgen konnten, wird regelmäßig und nicht ohne Ironie als einer der maßgeblichen Gründe für diesen Aspekt der Stabilisierung angeführt.5 In diesem Sinne ist auch die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 interpretiert worden. So äußerte Sebastian Haffner die Meinung, dass allein die Wahl Hindenburgs das konservativ geprägte Bürgertum mit der Republik versöhnt habe und zusammen mit dem Wirken Stresemanns – Außenminister und „Schattenkanzler“ – als eigentlicher politischer Stabilitätsanker zu werten sei.6 Richtig an dieser Ansicht ist, dass auch auf der Rechten zahlreiche Personen bereit waren, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich in Ämter heben ließen, deren wichtigste Qualifikation, nämlich eine ehrliche republikanische Gesinnung, sie nicht erfüllten. Der Stahlhelm, dessen Ehrenmitglied Hindenburg war, gab 1925 sogar die offizielle Parole „Hinein in den Staat“ aus, was bedeutete, dass die monarchistisch-konservative Umformung des Staates nicht mehr primär mit Gewalt erreicht, sondern „legal“ durch ein präsidiales Dekret vonstattengehen sollte.7 Man könnte diese Parole auch als Aufruf zu einem trockenen Putsch bezeichnen. Der vereidigte oberste Hüter der Verfassung wiederum besaß nur ein oberflächliches autodidaktisches Wissen um selbige und fühlte sich lediglich an den Wortlaut, nicht aber an den verfassungsrechtlichen Sinn des Textes gebunden, was eben keine verfassungskonforme, sondern eine pseudolegale Haltung darstellt.8 4

5 6 7

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Zur anti-republikanischen Personalpolitik Keudells siehe Brecht 1966, S. 465ff. Brecht war als Referent für Verfassungsfragen der wichtigste Beamte des RIM, der unter Keudell entlassen wurde. Überblicksartig zur DNVP-Koalitionspolitik: Kiiskinen 2005, Teil E. Hierzu insbesondere Schumann 2001, Kap. V. Siehe Haffner 2002, u.a. S. 67ff. Siehe Berghahn 1966, S. 103ff. Das problematische an dieser Position ist, dass eine monarchistische Umformung des Staatswesens nur dann legal gewesen wäre, wenn dies in einer neuen Verfassung verankert worden wäre. Eine Änderung hin zu einer monarchistischen Staatsform mittels des Art. 48 WRV, wie sie der Stahlhelm und andere Kräfte auf der Rechten anstrebten, wäre genauso illegal gewesen wie ein gewaltsamer Umsturzversuch. So etwa die Einschätzung von Wirth (siehe „Wir bleiben“ von Joseph Wirth, in: RBZ Nr. 17/1927 vom 1.9.). Ausführlich zu Hindenburgs charismatischem und somit „extralegalem“ Herrschaftsverständnis: Pyta 2007, insb. 57ff. u. 285ff. Pyta berichtet ein interessantes Detail aus Hindenburgs

Einleitung

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Pseudolegalität als politisches Kampfmittel wurde nicht erst von den Nationalsozialisten erfunden. Es ist unschwer zu erkennen, dass es besondere Schwierigkeiten mit sich bringt, gegen einen Gegner anzugehen, der sich hinter einem pseudolegalen Visier versteckt. Aber unter diesen politischen Rahmenbedingungen waren die Mitglieder des Reichsbanners und des Reichsbundes gezwungen, für ihre republikanischen Ziele zu arbeiten. Ihre Antwort auf die pseudolegale Herausforderung bestand zum einen darin, selbst in die Rolle des (privaten) Republikschützers zu schlüpfen. Das Reichsbanner führte zu diesem Zweck zahlreiche massenwirksame Aktivitäten durch, insbesondere öffentliche Feiern zu Ehren von Republik und Verfassung, zu denen auch die höchsten Amtsträger der Republik geladen waren, was die konfrontative Tendenz dieser Aktionen abschwächen sollte (III.1.). Hingegen versuchte der elitär orientierte Reichsbund, Republikaner wie Nichtrepublikaner an der gemeinsamen Lösung politischer Probleme und damit an einem Handeln innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens zu interessieren, freilich ohne offene Feinde der Republik einzubeziehen. Die in diesem Sinne wichtigste Initiative des RRB in der jetzt zu untersuchenden Periode war die sog. Führertagung von 1926 zum Thema „Reichsreform und Einheitsstaat“, zu der nicht nur die Prominenz der drei Parteien der Weimarer Koalition, sondern auch zahlreiche Amtsträger und Vertreter rechtsbürgerlicher Parteien erschienen (III.2.). In dieser Hinsicht sind die Beziehungen des Reichsbanners zu den liberalen Parteien, die ein Bindeglied zwischen dem republikanischem und dem konservativen Milieu darstellten, besonders interessant, wobei wir auch auf die Sonderrolle der bürgerlichen Pazifisten eingehen werden (III.3.). Als weiterer Teil der republikanischen Antwort kann die Aufklärung über die politischen Ziele der Republikgegner und die entsprechende Lobbyarbeit bei staatlichen Stellen gesehen werden. Diese Aktivitäten belegen ein klares republikanisches Bewusstsein über die tatsächlichen Gefahren für die Republik, wobei das Reichsbanner in dieser Frage insbesondere mit der Republikanischen Beschwerdestelle zusammenarbeitete (III.4.). Dass diese Einschätzungen nicht von allen staatlichen Stellen geteilt wurden, sondern im Gegenteil das Reichsbanner von behördlicher Seite als Gegner wahrgenommen wurden, ist nicht zuletzt im staatlichen Widerstand gegen die paramilitärischen Aktivitäten und insbesondere Hilfspolizeipläne des Reichsbanners zu sehen (III.5.). Dieser Widerstand erklärt sich nicht zu einem geringen Teil aus dem Erfolg der antirepublikanischen, antipazifistischen und antisemitischen Propaganda der Republikfeinde gegen das Reichsbanner. Die kommunistische Propaganda gegen das Reichsbanner war in manchen Fragen nicht minder scharf als die der Rechtsradikalen und stand mit dieser durchaus in einem Wechselspiel (III.6.). Als Selbststudium des Verfassungstextes. So hat der ehemalige Feldmarschall einer alten Gewohnheit folgend die den Reichspräsidenten betreffenden Artikel des Textes in blau, die das Parlament betreffenden Textstellen aber in rot markiert. Blau war in den Schlachtplänen der Armee stets für eigene Truppen reserviert, während die Truppen des Gegners rot dargestellt wurden (vgl. ebd., S. 486). Diese Charakterisierung des Parlaments als „feindliche Truppe“ mag Hindenburg mit manchen seiner Zeitgenossen geteilt haben, aber dem Geist der damals geltenden Verfassung läuft dies krass zuwider.

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Wehrhafte Demokraten (1924–1928)

direktes Ergebnis dieser Propaganda sind die vielfältigen gewaltsamen Auseinandersetzungen des Reichsbanners mit den rechten Wehrverbänden zu betrachten, wobei wir die nicht-tödlichen Zusammenstöße (III.7.) getrennt von den tödlichen Auseinandersetzungen behandeln werden. Dann wird näher auf die Mikroebene des tödlichen Gewalthandelns einzugehen sein (III.8.). Der Rotfrontkämpferbund fuhr gemäß der kommunistischen Lehre vom „Sozialfaschismus“ eine deutlich andere Linie gegenüber dem Republikanerbund als gegenüber den Rechtsradikalen, was gesondert behandelt wird (III.9.). Das Reichsbanner traf bei all seinen Aktivitäten in diesen Jahren nicht nur auf den gewaltsamen Widerstand der Republikfeinde von links und rechts, sondern auch auf den skeptischen Widerspruch der wechselnden Reichsregierung, der nur kurzzeitig nach dem Eintritt von Wilhelm Marx in das Reichsbanner abgeschwächt wurde. Das Reichsbanner sollte zwar ein unwillkommenes „Stiefkind“9 der Republik bleiben, aber den Kampfeseifer der Republikaner minderte dies keineswegs.

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In der RB- bzw. republikanischen Presse wurde das Reichsbanner mitunter als „Stiefkind der Republik“ bezeichnet, um die Distanz des republikanischen Staates zum Reichsbanner anzuklagen. So z.B. in: „Stiefkinder der Republik“, in: RBZ Nr. 18/1928 vom 17.6. Dort wird die mangelnde staatliche Anerkennung für den Jugendverband des Reichsbanners beklagt. Der Begriff wurde von Toury wieder aufgegriffen (siehe Toury 1997).

1. SYMBOLFRAGEN SIND MACHTFRAGEN. VERSUCHE SYMBOLISCHER INTEGRATION UNTER SCHWARZ-ROT-GOLD Die Akten der Reichskanzlei gelten mit Recht als wichtige Quelle der Weimarer Innenpolitik. In ihnen hinterließ auch das Reichsbanner als größter Wehrverband dieser Zeit einige Spuren, wobei während der Betrachtung der Akten schnell klar wird, dass die Regierungsvertreter das Reichsbanner im Allgemeinen als zivilgesellschaftliche Störquelle für ihre jeweilige Politik auffassten und vielleicht liegt in der Übernahme dieser abschätzigen Haltung durch die Nachkriegshistoriographie einer der Gründe verborgen, warum das Reichsbanner bislang relativ wenig Aufmerksamkeit in der Forschung fand. Richtig ist, dass die ersten Erwähnungen des Reichsbanners in der gängigsten Edition der Akten der Reichskanzlei in der Tat wenig spektakulär scheinen.1 Doch wird mitunter der Sinngehalt dieser Schriftstücke erst deutlich, wenn diese mit Akten des Reichsinnenministeriums und anderen Quellen zusammen gesehen werden, wie es hier erfolgt. Verfassungsfeiern ohne Verfassungsminister? Nach Gründung des Reichsbanners im Februar 1924 versuchte die Bundesleitung mehrfach, die Kabinette von Wilhelm Marx und Hans Luther dazu zu bewegen, ihre Vertreter zu den Feiern des Bundes zu entsenden. Während solche Bemühungen bei den obersten Repräsentanten des Staates bis 1929 nicht von Erfolg gekrönt waren, wurden die Feierlichkeiten des Reichsbanners von Repräsentanten der unteren Ebenen durchaus lebhaft unterstützt. Bürgermeister, Abgeordnete, Stadträte und andere Kommunalpolitiker beteiligten sich genauso wie die Vertreter der republikanisch regierten Länder.2 Insbesondere die Verfassungsfeiern des Reichsbanners waren als großangelegte Volksfeste geplant, welche die neuen, verfassungsmäßigen Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold in der Öffentlichkeit sichtbarer machen und zudem mittels der Festreden die republikanische Gesinnung fördern sollten. Dies sind explizit staatstragende bzw. staatsloyale Ziele gewesen, die auf eine symbolische Integration möglichst großer Bevölkerungskreise unter dem Zeichen Schwarz-Rot-Gold hinwirken sollten und die Erfolge dieser Aktivi-

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Siehe http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919–1933/0000/index.html. So wurde die Verfassungsfeier der OG in Buer vom dortigen OB Emil Zimmermann (SPD) protegiert. Zum dreitägigen Festprogramm gehörte neben den üblichen Reden, einer Fahnenweihe und einem Konzert, auch ein Fackelzug durch die Stadt sowie die rituelle Verbrennung von Grenzpfählen, wobei auch eine „Feuerrede“ gehalten wurde. Am dritten und letzten Festtag gab es ein Volksfest, samt Abendball. Eintrittspreise waren pro Tag 20 Pf. für den Festplatz und 1 Mark für das Festzelt (vgl. Festschrift zur Verfassungsfeier-Buer am 6.–8.8.27, in: LA NRW Abt. Westfalen, C 61, Nr. 9).

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Wehrhafte Demokraten (1924–1928)

täten werden durchaus in der Forschung anerkannt.3 Die größeren Feiern des Reichsbanners zogen regelmäßig Zehntausende an und bei mehreren Gelegenheiten sogar jeweils über hunderttausend Menschen. Die größten Feiern wurden alljährlich zum „Geburtstag“ des Reichsbanners am 22. Februar und zur Feier der Reichsverfassung um den 11. August herum veranstaltet.4 Als Gegengewicht zu den bereits seit Jahren veranstalteten Deutschen Tagen der rechtsradikalen Verbände organisierte das Reichsbanner sog. Republikanische Tage, wo in einem in der Regel lokalen Rahmen eine republikanische Gesinnung gefördert wurde.5 Aber auch manche Republikanischen Tage erreichten eine Größenordnung von mehreren zehntausend Teilnehmern, so etwa auf dem Mitteldeutschen Republikanischen Tag in Leipzig am 3. und 4. Juli 1926, wo insgesamt 60.–80.000 Besucher zu verzeichnen waren.6 Das Thema der Leipziger Feierlichkeiten war das Gedenken an die Kämpfe von 1848. In einer symbolischen Darbietung wurde eine Traditionslinie zwischen dem Reichsbanner und den historischen Republikanern von 1848 sowie den Burschenschaften des Vormärz hergestellt. Drei Darsteller, die diese Gruppen repräsentierten, entzündeten gemeinsam im Rahmen einer abendlichen Totengedenkfeier zu Ehren der Märzrevolution von 1848 ein Opferfeuer aus sieben Pylonen, was von einem Chor der Arbeitersänger begleitet wurde. Tags 3

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Siehe Lehnert 1989, S. 95–105, Rossol 2010, S. 25–33 u. 161f., Ziemann 2014, Kap. 4 u. 5 sowie Böhles 2016, Kap. 4. Hinsichtlich der staatlichen Reichsverfassungsfeiern, die i.d.R. nur in kleinstem Kreis von Amtsträgern stattfanden, die auch oftmals kein Interesse daran hatten, die von ihnen abgelehnte Verfassung zu feiern, spricht Poscher hingegen von einem „Scheitern des Nationalfeiertags“ (siehe Poscher (Hg.) 1999, S. 12ff.). Rossol betont hingegen die Bedeutung der staatlichen Massenspektakel zu Ehren der Republik ab 1929 (siehe Rossol 2010, Kap. 3 u. 4). Des Weiteren ist auf die vielfältigen lokalen Kulturbemühungen des Reichsbanners zu verweisen. Weitere regionale Beispiele für Verfassungsfeiern bei: Kohlmann 2001, S. 189f., Weber 2009, S. 136f., Rossol 2010, S. 145ff. u. Wiedl 2013, S. 282–297. Dort auch zu Flaggenstreit und Fürstenenteignung in Wetzlar. Einen autobiographischen Eindruck verschiedener lokaler und überregionaler Verfassungsfeiern und Veranstaltungen des Reichsbanners bietet Kesslers Tagebuch (siehe Kessler 2009, u.a. S. 391ff. oder Kessler 2010, S. 543f.). Die größten Feste des Reichsbanners bis 1929 waren die 1. Bundesverfassungsfeier 1924 in Weimar, der 1. Reichsbannertag 1925 in Magdeburg, die 2. Bundesverfassungsfeier 1925 in Berlin, der 2. Reichsbannertag 1926 in Hamburg, die Befreiungsfeier 1926 in Köln, die 3. Bundesverfassungsfeier 1926 in Nürnberg, die 4. Bundesverfassungsfeier 1927 in Leipzig, der 1. Bundesjugendtag 1928 in Hannover, die 5. Bundesverfassungsfeier 1928 in Frankfurt a. M., das Wartburgfest 1929 in Eisenach, der 2. Bundesjugendtag 1929 in Magdeburg, die 6. Bundesverfassungsfeier 1929 in Berlin (siehe Helmbold 1970, Anhang, S. 61f.). In diesem Punkt stand das Reichsbanner in der Tradition des RRB, der bereits vor der Reichsbannergründung Republikanische Tage veranstaltet hatte. Eine sehr lebhafte Schilderung des idealtypischen Ablaufes bietet: Schützinger, Kampfbrevier 1924, S. 82–88. Einen weniger pathosgeladenen, aber dennoch sehr positiven Bericht bietet: Digi Baeck Onlinearchiv, Erinnerungsbericht Margot Frohmann, S. 20f. Die antirepublikanische Gegenseite reagierte auf diese Bemühungen des Reichsbanners mit Hohn und Ablehnung. In einem Bericht über den Leipziger Republikanertag der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth hieß es etwa, dass angesichts von „nur“ 60.–80.000 Teilnehmern die Versammlung ein „unbestreitbarer Misserfolg“ gewesen sei (vgl. Lagebericht Nürnberg-Fürth vom 24.9.26, in: BArch R1507/3066, Bl. 245ff).

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darauf veranstaltete das Reichsbanner mit 25.000 uniformierten Mitgliedern einen Umzug durch die Stadt, wobei Festreden von Hans E. Lange, Richard Lipinski und Paul Crohn (alle SPD) gehalten wurden. Eine kleine Delegation des RESCH war ebenfalls vertreten, was den großdeutschen Anspruch beider Organisationen unterstreichen sollte.7 Hinzu kamen hunderte kleinere Feierlichkeiten der Ortsgruppen des Reichsbanners, die zwar jeweils nur einige hundert bis tausend Teilnehmer hatten, aber durch ihre Gesamtzahl einen wesentlichen Teil der öffentlichen Repräsentation von Schwarz-Rot-Gold durch das Reichsbanner ausmachten. Der grundsätzliche Ablauf der kleineren Feiern unterschied sich nicht von den großen Festen. Gesetzte Festelemente waren stets die Reden prominenter Republikaner, künstlerische Darbietungen wie Rezitationen oder Gesänge, turnerische (und ab Anfang der 1930er auch wehr- oder kampfsportliche) Vorführungen und betont militärische Festteile wie die Weihe des Banners einer Ortsgruppe oder eines Gaues sowie natürlich das charakteristischste Element: der uniformierte Aufmarsch mit begleitender Marschmusik. Die militärische Wirkung dieses Teiles der republikanischen Feierlichkeiten war aus propagandistischen Gründen beabsichtigt, aber nicht in allen Teilen des Reiches durchführbar. Im französisch besetzten Rheinland mussten die Feiern des Reichsbanners ohne Marschmusik und dergleichen auskommen, da entsprechende Verbote der Besatzungsbehörden ausgesprochen wurden. Zudem wurde das Tragen von „Waffen“ wie Stöcken verboten. Die örtliche Wormser Stadtregierung unterstützte 1926 eine Reichsbanner-Feier jedoch nach Kräften und rief die Bevölkerung dazu auf, an den entsprechenden Tagen Schwarz-RotGold zu flaggen. Auch vor allen öffentlichen Gebäuden von Worms wurden an diesem Tag schwarz-rot-goldene Fahnen aufgezogen. Auf der Feier selbst sprach Friedrich Ebert jun. (SPD) sowie je ein Vertreter des Zentrums und der DDP.8 Schon 1925 konnten größere Veranstaltungen auch im Rheinland durchgeführt werden. Der Republikanische Tag in Mainz im Oktober 1925 war mit 10.000 Teilnehmern die erste Kundgebung dieser Art im besetzten Gebiet. Deutsche Tage und dergleichen waren dort nicht genehmigt worden. Beim Republikanischen Tag konnten hingegen erneut Ebert jun. sowie Berthold von Deimling (DDP) und der badische Finanzminister Heinrich Köhler (Zentrum) für die Republik und den friedlichen Ausgleich mit Frankreich werben.9 Der organisatorische Aufwand, der meist Monate im Voraus geplanten Feste und ihre auch finanzielle Bedeutung für den Bund sollten nicht gering geschätzt werden. Durch den Verkauf von Fest-

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Hierzu THStA, P 256, Bl. 96. Die Kommunisten versuchten die Reichsbannerveranstaltung zu kapern und zu einer rein proletarischen „Einheitskundgebung“ umzuwidmen, was aufgrund der breiten Ablehnung in Reichsbannerkreisen scheiterte. Die Polizei hatte ein Demonstrationsverbot gegen den RFB ausgesprochen, der zeitgleich einen Roten Tag in Leipzig organisiert hatte, was als Hauptgrund für das Ausbleiben schwerer Zusammenstöße an diesen Tagen zu sehen sein dürfte (siehe ebd.). Vgl. Schreiben General Maitre an den Landeskommissar vom 20.8.26, in: Stadtarchiv Worms, Abt. 5, Nr. 337. Vgl. Lagebericht Darmstadt vom 20.10.25, in: THStA, P 279, Bl. 113f.

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schriften und Teilnehmerkarten, Gastronomie und Vergnügungsangeboten10 zur „Volksbelustigung“ konnte das Reichsbanner beträchtliche Einnahmen erzielen, die mitunter einen wesentlichen Teil des Vereinsvermögens ausgemacht haben.11 Angesichts der großen öffentlichen Resonanz der Feste mag es überraschen, wenn auf die regelmäßigen Einladungsschreiben der Reichsbannerführung an die Regierung stets gleich lautende, distanziert ablehnende Antworten kamen. In den Akten der Reichskanzlei werden als interne Gründe für die Ablehnung vor allem eine vermeintliche „Sozialdemokratisierung“ des Reichsbanners sowie unfreundliche Äußerungen Hörsings über die Regierung genannt, während in den Ablehnungsschreiben an die Reichsbannerführung stets terminliche Gründe angeführt werden oder die Aussage getroffen wird, dass die Regierung nur amtliche (also die eigenen, erfolglosen) Verfassungsfeiern besuchen könne.12 Dass letztere Gründe vorgeschoben sind, ist offensichtlich. Terminpläne können geändert oder es können, falls ersteres tatsächlich nicht möglich ist, Vertreter geschickt werden. Die zweite in Berlin ansässige Regierung, die des Freistaats Preußen, war wesentlich weniger zurückhaltend als die Reichsregierung und zeigte somit, dass auch nichtamtliche Feiern von Mitgliedern einer amtierenden Regierung besucht werden konnten. Den Mitgliedern der preußischen Regierung war es freigestellt, ob sie die Feiern als Privatpersonen besuchen wollten oder nicht.13 10 Das Vergnügungsangebot richtete sich nicht nur an kleine Geldbeutel, sondern war mitunter auch hochklassig ausgerichtet. Auf der Verfassungsfeier des Reichsbanners 1929 bot der mit dem Reichsbanner assoziierte Fliegerverband namens Sturmvogel Rundflüge über Berlin an, die 5 Mark pro Karte kosteten, was für den normal verdienenden Arbeiter unerschwinglich gewesen sein dürfte. Trotzdem waren ganze 1000 Rundflüge von der Organisationsleitung eingeplant worden (siehe GStA PK, I. HA, Rep. 219, Nr. 174, Bl. 9f.). 11 Während für die größeren Feste auf Gau- oder Bundesebene keine Zahlen vorliegen, betrug der veranschlagte Gewinn des Republikanischen Tages der OG im hessischen Viernheim im Jahr 1926 ganze 400 Mark, wobei dieser Gewinn zu 7/9 aus Teilnehmerkarten und Eintrittsgeldern stammte. So viel wie an diesem einen Festtag nahm die OG aus Mitgliedsbeiträgen ungefähr pro Halbjahr ein. Im Übrigen wurde auch auf dieser untersten Organisationsebene des Reichsbanners darauf geachtet, dass nach Möglichkeit alle republikanischen Parteien mit einem Festredner vertreten waren (siehe Schriftwechsel der OG Viernheim mit dem Gau Hessen, in: HStAD, G 12 B, 33/3). 12 Siehe AdR, Kabinette Marx I/II, Dok. Nr. 231 u. 257 sowie AdR, Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 21, 176 u. 177. Dort die Vorgänge betreffend die Verfassungsfeier des Reichsbanners am 10.–11.8.1924, der Jahresfeier des Reichsbanners am 22.2.1925 sowie der Reichskonferenz des Reichsbanners am 11.10.1925. Weitere Einladungen zu regionalen Feierlichkeiten des Reichsbanners, die allesamt abgelehnt wurden, finden sich in BArch R43I/767. Erst im Kabinett Müller sollte sich dieses Schema ändern. 13 Das Reichsbanner beteiligte sich u.a. bei der preußischen Verfassungsfeier 1926 mit einem uniformierten Fackelzug. Hieran nahmen von amtlicher Seite preußische Minister wie Severing, aber auch (offenbar aus eigener Initiative) der Reichsinnenminister Külz teil (vgl. THStA, P 251, Bl. 241). Severing war zwar bis 1926 nicht Mitglied im Reichsbanner, aber er verfügte dennoch über enormen Rückhalt im Bund. Zu seinem Abschied aus dem Amt des preußischen Innenministers veranstaltete das Reichsbanner im Oktober 1926 in Berlin einen Fackelzug mit 11.–12.000 uniformierten RB-Mitgliedern. Der Gauvorsitzende Koch hielt eine Dankesrede und die Versammlung wurde mit dem Absingen der 3. Strophe des Deutschlandliedes und Hochrufen beendet (vgl. ebd., Bl. 298).

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Doch auch die intern als Ablehnungsgründe protokollierten Argumente der Reichsregierungen Marx und Luther sind bei genauerer Betrachtung wenig stichhaltig. Die Verfassungs- wie die Bundesfeiern des Reichsbanners standen ganz in Zeichen der nationalrepublikanischen Grundgesinnung des Bundes. Sie waren also nicht sozialdemokratisch, sondern überparteilich, wie die Festreden und die Auswahl der Redner bestens illustrieren.14 Von einer vermeintlichen „Sozialdemokratisierung“ auf der Organisationsebene des Reichsbanners kann ebenfalls keine Rede sein. Eine organisatorische Änderung innerhalb des Reichsbanners hin zu einem Herausdrängen der bürgerlichen Republikaner hat es nie gegeben.15 Die vielerorts veranstalteten Gedenkfeiern zu Ehren von Friedrich Ebert (SPD), Walther Rathenau (DDP) und Matthias Erzberger (Zentrum) sollte die Verbundenheit der republikanischen Parteien fördern, was selbst im sächsischen Reichsbanner praktiziert wurde, welches als vergleichsweise proletarisch galt.16 Gedenkfeiern zu Ehren dieser drei prominentesten republikanischen Märtyrer gab es reichsweit und auch entsprechende Denkmäler waren verbreitet. So etwa in Gießen, wo ein republikanisches Ehrenmal an Ebert, Erzberger, Rathenau sowie an den Lokalpatrioten und Republikaner Friedrich Ludwig Weidig gedachte, der einer der wichtigsten Figuren des Vormärz in Hessen war.17 Das Argument der „Sozialdemokratisierung“ des Reichsbanners hat also keine nachweisbare Grundlage in der tatsächlichen Entwicklung des Bundes oder der Gestaltung der Feiern und kann folglich nur als politische Äußerung verstanden werden. Ein genauerer Blick in die Akten der Reichskanzlei jenseits der gängigen Quellenedition mag diese Feststellung erhellen.

14 Entgegen dieser generellen Tendenz nahm das Reichsbanner auch an Revolutionsfeiern teil, die von der SPD veranstaltet wurden und in bürgerlichen Kreisen kaum positive Resonanz fanden. Doch auch im Kontext dieser Feiern wurde der republikanische Anspruch nicht vergessen. So beteiligte sich das Berliner Reichsbanner im November 1926 nicht nur an der SPD-Revolutionsfeier, sondern veranstaltete auch eine eigene Totengedenkfeier, deren Höhepunkt eine Kranzniederlegung am Grab von Hugo Preuß war (vgl. THStA, P 251, Bl. 330f.). 15 Siehe bereits mehrfach oben. Erst im Februar 1933 verließen die meisten bürgerlichen Reichsbannerführer aus eigenem Willen den Bund, so wie Heinrich Krone. Andere wie Ernst Lemmer oder der Führer des Berliner Zentrums Kellermann blieben dem Bund bis zuletzt treu. 16 Ein beispielhafter Bericht über eine solche Feier in: THStA, P 257, Bl. 92f. (Lagebericht Dresden vom Juli 1927). Der Veranstaltungsort war das ostsächsische Zittau. 17 Siehe THStA, P 281, Bl. 96f. Es gab reichsweit Denkmäler für Ebert, Erzberger und/oder Rathenau, so u.a. in Zweibrücken/Pfalz (siehe IRZ Nr. 39/1932 vom 24.9.) und in Beuthen/Schlesien (siehe IRZ Nr. 40/1932 vom 1.10.), die allesamt von den Nationalsozialisten nach 1933 abgerissen wurden. Auch vom Gau Schleswig-Holstein wurde 1928 ein EbertDenkmal errichtet (siehe Gauvorstandssitzung vom 6.3.26, in: LA Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 30, Bl. 12).

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Wehrhafte Demokraten (1924–1928)

Schwarz-weiß-roter Gegendruck in Ländern und Reich Das Reichsbanner ist als organisatorische Verkörperung des Geistes der Weimarer Koalition zu verstehen und ganz auf dieser Linie müssen die Aktionen des Reichsbanners in Bezug auf die Reichsregierung gesehen werden. Kanzler Marx wurde bereits im März 1924 darum gebeten, dem Bund als Ehrenmitglied beizutreten, was eine Mitgliedschaft im Reichsausschuss des Reichsbanners und folglich einen gewissen Einfluss auf die Ausgestaltung des Bundes mit sich gebracht hätte. Wie alle potentiellen Ehrenmitglieder wurde Marx von Hörsing persönlich angeschrieben und über die Ziele, die Satzung und den Aufruf des Reichsbanners informiert, was auch eine Liste über bereits beigetretene prominente Mitglieder beinhaltete. Der nationalrepublikanische Inhalt des Aufrufs wurde bereits besprochen, doch dürfte es wesentlich zur Kontextualisierung des Aufrufs vom 22. Februar 1924 beitragen, wenn betont wird, dass die damals amtierende Regierung dessen Inhalt nicht teilte, sondern das Reichsbanner von Beginn an als „sozialdemokratische Schöpfung“ einstufte.18 Marx lehnte 1924 einen Beitritt zum Reichsbanner ab, obwohl ihm dies wiederholt persönlich angetragen wurde. Keiner seiner Kabinettskollegen aus dem Zentrum oder der DDP widersetzte sich dieser inoffiziellen Richtlinie. Der uns bereits als Republikaner bekannte Rudolf Oeser (1924 nicht mehr Innen-, sondern Verkehrsminister des Reiches) lehnte ebenfalls einen Beitritt ab.19 Wir können also vermuten, dass nicht zwangsläufig eine antirepublikanische Gesinnung hinter der eindeutigen Ablehnung der Reichsregierung gestanden hat, sondern bisweilen auch eine Rücksichtnahme auf die Koalitionspartner aus DVP und BVP. Diese Ablehnung beschränkte sich nicht auf die Frage des Beitritts zum Reichsbanner, sondern erstreckte sich auf jedwede Kooperation zwischen der Regierung und dem Bund zum Schutz der Republik. Die Feiern zu Ehren der Verfassung und der Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold mussten 1924 noch unter den Bedingungen des zivilen Ausnahmezustandes stattfinden. Reichsweit war der militärische Ausnahmezustand am 28. Februar 1924 aufgehoben worden, was in Bayern jedoch ignoriert und mit einer besonderen Bedrohungslage begründet wurde. Aber auch in anderen Landesteilen waren republikanische Veranstaltungen des Reichsbanners von strengen Polizeiauflagen 18 Vgl. BArch R43I/767, Bl. 2ff. u. 11ff. Es wird in den Akten auf die Dominanz von Sozialdemokraten im RA verwiesen sowie explizit auf die RB-Mitgliedschaft von „unerwünschten Personen“, wie Arnold Freymuth und August Frölich (beide SPD). Teil eines Antwortschreibens an Hörsing waren diese Argumente nicht. Ein Blick in die Zusammensetzung des RA zeigt zahlreiche bürgerliche Republikaner (siehe Dokumentenanhang Nr. 4). 19 Vgl. BArch R43I/767, Bl. 10. Oeser berichtet von einer Absprache mit Severing, wonach beide die Teilnahme von aktiven Regierungsmitgliedern im Reichsbanner ablehnen. Der preußische Ministerpräsident Braun trat hingegen bereits im April 1924 dem Reichsbanner als Ehrenmitglied bei (siehe AfSG, Otto Braun Papers, Nr. 416, Schreiben Brauns an Baerensprung vom 8.4.24). Gegenüber Kessler bestätigte Marx seinen Vorbehalt gegenüber dem Reichsbanner, dass dieses eine „sozialdemokratische Schöpfung“ sei, während Kessler über die schwankende Haltung des Zentrums und Marx’ klagte (vgl. Kessler 2009, S. 512ff., Eintrag vom 13.10.24).

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betroffen oder wurden sogar ganz verboten. So wurden in Bayern die öffentlichen Verfassungsfeiern des Reichsbanners sowie das Tragen von schwarz-rot-goldenen Kokarden und Armbinden verboten. Im ebenfalls rechts regierten Thüringen konnte die Feier des Reichsbanners zum fünfjährigen Jubiläum der Reichsverfassung nur unter starken Auflagen durchgeführt werden. Die Veranstalter der Verfassungsfeier des Reichsbanners in Weimar 1924, auf der als Festredner Hugo Preuß erschien, mussten aufgrund des Ausnahmezustands strenge Auflagen für ihre Demonstrationen beachten, wofür der thüringische Innenminister Georg Sattel (DNVP) gesamtverantwortlich war. Das geplante „Wecken“ mit Trompetenstößen und der Fackelzug wurden untersagt. Ebenso war es Polizeibeamten ausdrücklich verboten, an der Veranstaltung teilzunehmen. Zudem musste die Feier in einen geschlossenen Raum verlegt werden. Ein Menschenauflauf zu Ehren von Preuß sowie der Inhalt seiner Rede wurde nachträglich vom Weimarer Innenministerium als Verstoß gegen die Polizeiauflagen gewertet, da „einseitig parteiliche“ Veranstaltungen, Umzüge sowie Reden generell verboten seien und die Reichsbannerfestleitung dies nicht im Vorfeld mit den Behörden ausreichend abgeklärt habe. Es sei versichert worden, dass die Verfassungsfeier nicht für „parteipolitische“ Zwecke missbraucht werden würde, was von den Rednern aber nicht eingehalten worden sei.20 Was dieser „parteipolitische Zweck“ der Festreden gewesen sein könnte, ist angesichts der Inhalte fraglich. So stand die Rede Berthold von Deimlings nicht im Dienst einer Parteipropaganda, sondern forderte im Gegenteil die Überwindung parteipolitischer Differenzen zum „Wohle des Ganzen“ und die Sammlung aller überzeugten Patrioten unter dem schwarz-rot-goldenen Banner. Denn unsere unselige Zerrissenheit, unser Hader und unsere Zwietracht sind schuld daran, daß wir so tief in Not und Schmach stecken. Einem so uneinigen Volke gegenüber hält sich die Welt mit ihrem Vertrauen und ihrem Kredit zurück. Im Schützengraben draußen waren wir einig. […] Warum geht es jetzt nicht? […] Wie aber soll die Einigung anders möglich sein, als unter dem Banner der Republik? Man mag theoretisch über das Problem, ob Monarchie oder Republik die bessere Staatsform ist, denken wie man will. Praktisch kommt für Deutschland jetzt nur die Republik in Frage. Stürzt sie, so würden – abgesehen von blutigem Bürgerkrieg – alsbald die Alliierten eingreifen, die Rheinlande wären verloren, das Deutsche Reich würde sich in seine Bestandteile auflösen. Deshalb wollen wir an der Republik nicht rütteln lassen; sie ist eine Lebensnotwendigkeit für Deutschland. Sein oder Nichtsein des Reiches hängt von ihr ab.21

20 Zur Situation in Bayern: BArch R1501/113501, Bl. 45ff. (Schriftwechsel zwischen Hörsing, dem Reichs- sowie dem Bayerischen Innenministerium über die Verbotsfälle), „Bayern und die Republik“, in: VZ Nr. 368/1924 vom 5.8. sowie „Die schwarz-rot-goldene Kokarde in Bayern verboten“, in: BLA Nr. 375/1924 vom 8.8. Zu Thüringen: BArch R1507/3063, Bl. 119 u. 119a (Lagebericht Weimar vom 13.8.24) sowie Bl. 127ff. (ThIM an RKO vom 21.8.24). Zur Weimarer Verfassungsfeier des Reichsbanners 1924 insb.: THStA, P 520, Bl. 59ff. (Polizeibericht zur Verfassungsfeier) u. Bl. 78ff. (Berichte/Klagen über die Agitation des Reichsbanners in Polizeikreisen). Dort auch die Zitate. 21 Deimling 1930, S. 271f. Der gesamte Wortlaut der Rede: Ebd., S. 271–275.

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Wehrhafte Demokraten (1924–1928)

Das Weimarer Innenministerium zeigte sich von diesen Worten und den anderen Reden jedoch nicht beeindruckt. Für das Thüringer Reichsbanner hatte dies zur Konsequenz, dass für die Zeit des Ausnahmezustands keine öffentlichen Feiern des Bundes in Thüringen mehr genehmigt wurden. Auch eine Wartburgfeier des Eisenacher Reichsbanners wurde nicht erlaubt, insbesondere durften die geplanten öffentlichen Teile der Feier nicht durchgeführt werden, also die kirchliche Weihe des Banners der Eisenacher Ortsgruppe und der Fackelumzug zu Ehren des Reichsausschusses. Die militärische Konnotation dieser Festteile ist offensichtlich und angesichts der Tatsache, dass sich das Reichsbanner als Verein republikanischer Kriegsteilnehmer verstand, nicht überraschend. Das Verbot wurde jedoch nicht hiermit begründet, sondern erneut mit dem vermeintlich „parteilichen“ Charakter der Veranstaltung. Was hierunter zu verstehen ist, wenn als Festredner Mitglieder von drei verschiedenen Parteien angekündigt waren – nämlich Deimling (DDP), Wirth22 (Zentrum) sowie Hörsing und Paul Löbe (beide SPD) – ist weniger offensichtlich.23 Das Eisenacher Reichsbanner hatte daraufhin die Hilfe des Reichsinnenministers Karl Jarres ersucht.24 Jarres wurde aufgefordert, beim Thüringer Innenministerium auf eine Ausnahmegenehmigung für die Wartburgfeier hinzuwirken, was dieser jedoch mit einem Hinweis auf die Ermessensrechte der Länder ablehnte.25 Der Reichsbannergau Großthüringen zog hieraus Konsequenzen und veranstaltete seine größte Feier 1925 nicht im Land Thüringen, sondern in Erfurt, welches zum Freistaat Preußen gehörte. Der Mitteldeutsche Republikanische Tag, der am 19. und 20. September 1925 in Erfurt stattfand, war mit 7.000–8.000 Teilnehmern und zahlreichen prominenten, republikanischen Festrednern durchaus ein Erfolg, wozu nicht zuletzt auch das wohlwollende Protegieren durch den Erfurter Oberbürgermeister Bruno Mann beigetragen haben dürfte.26 Bei einer vergleichbaren Veranstaltung im nur wenige Kilometer von Erfurt entfernten Rudolstadt im selben Jahr verweigerte die thüringische Regierung hin22 Wirth war nicht direkt im März 1924 dem RB-RA beigetreten, da er zunächst die Entwicklungen innerhalb seiner Partei abwarten wollte. Im Laufe des Jahres 1924 trat er jedoch bei (siehe Schreiben Wirth an Hörsing vom 30.7.24, in: FES, NL Franz Osterroth, 1/FOAC, Box 126, Mappe 207). 23 Eine Schilderung des Versammlungsablaufs in Eisenach in: BArch R1507/3064, Bl. 12f. (Lagebericht Weimar vom 29.10.24). Demnach soll bei einem illegalen Umzug des Reichsbanners im Anschluss an die Feier u.a. skandiert worden sein: „Nieder mit dem Stahlhelm, Hitler an die Wand, Ludendorff am Galgen, dann wird Ruh im Land!“ sowie „Nieder mit den Monarchisten und Kommunisten!“ (zit. nach ebd.). 24 Zu Jarres Wirken: Richter 2002. 25 Vgl. BArch R43I/767, Bl. 43ff. Dem Vorgang liegt eine Anfrage der OG Eisenach an Marx zugrunde, die auch Präsident Ebert zuging. Jarres verweist auf die Verordnung des Reichspräsidenten vom 28.2.1924, die ihm wenig Einflussmöglichkeiten gegenüber einer Landesmaßnahme ließe. Immerhin bot Jarres den Eisenachern an, die Angelegenheit persönlich zu besprechen, wobei das Treffen letztlich aber nicht zustande kam. In einem anderen Fall im thüringischen Ronneburg wurden von der Polizei Ermittlungen gegen das Reichsbanner eingeleitet, da bei einer Bannerweihe schwarz-rot-goldene Fahnen öffentlich gezeigt worden waren (siehe Lagebericht Weimar vom 15.10.24 in: BArch R1507/3063, Bl. 254f.). 26 Zum Mitteldeutschen Republikanischen Tag 1925 in Erfurt: THStA, P 521, Bl. 16.

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gegen jedwede Unterstützung für das Reichsbanner mit der Begründung, dieses sei ein „politischer“ Verein. So wurde die Nutzung des Schlosshofes für eine Reichsbannerfeier explizit untersagt, obwohl dem Stahlhelm Untergau SaaleThüringen die Nutzung ebendieses Schlosshofes im Mai 1925 umstandslos gewährt worden war.27 Das Reichsbanner hätte nicht nur mit polizeilichen Ausnahmegenehmigungen bei dessen Feiern unterstützt werden können, sondern auch durch eine Subventionierung. Im Zuge der Vorbereitungen für die Verfassungsfeier des Reichsbannergaues Berlin-Brandenburg fragte dieser beim Reichsinnenministerium an, ob dort vorhandene Materialien für die Feier genutzt werden können, wenn möglich unentgeltlich, da sich der Gau gerade erst gegründet habe und über geringe finanzielle Rücklagen verfüge. Diese Materialien waren für die amtliche Verfassungsfeier 1923 unter Oeser angeschafft, aber nicht genutzt worden und tatsächlich konnte der Reichsbannergau 70.000 schwarz-rot-goldenen Fahnen, 99.000 Kokarden derselben Farbkombination und 37.000 Fackeln vom Reichsinnenministerium übernehmen. Es wurde jedoch ein Abnahmepreis von insgesamt 3.000 Mark vereinbart, den der Gau erst Anfang 1925 überweisen konnte. Dieser Zahlung gingen mehrere Abmahnungen und Zahlungsaufforderungen voraus, an deren Ende das Reichsinnenministerium den Reichsbannergau beim Berliner Amtsgericht anzeigte. Der Vorgang wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt und zog zahlreiche spöttische Artikel in der republikfeindlichen Presse nach sich. Der Tenor war durchgängig: „Schwarz-Rot-Gold wird zur Ramschware“.28 Ob der relativ geringe Preis für die Festmaterialien als indirekte Subventionierung des Reichsbanners durch Jarres zu werten ist, sei dahingestellt. Einen eindeutigen Willen zur positiven Kooperation wird man aus diesem Verhalten jedenfalls schwer herauslesen können. Solange jedoch das Amt des Innenministers von einer Partei ausgefüllt wurde, die sich nicht positiv zu den Farben Schwarz-Rot-Gold bekannte, sondern weiterhin an den abgeschafften Reichsfarben Schwarz-WeißRot festhielt, war eine klare Unterstützung der Feierlichkeiten des Reichsbanners von dieser amtlichen Seite wohl nicht zu erwarten. Dieses Verhaltensmuster sollte sich nach dem allgemeinen politischen Rechtsruck von 1925 noch verschärfen.

27 Zur Reichsbannerfeier in Rudolstadt: THStA, P 521, Bl. 59 (Artikel: „Die thüringischen „Ordnungsminister“ im Kampfe gegen das Reichsbanner“, in: Vom Volk Nr. 12/1926 vom 15.1.). 28 Vgl. BArch R1501/113501, Bl. 5ff. Eine Zusammenstellung der betreffenden Zeitungsartikel: Ebd., Bl. 15–32. Den Anfang der Spottartikel machte die Rote Fahne am 28.12.1924. In der republikanischen Presse wurde ebenfalls auf den Vorgang eingegangen, wobei darauf verwiesen wurde, dass die geringen Zahlungsmöglichkeiten des Reichsbanners bewiesen, dass dieses nicht so viel Geld zur Verfügung habe, wie es die republikfeindliche Presse stets behaupte.

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Schwarz-rot-goldener Kampf um Hindenburg Der Wechsel der Reichspräsidentschaft von Ebert auf Hindenburg als Kandidaten der Rechten war ein einschneidendes Ereignis der Weimarer Republik. Auch die Zusammensetzung des Reichskabinetts spiegelte den Rechtstrend wieder. Marx musste als Kanzler zurücktreten, nachdem es ihm nicht gelungen war, seinem Kabinett eine parlamentarische Mehrheit durch die Hinzuziehung der DNVP zu sichern. Seinem Nachfolger Luther gelang dies und Martin Schiele (DNVP) wurde das Amt des Reichsinnenministers übertragen, was für die Republik einige negative Konsequenzen mit sich brachte. Die Wahl Hindenburgs stellte das Reichsbanner jedoch vor ein besonderes Problem. Sollte sich der Bund immer noch an den offiziellen Feierlichkeiten zu Ehren des Reichspräsidenten beteiligen? Bereits die Amtseinführung war in dieser Hinsicht eine umstrittene Frage innerhalb des Reichsbanners. Es wurde kritisiert, dass beim offiziellen Empfang vorwiegend die rechtsradikalen, schwarz-weiß-roten Verbände wie Stahlhelm, Jungdeutscher Orden usw. vertreten waren, die sich eindeutig und gerade in der Wahlkampfzeit 1925 gegen Schwarz-Rot-Gold ausgesprochen und diese Farben herabgesetzt hatten, obwohl auch Hindenburg bei seinem Amtsantritt hierauf schwören musste. Sich an einem gemeinsamen Empfang mit diesen Gruppen zu beteiligen, deren Mitglieder zudem wiederholt in gewalttätige, selbst tödliche Auseinandersetzungen, mit denen des Reichsbanners verwickelt waren, wurde von der Reichsbannerführung abgelehnt. Dies hieß jedoch nicht, dass Hindenburg bei seinen Reisen durch das Reich generell keine Empfänge durch das Reichsbanner bereitet wurden.29 Generell war es den regionalen Reichsbannergruppen freigestellt, ob sie sich an einem Empfang Hindenburgs beteiligten wollten oder nicht. Die Bundesleitung sprach sich jedoch wiederholt für eine Beteiligung aus und warb hierfür mit dem Argument, dass Hindenburg schließlich das amtierende, gewählte Staatsoberhaupt der Republik sei und ein Fernbleiben des Reichsbanners genauso registriert werde wie sein Erscheinen.30 Diese Appelle verhalten durchaus nicht ungehört. 1926 besuchte Hindenburg eine „Befreiungsfeier“ des Reichsbanners in Köln mit 40.000 Teilnehmern, die ganz im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold stand.31 Im gleichen Jahr war Hindenburg Gast bei einem Reichsbannertag in

29 Siehe hierzu: „Hindenburg und das Reichsbanner“ von Otto Hörsing, in: VZ Nr. 202/1925 vom 6.5. Dieser Artikel ist auch in dem oben genannten Aktengang zu finden. Hörsing bezeichnete den offiziellen Empfang des Reichspräsidenten darin als „private Kundgebung der monarchistisch-hakenkreuzlerischen Republikfeinde“ (BArch R1501/113501, Bl. 99). In einem Artikel für den Vorwärts führte Hörsing gleichsam aus, dass die Ablehnung einer Beteiligung in diesem Fall nicht als Kränkung des Reichspräsidenten verstanden werden solle (vgl. Vorwärts Nr. 212/1925). 30 Vgl. „Hindenburg und Reichsbanner“, in: RBZ Nr. 23/1925 vom 1.12. 31 Hierzu: „Hindenburg am Rhein“, in: VZ Nr. 136/1926 vom 21.3., „Die Befreiungsfeier in Köln“, in: RBZ Nr. 7/1926 vom 1.4., „Das Rätsel von Köln“, in: RBZ Nr. 8/1926 vom 15.4. sowie als exemplarische Reaktion der Rechtspresse „„Heldenehrung““, in: DZ Nr. 147/1926 vom 27.4.

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Hamburg mit ebenfalls mehreren tausend Teilnehmern.32 Die Frage, ob Hindenburg von seinen Besuchen tatsächlich im republikanischen Sinne beeinflusst wurde oder nicht, ist schwierig zu beantworten.33 Fest steht, dass das Reichsbanner versuchte, dieses Bild in der Öffentlichkeit zu verbreiten, beispielsweise mittels eines Plakats, welches Hindenburg mit schwarz-rot-goldener Fahne und dem Spruch zeigte: „Wir haben gemeinsam unter Schwarz-Weiß-Rot gedient und wollen jetzt gemeinsam unter Schwarz-Rot-Gold am Aufbau Deutschlands arbeiten.“ Dem wurde der eindeutige Kommentar dazugesetzt: „Deutsche! Zieht daraus dieselbe Lehre wie Hindenburg!“.34 In Bayern wurde dieses Plakat auch benutzt, konnte aber aufgrund der dort geltenden Verbotsmaßnahmen für politische Plakate nicht öffentlich gezeigt werden.35 Diese Inanspruchnahme Hindenburgs durch das Reichsbanner ging so weit, dass Hörsing auf einer Gaukonferenz des Bremer Reichsbanners verkündete, die Rechte würde Hindenburg mehr hassen als seinerseits Ebert. Sollte der Reichspräsident sterben, wären es die Rechten, die über seinen Tod jubeln würden.36 Das Reichsbanner solle daher keine Scheu davor haben, sich an Hindenburgempfängen zu beteiligen.37 Ein weiterer wichtiger Unterstützer einer Annäherung an Hindenburg innerhalb des Reichsbanners war der hessische Staatspräsident Bernhard Adelung (SPD), der seinen Eindruck von einem Empfang Hindenburgs einer Feier in Mainz in folgende Worte packte. Dann kam die Stadt Mainz in Sicht, in einem Meer von schwarz-rot-goldenen Flaggen. Die Abendsonne leuchtete, und das Bild des alten Mainz verschwamm in Fahnen. Kein Plätzchen am Ufer und auf den Brücken war unbesetzt. Ein überwältigender Anblick, der auch dem alten Reichspräsidenten sichtlich einging. Das Schiff legte am Landungssteg an. Die Begrüßung wollte kein Ende nehmen. […] Das Publikum durchbrach jede Absperrung und warf Blumen und Fähnchen, die aber stets in unseren Wagen fielen, ohne wehzutun. Es war ein Jubilieren, ohne daß die Ordnung auch nur im geringsten [sic!] verletzt worden wäre. […] Ich selbst sprach am Vormittag in Gegenwart des preußischen Innenministers Severing, Oberbürgermeister Dr. Külb, Vizepräsidenten Auer (München), Oberpräsidenten a. D. Hörsing und Höltermann zu dem Reichsbanner. Ich sagte u.a.: „Wir sollten aus der Einmütigkeit und Geschlossenheit der Bevölkerung des besetzten Gebietes während der Notzeit die Einsicht und die Kraft ableiten, in Gesamt-Deutschland uns ebenso einmütig und geschlossen um das Banner der Demokratie und der Republik zu scharen.“ Nach dem Kirchenbesuch fand eine Rundfahrt durch die Stadt statt. Das Reichsbanner, die Schulen, die Innungen, der Stahlhelm usw. bildeten das Spalier und dahinter viel, viel Bevölkerung; es 32 33 34 35 36

Siehe „Der Reichspräsident in Hamburg“, in: BTB Nr. 209/1926 vom 5.5. In dieser Hinsicht kritisch Severing, Republik 1950, S. 89ff. Das betreffende Plakat stammt von 1927 und ist einzusehen in: BArch R1507/3067, Bl. 224. Siehe Nachrichten der Polizeidirektion München vom 31.8.27, in: THStA, P 278, Bl. 77. In der Tat finden sich in der rechtsradikalen Presse Angriffe auf den Reichspräsidenten. Dies wurde vom Reichsbanner wiederum als Agitationsmaterial gegen rechts gebracht. So in der RBZ Nr. 2/1930 vom 11.1, wo über eine antisemitische Hindenburg-Karikatur berichtet wurde, die im Angriff publiziert worden war. 37 Vgl. Nachrichten der Polizeidirektion Bremen vom 16.12.25, in: THStA, P 283, Bl. 188ff. Laut Schulze soll Hörsing hingegen ein „Abkommen“ mit Otto Braun geschlossen haben, demnach sich das Reichsbanner von den Hindenburgempfängen fernzuhalten habe (siehe Schulze 1977, S. 488), was aber kaum der Fall gewesen sein dürfte, da Hörsing eine solche Beteiligung intern schließlich gefordert hatte.

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Wehrhafte Demokraten (1924–1928) waren wieder viele Tausend nach Mainz gekommen. […] Beim Abschied hatten sich wieder Hunderttausende auf dem Mainzer Rheinufer, der Straßenbrücke und dem Kasteler Ufer eingefunden, um Hindenburg nochmals begeistertes Geleit zu geben. Hindenburg grüßte von der Rheinbrücke noch einmal nach Mainz herüber. Bei diesem Gruß löste wieder ein Begeisterungssturm die starr und spannungsvoll stehenden Menschenmassen. Sie winkten Hindenburg zu.38

Laut Adelungs Auffassung sei Hindenburg auch persönlich stark von solchen republikanisch, „vaterländischen“ Veranstaltungen beeinflusst worden und habe Adelung gegenüber wiederholt seinen Dank ausgedrückt.39 Die hohe Resonanz solcher Veranstaltungen und die allgemeine Anerkennung Hindenburgs in breiten Bevölkerungskreisen gab den Hindenburg-Unterstützern im Reichsbanner durchaus recht, aber Adelung sprach in seiner Schilderung bereits ein wesentliches Problem einer jeden Beteiligung des Reichsbanners an solchen Empfängen an: die Konsequenz, auch mit rechtsnationalen Unterstützern Hindenburgs wie dem Stahlhelm zusammen Spalier zu stehen. Daher kann nicht überraschen, dass diese Beteiligung innerhalb des Reichsbanners keineswegs unstrittig war, daher ja auch Hörsings wiederholte Appelle.40 So war das Thüringer Reichsbanner in dieser Frage gespalten.41 Auch in Berlin hatte das Reichsbanner mit knapper Mehrheit beschlossen, sich nicht am offiziellen Empfang zum 80. Geburtstag Hindenburgs zu beteiligen, da dieser von den rechten Wehrverbänden dominiert zu werden drohe.42 Auf einer Generalversammlung des Württemberger Reichsbanners führte diese Frage gar zu einem emotionalen Streit. Der Vorstand um Alfons Buse und Kurt Schumacher (beide SPD) hatte sich für eine Beteiligung eingesetzt. Doch erhielt eine folgende scharfe Gegenrede offenbar „stürmischen Beifall“. Schumacher versuchte, die Einwände dadurch abzuschwächen, dass man sich ruhig für eine Beteiligung aussprechen solle, die aufgrund der ablehnenden Haltung der Württemberger Regierung gegenüber dem Reichsbanner ohnehin nicht zustande kommen werde. Der Staatspräsident Wilhelm Bazille (DNVP) werde das Reichsbanner sowieso nicht dabeihaben wollen, so Schumacher. Dieses taktische Vorgehen Schumachers fand bei der Versammlung aber kaum Zustimmung und in einer folgenden Abstimmung wurde eine Teilnahme mit 400 gegen 11 Stimmen

38 Adelung 1952, S. 348–350 u. 357. 39 Vgl. Adelung 1952, S. 357f. Adelung lernte Hindenburg 1925 bei dessen Besuch in Darmstadt persönlich kennen und schätzen (siehe ebd., S. 283). 40 Auch in der autobiographischen Literatur von Reichsbannermännern finden sich skeptische Bemerkungen zu Hindenburg. So bei Lemmer in dessen Bericht über seine erste Zusammenkunft mit einem „früh gealterten“ Hindenburg, der über die damalige Jugend des Reichstagsabgeordneten Lemmer offenbar schockiert war und erst durch ein paar Kriegsanekdoten aufgeweicht werden konnte (vgl. Lemmer 1968, S. 112ff.). 41 In Thüringen hatte das Reichsbanner eine Beteiligung am Empfang Hindenburgs am 10.5. in Weimar erst zu- und kurz darauf wieder abgesagt, was mit dem Flaggenerlass begründet wurde (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Weimar vom 16.6.26, in: THStA, P 521, Bl. 123). 42 Vgl. Nachrichten des Polizeipräsidenten von Berlin vom September 1927, in: THStA, P 252, Bl. 243.

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überdeutlich abgelehnt.43 Auch in Breslau stand die Führung des Reichsbanners aufgrund ihrer Haltung in der Hindenburg-Frage unter Beschuss, allerdings nicht wie in Stuttgart von Seiten der lokalen Mitglieder. Es war der Bundesvorstand des Reichsbanners, der einen Beschluss der Vorsitzenden des niederschlesischen Gauvorstandes, dass sich die Ortsgruppen grundsätzlich nicht an HindenburgEmpfängen beteiligen dürfen, scharf zurückwies. In der Konsequenz nutzte der Bundesvorstand seine weitgehenden Eingriffsrechte in die Zusammensetzung der Vorstände unterer Organisationsebenen und sorgte für den Rücktritt der maßgeblichen Initiatoren des Beschlusses. Hörsing äußerte zu diesem Vorgehen, dass noch viel „staatspolitische Erziehungsarbeit“ innerhalb des Reichsbanners geleistet werden müsse und verwies gleichzeitig auf das „vorbildliche“ Verhalten des oberschlesischen Reichsbanners, wo beschlossen worden war, dass man an Hindenburg-Empfängen teilnehmen werde.44 Der Einsatz der Reichsbannerführung für die Beteiligung an HindenburgEmpfängen war somit keineswegs nur ein rhetorisches Zugeständnis. Hörsing war durchaus bereit, organisatorische Disziplinarmaßnahmen einzusetzen. Das Ziel war hierbei ein Doppeltes. Der Hindenburg-Mythos sollte zur Stärkung des Amtes des Reichspräsidenten beitragen und bei gemäßigten Bürgerlichen wird dies auch in gewissen Grenzen Erfolg gehabt haben. So waren es auch die bürgerlichen Kräfte innerhalb des Reichsbanners, die mit dazu beitrugen, dass Hörsing die dargestellte Linie verfolgte.45 Ob mit solchen Empfängen auch eine Stärkung des Prestiges der Republik verbunden war, ist aber fraglich.46 Das Problem lag weiterhin in der umkämpften Staatssymbolik. Wenn bei Empfängen des Reichspräsidenten das Reichsbanner nicht beteiligt wurde, konnte nicht davon ausgegangen werden, dass den Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold ein prominenter Platz in den Veranstaltungen zukam. Setzte das Reichsbanner seine numerische Überlegenheit gegenüber den rechten Wehrverbänden jedoch ein, konnte es für eine Dominanz von Schwarz-Rot-Gold über Schwarz-Weiß-Rot sorgen und so tatsächlich der Republik zu einem Sieg auf dem Feld des Symbolischen verhelfen.47 Zugespitzt 43 Vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Stuttgart vom 20.10.25, in: THStA, P 521, Bl. 23. Die Versammlung fand am 19.10.25 im Festsaal des Gewerkschaftshauses statt. 44 Vgl. „Reichsbanner und Reichspräsident. Hörsing gegen den Breslauer Beschluss / Rücktritt der Breslauer Gauführer“, in: VZ Nr. 215/1928 vom 8.9. Zu den Vorgängen in Niederschlesien auch: Stalmann (Hg.) 2009, S. 1011 (Dok. 670). In Oberschlesien bereiteten Carl Ulitzka und das Reichsbanner Hindenburg einen emphatischen, schwarz-rot-goldenen Empfang, der für Ulitzka mit einigen Gunstbeweisen von Seiten des Reichspräsidenten endete. Hitze betont, dass dies ein großer Triumph für Ulitzka war und gewissermaßen einer „nationalen Adeligung“ durch den Erzpreußen Hindenburg gleichkam, was der katholische Republikaner Ulitzka in seinem Kampf mit den Rechtsnationalisten zu nutzen wusste (vgl. Hitze 2002, S. 634ff.). 45 Siehe Stephan 1973, S. 337f. 46 Hierzu ausführlicher Hoegen 2007, S. 331ff. 47 Im gleichen Licht muss auch der rege Einsatz des Reichsbanners für ein Denkmal der Weltkriegstoten gesehen werden, wo bewusst eine Allianz aller Wehrverbände inklusive des Stahlhelms und des RjF gesucht wurde. So versuchte das Reichsbanner, über eine Teilnahme die Deutungshoheit in einer symbolischen, erinnerungspolitischen Frage zu gewinnen, was

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formuliert wurde versucht, die schwarz-weiß-rote Vergangenheit des Feldmarschalls Hindenburgs zu verdrängen und durch eine schwarz-rot-goldene Gegenwart des Reichspräsidenten Hindenburgs zu ersetzen.48 In diese Richtung ging auch das publizistische Engagement führender Reichsbanneraktivisten, die in zahlreichen Artikeln das Weltkriegsgeschehen einer militärhistorischen Kritik unterzogen und nicht die simplen Heldenerzählungen der Rechtsverbände wiedergaben, die in diesem Punkt von verbeamteten Militärhistorikern des Reichsarchiv Potsdam unterstützt wurden und in denen Hindenburg regelmäßig eine zentrale Heldenrolle zufiel.49 Karl Mayr (SPD) etwa versuchte 1927, mit einem Artikel über das neu eingeweihte Tannenberg-Denkmal bei Hohenstein in Ostpreußen eine kräftige Kerbe in den Hindenburg-Mythos zu schlagen. Hindenburg, der „Sieger von Tannenberg“, der „Retter von Ostpreußen“, verdankte sein öffentliches Prestige wesentlich einer medienwirksamen Ausbeutung dieses Sieges über die vorrückende russische Armee im August 1914. Abgesehen von einer kurzfristigen Entlastung der Ostfront hatte der Sieg bei Tannenberg aber nur eine vergleichsweise geringe militärische Bedeutung, wie Mayr herausstellt und was durchaus dem heutigen Forschungsstand entspricht.50 Der Krieg sollte an der Ostfront trotz Hindenburgs Sieg noch für knapp drei Jahre weiter toben. Kein Sachkundiger, so Mayr, würde noch behaupten, dass Tannenberg den weiteren Verlauf des Weltkrieges entscheidend beeinflusst habe. Im Gegenteil sieht Mayr, dass die Westoffensive durch den Abzug der für Tannenberg bestimmten Divisionen geschwächt worden war, was mit dazu beigetragen habe, dass in Nordfrankreich kein kriegsentscheidender Durchbruch gelungen sei. Der Schlieffenplan als Grundlage der Westoffensive war für Mayr von vornherein ein Fehler gewesen. Die deutschen Armeen hätten Verteidigungspositionen am Rhein beziehen sollen und keinesfalls hätte die belgische Neutralität gebrochen werden dürfen, so Mayrs Ansichten. Frankreich hätte seinerseits aus Rücksicht auf das mit Belgien verbündete Großbritannien keinen Einmarsch über den Norden versucht, sodass der Rhein als natürliche Verteidigungslinie mit nur wenigen Truppen hätte gehalten werden können. Wozu, so fragt Mayr, sei man überhaupt in Frankreich eingefallen, wenn man dort keinerlei legitime Gebietsansprüche stellen konnte? Grundlos sei dort europäischer Kulturraum zerstört worden. Wenn jetzt ein Denkmal für die Tannenbergschlacht mit

ohne eine Beteiligung unmöglich gewesen wäre. Ausführlich zum Engagement des Reichsbanners in dieser Frage: Ziemann 2014, Kap. 5 sowie als Quelle: Hilpert 1927. Innerhalb des Reichsbanners hatte sich insbesondere Paul Crohn für ein gemeinsames Ehrenmal eingesetzt, was letztlich nicht zustande kam. In dem als Ehrenhain geplanten Mahnmal in Bad Berka veranstaltete das Reichsbanner aber auch allein Totengedenkfeiern (siehe RBZ Nr. 25/1931 vom 20.6. u. Nr. 34/1931 vom 22.8. (Gaubeilage Thüringen)). 48 Hieraus entstand ein Konflikt mit Hindenburg, der beide Rollen gleichzeitig als „Feldmarschall-Reichspräsident“ ausüben wollte und nicht bereit war, auf die Symbolkraft von Schwarz-Weiß-Rot zu verzichten (siehe Pyta 2007, S. 483ff.). 49 Zum geschichtspolitischen Wirken des Reichsarchivs: Ziemann 2014, S. 253ff. 50 Siehe Hoegen 2007, S. 35ff.

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viel Pomp eingeweiht werde, trage dies lediglich zu einer deutschnationalen Legendenbildung bei.51 Mayrs Kritik am Hindenburg-Mythos war ein Teil des Versuches, den Reichspräsidenten zu republikanisieren. In deutschnationalen Kreisen registrierte man durchaus, dass eine Beteiligung des Reichsbanners an Empfängen des Reichspräsidenten keineswegs bedeutete, dass der Republikanerbund plötzlich seine Haltung gegenüber dem Symbol Schwarz-Weiß-Rot geändert hatte. Durch die Reichsbannerbeteiligung wurde der Symbolkampf zwischen den alten und den neuen Reichsfarben vielmehr auf die öffentliche Präsentation des Reichspräsidenten ausgeweitet. Vor 1925 hatten die rechten, schwarz-weiß-roten Wehrverbände sich nie an Empfängen oder anderen Ehrungen Eberts beteiligt. Dies war allein dem Reichsbanner und anderen republikanischen Organisationen überlassen worden. Die Absicht des Reichsbanners, seine Ehrungen auch dem neuen Reichspräsidenten zu erweisen, war somit kein offensiver, sondern ein verteidigender Akt auf symbolischem Territorium. Es waren die rechten Unterstützer Hindenburgs, die ihre Ablehnung von Schwarz-Rot-Gold auch dann nicht minderten, als sich Hindenburg diesen Farben verpflichtete. Diese Ablehnung war ihrerseits nicht nur defensiv, wenn etwa mit kühler Distanz auf Angebote und Einladungen des Reichsbanners reagiert wurde, sondern hatte auch eine aggressive Komponente. Die Bemühungen des Reichsbanners zur Verbreitung von Schwarz-Rot-Gold wurden nicht nur nicht unterstützt, sie wurden von deutschnationaler Seite auch aktiv hintertrieben. Im Flaggenstreit mit der DNVP und Hindenburg Mit Martin Schiele wurde 1925 im Luther-Kabinett erstmals das Amt des Reichsinnenministers mit einem Gegner der Verfassung besetzt.52 Dieses Kabinett von „Fachleuten“ und „Experten“ hatte den „überparteilichen“ Anspruch, sich nicht auf die Fraktionen des Reichstags zu stützen. Vielmehr sollten die bürgerlichen Parteien nur durch Vertrauensmänner im Kabinett vertreten und auf diese Weise indirekt für die Politik Luthers verantwortlich sein. Sie mussten lediglich Luthers Regierungserklärung im Reichstag billigen, also dem Kabinett einen Vertrauensbeweis zweiter Klasse geben.53 Der Vorteil dieser Art der Kabinettsbildung, die 51 Vgl. „Tannenberg. Gedanken eines Kriegsteilnehmers“ von Karl Mayr, in: RBZ Nr. 18/1927 vom 15.9. Die gleiche Ausgabe der RBZ enthielt weitere kritische Artikel über den Weltkriegsverlauf und dessen Vorgeschichte, so über die Marneschlacht und die Zabern-Affäre von 1913. Zu Mayr und dessen allgemein recht frankreichfreundlicher Haltung: Ziemann 2014, S. 247ff. 52 Schiele und die anderen DNVP-Minister verpflichteten sich schriftlich erst 1927 auf die Gültigkeit der Reichsverfassung (siehe Trippe 1995, S. 205). 53 Zu den Umständen der Bildung des ersten Lutherkabinetts siehe AdR, Kabinette Luther I/II, Einleitung. Ein Vorbild konnte sich Luther am „Expertenkabinett“ von Wilhelm Cuno nehmen, der ebenfalls nur eine Billigung seiner Regierungserklärung und keine Koalitionsvereinbarung erreichen konnte.

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Ersparnis, einen parteipolitischen Kompromiss aushandeln zu müssen, ist gleichzeitig auch ihr größter Nachteil, da Luther auf die aktive Unterstützung durch die Parteien und den hiermit zusammenhängenden Legitimationsgewinn verzichtet hat bzw. verzichten musste. Die Umstände des Sturzes von Luther im Flaggenstreit verdeutlichen dieses Problem und beleuchten die innenpolitische Bedeutung des Reichsbanners.54 Alle Kanzler der Weimarer Republik mussten ihr Amt nach einer Wahlniederlage oder schweren innen- oder außenpolitischen Krisen aufgeben55, die einzige Ausnahme von dieser Regel ist Luther, der über einen Streit stürzte, der im Vergleich mit den sonstigen Weimarer Verhältnissen trivial wirkt. Es ging um die Beflaggung der ausländischen Vertretungen des Reiches. Vor diesen sollte fortan nicht nur die Reichsflagge, sondern auch die Handelsflagge (Schwarz-Weiß-Rot mit schwarz-rot-goldener Gösch) aufgezogen werden, vorgeblich um die Bindung der vermeintlich traditionsbewussten Auslandsdeutschen an die Republik zu erhöhen.56 In der republikanischen Öffentlichkeit – und das heißt insbesondere auch im Reichsbanner – wurde der von Hindenburg und Luther unterzeichnete Flaggenerlass jedoch als „Anschlag“ auf die Verfassungsordnung an sich gewertet.57 Nun war die Verordnung wohl nicht als ein solcher Anschlag gemeint. So bestand namentlich bei Hindenburg offenbar kein Problembewusstsein für den Streit um die „dämelige Gösch“.58 Als isoliertes Ereignis betrachtet ist die harte Reaktion der Republikaner nicht zu verstehen. Die starke Empörung sollte vielmehr vor dem Hintergrund des dargestellten Grundverhältnisses zwischen Reichsbanner 54 Zum Flaggenstreit allgemein Winkler 1988, S. 265ff. u. Büttner 2008, S. 375 sowie aktuell Wirtz 2017. 55 Scheidemann stürzte über die Unterzeichnung des VvV, Bauer über den Kapp-Putsch, Cuno wegen des Ruhrkampfs, Wirth, Stresemann und Müller II wurden von der SPD aufgrund des Streits mit der DVP fallen gelassen, Fehrenbach trat aufgrund des Londoner Ultimatums zurück, Müller I und Marx wurden abgewählt, die Kabinette ab Brüning wurden von Hindenburg eingesetzt und auch wieder gestürzt. Einen Überblick zu diesem Sachverhalt bietet Braun 2013, S. 10ff. 56 Dass nicht alle Auslandsdeutschen monarchistisch, sondern zumindest ein Teil republikanisch eingestellt war, sollte durch die Existenz der Auslandsgruppen des Reichsbanners hinreichend belegt sein (hierzu oben). 57 Siehe bspw. „Der Protest des Reichsbanners“, in: BTB Nr. 211/1926 vom 6.5. oder „Hörsing gegen Luther“, in: VZ Nr. 218/1926 vom 9.5., auch „Das Reichsbanner wacht!“, in: Vorwärts Nr. 223/1926 vom 14.5. Einen Eindruck von einer Protestveranstaltung bietet: „Große Protestkundgebung gegen die Flaggenverordnung in Jena“, in: Vom Volk Nr. 108/1926 vom 11.5. Der Hauptredner Karl Freiherr von Brandenstein verurteilte den Flaggenerlass, die sich im Widerspruch zur Verfassung befinde und das Ansehen und die Symbole der Republik schädige. Dies sei nur ein erster Schritt, um die aktuelle Reichsfahne ganz als überflüssig zu erklären. Es müsse daher nicht nur jeder Sozialist, sondern jeder aufrechte Republikaner zum Erfolg des Volksentscheids beitragen. Laut einem Polizeibericht nahmen 250 uniformierte RB-Mitglieder und eine größere Anzahl an Neugierigen an der Kundgebung teil. Auch in Eisenach fand eine Protestkundgebung des Reichsbanners gegen den Flaggenerlass statt. Dort hatten laut Polizeiangaben am 15. Mai etwa 360 Jugendliche beiderlei Geschlechts einen Fackelzug durch die Innenstadt veranstaltet (vgl. THStA, P 521, Bl. 99f.). 58 Zit. nach Pünder 1968, S. 80.

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und Reichsregierung gesehen werden. Dieses Verhältnis hatte sich seit dem Amtsantritt von Luther zusehends verschlechtert. Die erstmalige Einbindung von Deutschnationalen veranlasste Hörsing dazu, das neue Kabinett auf einer Reichsbanner-Versammlung Ende Januar 1925 scharf und persönlich anzugreifen. Die neue Regierung unter Luther und Stresemann sei nichts weiter als ein „schlechter Regierungsersatz“ so Hörsing zusammenfassend.59 Nachdem sich der so bezeichnete „Regierungsersatz“ beim preußischen Innenministerium über die generelle Richtigkeit dieser Meldung erkundigt hatte, nahm er dies zum Anlass, jedweden Austausch mit dem Reichsbanner zu unterbinden.60 Auch Severing sprach Hörsing sein amtliches Missfallen über diesen Vorfall aus. In seinem Missbilligungsschreiben vertrat Severing den Standpunkt, dass Hörsings Entgleisung erstens nicht durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sei und zweitens auch nicht durch die Entgleisungen anderer Beamter ihre Rechtfertigung finde.61 In einer Stellungnahme vor dem preußischen Landtag verwies Severing aber darauf, dass Hörsings Kommentare im Vergleich mit Äußerungen von rechten Wehrverbandsführern „liebliches Geläute“ gewesen seien.62 Dass Hörsings polemische Angriffe keine grundsätzlich feindliche Haltung ausdrücken sollten, belegt die Einladung des gesamten Kabinetts Luther zur Bundesgründungsfeier des Reichsbanners am 22. Februar 1925, die – wie immer – abgelehnt wurde. In der offiziellen Festschrift zur Feier finden sich keine Angriffe auf das Kabinett,63 sodass die Einladung durchaus Gesprächsbereitschaft signalisierte, wobei von Seiten der Reichsbannerführung das Gesprächsangebot anlässlich der Verfassungsfeier in Nürnberg im August und der Reichskonferenz des Bundes im Oktober 1925 wiederholt wurde.64 Nicht nur wurden diese Einladungen erneut abgelehnt, auch die Beteiligung des Reichskunstwartes Edwin Redslob an der Verfassungsfeier des Berliner Reichsbanners wurde durch Reichsinnenminister Schiele verhindert. Redslob war vom Berliner Gau des Reichsbanners um eine Teilnahme und insbesondere um Hilfe bei der Vorbereitung gebeten worden, was dieser jedoch beides abgelehnt hatte. Durch wiederholtes Nachfragen wurde zumindest erreicht, dass Redslob sich bereit erklärte, einen Beitrag für die Festschrift der Verfassungsfeier in Berlin zu liefern sowie allgemeine Hinweise zum Ablauf der Feier zu geben. Nach einer 59 Vgl. „Das sozialistische „Tönnchen““, in: DTZ Nr. 30/1925 vom 19.1. 60 Der Aktengang ist zu finden in: BArch R1501/113501, Bl. 51f., 54f. u. 68ff. 61 Vgl. Schreiben Severings an Hörsing vom 1.4.25, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19. 62 Vgl. „Schluss der Landtagsaussprache. Severing schüttelt Hörsing ab“, in: BLA Nr. 204/1925 vom 1.5. Auch der preußische Richterverein beschwerte sich über Hörsings Justizkritik (siehe Schreiben Severings an Hörsing vom 11.10.25, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19). Von Seiten Severings erfuhr Hörsing 1925 auch in dieser Frage keine Unterstützung bei seinen Beschwerden. Severing kritisierte Hörsing scharf für dessen öffentliche Äußerungen zu dieser Thematik, da sie eine „fatale öffentliche Wirkung“ hätten (vgl. Schreiben Severings an Hörsing vom 30.7.25, in: Ebd.). 63 Siehe RB-Gründungstag 1925. 64 Siehe AdR, Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 21, 176 u. 177. Die Einladung an die Reichsregierung zur Nürnberger Verfassungsfeier in: BArch R43I/767, Bl. 96ff.

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Absprache zwischen Redslob und Schiele zog der Reichskunstwart seinen Beitrag aber zurück. Schiele hatte ihm in einem recht deutlichen Schreiben zu verstehen gegeben, dass er keinerlei amtliche Unterstützung für die Reichsbanner-Feier wünsche. Insbesondere kritisierte Schiele, dass sich Redslob in seinem Beitragsentwurf positiv über den Empfang des Reichspräsidenten Hindenburg durch das Reichsbanner geäußert hatte, dieser habe entgegen der Feststellung Redslobs aber nichts „Würdiges“ an sich gehabt. Materialien des Reichsinnenministeriums für die Verfassungsfeier wurden anders als noch unter Jarres nicht bereitgestellt.65 Zeitgleich wurde von Schiele im Reichsinnenministerium eine Initiative zum Verbot der Führung des Reichsadlers als Vereinslogo des Reichsbanners gestartet. Die Argumentation war gestützt auf ein heraldisches Gutachten, welches im Auftrag des Ministeriums feststellte, dass das Reichswappen und das Vereinslogo des Reichsbanners identisch seien und somit eine unbefugte, strafbare Nutzung von Hoheitssymbolen durch das Reichsbanner vorläge. Bereits wenige Wochen nach Amtsantritt der neuen Regierung hatte das Reichsinnenministerium im Februar 1925 diesbezüglich den Reichsbannerbundesvorstand angeschrieben und eine Neugestaltung des Vereinslogos verlangt. Nachdem dies vom Reichsbanner nicht umgesetzt wurde, erreichte dieser Streit im Juli die Öffentlichkeit. Die Polizeidirektion Nürnberg-Fürth hatte ein Flugblatt des dortigen Reichsbanners verboten, was einerseits mit dem aggressiven Text, aber vor allem mit der zweimaligen Abbildung des Reichsadlers auf dem Flugblatt begründet wurde. Dieses Vorgehen der bayerischen Polizei löste innerhalb der republikanischen Presse regen Protest hervor, der mittels einer Interpellation der DDP-Fraktion im Reichstag der Reichsregierung angetragen wurde. Der Streit endete mit der (eher banalen) Feststellung, dass zwischen der Verehrung der Symbole des Reiches und einer Amtsanmaßung im Sinne des Strafrechts unterschieden werden müsse, somit also kein Vergehen des Reichsbanners festzustellen sei.66

65 Vgl. BArch R1501/113501, Bl. 94ff. Schiele nannte Hörsings Äußerungen vom Januar 1925 explizit als Argument für seine ablehnende Haltung. Auch in der Kabinettssitzung am 7.10.25 führte Schiele in einem Vortrag aus, dass die Regierung keine Nähe zum Reichsbanner suchen dürfe, da es sich bei diesem Verband um eine „sozialistische Truppe“ handele, die für zahlreiche Ausschreitungen und Provokationen verantwortlich sei (vgl. ebd., Bl. 138ff.). Die Verfassungsfeier 1925 nahm in Berlin unabhängig davon einen guten Verlauf. Einen Einblick in den Ablauf der organisatorischen Vorbereitungen bietet ein Protokoll des Festausschusses in: AdL, Bestand Wilhelm Nowack, N26–1. 66 Die ganze Auseinandersetzung samt der Interpellation von Erich Koch-Weser und Genossen vom 22.7.1925 ist zu finden in: BArch R1501/113502, Bl. 6ff. sowie BArch R1507/3064, Bl. 133f. u. 143. Die rechtliche Seite dieser Verbotsinitiative kann hier nicht weiter diskutiert werden. Es sei nur angemerkt, dass das Reichsbanner nicht der einzige Verein gewesen ist, der einen (Reichs-)Adler als Logo führte (z.B. der ADAC) und dass die Legalität des Reichsbannerlogos gerichtlich bestätigt wurde (siehe „Der blamierte Innenminister“, in: Münchener Post Nr. 208/1925 vom 10.9.). Die bayerische Polizei hatte versucht, auch bei anderen Gelegenheiten die Nutzung des Reichsadlers durch das Reichsbanner als strafbare Handlung zu verfolgen (siehe „Das „staatsgefährdende“ Reichswappen“, in: Vorwärts Nr. 361/1925 vom 2.8.).

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Rechtliche Konsequenzen hatte dieser Streit um den Reichsadler für das Reichsbanner nicht,67 dazu war die rechtliche Grundlage der Verbotsinitiative offensichtlich zu schwach, aber er illustriert den Geist, der im Reichsinnenministerium vorhanden war und liefert uns einen Teil des Kontextes zum Flaggenstreit im Mai 1926, der für das Reichsbanner zwar mit einem öffentlichkeitswirksamen Sieg endete, dessen Preis allerdings nicht gering geschätzt werden sollte. Insbesondere die Position Hörsings als Oberpräsident wurde weiter erschüttert, da er erneut von der preußischen Regierung für seine öffentlichen Äußerungen gerügt wurde. So führte Otto Braun in einem Schreiben an Hörsing aus, dass es Hörsing, der der Regierung Luther „glatten Verfassungsbruch“ vorgeworfen hatte, an Zurückhaltung mangele. Dies sei auch nicht dadurch zu rechtfertigen, dass Hörsing als Reichsratsmitglied besonderes Interesse an einem korrekten Verfahrensablauf habe. Da Severing bereits im Januar 1925 seine Missbilligung von Hörsings Amtsführung ausgedrückt habe, sehe sich die preußische Regierung gezwungen, weitere Maßnahmen gegen Hörsing zu ergreifen, wenn dieser sich in Zukunft nicht streng zurückhalte.68 Für Hörsing als Reichsbannervorsitzenden war es schwer, sich zurückzuhalten, wenn man die Empörung in republikanischen Kreisen über die Flaggenverordnung bedenkt. Insbesondere das Reichsbanner organisierte reichsweit zahlreiche Protestkundgebungen gegen die Flaggenverordnung, auf denen stets der Rücktritt Luthers gefordert wurde. Einen Einblick in diese Protestwelle bietet ein polizeilicher Lagebericht zur Situation im Land Thüringen. So hatte es praktisch in allen Städten Thüringens Protestkundgebungen des Reichsbanners mit jeweils einigen hundert Teilnehmern gegeben, wobei die Hauptredner stets SPD-Politiker gewesen waren. In Protestchören wurde der Rücktritt Luthers und Geßlers gefordert sowie „Nieder mit den Monarchisten!“ skandiert, wobei es in Thüringen zu keinen gewaltsamen Zwischenfällen kam.69 Andernorts hatte es im Rahmen ähnlicher Demonstrationen aber Gewalttätigkeiten gegeben. So in Bremen, wo etwa zweitausend Personen gegen die Flaggenverordnung demonstriert hatten und sich das Reichsbanner Schlägereien mit dem Jungstahlhelm lieferte.70 Der öffentliche Streit eskalierte mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit und beendete Luthers Kanzlerschaft in nur wenigen Tagen. Am 5. Mai wurde die neue Flaggenverordnung erlassen,71 und bereits am 12. Mai trat Luther nach einem Misstrauensvotum des Reichstags zurück, da auch die mitregierende DDP sich dem Protestlager angeschlossen hatte.72 Die parlamentsgeschichtlichen Details der An67 Mindestens im Gau Großthüringen wurden jedoch als freiwillige Reaktion auf den behördlichen Druck neue Stempel mit einem veränderten Adlermotiv verwendet (siehe Gaurundschreiben Nr. 6/1925, in: TStA Rudolstadt, 99.2/10, Nr. 28). 68 Vgl. Schreiben Brauns an Hörsing vom 25.5.26, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19. 69 Vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Weimar vom Mai 1926, in: THStA, P 267, Bl. 65. 70 Vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 14.5.26, in: THStA, P 284, Bl. 112f. 71 Siehe AdR, Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 337, 339, 350, 354f., 357f., 360–365. 72 Siehe hierzu Papke 1989, S. 135–142. Die Regierungsbeteiligung der DNVP war bereits im Januar 1925 beendet worden und das Amt des Innenministers an die DDP gegangen.

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gelegenheit interessieren hier weniger als die Feststellung, dass der regierende Bürgerblock die Krise auf die denkbar mildeste Weise löste. Marx trat nach vergleichsweise kurzen Verhandlungen zum zweiten Mal das Amt des Reichskanzlers mit einem ansonsten unveränderten Kabinett an. Die Flaggenverordnung blieb jedoch in Kraft. Der Austausch Luthers durch Marx war somit politisch wenig mehr als ein Bauernopfer, wenn auch ein symbolträchtiges. So konnte hat sich Hörsing später mit Luthers Rücktritt brüsten. Nie standen wir so nahe vor einem Putsch und einem Bürgerkrieg wie in diesen Tagen. Die legale Staatsgewalt halte ich für stark genug einen Putsch zu verhindern. Wenn es Not tut, werden die Putschisten sich blutige Köpfe holen bei den kampferprobten Massen des Reichsbanners. Jeder Angreifer wird von der Bildfläche weggeweht, wie Dr. Luther, der es wagte Hand an die Farben Schwarz-Rot-Gold zu legen.73

Nun könnte man fragen, warum Hörsing nicht auch den Rücktritt des Reichspräsidenten gefordert hatte, der sich ja ebenfalls mit der Flaggenverordnung exponiert und diese unterzeichnet hatte. Eine Präsidentenkrise war 1926 durchaus denkbar, wie aus den intern diskutierten Alternativen bzw. Handlungsoptionen der Regierung angesichts des Protestes bezüglich der Flaggenverordnung hervorgeht. Wilhelm Külz (DDP) zufolge gab es angesichts des anhaltenden Protestes der DDP-Fraktion nur drei Handlungsoptionen: 1) Auflösung des Reichstags, 2) Reichspräsidentenkrise, 3) Demission des Gesamtkabinetts.74 Verwirklicht wurde die dritte Option. Dass aber die erste und zweite Option überhaupt auf den Tisch gebracht wurden – und dies, wie die Akten zeigen, nicht nur von Külz – muss aufhorchen lassen. In der Tat war Hindenburg durch die öffentliche Ablehnung „seiner“ Verordnung geschwächt worden, deren Ziel es ja vorgeblich war, die Bindung breiter Bevölkerungskreise an die Verfassung zu erhöhen und nicht, einen anderen Teil der Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen. An einem Rücktritt des Präsidenten hatten alle Beteiligten allerdings kein Interesse.75 Auch nicht das Reichsbanner, dem es um die Anerkennung des Symbols Schwarz-RotGold durch Hindenburg ging, wozu ja auch die Präsentation der Reichsflagge bei Empfängen des Präsidenten dienen sollte.76 Die Verantwortung für den Flaggen73 Artikel: „Der Reichsbannertag in Magdeburg. Hände weg von Schwarz-Rot-Gold!“, in: THStA, P 521, Bl. 106. Der Titel der Zeitung ist nicht genannt. Hörsing reagierte in diesem Zitat auf die publik gewordenen Intrigen des Alldeutschen Verbands, aus dessen Umfeld Aufforderungen zur Errichtung einer Militärdiktatur an staatliche Stellen gerichtet worden waren. Die Putschabsichten waren im Frühjahr 1926 bekannt geworden, nachdem bei Hausdurchsuchungen im rechtsradikalen Milieu belastendes Material gefunden worden war. In den Plänen der potentiellen Putschisten spielte neben der preußischen Schupo auch das Reichsbanner eine wichtige Rolle, dessen Stärke und Einsatzbereitschaft eingehend besprochen wurde (vgl. Nachrichten des Polizeipräsidenten Berlin vom Mai 1926, in: THStA, P 251, Bl. 131ff.). 74 Vgl. AdR, Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 361. 75 So bereits Pyta 2007, S. 511ff. Dies galt insbesondere auch für die DDP (siehe Wegner/Albertin (Hg.) 1980, S. 388ff. (Dok. 131)). 76 Vgl. Schreiben Hörsings an Braun vom 11.5.26, in: R43I/767, Bl. 77ff. Hörsing versuchte, über Otto Braun den Präsidenten davon in Kenntnis zu setzen, dass seine öffentliche Äußerung über die Flaggenverordnung als „glatter Verfassungsbruch“ nicht gegen Hindenburg gerichtet gewesen sei und sich auf die Übergehung des Reichsrates bezogen habe (vgl. ebd.).

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streit wurde folglich in der Reichsbannerpresse nicht bei Hindenburg, sondern bei Luther gesucht, was insofern sinnvoll erscheint, als dass die Verordnung für sich genommen keine unmittelbaren verfassungsrechtlichen Bedenken rechtfertigte und Hindenburg als „Hüter“ der Verfassung nicht belastet war.77 Eine Präsidentenkrise war im Mai 1926 also weder gewollt noch gerechtfertigt. Bleibt noch die Frage einer andiskutierten Reichstagsauflösung. Hindenburg war durchaus bereit, seinen Herrschaftsanspruch gegen das Parlament durchzusetzen, wie sein Verhalten im Zuge der Reichstagsauflösung 1930 zugunsten des per Notverordnung erlassenen Finanzplans des Präsidialkabinetts Brüning noch zeigen sollte. In dieselbe Richtung wurden ernsthafte Drohungen von Seiten des Reichspräsidenten bereits im Zuge der Krise um die Flaggenverordnung gemacht.78 Der wesentliche Unterschied zwischen den Krisen um diese zwei Verordnungen war jedoch, dass 1926 im Falle von Neuwahlen ein Ruck nach Links zu erwarten war, während 1930 ein Rechtsruck nicht nur erwartet werden konnte, sondern sich auch im Form des Stimmenzuwachses für die NSDAP tatsächlich ereignete und das Parlament auf diese Weise „ganz legal“ in seiner Handlungsfähigkeit massiv eingeschränkt wurde. Ein Wahlsieg der Linken – und dies heißt vor allem der SPD – hätte 1926 hingegen das Parlament gestärkt und Hindenburg geschwächt. Vielleicht hätte sogar die Weimarer Koalition parlamentarisch wiederbelebt werden können. Die Drohung mit Neuwahlen war also 1926 für den Präsidenten keine scharfe Waffe in seinem Konflikt mit dem Parlament. Mobilisierungserfolg Fürstenenteignung Um den wesentlichsten Grund für die damalige Tendenz nach links zu verstehen, müssen wir uns einem anderen Thema zuwenden, welches nur in einem erweiterten Sinne zur Symbolpolitik zu zählen ist: der Fürstenenteignung. Mit der Revolution von 1918 waren die herrschenden Adelshäuser Deutschlands allesamt politisch entmachtet worden und selbst die liberalen, demokratisch orientierten Herrscher von Baden und Württemberg hatten sich nicht halten können. Während die politische Entmachtung des Adels so schnell wie unblutig verlief, zog sich die definitive Klärung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den ehemaligen Herrscherhäusern und den neu gegründeten Ländern über ein Jahrzehnt hin. Eine grundsätzliche Enteignung des fürstlichen Besitzes war 1918/19 versäumt bzw. nicht gewünscht worden. Es fehlte daher an einer Rechtsgrundlage für die vollzogene Akquirierung des fürstlichen Besitzes, sodass das Reich und insbesondere die Länder mit teils hohen Entschädigungsforderungen der ehemaligen Herrscher77 So die Position des damaligen Verfassungsexperten im RIM Arnold Brecht, dass das Zeigen der Handelsflagge genauso wenig bedenklich oder gar verboten sei, wie das Zeigen der Reichsflagge (vgl. AdR, Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 361). 78 Siehe AdR, Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 357. In einer Besprechung zwischen dem Staatssekretär Otto Meissner und Erich Koch-Weser als Vorsitzenden der DDP-Fraktion am 7. Mai wies Meissner deutlich auf die Möglichkeit einer Reichstagsauflösung hin.

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häuser konfrontiert waren, die in mehreren Gerichtsurteilen bestätigt wurden. Die KPD versuchte diese Sachlage für ihre Zwecke propagandistisch auszunutzen, als sie 1926 ein Volksbegehren zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten initiierte. Den Hauptteil der für eine solche direktdemokratische Initiative nötigen Mobilisierungsarbeit konnte die finanziell wie organisatorisch schwache KPD jedoch nicht leisten und somit wäre das Volksbegehren wohl bereits am Einschreibungsquorum gescheitert, wenn nicht die SPD und vor allem das Reichsbanner sich dieser Initiative angeschlossen hätten.79 Gerade im antimonarchistisch eingestellten Reichsbanner war man sehr daran interessiert, den politischen Einfluss der Fürstenhäuser zu mindern, die sich nicht selten auf die Seite der Republikgegner geschlagen hatten, so wie die Häuser Hohenzollern oder Sachsen-Coburg und Gotha. Die Agitation gegen die ehemaligen Herrscher war ein konstantes Thema in den Spalten der Reichsbannerpresse und auch vor juristischen Schritten schreckte man nicht zurück. Das damalige Oberhaupt der Mecklenburgischen Herrscherfamilie Carl Michael wurde im Kontext des Volksentscheides von der Republikanischen Abwehrstelle in Bremen, die dem RRB nahe stand, sogar wegen Landesverrats angezeigt, da er im Ersten Weltkrieg als russischer Offizier gegen Deutschland aktiv gewesen war.80 Gleichzeitig kam eine offene Kooperation mit den gleichfalls republikfeindlichen Kommunisten für die Reichsbannerführung nicht in Frage, wofür das Reichsbanner von dieser Seite wiederum angegriffen wurde.81 Laut Polizeiberichten aus Thüringen scheint es dort hingegen eine lokale Zusammenarbeit gegeben zu haben. Demnach haben die KPD, der Rotfrontkämpferbund (RFB), die SPD und das Reichsbanner gemeinsame Demonstrationen veranstaltet, wobei es mitunter zu Auseinandersetzungen mit den rechten Wehrverbänden kam. Die Thüringer SPD habe sich somit über das explizite Verbot der SPD-Zentrale hinweggesetzt und Einheitskomitees mit der KPD zur Organisation des Volksentscheids gebildet. Insgesamt hätten in Thüringen das Reichsbanner und der RFB die Hauptlast der Werbetätigkeit für die Fürstenenteignung geleistet, so die Polizei.82 Ein ähnliches Zusammengehen von Reichsbanner und RFB war in Hessen zu beobachten.83 Hervorzuheben ist aber, dass dieses Zusammengehen nicht automatisch als Anzeichen einer proletarischen Einheitsfront gewertet werden sollte, da prinzipiell die Reichsbannermitglieder dazu angehalten waren, auf räumliche Distanz zu den Kommunisten zu gehen und solche gemeinsamen Kundgebungen die Ausnahme 79 1928 versuchte die KPD, das Volksbegehren betreffend den Panzerkreuzer A allein zu organisieren und erhielt gerade einmal ein gutes Drittel der Stimmen, die sie im selben Jahr bei der Reichstagswahl erhalten hatte. Zur Vorgeschichte des Volksentscheides über die Fürstenenteignung ausführlich: Schürer 1978. Rohe schreibt nur sehr knapp zur Fürstenenteignung (siehe Rohe 1966, S. 296, Fn. 1). 80 Vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 17.6.26, in: THStA, P 284, Bl. 141. 81 Siehe „Reichsbanner am Scheideweg!“, in: Rote Fahne, Nr. 30/1926 vom 5.2. und die entsprechende Reproduktion dieser Ansichten bei Gotschlich 1987. 82 Vgl. Lageberichte der Polizeidirektion Weimar von April, Mai und Juni 1926, in: THStA, P 267, Bl. 65ff. 83 Siehe Nachrichten des Polizeiamtes Darmstadt vom 15.4.26, in: THStA, P 280, Bl. 42f.

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gewesen sein dürften.84 Das Reichsbanner verfolgte mit seinem Engagement für eine Fürstenenteignung das Ziel des Republikschutzes und hatte keine klassenkämpferischen Absichten. Auf einer Reichsbannerkundgebung zum Volksentscheid in Jena mit dreitausend Teilnehmern argumentierte der Pazifist Lothar Persius vor allem geschichtlich. So führte er aus, dass die Schuld an der Kriegsniederlage bei den Herrscherhäusern zu suchen sei. Zwar wären die deutschen Herrscher nicht allein für den Ausbruch des Krieges verantwortlich, aber die fürstlichen Heerführer und ihre Kamarilla hätten den Krieg gewollt. Das Vermögen dieser Leute müsse daher zum Wohle des Volkes enteignet werden, auch um weitere Kriege zu verhindern.85 Bei einer Protestkundgebung für die Fürstenenteignung in Chemnitz agitierte der Redner, der Oberstaatsanwalt Elling aus Eisenach, ebenfalls nicht für einen Klassenkampf, sondern für den Schutz der Republik. Nicht länger dürfe man tolerieren, dass die Fürsten ihr Vermögen zur Finanzierung von Rechtsputschen oder Fememordorganisationen einsetzten. Dass die Gerichte den Fürsten in der Frage der Enteignung bzw. Entschädigung entgegenkommen würden, sie nicht verwunderlich. 85% aller Richter seien monarchistisch eingestellt, was sich auch in der scharfen Stellungnahme des Deutschen Richterbundes gegen die Fürstenenteignung gezeigt habe. Eine Fürstenenteignung wäre daher ein Zeichen gegen die Klassenjustiz und das Unwesen der rechtsradikalen Mordorganisationen, so Ellings Fazit.86 In Bayern gab es kein gemeinsames Vorgehen von KPD und SPD, sodass das Reichsbanner den Hauptteil der Wahlarbeit allein leistete. Während die KPD versuchte, die Abstimmung für ihren außerparlamentarischen Kampf zu nutzen, argumentierte die bayerische SPD in ihrer Propaganda nicht primär klassenkämpferisch, sondern wie auch andernorts geschichtlich. Die NSDAP entfaltete ebenfalls eine große Propaganda gegen die Fürstenenteignung, wobei sie – wenig überraschend – antisemitisch argumentierte. Die bayerische DDP hatte ihren Mitgliedern die Abstimmung freigestellt und nur die Jungdemokraten hatten sich geschlossen für die Enteignung eingesetzt. Mit Ausnahme der DVP bildeten die übrigen bürgerlichen Parteien und die VVV in Bayern einen sog. Kampfausschuss gegen die Fürstenenteignung, dessen Propaganda vor allem mit moralischen, rechtlichen und religiösen Argumenten arbeitete. Hieran beteiligten sich auch hohe Kirchenvertreter, was laut einem Sonderbericht der Münchener Polizei einen sehr großen Effekt erzielte. Der Kampfausschuss versuchte in den Wahllokalen die Abstimmung zu behindern, wobei es zu Verstößen gegen die Wahlordnung kam. Am Tag der Ab-

84 So Schuster 1975, S. 149ff. u. Schüren 1978, S. 83ff., der von einer „Aktionseinheit auf Distanz“ spricht. 85 Vgl. „Reichsbanner und Volksentscheid“, in: Vom Volk vom 28.1.26. 86 Vgl. Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom Februar 1926, in: THStA, P 256, Bl. 23. Dort wird auch hervorgehoben, dass das Reichsbanner den Versammlungsschutz aller SPD-Veranstaltungen zum Thema Fürstenenteignung organisierte. Vereinzelt war es bei diesen Gelegenheiten zu Schlägereien zwischen SPD- und NS-Anhängern gekommen (siehe Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom März 1926, in: THStA, P 256, Bl. 26).

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stimmung war in Bayern jegliche Propaganda zum Thema untersagt und ein allgemeines Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel erlassen worden.87 Das Vorgehen des Reichsbanners war somit regional unterschiedlich und orientierte sich an der Haltung der lokalen SPD, die reichsweit aber eindeutig für den Volksentscheid eintrat, wobei die Argumentation nicht primär klassenkämpferische Züge trug. Dies war auch der Tenor der Reichsbannerpublizistik, wo das Thema der Fürstenenteignung 1926 immer mehr zum bestimmenden Thema wurde.88 Wie der Ausgang des Volksbegehrens vom März 1926 sowie das Ergebnis des im Juni durchgeführten Volksentscheids, der nach der Ablehnung des Gesetzesentwurfs des Volksbegehrens im Reichstag notwendig geworden war, zeigen, war die Arbeit des Reichsbanners ein voller Erfolg. Weder die DDP noch das Zentrum hatten sich gegenüber ihren Anhängern für eine Beteiligung an den zwei Abstimmungen ausgesprochen.89 Von den im Reichstag mit Fraktionen vertretenen Parteien hatten nur die SPD und die KPD ihren Wählern ein „Ja“ zur Fürstenenteignung empfohlen und dementsprechend agitiert. Dennoch wurde die Fürstenenteignung bis weit in die Wählerkreise der DDP und des Zentrums unterstützt, was an der Differenz zwischen den Ja-Stimmen für Volksbegehren/-entscheid und den zusammengezählten Wahlergebnissen für SPD und KPD abgelesen werden kann. Dass sich in einigen Regionen mehr Personen für die Fürstenenteignung aussprachen als für SPD, DDP, Zentrum und KPD zusammengenommen rechtfertigt sogar die Annahme, dass sich auch Nicht-Wähler und Anhänger der Rechtsparteien beteiligten.90 Die Fürstenenteignung war somit ein Thema, welches über Partei- und Klassengrenzen hinweg mobilisierte und auch politikferne Teile der Bevölkerung interessierte. In diesem Sinne passte es ideal in die allgemeine Agitation des Reichsbanners. Im Gegensatz zu den Arbeiterparteien hatte das Reichsbanner versucht, das „Ja“ zur Fürstenenteignung nicht als „Ja“ zu Sozialismus oder Kommunismus zu verkaufen, sondern ausschließlich als „Ja“ zur Republik und gegen die alten Machteliten. In der Tat war sachlich betrachtet die Enteignung der Fürsten kein erster Schritt auf dem Weg zur allgemeinen Aufhebung des Privateinkommens, auch wenn die Rechtsparteien dies behaupteten. Es ging schließlich nicht einmal um die Enteignung des gesamten deutschen Hochadels oder des ostpreußischen Landadels, sondern eben nur um die ehemaligen Herrscher. Diesen mit ein87 Vgl. Nachrichten der Polizeidirektion München vom 22.6.26, in: THStA, P 277, Bl. 68f. u. 74. 88 Siehe etwa Heinig 1926. Heinig war führendes Mitglied des Reichsbanners wie des RRB. 89 Zur Haltung der DDP: Schüren 1978, S. 221ff. u. Papke 1989, S. 143ff. 90 So mit entsprechendem Zahlenmaterial: Schüren 1978, S. 227–241 sowie Winkler 1988, S. 270–289. Winkler verweist auf die durch die Frage der Fürstenenteignung erzeugte Entfremdung zwischen der SPD und den bürgerlichen Parteien, was die Wahrscheinlichkeit einer Großen Koalition reduzierte. Zumindest versuchte die Regierungskoalition wiederholt, die SPD von ihrer Beteiligung abzubringen und an einer parlamentarischen Lösung des Streits über die Fürstenabfindung zu interessieren und in diesem Sinne auch auf den preußischen Ministerpräsidenten Braun als einen der hauptsächlich Betroffenen einzuwirken (hierzu mehrere Dokumente, in: AdR, Kabinette Luther I/II u. Kabinette Marx III/IV).

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zelnen Ausnahmen republikfeindlichen Adeligen eine finanzielle Entschädigung zu zahlen, war pragmatisch gesehen nicht nur eine finanzielle Belastung in Zeiten ohnehin knapper öffentlicher Kassen, sondern auch eine indirekte staatliche Finanzierung republikfeindlicher Bestrebungen, auch wenn dieser Finanzierungsbeitrag sicherlich nicht entscheidend war. Insofern muss die hohe positive Beteiligung am Volksentscheid nicht unbedingt als Ausdruck eines sozialistischen oder gar kommunistischen Grundgefühls in der Gesellschaft gesehen werden, sondern als Bekenntnis breiter Bevölkerungskreise zur Republik und folglich auch zu den Werten des Reichsbanners. Die Summe der 14,5 Millionen Ja-Stimmen des Volksentscheids zur Fürstenenteignung vom 20. Juni 1926 übertraf sogar die Anzahl der Stimmen für den gemeinsamen Kandidaten des Reichsbanners und der republikanischen Parteien im zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl 1925 (Wilhelm Marx) um knapp 800.000 Stimmen und unterschritt die Zahl der Stimmen für den Sammlungskandidaten der Rechten (Hindenburg) nur knapp um 150.00 Stimmen. Für das vom 4. bis zum 17. März durchgeführte Volksbegehren hatten bereits 12,5 Millionen Menschen mit Ja gestimmt.91 Hindenburg und die Rechtsparteien konnten diese Willensäußerung des Volkes im Kontext des Flaggenstreits nicht ignorieren. Eine Reichstagsauflösung im Mai 1926 hätte zur Folge gehabt, dass die anschließenden Reichstagswahlen ganz im Zeichen von Fürstenenteignung und Flaggenfrage gestanden und dies zum Auftrieb insbesondere der SPD geführt hätte. Dieses Szenario wurde von den Rechtsparteien gesehen und gefürchtet, was als einer der Gründe dafür zu sehen ist, dass der Streit zwischen dem Parlament und Hindenburg im Mai nicht vonseiten des Reichspräsidenten eskaliert wurde. Wie auch die Flaggenverordnung hatte die Frage der Fürstenenteignung vor allem einen symbolischen Charakter. Die später von Reich und Ländern gezahlten Entschädigungen an die Fürstenhäuser bedrohten für sich genommen den Bestand der Republik ebenso wenig wie das Hissen der Handelsflagge vor den Auslandsvertretungen des Reiches. Aber gerade weil der parteipolitische Gehalt dieser Fragen eher gering war, konnte das Reichsbanner sie für seine Propaganda erfolgreich nutzen. Hiermit hing eine gezielte Polarisierung zwischen den Symbolen Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot zusammen, die vom Reichsbanner als Werbung für die eigene Organisation genutzt wurde. „Schwarz-Rot-Gold ist bedroht! Darum hinein ins Reichsbanner!“ hätte eine diese Haltung zusammenfassende Parole des Reichsbanners lauten können.92 Der Flaggenstreit wurde auch in den folgenden Jahren fortgesetzt und bot reichlich Konfliktstoff für die Auseinandersetzung des Reichsbanners mit dem Stahlhelm und anderen rechtsradikalen Verbänden. Dass die Republik von dieser Seite tatsächlich bedroht war, sollte in 91 Zu diesem milieuübergreifenden Mobilisierungserfolg bereits Lehnert, Reichsbannerlager 1993. 92 Besonders emotional vertrat bspw. Robert Breuer diesen Gegensatz in seiner Beschreibung des Berliner Rathenau-Gedenktages, welcher den schwarz-weiß-roten Feinden der Republik einen machtvollen Eindruck von der Wehrhaftigkeit der Republikaner geboten habe (siehe „Im schwarz-rot-goldenen Kampfwagen“ von Robert Breuer, in: Löbe et al. 1925, S. 22f.).

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den folgenden Jahren nur zu deutlich werden, aber dies musste breiten Bevölkerungskreisen in der Zeit der (relativen) Stabilisierung auch ins Bewusstsein gerufen werden, um einer schleichenden Machtverschiebung zuungunsten der Republikaner entgegenzuwirken. Dies war 1926 trotz des Rückschlages durch Hindenburgs Wahlsieg im Jahr zuvor durchaus gelungen.

2. PREUß’ENS ERBEN. DIE ÜBERPARTEILICHE ARBEIT DES REICHSBUNDES Während das Reichsbanner in den Jahren 1924/25 einen rasanten Auftrieb erlebte und die Mitgliederzahlen kontinuierlich anstiegen, war der Republikanische Reichsbund 1925 weitgehend inaktiv.1 Der Aufstieg des Reichsbanners ist sicherlich zu einem Großteil hierfür verantwortlich. Es waren meist die aktivistischen Elemente, die den Reichsbund zugunsten des Reichsbanners verließen, wie der Vortrupp Reichsadler in Bremen. Auch manche Funktionäre des RRB wechselten, so etwa der Geschäftsführer des RRB-Gaues Sachsen-Schlesien Arthur Neidhart, der Leiter des Leipziger Reichsbanner-Gaues wurde oder Hermann Schützinger, der seine Mitgliedschaft im Reichsbund allerdings nicht vollständig ruhen ließ.2 Des Weiteren trug der Tod von Führungspersönlichkeiten des RRB zu dessen relativer Inaktivität bei. Mit Konrad Haenisch am 28. April und Hugo Preuß am 9. Oktober starben 1925 nicht nur zwei der profiliertesten republikanischen Politiker und Publizisten ihrer Zeit, sondern auch der 1. und der 2. Vorsitzende des Reichsbundes.3 Der geschäftsführende Vorsitz ging im selben Jahr an den Nürnberger Oberbürgermeister Hermann Luppe. Erst 1926 wurden mit Paul Löbe und Carl Spiecker wieder drei Republikaner als gleichberechtigte Vorsitzende an die Spitze des RRB gewählt. Eigenständigkeit als „geistiges Reichsbanner“ Nachdem die Diskussion mit der Reichsbannerführung Ende 1924 nicht zu einer institutionalisierten Lösung und damit einer gemeinsamen finanziellen und organisatorischen Grundlage geführt hatte, musste der RRB weiterhin eigenständig für die Republik arbeiten, was eine Kooperation zwischen den beiden republikanischen Bünden vielerorts nicht ausschloss.4 Auf die vielfältigen personellen Über-

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Zumindest sind keine Quellenmaterialien oder Presseerzeugnisse des RRB aus dieser Zeit vorhanden. Gleicher Auffassung: Fricke et al. (Hg.) 1983, S. 97ff. In Sachsen dürfte nicht nur Neidhardt den RRB zugunsten des Reichsbanners verlassen haben, da die Verbandstätigkeit dort nach Gründung des Reichsbanners stark zurückging (siehe Voigt 2009, S. 95ff.) und ein Sächsischer Landesverband des RRB erst 1927 wiedergegründet werden konnte (siehe zur Neugründung THStA, P 257, Bl. 165). Eine sehr freundliche Charakterisierung Neidharts bei: Löwenstein 1934, S. 73f. Eine Charakterisierung Haenischs bei: Severing, Republik 1950, S. 55. Beispiele für gemeinsame Veranstaltungen von RRB und Reichsbanner finden sich in den polizeilichen Lageberichten in: THStA, u.a. P 257, Bl. 108 (Chemnitz), P 270, Bl. 278f. (Stuttgart), P 275, Bl. 379f. u. P 277, Bl. 135f. (Nürnberg), P 284, Bl. 156f. u. 201f. (Bremen). Die betreffenden Veranstaltungen spiegeln die regionalen Schwerpunkte des RRB wieder, der in den 1920ern vor allem in Süd- und Mitteldeutschland sowie den Hansestädten aktiv war.

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schneidungen wurde bereits hingewiesen.5 Die organisatorische Eigenständigkeit des RRB brachte neben finanziellen Schwierigkeiten aber auch gewisse politische und agitatorische Vorteile mit sich. Während das Reichsbanner schnell in den Ruf geriet, eine „Sozialistentruppe“ zu sein, konnte der RRB sein bürgerlichrepublikanisches Profil schärfen. Es waren zahlreiche Sozialdemokraten zum Reichsbanner abgewandert und somit war aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Mitgliederstruktur des Reichsbundes wesentlich bürgerlicher als die des Reichsbanners.6 Allein die paritätische Besetzung des Vorsitzes mit je einem Vertreter der Weimarer Koalitionsparteien machte dies jedem Beobachter offensichtlich. Den Kontakt zu staatlichen Stellen, die nicht von Sozialdemokraten ausgefüllt waren, gestaltete sich für den Reichsbund einfacher als für das Reichsbanner, zumal sein Profil als vorwiegend bürgerlicher Honoratiorenverein besser zu den althergebrachten Vorstellungen von Politik passte, die in den alten und auch den neuen Machteliten der Republik zu finden waren. Das Profil des Reichsbanners als Massenorganisation und Wehrverband sowie dessen notwendigerweise aggressiv mobilisierende Propaganda verschreckte bürgerliche Kreise eher, als dass es sie anzog.7 Der Reichsbund konnte daher in Bereichen punkten, in denen das Reichsbanner eher schwach war, wie die Jahre ab 1926 zeigen sollten. So wurde das generelle Problem des von der Gewaltkultur der Wehrverbände beeinflussten Reichsbanners von Schützinger klar benannt. Er forderte in einem Zeitungsartikel eindringlich vom Reichsbanner, dass es sich von der Tradition der Kriegervereine emanzipieren und die geistige Qualität der „republikanischen Bewegung“ schärfen solle. Es brauche nicht nur „Republikanische Tage“ als Gegensatz zu den „Deutschen Tagen“ der Vaterländischen Verbände. Was die republikanische Jugend benötige, seien „Republikanische Abende“ um politische Diskussionen anzuregen und „Republikanische Morgenfeiern“ für die emotionale Bindung der Jugend an die Republik. Man dürfe nicht zurück zum Menschenbild der Kriegervereine, sondern müsse daran gehen, einen „neuen Menschen“, ein 5

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Siehe oben sowie Dokumentenanhang Nr. 5. Ferner war bspw. der DDP-Politiker Thomas Dehler sowohl im Reichsbanner als auch im RRB führend aktiv (hierzu die Unterlagen betreffend Dehlers Arbeit in republikanischen Studentenorganisationen und dem RRB in: AdL, Bestand Thomas Dehler, N53–61, 62, 63, 64 sowie N1–806). Auch Fritz Greuner gehörte der DDP, dem RRB und dem Reichsbanner als aktives Mitglied an (siehe AdL, Bestand Fritz Reinhardt Greuner, N99–1, Erinnerungen vom 21.7.1967). Ebenso Wilhelm Nowack, der 2. Vorsitzende der Berliner OG des Reichsbanners und aktives Mitglied im RRB war. Zu Nowacks Tätigkeit im RRB siehe AdL, Bestand Wilhelm Nowack, N26–12. Mitgliederlisten des RRB sind nicht erhalten, aber im Nachlass Nowacks existiert immerhin ein Auszug aus der Mitgliederliste des Berliner RRB. Demnach waren 1932 u.a. Georg Bernhard, Bruno Hauff, Paul Hesslein, Elsbeth Lange, Ernst Lemmer und Wilhelm Nowack Mitglieder des RRB. Zudem existiert dort ebenfalls aus dem Jahr 1932 ein Vermerk über 42 neueingetretene Mitglieder (siehe AdL, Bestand Wilhelm Nowack, N26–12). Ein biographisches Beispiel hierfür wäre die liberale Politikerin Katharina v. KardorffOheimb, die zwar als Frau ohnehin nicht dem Reichsbanner hätte angehören können, aber auch so eine sehr skeptische Bewertung von Hörsing vertrat. Im RRB und später auch im Kartell der republikanischen Verbände trat sie hingegen in führender Position hervor (siehe Baddack 2016, S. 221ff. u. 605).

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„neues Geschlecht“ heranzuziehen. Literarisch wie künstlerisch habe das Reichsbanner noch einiges nachzuholen, daher brauche es unter anderem eine eigene Pressezentrale und Reichsbanner-Büchereien.8 Die generelle Tendenz von Schützingers Anregungen fand gegen Ende der 1920er Jahre im Reichsbanner durchaus Gehör und insbesondere das Bildungsprogramm des Bundes wurde ausgebaut.9 Mitte der 1920er hatte Schützinger mit seinen Forderungen aber einen eher schweren Stand.10 Für offen politische Aktivitäten war das überparteiliche Reichsbanner nur begrenzt zu gewinnen. Hierdurch entstand aber eine „geistige“ Lücke in der republikanischen Bewegung, die nicht nur von Schützinger gesehen wurde. In einem namentlich nicht gezeichneten Artikel für die Festschrift der Reichsbanner-Gaukonferenz in Weimar am 26. und 27. Juni 1926 wurde ausgeführt, dass sich die deutsche Intelligenz bislang nicht um die Republik verdient gemacht habe. Obwohl zahllose Gebildete vom republikanischen Staat ihr Gehalt beziehen würden, stünden viele von ihnen der Demokratie immer noch feindlich gegenüber. Der Zusammenbruch des Kaiserreiches im Krieg sei auch auf das allgemeine, staatspolitische Versagen der deutschen Intelligenz zurückführbar, während es das Volk gewesen sei, welches Deutschland nach dem Krieg wiederaufgebaut habe. Die politische Engherzigkeit und Unduldsamkeit der Intelligenz, die sich in manchen Köpfen sogar zu fanatischem Hass steigere, entstehe aus einem Mangel an moralischem Mut, das Vergangene hinter sich zu lassen und am Aufbau der sozialen, demokratischen Republik mitzuwirken, welche die Errichtung einer wahren Volksgemeinschaft anstrebe.11 Schützinger konnte sich somit als Sprachrohr einer noch zurückhaltenden republikanischen Intelligenz verstehen, wenn er im September 1926 in einem weiteren beachtenswerten Artikel die Abgrenzungsdiskussion zwischen Reichsbund und Reichsbanner wieder aufgriff und eine Wiederbelebung des RRB als „geistigem Reichsbanner“ forderte. Er konstatierte die Tatsache, dass es in den beiden letzten Jahren eher ruhig um den Reichsbund geworden sei und betonte den Zusammenhang zwischen dieser Beobachtung und dem Anwachsen des Reichsbanners. Doch gerade die innen- und außenpolitische Entspannung mache es notwendig, dass sich die Republikaner neu gruppieren. Während das Reichsbanner sich als „technische Hilfstruppe“ für Versammlungs- und Republikschutz etabliert habe, dürfe nicht der Fehler gemacht werden, die politische heterogene „Kampffront“ des Reichsbanners durch Versuche einer eigenen politischen Willensbildung zu belasten. Eine Koalition von den Freien Gewerkschaften bis zu den deut8

Vgl. „Das Reichsbanner. Zur konstituierenden Generalversammlung des Reichsbanners am 14. Mai“ von Hermann Schützinger, in: THStA, P 521, Bl. 105. Der Zeitungstitel ist unleserlich notiert. 9 Siehe hierzu unten. 10 Auf der Bundesgeneralversammlung 1926 wurden die Anträge Schützingers zur Bildung einer Presse-Zentrale und einer politisch richtungsgebenden Instanz abgelehnt (siehe Lagebericht Nürnberg-Fürth vom 7.7.26, in: THStA, P 521, Bl. 144). 11 Vgl. „Um die deutsche Intelligenz. Mahn- und Weckruf“, in: THStA, P 521, Festschrift der Gaukonferenz Großthüringen 26./27.6.26, S. 10f. Ähnliche Gedanken in: RRB Landesverband Sachsen-Schlesien (Hg.) 1924, S. 6f.

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schen Bischöfen sei eben nicht dafür geeignet, eine „geistige Hegemonie“ im „republikanischen Lager“ auszuüben. Zumal das Reichsbanner weiterhin in Magdeburg und damit abseits des politischen Zentrums der Republik in Berlin beheimatet sei. Die notwendige Kleinarbeit der Republikanisierung der staatlichen Verwaltung könne wesentlich besser von einer elitären Organisation wie dem Reichsbund vorangetrieben werden. Jetzt müsse der RRB seine Aufgabe mit demselben Elan anpacken, wie das Reichsbanner die seine. In diesem Sinne begrüßte Schützinger die anstehende Führertagung des RRB in Berlin wärmstens als Versammlung „der besten Köpfe des republikanischen Deutschland“.12 In der Tat war diese vom RRB vorbereitete Führertagung zum Thema Einheitsstaat und Reichsreform, die am 25. und 26. September im Berliner Rathaus stattfand, nicht nur inhaltlich zur Klärung eines der zwei Kernthemen13 des Reichsbundes wichtig gewesen, sondern auch organisatorisch. Auf der Reichskonferenz gelang es, die Berliner Ortsgruppe des bis dato vor allem in Süd- und Mitteldeutschland etablierten RRB erneut zu gründen.14 Wie auch auf Reichsebene war die Führung der Berliner Ortsgruppe paritätisch besetzt. Die vier gleichgestellten Vorsitzende waren: Ferdinand Friedensburg (DDP), Karl Hildenbrand (SPD), Carl Spiecker (Zentrum) und Paul Hesslein (Zentrum). Die Geschäftsführung der Berliner Ortsgruppe lag bei Hesslein, was sich als ausgesprochener Glücksgriff erweisen sollte. Bereits im November wurde der Vorstand um Kellermann (Zentrum), Elsbeth Lange (DDP), Artur Petzold (Wirtschaftspartei)15 und Hedwig Machenheim (SPD) erweitert. Prominente Gründungsmitglieder waren unter anderem Philipp Scheidemann, Hermann Schützinger, Alfred Orgler, Fritz Koch, Ludwig Bergsträsser und Hans-Werner Gyßling. Alle diese Männer waren auch im Reichsbanner organisiert.16 Wenn also der personelle Zusammenhang mit dem Reichsbanner erhalten blieb, so unterschied sich die Zusammensetzung der Vorstände doch merklich und dies vor allem wegen der starken Rolle bürgerlicher Republikaner und Republikanerinnen. Das Thema der als Führertagung firmierenden Reichskonferenz des RRB illustriert sinnreich, auf welche Weise es ge12 Vgl. „Reichsbanner und Republikanischer Reichsbund“ von Hermann Schützinger, in: BVZ Nr. 357/1926 vom 24.9. Der Artikel ist u.a. zu finden in: BArch R1501/113561, Bl. 16. Ausführlicher schilderte Schützinger seine Ansichten über den RRB in Schützinger 1931. 13 Das zweite Kernthema des Reichsbundes war der Republikschutz und insbesondere die Abwehr des Nationalsozialismus. Hierzu unten ausführlicher. 14 Eine OG des RRB hatte in Berlin bereits Anfang der 1920er bestanden und war im Laufe der Jahre 1923/24 aufgelöst worden (siehe Schreiben RRB-Berlin an RIM vom 4.10.23, in: BArch R1501/113561, Bl. 7). 15 Petzold war auch im Reichsbanner aktiv, was neben ihn nur auf einzelne weitere Mitglieder der Wirtschaftspartei zutraf (siehe Schumacher 1972, S. 100 u. 129). Eine Kooperation mit dem Reichsbanner war von dieser Partei mehrheitlich stets abgelehnt worden (siehe Rohe 1966, S. 313), was den Unterschied zum Reichsbund betont. Auch zum Stahlhelm wahrte die ansonsten schwarz-weiß-rot eingestellte Wirtschaftspartei jedoch offenbar eine gewisse Distanz (siehe Schumacher 1972, S. 129). 16 Vgl. „Gründung einer Berliner Ortsgruppe des Republikanischen Reichsbundes“, in: VZ Nr. 454/1926 vom 25.9. u. eine entsprechende Notiz, in: BTB Nr. 523/1926 vom 5.11. sowie Dokumentenanhang Nr. 5.

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lang, akademische Kreise für demokratische Fragestellungen zu gewinnen und hierbei festgefahrene Parteigegensätze mindestens ansatzweise zu überwinden.17 Föderalismusdebatten zwischen „Einheitsstaat“ und „organischem Prinzip“ Das Wort „Einheitsstaat“ wird meist synonym zum Begriff „Zentralstaat“ und somit als Gegenbegriff zum „Föderalstaat“ gebraucht. In unserem Kontext verbirgt sich hinter dem Wort „Einheitsstaat“, welches auch in der Propaganda des Reichsbanners einen zentralen Platz einnahm,18 der Versuch des Reichsbundes, den (auch partei-)politischen Gegensatz zwischen Unitarismus und Föderalismus und die hiermit zusammenhängenden etablierten Argumentationsmuster aufzubrechen. Die Details der meist mit staatsrechtlichen Argumenten geführten Debatte um die Ausgestaltung bzw. Reform des föderalen Systems in Deutschland, die bereits in der Kaiserzeit rege geführt wurde, interessieren hier weniger als der Umstand, dass der „Vater“ der Weimarer Reichsverfassung Hugo Preuß in diesem Punkt Vorstellungen besaß, die gänzlich andere waren als jene, die tatsächlich in der Verfassung realisiert wurden. Preuß’ Vorschlag von 1919 wird regelmäßig mit eben jenem Begriff umrissen, welcher auch das Thema der Reichskonferenz des RRB 1926 gewesen ist: der dezentralisierte Einheitsstaat. Entgegen dem Tenor der damaligen oft sehr hitzigen Debatte war es eben nicht das Ziel von Preuß, den Staat Preußen, der allein etwa vier Siebtel des deutschen Gesamtstaates umfasste und somit eine natürlich zu nennende Hegemonie ausübte, zu „zerschlagen“ um einen zentralisierten Einheitsstaat nach französischem Muster zu etablieren, an dessen Spitze, anders als im damaligen Frankreich, ein in direkter Volkswahl bestimmter Präsident zu stehen habe. Statt solcher für den deutschen Geschmack einseitig unitaristischen Gedanken ging es Preuß um die sinnreiche Synthese von deutscher Staatsrechtslehre und amerikanischem Föderalismus. Wie in den USA hätten im Preuß’schen Einheitsstaat die unteren Teilglieder weitgehende Selbstverwaltungsrechte gehabt (self-government). Die Position des Präsidenten zu stärken und durch eine Direktwahl besonders zu legitimieren ist in diesem Modell eine Notwendigkeit um die Einheit des Gesamtstaates zu wahren. Dass von diesem Entwurf nur die Stärkung des Präsidenten, nicht aber die Stärkung der Selbstverwaltungsrechte der unteren Glieder des Staates in die Verfassung übernommen wurde, ist das Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses im Verfassungsausschuss gewesen, den wir hier nicht näher betrachten können. Die 17 So mindestens der Tenor der republikanischen Berichterstattung über die Tagung (siehe z.B. „Tagung des RRB“, in: BTB Nr. 455/1926 vom 26.9.). 18 Siehe Hörsing 1929, S. 188f. sowie zahlreiche Artikel in der Reichsbannerpresse. Die hohe Bedeutung dieser Frage für das Reichsbanner zeigt sich bspw. daran, dass allein in der RBZ Nr. 3/1928 vier Artikel das Thema Einheitsstaat/Föderalismus behandeln (siehe „Einheitsstaat und Selbstverwaltung“, „Das zerrissene Deutschland“, „Le docteur Georg Heim“ von Alpinus sowie „Reichsbanner und Einheitsstaat“, in: RBZ Nr. 3/1928 vom 1.2. (Gaubeilage Großthüringen)). Eine frühe Ausarbeitung eines Reichsbannerstandpunktes in dieser Frage bei: Landsberg 1924.

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Reichskonferenz des RRB durchatmete jedenfalls der Geist des verstorbenen Preuß, dessen Werk fortzusetzen sich die Veranstalter zur Aufgabe gemacht hatten.19 Die Vorbereitungen für die Reichskonferenz waren insofern umfassend, als dass nicht nur die eigentlichen Mitglieder des RRB teilnahmen, sondern zahlreiche Vertreter der Kommunen und Städte, republikanischer Landtagsfraktionen und Länderregierungen, der Gewerkschaften sowie Vertreter von wirtschaftlichen Interessenverbänden, wie den Handelskammern und des Hansabundes. Letzterer war ein Verband von liberal gesinnten, export-orientierten Kaufleuten und Industriellen, der durch das Präsidiumsmitglied Friedrich Fick (DDP und RRBReichsausschuss) maßgeblich an der Gestaltung der Tagung beteiligt war.20 Die Tagung war somit überparteilich ausgerichtet und zielte darauf ab, den Kreis der republikanischen Parteien zu erweitern. Es ist wohl kein Zufall, dass Hermann Müller (SPD), der spätere Kanzler der Großen Koalition von 1928 bis 1930, das Vorwort zu einem RRB-Positionspapier verfasste, welches allen Interessenten im Vorfeld der Tagung zuging.21 In dem Positionspapier wurden grundsätzliche Gedanken von Preuß wieder aufgegriffen. So war der inhaltliche Kern ein Reformvorschlag, welcher auf eine Abschaffung der Länder und deren Ersetzung durch 12 „Reichsprovinzen“ abzielte.22 Vor allem wirtschaftliche und verkehrstechnische Gesichtspunkte waren es, nach denen die Grenzen dieser neuen Reichsprovinzen gezogen werden sollten. Der enorme wirtschaftliche Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte und die sich abzeichnenden großen Auswirkungen kommender Technologien, wie der Luftfahrt oder des Rundfunks, würden es notwendig machen, so die Erklärung des RRB zum Reformvorschlag, dass die Länder als letzte Reste der „überkommenen Dynastien“ abgeschafft werden müssten. Deutschland könne sich nur geschlossen als einheitlicher Staat mit einer rationalisierten Verwaltung im wirtschaftlichen Wettbewerb mit ökonomischen Großgebieten wie den USA behaupten. Der anhaltenden ökonomischen Rationalisierung müsse eine Rationalisierung der Verwaltung unmittelbar nachfolgen, wobei die Verfasser auch eine wirtschaftliche Einigung des europäischen Kontinents grundsätzlich begrüßten. Im Moment allerdings sei es weniger das Zukunftsziel einer europäischen Einigung, welches eine Rationalisierung notwendig mache, als der 19 Zum Föderalismuskonzept bei Preuß: Dreyer 2002, insb. Kap. 3 u. 9. sowie Groh 2010, S. 34ff. u. Lehnert 2012, Kap. 5. 20 Eine umfassende Liste aller Teilnehmer findet sich am Ende des publizierten Tagungsberichtes RRB 1927, S. 60ff. Eine Liste der Anmeldungen sowie eine Zusammenstellung aller vertretenen Institutionen ist zu finden in: BArch R1507/402, Bl. 98ff. 21 Siehe RRB 1926, S. 5ff. Zu finden in: ACDP, NL Johannes Broermann, 01–396–002–1. Zum überparteilichen Anspruch der Tagung passt auch der als Motto gewählte Ausspruch „Ich kenne nur ein Vaterland, das heißt Deutschland.“ des Freiherrn von Stein (siehe RRB 1926). 22 Hierbei handelte es sich um eine überarbeitete Version eines Vorschlags von Preuß, der von 14 „Freistaaten“ ausging. Abgesehen von einer anderen Grenzziehung waren die wesentlichsten Unterschiede zwischen den zwei Konzepten, dass Preuß die Hansestädte sowie Berlin als eigenständige Teilstaaten vorsah und keine Zusammenführung von Baden und Württemberg angedacht hatte. Der RRB-Vorschlag ging von elf reichsdeutschen Provinzen und DeutschÖsterreich als 12. Provinz aus (siehe RRB 1926, S. 24f.).

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durch den Versailler Vertrag ausgeübte Druck des europäischen Auslands auf die deutsche Wirtschaft und das Staatsleben. Deutschland, so die Argumentation, könne sich eine „Zersplitterung“ der politischen und wirtschaftlichen Ressourcen schlicht nicht leisten. Gleichzeitig dürften „historisch gewachsene Eigenarten“ nicht wegrationalisiert werden. Ganz im Sinne von Preuß versuchen die Autoren des RRB, den Gegensatz von Unitarismus und Föderalismus zu überwinden. So zitiert Spiecker in seinem Beitrag zur Frage „Zentralisierung oder Dezentralisierung?“ voller Zustimmung einen namhaften rheinischen Föderalisten.23 Das Grundlegende des Föderalismus ist das organische Prinzip, das eine möglichst vollwertige Ausgestaltung der Glieder in ihrer Eigenart erstrebt, damit durch ihr sinnvolles Zusammenwirken die Lebenskraft des Ganzen erhöht werde. Also, Endzweck: die Kraft des Ganzen. Mittel zu diesem Zweck: lebensvoller Aufbau von der Zelle bis zum Glied, zum Organ bis zur Vollendung im harmonischen Gesamtorganismus.24

Spiecker führt aus, dass ein kluger Unitarist solchen Worten nur zustimmen könne. Es sei unbedeutend, ob der dezentralisierte Einheitsstaat letztlich als „föderalistisch“ oder „unitarisch“ bezeichnet werde. Wichtig sei es, eine „gesunde“ Gesamtlösung zu finden, die niemanden schlechter stelle. Einheit im staatlichen, Vielheit und Vielgestaltigkeit im geistigen Leben ist Leitsatz eines gesunden Unitarismus. Unitarismus darf nicht zu mechanistischer Staatsauffassung führen, die letzthin doch nur den Absolutismus bringt, den wir überwunden haben wollen. Das politische Einheitsstreben ist nur berechtigt, wenn es alle und jedes Einzelnen Kräfte zum Wohl des Ganzen freimacht und einsetzt […] Werfen wir darum zusammen, was an Gutem und Ersprießlichem der föderalistische deutsche Gedanke hervorgebracht und getätigt hat, mit dem Fortschrittlichen und Notwendigen, was die unitarischen deutschen Forderungen enthalten.25

Es ist offensichtlich, dass der Reformvorschlag des RRB zur Neugestaltung des Reiches in seiner Gesamtheit nur schwer umzusetzen gewesen wäre. Die Länder waren nach der Revolution als souveräne Teilglieder des Reiches nicht angetastet worden und ihre Beseitigung zugunsten von Reichsprovinzen wurde bis dato höchstens im Falle der kleinsten, finanziell nicht lebensfähigen Länder als legitimes politisches Ziel akzeptiert.26 Es ging den Verantwortlichen jedoch vor allem darum, eine Debatte um ein grundsätzliches Problem des politischen Systems voranzutreiben, welches Hermann Luppe in seinem Vorwort zum offiziellen Verhandlungsbericht der Führertagung anschnitt: den Dualismus von Preußen und Reich.

23 Vgl. RRB 1926, S. 8ff. Bereits Preuß hatte eine „organische Staatslehre“ vertreten, die auf regionale Besonderheiten Rücksicht zu nehmen habe (siehe Groh 2010, S. 23ff.). 24 RRB 1926, S. 22. Der zitierte Föderalist ist der Sozialwissenschaftler Prof. Benedikt Schmittmann, Köln. 25 RRB 1926, S. 23 u. 25. 26 Zusammengeführt wurden in der Weimarer Zeit lediglich die thüringischen Kleinstaaten. Ferner schloss sich das Land Waldeck dem Freistaat Preußen an. Andere Kleinstaaten wie Mecklenburg-Strelitz blieben hingegen erhalten (siehe ausführlich zu den einzelnen Ländern John 2012, Kap. 5).

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Dualismus Preußen-Reich als „Lebensfrage“ der Republik Einer der schwersten Fehler der Revolutionszeit von 1918/19 sei es gewesen, so Luppe, dass eine völlige Neugliederung des Reiches versäumt worden war. Ein Angriff auf die Volksbeauftragten sei zwar wenig statthaft, da das Chaos des Zusammenbruches eine organisierte und durchdachte Reorganisation verhindert habe, aber man dürfe nicht vergessen, dass nicht nur Bayern am 7. November 1918 seine eigene Revolution wider die Interessen des Reiches gemacht habe, sondern auch Preußen mit der Ernennung eigener Volksbeauftragter am 12. November und der Erneuerung des Landtags.27 Der Dualismus von Preußen und Reich hätte in den Revolutionstagen einfach dadurch überwunden werden können, dass die Volksbeauftragten des Reiches die Aufgaben der preußischen Volksbeauftragten mit übernahmen. Nicht nur der bayerische, sondern auch der preußische „Partikularismus“ habe in den folgenden Verhandlungen über den ersten Verfassungsentwurf von Preuß dazu beigetragen, dessen Ideen zu verwässern. Statt das dynastische Erbe abzustreifen, seien die Fürsten lediglich durch die Vertreter der Länderbürokratien ersetzt worden. Ein großer Wurf in Richtung des Einheitsstaates sei erst durch die Finanzreform Erzbergers gelungen.28 Der jetzige Zustand der Kleinststaaten sei ebenso „lächerlich“ wie die „Sinnlosigkeit“ des Nebeneinanders von 18 parlamentarischen Regierungen mit insgesamt 74 Ministern und über 2500 parlamentarischen Abgeordneten oder die Durchtrennung von Metropolregionen wie Groß-Hamburg oder Bremen-Unterweser durch Landesgrenzen. Luppe betont erneut die ökonomische Notwendigkeit der Abschaffung von Doppelstrukturen, Überorganisation und Zersplitterung. Zudem werde die Demokratisierung der Verwaltung durch die Verteilung von fähigen Republikanern auf zu viele Strukturen behindert. Auch den Erhalt von „Stammeskultur“ als Argument gegen den Einheitsstaat will Luppe nicht gelten lassen. Die starke Zentralisation in Ländern wie Preußen und Bayern verhindere die Entfaltung der „Stammeskultur“ und führe zu Gleichmacherei.29 Starke Dezentralisation in einer kräftigen Selbstverwaltung ist der beste, aber auch der einzige Weg, der zentralistische Bestrebungen vereiteln kann, nicht die Erhaltung der Länder, die z.T. außerordentlich zentralistisch regiert werden. […] Sorgen wir Republikaner dafür, daß der Drang zum Einheitsstaat immer kräftiger wird, daß die letzten Reste willkürlicher dynastischer Trennung verschwinden, damit umso stärker dastehe – die eine deutsche Republik!30

Es gelingt Luppe auf diese Weise, die Begriffe Partikularismus und Zentralismus gleich negativ zu konnotieren, indem er sie mit der antirepublikanischen Fürsten27 Zur Revolution in Preußen (aus der Sicht des Zentrums): Hömig 1979, S. 22ff. 28 Die hohe Bedeutung von Erzbergers Reform wird von der Literatur breit anerkannt (siehe etwa Dowe 2011, S. 123ff.). 29 Vgl. RRB 1927, S. 5f. Luppe vertritt hier somit Positionen, die heute als Regionalismus bezeichnet werden und etwa im Kontext der Ausgestaltung der Europäischen Union Bedeutung erlangen. 30 RRB 1927, S. 6.

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herrschaft verbindet. Dass in dieser Hinsicht das antirepublikanisch regierte Bayern und das republikanisch regierte Preußen als zwei Seiten derselben partikularistischen, zentralistischen Medaille erscheinen, ist beabsichtigt. Luppe als demokratischer Oberbürgermeister einer bayerischen Metropole erkannte, dass der in Preußen so gepriesene Zentralismus bei einer anderen Zusammensetzung der Regierung genauso gut gegen Republikaner angewendet werden konnte und bewarb daher die regionale Selbstverwaltung. Zur Zielsetzung der Tagung wird gleichfalls klar, dass es nicht darum ging, einen Schuldigen für die Nichtrealisierung der Einheitsstaatsidee 1918/19 zu finden, sondern dies als laufendes Projekt zu betrachten, welches im Rahmen der aktuellen Verfassung realisiert werden könne. Wie Luppe in seiner Eröffnungsrede betonte, könne über den zu beschreitenden Weg zur Realisierung des dezentralisierten Einheitsstaates frei diskutiert werden. Insofern sei auch die im Vorfeld der Tagung propagierte und kontrovers diskutierte Einheitsstaatsidee mit 12 Reichsprovinzen (also die faktische „Zerschlagung“ Preußens)31 nicht als fertige Lösung zu sehen, sondern als Debattenanstoß. Die Einheit des Reiches zu fördern sei geradezu eine „Schicksalsfrage“, da sinnlose innere Kämpfe den Wiederaufstieg Deutschlands behindern würden. Der Gastgeber der Tagung, der Berliner Oberbürgermeister Gustav Böß (DDP) stimmte Luppe in diesem Punkt ausdrücklich zu. Die finanziellen Schwierigkeiten der Kommunen dürften nicht durch einen aufgeblasenen Verwaltungsapparat verschärft werden. Böß ging so weit festzustellen, dass eine Republik, die nicht einmal in der Lage sei, sich gesunde Staatsfinanzen zu verschaffen, sich selbst verneine und keinen Anspruch darauf habe weiter zu bestehen, wofür er die rege Zustimmung der Versammlung erntete. Jetzt ginge es darum, so Böß weiter, nicht bei den Fehlern der Vergangenheit zu verharren, sondern diese „Lebensfrage“ der Republik mit „Mut und Kraft“ anzugehen.32 Dass auf diese Weise das politische Problem des Dualismus Preußen-Reich eher verdeckt als offen angesprochen wird, muss auffallen. Der Kern der vom RRB propagierten Idee des Einheitsstaates war nach wie vor die Aufteilung Preußens in verschiedene Reichsprovinzen, welche jedoch mit einer umfassenden De31 So hatte Wolfgang Heine, der ebenfalls auf der Führertagung einen Redebeitrag leistete, diese Reformidee verhemment abgelehnt und ein Plädoyer für den historisch gewachsenen Föderalismus gehalten (siehe RRB 1927, S. 31ff.). Heine war offenbar anfangs sehr skeptisch gegenüber den Absichten des Reichsbundes. Da er jedoch wenige Wochen nach der Tagung dem RRB beitrat und diesem bis zu dessen Auflösung angehörte, kann durchaus angenommen werden, dass er seine anfängliche Skepsis überwand (siehe BArch N2111/219, insb. Bl. 5f. u. 12). Heine war auch innerhalb des Reichsbanners sehr engagiert, was neben seiner Mitgliedschaft im RA, durch zahlreiche Artikel in der RB-Presse sowie beträchtliche Privatspenden Heines an das Reichsbanner belegt ist (siehe BArch N2111/218, bspw. Bl. 19ff. u. Bl 96f.). In der republikanischen Presse wurde die Führertagung auch dahingehend kritisiert, dass die RRB-Pläne auf die Erschaffung eines „Großpreußens“ hinauslaufen würden, wobei etwa Wilhelm Mommsen versuchte, solche Bedenken zu zerstreuen (siehe RRB 1927, S. 48f.). Solche Kontroversen waren ein Beweis dafür, dass die Führertagung ein wichtiges Problem adressierte. 32 Vgl. RRB 1927, S. 7ff.

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zentralisierung der Verwaltung hätte einhergehen müssen, wobei vor allem wirtschaftliche und finanzielle, aber auch kulturelle Gründe („Erhaltung der Stammeseigenart“) für die Notwenigkeit dieser Maßnahmen angeführt wurden. Die brisante politische Dimension der Tagung wird den damals Beteiligten allerdings nicht entgangen sein. Das grundsätzliche Problem jeder Reform der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern war die Frage, welche Strukturen zugunsten der anderen abgebaut werden sollten. Durch die Existenz der preußischen Verwaltungsstrukturen, die bereits für gut vier Siebtel der Bevölkerung ausgelegt waren, bestand der starke Anreiz, diese Strukturen zum Ausgangspunkt für den Aufbau einer neuen Reichsbürokratie zu machen., vorausgesetzt, es bestand Einigkeit zwischen Reich und Ländern. Dies geschah bei der Gründung des Reichswehrministeriums 1919, welches zu wesentlichen Teilen aus der Bürokratie des preußischen Kriegsministeriums geschaffen wurde.33 Die preußischen Strukturen wurden gewissermaßen verreichlicht und dies war auch im Falle anderer Ministerien der gängigste Verfahrensweg. Der umgekehrte Weg einer Verpreußung von Reichsaufgaben bzw. einer Konzentration von Reichsaufgaben beim Freistaat Preußen war logischerweise auch eine Option, die allerdings nie offiziell praktiziert wurde in dem Sinne, dass das Reich die Abtretung von einmal gewährten Kompetenzen formell beschloss.34 Allerdings war es eben eine Folge der Hegemonie Preußens innerhalb des Reiches, dass bei Ländersachen regelmäßig die preußischen Strukturen von der Bedeutung her diejenigen des Reiches überlagerten. Republikanische Reformvorschläge zur politischen Polizei Besonders augenfällig waren die negativen Folgen der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern im Falle der inneren Sicherheit und insbesondere in der Frage der Bekämpfung verfassungsfeindlicher Bestrebungen inklusive des Verbots von Parteien. Während der Reichsinnenminister für die innere Sicherheit des gesamten Reiches zuständig war, war der preußische Innenminister verantwortlich für die Garantie derselben im größten Teil des Reiches. Dass es aufgrund dieser faktischen, aber nicht rechtlichen Kompetenzüberschneidung (die Polizei war in der Weimarer Republik wie schon im Kaiserreich Ländersache) regelmäßig zu Reibungen zwischen den Innenministern des Reiches und Preußens kommen musste, ist nicht überraschend, und eben solche Reibungen bezeichnen das Problem des Dualismus Preußen-Reich. Das Feld der inneren Sicherheit wurde auf der Reichskonferenz des RRB vom Berliner Polizeivizepräsidenten Ferdinand Friedensburg angesprochen. Wie der Verhandlungsbericht belegt, erhielt er für seine Ausführungen nicht nur rege Zu33 Siehe Mulligan 2009 u. Keller 2014. 34 In der WRV wurden die Zuständigkeiten des Reiches im Vergleich mit vorher geltendem Verfassungsrecht erheblich ausgeweitet. Grundsätzlich bestand jedoch weiterhin der Grundsatz, dass jede Zuständigkeit soweit nicht anders geregelt bei den Ländern lag.

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stimmung von Seiten der Anwesenden, auch die Sicherheitsbehörden, namentlich der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung, sollten sich für Friedensburgs Stellungnahme interessieren. In der Weimarer Republik gab es mit dem RKO lediglich eine schwache Zentralinstanz zur Koordinierung der politischen Polizeien der Länder. Der RKO hatte im Wesentlichen die Aufgabe, zentral die Nachrichten über staatsfeindliche Bestrebungen zu sammeln, die von den Polizeien der Länder erhoben wurden. Dennoch war das Amt des RKO der erste Versuch überhaupt, eine Art politische Polizei auf Reichsebene zu etablieren. Künzer, der ebenfalls an der Reichskonferenz teilnahm, hatte besonderes Interesse an den Ausführungen von Friedensburg und dies ist auch der einzige Beitrag der Tagung, welcher abschriftlich in die Akten des RKO aufgenommen wurde.35 Laut dem Abschlussbericht des RRB referierte Friedensburg über die politische Polizei im Einheitsstaat und brachte mehrere Beispiele aus seinem Berufsalltag, welche die Notwendigkeit einer Lösung illustrierten. Die Polizeihoheit der Länder, so Friedensburg, sei pragmatisch betrachtet die größte Stütze ihrer einzelstaatlichen Macht überhaupt. Ohne die Polizeihoheit wären die Länder wenig mehr als die Befehlsempfänger des mit wesentlich mehr gesetzgeberischer, finanzieller und wirtschaftlicher Macht ausgestatteten Reiches, und es ist eindeutig, dass Friedensburg die Länderhoheit über die Polizei als zu beseitigenden Missstand ansieht. Genauso wenig, wie es preußische und schaumburg-lippische Verbrecher gäbe, dürfe es eine preußische und eine schaumburg-lippische Polizei geben. Aber der gewöhnlichen Kriminalität gilt nicht das Hauptinteresse Friedensburgs. Vielmehr benennt er das Feld der politischen Kriminalität als bedrohliches Problem für den republikanischen Staat. Ohne eine zentrale politische Polizei würden die parteipolitischen Gegensätze in der Beurteilung von politischen Straftaten die effektive Verfolgung derselben enorm erschweren. Friedensburg nennt hier als Beispiele einen Vortrag des französischen Pazifisten Victor Basch in Potsdam und die im Frühjahr 1926 aufgedeckten Putschpläne alldeutscher Kreise. Während Baschs Vortrag vom preußischen Innenministerium unter Severing nicht beanstandet und somit erlaubt worden war, hatten die rechtsgerichteten Gegner des Vortrags über den Umweg des damaligen Reichsinnenministers Schiele versucht, den Vortrag als staatsgefährdende Kundgebung doch noch zu verbieten.36 Das grundsätzliche Problem sei aber laut Friedensburg nicht der Vortrag selbst oder gar die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit, sondern dass die Staatsautorität ausgehöhlt werde, wenn sie eben nicht einheitlich auftrete. Selbst über das Büro des Reichspräsidenten würden neuerdings rechtsgerichtete Kreise versuchen, in die Amtsführung der preußischen Polizei einzugreifen.37 Dieser Dualismus beschränke sich leider nicht auf die verschiedenen konkurrierenden Innenministerien, auch das Reichswehrministerium greife zunehmend in 35 Siehe BArch R1507/402, Bl. 89ff. 36 Zu den Umständen von Baschs Vortrag siehe Kessler 2009, S. 503–510 (Einträge vom 6., 7. u. 9.10.24) 37 Mit Hindenburgs Intervention in der Frage des rheinischen Stahlhelm-Verbots waren solche Versuche sogar von deutlichen Erfolgen gekrönt (zum Stahlhelm-Verbot 1929 siehe unten).

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innere Angelegenheiten ein.38 Während die Verantwortlichen für die im Frühjahr aufgedeckten Putschpläne immer noch nicht verurteilt wurden und dies auch nicht zu erwarten sei, befände sich derjenige, der die entscheidenden Hinweise auf die Verschwörung gegeben habe, seit mehreren Wochen in Untersuchungshaft wegen des Verrats militärischer Geheimnisse. Doch mit diesen Gegensätzen zwischen Reich und Ländern sei es nicht bewendet. Zwischen den Ländern bestünden auch beträchtliche Differenzen, was die Bewertung politischer Kriminalität angehe. Friedensburg verweist hier nicht namentlich auf Hitler, aber dieser war nicht der einzige Kriminelle, der in Preußen ausgewiesen und dann in Bayern oder einem anderen Land des Reiches seine Tätigkeiten weiterführen konnte. Auch rechtsradikale militante Organisationen wie der Bund Wiking wurden in Preußen verboten, während sie in Bayern weiterbestehen konnten. Friedensburg beklagt, dass auf diese Weise die Staatsautorität lächerlich gemacht werde. Die notwendige Bekämpfung dieser Bestrebungen durch den Staat werde durch die aktuelle Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern unnötig erschwert und teilweise sogar unmöglich gemacht.39 Eine Vereinheitlichung des Reichsaufbaus sei also dringend angeraten, wobei Friedensburg aber zu bedenken gibt, dass eine Vereinheitlichung auf Reichsebene auch sehr unangenehme Konsequenzen für die Republik haben könnte, wenn etwa erneut ein Mann wie Schiele an die Spitze des Reichsinnenministeriums gesetzt werde (1926 amtierte Külz als Reichsinnenminister, der 1927 von Keudell beerbt wurde). Grundsätzlich bleibt Friedensburg aber bei der Auffassung, dass im Hinblick auf die Polizei eine Überorganisation bestehe und von den drei verantwortlichen Instanzen Reich, Ländern und Kommunen eben eine Instanz zu viel bestehe. Er schließt sich der Idee des dezentralisierten Einheitsstaats an, wenn Friedensburg abschließend ausführt, dass die Polizeihoheit der Länder auch zwischen Reich und Kommunen aufgeteilt werden könne. Die politischen Voraussetzungen für eine Kompetenzstärkung auf Reichs38 Im Nachhall der Führertagung verfasste der Vorstand des RRB einen offenen Brief an die Reichstagsfraktionen der republikanischen Parteien, in dem die republikanische Zuverlässigkeit der Reichswehr angezweifelt und insbesondere die Rekrutierungspraxis sowie die Kooperation der Reichswehr mit rechtsradikalen Verbänden wie dem Stahlhelm kritisiert wurde. Zur Verbesserung dieser Lage solle die Rekrutierung von neuen Soldaten über ein zentrales Büro durchgeführt werden, in welchem Vertreter der Reichswehr und des Reichstages sitzen müssten (vgl. „Die Rekrutierung der Reichswehr“, in: VZ Nr. 529/1926 vom 4.11.). Friedensburg Kritik der Reichswehr war somit innerhalb des RRB Gemeingut, was auf der nächsten Tagung des RRB-RA in einem Beschluss festgehalten wurde (siehe „Republikanische Front“, in: Vorwärts Nr. 39/1927 vom 24.1.). 39 Eine Untermauerung von Friedensburgs Argumentation ist darin zu sehen, dass das Verbot des Berliner NSDAP-Gaues 1927 nur wenige Monate durchgesetzt werden konnte. Die Verbotsbegründung der Berliner Polizei lag in der allgemeinen Gefährlichkeit der NSDAP für den Staat und die Republik sowie ihren Gewaltaufrufen (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Berlin vom Mai 1927, in: THStA, P 252, Bl. 152f.). Konkrete Umsturzversuche mussten der Partei aus dieser Sicht also nicht nachgewiesen werden, während andernorts eine entgegengesetzte (falsche) Rechtsauffassung vertreten wurde und die NSDAP erlaubt blieb. Eine effektive Bekämpfung der NSDAP wurde hierdurch erschwert (zum Themenkomplex eines NSDAP-Verbots: Dams 2002, Teil 4).

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ebene seien im Moment jedoch nicht gegeben, sodass man mit der preußischen, republikanischen Polizei unter Severing einstweilen zufrieden sein müsse.40 Unter Republikanern galt die Polizei Severings, der ja auch Dienstherr von Friedensburg war, tatsächlich als einzig verlässliches staatliches Organ zur Bekämpfung verfassungsfeindlicher Bestrebungen.41 Wenn Friedensburg hier seine Reformideen lediglich als ferne Zukunftsperspektive einer Abschaffung der Länderpolizeien entwickelt, so ist dies aber nicht nur eine Verbeugung vor seinem Dienstherrn, sondern auch ein Zugeständnis an rechtsbürgerliche Kreise. Dieses Zugeständnis wurde interessanterweise aber von Friedensburg in seiner Rede vor der RRB-Reichskonferenz so nicht gemacht, obwohl es im Abschlussbericht steht. Aus den Vortragsnotizen des RKO ist zu entnehmen, dass Friedensburg entgegen dem offiziellen Text des Tagungsberichts eine andere Lösung des von ihm skizzierten Problems ausgeführt hat. Am besten wäre es, wenn für die nächsten Jahre in Preussen eine Zentralisierung der Polizei für das Reich erfolgen würde; eine Zerschlagung und Aufteilung Preussens würde die innerpolitischen Reibungen nur erschweren. Dagegen bedeute eine Zentralisierung von Reichsaufgaben bei Preussen eine Erstarkung der innerstaatlichen Macht und der Staatsautorität. Eine Verreichlichung der Polizei ist politisch nicht denkbar, ohne dass die Institutionen der Republik geschädigt werden.42

Dieser erste Vorschlag Friedensburgs war politisch hochbrisant, da er auf die Entmachtung aller Länderpolizeien außer der Preußischen abhob und nur langfristig eine Stärkung des Reichsinnenministers vorsah. Laut einem Vermerk in den Akten des RKO wurde angenommen, dass Friedensburg aufgrund der politischen Wirkung seiner Rede keine weitere Verbreitung dieser seiner Position in der Öffentlichkeit gewünscht hat und daher einen zweiten, vermeintlich harmloseren Reformvorschlag im Abschlussbericht präsentierte. Doch auch nach dieser Selbstzensierung enthielt die Rede noch politischen Sprengstoff. So musste sich Friedensburg öffentlich davon distanzieren, dass er dem Büro des Reichspräsidenten unterstellt habe, eine Anlaufstelle für republikfeindliche Bestrebungen zu sein. Dies wurde als vermeintlicher Angriff auf die Autorität des Präsidenten gewertet.43 40 Vgl. RRB 1927, S. 19ff. Zur Kontextualisierung von Friedensburgs Ausführungen: Graf 1983, S. 5–28 u. Dams 2002, S. 30–52. 41 Siehe Graf 1983, S. 1ff. u. Dams 2002, S. 21ff. 42 BArch R1507/402, Bl. 96 (Rückseite). Unterstreichung von S.E. 43 Vgl. „Eine Erklärung Dr. Friedensburgs. Die Rede im RRB“, in: BTB Nr. 458/1926 vom 28.9. sowie BArch R1507/402, Bl. 118 (Vermerk des RKO vom 10.11.26) u. 128 (Schreiben RKO an RIM vom 22.2.27). Dass Friedensburg oder ein Anderer in der Frage der politischen Polizei noch weiter in seinen Reformvorschlägen hätte gehen können, sei hier nur angemerkt. Eine Zusammenarbeit der politischen Polizei mit der republikanischen Zivilgesellschaft wurde damals offenbar nicht als Möglichkeit offen diskutiert. Die äußerst enge Personallage der politischen Polizei war jedoch ein wesentliches Hindernis in der Beobachtung und Bekämpfung der politischen Kriminalität, was etwa durch eine Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst des Reichsbanners hätte abgemildert werden können. Der Reichsbannernachrichtendienst war mit mehreren tausend Aktivisten um ein Vielfaches größer als die politische Po-

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Das grundsätzliche Problem, welches Friedensburg ansprach, blieb dennoch bestehen. Eine Instanz wie der RKO, der Aufgaben einer politischen Polizei erfüllte, aber kaum eigene Untersuchungen durchführen konnte, war auf die Lageberichte der Länderpolizeien angewiesen. Diese jedoch waren nicht immer politisch neutral, sondern enthielten auch in Bezug auf das Reichsbanner teils extreme Wertungen, was insbesondere auf die Berichte der Polizeidirektion NürnbergFürth und jenen der Bremer Polizei zutrifft. Der RKO geriet dadurch in die unbequeme Lage, zwischen verschiedenen politischen Auffassungen über potentielle Gefahrenlagen vermitteln zu müssen, was für die Einflussmöglichkeiten des Reichsbanners auf Reichsebene durchaus hinderlich sein konnte. Anders als der Reichsbund wurde das Reichsbanner schließlich kontinuierlich vom RKO überwacht, wenn auch nicht besonders streng. Dennoch nahm der RKO mitunter eine betont skeptische Haltung gegenüber dem Reichsbanner ein, die in der damaligen Situation eine willkommene Unterstützung der Isolierungspolitik der Reichsregierung gegenüber den privaten Republikschützern war.44 Institutionalisierung des Austauschs in Demokratischen Klubs Der Reichsbund war von diesen Versuchen einer politischen Isolierung nicht oder zumindest in einem wesentlich geringeren Maße betroffen als das Reichsbanner, wobei neben der Zusammensetzung des Reichsbundes auch dessen thematische Ausrichtung hierfür verantwortlich war.45 Dies soll aber nicht heißen, dass der lizei, die in Preußen rund 700 Mitarbeiter hatte, sodass eine intensive Beobachtungstätigkeit nicht möglich war (siehe Dams 2002, S. 48ff.). 44 Der RKO hielt eine Beeinflussung des Reichsbanners durch kommunistische Aktivitäten für wahrscheinlich und teilte die Ansicht einzelner Polizeiberichterstatter, dass sich das Reichsbanner Mitte der 1920er in einer schweren Krise befunden habe. In einem Bericht des RKO von 1927 heißt es, dass es „nicht unbedeutende radikale Strömungen“ im Reichsbanner gäbe, die im Einklang mit dem linken SPD-Flügel stünden und es der Bundesleitung um Hörsing wohl nicht gelingen werde, diese Strömungen samt der kommunistischen Beeinflussung zu beenden. Daher werde es wohl bald zu beträchtlichen Mitgliederverlusten des Reichsbanners kommen. Hörsing, dem als Oberpräsidenten die Berichte des RKO auch zugeteilt wurden, beschwerte sich offiziell beim RIM über diese Einschätzungen des RKO. Es seien Einzelfälle zu einer großen Krise aufgebauscht worden und die Durchsetzungsfähigkeit der Bundesleitung sei keineswegs eingeschränkt. Ferner beanstandete Hörsing, dass der RKO den neu gegründeten Kleinkaliberschützenverein des Reichsbanners, das Reichskartell Republik (RKR), als „revolutionär“ bezeichnet hatte. Der RKO war nur bereit, der letztgenannten Beschwerde Hörsings die Berechtigung einzuräumen. Der Rest des Berichts sei „streng objektiv“ und Hörsing verharmlose die Krise des Reichsbanners (vgl. Schriftwechsel zwischen RKO, Hörsing und RIM vom Juli 1927, in: BArch R1501/125668j, Bl. 70ff.). Dass objektiv betrachtet von einer tiefen Krise des Reichsbanners oder einer starken Beeinflussung desselben durch die Kommunisten in dieser Zeit nicht die Rede sein kann und der RKO folglich die übertriebene Einschätzung seiner Zuarbeiter teilte, wird noch gezeigt (siehe hierzu unten). 45 Eine Erwähnung des Reichsbundes in den Lageberichten des RKO oder der verschiedenen Polizeidirektionen kam praktisch nicht vor. Lediglich die Polizeidirektion Nürnberg-Fürth interessierte sich regelmäßig für den RRB (siehe u.a. BArch R1507/402, Bl. 67 (Lagebericht

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Reichsbund nur vermeintlich irrelevante Themen und Aufgaben verfolgte. Das Thema Einheitsstaat besaß durchaus eine unmittelbar machtpolitische Bedeutung und war nicht nur wirtschaftlich oder staatstheoretisch von Interesse. Für den RRB wurde es zum festen Bestandteil seiner Öffentlichkeitsarbeit46 und er fand innerhalb der republikanisch-liberalen Presse ein gewisses Echo für die Idee des Einheitsstaats.47 Hiermit hatten die Republikaner des Reichsbundes ein Thema gefunden, welches über Parteigrenzen hinweg mobilisieren konnte und auch dazu beitrug, dass Wirtschaftsvertreter und Akademiker sich für den Bund interessierten. Der RRB nutzte dieses Interesse um auch das zweite Kernthema des Bundes bürgerlichen Kreisen nahe zu bringen: der Schutz der Republik.48 Hiermit wurde wiederum der Anschluss an das Reichsbanner gesucht. Grundsätzliche inhaltliche Unterschiede in der Gefahrenbewertung bestanden zwischen den Bünden nicht. Sowohl das Reichsbanner wie auch der Reichsbund boten ihren Mitgliedern Diskussionsplattformen an, auf denen über die Gestalt der Bedrohungen diskutiert werden konnte. Ziel der Agitationsarbeit war es somit nicht, ein vorgefertigtes monolithisches Bild der Republikfeinde möglichst weit zu verbreiten, sondern eher möglichst große Kreise der Bevölkerung – beginnend bei den eigenen Mitgliedern – für die Gefahren von rechts und links zu sensibilisieren und zu einer Diskussion anzuregen. Dies schloss nicht aus, dass sich die Einzelmitglieder der Bünde mit eigenen Meinungsäußerungen positionierten. Im Gegenteil wurde regelmäßig in der jeweiligen Vereinspresse auf neue Publikationen von Mitgliedern hingewiesen und ihnen ermöglicht, ihre Ansichten bei öffentlichen Kundgebungen vor einem Massenpublikum oder bei Diskussionsabenden im ausgewählten Kreis zu vertreten. Wenn wir jetzt und im Folgenden vorwiegend die Aktivitäten des Reichsbanners behandeln werden, so hat dies vor allem seinen Grund darin, dass zum Reichsbund wesentlich weniger Quellen vorliegen.49 Gesichert ist aber das Folgende. Der Reichsbund gründete in den Jahren ab 1926 in mehreren Großstädten des Reiches Demokratische Klubs (DK) und hiermit zusammenhängende Ortsgruppen oder versuchte, in bereits bestehenden Ortsgruppen solche

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der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 27.12.24), Bl. 86 (Lagebericht vom 24.9.26) u. Bl. 146f. (Lagebericht vom 9.11.27)). Ferner fanden die Aktivitäten des Bremer RRB vereinzelt Eingang in die Lageberichte der dortigen Polizei (siehe Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 18.8.26, in: Ebd., Bl. 83). Dass das Thema Einheitsstaat auch in der Presse des Reichsbanners eine konstante Rolle spielte, wurde bereits erwähnt (siehe hierzu ferner: „Eine Aufgabe für das Reichsbanner“, in: RBZ Nr. 1/1925. Dort ist ebenfalls von einer Reichsreform mit 13 Teilgebieten nach Preuß’schem Vorbild die Rede). Im Januar 1928 fand eine weitere Tagung des RRB zum Thema Einheitsstaat statt (siehe Stalmann (Hg.) 2009, S. 979 (Dok. 640)). So in der Frankfurter Zeitung: „Das künftige Deutschland“, in: FZ Nr. 759/1926 vom 12.10., „Falscher Alarm!“, in: FZ Nr. 781/1926 vom 20.10., „Das föderalistische badische Zentrum“, in: FZ Nr. 802/1926 vom 27.10. Laut Hessleins Referat bei der Reichstagung des RRB 1929 hat sich die Arbeit des Reichsbund in den vergangenen drei Jahren an zwei Hauptfragen bzw. Kernthemen ausgerichtet: der Reichsreform und dem Schutz der Republik (vgl. „Tagung des RRB“, in: FZ Nr. 895/1929 vom 1.12.). Hierzu bereits oben (Kap. II.2.).

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Klubs zu etablieren.50 In den DK wurde vorwiegend daran gearbeitet, die jeweiligen republikanischen Kreise für Veranstaltungsreihen zusammenzubringen. Meist kreisten die Veranstaltungen um die Themen Einheitsstaat oder Republikschutz sowie Spezialfragen aus diesen Themenkomplexe wie „Die Schule im Einheitsstaat“ oder „Der Kampf um Art. 48“. Der wichtigste dieser Klubs befand sich logischerweise in der Reichshauptstaat Berlin und war bereits 1919 von der DDP gegründet worden, die zahlreichen der Partei nahestehenden Organisation die Nutzung der Klubräume ermöglichte.51 Der RRB führte dort unter aanderem Reichskonferenzen und andere Verbandstagungen sowie zahlreiche Vortragsabende durch. Zum Inhalt der Vorträge sowie insbesondere der Diskussionsrunden sind allerdings abgesehen von Zeitungsartikeln keine Quellen bekannt. Vielfach traten jedoch prominente Referenten auf, die ihre Ideen auch andernorts publizierten. Dem RRB gelang es mit diesen Veranstaltungen, insbesondere Akademiker, also Lehrer, Juristen, Mediziner usw., anzusprechen. Die Aktivitäten des RRB erschöpften sich also nicht in einzelnen Großereignissen, sondern trugen durch kontinuierlichen Austausch zur Bildung republikanischer Netzwerke bei.52 Genau diese Netzwerkbildung hatte Hermann Schützinger als „Sammlung der Republikaner“ angemahnt, da vor der Gründung des Reichsbundes das Führungspersonal der Republik in „hunderterlei von Verbänden, Logen und Klubs zerspalten“ gewesen sei. Der maßgeblichste Zweck des RRB sei es daher gewesen, diese verschiedenen Strömungen zu einer republikanischen „Kulturbewegung“ zusammenzufassen, was keine Partei leisten könne. Eine überparteiliche Sammlung könne hingegen die Tendenzen der parteilichen Abschottung genauso aufbrechen, wie den gesellschaftlichen Boykott der Republikaner durch reaktionäre Kreise aufheben. Der Reichsbund dürfe dabei kein „Klub heimatloser Intellektueller“ sein, sondern müsse aktiv an der Herausbildung einer zukünftigen Generation republikanischer Führer arbeiten, damit die Republikanisierung des Staates nicht nur eine oberflächliche Angelegenheit bleibe.53

50 Siehe „Gründung einer Berliner Ortsgruppe des Republikanischen Reichsbundes“, in: VZ Nr. 454/1926 vom 25.9. Demokratische bzw. „Republikanische“ Klubs bestanden unter diesen Namen in: Berlin, Königsberg, Bremen und Kiel. Allerdings hatten alle Landes-/Ortsgruppen des RRB vergleichbare Einrichtungen. Literatur über das Wirken dieser Klubs ist sehr rar. Zum Königsberger Klub siehe Gause 1970, S. 107f. Dort wird auf eine Publikation von Margarete Glinka von 1958 über den Klub verwiesen, die leider nicht mehr verfügbar ist. Ansonsten nur der Lexikonbeitrag zum Berliner DK: Fricke et al. (Hg.) 1983, S. 482f. 51 Auch organisatorische Versammlungen des Reichsbanners konnten in Demokratischen Klubs abgehalten werden (siehe bspw. Rundschreiben des RB-BV Nr. 19/1932 vom 27.4., in: BArch R1501/125966, Bl. 323). 52 Zahlreiche Einladungen des RRB an die Regierungen Müller II und Brüning zu Veranstaltungen im Berliner DK finden sich in: BArch R43I/768, Bl. 164ff., 185ff., 212f., 241f., 295f. sowie BArch R43I/769, Bl. 2f., 19ff., 32ff. Informationen zur Versammlungstätigkeit des RRB sind den Zeitungsartikelsammlungen in: BArch R1507/402 u. BArch R1501/125668n zu entnehmen. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Unterstützer des RRB, die auch die Netzwerkbildungen illustriert im Dokumentenanhang Nr. 5. 53 Vgl. Schützinger 1931, S. 7–17.

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Die Bewertung der Wirkung der Demokratischen Klubs kann hier nicht abschließend sein, sondern muss als Desiderat betrachtet werden. Aber zur mittelfristigen Wirkung der Bemühungen des Reichsbundes sei dennoch angeführt, dass das Thema Einheitsstaat bzw. Reichsreform bis zum Ende der Republik 1933 von zentraler Bedeutung blieb. Wie Arnold Brecht als eine der maßgeblichen Persönlichkeiten hinter den Bemühungen um eine verfassungsmäßige Reichsreform feststellte, war der Preußenschlag am 20. Juli 1932 ein verfassungswidriger Weg, den Dualismus Preußen-Reich zu lösen und das mit höchst negativen Konsequenzen für den Bestand der Republik. Der Preußenschlag löste ein Problem auf die denkbar rabiateste Weise, welches von verantwortungsbewussten Republikanern bereits seit Jahren erkannt worden war und dessen verfassungsmäßiger Lösung man mehrfach nahegekommen war. Lediglich aufgrund der zweiten Krisenphase der Republik konnte die von Brecht und anderen Politikern ausgearbeitete Reichsreform nicht von den gesetzgebenden Instanzen beschlossen werden. Die Widerstände der Länder und die Details der Reform waren bereits geklärt worden. Brecht bezeichnete das Scheitern der Bemühungen um eine Reichsreform als „größte Tragik seines beruflichen Lebens“ und „tödliches Verhängnis für Deutschland“.54 Brechts Logik ist bestechend: Mit einer rechtzeitigen, einvernehmlichen Reichsreform hätte es am 20. Juli 1932 keinen Preußenschlag geben können, was der Republik einen schweren, wenn nicht den entscheidenden Schlag erspart hätte.55 Die Republikaner hatten sich mit einer kontinuierlichen Debatte über den Reformprozess für eine rechtzeitige Reichsreform eingesetzt und als Erfolg kann verbucht werden, dass führende Republikaner, wie Brecht, aber auch Joseph Wirth und Hermann Müller, für das Thema sensibilisiert werden konnten.56 Dass 54 Vgl. Brecht 1967, S. 99. Auch Pünder gibt in seinen Erinnerungen an, dass Schleicher ihm gegenüber geäußert habe, dass die Beseitigung des Dualismus zwischen Preußen und Reich der zentrale Grund hinter dem Preußenschlag gewesen sei (vgl. Pünder 1961, S. 149). 55 Siehe hierzu die ausführlichen Kapitel zum Thema Reichsreform und Preußenschlag bei: Brecht 1967, S. 59–99 u. 171–181. Severing war ebenfalls ein Unterstützer der Reichsreform, auch wenn er die Erfolgschancen weit skeptischer sah als Brecht. Im Herzen sei laut Alexander aber auch Severing ein „Unitarist reinsten Wassers“ gewesen (vgl. Alexander 1992, S. 162ff.). Auch Otto Braun vertrat unitarische Gedanken, während er gleichzeitig eine bloße „Zerschlagung“ Preußens ablehnte und also eine eher abwägende Position innehatte (siehe Braun 1927. Ausführlich hierzu Schulze 1977, S. 252ff. u.a.). Ein weiterer prominenter Unterstützer einer Reichsreform war Erich Koch-Weser, der als Reichsinnenminister bereits 1920 erfolglos versucht hatte, in diese Richtung zu wirken (siehe Papke 1989, S. 58–67 u. 146ff. sowie Koch-Weser 1928). Eher kritisch war die Haltung Wilhelm Abeggs (siehe Abegg 1928, S. 39ff.). Zur Kontextualisierung der verschiedenen Debattenpositionen siehe ferner John 2012. Dort findet sich allerdings keine Auseinandersetzung mit dem Wirken des RRB oder der Führerkonferenz. 56 Müller und Wirth hatten sich in ihrer jeweiligen Amtszeit als Reichskanzler bzw. Reichsinnenminister stark für eine Reichsreform eingesetzt (vgl. hierzu und zur weiteren Berichterstattung über den Reformprozess in der RBZ: „Innenpolitik“ von Fritz Lensen [Heinrich Teipel], in: RBZ Nr. 38/1928 vom 4.11., „Bayern und die Reichsreform“ von Fritz Lensen [Heinrich Teipel], in: RBZ Nr. 5/1930 vom 1.2. u. „Die Etappen des Kampfes um den deutschen Einheitsstaat“ von Max Reinheimer, in: RBZ Nr. 36/1930 vom 6.9.).

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eine gerechte Lösung aber dennoch nicht umgesetzt wurde, lag nicht zuletzt an den Widerständen der reaktionären, antidemokratischen Kreise. An Einsatz-, Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft hatten es die Republikaner nicht mangeln lassen. Die Frage muss aber gestellt werden, ob manche ihrer Verhandlungspartner überhaupt an demokratischen Kompromissen interessiert waren. Insbesondere die DNVP mit ihren Diktaturplänen kam i.d.S. kaum als Verhandlungspartner in Frage, obwohl in der Frage des Föderalismus auch die Deutschnationalen in Unitaristen und Föderalisten gespalten waren und somit zumindest eine potentielle Gesprächsbasis vorhanden gewesen wäre.57 Aber abseits der Deutschnationalen fanden sich zahlreiche Republikaner und Republikanerinnen im elitären Reichsbund zusammen, welche das Reichsbanner als militante Massenorganisation eher mit Skepsis betrachteten, auch wenn beiden Bünde als Ausdruck der wehrhaften Demokratie zu sehen sind.

57 Siehe Trippe 1995, S. 149–157 sowie Kiiskinen 2005, u.a. S. 273ff.

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3. SI VIS PACEM, PARA PACEM. DAS REICHSBANNER ZWISCHEN WEHRHAFTEM LIBERALISMUS UND PAZIFISTISCHEM ANSPRUCH Während die sozialdemokratische Führung die Gründung des Reichsbanners eher als notwendiges Übel betrachtete, welchem man notgedrungen die eigenen Finanz- und Mitgliederressourcen zur Verfügung stellte,2 wurde der Gründungsaufruf des Bundes von der DDP-Spitze und anderen Linksliberalen mitunter euphorisch begrüßt. So unterstützte der DDP-Parteivorstand Hörsings Initiative unisono und verlangte von den eigenen Mitgliedern tätige Mitarbeit im Reichsbanner. Unter anderem erhoffte man hierdurch – nicht zu Unrecht – zum „Abbau des Klassenkampfgedankens“ in der SPD beitragen und somit die Arbeiterschaft dem Staat annähern zu können.3 Als ständiges Vermittlergremium zwischen den Vorständen von DDP und Reichsbanner fungierten Ludwig Haas, Werner Stephan, Wilhelm Cohnstaedt und Ernst Lemmer, der später zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden des Reichsbanners ernannt wurde.4 Die Beteiligung von DDP-Mitgliedern in den Ortsgruppen des Reichsbanners war von den dortigen parteipolitischen Gegebenheiten und dem persönlichen Engagement der Männer abhängig und unterschied sich daher von Ort zu Ort. So fand die DDP selbst auf kleinstem lokalem Raum sehr unterschiedliche Einstellungen zum Reichsbanner. In der Region um Bremen etwa stand der DDPOrtsverein Hemelingen dem Reichsbanner ablehnend gegenüber, während im benachbarten Oberneuland hingegen mehrere wichtige Funktionäre des Reichsbanners der DDP angehörten. In agrarischen Bassum wiederum war die DDP offenbar zu schwach, sodass das Reichsbanner dort fast allein von der SPD getragen wurde, während im sozioökonomisch gemischten Löhnhorst das Reichsbanner insgesamt nur schwach vertreten war, da die dortige Bevölkerung von rechtsgerichteten Agrariern und Unternehmern abhängig war. In Bremen schließlich war die DDP schon durch die Vorarbeiten im RRB stärker an der republikanischen Bewegung beteiligt. Man sieht also, dass kaum pauschalisierend über das Verhältnis „der“ DDP zum Reichsbanner gesprochen werden kann, daher sind auch für die Gauebenen nur Tendenzen feststellbar. So war die sächsische DDP eher skeptisch, wie auch die württembergische DDP, während die Partei in Baden sehr stark im Reichsbanner engagiert war. Dies hinderte die bürgerlichen Republikaner im württembergischen Schiltaich jedoch wiederum entgegen der Gautendenz nicht

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Siehe Gerlach 1937, S. 265. Hierzu insbesondere Voigt 2009, S. 201ff. Vgl. Wegner/Albertin (Hg.) 1980, S. 328f. (Dok. 116). Die betreffende hoffende Äußerung stammt von Heinrich Rönneburg. Diese Argumente auch bei Rohe 1966, S. 249ff. Die DDP unterstützte die Reichsbannergründung und dessen Arbeit auch publizistisch über zahlreiche Artikel u.a. in Die Hilfe. Siehe Wegner/Albertin (Hg.) 1980, S. 353 (Dok. 125) u. S. 438 (Dok. 143).

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an einer regen Teilnahme im Reichsbanner.5 Hier soll nun das Verhältnis zwischen den Führungsspitzen der DDP und des Reichsbanners sowie liberalen (und nicht-liberalen) Pazifisten im Vordergrund stehen, wobei nicht zuletzt aufgrund der Quellenlage regionale Ereignisse ebenfalls einbezogen werden. Reichsbanner und DDP – alltägliche Reibereien Es ist ja üblich, in solchen Betrachtungen über das Verhältnis der Parteien zum Reichsbanner zunächst die Haare und wenn überhaupt danach erst die Suppe darzustellen. Hier also zunächst die Haare. Die Aufforderung der DDP-Spitze zu einer regen Mitarbeit im Reichsbanner fand in der alltäglichen Praxis des Bundes verschiedene Hindernisse, wie namhafte liberale Funktionäre berichten konnten. Innerhalb des Berliner Reichsbannergaues gehörte Wilhelm Nowack (DDP, später DStP) als zweiter Vorsitzende hinter Fritz Koch und später Johannes Stelling und Arthur Neidhardt zu den wichtigsten Figuren des Gaues und war angesichts des mehrmaligen Wechsels an der Spitze ein kontinuierlich wirkender Akteur. Insofern war es nicht verwunderlich, wenn liberale Reichsbannermitglieder sich mit ihren Sorgen an Nowack richteten und insbesondere im Wahljahr 1928 wurden ihm mehrere Verstöße gegen die Überparteilichkeit des Bundes berichtet. Die Beschwerden richteten sich meist gegen den „Missbrauch“ des Reichsbanners als Wahlkampftruppe der SPD, während der Bund satzungsgemäß, wenn überhaupt nur für alle drei republikanischen Parteien gleichzeitig agitieren durfte. Dennoch wurden bei einer Versammlung des Reichsbanners in Reinickendorf eine Wahlrede für die SPD gehalten, eine Festschrift aus Prenzlauer Berg machte ebenfalls einseitige Parteiwerbung für die Sozialdemokraten6 und bei mehreren Gelegenheiten wurde bei Reichsbannerdemonstrationen die rote Fahne der SPD mitgeführt. Bei mindestens einer Gelegenheit spielte eine Reichsbannerkapelle im Wedding sogar die Internationale. Die betreffenden Beschwerdeführer hatten auf die Vorkommnisse mit einem Boykott der jeweiligen Veranstaltungen reagiert und im Fall Wedding führten die Ereignisse zu einem Krach im Ortsgruppenvorstand. Die dortigen DDP-Vertreter hatten in einem formellen Beschwerdebrief an den Ortsvorsitzenden ihre Empörung ausgedrückt und auf ihre ehrlich republikanische Haltung gepocht, worauf der adressierte SPD-Mann sie als „Reaktionäre“ und „Tiere“ bezeichnet und ihren Republikanismus eine „Prahlerei“ genannt hatte. Nowack wurde aufgefordert, die entsprechenden Vorkommnisse im Gauvorstand anzusprechen.7 5

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Siehe Harter 2008, S. 3f., Voigt 2009, S. 222–229, Schröder, Bremen 2014, S. 124ff. u. 137– 155 sowie Böhles 2016, S. 219f. Auch Voigt und Böhles berichten über jeweilige Ausnahmen von den Gautendenzen. Gleichwohl finden sich in der betreffenden Festschrift ansonsten die üblichen überparteilichen, nationalrepublikanischen Artikel (siehe RB-Prenzlauer Berg 1928). Vgl. mehrere Beschwerdeschreiben an und von Nowack (alle von 1928), in: AdL, Bestand Wilhelm Nowack, N26–9, Bl. 10, 13 u. 20f. Die wenigen dort vorhandenen Gauvorstandsprotokolle enthalten keine Informationen über den weiteren Verlauf der Beschwerden, aber es ist

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Nun sind die Berliner Verhältnisse nicht ohne weiteres übertragbar, aber die Grundprobleme der liberalen Reichsbannermitglieder werden in den Beschwerden deutlich. Lassen wir die recht banalen persönlichen Spannungen und Beleidigungen einmal beiseite, die sich so auch zwischen sozialdemokratischen Reichsbannerfunktionären hätten ereignen können und schauen auf den Kern der Anschuldigungen. Das Reichsbanner war trotz der Zurückhaltung in vielen politischen Fragen nicht davor gefeit, in parteipolitisch motivierte Streitigkeiten hineinzugeraten.8 Insbesondere der Wahlkampfeinsatz des Reichsbanners unterlag aufgrund der überparteilichen Zusammensetzung Einschränkungen.9 Hier ist aber zunächst die Gegenfeststellung wichtig, dass das Reichsbanner mitunter auch versuchte, („einseitige“) Wahlwerbung für die DDP zu machen und zwar dann, wenn in einer umkämpften Wahl ein republikanischer Sammlungskandidat abseits der SPD gesucht wurde.10 Natürlich barg die Tatsache, dass zahlreiche Reichsbannermitglieder im sozialdemokratischen Milieu verwurzelt waren, auch symbolische Hindernisse für eine ehrliche überparteiliche Zusammenarbeit, doch war es eben der Anspruch des Reichsbanners durch die zentrale Stellung der schwarz-rot-goldenen Fahne ein vereinendes Symbol zu schaffen und es ist nicht bekannt, dass eine signifikante Minderheit im Reichsbanner diese Farben abgelehnt hätte. Die Konflikte richteten sich denn auch auf ein Nebeneinander von Rot und Schwarz-Rot-Gold, da die Liberalen zu Recht annahmen, dass hiermit die Republik als sozialdemokratische Schöpfung vereinnahmt wurde und den bürgerlichen Republikanern allenfalls eine Nebenrolle als „Vernunft-“ oder „Auch-Republikaner“ zugebilligt wurde oder man sie sogar, wie in Berlin geschehen, einer reaktionären Haltung verdächtigte.11 Die besonderen Schwierigkeiten der liberalen Reichsbannermitgdamit zu rechnen, dass die betreffenden OG angewiesen wurden, sich gemäß der Satzung zu verhalten. Über die angedrohten Austritte von DDP-Mitgliedern in Berlin ist nichts bekannt. Ähnlich alltägliche und auch weniger alltägliche Reibereien aus anderen Reichsteilen werden in der oben zitierten Literatur dargestellt. 8 Hierzu ein weiteres Beispiel aus dem Nordwesten, wo die OG der SPD und des Reichsbanners von Emden eine öffentlich angelegte Beschwerdeaktion gegen den OB Wilhelm Mützelburg (DVP) und dessen Polizeirat Kappel (DStP) starteten und ihnen – in Anbetracht der staatlichen Unterlagen – grundlos vorwarfen, eine große Anzahl von Rechtsradikalen im Polizeidienst zu tolerieren und massenhaft Waffenscheine an jugendliche Nationalsozialisten ausgegeben zu haben (siehe die Eingabe der OG Emden vom 20.2.31, in: NLA Aurich, Rep. 16/1, Nr. 134). In diesem Fall wurden Sicherheitsprobleme vorgeschoben, um ein parteipolitisches Argument gegen das Zusammengehen der bürgerlichen Parteien zu erhalten. 9 Siehe hierzu unten. 10 So geschehen in Westfalen, wo nach dem Ausscheiden von Alexander Dominicus (DDP) für die Landtagswahl 1928 vom örtlichen Reichsbanner ein liberaler Ersatzmann für dessen Wahlkreis gesucht wurde. Ob der angesprochene Gottfried Rade die Einladung annahm, geht aus dem Schreiben nicht hervor (siehe AdL, Bestand Gottfried Rade, N116–90, Bl. 7). In Berlin war der bereits oben erwähnte Gustav Böß (DDP) ein solcher Sammlungskandidat für das Amt des OB, der auch vom Reichsbanner unterstützt wurde. Ebenfalls ausführlicher dargestellt wurde oben Hermann Luppe (DDP), der langjährige OB Nürnbergs und eine zentrale Figur des fränkischen RB-Gaues. 11 Neben dem „roten“ Berlin war diese Tendenz im gleichfalls „roten“ Sachsen sichtbar, wo, wie Voigt berichtet, die liberalen RB-Mitglieder gern als „Auch-Republikaner“ abgewertet

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lieder wurden durchaus von den Funktionären gesehen und man versuchte motivierend gegenzusteuern. So sah der Geschäftsführer des Reichsbannergaues Hessen-Kassel Gottfried Rade (DDP), dass sich die Sozialdemokraten aus verschiedenen Gründen einfacher ins Reichsbanner einfügten als die Liberalen. Durch ihre langjährige Mitarbeit in der Partei und den Gewerkschaften seien die proletarischen Republikaner besser an die Organisationsarbeit, Disziplin und Führung gewöhnt als die individualistischen DDP-Anhänger. Mit Arbeitern an einem rauchigen Stammtisch zu sitzen sei für viele Liberale ungewohnt und manch einer habe sogar überhebliche Erwartungen in ein Engagement im Reichsbanner gesetzt, wo der Fähige führe, der das Vertrauen aller Kameraden genösse und nicht derjenige, der aus einem gehobenen Elternhaus stamme. Gleichwohl böte die ungewohnte Arbeit mit den arbeitenden Massen für die Liberalen ein breites Betätigungsfeld, da die Reichsbannermitglieder etwa nach einer geistigen Vertiefung ihrer demokratischrepublikanischen Gesinnung dürsten würden. Wenn die Gebildeten hier aushelfen würden, wäre der Republik ein großer Dienst erwiesen, auch wenn es eines gewissen Taktes bedürfe mit sozialistischen Arbeitern zu debattieren. Angesichts der Bedrohung der Republik müsse man vereint zusammenstehen und bereit sein genauso seinen Beitrag zu leisten wie sein proletarisches Gegenüber. Dies heiße nicht, alle Unterschiede zwischen bürgerlichen und proletarischen Republikanern zu verwischen, aber man müsse sich klar sein, dass sich die Gegner der Republik für diese Differenzen nicht interessierten und alle Republikaner gleichermaßen bekämpfen würden.12 Das gemeinsame Symbol Schwarz-Rot-Gold erfüllte angesichts der weitgehenden politischen Differenzen in Wirtschafts- und anderen Fragen eine wesentliche Integrationsfunktion, die eine gute Zusammenarbeit zwischen der SPD, der DDP und dem Reichsbanner als Brücke möglich machte.13 Die Probleme zwischen dem Reichsbanner und den Liberalen mussten sich folgerichtig dann verwurden. Gleichzeitig hatten die sächsischen Liberalen offenbar kein Problem damit, wenn das Reichsbanner an Maifeierlichkeiten und dergleichen proletarischen Anlässen mit Kapellen auftrat. Lediglich in Zittau führte diese Frage zu einem ernsten Konflikt (siehe Voigt 2009, S. 226ff.). Solche Spannungen traten jedoch offenbar nur dort zutage, wo die bürgerlichen Republikaner ohnehin nur schwach oder gar nicht vertreten waren. Aus Baden oder Württemberg werden ähnliche Probleme nicht berichtet (siehe Böhles 2016). 12 Vgl. AdL, Bestand Gottfried Rade, N116–91, Bl. 44ff. (Artikelmanuskript „Demokraten im Reichsbanner“). Zu Rade ferner: Wiedl 2013, S. 263f. Kessler berichtete aus seinem Umfeld ähnliche Vorbehalte gegen ein Zusammensein mit Arbeitern (siehe Kessler 2009, S. 531, Eintrag vom 12.11.24). 13 Siehe oben zu den Verfassungsfeiern, dem Flaggenstreit und der Fürstenenteignung. Als weiteres lokales Fallbeispiel für eine positive, symbolpolitische Zusammenarbeit siehe eine Eingabe der OG von Reichsbanner, SPD und DDP in Wittmund gegen den dortigen Schützenverein, der sich geweigert habe die schwarz-rot-goldene Fahne bei dem jährlichen Schützenfest aufzuziehen, was eine unzulässige Politisierung des Vereins darstelle. Ferner solle der örtliche Kriegerverein aufgrund seiner hiermit verbundenen Betätigung gegen die Farben der Republik aufgelöst und ihm die Waffen entzogen werden (vgl. Eingabe an die preußische Regierung und die Regierung Aurich vom 21.7.28, in: NLA Aurich, Rep. 16/1, Nr. 67).

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schärfen, wenn die Integrationskraft dieses gemeinsamen Symbols abnahm, so wie es im Zuge des Zusammenschlusses der DDP mit dem Jungdeutschen Orden 1930 geschah. Letztlich führte dieses Bündnis, welches Ernst Lemmer versucht hatte, dem Reichsbanner als „Versöhnung“ zwischen Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot schmackhaft zu machen, nicht zu einem Bruch zwischen dem Reichsbanner und den Liberalen, aber auch nicht dazu, dass die DDP unter der neuen Bezeichnung Deutsche Staatspartei (DStP) oder der Jungdeutsche Orden ihren Anhängerschwund aufhalten konnten. Vielmehr trat das Gegenteil einer weiteren Zersplitterung der Parteilandschaft ein. Die führenden pazifistischen Kräfte in der DDP um Ludwig Quidde, hatten nicht für eine Zusammenarbeit mit dem rechten Wehrverband gewonnen werden können, sondern gründeten die Radikaldemokratische Partei (RDP), die sich vorbehaltlos zum Reichsbanner und zu Schwarz-Rot-Gold bekannte. Andere Liberale wie Berthold von Deimling blieben weiterhin bei der alt-DDP alias DStP, während Pazifisten wie Hellmut von Gerlach und Paul von Schoenaich die DDP bereits vorher verlassen hatten und wieder andere wechselten mehr oder weniger rasch zur SPD, sodass die ursprüngliche DDP zerfaserte, auch wenn diese einzelnen Fasern im Reichsbanner wieder zusammenliefen.14 Zum hoffnungsvollen Beginn der Zusammenarbeit zwischen der DDP und dem Reichsbanner war die Situation wesentlich übersichtlicher, da praktisch alle wichtigen liberalen Führungsfiguren, insbesondere auch des pazifistischen Flügels, sich im Reichsbanner engagiert hatten, wobei sie unterschiedliche, aber nicht notwendigerweise gegensätzliche Erwartungen in das Reichsbanner setzten. Das Engagement der DFG-Führung Die liberalen Unterstützer des Reichsbanners waren zwar logischerweise nicht so zahlreich wie die meist sozialdemokratischen Fußsoldaten, aber insbesondere in der technischen Ausbildung leisteten Deutschdemokraten wie Bruno Hauff, der langjährige technische Leiter des Reichsbanners auf Reichsebene, wichtige Diens14 Zur DStP-Gründung und den Folgen bereits ausführlicher aus Parteiperspektive: Stephan 1973, Teil 4 u. Schneider 1978, S. 253ff. sowie aus Reichsbannerperspektive Rohe 1966 u. Voigt 2009, S. 238ff. Aus den Quellen sind mehrere programmatische Artikel Hörsings und Höltermanns interessant (siehe „Wir wollen letzte Zuflucht sein“ von Karl Höltermann u. „Reichsbanner und Deutsche Staatspartei“ von Otto Hörsing, beide in RBZ Nr. 32/1930 vom 9.8. sowie „Die Front klärt sich!“ von Otto Hörsing, in: RBZ Nr. 33/1930 vom 16.8.) sowie die internen Auseinandersetzungen im DDP/DStP-Vorstand hierzu (siehe Wegner/Albertin (Hg.) 1980, u.a. S. 565 (Dok. 167)). Im Reichsbanner wurde das Zusammengehen der DDP mit dem Jungdo sehr skeptisch bewertet und Stimmen wurden laut, die einen Ausschluss aller Liberalen forderten, was nicht umgesetzt wurde (siehe BArch RY12/7, Bl. 20–32). Schon früher hatte man lokale Annäherungsversuche des Jungdo abgeblockt (siehe Protokolleintrag vom 24.5.29, in: HStAD, G 12 B, 33/2), die der Orden auf Weisung seines Hochmeisters Mahraun unternommen hatte, wobei sich dementsprechende Appelle der Jungdo-Publizistik in Richtung Reichsbanners finden (siehe u.a. „Quo vadis Reichsbanner“ von Arthur Mahraun, in: Der Jungdeutsche Nr. 124/1929 vom 31.5.).

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te.15 Die oft geäußerte Feststellung, dass das mitgliederstarke Zentrum keine „Bataillone“ für das Reichsbanner mobilisieren wollte und die mitgliederschwache DDP keine „Bataillone“ mobilisieren konnte,16 geht insofern an der Sache vorbei, als dass die vergleichsweise relativ niedrige Gesamtzahl der Deutschdemokraten im Reichsbanner für sich genommen kein Beleg für deren Bedeutungslosigkeit ist. Anders als der typische SPD-Funktionärstyp waren Männer wie Hauff oder Ernst Lemmer bestens vernetzt und neben ihren Kontakten konnten sie wertvolle „technische“ (also militärische) Kenntnisse ins Reichsbanner einbringen. Auch war der Anteil der liberalen „Offiziere“ keineswegs niedrig, sondern mit ~25%17 recht hoch und dies müssen bei einer Millionenorganisation wie dem Reichsbanner mehrere tausend Mann gewesen seien, sodass die DDP sehr wohl zahlreiche „(Offiziers-)Bataillone“ zur Verfügung stellen konnte. Vom Engagement der Deutschdemokraten im RRB ganz zu schweigen. Neben den „technischen“ Kenntnissen waren ferner juristische Bildung und finanzielle Beziehungen von DDPMitgliedern von hoher Bedeutung.18 Dieser breiten Gruppe von im weiteren Sinne „technischen“ Fachleuten, also ehemalige Polizisten und Militärs sowie Juristen und Finanziers, standen zahlreiche profilierte Schriftsteller, Journalisten, Publizisten und Politikern gegenüber, die dem Reichsbanner vor allem durch ihre kulturelle Arbeit dienten und oftmals der Friedensbewegung angehörten. Aus dieser Reihe hervortretend verband Hellmut von Gerlach die Reichsbannergründung mit geradezu euphorischen Erwartungen, da er sich hiervon – erneut nicht unbedingt zu Unrecht – die Herstellung eines republikanischen Burgfriedens zwischen den Weimarer Koalitionsparteien versprach.19 Gerlach erkannte richtig, dass die Republik ohne Erfolge bei der Umwerbung der Massen verloren sei.20 Wie gefahrenvoll ein solches Bemühen um die Massen sein konnte, musste Gerlach am eigenen Leib erfahren. Der engagierte Pazifist – Gerlach gehörte zu den Gründern der Deutschen Friedensgesellschaft und hatte sich schon früh für eine Verständigung mit Polen eingesetzt – wurde bei seinen Redeveranstaltungen mehrfach Opfer handgreiflicher Übergriffe. Kaum hatte ich ein paar Minuten gesprochen, so stürzte ein riesenhafter Soldat nach vorn, stieß mich von dem Pulte weg, sprang auf meinen Platz, und stimmte das Deutschlandlied an. Gleichzeitig sah ich einen Mann, der wie ein Offizier in Zivil aussah, von der Längsfront des Saales aus lebhafte Armbewegungen machen. Diese Gesten und der Gesang waren wohl das verabredete Signal der Verschwörer. […] Die wüsten Gesellen, die mich umgaben, schrieen mich an: „Heute wird abgerechnet! Heute ist Schluß. Das ist die Quittung für Posen!“ usw. Plötzlich hob ein Kerl, der mich um zwei Köpfe überragte, seinen Fuß und stieß mich vor den 15 Hauff unterstützte das Reichsbanner auch innerhalb des DDP-Vorstandes (siehe Wegner/Albertin (Hg.) 1980, S. 414 (Dok. 135)). 16 Vgl. Rohe 1966, S. 312. 17 Hierzu bereits oben. 18 Siehe für das Beispiel Wetzlar: Wiedl 2013, S. 266ff. 19 Als weiteres Beispiel wäre ferner der parteilose Pazifist Rudolf Olden geeignet, der als Parteienskeptiker ähnlich wie Ferdinand Tönnies am überparteilichen Reichsbanner starkes Interesse hatte (siehe Schäfer 2019 u. Wierzock 2017). Hier wollen wir uns jedoch auf die DDP-Parteimitglieder konzentrieren. 20 Vgl. Bendikat 1993, S. 67f.

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Leib, so daß ich hinfiel. Sofort begannen ein paar andere auf mir herumzutrampeln. Ich fühlte meine Sinne schwinden und hatte nur noch den einen Gedanken: „So muß es der Rosa Luxemburg ergangen sein!21

So schilderte Gerlach einen Überfall von Soldaten der Brigade Ehrhardt 1920, der (wenig überraschend) ohne gerichtliche Konsequenzen für die Täter blieb. In seinen Erinnerungen berichtet er von weiteren Störungen und organisierten Übergriffen auf die Veranstaltungen der Friedensbewegung. Ihm selbst war vermittelt worden, dass er im Falle eines Rechtsputsches mit seiner sofortigen Erschießung rechnen musste. Mit Walter Rathenau wurde schließlich ein führender Mann der DDP und Freund Gerlachs von Rechtsterroristen ermordet.22 Angesichts dieser Erfahrungen ist die Euphorie des Pazifisten über die Gründung eines neuen Wehrverbandes nicht länger verwunderlich. Das Reichsbanner wurde auch von den anderen bürgerlichen Führern der DFG um Ludwig Quidde begrüßt, der in Schlesien an der Gründung des „Neuen Stahlhelm“ – einer der lokalen Vorläufer des Reichsbanners – mitgewirkt hatte, als auch er keine Versammlung ohne größere Störungen mehr abhalten konnte.23 Die Unterstützung des Reichsbanners und dessen Vorläufer war für die Pazifisten eine mitunter im Wortsinne schmerzhafte, realpolitische Erkenntnis. Nun wurden die Veranstaltungen des DFG reichsweit vom Reichsbanner geschützt und dies teils mit mehreren Dutzend oder hundert Mann.24 Neben Quidde und Gerlach, deren Schwerpunkt eher beim RRB als beim Reichsbanner gelegen haben dürfte,25 waren Ludwig Haas, Harry Graf Kessler und Berthold von Deimling die prominentesten Unterstützer des Reichsbanners aus den Reihen der DFG.26 Neben Hörsing, Wirth, Schützinger und Löbe gehörten sie wohl zu den eifrigsten und beliebtesten Rednern des Bundes und besuchten 21 Gerlach 1937, S. 255. Ein ähnlicher Bericht eines gewaltsamen Übergriffs durch (ehemalige) Soldaten auf eine DFG-Versammlung bei „Reichsbanner und Offiziere“ von Paul v. Schoenaich, in: RBZ Nr. 8/1924 vom 1.9. 22 Vgl. Gerlach 1937, S. 256ff. Auch Haas war mit Rathenau persönlich befreundet und war von seiner Ermordung emotional schwer getroffen (siehe Luckemeyer 1971, S. 141f.). 23 Siehe Rohe 1966, S. 31. Gerlach wurde 1923 gleichfalls vom Nürnberger SOD bei seinen Versammlungen geschützt (siehe ebd., S. 33). Ferner unterstützten Quidde, Gerlach und weitere prominente Vertreter der DFG den RRB sehr rege (hierzu auch ein Kurzbericht über eine Veranstaltung Gerlachs für den RRB: Lagebericht Dresden vom Juni 1927, in: BArch R1507/402, Bl. 133). Zu Quidde ferner: Quidde 2003. 24 Siehe u.a. Nachrichten des Polizeipräsidiums Stuttgart vom 25.11.25 u. 20.10.26, in: THStA, P 270 u. 271. 25 Zumindest enthält der Nachlass von Quidde kaum Material zum Reichsbanner und dieses Material deutet inhaltlich eher kleinere Differenzen an (siehe u.a. BA Koblenz N1212/12). 26 Verglichen mit Deimling war Paul von Schoenaich eher ein Skeptiker des Reichsbanners, obwohl er bei allen Differenzen dem Bund (offiziell) bis zum Januar 1933 angehörte (zu beiden ausführlicher Ziemann 2014, S. 233ff.). Gegenüber dem Gauvorstand Schleswig-Holstein hatte Schoenaich allerdings bereits am 28.11.32 seinen Austritt erklärt, was in der RBZ aber erst im Januar verkündet wurde (siehe LA Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 30, Bl. 36). Deimling gab anders als Schoenaich mitunter ganz bewusst dem Reichsbanner gegenüber der DFG den Vorzug, etwa als er sich entschloss trotz der Bitten Quiddes nicht gemeinsam mit Schoenaich auf dem Friedenskongress des DFG im September 1924 aufzutreten, sondern stattdessen vor einer Versammlung des Reichsbanners zu reden (siehe BA Koblenz N1212/8).

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zahlreiche republikanische Versammlungen im ganzen Reich.27 Alle waren betont patriotisch eingestellt und Kessler als auch Deimling hatten sich im Ersten Weltkrieg für Annexionen ausgesprochen.28 Nach der ernüchternden Erfahrung der Kriegsniederlage entwickelten die Männer in der neuen Republik ein reges Engagement.29 Sie mussten aufgrund dessen die Hetze der Republikfeinde ertragen, die Deimling wahlweise als opportunistischen „Reklame-General“ (Deutsches Tageblatt) und Kriegsverbrecher (Rote Fahne, aber auch rechtsradikale Blätter wie Arminius) brandmarkten und Haas wurde sowohl in der rechts- wie der linksradikalen Presse mit antisemitischen Klischees angriffen. Auch die Bezeichnung Kesslers als „roter Graf“ war nicht unbedingt als Ehrenname gemeint.30 Es ist bemerkenswert, dass der vom Snobismus nicht freie Graf Kessler eine so offenkundige Zuneigung für das proletarisch anmutende Reichsbanner entwickelte. In seiner Schilderung des Republikanischen Tages in Holzminden mokiert sich Kessler über die „spiessige Komik“, die von den aufmarschierenden Vereinsstandarten ausgehe, um sogleich zu relativieren, dass dieser Aufmarsch zum Schutz der bedrohten Demokratie etwas bedeute und dem Ansehen der Republik gewaltig dienen werde, wobei er auch im Folgenden seines Tagebuches stets anerkennende Worte für die Paraden des Reichsbanners findet.31 Dieses setzt er in einen starken Kontrast zu den „erbärmlichen deutschen Bildungsschichten“ und den Hakenkreuzlern.32 Unter [den Hakenkreuzjünglingen] fehlt der kräftige junge Arbeitertypus ganz, der im „Reichsbanner“ neulich in Holzminden überwog. Es sind meistens blasse, engbrüstige kleine Bourgeois, denen die schlechte Stubenluft, die Unterernährung und die Unselbstständigkeit im Gesicht geschrieben steht. […] Unsere „internationalen“ jungen Arbeiter würden sie ohne fremde Beihilfe „zu Mus hauen“, wenn es hart auf hart geht. […] Je mehr man von [den Hakenkreuzlern] sieht, um so mehr verstärkt sich der Eindruck, dass die meisten heruntergekommener Mittelstand sind, schlecht gezogenes, schlecht gelüftetes Menschenmaterial; 27 Vielfältige Beispiele etwa in: BArch R1507/3063, Bl. 119a u. /3066, Bl. 112 oder RBBundesverfassungsfeier 1928 u. RB-Bundesverfassungsfeier 1929. Dort die Veranstaltungspläne und Artikel. Kessler berichtet in seinem Tagebuch von der Teilnahme an zahlreichen Reichsbannerversammlungen (siehe u.a. Kessler 2009, S. 512 u. Kessler 2010). 28 In der Sozialdemokratie war hingegen ein starker Fokus auf die Notwendigkeit der Landesverteidigung gelegt worden, während Annexionsforderungen als Quelle weiteren Konfliktes zwischen den europäischen Staaten von der Mehrheit abgelehnt wurden (siehe Groh/Brandt 1992, Kap. 16 sowie Heine, Wolfgang: „Sozialistische Landesverteidigung“, in: Sozialistische Monatshefte Nr. 18/1914 vom 14.10.). 29 Siehe Luckemeyer 1971, insb. S. 141ff., Rothe 2008, S. 298ff. u. Zirkel 2008, insb. S. 166ff. 30 Siehe zahlreiche Beispiele in den Zeitungssammlungen des RKO: BArch R1507/3063, Bl. 217, 230, /3064, Bl. 58, 84 sowie /3066, Bl. 152 u. 186. Zu Deimlings Wirken als General in Deutsch-Südwestafrika und dem Ersten Weltkrieg siehe Zirkel 2008, Kap. 2 u. 4. Deimling war tatsächlich vor seiner Wandlung zum engagierten Republikaner und Pazifisten einer der eifrigsten Militaristen seiner Majestät gewesen, also gewissermaßen vom Saulus zum Paulus bekehrt worden. Auch Schoenaich sprach analog von seinem Damaskuserlebnis, welches ihn zum Pazifisten gemacht habe (zu Schoenaich und Deimling: Ziemann 2014, S. 233ff.). 31 Siehe u.a. Kessler 2009, S. 522ff. u. Kessler 2010, S. 197 u. 458 (Einträge vom 26.10.24, 12.8.28 u. 4.7.32). 32 Vgl. Kessler 2009, S. 392ff. (Eintrag vom 10.8.24).

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wenn der neue Krieg kommt, den sie herbeirufen, können die meisten von ihnen hoffen, d[ienst] u[nfähig] zu sein. Auffallend viele tragen Brillen und sind krumm gewachsen. Beckmesser Gestalten. Sie sitzen mit ihren ebenfalls wenig anmutigen u. durchaus nicht in der Mehrzahl germanisch aussehenden altgermanischen Weibern vor den Cafés und Conditoreien u. betätigen ihre völkische Gesinnung im Vertilgen von grossen Mengen von Bier und Chokolade.33

Ludwig Haas wiederum hatte kein Problem damit, seine jüdische Religion mit deutschem Patriotismus zu verbinden, da er die deutschen Juden als Teil der deutschen Kulturnation betrachtete. Den Antisemitismus sah er folglich als Bedrohung nicht nur für den jüdischen Teil der Bevölkerung, sondern für den Zusammenhalt der Nation als Ganzes.34 Folgerichtig trat er schon als Korpsstudent den antisemitischen Anfeindungen seiner Kommilitonen selbst mit dem Degen entgegen und diesen kämpferischen Zug verlor er auch in späteren Jahren nicht.35 Der ausgebildete Jurist war für das Reichsbanner primär als Redner und Organisator tätig, wobei er sich vom Bund insbesondere eine Beeinflussung der Reichswehr im republikanischen Sinne erhofft. Haas war denn auch für einige Jahre der wichtigste (weil einzige) Mittelsmann zwischen Otto Geßler und der Reichsbannerführung.36 Der Pazifismus der DFG-Führungsfigur Haas war betont staatstragend ausgeprägt. Dass aber Haas mit seinen Bemühungen um eine Republikanisierung der Reichswehr keine nennenswerten Erfolge vorweisen konnte,37 mochte sein Ansehen im Reichsbanner zwar nicht ernsthaft erschüttern. Schließlich folgte man dort derselben Strategie. Für die Auseinandersetzungen innerhalb des deutschen Pazifismus fehlten Haas und anderen gemäßigten Pazifisten aber letztlich die Argumente zur Rechtfertigung ihres gemäßigten Kurses, der auf eine langsame Aufweichung der Reichswehr durch konstruktive Kritik baute und nicht auf eine Radikalopposition. Berthold von Deimling war ebenfalls kein Radikalpazifist, sondern vielmehr ein engagierter Pragmatiker und Realist. In seinen Erinnerungen schilderte er teilnahmsvoll das Zerbrechen des Frontheeres im Krieg und den Ausbruch der Revolution in seiner badischen Heimat, wo er bereits Bekanntschaft mit Haas, Wirth und anderen späteren Mitstreitern gemacht hatte. Deimling sah anders als so mancher ehemalige Soldat – egal ob „Heimkrieger“ oder Generalquartiermeister – klar, dass der Krieg gründlich verloren worden war und sich die heimströmenden Frontsoldaten ihren Frieden bitter verdient hatten. Ein Weiterkämpfen verurteilte 33 Kessler 2009, S. 396f. (Einträge vom 14. u. 15.8.24, Unterstreichungen i. O.). Auch von der körperlichen Degradierung der Nationalsozialisten rückte Kessler nicht ab, wobei er später die Kraft und Gesundheit von RB- und KPD-Jugend gleichermaßen betonte (siehe Kessler 2010, S. 431, Eintrag vom 5.6.32). 34 Mit dieser Ansicht stand Haas im Einklang mit der Reichsbannerpublizistik (siehe oben zum Gründungsaufruf sowie unten zur publizistischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus). 35 Vgl. „Erinnerungen an meinen Vater“ von Judith Schrag-Haas, in: BA Koblenz BSG13/1, insb. S. 4f. u. 9ff. Ferner Luckemeyer 1971, S. 155ff. Aktuell liegt ein Sammelband zu Haas vor, welcher eine detaillierte Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten seiner Biographie bietet: Grothe/Pomerance/Schulz (Hg.) 2018. 36 Siehe Luckemeyer 1971, S. 136ff. u. 144ff. 37 Hierzu unten ausführlicher im Bezug auf die Bemühungen des gesamten Reichsbanners.

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er angesichts der materiellen Übermacht der Alliierten als ein Ding strategischer Unmöglichkeit, weswegen der Friedensvertrag unterzeichnet werden musste, um noch Schlimmeres abzuwenden.38 Aus unserem historischen Abstand mag man verleitet sein, Deimlings Schilderung der Sachlage und Konsequenzen als selbstverständlich anzusehen, aber seiner Zeit und vor allem seinen Standesgenossen war Deimling mit diesen Erkenntnissen weit voraus. Das Reichsbanner war in diesem Sinne die beste Adresse für Deimlings neues Bemühen, diesen Ansichten über den Weltkrieg ein breites Publikum zu verschaffen. Wenn man den Rückhalt betrachtet, den Deimling im Reichsbanner genoss, muss man zu dem Schluss kommen, dass er den dort versammelten Weltkriegsteilnehmern aus der Seele sprach.39 Sein Konzept eines „wehrhaften Pazifismus“ (Kirsten Zirkel), das er zwischen dem Spannungsfeld des Rechts auf Landesverteidigung und der moralischen Pflicht zur Abrüstung formulierte, passte in der Tat bestens zum Reichsbanner und dessen Gedenkpraxis an den Ersten Weltkrieg, die im Kern auf ein Gedenken an das erlittene Leid und eine Mahnung vor weiteren Kriegen ausgerichtet war.40 Deimling nahm sogar für sich in Anspruch, dass die von ihm im Auftrag der badischen Revolutionsregierung gebildete Volkswehr als erste bewaffnete Formation der Weimarer Zeit die Farben Schwarz-Rot-Gold als bewusste Reminiszenz an die 1848er trug.41 Anders als Haas, der offenbar ein recht unkritisches Verhältnis zu seinem Weltkriegserlebnissen hatte und die Niederlage als überraschenden Schock wahrnahm,42 übte sich Deimling in deutlicher Kritik an seinen ehemaligen Vorgesetzten und Offizierskameraden, was sein Ansehen dort nicht erhöhte.43 Haas und Deimling repräsentieren bei allen Ähnlichkeiten auch die Gegensätzlichkeit im 38 Siehe Deimling 1930, Kap. 12. Ganz ähnliche Erfahrungen und Wandlungen machte Günther von Bresler durch, der ebenfalls zum kleinen Kreis der Generale im Reichsbanner zählte, aber der wesentlich weniger öffentlichkeitswirksam war als Deimling oder Schoenaich. Zu Bresler siehe dessen Artikel „Wie ich Republikaner wurde“, u.a. in: RB-Gautreffen 1927 u. eine persönlich gehaltene Erinnerung an Bresler bei Margot Frohmann, in: Digi Baeck Onlinearchiv, S. 29. Der Generalmajor a. D. Bresler hatte einen Sohn im Weltkrieg verloren und schloss sich daraufhin der LfM an. Ein zweiter Sohn wurde vom NS-Regime ermordet. 39 Im Reichsbanner legte man viel Wert auf die Feststellung, dass die große Mehrheit der anfänglichen Mitglieder am Weltkrieg teilgenommen hatte. So berichtete der Vorwärts unter Berufung auf die Münchener Post, dass unter den ersten 1000 RB-Mitgliedern 12 Offiziere, 220 Unteroffiziere, 524 Soldaten und damit insgesamt 756 Kriegsteilnehmer zu finden gewesen seien, die im Durchschnitt eine Kriegsdienstzeit von 34,6 Monaten pro Kopf und insgesamt 668 Auszeichnungen vorzuweisen hätten. Die restlichen 244 Nichtkriegsteilnehmer seien ältere Jahrgänge und Jugendliche (vgl. Vorwärts Nr. 369/1924 vom 7.8.). 40 Siehe Zirkel 2008, Kap. 6 u. 7 sowie Ziemann 2014, insb. S. 236ff. u. Böhles 2016, u.a. S. 130ff. Besonders bemerkenswert sind in diesem Kontext die – sehr zäh angelaufenen – Versuche der Reichsbannerführung positive Kontakte zu internationalen Kriegsteilnehmerorganisationen wie der CIAMAC zu suchen, womit man einen Beitrag zur europäischen Verständigung leisten wollte. Zur CIAMAC: Eichenberg/Newman 2013. 41 Siehe Deimling 1930, S. 242. 42 Siehe „Erinnerungen an meinen Vater“ von Judith Schrag-Haas, in: BA Koblenz BSG13/1, S. 11f. u. 19. 43 Hierzu neben dem oben Genannten: Zirkel 2008, S. 149ff.

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Umgang mit der Reichswehr und den Strategien zu ihrer Republikanisierung (Umwerbung vs. Delegitimierung), die das Reichsbanner parallel verfolgte und dies oft mit sich widerstrebenden Effekten. So musste es widersprüchlich wirken, wenn der Redner einer öffentlichen Reichsbannerversammlung die Wehrpolitik Geßlers scharf anging (Deimling)44 und gleichzeitig ein anderer zentraler Führer des Bundes ebendiesen Geßler inoffiziell umwarb (Haas).45 Ob diese Spannungen die Reichswehrpolitik des Reichsbanners eher zerstörte als befruchtete, ist unklar, aber sicher ist, dass dieselbe Spannung die DFG schließlich spalten sollte. Der fruchtlose Streit mit den Radikalpazifisten Während die Kritik Deimlings und anderer Reichsbannergrößen an der Reichswehr und der alten Preußischen Armee moderat ausgerichtet war und auf konkrete Verfehlungen bestimmter Personen hinwies, wobei es nicht immer gelang, die richtige Wortwahl oder Tonlage zu treffen,46 übten sich andere Flügel der Friedensbewegung in einer grundsätzlicheren Kritik. Insbesondere im rheinischen Landesverband der DFG sammelte Fritz Küster und der vom ihm geleitete Kreis um die Zeitschrift Das andere Deutschland jene, die nicht an einer Reform, sondern an einer Abschaffung der Reichswehr interessiert waren. Die Radikalpazifisten verfolgten ein betont antimilitaristisches Programm der Kriegsdienstverweigerung, welches auch eine Ablehnung der Wehrverbände einschloss, da diese als Teil einer deutschen Wiederaufrüstung gesehen wurden. Was für die rechten Wehrverbände noch zutraf, wurde auf das Reichsbanner verallgemeinert, dessen Bejahung des republikanischen Staates als „Militarismus“ bewertet wurde.47 Zunächst war dies jedoch nur eine Minderheitenmeinung innerhalb der DFG, die allerdings Mitte der 1920er in dem Maße an Einfluss gewann, wie die Friedensbewegung aufhörte eine Massenbewegung zu sein. Paul von Schoenaich gehörte zu jenem Kreis liberaler Pazifisten, die 1924 die Gründung des Reichsbanners warm begrüßt hatten.48 Schoenaich berichtete in der RBZ über ähnliche Erfahrungen von gewaltsamen Übergriffen wie Gerlach oder Quidde und nannte die Republikanisierung der Reichswehr als eine der zentralen 44 Siehe Zirkel 2008, S. 202ff. Schärfer noch war Schoenaich (siehe u.a. Schoenaich 1929, S. 126ff. u. 132ff.). 45 Siehe neben Luckemeyer allgemein zu den Bemühungen des Reichsbanners um eine Republikanisierung der Reichswehr Rohe 1966, S. 177ff. 46 Hierzu unten ausführlicher. 47 Siehe bspw. „„Tritt gefasst – Fahnen frei!“ oder „Einkehr und Umkehr““ von Fritz Küster, in: Das Andere Deutschland Nr. 10/1930. sowie „„Das andere Deutschland“. Bescheidene Antwort auf eine unbescheidene Anfrage“ von Karl Bröger, in: RBZ Nr. 45/1929 vom 9.11., worin Bröger seinen (Anti-)Kriegsroman Bunker 17 verteidigte oder „Das „Andere Deutschland“…“ von Karl Mayr, in: RBZ Nr. 1/1930 vom 4.1., wo Mayr sich und seine Bemühungen um eine deutsch-französische Verständigung gegen die „Militarismus“-Anschuldigungen Küsters wehrt. 48 Zu Schoenaich: Gräper 1999 u. Appelius 1992. Appelius beschreibt Schoenaich apologetisch als „Republikaner ohne Republik“ (ebd. S. 179).

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Aufgaben des Bundes.49 Schon 1925 sah er dieses Bemühen aber offenbar als fruchtlos an. So äußerte er in einem entsprechenden Artikel, dass ohne eine Beseitigung der wirtschaftlichen Übermacht der Reichen, die fast die gesamte Presse kontrollieren würden, in dieser Hinsicht keine Fortschritte gemacht werden könnten. Sollte es aber der Republik gelingen, „tief in die Taschen der Reichen zu greifen“ und dieses Geld an die Armen weiterzugeben, dann würde sie wieder an populärem Ansehen im Volk gewinnen und die Republikanisierung der Reichswehr würde dem quasi automatisch nachfolgen.50 Eine durchdachte Sicherheitspolitik sieht anders aus. Dennoch war diese Bekämpfung der besitzenden Schichten für Schoenaich der wesentliche Inhalt des „Pazifismus“, den er im Reichsbanner propagierte. Denn, so Schoenaich, die „Kriegsgewinnler“ in der Industrie seien es, die nun für die Aufrüstung und die Wiederaufnahme des Krieges die Werbetrommel rühren würden. Jenen „kriegsinteressierten“ Kreisen, die aus wirtschaftlichen Motiven heraus Organisationen wie den Stahlhelm oder allgemeine „Kriegshetze“ unterstützen würden, müsse daher das Reichsbanner entgegentreten.51 Schoenaichs Denk- und Agitationsrichtung führte ihn somit recht eindeutig in klassenkämpferische Bahnen, obwohl er zu dieser Zeit noch der DDP angehörte. Sein späteres Zusammengehen mit Küster, der wiederum der SPD angehörte, stand denn auch unausgesprochen unter einem kommunistischen Vorzeichen. Schoenaich arbeitete zwar nicht mit der KPD zusammen, aber er idealisierte die Sowjetunion als „antiimperialistische“ Macht, deren Ökonomie und Heereswesen durch Volksbildungsmaßnahmen auf eine Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft hinarbeiten würden.52 Während Schoenaich wie andere Radikalpazifisten der Roten Armee keine aggressiven Ziele ansah, sondern ihr einen defensiven Charakter zubilligte, da sie als „Vorschule der Demokratie“ ein geeignetes Instrument zur „Friedenssicherung“ sei,53 wurde das wehrpolitische Engagement des Reichsbanners von dieser Seite scharf bekämpft. Als die Reichsbannerführung 1927 die Intensivierung des Kleinkaliberschießens anregte, um die Einsatzfähigkeit des Bundes im Falle eines Rechtsputsches zu erhöhen, wurde ihnen dies von den Radikalpazifisten als eine unzulässige „Militarisierung“ vorgehalten. Hörsing versuchte, diese Anschuldigungen mit den Argumenten zu entkräften, dass das Kleinkalibergewehr eine Sport- und keine Kriegswaffe sei. Verglichen mit den Mitteln eines möglichen 49 Siehe RBZ Nr. 8/1924 vom 1.9. 50 Vgl. „Demokratisierung und Republikanisierung der Reichswehr“ vom 14.3.25, in: Schoenaich 1929, S. 108ff. 51 Vgl. „Reichsbanner und Pazifismus“ vom 1.5.25, in: Schoenaich 1929, S. 115ff. 52 Siehe hierzu „Die Rote Armee“ vom 1.7.27 u. „Rußlands Industrie ein Agrarproblem“ vom 7.9.27, beide in: Schoenaich 1929, S. 172ff. u. 182ff. Schoenaich verarbeitete hier seine Eindrücke einer Reise in die Sowjetunion. Auf Basis dieser Eindrücke engagierte er sich nach 1928 im „Bund der Freunde der Sowjetunion“, dessen offizielle Ziele die Verteidigung der SU und die Bekämpfung eines „imperialistischen Krieges“ gegen die SU waren. Dass der Bund unter dem maßgeblichen Einfluss der KPD stand, mag nicht überraschen (vgl. O’Sullivan 1996, S. 198. Dort auch mehr zu Schoenaichs Engagement in dieser Richtung). 53 Vgl. „Die Rote Armee“ vom 1.7.27, in: Schoenaich 1929, S. 175f.

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Gaskrieges sei das KK-Gewehr wie „Pfeil und Bogen“. Sicherlich könne man über jede Sportart sagen, dass sie in gewisser Weise gewalttätige Instinkte fördere, aber das vermehrte Interesse der Rechtsverbände am Schießsport zwinge das Reichsbanner zum Handeln, da ein allgemeines Verbot der Sportwaffen allein aus ökonomischen Gründen und erst recht aus politischen Gründen völlig unrealistisch sei.54 Grundsätzlich ist es denkbar, dass der Widerstand der Pazifisten die paramilitärischen bzw. wehrsportlichen Aktivitäten des Reichsbanners behinderte, aber ernsthafte Auswirkungen hierauf sind nicht nachweisbar. Die Radikalpazifisten waren eher ein publizistisches Hindernis, da Schoenaich mit seinem Kurs innerhalb des Reichsbanners recht isoliert war und auf den Bundesversammlungen 1926 und 1928 Abstimmungsniederlagen erleben musste. So hatte bereits 1926 dieses höchste Beschlussgremium des Reichsbanners entschieden, dass pazifistische Fragen nicht zum Themenkreis der Reichsbannerarbeit gehören sollten, auch wenn sich die einzelnen Mitglieder frei hierin betätigen konnten. Dies war ein Kompromissvorschlag Gerlachs, welcher der Agitation Schoenaichs innerhalb des Reichsbanners die Grundlage entziehen sollte, ohne die Aktivitäten der gemäßigten Pazifisten gleich mit zu verurteilen. Die Reichsbannerführung stellte sich somit in diesem Richtungsstreit innerhalb des Pazifismus eindeutig auf die Seite der Gemäßigten und tat vielfach kund, dass sie ihre „pazifistische Wehrhaftigkeit“ nicht als Militarismus missverstanden wissen wollte. Inhaltlich äußerte sich dies darin, dass der defensive Charakter der eigenen Maßnahmen herausgestellt wurde und grundsätzliche Boykottinitiativen etwa in der Frage des Arbeits- oder Kriegsdienstes vom Reichsbanner nicht geteilt wurden. Gleichzeitig versuchte die Reichsbannerführung ihrerseits Verbindungen zu internationalen Kriegsteilnehmerorganisationen aufzubauen, was als Beitrag zur Friedenssicherung verstanden wurde.55 Die DFG zerbrach jedoch 1928 am Streit zwischen dem eher bürgerlich gemäßigten Flügel um Quidde und dem klassenkämpferisch radikalen KüsterFlügel. Die Gemäßigten wurden aus dem Vorstand entfernt und mit Schoenaich und Küster im Zentrum traten radikale Vertreter an ihre Stellen, was vom Reichsbanner missbilligend aufgenommen wurde. An einer Fortführung des innerrepublikanischen Streits war man aber nicht interessiert, sodass Schoenaich nicht aufgrund seiner radikalen Äußerungen aus dem Bund ausgeschlossen wurde, aber ein kontinuierliches Ärgernis waren die Angriffe des Anderen Deutschlands dennoch, weswegen die DFG schließlich ihren Anspruch auf den Saalschutz des Reichs-

54 Vgl. „Reichskartell Republik“ von Otto Hörsing, in: RBZ Nr. 4/1927 vom 19.2. Auch in der Friedenswarte versuchte Hans Emil Lange die Gründung des Reichskartells Republik (RKR) zu rechtfertigen, wobei er die versicherungstechnischen und ökonomischen Vorteile eines republikanischen Schützenverbandes hervorhob (siehe Die Friedenswarte Nr. 2/1927). Zum RKR ferner unten. 55 Hierzu bereits ausführlicher: Rohe 1966, S. 147ff. u. 182ff. sowie Ergänzungen bei Ziemann 2014, S. 180ff. Aus den Quellen ferner die Einschätzungen und Lageberichte des RKO: BArch R1507/3066, Bl. 207 u. / 3067, Bl. 7f. u. 203.

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banners verlor.56 Die rechtsradikale Presse nahm die Spannungen teilweise zur Kenntnis, aber unterstellte mehrheitlich dem Reichsbanner nach wie vor in diffamierender Absicht, eine radikalpazifistische Organisation von Kriegsdienstverweigerern zu sein.57 Die liberalen Republikaner und Pazifisten blieben somit dem Reichsbanner treu, welches sie vor allem, aber nicht nur als eine wehrhafte Schutzorganisation vor den gewaltsamen Übergriffen der Rechtsradikalen verstanden. Zudem richteten führende Köpfe der DDP und der DFG weitergehende (staats-)politische Hoffnungen an den Bund. Hierbei wird deutlich, dass das Reichsbanner zwar einerseits über die eigene Verbandspresse eine nationalrepublikanische Agenda vertrat, aber durchaus bereit war, Abweichungen hiervon in der eigenen Bewegung zu tolerieren. Ob diese Toleranz im Falle Schoenaichs belohnt wurde oder nicht, steht auf einem anderen Blatt, doch im Zweifel war der Reichsbannerführung der Zusammenhalt der republikanischen Bewegung offenbar wichtiger als die doktrinäre Durchsetzung der eigenen Haltungen.

56 Siehe „Pazifisten untereinander“ von Karl Höltermann, in: RBZ Nr. 9/1929 vom 2.3. u. RBZ Nr. 14/1929 vom 4.4. Gerade der rheinische Gau des Reichsbanners sprach sich scharf gegen Küster und dessen Anhang aus (siehe Gaurundschreiben vom 9.10.31, in: LA NRW Abt. Westfalen, C 61, Nr. 9 u. AfSG, Eduard Bernstein Papers, Nr. D248). Schoenaich wurde nicht ausgeschlossen, aber 1930 versagte der Gauvorstand von Schleswig-Holstein Schoenaich die Bestätigung als Vorsitzenden der OG von Reinfeld (siehe Gauvorstandssitzung vom 5.5.30, in: LA Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 30, Bl. 24). 57 Siehe die Artikelsammlung in BArch NS5VI. So nahm Der Jungdeutsche die Differenzen zwischen den Radikalpazifisten und dem Reichsbanner ernst und forderte vom Bund eine härtere Gangart gegen Küster (siehe u.a. „Quo vadis Reichsbanner“ u. „Ultimatum Schoenaichs. An Hörsing und Reichsbanner“, in: Der Jungdeutsche Nr. 124/1929 vom 31.5. u. Nr. 182/1929 vom 7.8.). Der Stahlhelm und insbesondere Walter Korodi aber auch andere rechtsradikale Blätter sahen das Reichsbanner hingegen weiterhin als festen Bestandteil eines pazifistischen Blocks (siehe etwa „Reichsbanner am Scheideweg“, in: Der Stahlhelm Nr. 1/1926 vom 31.1. u. „Gehört das in Reichswehrkasernen?“, in: Der Tag Nr. 202/1927 vom 24.8.). Hierzu unten ausführlicher.

4. REPUBLIKSCHUTZ PRIVAT. AKTIVITÄTEN UND GRENZEN DER REICHSBANNERARBEIT Die Aktivitäten des Reichsbanners zum Schutz der Republik waren vielseitig und bewegten sich neben „technischen“ Aspekt in den 1920er Jahren auch auf einer zivilkulturellen Ebene, insbesondere durch eine ausgesprochen republikanische Öffentlichkeitsarbeit. Diese Arbeit war jedoch mit mehreren Problemen verbunden, die aus der politischen Ausrichtung des Reichsbanners und den daraus folgenden Widerständen erwuchsen. Während der RRB sich für gewöhnlich akademischer und weniger aggressiv gebärdete, waren volkstümliche Elemente aus der Propaganda des Reichsbanners nicht wegzudenken, wobei insbesondere Otto Hörsing sich wiederholt als „Trommler der Republik“1 hervortat. Die unbestreitbare Lautstärke des Reichsbanners war im Rahmen der Agitation für die Wahlkämpfe der republikanischen Parteien oder dem Volksentscheid über die Fürstenenteignung sicherlich notwendig, um eine hohe Wahlbeteiligung zu erzielen. Hierdurch wurde die vorhandene gesellschaftliche und politische Polarisierung aber nicht abgebaut, sondern im Gegenteil bewusst verstärkt. Man wollte die Farben Schwarz-Rot-Gold zu einem volksnahen Symbol machen und langfristig die alten, kaiserlichen Farben und die dazugehörige monarchistische Denkweise verdrängen. Durch ein leises Klein-klein wäre dieses Ziel nicht zu erreichen gewesen. Wenn hiermit zusammenhängend die gesellschaftliche Machtposition der alten Eliten ebenfalls angegriffen wurde, so geschah dies nicht durch Aufrufe zu rohen Gewalttätigkeiten, wie es bei den Kommunisten üblich war. Die gewählten politischen Mittel des Reichsbanners waren in den 1920ern zum allergrößten Teil demokratisch in einem zivilen Sinne.2 Die Mittel der Gegenseite waren jedoch nicht immer demokratisch oder auch nur rechtsstaatlich. Wenn wir uns nun mit den Republikschutzaktivitäten des Reichsbanners beschäftigen, so werden wir auch auf die Reaktionen der Antirepublikaner eingehen und wiederum die Gegenreaktion der Reichsbannerkreise betrachten müssen. Es wäre übertrieben, die Entwicklung der mittleren Jahre der Republik mit dem Bild einer sich unaufhaltsam drehenden Eskalationsspirale zu bezeichnen, welche zwangsläufig auf die Gewaltausbrüche der späteren Weimarer Jahre hinauslaufen musste, aber die späteren Konfliktkonstellationen waren schon in diesen Jahren angelegt.

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So der Titel eines verbandseigenen biographischen Essays über Hörsing, der in unterschiedlicher Länge mehrfach publiziert wurde (so u.a. in: Crohn 1931, S. 5ff., RBZ Nr. 6/1931 vom 7.2., DR Nr. 13/1927 u. RBZ Nr. 3/1927 vom 1.2. sowie „Die Trommler der Republik“ von Karl Höltermann, in: RBZ Nr. 23/1930 vom 7.6., der das gesamte Reichsbanner als „Trommler“ beschreibt). Mit dem gewaltkulturellen Teil der Reichsbannerarbeit und dessen Hintergründen werden wir uns unten befassen.

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Wehrhafte Demokraten (1924–1928)

Anweisungen für die Wahlkampfarbeit Das Ziel der Reichsbannerarbeit war stets die Konsolidierung der Republik auf Basis der geltenden Verfassung. Durch die überparteiliche Zusammensetzung der Mitgliederschaft des Bundes ergaben sich aber gewisse Restriktionen für die Organisationstätigkeit, die insbesondere in Wahlkampfzeiten von Bedeutung waren. Während die Reichstagswahl im Mai 1924 noch zu dicht an der Gründung des Reichsbanners lag, als dass der Bund kontrolliert in den Wahlkampf hätte eingreifen können, wurden anlässlich der zweiten Reichstagswahl von 1924 im Dezember umfassende Vorbereitungen betroffen. Die Wahlkampfarbeit des Reichsbanners sollte reichsweit nach einheitlichen Kriterien durchgeführt werden, da nur hiervon flächendeckende Effekte zu erhoffen waren. Der Reichsbannergau Großthüringen etwa hob in seinen Richtlinien für den Reichstagswahlkampf hervor, dass das Reichsbanner nicht als eigenständige politische Kraft auftreten solle, sondern lediglich als Unterstützung für die republikanischen Parteien, also SPD, DDP und Zentrum. Eigene Wahllisten aufzustellen sei ebenso unerwünscht, wie die Teilnahme oder Störung gegnerischer Veranstaltungen, also jenen Versammlungen der KPD, DNVP, DVP oder der Völkischen. Wichtigste Aufgabe der Ortsgruppen des Reichsbanners sei stattdessen die Organisation des Saalschutzes sowie die Verteilung von Flugblättern der republikanischen Parteien, des Reichsbannerbundes oder der Gaue, welche gerade den politischen Gegnern und Indifferenten auszuhändigen seien. Eigene Flugblätter dürften die Ortsgruppen nicht erstellen. Insbesondere die hetzerischen Veranstaltungen der Vereinigung Vaterländischer Verbände (VVV) zum Thema „ReichsbannerNollet“3 dürften nicht besucht werden, vielmehr seien Gegenveranstaltungen über die Unwahrheit der dort getroffenen Behauptungen durchzuführen. Solche Veranstaltungen sollten nach Möglichkeit unter der Schirmherrschaft einer oder mehrerer republikanischer Parteien stattfinden. Falls dies aufgrund örtlicher Gegebenheiten nicht möglich sei, könne aber jede Veranstaltung auch offiziell als „Reichsbanner-Versammlung“ angekündigt werden. Dies müsste aber stets in Rücksprache mit dem Gau bzw. dem Bund erfolgen. Ausdrücklich erwünscht seien ferner sog. „Reichsbannerwochen“ unmittelbar vor der Wahl. Diese Wochen müssten zur Werbung für den Verband genutzt werden. Mit Demonstrationen, Musik und LKW-Umzügen solle versucht werden, potentielle Neumitglieder für das Reichsbanner zu begeistern.4 Anlässlich der Reichspräsidentenwahl nur wenige Monate später präzisierte der Thüringer Gauvorstand seine Anweisungen für die Wahlkampfarbeit. So wurden offene Fragen der Finanzierung des Wahlkampfes behandelt. Da es zu diesem Zeitpunkt noch keine allgemeine Reichsbannerversicherung gab, wurde durch besondere Unterstützungsmarken ein Fonds aufgestellt, der zur Absicherung der 3 4

Mehr zu dieser gegen das Reichsbanner gerichteten Propaganda bereits oben sowie ausführlicher unten. Vgl. Rundschreiben des Gaues Großthüringen Nr. 3 vom 24.11.24, in: TStA Rudolstadt, 99.2./10, Nr. 30.

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Mitglieder im Schadensfall oder bei Rechtsstreitigkeiten diente. Zudem wurde der zentralistische Organisationsanspruch mit der Anmahnung betont, dass grundsätzlich alle Materialien für den Wahlkampf bis zur letzten Anstecknadel nicht über Privatfirmen, sondern nur über den Vereinsbedarfsvertrieb des Reichsbanners zu beziehen seien. Ferner musste auch das Organisationsprinzip des Reichsbanners als Männerbund beachtet werden, was bedeutete, dass Frauen das öffentliche Auftreten mit Reichsbannerabzeichen untersagt blieb. Würde dies nicht beachtet, so die Haltung des Gauvorstandes, mache man sich „vor der Außenwelt lächerlich.“5 Im Hinblick auf den Wahlkampf um die Nachfolge Eberts bot sich für das Reichsbanner eine besondere Gelegenheit, die überparteiliche Ausrichtung des Bundes als politisches Kapital auszuspielen. Angesichts des für eine Personenwahl notwendigen Mehrheitswahlprinzips konnte kein Parteikandidat darauf hoffen, eine ausreichende Stimmenanzahl zu erzielen. Selbst Otto Braun konnte als SPD-Kandidat nicht einmal annähernd genug Stimmen für eine absolute Mehrheit im ersten Wahlgang erringen. Der Präsidentschaftswahlkampf wurde von Seiten der Reichsbannerführung richtigerweise als zentral für die Machtverhältnisse erkannt. Es war sogar die Rede von einem „Entscheidungskampf um die Republik“. Hörsing versuchte auf die republikanischen Parteien dahingehend einzuwirken, dass diese bereits für den ersten Wahlgang einen republikanischen Sammlungskandidaten aufstellen sollten. Wie genau dieser Versuch aussah ist nicht bekannt, aber intern war von „langen Verhandlungen“ Hörsings die Rede. Da diese aber nicht erfolgreich verliefen, musste sich das Reichsbanner für den ersten Wahlgang auf eine eher passive Rolle als Saalschützer beschränken. Die Mitglieder wurden zwar dazu aufgerufen, für ihre jeweilige Partei zu agitieren, wobei dies aber nicht im Namen des Reichsbanners geschehen dürfe.6 Nachdem im ersten Wahlgang erwartungsgemäß kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichen konnte, sahen sich die republikanischen Parteien gezwungen, nun doch einen Sammlungskandidaten aufzustellen, wenn nicht dem Sammlungskandidaten der Rechtsparteien der Sieg überlassen werden sollte. Dies war im ersten Wahlgang der frühere Reichsinnenminister Jarres gewesen, der von der DVP und DNVP nominiert worden war. Für den zweiten Wahlgang wurde Jarres durch Hindenburg ausgewechselt, der bis dahin keine aktive Rolle im politischen Leben der Republik gespielt hatte. Ein nicht nur wahlrechtlich fragwürdiger, sondern auch politisch folgenschwerer Vorgang. Die republikanischen Parteien einigten sich auf Wilhelm Marx, der im ersten Wahlgang für das Zentrum angetreten war. Dass nicht Otto Braun zum Sammlungskandidaten des „Volksblocks“ ernannt wurde, hatte seinen Grund vor allem in der ungeklärten Frage, ob er ggf. sein Amt als preußischer Ministerpräsident hätte aufgegeben müssen. So oder so hätte seine Wahl zum Reichspräsidenten wohl wesentlich dazu beigetragen, den 5 6

Vgl. Rundschreiben des Gaues Großthüringen Nr. 4 vom Februar 1925, in: TStA Rudolstadt, 99.2./10, Nr. 30. Vgl. Rundschreiben des Gaues Großthüringen Nr. 4 vom Februar 1925 u. Rundschreiben des Gaues Großthüringen Nr. 5/1925, beide in: TStA Rudolstadt, 99.2./10, Nr. 30. Hierzu auch: Ruppert 1992, S. 109ff.

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Dualismus Preußen-Reich abzuschwächen und einer verfassungskonformen Lösung zuzuführen. Jedenfalls konnte das Reichsbanner seine Passivität für den zweiten Wahlgang aufgeben, da nun ein überparteilicher, republikanischer Kandidat gefunden war. Hörsing verbreitete für den Volksblock einen von ihm gezeichneten, mitreißenden Wahlaufruf für Marx, der sich allerdings weniger mit dessen Person oder Politik, sondern mit einer Kritik des Rechtsblockes befasste.7 Die Mitglieder wurden dazu verpflichtet, sich völlig in den Dienst des Sammlungskandidaten zu stellen. Das Reichsbanner sollte gemäß den Richtlinien des Thüringer Gaues neben dem üblichen Versammlungsschutz eine aktive Rolle bei der Wahlpropaganda einnehmen. In allen größeren Städten und Orten müsse das Reichsbanner am Tag vor der Wahl das Straßenbild mit schwarz-rot-goldenen Umzügen bestimmen, so die internen Anweisungen. Unter dem Motto „Republik oder Monarchie!“ sollte zudem eine Spendensammlung bei bekannten Republikanern durchgeführt werden und nicht nur mussten die Mitglieder natürlich selbst zur Wahl gehen, sondern auch versuchen, möglichst viele Indifferente zur Stimmabgabe zu bewegen, also sog. „Schlepperdienste“ leisten. Ferner sollte die Wahl wieder für eine Werbewoche genutzt werden. Schließlich wurden die Mitglieder dazu aufgerufen, jegliche Zusammenstöße mit politischen Gegnern zu vermeiden und ggf. sofort die Polizei zur Hilfe zu rufen.8 Zwar unterlag Marx im zweiten Wahlgang gegen Hindenburg mit knapp einer Million Stimmen bzw. 3% relativ klar, doch konnte er seine Stimmenanzahl aus dem ersten Wahlgang mehr als verdreifachen (3.887.734 zu 13.751.605 Stimmen für Marx). Dass die sozialdemokratischen Wähler nahezu geschlossen für Marx stimmten, der eigentlich als der wichtigste Repräsentant des Bürgerblocks für eine Annäherung an die DNVP eingetreten war, wird nicht unwesentlich der Agitation des Reichsbanners zu verdanken gewesen sein. Zumindest freute sich der Bund über die Aussicht, dass nun Marx und mit ihm das Zentrum mehr als bisher dem Reichsbanner zugeneigt sein würde.9 Tatsächlich trat Marx nun dem Reichsbanner als Ehrenmitglied bei und dass mit dem expliziten Dank für die wertvolle Wahlkampfarbeit. Besonders lange sollte dieser Dank zwar nicht währen, aber das Reichsbanner hatte während des Wahlkampfes seine organisatorische Leistungsfähigkeit eindrucksvoll demonstriert.10 7

Siehe Wahlaufruf des Volksblocks der Parteien der Weimarer Koalition vom April 1925, in: Michaelis et al. (Hg.) 1961, S. 275ff. (Dok. Nr. 1301 a.). 8 Vgl. Rundschreiben des Gaues Großthüringen Nr. 7/1925, in: TStA Rudolstadt, 99.2./10, Nr. 30. 9 Auf einer Führertagung der OG Darmstadt äußerte der Vorsitzende Rosar diese Aussicht, die ein „unmittelbarer Effekt unserer Wahlkampfarbeit“ sei (vgl. Protokoll der OG Darmstadt, Eintrag vom 2.7.25, in: HStAD, G12B, 33/2). 10 In einem Erinnerungsbericht gibt Marx hingegen an, bereits seit 1924 dem Reichsbanner mit Sympathien begegnet zu seien und seinen Rücktritt wollte er als koalitionsbedingte Entscheidung eines Reichskanzlers verstanden wissen, der andere Zentrumsführer im Reichsbanner zu nichts verpflichten solle (vgl. Historisches Archiv Köln, NL Wilhelm Marx, Best. 1070, A 265. Dort auch weiteres Material zur Auseinandersetzung mit Hörsing im Zuge der Wiener

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Das Reichsbanner im Reichstagswahlkampf Nach dieser Feuerprobe standen bis zur regulär stattfindenden Reichstagswahl 1928 keine größeren Wahlereignisse statt, die hier noch nicht besprochen worden sind.11 Nur in kleineren und mittelgroßen Ländern gab es Landtagswahlen, wobei es lediglich bei der sächsischen Landtagswahl 1926 zu nennenswerten Ereignissen kam. Dort war das Reichsbanner in den Streit zwischen der SPD und ihrer lokalen Rechtsabspaltung, der Alten Sozialdemokratischen Partei Sachsens (ASPD), hineingeraten. Einige Zeit blieben die ASPD-Anhänger im sächsischen Reichsbanner aktiv, aber aufgrund der parteigebundenen Spannungen kam es schließlich zum Bruch und die ASPD verließ das Reichsbannerlager.12 Für den hiesigen Kontext ist lediglich relevant zu erwähnen, dass die Spannungen zwischen ASPD und SPD mitunter auch die Arbeit des Reichsbanners beeinträchtigten.13 Parteiliche Gegensätze wurden nach Möglichkeit im Reichsbanner mediatisiert, wobei sog. reine Parteiwahlen, wie die Wahlen für den Reichstag oder die Landtage, klare Restriktionen für die Agitationsarbeit mit sich brachten. Bei der Reichstagswahl 1928 waren die generellen Anweisungen dieselben.14 Bei solchen Parteiwahlen war das Verhalten des Reichsbanners ein anderes als bei überparteilichen Wahlen, wie der Reichspräsidentenwahl oder dem Volksentscheid von 1926. Warum diese besonderen Restriktionen notwendig waren, wird offensichtlich, wenn man bedenkt, dass bei Parlamentswahlen Agitation für bestimmte Parteien, nicht aber eine Parteienkoalition gemacht wurde. Erklärlicherweise polemisierten SPD, DDP und Zentrum bei ihren jeweiligen Parteiveranstaltungen daher auch gegeneinander. Da aber der Reichsbanner-Saalschutz vielerorts praktisch zu

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Unruhen, die unten behandelt werden). Umgekehrt fand die RBZ Verständnis für die Regierungsbildung von Marx, da es Hindenburg gewesen sei, der die Einbeziehung der DNVP verlangt habe und ansonsten auch ein Notstandskabinett nach Art. 48 hätte einrichten können. Daher werde man sich im Reichsbanner zu keinen Anmaßungen über Marx’ Taktik hinreißen lassen, da man seiner republikanischen Gesinnung vertraue (vgl. „Zur Regierungsumbildung“, in: RBZ Nr. 3/1927 vom 1.2.). Zu den Verständigungsversuchen zwischen der SPD und dem Zentrum über die Plattform des Reichsbanners ferner Ebert 2014, Kap. IV.8. Sollmann hatte angeregt, den Volksblock zur Basis für künftige Wahlsiege zu machen. Zum Einsatz des Reichsbanners im Volksentscheid über die Fürstenenteignung siehe oben. Zur Wahlkampfarbeit des Reichsbanners bereits Böhles 2016, S. 84–103. Siehe ausführlicher unten. Hierzu ein (nicht-gewaltsamer) Vorfall aus dem Landtagswahlkampf in Leipzig, in: Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom Oktober 1926, in: THStA, P 256, Bl. 143. Siehe oben für die Reichstagswahl im Dezember 1924 und als Vergleich für 1928: Protokoll der OG Darmstadt, Eintrag vom 18.4.28, in: HStAD, G12B, 33/2. Insbesondere mussten wieder besondere Unterstützungsmarken für die Versicherungskasse vertrieben werden, da eine allgemeine Versicherung erst 1929 eingerichtet wurde. Die obligatorische Unterstützungsmarke zum Wahlkampf 1928 kostete 25pf., wobei 5pf. bei der verkaufenden OG verblieben und der Rest an den jeweiligen Gau gingen (siehe „Mitteilungen des Bundesvorstandes“, in: RBZ Nr. 8/1928 vom 8.4. sowie „Mitteilungen des Bundesvorstandes“, in: RBZ Nr. 17/1928 vom 10.6. mit einer erneuten Ermahnung die Unterstützungsmarken zu kaufen). Der BV wiederholte in der RBZ auch die allgemeinen Anweisungen für den Wahlkampf (siehe „Aufruf“ von Otto Hörsing, in: RBZ Nr. 9/1928 vom 15.4.).

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100% von Anhängern der Sozialdemokratie getragen wurde, führte solche Polemik mitunter zu Reibungen. Den jeweiligen Ortsgruppenführern kam hierbei eine vermittelnde Position zu, die sie soweit bekannt auch erfüllten.15 Ob aufgrund solcher Vorkommnisse irgendwo der Saalschutz abgebrochen oder verweigert wurde, ist nicht überliefert. Gewalttätige Konflikte waren erfahrungsgemäß auch in der Wahlkampfzeit 1928 wieder zu erwarten. Hörsing betonte in seinem internen Wahlaufruf, dass Gewalttätigkeiten unbedingt zu vermeiden seien und stets die Kooperation mit der Polizei gesucht werden müsse. Eine Selbstverteidigung sei nur in äußerster Notwehr erlaubt.16 Um Konfliktsituationen besser zu entschärfen, druckte die Redaktion der RBZ eine Sammlung allgemeiner Verhaltensratschläge ab, die sich vor allem an Versammlungsleiter richtete und diese zu Ruhe und Bestimmtheit ermahnte.17 Ansonsten wurde in der Reichsbannerpresse rege diskutiert, was die beste Strategie sei, um den Parteien der Weimarer Koalition wieder zu einer Mehrheit zu verhelfen. Für Hörsing war nicht das Zentrum hauptverantwortlich für die Hinzuziehung der DNVP zur Bürgerblockregierung, sondern die DVP, die hiermit die Bildung einer republikanischen Regierung hintertrieben habe.18 Über die Schwerpunktsetzung einer anzustrebenden republikanischen Regierung gab es in der RBZ verschiedene, sich durchaus ergänzende Ansichten. Laut dem ostpreußischen Gausekretär Adolf Kalesse sollte das Reichsbanner vor allem versuchen, die ostpreußischen Landarbeiter für die Republik zu gewinnen, da diese nach wie vor mit rücksichtslosen Mitteln von den Grundbesitzern im schwarz-weiß-roten Lagern festgehalten würden, wobei sogar das Wahlgeheimnis systematisch verletzt werde.19 Ludwig Haas und Paul Löbe verfolgten in ihren Artikeln hingegen außenpolitische Ziele. So müssten laut Löbe die Altlasten des Krieges endlich beseitigt werden, was eine Räumung der besetzten Gebiete und ein Ende der Isolierung Russlands einschließen müsse. Für Haas war insbesondere die östliche Grenzziehung zu Polen ein Unglück, doch dürfte etwa eine Wiederangliederung Danzigs lediglich mit friedlichen Mitteln erreicht werden.20 Fritz Lensen (ein Alias für den Zentrumsmann Heinrich Teipel)21 brachte in seiner Kolumne wieder die Innenpolitik in den Fokus. Die Rechtsregierung und 15 So in der OG Darmstadt, wo der Vorstand intern die Ansicht vertrat, dass es keinem Parteiredner vorgehalten werden könne, wenn er die Ansichten seiner Partei verteidige und sich in diesem Sinne gegen die Positionen anderer Parteien ausspreche, was von der Versammlung wohl akzeptiert wurde (vgl. Protokoll der OG Darmstadt, Eintrag vom 23.5.28, in: HStAD, G12B, 33/2). Dort auch die Schilderung des generellen Problems. 16 Siehe „Aufruf“ von Otto Hörsing, in: RBZ Nr. 9/1928 vom 15.4. 17 Siehe „Der kleine Ratgeber im Wahlkampf“, in: RBZ Nr. 11/1928 vom 29.4. 18 Vgl. „Hinein in den Wahlkampf!“ von Otto Hörsing, in: RBZ Nr. 9/1928 vom 15.4. 19 Vgl. „Reichsbanner im Wahlkampf“ von Adolf Kalesse, in: RBZ Nr. 8/1928 vom 8.4. 20 Vgl. „Wahlen und Außenpolitik. Schafft Mehrheiten für Frieden“ von Ludwig Haas u. „Linksschwenkung ist notwendig!“ von Paul Löbe, beide in: RBZ Nr. 10/1928 vom 22.4. In Richtung einer deutsch-französischen Verständigung ging ferner ein Artikel Krones (siehe „Um den europäischen Frieden“ von Heinrich Krone, in: RBZ Nr. 12/1928 vom 6.5.). 21 Teipel gelangte offenbar durch die Vermittlung von Wirth zur RBZ (siehe Schreiben Wirths an Hörsing vom 1.8.27, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19).

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vor allem der DNVP-Innenminister Keudell hätten 1927 ein erschreckendes Maß an Führungslosigkeit und Parteiegoismus bewiesen. Die DNVP sei immer noch an einer parlamentarischen Regierungsweise nicht interessiert, sondern mache sich weiterhin Hoffnungen auf ein Präsidialkabinett von Hindenburgs Gnaden. Um diesem Plan näher zu kommen, sei es aus DNVP-Sicht notwendig, dass die kommende Wahl keine klaren Mehrheitsverhältnisse ergebe, so wie es nach der ersten Reichstagswahl 1924 der Fall war. Zu diesem Zweck habe Keudell jüngst ein Verbot des RFB vorangetrieben, obwohl er von Seiten der Länder kaum Unterstützung hierfür sammeln konnte. Ein offensichtlich einseitiges Vorgehen gegen die Kommunisten hätte diesen ein willkommenes Wahlkampfthema geboten und ihnen zahlreiche SPD-Wähler zugetrieben, so sei es wohl Keudells Hoffnung gewesen, die glücklicherweise gestorben sei.22 Der Ausgang der Wahlen konnte die Wünsche der Republikaner höchstens teilweise erfüllen. Organisatorisch hatte der Bund zwar viel erreicht. So war im ganzen Reich Saalschutz- und Propagandaarbeit für die republikanischen Parteien geleistet worden.23 Aber auch der antirepublikanischen Gegenseite konnte keine Untätigkeit vorgeworfen werden.24 Die Lehren der Wahlen für das Reichsbanner zog Hörsing in einem ausführlichen „Nachwort“, worin er vor allem das Verhältnis zwischen dem Reichsbanner und den republikanischen Parteien kritisch thematisierte. Den Wahlausgang sah Hörsing insgesamt mit gemischten Gefühlen, da zwar die Gewinne der SPD zu begrüßen seien, aber diese Gewinne erstens höher hätten ausfallen können und zweitens diesen Gewinnen Verluste der DDP und des Zentrums gegenüberstünden. Die Weimarer Koalition konnte auf dieser Basis nicht wiederbelebt werden. Wenn nun das Reichsbanner für diesen Umstand verantwortlich gemacht werde, so Hörsing, müsse man dem klar entgegensetzen, dass die Gegner des Reichsbanners innerhalb des republikanischen Lagers für dessen mancherorts begrenzte Möglichkeiten verantwortlich seien. Diese innerrepublikanischen Gegner seien laut Hörsing in drei Gruppen zu teilen. Erstens diejenigen, die dem Reichsbanner aus Prinzipienreiterei nicht beitreten wollten, also insbesondere jene, die das militärische Auftreten des Reichsbanners abstoßen würde. Zweitens die politisch Schwachen, die nur ihre Partei, aber nicht das große Ganze sehen würden und insbesondere nicht erkennen würden, dass in einer Demokratie nur durch Koalitionen Mehrheiten zu erlangen sind. Zu dieser zweiten Gruppe zählt Hörsing auch die Nörgler, die zwar die Notwendigkeit einer Schutzorganisation anerkennen, aber der Meinung sind, dass die Parteien dies jeweils 22 Vgl. „Innenpolitik“ von Fritz Lensen [Heinrich Teipel], in: RBZ Nr. 11/1928 vom 29.4. u. RBZ Nr. 12/1928 vom 6.5. Nicht nur die Regierungsparteien, sondern auch der Wahlkampf der rechten Wehrverbände wurde in der RBZ kritisch beleuchtet (siehe „Die Wahlparole des Stahlhelm“, in: RBZ Nr. 10/1928 vom 22.4. u. „Der Jungdeutsche im Wahlkampf. Die Flucht in die Romantik“, in: RBZ Nr. 11/1928 vom 29.4.). Zu Keudells Verbotsinitiative, die gleichfalls als Wahlkampfmanöver gedeutet wird siehe Schuster 1975, S. 205ff. 23 Beispiele für die Organisationstätigkeit in Hessen, Schlesien und Halle, in: „Das Reichsbanner im Wahlkampf“, in: RBZ Nr. 17/1928 vom 10.6. 24 Hierzu ein Bericht über Demonstrationen der Kommunisten und des Stahlhelms, in: „Das Gewissen der Republik“, in: RBZ Nr. 17/1928 vom 10.6.

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allein organisieren müssten, da das Reichsbanner fähige Leute außerhalb der Parteien binde und den Parteien so Geld entziehe. Drittens und letztens gäbe es schließlich die Gruppe der Erfolglosen, die das Reichsbanner für eigene Fehler und Misserfolge verantwortlich machen würden. Hörsing entgegnet diesen Kritikern, dass eine Organisation unsinnig sei, die zwar schützen, aber nicht für sich werben dürfe. Die republikanischen Parteien würden nicht alle Teile des Volkes erreichen, während das Reichsbanner insbesondere die größtenteils unpolitische Jugend anziehe. Ferner würde eine reine SPD-Parteitruppe schnell als „rote Hundertschaft“ oder „rote Armee“ verschrien sein, was ihre Wirksamkeit drastisch reduzieren müsse. Die DDP und das Zentrum hingegen seien kaum in der Lage, eigene Schutzverbände aufzustellen und würden so unweigerlich nach rechts abgedrängt werden. Die Folge wäre ein geschlossener Bürgerblock, welcher der Arbeiterschaft unversöhnlich gegenüberstünde und eine große Bürgerkriegsgefahr bedeute. Insgesamt habe das Reichsbanner während des Wahlkampfes zu starke Rücksicht auf die Kritiker genommen, was zu einem gemischten Wahlausgang geführt habe. Hörsing rechnet vor, dass in Regionen, wo das Reichsbanner Hand in Hand mit den Parteien gearbeitet habe, große Erfolge für die SPD erzielt werden konnten und die DDP nur wenig verloren oder leicht zugelegt habe. In Gauen, wo das Reichsbanner jedoch völlig ausgeschaltet worden und auf reine Saalschutztätigkeiten beschränkt war, konnten die Kommunisten stark gewinnen, die SPD nur wenig dazu holen und die DDP stark verlieren. Dies sei in den sächsischen und hessischen Gauen sowie in Berlin passiert. Die generelle Lehre Hörsings aus dem Wahlkampf war, dass von radikalen Phrasen immer nur die allerradikalsten Parteien profitieren würden, während eine staatsbejahende Propaganda das Reichsbanner und die republikanischen Parteien gleichermaßen stärke. Es müsse daher damit aufgehört werden, dass Reichsbannermitglieder innerhalb ihrer Parteien als Mitglieder zweiter Klasse behandelt würden. Es ginge auch nicht an, dass das Reichsbanner zu allen manchmal bedenklichen Entwicklungen innerhalb der Parteien schweigen solle. Dies gelte für die DDP und das Zentrum, wo einflussreiche Leute nach rechts schielen würden, als auch für die SPD, die nach links schiele. Die DDP und das Zentrum müssten endlich ihre jungen Leute verstärkt ins Reichsbanner schicken, da man von den jungen SPD-Anhängern im Reichsbanner nicht immer erwarten könne, dass diese für alle republikanischen Parteien die Kleinarbeit leisten würden. Abschließend rief Hörsing alle Republikaner dazu auf, ihren Zwist zu begraben und an die gemeinsame Arbeit zu gehen. Das Ziel müsse weiterhin die Wiederherstellung der Weimarer Koalition sein.25 Zivilkulturelle Aspekte des Republikschutzes Die Wahlkampfarbeit des Reichsbanners konnte somit zwar durchaus Erfolge vorweisen, aber sie unterlag auch klaren Grenzen, die sich vor allem aus dem 25 Vgl. „Reichsbanner und Parteien. Nachwort zu den Wahlen” von Otto Hörsing, in: RBZ Nr. 19/1928 vom 24.6.

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Verhältnis des Reichsbanners zu den republikanischen Parteien ergaben. Im Falle anderer Aspekte des Republikschutzes war es hingegen der Widerstand der reaktionären Kreise, welcher die Grenzen der Arbeit des Reichsbanners absteckte. Diese Arbeit wurde kaum behindert, solange sie sich auf einer publizistischen Ebene bewegte. Die Reichsbannerpublizistik und insbesondere die RBZ informierten kontinuierlich jeden über republikfeindlichen Bestrebungen, der es lesen wollte. Bereits mit der ersten Nummer der RBZ wurde eine Rubrik begründet, die allein der Berichterstattung über die Aktivitäten der antirepublikanischen Wehrverbände gewidmet war und später den Namen Reichsbanner-Beobachter tragen sollte. Dort wurde ausführlich über Ideologie, Versammlungstätigkeit, Mitgliederstärke und alle weiteren Aspekte der republikfeindlichen Wehrverbände berichtet. Allein in der ersten Ausgabe dieser Rubrik finden sich informative Überblicke zu zahlreichen Rechtsverbänden, wie die Organisation C, den Stahlhelm, die „Hitlergarden“ und den Totenkopfbund. Schließlich wurden alle Mitglieder und insbesondere die Ortsgruppen dazu aufgerufen, die betreffenden Verbände inklusive der kommunistischen Kampforganisationen zu beobachten und die RBZRedaktion von allen republikfeindlichen Bestrebungen in Kenntnis zu setzen, sodass die Kontinuität der Berichterstattung gewährt werden könne.26 Die durchaus gängige Behauptung, dass niemand die Gefährlichkeit insbesondere der Nationalsozialisten hätte ahnen geschweige denn feststellen können, wird somit durch den simplen Hinweis auf die RBZ widerlegt. Jeder Interessierte hätte sich durch eine regelmäßige Lektüre allein dieser Zeitung ein recht klares und detailliertes Bild über den Weimarer Rechts- und Linksradikalismus machen können. Auch über antisemitische Vorkommnisse und Gewalttaten berichtete die RBZ wiederholt. So etwa im Falle von antisemitischen Ausschreitungen von Mitgliedern des Totenkopfbundes in Breslau, die „jüdisch aussehende“ Personen auf der Straße angegriffen hatten oder der Fall eines jüdischen Sportlers, dem nach einem gewonnenen Leichtathletikturnier der Hauptpreis, ein Bild des Kronprinzen samt eigenhändiger Unterschrift, verweigert wurde. Auch über antisemitische Äußerungen führender Rechtsradikaler wurde berichtet, so im Falle des Ex-Generals Mackensen, der auf einer Feier zum Geburtstag Hindenburgs die antisemitische Dolchstoßlüge öffentlich vertreten hatte.27 Ein weiteres häufiges Thema des Reichsbanner-Beobachters waren Beleidigungen oder andere Angriffe auf die republikanischen Reichsfarben.28 So berich26 Vgl. „Die Sturmhaufen gegen die Republik“ und weitere Artikel, in: RBZ Nr. 1/1924 vom 15.4. 27 Vgl. „Reichsbanner-Beobachter“, in: RBZ Nr. 2/1927 vom 15.2. u. RBZ Nr. 20/1927 vom 15.10. 28 Dass es umgekehrt auch zu einer Verächtlichmachung der alten Reichsfarben durch RBMitglieder gekommen ist, sei angemerkt. Meist erschöpfte sich dies in Schmähworten und führte nicht zu einer physischen Vernichtung des verhassten Symbols (also Verbrennen, Beschmutzen etc.). Solche Anschuldigungen sind zwar in der Rechtspresse zu finden, aber konnten soweit hier bekannt in keinem Fall amtlich bestätigt werden (vgl. Schreiben de RKO an prIM vom 23.12.25, in: BArch R1507/3066, Bl. 6, wo ein entsprechender Ermittlungsbericht als Antwort auf eine Anschuldigung in der DZ vom 9.10.25 dargestellt ist).

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tete der Braunschweiger Gauführer Gerhard von Frankenberg (SPD) über einen Vorfall, den er im Urlaub erlebt hatte. Während eines Strandaufenthaltes hatte Frankenberg eine schwarz-rot-goldene Fahne an seinem Strandkorb aufgezogen, die von einem Passanten als „Judenfahne“ beschimpft wurde. Frankenberg stellte den Mann zur Rede und erfuhr so, dass es sich um einen ehemaligen Offizier, einen Major a. D. Karl Georg Vogler aus Berlin, handelte. Diesen zeigte er wegen Beleidigung der Reichsfarben an. Vor Gericht wurde Vogler aber mit der Begründung freigesprochen, dass „Judenfahne“ keine Beleidigung sei, schließlich stünden die jüdischen Staatsbürger der Republik sehr nahe und selbst der Verfassungsvater Hugo Preuß sei ein Jude gewesen, so die Begründung des Gerichts.29 In diesem Fall war der republikanische Eifer Frankenbergs sicher berechtigt. In anderen Fällen wirkte das Bemühen der Republikaner aber mitunter etwas fanatisch. So wurde in der Reichsbannerpresse wiederholt zum Boykott von Unternehmern aufgerufen, die antirepublikanische Einstellungen vertraten. Die entsprechenden Aufrufe lauteten: „Republikaner, kauft nur bei Republikanern!“ oder „Kauft nicht bei Nazis!“, wobei gleichzeitig über ähnliche Boykott-Aufrufe der Nationalsozialisten berichtet wurde, die sich gegen jüdische und republikanische Gewerbetreibende richteten.30 Auch im Falle der amtlichen Herausgabe von Briefmarken mit dem Bildnis von Friedrich II. wurde publizistisch mit einem regelrechten Feldzug gegen die Fridericus-Briefmarken reagiert. Das Ausland würde über die „deutschen Fürstenlecker“ lachen, so Walter Hösterey.31 Der Eifer der Republikaner insbesondere in Bezug auf die Reichsfarben ist nur zu verstehen, wenn die emotionale Aufladung dieses Symbols wie des Kampfes um die Republik insgesamt herausgestellt wird. Den rhetorisch stärksten Beitrag zur Bedeutung von Schwarz-Rot-Gold machte Joseph Wirth. Dessen Rede auf einer Versammlung des Stuttgarter Reichsbanners wurde sogar vom polizeilichen Berichterstatter als „rhetorisches Meisterstück“ gewürdigt. Hier Wirths Ausführungen über die Reichsfarben: Die Reichsfahne, die Fahne der deutschen Einheit und Freiheit. Sie symbolisiert den freien deutschen Volksstaat, den Traum unsrer Väter, die keine Fürstendiener, die niemands Knechte, auch niemandes Herren sein wollten. Sie symbolisiert das Land der europäischen 29 Vgl. „Die Reichsfarben vogelfrei? Ein unmögliches Urteil“ von Gerhard von Frankenberg, in: RBZ Nr. 6/ vom 9.2. Zudem „Achtung, Schwarz-Rot-Gold bedroht!“ von Lothar Persius, in: RBZ Nr. 20/1927 vom 15.10. Dort wird eine Personalentscheidung des Reichsinnenministers Keudell kritisiert, der den republikanisch eingestellten Flaggendezernenten Kaiserberg entlassen hatte. 30 Vgl. hierzu ein diese Praktik kritisierender Polizeibericht aus Bremen (Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 17.6.25, in: BArch R1507/3065, Bl. 136) sowie beispielhafte Anzeigen in der RBZ Nr. 24/1931 und ein Bericht über den NS-Wirtschaftsboykott in IRZ Nr. 2/1932. Zudem wurde in der RBZ alljährlich dazu aufgerufen, nur bei republikanischen Hotelbesitzern Urlaub zu machen, wobei dementsprechende Listen von akzeptablen Angeboten enthalten sind (siehe u.a. RBZ Nr. 24/1931). Dies ist ein Spiegelbild des sog. BäderAntisemitismus der Rechtskreise, der sich gegen jüdische Badegäste richtete (siehe Bajohr 2003). 31 Vgl. „Schach dem König! 2x5=10! Zum Kampf gegen die Fridericus-Legende“ von Walter Hammer [d.i. Hösterey], in: RBZ Nr. 10/1927 vom 15.5.

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Mitte, dass ein Land des Friedens, ein Land der Arbeit an hohem edlem Menschenwerk und der natürlichen Menschenrechte sein soll. Sie verkörpert den großdeutschen Gedanken, der nur eine selbstverständliche Folge des allen anderen europäischen Völkern gewährten Selbstbestimmungsrechtes ist. Sie umschliesst das Bekenntnis zur demokratischen Republik als den Rahmen, innerhalb dessen sich die deutsche Einheit neugestalten soll, in dem es keine rechtlosen Untertanen, keine offene und versteckte Hörigkeit, keine Klassenjustiz, keine politischen Vorrechte der Geburt und des Besitzes, keine Kastenansprüche mehr geben soll. Sie symbolisiert den Staat, in dem freie Bürger zum vernünftigen Gebrauch ihrer demokratischen Grundrechte erzogen werden sollen, um dem Mehrheitswillen Richtung, den Minderheiten Schutz vor Vergewaltigung und Diktaturgelüsten zu geben. Sie symbolisiert den Willen zum sozialen Ausgleich und sozialen Frieden, der mit dem bösen Wort vom inneren Feind aufräumt. Sie begeistert den Willen, mit allen Mitteln der Gesetzgebung, des Glaubens und der Sitte die Ausbeutung des Menschen durch die Menschen zu verhüten, die Mühseligen und Beladenen mit Hoffnung zu erfüllen, den sozialpolitischen Apparat so wirksam wie nur möglich zu machen und ihm den Charakter einer Almosenverteilungsbürokratie zu nehmen, dem Talent freie Bahn zu schaffen und im Produktionsprozess die Arbeit zu adeln. Sie symbolisiert endlich den Willen zur Überparteilichkeit bei denen, die den freien demokratischen Volksstaat freudig bejahen, den Willen zur Toleranz in Sachen des Glaubens, des Gewissens, der Erziehung.32

Wirth sprach weiter über das Verhältnis der bürgerlichen Parteien zur SPD und forderte vom Zentrum und der DVP, dass diese auf die Große Koalition hinarbeiten sollen. Es sei ein christliches Gebot, dass der Staat die Wirtschaft beherrsche und nicht umgekehrt. Russland sei ein warnendes Beispiel dafür, dass nur in der Republik diese Forderung umgesetzt werden könne. Auch die Interessen der Kirche seien in der Republik am besten gewahrt, wobei die Republik ihrerseits die Freiheit der religiösen Erziehung ermöglichen müsse. Laut der Polizei wurde Wirths Rede in der Stuttgarter Presse intensiv besprochen.33 Solche öffentlichen Kundgebungen und Versammlungen waren ein wichtiges Mittel zur Verbreitung republikanischer Gedanken nicht nur unter den eigenen Mitgliedern, sondern in breiteren Bevölkerungskreisen. Allgemein ist festzustellen, dass solche Auftritte von prominenten Politikern wie Wirth, Aktivisten wie Berthold von Deimling oder Publizisten wie Hermann Schützinger und Emil Gumbel das größte Medienecho erzielten und auch bei der eigenen Anhängerschaft am beliebtesten waren.34 Ein weiterer Aspekt der republikanischen Öffentlichkeitsarbeit waren öffentliche Eingaben und Interpellationen. So wurden in einer eigens ausgearbeiteten Denkschrift des Reichsbanners die mangelnden Fortschritte bei der Republikani32 Nachrichten des Polizeipräsidiums Stuttgart vom 29.12.25, in: THStA, P 270, Bl. 279. Dort ein Bericht über die gemeinsame Veranstaltung des Reichsbanners und des RRB in Stuttgart am 18.12.25 im Dinkelackersaal sowie die zitierte Wertung des Berichterstatters. 33 Vgl. Nachrichten des Polizeipräsidiums Stuttgart vom 29.12.25, in: THStA, P 270, Bl. 278ff. Die sozialdemokratische Schwäbische Tagwacht stimmte ihm zu und unterstrich die Kritik Wirths am Zentrum. Das Zentrumsorgan Deutsches Volksblatt unterstützte Wirths Ausführungen ebenfalls, wies aber darauf hin, dass er mit Kritik an der SPD auffällig gespart habe, was bei vergangenen Reden noch anders gewesen sei. 34 Weitere Berichte über Veranstaltungen mit Deimling, Schützinger und Gumbel, in: THStA, P 521 sowie P 257.

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sierung der preußischen Verwaltung aufgearbeitet. Im Falle Preußens konnte sich der Bund demnach wenigstens auf die öffentliche Unterstützung der Landesregierung verlassen. Otto Braun empfing eigens eine Delegation des Reichsbanners, die aus Vertretern der drei republikanischen Parteien bestand. Braun dankte für die Überreichung der Denkschrift und versicherte, dass er dieses Anliegen vollständig teile. Kurz darauf wurde die Denkschrift den Fraktionsvorsitzenden der republikanischen Parteien im preußischen Landtag zuteil. Inhaltlich wurden in der Denkschrift vor allem den Ministern Versäumnisse bei der Republikanisierung vorgehalten. Insbesondere die Personalpolitik im Justizbereich wurde kritisiert, da im Vergleich mit 1918 kaum personelle Änderungen zu verzeichnen seien. Nach wie vor sei das Oberverwaltungsgericht mit reaktionären Richtern besetzt, die schlimmstenfalls eines Tages die Beschlüsse des Innenministers einfach für ungültig erklären könnten. Weder in der Personalabteilung der betreffenden Ministerien noch in der obersten Richterschaft sei ein einziger überzeugter Republikaner vertreten. Vielmehr stünden zahlreiche Richter in offener Feindschaft zur Republik. Daher müsse der preußische Justizminister künftig alle freiwerdenden Stellen mit Republikanern besetzten. So müssten in nächster Zeit die Stellen des Staatssekretärs im Justizministerium, die des Amtsgerichtspräsidenten in Berlin-Mitte und die des Generalstaatsanwaltes in Berlin neu besetzt werden. Die Gefahr einer nach außen „neutralen“ und „unpolitischen“, in Wahrheit aber antirepublikanischen Richterschaft wurde somit in der Denkschrift klar benannt.35 Fall Hörsing I: Kritik an der DNVP und Grzesinski Die Öffentlichkeitsarbeit des Reichsbanners war somit durchaus vielseitig und nicht nur auf interne oder passive Maßnahmen beschränkt. Mit der Zeit waren die Republikaner selbstbewusster geworden und auch bereit, ihre politische Haltung öffentlich zu vertreten. Dieses neue Selbstbewusstsein traf jedoch wiederum auf starken Widerstand und dies nicht nur in reaktionären, sondern auch in republikanischen Kreisen. Insbesondere der Bundesvorsitzende Hörsing fiel regelmäßig durch seine öffentlichen Auslassungen auf und war spätestens nach der Gründung des Reichsbanners eine gesetzte Größe in der Berichterstattung der Antirepublikaner. Speziell die Karikaturisten konzentrierten sich auf Hörsing, der mit seiner kurzen und kräftigen Statur ein willkommenes Ziel bot. Gleichzeitig belegt dies den großen Bekanntheitsgrad Hörsings. Ein weniger bekannter Vorsitzender des Reichsbanners wäre wohl kaum so gern karikiert worden. Von Karl Höltermann beispielsweise, dem zweiten und ab 1932 ersten Vorsitzenden, sind nur vereinzelte Karikaturen überliefert. Hörsing hingegen war eine stete Zielscheibe sowohl 35 Vgl. „Republikaner in die Verwaltung! Eine Forderung des Reichsbanners an Preußen“, in: FZ Nr. 360/1927 vom 16.5. u. „Gegen reaktionäre Bürokratie“, in: RBZ Nr. 4/1927 vom 1.6. Der allgemeine Zustand des Justizsystems wurde bereits vor der Gründung des Reichsbanners von republikanischer Seite beklagt (siehe Kuttner 1921 sowie Gumbel 1922 u. Gumbel, Denkschrift 1924).

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der rechtsradikalen wie der kommunistischen Presse und ihrer Karikaturisten, die keinen Körperwitz über Hörsing ausließen.36 Das rechtsradikale Blatt Der deutsche Vorwärts druckte sogar einen Schmähartikel über Hörsing unkommentiert ab, der in der kommunistischen Niedersächsischen Arbeiterzeitung erschienen war. Inhalt des Artikels war die vermeintliche Gewalttätigkeit und Alkoholsucht Hörsings.37 Solche Unterstellungen waren in der KPD-Presse regelmäßig zu finden. So wurde Hörsing auf einer Karikatur in der Roten Fahne mit einer geschwollenen Nase dargestellt.38 Eine Beleidigungsklage, die von Hörsing bei einer früheren Gelegenheit angestrengt wurde, hatte offensichtlich trotz der Verurteilung des betreffenden KPD-Redakteurs keinen mäßigenden Effekt.39 Laut dem Juristen und Reichsbanneraktivisten Fred Uhlmann war die Unterstellung einer Alkoholsucht eine standardmäßige Verleumdung in der kommunistischen Presse, frei nach dem Motto: „Etwas Dreck bleibt immer haften“.40 Die RBZ berichtete empört über die Angriffe auf Hörsing und druckte Anti-Hörsing Karikaturen ab, um die moralische Niedertracht des Gegners zu veranschaulichen. So wurde eine in der Zeitung des Stahlhelms erschiene Karikatur gezeigt, die einen dicklichen Hörsing darstellt, wie er einen von Reichsbannermännern ausgeführten Mord zufrieden beobachtet.41 Hörsing war angesichts solcher Angriffe auf die Unterstützung der republikanischen Parteien und Organisationen verstärkt angewiesen. Während sein Rückhalt im Reichsbanner sehr groß war, konnte sich Hörsing auf die Unterstützung seiner unmittelbaren Vorgesetzten hingegen nicht voll verlassen. Seine Äußerungen über die Regierung Luther hatten ihm bereits 1925 eine öffentliche Rüge von Seiten des preußischen Ministerpräsident Otto Braun und dessen Innenminister Severing eingebracht. Die preußische Regierung war nicht bereit, die Angriffe auf die (potentielle) Koalitionspartei DVP zu ignorieren.42 Im Juli 1927, zur Zeit der zweiten Amtsperiode des Kanzlers Marx, führte eine weitere Äußerung Hörsings zu einem schweren Konflikt zwischen ihm und der preußischen Regierung. Hörsing hatte sich im Rahmen einer Reichsbannerveranstaltung über die Unruhen in Wien geäußert, wo nach einem tendenziösen Urteil der Justizpalast von einer aufgebrachten Menge in Brand gesetzt wurde. Hörsing sah diese Tat als Teil des Kampfes der österreichischen Republikaner gegen die dortige Reaktion an und unterstrich in seiner Funktion als Reichsbannervorsitzen36 Am bekanntesten der Artikel „Das sozialistische „Tönnchen““, in: DTZ Nr. 30/1925 vom 19.1. Als Beispiel einer Karikatur: AfSG, Albert Grzesinski Papers, Nr. 73, wo der Rücktritt Hörsings thematisiert wird. Dieser sei aufgrund seines Körperumfangs von Braun und Grzesinski „untragbar“ geworden. 37 Siehe „Der Vater des Nollet-Banners. Otto Hörsing“, in: Der deutsche Vorwärts Nr. 36/1924 vom 2.11. 38 Siehe „Hörsing abgesägt!“, in: Rote Fahne Nr. 232/1931 vom 18.12. 39 Hierzu eine Materialsammlung, in: BArch NS26/800 u. 800a. 40 Siehe Uhlmann 1998, S. 160f. 41 Siehe RBZ Nr. 3/1931 vom 17.1. 42 Hörsing hatte 1925 insbesondere den Außenminister Stresemann scharf kritisiert (siehe oben). Die Große Koalition endete in Preußen im Februar 1925. Es folgte ein kurzer Versuch, eine Weimarer Koalition unter der Führung von Wilhelm Marx zu etablieren, der nach wenigen Wochen von Otto Braun abgelöst wurde.

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der, dass im Falle weiterer Kämpfe die Österreicher auf die tatkräftige Unterstützung von Millionen deutschen Republikanern zählen könnten.43 Die preußische Regierung hielt eine solche Stellungnahme von ihrem Beamten – Hörsing war nach wie vor Oberpräsident der preußischen Provinz Sachsen – für nicht akzeptabel und drängte Hörsing zum Rücktritt, der im Juli 1927 vollzogen wurde.44 Sicher ist dieser Vorfall nicht isoliert zu betrachten, sondern steht in einer Kette von kontroversen Äußerungen Hörsings, die in ihrer Gesamtheit schließlich zum erzwungenen Rücktritt führten, der auch von dem neuen preußischen Innenminister Albert Grzesinski (SPD) mitgetragen wurde.45 Auf einer Veranstaltung des Reichsbanners in Königsberg im Mai 1927 hatte Hörsing dem amtierenden Reichsjustizminister des Bürgerblocks Oskar Hergt (DNVP) „dummes Geschwätz“ vorgeworfen und die Ehrlichkeit des Amtseides der DNVP-Minister angezweifelt.46 Der Reichskanzler Marx hatte daraufhin Otto Braun gedrängt wegen einer Beleidigung von Reichsministern disziplinarische Schritte gegen Hörsing einzuleiten.47 Anlass für Hörsings Kritik an Hergt war dessen Rede in Beuthen, wo er Polen recht direkt mit einem Revanchekrieg gedroht hatte. In einem Schreiben Hörsings an die preußische Regierung verteidigte er sich daher gegen die tendenziöse Wiedergabe seiner Rede in der Rechtspresse. Er habe vor allem diejenigen Teile von Hergts Rede kritisiert, die das außenpolitische Interesse Deutschlands geschädigt hätten und damit die Reichsregierung eben nicht angegriffen, sondern lediglich jene Minister und Beamten, die an der betreffenden

43 Hörsings „Wiener Aufruf“ in: BArch R43I/767, Bl. 159ff. Weiteres Material zur Berichterstattung über Hörsings Äußerungen zu den Wiener Unruhen und seinen Rücktritt in: BArch R1501/125668j, Bl. 77ff. 44 Das Rücktrittsgesuch Hörsings findet sich in: AfSG, Albert Grzesinski Papers, Nr. 73 (Brief Hörsings an Grz. vom 21.7.27), auch in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 22, Bl. 5f. Ein amtlicher Vermerk über die Absetzung Hörsings findet sich in: AfSG, Albert Grzesinski Papers, Nr. 265. Zu den Vorgängen bereits knapp: Rohe 1966, S. 379f. 45 In diesem Zusammenhang ist ein herzliches Schreiben von Severing interessant, der 1926 vorwiegend aus gesundheitlichen Gründen sein Amt an Grzesinski abgetreten hatte (zum Rücktritt siehe Alexander 1992, S. 148ff.). Darin versicherte Severing Hörsing seine Freundschaft, die von seiner Seite durch die amtlichen Auseinandersetzungen nicht getrübt worden sei. Auch wenn Hörsings Temperament Severing oft Probleme bereitet habe, sei er vollkommen von den guten Absichten Hörsings überzeugt gewesen, der ihm „in Deutschlands schwersten Tagen ein guter Waffengefährte“ gewesen sei. Severing hoffte, dass Hörsings seinerseits nicht nachtragend sei und die vergangenen Konflikte als erledigt betrachte (vgl. Schreiben Severings an Hörsing vom 14.10.26, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19). Hierzu passt auch Severings herzliches Genesungsschreiben an Hörsing vom 26.7.24, in: Ebd. Dagegen Severings kritische Bemerkungen zu Hörsing in dessen Erinnerungen, wo Hörsing als „Schreckenskind der preußischen Verwaltung“ bezeichnet wird (siehe Severing, Republik 1950, S. 93ff.). Eine ähnliche Freundschaft zwischen Hörsing und Grzesinski ist nicht dokumentiert, was mit entsprechenden Folgen für die amtlichen Auseinandersetzungen verbunden war. 46 Vgl. „Hörsing beschimpft die Reichsregierung“, in: Der Tag Nr. 117/1927 vom 17.5. 47 Siehe BArch R43I/767, Bl. 115ff. u. 129f. sowie Schreiben Marx’ an Grzesinski vom 19.6.7, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 22.

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Stahlhelmtagung in Beuthen teilnahmen.48 Bei späteren Reden nahm Hörsing seine Angriffe aber nicht zurück, sondern verschärfte seine Kritik an Hergt noch, was dieser zum Anlass für weitere disziplinarische Forderungen an den Kanzler nahm. So hatte Hörsing Hergt als „einen der größten Schädlinge des Deutschen Volkes“ bezeichnet.49 Auch Wirth wurde innerhalb des Zentrums, insbesondere von Marx, scharf für seine Beteiligung an der betreffenden Reichsbannerversammlung in Königsberg kritisiert.50 Innerhalb des Reichsbanners fanden Hörsing und Wirth aber Rückhalt.51 So sprach etwa eine Mitgliederversammlung des Bremer Reichsbanners am 2. August 1927 Hörsing ihre Unterstützung aus, der aufgrund eines langen und schmutzigen Kampfes gegen seine Person zum Rücktritt von seinem Posten als Oberpräsident gezwungen worden sei und nicht wegen der aktuellen Äußerungen.52 Der Vorgang sollte das Verhältnis von Hörsing zu Braun sowie Grzesinski jedoch schwer beschädigen und langfristig gesehen Hörsings Stellung innerhalb der SPD und selbst dem Reichsbanner untergraben.53 In einem persönlich gehaltenen Schreiben an Braun versuchte Hörsing, sich nach seinem Rücktritt gegenüber den Anschuldigungen zu verteidigen. Er tat dies aber nicht auf eine diplomatische, sondern auf eine konfrontative Weise, da sich Hörsing von der jetzt Grzesinski unterstehenden Ministerialbürokratie hintergangen fühlte. So habe diese Ministerialbürokratie bereits unter Severing gegen ihn gearbeitet, wie Hörsing ausführte. Insbesondere der Staatssekretär Friedrich Meister (DVP) habe ihn mit den „unsinnigsten Erlassen schikaniert, politisch lächerlich, ja unmöglich zu machen versucht“. Von Grzesinskis Amtsantritt habe Hörsing sich aber eine Besserung erwartet, da er eine hohe Meinung vom neuen Staatssekretär Wilhelm Abegg (DDP, später DStP) habe. Doch in der Praxis habe sich für Hörsing nichts verändert, da weiterhin in entscheidenden mittleren Stellen Beamte mit deutschnationaler Gesinnung sitzen würden. Die Ober- bzw. Gehei48 Vgl. Antwortschreiben Hörsings an die preußische Regierung, ohne Datum, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 22, Bl. 3. 49 Vgl. BArch R43I/767, Bl. 138ff. u. 158. 50 Siehe Hörster-Philipps 1998, S. 337f. sowie mehrere Artikel hierzu von Wirth in: DR Nr. 30/1927, Nr. 32/1927 u. Nr. 41/1927. 51 Hierzu auch ein verteidigender, polemischer Artikel von Höltermann: „Hergt-Keudell oder Hörsing-Wirth? Deutschnationale Kampfgelüste?“ von Karl Höltermann, in: RBZ Nr. 11/1927 vom 1.6. Der Konflikt schwelte noch einige Monate weiter. In der RBZ wurde Keudell Ende des Jahres für ein freundliches Telegramm an die völkische Studentenschaft angegriffen, welches Marx ironischerweise mit derselben Begründung verteidigte, die Hörsing nicht zugestanden worden war. Keudell habe schließlich nur eine private Meinungsäußerung getätigt und nicht als Minister gehandelt, so die Zusammenfassung der Position von Marx (vgl. „Hörsing-Keudell“, in: RBZ Nr. 24/1927 vom 15.12.). 52 Vgl. Nachrichten der Polizeidirektion Bremen vom 15.8.27, in: THStA, P 285, Bl. 169ff. 53 Zum Konflikt mit Marx, der keineswegs das Ende des Engagements von Zentrumsmitgliedern im Reichsbanner bedeutete bereits Rohe 1966 u. Hitze 2002, S. 782ff. sowie aus den Quellen: „Wir bleiben“ von Joseph Wirth, in: RBZ Nr. 17/1927 vom 1.9., Schreiben Hörsings an Marx vom 11.10.26, in: AfSG, Otto Braun Papers, Nr. 417, Schreiben von Wirth an Hörsing vom 1.8.27, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19 sowie „Zentrum und Reichsbanner“ u. „Ergebnis der Berliner Besprechung“, beide in: Germania Nr. 346/1927 vom 28.7. u. Nr. 347/1927 vom 29.7.

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men Regierungsräte im Innenministerium sowie einige hohe Polizeioffiziere seien „echt national“ eingestellt und es sei daher für Hörsing nicht verwunderlich gewesen, dass die Ministerialbürokratie gegen ihn gearbeitet habe. Hörsing führt als Beleg für diese Auffassung mehrere Beispiele aus seinem Amtsalltag auf. So sei der deutschnational eingestellte Polizeimajor Scharfe, der Hörsing als Sympathisant des Stahlhelms bekannt war, in Halle trotz einer disziplinarischen Strafe vom ebenfalls rechtsstehenden Polizeikommandeur in Halle befördert worden. Vom Polizeipräsident Oexle und Regierungspräsident Walther Grützner (SPD) war diese Beförderung ohne ausreichende Kenntnis des Falles akzeptiert worden. Hörsing habe dem widersprochen, was von den Verantwortlichen jedoch dadurch umgangen wurde, dass Scharfe mit einem höheren Rang nach Berlin versetzt wurde. Überzeugt republikanisch eingestellte Polizeioffiziere (Hörsing nennt ein DDP- und ein SPD-Mitglied als Beispiele) seien hingegen übergangen worden, obwohl sie dienstälter gewesen seien und an ihrer Verfassungstreue nicht gezweifelt werden könne. Gleichzeitig sei der Berliner Kriminalkommissar Busdorf, der Hörsing beim Fall Kölling-Haas stark unterstützt hatte, kaltgestellt worden. Hörsing sah im Fall Busdorf aber nicht den einzigen Schlag der lokalen Polizeiverwaltung gegen sich. In einem weiteren Fall habe die Magdeburger Polizei einen ihrer Offiziere nicht förmlich bestraft, obwohl dieser zugegeben hatte, der rechtsradikalen Berliner Börsenzeitung Material für einen Schmähartikel über Hörsing bereitgestellt zu haben. Selbst nach einer Intervention Hörsings bei den höchsten Vorgesetzten des betreffenden Polizeimajors Wehlmann sei keine Bestrafung erfolgt. Wehlmann habe sich hierdurch in seinem skandalösen Verhalten ermutigt gefühlt. Insgesamt stand für Hörsing fest, dass die Ministerialbürokratie des preußischen Innenministeriums eine gezielte Kampagne gegen ihn in seinem Amt als Oberpräsident fuhr und aus diesem Grund den Innenminister und die Staatsregierung gegen ihn aufgebracht habe. Der daraus resultierende Mangel an Rückhalt für Hörsings Arbeit habe schließlich dazu geführt, dass dieser bereits vor dem Skandal um seine Äußerungen über die Wiener Unruhen und seiner Königsberger Rede eine Amtsmüdigkeit und Bereitschaft zum Rücktritt entwickelt habe. Hörsing habe bereits Monate vorher anlässlich des Fall Kölling-Haas und Hörsings Artikel „Mein Justizskandal“54 seinen Rücktritt angeboten und allein das damalige Bitten Severings habe dazu geführt, dass er sein Amt weiter ausführte.55 Er, Hör54 Zum Fall Kölling-Haas siehe insbesondere: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 21. Darin eine Sammlung von Zeitungsartikeln zum Thema, inklusive Hörsings „Justizskandal“Artikel, der in der Magdeburger Volksstimme Nr. 185/1926 vom 11.8. erschien. Hörsing wurde für die Form des Artikels von Braun und Severing stark kritisiert, auch wenn sie ihm auf einer sachlichen Ebene Recht gaben. Ein politischer Beamter wie Hörsing müsse aber solche Fälle mit Ruhe und Mäßigung diskutieren können (vgl. Schreiben Brauns und Severings an Hörsing vom 5.10.26, in: FES, NL Carl Severing, 1/CSAB, Mappe 133, Bl. 48). Ausführlicher zur Verwicklung von Hörsing im Fall Kölling-Haas: Rosenblum 2015 u. mit einem Fokus auf das Verhalten jüdischer Organisationen Rosenblum 2013 sowie ferner Ingenthron 2000, S. 266ff. 55 Eine entsprechende Bitte Hörsings zur Disposition gestellt zu werden findet sich in einem Schreiben Hörsings an den damaligen Innenminister Severing vom 5.8.26, in: FES, NL Carl

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sing, könne nicht verstehen, warum die preußische Staatsregierung die Oberpräsidenten als ihre wichtigsten Stützen im Land nicht klarer unterstützt habe und sich von der Ministerialbürokratie täuschen lasse. Grzesinski bezeichnete Hörsings Ausführungen in einem Antwortbrief als falsch und er sei es, der nicht verstehen könne, wie Hörsing auf diese Weise glaube, zu einer Schlichtung des Konfliktes etwas beizutragen. Abschließend verweist Grzesinski darauf, dass Hörsings Brief negative Konsequenzen für ihn haben werde und er sich diesbezüglich an den Fraktionsvorsitzenden der SPD im preußischen Landtag Ernst Heilmann wende.56 In einem Brief Hörsings an Grzesinski vom November verteidigte Hörsing sich wiederum in klarer Sprache gegen die Kritik seines ehemaligen Vorgesetzten. Es sei zwecklos, wenn Grzesinski mit der politischen Kaltstellung Hörsings im preußischen Landtag drohe. Er, Hörsing, habe ohnehin keine Ambitionen mehr in diese Richtung. Was folgt, ist eine schwere Kritik von Grzesinskis Amtsführung. Grzesinski habe die Rechtskreise mit Hörsings Rücktritt beruhigen wollen, genauso wie er andere „Steine des Anstoßes“ zur Seite geschafft habe. Insbesondere im Bereich der Personalpolitik sei Grzesinski den Rechtskreisen so stark entgegengekommen, dass von einer republikanischen Personalpolitik nicht mehr die Rede sein könne. Hörsing beschreibt Grzesinskis Handeln auf diesem Feld als „überheblich“ und „schauderhaft“. Ohne jegliche Absprache mit den Oberpräsidenten habe dieser seine Entscheidungen getroffen und alte, bewährte Genossen durch „Novembergenossen“ ersetzt. Im ganzen Land habe dieses Vorgehen zu Verbitterung unter den Unterstützern der Regierung geführt, ohne letztlich irgendeine Seite zufrieden zu stellen. Hörsing warnt eindringlich davor, den „republikanischen Beamtenkörper“ endgültig zu zerschlagen und ruft Grzesinski zu einem entschiedenen Umlenken auf.57 Hörsings scharfe Worte betreffend Grzesinskis Personalpolitik waren nicht völlig aus der Luft gegriffen, auch wenn in der heutigen Literatur die Erfolge von Grzesinskis Personalpolitik herausgestrichen werden.58 Grzesinskis Erfolge waren Severing, 1/CSAB, Mappe 133, Bl. 47. Darin machte Hörsing ebenfalls eine Beschwerde über die Ministerialbürokratie, deren „nationalistisch“ eingestellte Beamte ihren Vorgesetzten Severing wohl mit Absicht über die Kölling-Haas Affäre falsch unterrichtet und Hörsing die Verantwortung für Unregelmäßigkeiten im Verfahrensablauf zugeschoben hätten (vgl. ebd.). 56 Vgl. AfSG, Albert Grzesinski Papers, Nr. 247 (Brief Hörsings an Otto Braun vom 28.10.27 u. Brief Grz. an Hörsing vom 2.11.27). Der zweite Brief auch in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 22, Bl. 21. 57 Vgl. AfSG, Albert Grzesinski Papers, Nr. 73 (Brief Hörsings an Grz. vom 15.11.27). Wie aus den handschriftlichen Markierungen Grzesinskis hervorgeht, war dieser anscheinend irritiert über Hörsings Äußerung, dass dieser auf eigenen Wunsch zurückgetreten sei. Dieses Schreiben mit den Anmerkungen Hörsings in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 22, Bl. 22. 58 Albrecht verweist auf die deutliche Steigerung des Anteils von Mitgliedern der republikanischen Parteien unter den politischen Beamten Preußens während der Amtszeit Grzesinskis, wohingegen er die Verdienste Severings niedriger bewertet (siehe Albrecht 1999, S. 210– 239). Was Hörsing an Grzesinskis Amtsführung aber kritisierte, wird gleichwohl auch von Albrechts Zahlen getragen, da selbst am Ende von Grzesinskis Amtszeit 1929 immer noch rund ein Drittel der höheren preußischen Ministerialbeamten der DNVP zugerechnet wurde, womit sie die größte Einzelgruppe weit vor den DDP-Anhängern bildeten (siehe ebd., S.

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aber eher relativer Natur und konnten einem Puristen wie Hörsing nicht genügen, der jegliche Zugeständnisse an den DVP- und DNVP-orientierten alten Beamtenapparat ablehnte. Ganz zu schweigen von den „November-Sozialisten“ wie Grützner, die trotz ihres SPD-Parteibuches keinerlei republikanische Gesinnung erkennen ließen, wie aus dem dargestellten Streit ersichtlich geworden sein sollte. Grützner, der aus Sicht Hörsings ungeeignet für seinen hohen Posten war, wurde folgerichtig mehrfach von Hörsing bei Amtsvorgängen übergangen.59 Grzesinski bat Hörsing dennoch trotz der Spannungen mit Grützner, mit diesem möglichst gedeihlich zusammenzuarbeiten und die öffentliche Kritik einzuschränken.60 Hörsing sollte in diesem Streit auch wegen dieser mangelhaften Unterstützung Grzesinskis unterliegen. Grzesinski erwirkte letztlich zwar eine Versetzung Grützners nach Berlin, wo er als Senatspräsident des Oberverwaltungsgerichts tätig wurde, was aber nicht wirklich eine Bestrafung darstellte. Pikanterweise war es Grützner, der mehrere Jahre später maßgeblich an Grzesinskis erzwungener Abdankung aufgrund von dessen privaten Verhältnissen beteiligt war.61 Grzesinski und die preußische Regierung vertraten somit den Standpunkt, dass Hörsing als privater Republikschützer mit seinen öffentlichen Äußerungen eine Politik „auf eigene Faust“ gemacht habe, was einem politischen Beamten wie ihm nicht zustehe. Eine Regierung, die nicht jegliche Autorität verlieren wolle, müsse dieses Verhalten streng ahnden. So die Begründung des staatlichen Republikschützers Grzesinskis, der hiermit Loyalität vor republikanischer Gesinnung gelten ließ, in einem Brief an Otto Landsberg, den er darum bat, die Stelle des Oberpräsidenten der Provinz Sachsen auszuüben.62 Landsberg lehnte jedoch das Amt ab, obwohl ihn Grzesinski weitere Male eindringlich darum bat.63 Anscheinend war es Severing, der Landsberg davon überzeugt hatte, das Amt nicht anzunehmen. Severing war offenbar der Meinung, dass die Regierung Braun Hörsing

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223). Hörsings Argument der „Novembergenossen“ wird von Albrecht ebenfalls nicht berücksichtigt, der Hörsing als „brambarbasierenden und selbstmitleidigen Besserwisser“ bezeichnet (vgl. ebd., S. 228f.). Ein republikanisches Parteibuch allein macht noch keine entschieden republikanische Gesinnung aus. Ganz zu schweigen von Männern wie Rudolf Diels, der schon unter Severing neu eingestellt wurde. Gleichwohl machte sich Grzesinski trotz all dieser Differenzen in seinem späteren Amt als Berliner Polizeipräsident recht verdient um den Schutz der Republik, was wir unten aufgreifen werden. Siehe AfSG, Albert Grzesinski Papers, Nr. 247 (Briefe von Grz. an Hörsing und Grützner, jeweils vom 23.5.27). Dieser Brief auch in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19. Vgl. AfSG, Albert Grzesinski Papers, Nr. 247 (Briefe von Grz. an Hörsing und Grützner, jeweils vom 23.5.27). Hierzu Grzesinski 2009, S. 217f. Grzesinski rechtfertigte sich in seinen Erinnerungen für die von ihm betriebene Personalpolitik und sieht diese insgesamt als Erfolg an, da es gelungen sei den Einfluss des preußischen Adels insbesondere in der Polizeiverwaltung zurückzudrängen (siehe ebd., S. 202ff.). Albrecht schildert Grzesinskis Sturz und Grützners Verwicklungen hierin, aber sieht den Zusammenhang mit Hörsings Rücktritt nicht (siehe Albrecht 1999, S. 228f. u. 281ff.). Vgl. AfSG, Albert Grzesinski Papers, Nr. 265 (Brief Grz. an Otto Landsberg vom 23.7.27). Siehe AfSG, Albert Grzesinski Papers, Nr. 265 (Briefe Grz. an Landsberg vom 27.7.27 u. 1.8.27).

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aus dem Amt gedrängt habe, welches dadurch vorbelastet sei. Severing vertrat hingegen auch gegenüber Braun und Grzesinski die Auffassung, dass sie Hörsing nicht wegen Hergt hätten fallen lassen dürfen und auch auf die Befindlichkeiten des Reichspräsidenten Hindenburg weniger Rücksicht hätten nehmen sollen.64 Severing war zwar selbst die Nachfolge Hörsings angetragen worden, aber er hatte dies ebenfalls abgelehnt, da er dieses Angebot offenbar als Versuch seiner politischen Kaltstellung verstand.65 Es ist also klar, dass Hörsings Äußerungen über die Wiener Unruhen eher der Anlass als der Grund für seinen erzwungenen Rücktritt waren, da er in seinem Engagement zum Schutz der Republik die Grenzen zwischen seinem Amt und seinem Handeln als Privatperson bzw. Reichsbannervorsitzenden wenn nicht überschritt, so doch mindestens verwischte.66 In der republikanischen Zivilgesellschaft fand Hörsing mehr Rückhalt als in der preußischen Regierung. So erhielt er anlässlich seines Rücktritts zahlreiche Zuschriften befreundeter Republikaner, die ihn für seine Verdienste um die Republik dankten.67 Schon im Konflikt mit Grützner bekam Hörsing Rückendeckung vom Vorstand des Republikanischen Richterbundes. In einem entsprechenden Schreiben des RR heißt es, dass Hörsing als „Mann der republikanischen Realpolitik“ die Achtung jeder Reichsregierung verdiene und die administrativen Schritte gegen ihn sehr bedenklich seien. Es bliebe zu hoffen, dass es Hörsing und der preußischen Regierung gelänge, eine „Bresche in dieses unheilvolle System zu schlagen“ und die Verwaltung weiter zu demokratisieren.68 Auch der ehemalige preußische Innenminister Wolfgang Heine dankte Hörsing nach dessen Rücktritt und hob hervor, dass er sich durch die Gründung des Reichsbanners als „echter Staatsmann“ bewiesen habe. Sein Rücktritt sei ein Verlust für die Republik und insbesondere für die Stellung der Republikaner in Preußen, so Heine.69 Auch in der Presse wurde Hörsings Rücktritt bedauernd aufgenommen. So im Magdeburger Jüdischen Wochenblatt, wo Hörsing geradezu hymnisch gelobt wurde. Hörsing habe die „unüberwindliche Millionengarde der Republik“ geschaffen und erst vor einem Jahr habe „der Schmied von Magdeburg“ mit seinem „Eisenhammer die Lüge niedergeschlagen“, was eine Anspielung auf den Fall Kölling-Haas ist.70

64 Vgl. Schreiben von Gustav Krüger an Hörsing vom 11.8.27, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 22, Bl. 8. 65 Siehe Alexander 1992, S. 158f. 66 Albrecht deutet richtigerweise auf die Schwierigkeit von Hörsings Position hin, dem es nicht gelang, gleichzeitig ein loyaler Staatsbeamter und kontrollierender Abgeordneter zu sein (siehe Albrecht 1999, S. 229). Das Amt des sächsischen Oberpräsidenten nahm durch das undiplomatische Verhalten Hörsings und Grzesinskis nachhaltigen Schaden. Hörsings Nachfolger Waentig lief bereits 1931 zur NSDAP über. Auch Grützner wechselte 1931 zur NSDAP. 67 Siehe FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 23. 68 Vgl. Schreiben des RR-Vorstandes an Hörsing vom 30.5.27, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19. 69 Vgl. BArch N2111/218, Bl. 64f., Schreiben Heines an Hörsing vom 25.7.27, auch in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 23. 70 Vgl. Jüdisches Wochenblatt für Magdeburg und Umgebung Nr. 35/1927 vom 12.8.

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Wehrhafte Demokraten (1924–1928)

Reichsbanner und Republikanische Beschwerdestelle Hörsing war allerdings nicht der Einzige, der die Personalsituation im Freistaat Preußen aus einer republikanischen Perspektive kritisierte und die Verantwortung hierfür bei der Landesregierung suchte. Ebenfalls im Jahr 1927 übersandte die Potsdamer Ortsgruppe des Reichsbanners eine mehrseitige Denkschrift an den Innenminister Grzesinski, in welcher zahlreiche Verstöße von Amtsträgern gegen die Verfassung aufgelistet und andere Mängel benannt wurden. So würde die Potsdamer Regierung und Beamtenschaft offen ihre monarchistische, antirepublikanische Gesinnung demonstrieren. Abgesehen von wenigen Ausnahmen seien sämtliche hohen Verwaltungsstellen mit Adeligen oder Monarchisten besetzt, während junger, republikanischer Nachwuchs in Potsdam keine Chance habe aufzusteigen. Die mittlere Beamtenschaft wiederum werde durch ihre Vorgesetzten eingeschüchtert und auf Linie gebracht, sofern dies überhaupt notwendig sei. So würden beispielsweise Schreiben der Republikanischen Beschwerdestelle (RBS) der Polizei zu Strafverfolgungszwecken übermittelt, anstatt sie korrekt zu bearbeiten. Der Potsdamer Regierungssitz werde immer noch durch das preußische Königswappen und damit einem monarchistischen Hoheitszeichen geziert, wogegen nicht nur die RBS vorgegangen sei. Wesentlich schlimmer wäre das Engagement leitender Beamter in Rechtsorganisationen wie dem Stahlhelm oder dem Wehrwolf. Dieser antirepublikanische Wehrverband werde gezielt durch die Potsdamer Stadtregierung gefördert und auch mit staatlichen Beihilfen bedacht. So habe die Stadt Potsdam den Stahlhelm mit 5.000 Mark und den Wehrwolf mit 3.000 Mark gefördert, während das Reichsbanner trotz mehrmaliger Anträge keine Gelder erhalte und anders als der Stahlhelm auch nicht öffentlich von der Stadtregierung empfangen werde. Die so eingestellte Stadtverwaltung würde eine gezielt antirepublikanische Personalpolitik betreiben und die unteren Verwaltungsstellen sowie die Stellen der städtischen Arbeiter und Angestellten vorwiegend mit Mitgliedern der Rechtsorganisationen und insbesondere des Stahlhelms besetzen. Anwärter, die anderswo aufgrund ihrer bedenklichen Gesinnung nicht eingestellt wurden, könnten so in Potsdam unterkommen. Dass diese Männer bei den Veranstaltungen des Stahlhelms die Republik verunglimpfen, obwohl sie sich im Staatsdienst befänden, könne kaum überraschen. Auch sicherheitspolitisch sei dieses Verhalten bedenklich, da sogar Polizisten dem Stahlhelm angehören würden. Unter diesem Schutz könne der Stahlhelm ungestört „militärische“ Übungen durchführen und es sei ein Fall bekannt, wo die Beschlagnahmung eines illegalen Waffenlagers des Stahlhelms durch die Berliner Polizei von der Reichswehr verhindert wurde. Im Alltag der Schulen und Kirchen Potsdams seien die Folgen ebenfalls spürbar. So würden Schuldirektoren die amtlich vorgeschriebene schwarz-rot-goldene Beflaggung hintertreiben oder im Unterricht monarchistische Lieder singen lassen. Auch andere Zeichen der monarchistischen Gesinnung seien nach wie vor stark präsent, wie in Schulen aufgestellte Wilhelm-Büsten oder das Gebet für die Kaiserfamilie. Kirchenvertreter würden ihre antirepublikanische Gesinnung offen von der Kanzel herunter verbreiten und grundsätzlich nur Schwarz-Weiß-Rot flaggen. In einem Fall habe daher das Reichsbanner gegen die Beschimpfung der Republik und ihrer

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Regierung vor dem Haus eines Pastors demonstriert. Von der hiesigen Justiz sei ebenfalls kein korrektes Verhalten zu erwarten, da hier wie in allen anderen Bereichen der Verwaltung Antirepublikaner stark vertreten seien. Die Denkschrift des Potsdamer Reichsbanners schließt mit einen Appell an die preußische Regierung, hart gegen die örtliche Beamtenschaft vorzugehen, entschiedene Republikaner in die höchsten Verwaltungsstellen zu berufen und notfalls auch mittels des Rechnungshofes auf die Verwaltung einzuwirken, bis eine Änderung der für die Republik untragbaren Zustände herbeigeführt sei.71 Unabhängig davon, ob diese Anregungen bei der preußischen Regierung positiv aufgenommen wurden oder nicht, ist klar, dass sich das Reichsbanner in einer Weise betätigte, die dem Vorgehen der Republikanischen Beschwerdestelle stark ähnelte und es ist durchaus erhellend, die Bestrebungen dieser Organisation in den Blick zu nehmen, wenn man die Grenzen der Reichsbannerarbeit verstehen möchte.72 Die RBS wurde im November 1924 von Mitgliedern der Liga für Menschenrechte und des Republikanischen Jugendbundes gegründet, wobei die Geschäftsräume der RBS von der Liga gestellt wurden. Der ehrenamtliche Vorstand bestand aus Arnold Freymuth, Hermann Schützinger und Alfred Falk. Finanziert wurden die Tätigkeiten der RBS ausschließlich mit Spenden.73 Die RBS konnte insofern als indirekte Ableger des Republikanischen Reichsbundes angesehen werden.74 Dennoch wurde die RBS in den Reichsministerien geächtet. Im Reichswehr- und Reichsjustizministerium war man der Auffassung, dass deren Eingaben grundsätzlich nicht beantwortet werden sollten. Weder Geßler noch später Wilhelm Groener hatten während ihrer Amtszeit im Wehrministerium eine Änderung dieser Praxis herbeigeführt, obwohl die Rechtslage eindeutig war. Aufgrund Art. 126 WRV war es jedem Reichsbürger gestattet, Eingaben an Regierungs- und Verwaltungsstellen zu machen und diese Stellen waren verpflichtet, darauf zu antworten. In einem von Hugo Preuß angefertigten Rechtsgutachten wurde dem RBS diese Rechtsgrundlage ausdrücklich bestätigt. Die preußische Regierung hielt sich weitgehend an diese Rechtsgrundlage und sorgte für eine Beantwortung der Eingaben der RBS. In Rechtskreisen gab es hingegen massiven Widerstand gegen die als „Denunziantentum“ verunglimpfte Arbeit der RBS. Insbesondere die Führungspersönlichkeiten der RBS, wie Falk und Freymuth wurden in der rechtsradikalen Presse als „Spitzel“ und „Landesverräter“ angefeindet.75

71 Vgl. AfSG, Grzesinski Papers, Nr. 831 (Anschreiben samt Denkschrift der RB-OG Potsdam an Grz. vom 19.9.27). 72 Das Reichsbanner und der RBS waren trotz der Kooperation organisatorisch getrennt und deren Vorsitzender Alfred Falk war kein RB-Mitglied. Die Zentrale des RBS war in Berlin, aber auch in anderen deutschen Städten gab es Ableger. So in Würzburg, wo das örtliche Reichsbanner die Arbeit der Würzburger RBS ebenfalls unterstützte (siehe Lagebericht der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 16.11.25, in: THStA, P 273, Bl. 143ff.). 73 Vgl. THStA, P 252, Bl. 21. 74 Siehe BArch R1501/125668m, Bl. 93ff. 75 Siehe „Die Beschwerdestelle für „Republikaner““, in: DZ Nr. 130/1927 vom 27.5 u. „Spitzel Freymuth!“, in: Der Tag Nr. 279/1928 vom 21.11. sowie „Reichsbanner-Beobachter“, in:

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Wehrhafte Demokraten (1924–1928)

Die Ablehnung gegenüber der Arbeit der RBS reichte bis zur DVP, die 1931 den Antrag im preußischen Landtag stellte, dass jeglicher Verkehr mit der RBS einzustellen sei, was mit den Stimmen der Regierungskoalition abgelehnt wurde.76 In einem späteren Beschluss des Landtages wurde ein ähnlicher Antrag aber umgesetzt, was die Arbeit der RBS schwer beeinträchtigte. Dieser Schritt wurde von Freymuth als Bruch der WRV und damit illegal bezeichnet.77 Innerhalb des Wehrministeriums versuchte man seinerseits, die eigene Boykottpraxis mit dem rechtlich unhaltbaren Argument zu begründen, dass Art. 126 WRV nur das Recht auf eine Eingabe, nicht aber das Recht auf eine Antwort enthalte. Gerade Kurt von Schleicher, der innerhalb des Wehrministerium für den Umgang mit der RBS zuständig war, war ein massiver Gegner der RBS wie aller anderen pazifistischen Organisationen, die seiner Auffassung nach die Interessen der Reichswehr schädigten.78 Das Hauptargument Schleichers war, dass die RBS ihre Quellen nicht offen lege und daher nicht gewährleisten könne, dass deutsche Staatsbürger für die Eingaben verantwortlich seien und nicht Ausländer, die kein Eingaberecht nach Art. 126 WRV hätten. Diese rechtlichen Bedenken sind aber vorgeschoben, da Schleicher ohne Unterscheidung alle Eingaben als „Denunziationen“ bezeichnete, also auch solche, die nachgewiesenermaßen von deutschen Staatsbürgern stammten. So beispielsweise die Eingabe der RBS vom 5. Mai 1926, die auf Zeitungsberichten über ein Beileids-Telegramm des Reichskanzlers Luther an den Vater von Leo Schlageter – ein von den französischen Besatzungsbehörden hingerichteter Saboteur – basierte.79 Während der Amtszeit Severings als Reichsinnenminister konnte hingegen erreicht werden, dass mit Eingaben der Beschwerdestelle verfassungsgemäß umgegangen wurde,80 was allerdings nicht automatisch hieß, dass man den Eingaben inhaltlich folgte.81 Das Reichsbanner versuchte jedoch in seiner Presse, der Arbeit der RBS positiv Rechnung zu tragen und berichtete lobend über die Eingaben der Beschwerdestelle. So seien von 640 Eingaben des RBS im Jahr 1929 immerhin ganze 49% bzw. 295 Eingaben positiv bearbeitet worden und eine Abstellung des Missstandes in Aussicht gestellt. Die RBS habe beispielsweise monarchistische Aktivitäten

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RBZ Nr. 25/1931 vom 20.6. Ausführlicher zum RBS sowie zu Freymuth und dessen Engagement: Jung 1987 u. Jung 1989, insb. S. 176ff. u. 294ff. Vgl. „Reichsbanner-Beobachter“, in: RBZ Nr. 15/1931 vom 11.4. Vgl. „Verletzung der Reichsverfassung“ von Arnold Freymuth, in: RBZ Nr. 34/1931 vom 22.8. Vgl. BArch R43I/768, Bl. 63ff. (Schreiben Schleichers an die Reichskanzlei vom 24.12.24), Bl. 68–88. (Schriftwechsel Schleichers mit der Reichskanzlei betreffend die Frage der Behandlung der RBS vom Februar bis Mai 1925), Bl. 112f. (Schreiben Schleichers an die Reichskanzlei vom 28.9.26). Es wurde schließlich nach internen ministeriellen Beratungen entschieden die Eingaben der RBS nicht zu beantworten. Siehe BArch R1501/125668m, Bl. 97f. Severing verteidigte diese Haltung vor dem Reichshaushaltsausschuss (siehe BArch R1501/125668m, Bl. 29. Dort ein Auszug aus dem Stenografischen Bericht des Ausschusses für den Reichshaushalt, 70. Sitzung am 8.5.29). Siehe BArch R1501/125668m, Bl. 24 (Schreiben Severings an die RBS vom 10.5.29).

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von Beamten aufgedeckt, aber auch Schüler bei der Durchführung von republikanischen Veranstaltungen unterstützt.82 Die republikanischen Bemühungen insbesondere um eine eindeutig republikfreundliche Personalpolitik waren somit angesichts der starken Widerstände schwierig, aber nicht vergebens. Dass diesen Widerständen schließlich aber Hörsing zum Opfer fallen würde, sollte für den weiteren Verlauf der Ereignisse noch größere Bedeutung haben. Widerständen musste die Reichsbannerarbeit auch in einer anderen Hinsicht begegnen. Nämlich dann, wenn versucht wurde, den satzungsmäßigen Vereinszweck, den Schutz der Republik vor weiteren Putschversuchen, umzusetzen. Die Widerstände gegen alle Bestrebungen in die Richtung einer republikanischen Hilfspolizei bzw. Notpolizei sollten aus denselben Richtungen kommen, wie in den eben beschriebenen vorwiegend personalpolitischen Fällen: von der preußischen Regierung und dem Reichswehrministeriums.

82 Vgl. „Die Republikanische Beschwerdestelle“ von Max Reinheimer, in: RBZ Nr. 52/1930 vom 27.12. Zudem gab es Einzelberichte über den Verlauf von Beschwerdeverfahren, so wurde bspw. berichtet, dass nach einer Beschwerde der RBS ein monarchisches Wappen am Amtsgericht Paderborn entfernt wurde (vgl. „Reichsbanner-Beobachter“, in: RBZ Nr. 6/1928 vom 15.3.). Die Beschwerdestelle konnte ihre Arbeit bis zum Preußenschlag 1932 mit einigem Erfolg weiterführen, bevor sie von der Papen Regierung im August 1932 auch in Preußen ausgegrenzt wurde (hierzu BArch R43I/769, Bl. 41–45).

5. SCHUTZTRUPPEN DER REPUBLIK. DAS SICHERHEITSKONZEPT DES REICHSBANNERS Die defensive Grundhaltung des Reichsbanners, gerade im Vergleich den rechtsradikalen Wehrverbänden, wurde verschiedentlich als Schwäche interpretiert. Tatsächlich bestanden zwischen den militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten aller relevanten Wehrverbände inklusive dem Reichsbanner qualitativ keine bedeutenden Unterschiede. Weder war der Stahlhelm, der Jungdeutsche Orden, noch die Sturmabteilung in der Lage, eigenständige militärische Operationen gegen einen professionellen (staatlichen) Gegner durchzuführen. Alle Wehrverbände unterschieden sich in dieser Hinsicht eindeutig von den Freikorps. Die Wehrverbände waren in erster Linie Massenorganisationen zur Durchsetzung einer bestimmten Propaganda, die eben auch mittels eines militärischen Erscheinungsbildes durchgesetzt werden sollte.1 Dies bedeutet, dass die Wehrverbände nicht als direkte Fortsetzungen der Freikorps anzusehen sind, sondern höchstens als deren Reorganisationsversuche. Wir wollen uns in dieser Frage auf das Urteil derjenigen verlassen, die ein starkes Interesse am militärischen Potential der Republik hatten: den Alliierten, wobei wir ob der Quellen- und Literaturlage mit der britischen Perspektive vorlieb nehmen müssen.2 Die britische Sicht auf die Wehrverbände Wie aus einer Denkschrift des britischen Wehrministeriums von 1928 hervorgeht, war man dort an der generellen Entwicklung der Wehrverbände durchaus interessiert. Das Reichsbanner wird wie der Stahlhelm, der Jungdeutsche Orden und der Wehrwolf umstandslos zu diesen „patriotic associations“ gezählt. Das militärische Gefahrenpotential dieser Verbände wird aber als nicht besonders hoch eingeschätzt. Deutschland habe, so das Fazit der Denkschrift, trotz der Aktivitäten der Wehrverbände keine Möglichkeit, einen Angriffskrieg zu führen oder sich gegen 1

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Zur jeweiligen Vorgeschichte von Stahlhelm und Jungdo: Berghahn 1966, S. 13–26 u. Hornung 1958, S. 11–33. Für die SA: Longerich 1989, S. 9–32. Zur Vorgeschichte des Reichsbanners oben die Ausführungen zum Regiment Reichstag, dem FB, der Republikanischen Notwehr usw. Tendenziell werden französische oder polnische Sicherheitskreise die Bedrohung der Wehrverbände – und damit eventuell auch das Reichsbanner – gravierender bewertet haben als die Briten, aber es ist fraglich, ob sie hierbei auch stichhaltige Argumente hinsichtlich einer tatsächlichen militärischen Schlagkraft vorweisen konnten. Die Wehrverbände waren ein Mittel des innenpolitischen Kampfes in Deutschland und man darf annehmen, dass ihre Bewertung in den Nachbarländern sich ebenfalls an innenpolitischen Erwägungen orientierte. Diese These lässt sich jedoch leider im Hinblick auf das Reichsbanner kaum nachprüfen. Zu den rechten Wehrverbänden gibt es freilich in den zentralen Archiven Polens und Frankreichs einschlägiges Quellenmaterial, was schon für sich genommen darauf hinweist, dass die rechten Wehrverbände als Bedrohung wahrgenommen bzw. dargestellt wurden.

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eine Großmacht zu verteidigen, da das schwere Kriegsgerät hierzu fehle.3 Die „manpower“ sei zwar vorhanden, aber über den Ausbildungsstand der in den Wehrverbänden organisierten Männer heißt es: The standard of military training attainable in these associations is obviously not high, and a large proportion of the members are physically unsuitable for incorporation in the Army. The important point, however, is that the organization of these associations enables detailed nominal rolls to be maintained, which will admit of individuals being called up [.] and […] which would otherwise be entailed by a system of indiscriminate recruiting, such as we had to adopt ourselves in 1914. The “Reichswehrministerium” is known to be in touch with the more important of these associations, whose members may, at a conservative estimate, be taken as 2.000.000 men who would be physically fit for active service […].4

Der wichtigste Aspekt der Wehrverbände ist aus einer militärischen Sicht also nicht die direkte Einsatzfähigkeit der Verbände selbst, sondern die Erfassung von wehrtauglichen Männern als potentieller Personalersatz. Auch die Mitglieder des britischen Verteidigungskomitees teilten die Einschätzung der Denkschrift, dass die Wehrverbände keine akute, sondern höchstens eine potentielle Sicherheitsgefahr darstellen würden. Winston Churchill führte etwa aus, dass die Denkschrift insgesamt keine alarmierenden Inhalte präsentiert habe, aber man sich weiterhin für eine Stärkung der französischen Landarmee aussprechen müsse, die auch allein in der Lage wäre, alle potentiellen deutschen Risiken klein zu halten.5 In einer späteren Denkschrift des britischen Außenministeriums zum Thema der „patriotic associations“ heißt es weiter, dass die Verbände keineswegs als vollwertiger Ersatz für ein System allgemeiner Wehrpflicht anzusehen seien. Das militärische Training in diesen Verbänden sei höchstens rudimentär, auch wenn die beteiligten jungen Männer dieses Training als Vorbereitung auf einen Kriegsdienst ansehen würden. Das Training der Wehrverbände diene intern vielmehr dazu, einen „cult of physical fitness“ zu bedienen, der als Folge der Revolutionszeit entstanden sei.6 Zudem sei allgemein bekannt, dass die Deutschen das Marschieren in Formationen mit Begleitmusik liebten. Die Wehrverbände seien ferner zu einem gewissen Grad Vorfeldorganisationen der politischen Parteien, die hierin „rank and file“ ihrer Anhängerschaft zu versammeln versuchten. Das Reichsban3 4

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Vgl. The Military Situation in Germany, C.I.D. Paper No. 926–B, December 1928, in: UK National Archives, CAB 24/199/54, Bl. 304. The Military Situation in Germany, C.I.D. Paper No. 926–B, December 1928, in: UK National Archives, CAB 24/199/54, Bl. 303. Eigene Übersetzung: Der Standard des militärischen Trainings in diesen Verbänden ist offensichtlich nicht besonders groß, und ein Großteil der Mitglieder ist nicht wehrtauglich. Der wichtige Punkt ist gleichwohl, dass die Organisation dieser Verbände detaillierte Personeninformationen bereitstellt, die eine Rekrutierung ermöglichen und […] die sonst nur durch ein System allgemeiner Wehrpflicht zu erlangen wären, welches wir selbst 1914 einführen mussten. Das RWM hält bekanntermaßen den Kontakt zu den wichtigeren dieser Verbände, deren wehrtaugliche Mitglieder bei einer vorsichtigen Schätzung etwa 2 Millionen betragen dürften […]. Vgl. The Military Situation in Germany, C.I.D. Paper No. 926–B, December 1928, in: UK National Archives, CAB 24/199/54, Bl. 301. Die Sitzung des Komitees fand am 13.12.28 statt. Dies ist eine gängige Beobachtung dieser Tage (siehe etwa Haffner 2002, S. 73ff.).

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ner wird als unbestritten größter dieser Verbände bezeichnet, welcher republikanisch, aber keineswegs militaristisch eingestellt sei. Der Stahlhelm hingegen wird eindeutig als nationalistische Organisation wahrgenommen, der jedoch auch etwas relativierend als eine Art „Primrose League“ (ein rein ziviler Wahlverein der britischen Konservativen) der Rechtsparteien bewertet wird. Insgesamt wird somit das militärische Gefahrenpotential der Wehrverbände ebenfalls als gering eingeschätzt.7 Einen genaueren Einblick in die militärische Stärke der Wehrverbände bietet schließlich eine dritte Denkschrift, die 1931 im britischen Wehrministerium erstellt wurde. Darin heißt es über die nun als „political semi-military associations“ bezeichneten Wehrverbände, dass diese insgesamt etwa eine Million wehrtauglicher Männer mit einem grundlegenden Ausbildungsniveau umfassen würden. Interessant ist hierbei, dass sich hier die Relation der Mitgliederbestände der Wehrverbände verschiebt. Das Reichsbanner verfügte bekanntermaßen über wesentlich mehr Mitglieder als alle anderen Wehrverbände zusammengenommen. Die Denkschrift verzeichnet jedoch folgende Zahlen von Männern mit einem Grundlagentraining: Stahlhelm 400.000, Sturmabteilung 150.000, Jungdeutscher Orden, Wehrwolf und andere rechte Wehrverbände 50.000, Reichsbanner 250.000, RFB 100.000. Das Reichsbanner verfügte somit laut der Denkschrift über wesentlich weniger ausgebildete Mitglieder als der Stahlhelm, aber immerhin noch über deutlich mehr als die SA oder der Jungdeutsche Orden. Die relative Stärke des Stahlhelms wird mit der Bevorzugung dieses Verbandes durch die Reichswehr erklärt, die den Stahlhelm als ihre Hauptreserve betrachte. Relativierend wird aber festgestellt, dass die Angaben aus unterschiedlichen (im Detail ungenannten) Quellen stammen und somit nur als Schätzungen anzusehen sind, da insbesondere im nationalistischen Lager Doppelmitgliedschaften nicht ausgeschlossen werden können. Schließlich wird in der Denkschrift auch darauf verwiesen, dass alle Wehrverbände über kleinere Bestände an leichten Waffen und Munition verfügen.8 Der wenigstens grundlegende Ausbildungsstand der eigenen Mitglieder, also ein Grundlagentraining im Schießen, Marschieren usw., wurde durch rein private Bemühungen des Reichsbanners erreicht und nicht etwa durch eine systematische Kooperation mit der Polizei oder der Reichswehr. Anders war die Situation beim Stahlhelm, dessen Mitglieder von der Reichswehr auf verschiedenen Wegen eine militärische Grundausbildung erhielten.9 Andere Wehrverbände, insbesondere die

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Vgl. The Military Situation in Germany, C.P. 121 (29), April 1929, in: UK National Archives, CAB 24/203/21, Bl. 215f. Vgl. Military Appreciation of the Situation in Europe, C.P. 96 (31), March 1931, in: UK National Archives, CAB 24/220/46, Bl. 465f. Bei den aufgeführten 250.000 ausgebildeten Männern im Reichsbanner wird es sich aller Wahrscheinlichkeit um die sogenannte Schutzformation handeln, die im Februar 1931 offiziell aufgestellt worden war und über eine ebenso hohe Mannstärke verfügte. Hierzu Berghahn 1966, insb. S. 55–63. Dort auch zur Haltung Stresemanns gegenüber diesen meist geheimen Aktivitäten.

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politisch radikaleren, wurden von der Reichswehr nicht als Reserve angesehen.10 Diese einseitige Bevorzugung des Stahlhelms gegenüber dem republikanischen Reichsbanner versteht sich aber nicht von selbst. Die Gründe hierfür sind vielmehr in einer detaillierteren Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Reichsbanner und den staatlichen Waffenträgern zu suchen. Severing und Schleicher gegen die Reichsbanner-Hilfspolizei Die privaten, zivilgesellschaftlichen Initiativen, die uns hier interessieren, wurden von den zwei bedeutendsten Innenpolitikern der Weimarer Zeit – Carl Severing und Kurt von Schleicher – aus unterschiedlichen Gründen skeptisch bewertet. Wenn hier und im Folgenden eine parallele Betrachtung dieser beiden Personen vorgenommen wird, so ist dies keineswegs als Gleichsetzung ihrer jeweiligen politischen Ausrichtung, ihres Wollens oder Wirkens zu verstehen. Wohl aber vertraten sie in einem wichtigen Punkt dieselbe Ansicht. Beide lehnten jegliche militärähnlichen Geländeübungen oder Aktivitäten des Reichsbanners ab, wobei dies bei Severing durch eine allgemeine Ablehnung aller privaten Militärübungen begründet war, während Schleicher nicht an der Heranführung eines linken Wehrverbandes an die Reichswehr interessiert war. In den mittleren Jahren der Republik war Schleicher bereits eine feste Größe innerhalb der Armeeführung und fungierte als eine Art Mittelsmann zwischen den politischen Interessen der Reichswehr und der eigentlichen Reichspolitik. Hierbei war Schleicher aber noch nicht in bedeutender Weise in der Öffentlichkeit hervorgetreten. Seine Person war vorwiegend Insidern bekannt und erst in den späteren Jahren Weimars sollte der dann zum General ernannte Schleicher seine Politik auch öffentlich vertreten müssen. Es ist aber klar, dass Schleicher, wenn in diesem Kapitel von der Position des Reichswehrministeriums gegenüber dem Reichsbanner die Rede sein wird, eine maßgebliche Rolle bei der internen Findung und amtlichen Kommunikation dieser Position spielte, auch wenn dies nicht in allen Fällen amtlich dokumentiert ist.11 10 Siehe für das ambivalente Verhältnis der SA zur Reichswehr: Vogelsang 1962. Dass der RFB nicht unterstützt, sondern amtlich bekämpft wurde, sollte sich von selbst verstehen. 11 Über Schleichers persönliche Einstellung gegenüber dem Reichsbanner in dieser Zeitperiode ist hier nur ein Dokument bekannt, welches aber nicht von ihm selbst stammte, sondern eine private Einschätzung von Eugen Zimmermann darstellt. Dieser hielt Schleicher für einen Opportunisten, der wie auch Geßler, Seeckt und Hindenburg die Organisationsmacht des Reichsbanners für eine „staatstragende“ Politik nutzen wolle, was aber nicht konkret ausgeführt wird. Die Einschätzungen Zimmermanns illustrieren eher allgemeine Gedanken reaktionärer Kreise, wie die lebhafte Ablehnung einer Mittelsperson wie Schleicher, die auch von Hermine von Preußen geteilt wurde, ohne dass diese Einschätzungen zu einer Klärung der Sachlage entscheidend beitragen könnten. So hält Zimmermann den Ex-General Deimling für den Gründer des Reichsbanners. Offenbar konnte er sich nicht vorstellen, dass eine solche Organisation von Zivilisten gegründet worden war (vgl. Schreiben Zimmermanns an Hermine von Preußen vom 22.3.26, in: GStA PK, BHP, Rep. 192, NL Eugen Zimmermann, Nr. 85, Bl. 11ff. sowie das Antwortschreiben Hermines vom 24.3.26, in: Ebd., Nr. 52, Bl. 4). Allgemein zu Schleicher in dieser Zeit: Vogelsang 1965, Pyta 1999 u. Strenge 2006.

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Severing hatte den Einsatz einer Hilfspolizei vor 1924 nicht grundsätzlich abgelehnt. Er war es, der im besetzen Rheinland eine Hilfspolizei aufziehen ließ und auch den Einsatz der Republikanischen Notwehr befürwortete.12 Offensichtlich war Severings Zustimmung aber an gewisse Bedingungen geknüpft, die er im Falle des Reichsbanners nicht erfüllt sah. Ob er seine ständig wiederholte Aussage, dass die preußische Schupo stark genug und nicht auf Unterstützung angewiesen sei, nur vorschob oder tatsächlich daran glaubte, mag dahingestellt sein. Die Gründung des Reichsbanners betrachtete Severing als ein notwendiges Übel, dessen Existenzberechtigung mit der zunehmenden Stabilisierung der Republik abnahm, wobei er aber durchaus bereit schien, die positive Korrelation zwischen der Arbeit des Reichsbanners und einer Stabilisierung der Republik anzuerkennen.13 Der Parteimann und Republikaner Severing mag das Reichsbanner durchaus wohlwollend beurteilt haben, aber der preußische Innenminister Severing erkannte durchaus richtig, dass der Hilfspolizeianspruch des Reichsbanners nicht weit von einer Anmaßung von polizeilichen und damit staatlichen Befugnissen entfernt lag. Der entscheidende Unterschied zu einer Amtsanmaßung lag jedoch darin, dass sich das Reichsbanner lediglich anbot und nicht polizeilich aktiv wurde.14 Es blieb aber die Tatsache, dass zahlreiche Polizisten in Preußen und andernorts dem Reichsbanner angehörten, wobei schon im Kontext der Gründung des Reichsbanners 1924 diese Frage der Mitgliedschaft von Polizeibeamten im Bund umstritten war.15 Die ablehnende, gar feindliche Haltung der DVP gegenüber dem 12 Siehe oben. 13 Hierzu der Bericht über ein Interview Severings mit dem BTB, wo er konstatierte, dass die rechtsradikale Bewegung abgenommen und das Reichsbanner zugenommen habe. In Hannover und Schlesien sogar „ganze Mitgliedschaften des Stahlhelms zum Reichsbanner übergetreten seien (vgl. Münchener Post Nr. 177/1924 vom 1.8.). 14 Zu Severing: Alexander 1992 u. Köhler 2017. 15 Hierzu ein Schriftverkehr zwischen Heinrich Rönneburg und Adam Remmele, den damaligen Innenministern von Braunschweig und Baden, worin diese Frage abgesprochen wird. Remmele sah prinzipiell keinen Anlass eine solche Mitgliedschaft zu verbieten, aber von den betreffenden Beamten sei größte Rücksichtnahme zu fordern, d.h. vor allem eine Uniformierung in Reichsbannerkleidung wurde nicht gestattet (siehe StA Freiburg, NL Erich Blankenhorst, T1 (Zugang 1975/0001), Nr. 30). Auch in Hamburg waren aufgrund der positiven Kooperation zwischen dem dortigen Reichsbannervorläufer, der Vereinigung Republik, und der Polizei insbesondere während des Thälmann-Aufstandes zahlreiche Beamte dem Reichsbanner beigetreten. Als nun der Senat aber hieraus eine geregelte Kooperation machen und die RBMitglieder zu Hilfspolizisten ausbilden wollte, musste dieses Vorhaben aufgrund des Einspruches der mitregierenden DVP unterlassen werden (vgl. Danner 1958, S. 205ff.). Weiteres Material zu dieser Frage in: StA Hamburg, 33–1–1 I, Nr. 139. Polizeibeamten war die Zugehörigkeit zum Reichsbanner explizit erlaubt worden, da der §36 des Wehrgesetzes nicht für sie gelte und im Schupo-Gesetz vom 16.8.1922 keine ähnliche Regelung getroffen worden war. Durch die allgemeinen Amtspflichten sei ihr Handeln aber natürlich eingeschränkt und insbesondere die Bildung von republikanischen Kameradschaften innerhalb der preußischen Polizei sei verboten wie Wilhelm Abegg für das prIM dem damaligen Hamburger Polizeipräsidenten Hugo Campe auf Anfrage mitteilte (vgl. Schriftwechsel Campe/Abegg vom Frühjahr 1925, in: Ebd.). Dies bedeutete aber folgerichtig auch, dass die Mitgliedschaft im Stahlhelm, dem Jungdo oder dem Wehrwolf für Polizisten ebenfalls nicht verboten war.

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Reichsbanner war hierbei wohl der Hauptgrund für die Zurückhaltung Severings gegenüber dem Bund, der erst 1926 nach seinem Rücktritt von diesem Amt dem Reichsbanner beitrat.16 Vor seinem Rücktritt war ihm jedoch von Seiten des Reichsbanners angetragen worden, eine offizielle Kooperation mit dem Reichsbanner als Hilfspolizeiersatz der preußischen Schupo einzugehen. Hiermit präsentierte sich das Reichsbanner bewusst als Gegengewicht zu den antirepublikanischen Bestrebungen des Stahlhelms und forderte, dass es in ähnlicher Weise von staatlicher Seite militärisch ausgebildet werden müsse.17 Dies wurde von Seiten des preußischen Innenministeriums allerdings strikt abgelehnt, was auch gegenüber anderen staatlichen Stellen wie dem RKO kommuniziert wurde.18 Für Severing war die Abschaffung aller Wehrverbände wünschenswert, wobei er jedoch stets betonte, dass solange dies nicht umzusetzen sei, das Reichsbanner als Gegengewicht zu den Rechtsverbänden weiterbestehen müsse.19 Solche tatsächlichen oder vermeintlichen Annäherungsversuche waren wiederholt Gegenstand parlamentarischer Auseinandersetzungen. Abgeordnete der DNVP und der DVP klagten hierbei auch Severings vermeintliche Untätigkeit gegenüber den Handlungen des Reichsbanners an. Inhaltlich waren diese Anschuldigungen wenig substantiell und beschränkten sich in der Regel auf eine Wiedergabe von polemischen, aggressiven oder pathetischen Äußerungen aus der Reichsbannerpublizistik und vor allem der Hilfspolizeiangebote. Die wiederkehrende Forderung an Severing war, dass dieser die Wehrverbände nicht mit zweierlei Maß beurteilen solle und folglich auch die Mitgliedschaft von Beamten im Reichsbanner verbieten müsse, so wie es im Falle der rechten Wehrverbänden geschehen sei.20 Solche rechtlich unbedenklichen Angebote waren noch keine Amtsanmaßung und die geforderte Gleichsetzung von Reichsbanner und rechten Terrororganisationen wäre eben kein „neutraler“ rechtsstaatlicher Standpunkt gewesen. Politisch 16 Siehe „Kamerad Severing“ von Wilhelm Sollmann, in: RBZ Nr. 20/1926 vom 15.10. 17 Vgl. Schreiben Höltermanns an Nowack vom 15.12.25, in: AdL, Bestand Wilhelm Nowack, N26–1. Hier regt Höltermann bei Nowack an, dass dieser an Severing im zitierten Sinne herantreten solle, wobei anzunehmen ist, dass dies auch geschah. 18 Vgl. Schreiben der Polizeidirektion München an den RKO vom 4.4.27 u. Antwortschreiben vom 3.6.27, in: BArch R1507/3067, Bl. 84f. Hier ist auch die Zurückhaltung der bayerischen Polizei gegenüber dem Reichsbanner dokumentiert, die jegliche Kooperation mit dem Bund ablehnte, was auch vom bayerischen Reichsbanner angestrebt wurde (vgl. ebd.). 19 Siehe z.B. „Schluss der Landtagsaussprache. Severing schüttelt Hörsing ab“, in: BLA Nr. 204/1925 vom 1.5. 20 Siehe die Redebeiträge des Abgeordneten v. Dyrander (DNVP) im Reichstag am 18.6.25 u. des Abgeordneten Metzenthin (DVP) im preußischen Landtag im November 1925, in: BArch R1501/113501, Bl. 87 (Stenografischer Bericht des Reichstages, 77. Sitzung, 18.6.25, S. 2411f.) u. 189f. („Der Polizeietat 1925 im preußischen Landtag“, in: Der Preußische Polizeibeamte Nr. 45/1925 vom 7.11.). Wie aus den Zwischenrufen der SPD-Abgeordneten hervorgeht, wurden von dieser Seite die Hilfspolizeiangebote des Reichsbanners lebhaft unterstützt. In den Reden werden neben den bekannten polemischen Äußerungen Hörsings auch pathetische Zitate aus Schützingers Schriften als vermeintliche Beweise für die Bedrohlichkeit des Reichsbanners angeführt.

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konnte Severing die vor allem ihm geltenden Angriffe der Rechtsparteien aber nicht ignorieren, allein schon aufgrund der Beteiligung der DVP an der preußischen Regierungskoalition und aufgrund des Vorwurfes, dass durch das Reichsbanner die innere Sicherheit Preußens bedroht sei. In mindestens einer Sache waren die Vorwürfe der Rechtsparteien schließlich nicht ganz unbegründet, wenn auch scheinheilig und zwar ist dies die Frage der vom Reichsbanner durchgeführten Geländeübungen. Solche Übungen waren in allen Wehrverbänden üblich und wurden öffentlich meist als Wanderungen, Spaziergänge und dergleichen verharmlost. Inhaltlich waren die Übungen durchaus nicht so harmlos, wie es auch vom Reichsbanner nach Außen und gegenüber der Polizei dargestellt wurde.21 Mit funktionierenden Waffen oder deren Attrappen wurde hierbei zwar in der Regel nicht hantiert, aber die Übungen sollten die Teilnehmer doch erkennbar mit militärischen Szenarien vertraut machen, so wie etwa der Absperrung eines Verkehrsweges, die nächtliche Absicherung einer Fahrzeugkolonne oder der nächtlichen Verteidigung einer Stellung.22 Während an solchen Übungen meist nur wenige hundert Personen beteiligt waren, gab es auch Geländespiele mit mehreren tausend Teilnehmern.23 Oft sind in den betreffenden Polizeiberichten die genaueren Abläufe der Übungen aber nicht dokumentiert, sondern nur allgemeine Angaben wie die Teilnehmerzahl und der Ort verzeichnet.24 Zeitungsmeldungen über solche Übungen sind in der Regel unbrauchbar, da ohne dazugehörige Mitteilungen der Polizei eine Falschmeldung oder propagandistische Ausschmückung des Geschehens nicht ausgeschlossen werden kann. Das allgemeine Vorkommen solcher waffenlosen Trockenübungen ist absolut nicht verwunderlich, wenn man die zahlreichen öffentlichen Bekenntnisse von Reichsbannerführern in Bezug auf eine republikanische Hilfspolizei berücksich21 Siehe das Schreiben des Geraer Kreisdirektors Jungherr an ThIM vom 14.12.25, in: THStA, P 521, Bl. 49. Darin heißt es, dass der „militärische Charakter“ einer Geländeübung bei Ronneburg nicht zu erbringen war und die betreffenden OG ihre Aktivität als „Schnitzeljagd“ präsentieren würden. Gegen diese Angabe spreche aber, dass mit Postenketten und Leuchtkugeln gearbeitet worden sei (vgl. ebd.). 22 Siehe Lagebericht des ThIM vom Juli und August 1926, in: THStA, P 267, Bl. 109 über eine Nachtübung am 6.8. in Eisenberg mit etwa 100 Mann oder Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 18.6.27, in: THStA, P 285, Bl. 122f. über eine Nachtübung der Bremer und Hamburger OG am 12.6. mit mehreren hundert Personen sowie Lagebericht des ThIM vom November 1926, in: THStA, P 267, Bl. 357f. über eine Alarmübung der OG Gera am 17.11. mit 120 Mann, die von der Polizei abgebrochen wurde. Eine weitere Alarmübung in Bremen am 15.5.26 mit etwa 500 Teilnehmern ist dokumentiert in: Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 1.6.26, in: BArch R1507/3066, Bl. 148. Anlass des Alarms waren laut dem Bericht „Putschnachrichten“ aus Berlin. 23 So bei einem Geländespiel des Hamburger RB-Gaues am 5.9.25 in der Lüneburger Heide, wo laut einem Polizeibericht 5000 RB-Mitglieder an der Simulation eines Nachhutgefechtes teilnahmen (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 16.9.25, in: BArch R1507/3065, Bl. 184). 24 Siehe Lagebericht des ThIM vom Oktober 1926, in: THStA, P 267, Bl. 285 über eine „größere“ Geländeübung der OG Bad Berka ebenda am 10.10., auch Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom Januar 1927, in: THStA, P 257, Bl. 10 über eine „große Nachtübung bei Grimma“ mit unbekannter Teilnehmerzahl.

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tigt. Die Bestimmungen der Vereinssatzung in dieser Frage sind eindeutig und es wurden nicht nur wiederholt lautstarke Angebote insbesondere an die preußische Polizei gemacht, dass „nur ein Ruf Severings genüge“ und das Reichsbanner stünde zum Kampf bereit25 oder dass das Reichsbanner notfalls „Gewehr bei Fuß“ stehen müsse und dessen Mitglieder bereit seien, ihr Leben für die Republik zu geben.26 Mitunter wurden in der Reichsbannerpublizistik auch sehr konkrete militärische Ausbildungsziele gesteckt. So insbesondere von Hermann Schützinger in dessen Kampfbrevier, wo detaillierte Anforderungen und Richtlinien für eine republikanische Hilfspolizei samt beispielhaften Übungsskizzen aufgeführt werden.27 Wie Schützinger wiederholt auf Veranstaltungen des Reichsbanners ausführte, sei es nicht die Aufgabe einer republikanischen Hilfspolizei, die Hauptlast eines Kampfes gegen mögliche Putschisten zu führen. Dies müsse man der professionell trainierten Polizei überlassen, da sich auf diesem Gebiet von Laien nicht improvisieren lasse. Die Hilfspolizei könne aber, wie der Name schon sage, zahlreiche wichtige Hilfsfunktionen erfüllen und so die personell sehr knapp ausgestattete Schupo entlasten. Zur Vorbereitung auf diese Aufgabe rief Schützinger dazu auf, körperliches und „technisches“ Training zu betreiben. Man brauche zur Vorbereitung auf den Ernstfall keine Paraden und Bannerweihen, sondern Sport, Nachtübungen und Reisemärsche. Dies hieße aber nicht, dass das Reichsbanner sich selbst die Funktionen der staatlichen Waffenträger aneignen dürfe. Das Reichsbanner sei eine Reserve und Unterstützung der Schupo und auch der Reichswehr. Ab 1927 setzte sich Schützinger auch verstärkt für den Ausbau des Schießtrainings im Reichsbanner ein. Man dürfe, so sein Hauptargument, den rechten Wehrverbänden das Kleinkalibergewehr als „wichtiges Kraftelement“ nicht überlassen. Während kleinkalibrige Gewehre für Feldgefechte praktisch nutzlos seien, würden sie bei inneren Unruhen oder einem Bürgerkrieg eine entscheidende Bedeutung haben. Da ein umfassendes Verbot dieser Waffen politisch nicht gewollt werde, müsse sich das Reichsbanner um eine Ausbildung seiner Mitglieder in dieser Richtung bemühen, sodass es die Polizei in Notfällen unterstützen könne.28

25 Vgl. „An die Gewehre!“, in: RBZ vom 1.12.25. 26 Vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 3.3.27, in: THStA, P 285, Bl. 39f. Das Zitat aus einer Ansprache von Theodor Haubach am 26.2. 27 Siehe Schützinger, Kampfbrevier 1924, S. 63–80. Die Skizzen beschreiben u.a. den Ablauf eines Anmarsches, einer Räumung, einer Abriegelung und eines Angriffes auf eine befestigte Stellung. 28 Vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Stuttgart vom Juli 1926, in: THStA, P 521, Bl. 154. Dort der Bericht über eine Versammlung des Reichsbanners in Stuttgart am 6.7.26 mit Schützinger als Hauptredner. Zur Kleinkaliber-Frage: „Kleinkaliber und Republik“ von Hermann Schützinger, in: RBZ Nr. 3/1927 vom 1.2. Dieser Artikel erschien zuerst in der BVZ und stellte eine kritische Reaktion auf einen Artikel des Pazifisten Hans Wehberg dar, der in der BVZ Nr. 12/1927 vom 8.1. erschienen war. Hierzu bereits die Ausführungen zum Pazifismus oben.

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Solche markigen Worte und Bekenntnisse ließen die angesprochenen Amtsträger aufhorchen, wenn auch nicht in der erhofften positiven Weise.29 Für das Reichswehrministerium fragte Schleicher beim Reichsinnenministerium etwa an, ob ein Bericht der Celler Volkszeitung über eine Geländeübung des Reichsbanners richtig gewesen sei und die Republikaner tatsächlich ein „Manöver“ samt „Sturmangriff“ geübt hätten.30 In einem anderen Fall erbat das Reichswehrministerium genauere Informationen über eine Nachtübung des Reichsbanners bei Seelendorf, wo offenbar eine Leuchtkugel abgefeuert wurde, die nur aus Heeresbeständen stammen konnte. Das Reichsinnenministerium konnte in solchen Fällen keine eigenen Untersuchungen durchführen und war daher gezwungen, weitere Erkundigungen über diesen Sachverhalt bei den Innenministerien der betreffenden Länder anzufragen. Die vergleichsweise geringen Kompetenzen des Reichsinnenministeriums insbesondere in Fällen von politischer Kriminalität brachte Probleme mit sich, da die Länderangaben meist nicht überprüfbar waren.31 Auch im Fall Seelendorf ist die Neutralität des leitenden preußischen Beamten zumindest fragwürdig, da der über die Aktivitäten des Reichsbanners berichtende Wilhelm Abegg selbst ein führendes Mitglied des Bundes war. Abegg versicherte dem Reichsinnenministerium, dass die Geländeübung bei Seelendorf wohl von Kommunisten und nicht von Republikaner durchgeführt worden sei, da ein Zeuge rote Armbinden gesehen haben wolle. Ob diese Einschätzung nun aber richtig war oder nicht, konnte von Seiten des Reiches nicht nachgeprüft werden, zumal der Vorgang erst nach mehreren Monaten erledigt war.32 Eine andere Geländeübung verursachte aus ähnlichen Gründen wesentlich mehr Probleme. In der Nacht vom 28. zum 29. August 1926 hatten Zeitungsberichten zufolge die Reichsbanner-Ortsgruppen von Konstanz, Schwenningen, Villingen, Offenburg und Rottweil eine großangelegte Nachtübung bei Donaueschingen durchgeführt, was von Seiten des Reichsbanners auch nicht bestritten wurde. Etwa 200 Mann und mehrere Radfahrer hatten mit schwarz-rot-goldenem Fahnenschmuck eine Wanderung gemacht, so der Zeitungsbericht des Reichsbanners. Die regionalen Zeitungen waren jedoch anderer Ansicht über den Charakter des Ereignisses und sahen in der Wanderung eine gegen die in Donaueschingen stationierte Reichswehr gerichtete Drohdemonstration. Es sei sogar die Zernierung, also militärische Einkreisung, des Reichswehrstandortes geübt worden. Dem vorausgegangen war die polizeiliche Beschlagnahmung eines privaten Waffendepots, 29 Zur Verbreitung des Kleinkaliberschießens in republikanischen Kreisen wurde 1927 das Reichskartell Republik (RKR) als eine Art Schützenverein des Reichsbanners gegründet. Wichtig ist aber, dass sich Höltermann bei Reichskanzler Marx für eine Verschärfung der Waffengesetze eingesetzt hat und dies lange vor der Gründung des RKR (vgl. Schreiben Höltermanns an Kanzler Marx vom 23.8.26, in: BArch R1501/113501 Bl. 86f.). 30 Vgl. Schreiben Schleichers an RIM vom 25.11.26, in: BArch R1501/113502, Bl. 118. Der betreffende Bericht stammte vom 27.10.26. Weitere Folgen dieser Anfrage sind im Aktenmaterial nicht enthalten. 31 Siehe oben. 32 Vgl. Schreiben des RWM an RIM vom 1.5.26, Schreiben des prIM an RIM vom 27.8 u. Schreiben des RIM an RWM vom 14.9., alle in: BArch R1501/113502, Bl. 88ff.

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welches offenbar auch Waffen der Reichswehr beinhaltete, die aber offiziell nicht als vermisst gemeldet waren. Die Vermutung lag nahe, dass es sich um Waffen handelte, die rechtsgerichteten Gruppen von der Reichswehr zur Aufbewahrung übergeben worden waren, was in republikanischen Kreisen großen Unmut ausgelöst hatte. Den betreffenden Zeitungsberichten zufolge habe das Reichsbanner mit Marschsicherung, Feldwachen, Blinksignalen und Leuchtkugeln gearbeitet, was den militärischen Charakter der Übung klar beweise. Ferner hätten Reichsbannermitglieder Passanten angehalten und deren Papiere kontrolliert, womit sie eine strafbare Amtsanmaßung begangen hätten. Erneut fragte nun das Reichswehrministerium beim Reichsinnenministerium an, ob diese Berichte wahr seien.33 Aufgrund des bekannten Dienstweges musste das Reichsinnenministerium diese Anfrage an das badische Innenministerium weiterleiten. Insbesondere wollte man wissen, ob ein Verstoß gegen Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages vorliege, der auch später bei ähnlichen Strafverfolgungsmaßnahmen gegen das Reichsbanner herhalten musste. Erneut war damit ein Fall eingetreten, in dem ein prominentes Mitglied des Reichsbanners, diesmal der badische Innenminister Adam Remmele (SPD), über potentiell strafbare Aktivitäten des Bundes Auskunft geben musste. Nach einer Absprache mit dem badischen Reichsbannergau meldete Remmele an das Reichsinnenministerium, dass die Übung zwar tatsächlich in einer ähnlichen Weise stattgefunden habe, dies aber ohne das Wissen und die Billigung des Gaues geschehen sei. Es habe sich vielmehr um eine eigenmächtige Handlung des Freiburger Bezirksführers Kopp gehandelt und im Wiederholungsfalle werde der Gau gegen die betreffenden Personen einschreiten. Mit dieser Erklärung gab sich Remmele zufrieden und war nicht bereit, weitere Ermittlungen oder gar Strafmaßnahmen gegen das Reichsbanner durchzuführen. Diesem Standpunkt schloss sich der Reichsinnenminister Külz ebenfalls an.34 Die Erklärung des badischen Reichsbannergaues deckte sich durchaus mit der Haltung der Reichsbannerbundesleitung. Diese teilte wenige Monate später dem Reichsinnenministerium mit, dass im Reichsbanner bereits Ende 1924 jegliches militärische Exerzieren oder Felddienstübungen ebenso verboten worden seien wie militärtheoretische Fortbildungen und lediglich Sport und Marschübungen durchgeführt würden.35 Diese Stellungnahme Hörsings war Teil einer Reichstagsdebatte, die durch eine Interpellation der DNVP ausgelöst wurde. Diese Fraktion hatte von der Regierung wissen wollen, was über die Geländeübung in Donaue33 Vgl. Schreiben des RWM an RIM vom 11.9. samt anliegenden Zeitungsberichten, in: BArch R1501/113502, Bl. 97ff. Es handelte sich um Artikel aus dem Schwäbischen Merkur vom 2.9. und dem Konstanzer Volksblatt vom 30.8. 34 Vgl. Schriftwechsel vom September und Oktober 1926, in: BArch R1501/113502, Bl. 102ff. Kopp blieb im Übrigen auch weiterhin in seinem Amt. Zum Geländespiel in Donaueschingen: Böhles 2016, S. 282f. 35 Vgl. Schreiben Hörsings an RIM Zweigert vom 3.12.26, in: BArch R1501/113502, Bl. 120. Dieses Verbot wurde tatsächlich auf allen Organisationsebenen bekannt gegeben und i.d.R. auch eingehalten. Nicht-militärische Übungen wurden weiterhin durchgeführt, wobei die Grenze zu einer „militärischen“ Übung fließend gewesen ist (vgl. Protokolleintrag der OG Darmstadt vom 10.10.24, in: HStAD, G12B, 33/2).

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schingen bekannt sei und ob insbesondere ein Angriff auf die Reichswehr geprobt worden war. Schließlich seien solche Übungen Hochverrat und eine starke Gefährdung der Sicherheit des Reiches, so die angesichts zahlreicher StahlhelmÜbungen recht scheinheilige Anklage der DNVP.36 Neben waffenlosen Geländeübungen sind vom Stahlhelm schließlich auch Schießübungen im Gelände durchgeführt worden. So erregte eine bewaffnete Übung des Stahlhelms im tschechoslowakischen Grenzgebiet sogar internationale Spannungen.37 Diesem durch die DNVP ausgelösten parlamentarischen Aufruhr schloss sich die nationalsozialistische Deutschvölkische Freiheitspartei (DVFP) mit einer inhaltlich sehr ähnlichen Anfrage an die Reichsregierung an.38 Das Mittel der parlamentarischen Anfrage wurde hier für eine scharfe mediale Auseinandersetzung genutzt, die sich gegen Jahresende um die Reichsbannerübung entwickelt hatte, als die Berichterstattung hierüber von der regionalen in die überregionale Presse wanderte. Insbesondere die Deutsche Zeitung hatte die bekannten Fakten mit Schlagwörtern wie „Reichsbannerkrieg“ und „Bürgerkriegs-Vorbereitungen“ wieder angeheizt.39 Die SPD polemisierte auch im Reichstag gegen solche Begriffe, wenn etwa Wilhelm Sollmann sich in ironischer Weise bei der DNVP für ihre Interpellation mit den Worten bedankte, dass nur so „ein Blutbad an der Reichswehr“ verhindert werden konnte.40 Auch der im Januar 1927 neu ernannte Reichsinnenminister Keudell nahm im Reichstag zur Geländeübung in Donaueschingen Stellung, wobei er die Sache als zwar bedenklich aber abgeschlossen darstellte.41 Bei neuen Geländeübungen war Keudell auf Aufklärung bedacht. Im Falle einer vermeintlich gemeinsamen Übung des Reichsbanners mit dem RFB in Altona (welches damals zu Preußen und nicht zur Stadt Hamburg gehörte) im März 1927 beauftragte Keudell den RKO nähere Ermittlungen zu tätigen. Einer Anfrage des Reichswehrministeriums bei Keudell bedurfte es dazu nicht. Da das preußische Innenministerium dem RKO allerdings keine Informationen über die vermeintliche Geländeübung mitteilen konnte, verlief die Sache im Sand. Von der Hamburger Polizei wurden jedoch Verwarnungen an das Reichsbanner, den RFB und

36 Vgl. Interpellation von Hanemann und Genossen vom 8.12.26, in: BArch R1501/125668j, Bl. 1ff. In der Interpellation wird hervorgehoben, dass sich auch Führer des örtlichen Zentrums und der DDP an der Reichsbannerübung beteiligt hätten. 37 Berichte über diese und andere Stahlhelm-Übungen in: BArch R1507/3064, Bl. 74–80. Dort auch die Ansicht, dass die Geländeübungen des Reichsbanners durch die Übungen des Stahlhelms provoziert würden (vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten Büchting an den Breslauer Oberpräsidenten vom 13.10.24, in: Ebd., Bl. 74ff.). 38 Siehe Anfrage von v. Gräfe und Genossen vom 23.12.26, in. BArch R1501/125668j, Bl. 15f., 18 u. 20. 39 Siehe „Nochmal der Reichsbannerkrieg um Donaueschingen“, in DZ Nr. 345/1926 vom 15.12., „Bürgerkriegs-Vorbereitungen des Reichsbanners. Ein neuer Streich Hörsings“, in: DZ Nr. 2a/1927 vom 4.1. sowie als Gegenbeispiel „„Reichsbanner gegen Reichswehr“. Richtigstellung eines deutschnationalen Märchens“, in: Vorwärts Nr. 605/1926 vom 24.12. 40 Vgl. Sitzung des Reichstages am 17.3.27, in: BArch R1501/125668j, Bl. 23. 41 Vgl. Sitzung des Reichstages am 21.3.27, in: BArch R1501/125668j, Bl. 24.

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auch den Jungstahlhelm, der im März eine eigene Geländeübung veranstaltet hatte, ausgesprochen.42 Dass Keudell interessierter daran war, belastende Informationen über die linken Wehrverbände zu sammeln, als sein Amtsvorgänger von der DDP, mag nicht erstaunen. Auf die Umstände von Keudells Verbotsinitiative gegen den RFB, die bei Erfolg wohl mittelfristig auch ein Verbot des Reichsbanner zur Folge gehabt hätte, wurde bereits eingegangen.43 Um die Republikanisierung der Reichswehr Im vierten Jahr seiner Existenz fühlte sich das Reichsbanner durchaus nicht mehr in der Offensive. Die rechten Wehrverbände und insbesondere der Stahlhelm waren von der mitregierenden DNVP offen unterstützt worden und die wiederholten Regierungskrisen des Bürgerblocks, die sich um die Beteiligung oder Nichtbeteiligung dieser Partei entwickelt hatten, untergruben das allgemeine Vertrauen in die parlamentarische Demokratie. Die Drohung einer rechtsgerichteten Präsidialregierung war durchaus real. In einem ausführlichen Artikel für die RBZ widmete sich Hörsing den politischen Problemen und der Gefahr durch die Rechtsverbände, in dem er auch das Verhältnis des Reichsbanners zur Reichswehr besprach. Angesichts der bedenklichen militärischen Aktivitäten der Rechtsverbände, so Hörsing, müsse sich das Reichsbanner verstärkt für eine stabile republikanische Regierungsmehrheit einsetzen, der auch die DVP zugerechnet werden müsse. Die größte Gefahr sei nicht, dass Hindenburg oder die Reichswehr den Einflüsterungen der Rechtsverbände erliegen und einen Putsch versuchen würden. Man sei sich in der Wilhelmstraße durchaus im Klaren darüber, dass die militaristischen Forderungen der Rechtsverbände momentan unerfüllbar und für die nationale Lage Deutschlands sehr schädlich seien. Die eindeutig bestehenden persönlichen Verbindungen zwischen der Reichswehr und den Rechtsverbänden, die etwa bei Kameradschafts- und Gedenkfeiern zusammentreffen würden, seien durchaus gegen die Interessen des Reichswehrministeriums gerichtet. Dieses sei scharf darauf bedacht, seinen Einfluss nicht an die Rechtsverbände zu verlieren. So fürchte der gemäßigte Teil der Reichswehr, dass er nach einem erfolgreichen Putsch von den radikalen Angehörigen der Rechtsverbände verdrängt würde. Angesichts dieser Putschphantasien im rechten Lager müsse das Reichsbanner sich scharf gegen jegliche bedenklichen Aktivitäten der Rechtsverbände und auch des RFB einset42 Hierzu der Schriftwechsel zwischen RIM, RKO und Hamburger Polizei, in: BArch R1501/125668j, Bl. 42f. u. 56ff. 43 Keudells offene Ablehnung gegenüber dem Reichsbanner wurde durchaus erwidert, wie u.a. eine scharfe Kritik einer Rede Keudells in der RBZ belegt. Keudell hatte in München ausgeführt, dass er sich keinen besseren Ort zur Wahrung der Reichsinteressen vorstellen könne, da München sich in Zeiten schwerster nationaler Erniedrigung als Kraftzentrum bewahrt habe. Angesichts der zahlreichen von München ausgehenden antirepublikanischen Verschwörungen beurteilte die RBZ-Redaktion diese Rede als den Ausdruck einer blühenden Phantasie (vgl. „Reichsbanner-Beobachter“, in: RBZ Nr. 10/1927 vom 15.5.).

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zen, da eine Aktion der Kommunisten schlimmstenfalls ein willkommener Anlass für die Rechtsverbände sein könne, um auf eigene Rechnung loszuschlagen.44 Die Einschätzung der Reichswehrhaltung durch Hörsing ist insofern realistisch, als dass er keineswegs annimmt, dass die Reichswehrangehörigen aufgrund ihrer inneren, politischen Haltung nicht bereit seien, an einem Rechtsputsch mitzuwirken, sondern nur aufgrund der real gegebenen Machtverhältnisse gegen solche Hasardeurs-Stücke eingestellt waren. Entgegen den offiziellen Beteuerungen waren die Soldaten der Reichswehr mehrheitlich keineswegs republikanisch gestimmt, was in Reichsbannerkreisen schmerzlich konstatiert wurde. Der Bundessyndikus Horst Baerensprung führte aus, dass die Versuche, die Reichswehr als ein „unpolitisches“ Staatsorgan zu verkaufen und daher alle „politischen“ Einflüsse, also auch republikanische, von den Soldaten und Offizieren fernhalten zu wollen, im höchsten Masse schädlich für die Republik seien. Die Reichswehr sei bereits ein politisches Instrument und habe sich mehrfach in innere Angelegenheiten der Republik eingemischt, so insbesondere beim Kapp-Putsch. Das Ziel sei angesichts dessen nicht die Reichswehr zu politisieren, sondern sie in einem politischen Sinne zu neutralisieren. In anderen Demokratien sei die staatspolitische Betätigung der Soldaten eine Selbstverständlichkeit. Nur durch eine angemessene politische Bildung seien diese in der Lage den Lügen von Putschisten zu widerstehen.45 Dieser Debatte um die Rolle der Reichswehr schloss sich Theodor Körner, der in Österreich maßgeblich an der Republikanisierung des Heeres mitgewirkt hatte, mit einem Gastbeitrag an. Auch Körner kritisierte das Schlagwort vom „unpolitischen Heer“, da dieses oft für reaktionäre Zwecke missbraucht werde. Eine „Politisierung“ des Heeres wie in Österreich bedeute hingegen nur, dass das Heer die demokratische Staats- und Regierungsform anerkenne und in diesem Sinne seinen Auftrag die verfassungsmäßigen Organe zu schützen auch verinnerliche. Durch eine parlamentarische Kontrolle und die Anerkennung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten der Soldaten könne der Herausbildung eines „Prätorianergeistes“ gut vorgebeugt werden.46 Auch der ehemalige Major Kurt Anker meldete sich zu Wort. Gewiss hätten 1918 die Offiziere nicht aus Überzeugung die Republik unterstützt, sondern hierbei nur einen Befehl der OHL befolgt. Mittlerweile habe sich in den Reihen der Reichswehr aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass die durch den „monarchistischen Klassenstaat“ hervorgerufenen gesellschaftlichen Gegensätze am besten in 44 Vgl. „Wohin marschieren wir? Pläne der Rechtsverbände“ von Otto Hörsing, in RBZ Nr. 2/1927 vom 15.1. Ähnliche Ansichten über den nicht-realisierten Wunsch in Rechts- und Reichswehrkreise nach einem „legalen“, trockenen Putsch mit dem Art. 48 formulierte Schützinger (siehe „Marschälle und Revolutionen“ von Hermann Schützinger, in: Das Panier Nr. 8/1926). 45 Vgl. „Wehrmacht und Politik“ von Horst Baerensprung, in: RBZ Nr. 2/1927 vom 15.1. 46 Vgl. „Die Wehrmacht in der Republik. Ein unpolitisches Heer?“ von Theodor Körner, in: RBZ Nr. 3/1927 vom 1.2. In ähnlicher Weise sprach sich auch Haubach für eine Politisierung der Reichswehr nicht in einem partei-, sondern in einem staatspolitischen Sinne aus (vgl. „Reichswehr und Macht“ von Theodor Haubach, in: DR Nr. 23/1927).

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der Demokratie vermittelt werden können. In der Reichswehr sei eine wachsende Anzahl von „Vernunftrepublikanern“ an der Überwindung der „Parteienzerrissenheit“ ebenso interessiert wie jeder Republikaner im Reichsbanner.47 Solche reflektierten und mitunter durchaus zukunftsweisenden Wortmeldungen sollten als Maßstab für die weitere Debatte über die Reichswehr in Reichsbannerkreisen herangezogen werden, der allerdings nicht immer eingehalten wurde. Konkrete Gründe für eine eher polemische Auseinandersetzung mit der Rolle des Heeres in der Republik gab es genug. Vielerorts verkehrten selbst Offiziere mit den Angehörigen von verfassungsfeindlichen Rechtsverbänden, worauf etwa Hörsing in seinem eben zitieren Artikel öffentlich hingewiesen hatte.48 Angesichts solcher Verbindungen musste es die Republikaner besonders empören, wenn ihnen als verfassungstreuen Bürgern der Kontakt mit Reichswehrangehörigen untersagt blieb. So fragte die RBZ-Redaktion beim Reichswehrminister offen an, ob es stimme, dass das Reichsbanner im Reichswehrministerium sogar als „staatsfeindliche Organisation“ angesehen werde, wie es aus einer in der Zeitung Junge Menschen zitierten ministeriellen Notiz hervorgehe. Dies wurde von Geßler aber immerhin in einem offenen Antwortschreiben verneint.49 Die als Lohmann- bzw. Phoebus-Skandal bekannte Korruptionsaffäre, in die das Reichswehrministerium verstrickt war, bildete ebenfalls einen berechtigten Grund für die Skepsis der Republikaner. Der Reichswehroffizier Lohmann hatte in illegaler Weise Gelder des Ministeriums, die eigentlich für ebenso illegale, versteckte Rüstungsprojekte der Marine gedacht waren, in verschiedene private Unternehmungen gesteckt und hierbei geschäftliche Einbußen erleiden müssen, woraufhin dies aufgeflogen war.50 Nachdem Seeckt bereits 1926 durch Schleicher ersetzt worden war,51 musste nun Geßler sein Amt räumen und wurde durch den parteilosen Wilhelm Groener ersetzt. Die Ernennung Groeners ist im Nachhinein als erster Schritt in Richtung einer präsidialen Regierungsweise zu werten, da es Hindenburg war, der allein über diese Personalie entschied. Der Reichskanzler Marx ließ erkennen, dass er entgegen seines verfassungsmäßigen Vorrechtes kein 47 Vgl. „Offizier und Verfassung” von Major a. D. Kurt Anker, in: RBZ Nr. 17/1927 vom 1.9. Interessant ist Ankers Wortmeldung insbesondere vor dem Hintergrund seiner mehrjährigen aktiven Tätigkeit für den Stahlhelm. So war Anker einer der gefragtesten Referenten des Frontsoldatenbundes bevor er 1926 oder 1927 zum Reichsbanner wechselte (siehe hierzu das Material in Ankers Nachlass: BA Freiburg N2006/7, 8 u. 10). 48 Siehe „Wohin marschieren wir? Pläne der Rechtsverbände“ von Otto Hörsing, in RBZ Nr. 2/1927 vom 15.1. Hörsing nennt u.a. einen führenden Wiking-Mann, der bei der Kieler Reichswehr „ein und aus“ gehe. 49 Vgl. „Reichsbanner-Beobachter“, in: RBZ Nr. 10/1927 vom 15.5. u. in: RBZ Nr. 11/1927 vom 1.6. 50 Zum Lohmann/Phoebus-Skandal: Hürter 1993, S. 54ff. sowie als Illustration der Haltung des Reichsbanners: „Stinnes im Reichswehrministerium. Der Lohmann-Skandal” von Kurt Heinig, in: RBZ Nr. 11/1928 vom 29.4. 51 Was in Reichsbannerkreisen als Fortschritt gewertet wurde. Hierzu „Reichswehr und Reichsbanner. Heer und Republik“ von Karl Höltermann, in: RBZ Nr. 20/1926 vom 15.10., worin es heißt, dass Seeckts Rücktritt ein „Triumph der Weimarer Reichsverfassung“ gegenüber dem verfassungswidrigen Einfluss der Heeresleitung darstelle (vgl. ebd.).

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Interesse daran hatte, über die Besetzung dieses kritischen Ministerpostens zu bestimmen, aber auch die oppositionelle SPD drängte in dieser Frage nicht auf eine verfassungskonforme Lösung. Der „überparteiliche“ und damit parlamentsferne Anspruch des Heeres wurde von den Parteien akzeptiert.52 Im Reichsbanner war man aber nicht gewillt, diesen letztlich demokratiefernen Standort der Reichswehr anzuerkennen. In einem seiner programmatischen Artikel äußerte sich Hörsing zurückhaltend gegenüber Groeners Benennung, obwohl dieser in der republikanischen Presse mitunter als „republikanischer“ Kandidat begrüßt wurde. In diesem Kontext lieferte Hörsing eine umfassende Abrechnung mit der Wehrpolitik von Groeners Amtsvorgängern und insbesondere Noske. Natürlich stünde es Groener frei das Reichsbanner durch eine entschieden republikanische Politik von sich zu überzeugen, indem er die Reichswehr zu einem Instrument der Republik mache, welches es bislang eben nicht sei. Geßler und Noske seien in dieser Hinsicht aber als gescheiterte Wehrminister zu betrachten. Erst habe Noske die Reichswehr auf ein antirepublikanisches Gleis gestellt und dann hätte Geßler dies nicht korrigieren können. Noske habe damit die wichtigste Lehre des Weltkriegs nicht beachtet, die laute, dass eine „organische“ Verbindung zwischen Volk und Heer als Einheit hergestellt werden müsse. Noske habe insbesondere den Fehler begangen, das Heer zu einem innenpolitischen Kampfinstrument gemacht zu haben, während es vielmehr seine Aufgabe als SPD-Innenminister hätte sein müssen, dem Reich eine zuverlässige Polizeitruppe zur Verfügung zu stellen. Die verheerende Wirkung dieses Fehlers habe man im Kapp-Putsch und im Jahr 1923 zu spüren bekommen. Aufgrund dieser Ereignisse bestünde weiterhin ein großes Misstrauen im Volk gegenüber der Reichswehr. Ohne Rückhalt im Volk sei die Reichswehr aber auch außenpolitisch nutzlos. Daher müsste sofort die Polizeigewalt dem Reich übertragen werden, sodass die Reichswehr von ihrer inneren Aufgabe erlöst werde. Groener könne dies allein nicht bewerkstelligen, aber wenigstens tatkräftige Unterstützung leisten und sich auch aus militärischen Überlegungen heraus als „Kämpfer gegen die Kleinstaaterei“ profilieren.53 Groener jedoch ging nicht auf diese Forderungen ein, sondern führte im Wesentlichen die bisherige Politik des Reichswehrministeriums gegenüber dem Reichsbanner weiter. Seit 1926 war es zu keinen weiteren Beschwerden über Ge52 Hierzu ausführlich Hürter 1993, S. 37ff. 53 Vgl. „Reichswehrminister Groener“ von hoe. [d.i. wahrscheinlich Otto Hörsing und nicht Höltermann], in: RBZ Nr. 3/1928 vom 1.2. Was Hörsing mit dem Anspruch einer „organischen Verbindung“ zwischen Volk und Heer meinte, präzisierte er andernorts. So müssten die Arbeiterklasse und die Reichswehr zusammengebracht werden und insbesondere die republikanische Jugend solle als Heeresersatz organisiert werden. In diesem Sinne begrüßte Hörsing das neue Wehrprogramm der SPD, welches auch von führenden RB-Mitgliedern wie Höltermann und Leber ausgearbeitet worden war (vgl. „Reichsbanner und Reichswehr. Hörsing zum Wehrprogramm“, in: VZ Nr. 616/1928 vom 31.12.). Zum SPD-Wehrprogramm: Beck 1983, S. 72–87 u. Winkler 1988, S. 629ff. sowie zu Lebers Positionen: Leber 1952 u. Leber 1976. Leber teilte u.a. den Anspruch an den Soldaten als Staatsbürger in Uniform, der republikanisch gebildet sein müsse.

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ländeübungen des Reichsbanners gekommen. Aber weitere schwebende Streitfragen bezüglich einer republikanischen Hilfspolizei und anderen vermeintlichen oder tatsächlichen paramilitärischen Aktivitäten des Reichsbanners blieben bestehen.54 So wurde jegliche Verbindung zwischen den Länderpolizeien und dem Reichsbanner in rechts gesinnten Kreisen wie auch im Reichswehrministerium mit äußerster Skepsis betrachtet, was dazu führte, dass eine offizielle Kooperation insbesondere zwischen der preußischen Schupo und dem Reichsbanner nie zustande kam. Umstritten war bereits die Frage, ob Polizeibeamte dem Bund angehören dürften. Dass Mitgliedern der Reichswehr ein Engagement im Reichsbanner streng verboten war, sollte klar sein und dies unabhängig davon, ob dies mit einer „Staatsfeindlichkeit“ oder einfach einer „politischen“ Haltung des Reichsbanners begründet wurde. Die rechtliche Grundlage hierfür war der §36 des Wehrgesetzes, der jegliche „politische“ Betätigung der Reichswehrsoldaten verbot.55 Den Bemühungen des Reichsbanners um die Reichswehr waren somit mehr oder weniger klare juristische Grenzen gesetzt, auch wenn dieselben Grenzen nach rechts von der Reichswehr nicht eingehalten wurden, während die Annäherungsversuche in Richtung der preußischen Schupo an Severing und dem Druck der DVP scheiterten. Zugespitzt lässt sich formulieren, dass Severing die Gewaltkultur des Reichsbanners ablehnte, auch wenn er dessen demokratische Zivilkultur begrüßte, während es bei Schleicher genau umgekehrt war. Schleicher störte sich an den zivilkulturellen Aspekten im Selbstverständnis des Reichsbanners. Hätten die Republikaner ähnlich wie die Stahlhelmer die „unpolitische“ Sonderstellung der Reichswehr innerhalb der Republik toleriert oder gar gefördert, dann ist davon auszugehen, dass das Reichswehrministerium gnädiger auf das Reichsbanner geblickt hätte. Da aber eine republikanische Zivilkultur ebenso zum Bund gehörte wie eine republikanische Gewaltkultur, konnte das Reichsbanner so unterschiedliche Akteure wie Schleicher und Severing nicht für das eigene Sicherheitskonzept gewinnen.

54 So reagierte das RWM auch auf bloße Gerüchte, wie etwa die vermeintliche Bildung eines „militärisch aufgezogenen“ Gewerkschaftsschutzes durch das rheinländische Reichsbanner (vgl. Schreiben des RWM Wehrmachtabteilung an RIM vom 31.8.26, in: BArch R1501/113502, Bl. 82), obwohl es sich inhaltlich erkennbar um eine Übertreibung des Wortes „militärisch“ handelte. 55 Sinnigerweise berief sich selbst Groener in seinem Amt als Wehrminister darauf, dass er eine Veranstaltung des Reichsbanners aufgrund dieses Paragraphen nicht besuchen könne, obwohl er hierzu nicht mal als Wehr- sondern als Innenminister eingeladen worden war (siehe hierzu unten).

6. DIE JÜDISCHE BETEILIGUNG IM REICHSBANNER UND DIE ANTISEMITISCHE REAKTION DER REPUBLIKFEINDE Der Antisemitismus war ein gängiges agitatorisches Mittel der Rechtsparteien und rechten Wehrverbände, um das Reichsbanner anzugreifen und dies nicht ohne Erfolge. Diese Feststellung ist ob der Omnipräsenz des Antisemitismus im Denken der deutschen Rechtsradikalen für sich genommen banal, doch entwickelte sich über die Frage, inwiefern Juden tatsächlich an den Aktivitäten des Reichsbanners beteiligt waren, in der Reichsbannerliteratur eine der wenigen wissenschaftlichen Kontroversen, die um die Höhe des Einflusses von Juden im Reichsbanner kreiste.1 Ein Hauptgrund für die Unklarheit in dieser Frage ist, dass der Bund seinerzeit keine offiziellen Zahlen zur Zusammensetzung der eigenen Mitgliederstruktur veröffentlichte und folglich auch keine Daten zur Religionszugehörigkeit der Mitglieder vorhanden sind. Diese Praxis des Bundesvorstands wurde vor allem damit begründet, dass den Gegnern des Reichsbanners keine Auskunft bzw. „Munition“ gegeben werden sollte und erstreckte sich auch auf die Parteizugehörigkeit der Mitglieder. In diesem Sinne hätte etwa die Veröffentlichung einer Mitgliederstatistik, aus der hervorgegangen wäre, dass Juden überproportional im Verhältnis zur Bevölkerung im Reichsbanner vertreten seien, den antisemitischen Rechtsverbänden als Argument gegen das Reichsbanner dienen können. Man mag aus heutiger Sicht einwenden, dass die Rechtsverbände ohnehin gegen das Reichsbanner eingestellt waren und der Beleg einer Beteiligung aller Bevölkerungskreise im Reichsbanner genauso gut als Argument für den Bund als staatstragender republikanischer Organisation hätte verwertet werden können. Diese Ansicht verkennt jedoch die historische Realität der Weimarer Zeit. Antisemitismus vom Kaiserreich zur Weimarer Republik Antisemitismus war bereits Jahrzehnte vor dem Auftreten der NSDAP als militanter antisemitischer Bewegung ein verbreitetes gesellschaftliches Phänomen in Deutschland. Zwar wurden die Angehörigen der jüdischen Religion im Kaiserreich nicht systematisch vom Staat verfolgt.2 Es war im Gegenteil ein verfassungsrechtliches Novum, dass in der Reichsverfassung von 1871 alle Konfessionen grundsätzlich rechtlich gleichgestellt wurden. Doch gab es keine Bezüge auf universelle Menschenrechte in der Verfassung und folglich besaß jedes strafrech1 2

Siehe Rohe 1966, S. 76 u. dies kritisierend Toury 1997. Zum Antisemitismus im Denken der deutschen Rechtsradikalen: Breuer 2010. Für eine breitere historische Einordnung des Antisemitismus in der Kaiserzeit und die jüdische Reaktion hierauf siehe die beiden Beiträge von Wyrwa in: Wyrwa (Hg.) 2010 sowie Dietrich 2014. Ein herzlicher Dank geht an Dr. Christian Dietrich für Anregungen zu diesem Kapitel.

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tliche Verbot von Hetze gegen bestimmte Volksgruppen oder Religionsgemeinschaften keine besondere ethisch-moralische Verankerung. Der von Gott, in Wahrheit durch militärisch erschaffene Traditionen bestimmte Kaiser und die ihm verantwortlichen Regierungen waren dank besonders harter Schutzmaßnahmen vor jeder Anfeindung zwar nicht sicher, aber solche Äußerungen wurden als „gotteslästerliche Majestätsbeleidigung“ mit schweren Strafen bedacht. Kritikern des Staates und der Regierungen war in diesem Kontext die Möglichkeit gegeben, ihre Kritik trotz der repressiven rechtlichen Schutzmaßnahmen zu äußern, indem die Verantwortung für politische oder gesellschaftliche Missstände bei „den Juden“ als einer marginalen Minderheit der Gesellschaft gesucht wurde. Deren Anfeindung war nicht mit der Gefahr besonderer Repressalien verbunden, sondern wurde mitunter von staatlichen Akteuren gefördert, wobei regelmäßig verschwörungsund/oder rassentheoretische Argumentationsmuster benutzt wurden, um die tatsächlich marginale politische Bedeutung der jüdischen Minderheit zu verwischen. Der politisch organisierte Antisemitismus blieb in der Kaiserzeit zwar seinerseits eine Randerscheinung, allerdings verfestigten sich auch durch das Wirken der Antisemitenparteien bestimmte Denk- und Verhaltensmuster der antisemitischen Abwehr bzw. Zuweisung von Verantwortung. Selbst auf Institutionen, in denen eigentlich nur die Leistung zählen sollte, wie die Universität oder die Armee, hatte dies Auswirkungen. Wenn ein Überangebot an akademisch Ausgebildeten bestand, konnte die Verantwortung für dieses Missverhältnis auf die jüdischen Studierenden abgewälzt und musste nicht bei der gängigen Einstellungs- oder Ausbildungspraxis gesucht werden. Als 1916 offensichtlich war, dass der Krieg nicht wie versprochen innerhalb von Monaten gewonnen werden konnte, mussten ebenfalls Verantwortliche gefunden werden. Ursprünglich wurde die folgende „Judenzählung“, also die statistische Erhebung des Anteils von jüdischen Soldaten und deren Einsatzes an der Front, von rechtsradikalen Kreisen gefordert, um eine „jüdische“ Dienstverweigerungshaltung zu belegen. Als dies nicht gelang, sondern statistisch ermittelt wurde, dass relativ zur Bevölkerungsstruktur in etwa genauso viele Juden wie Christen in der Armee ihren Dienst taten, schaltete die Argumentation von der Schuldabwehr auf Schuldzuweisung um. Es wurde nun behauptet, dass gerade die Präsenz von Juden an der Front und in der Armee für das Ausbleiben von Erfolgen verantwortlich sei. Einer der wesentlichen Argumentationsstränge der nach der Kriegsniederlage verbreiteten Dolchstoßlegende wurde begründet.3 Vor dem Hintergrund dieser argumentativen Flexibilität ist es ersichtlich, dass eine analoge „Judenzählung“ im Reichsbanner so oder so gegen den Bund und dessen jüdische Mitglieder gerichtet worden wäre.4 Effektiv konnten solche antisemitischen Argumentationsmuster von der „jüdischen Drückebergerei“ höchstens 3 4

Zur „Judenzählung“ im Ersten Weltkrieg: Rosenthal 2007. Zur Dolchstoßlegende bereits oben. Zum Antisemitismus in der Weimarer Republik: Bergmann/Wyrwa 2011, S. 70–85. Mosse betont denn auch, dass ein vermehrtes und öffentlicheres Engagement von Juden im Reichsbanner nicht notwendigerweise zu dessen Stärkung hätte führen müssen (vgl. Mosse 1966, S. 37).

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durch ein Auftreten von Juden als jüdische Frontsoldaten aufgebrochen werden, wie es im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) praktiziert wurde, die vom hohen Ansehen „des Frontsoldaten“ zehrten, aber folgerichtig auch eine (anfangs unfreiwillige) vereinsmäßige Separierung von Juden zur Voraussetzung hatte.5 Innerhalb des Reichsbanners wurde eine zweite Option des Umgangs mit antisemitischer Agitation gewählt und zwar die Entwicklung einer areligiösen, nationalrepublikanischen Position, welche die bestehenden Unterschiede zwischen den Konfessionen zu überspannen versuchte und neue, quasi höhere Gemeinsamkeiten entwickeln wollte. Dass rassentheoretische Nationskonzepte innerhalb des Reichsbanners nicht als Position des Bundes verbreitet wurden, dürfte sich eigentlich von selbst verstehen. Die Reichsbanner-Position ging von einem politischdemokratischem Nationskonzept aus und kreiste um die Nationsstiftung(en) der WRV von 1919 und vorher der Paulskirchenverfassung von 1848. Die Reichsverfassung von 1871 wurde dagegen explizit als „dynastisch“, also nicht-national und noch dazu „kleindeutsch“ abgewertet.6 Diese Ausführungen seien vorangestellt, wenn nun die jüdische Beteiligung im Reichsbanner diskutiert wird. Das Reichsbanner als „Judenschutztruppe“? Aufgrund des Fehlens der zentralen Mitgliederkarteien sind keine umfassenden Aussagen über die Mitgliederstruktur des Reichsbanners in dessen Gesamtheit möglich, dennoch können mehrere Beobachtungen in der hier interessierenden Hinsicht gemacht werden. Zwar wurden keine Listen von einfachen Mitgliedern in der Reichsbannerpresse veröffentlicht, dafür aber Listen der Ehren- und Reichsausschussmitglieder sowie der Vorstände des Reichsbanners, also jenen Personen, die den Bund nach außen repräsentierten. Während abgesehen von Paul Crohn (SPD) keine jüdischen Mitglieder des Reichsvorstands bekannt sind,7 fühlten sich mehrere Mitglieder des Reichsausschusses der jüdischen Religion zugehörig oder besaßen einen jüdischen Familienhintergrund. Dies sind insgesamt 16

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Zum RjF: Paucker 1969, Dunker 1977, Barkai 2002, Berger 2006, S. 187–203, Rosenthal 2007, S. 143–150 u. Grady 2010. Ohne den expliziten Ausschluss von Juden aus Kriegsteilnehmerverbänden wie dem Stahlhelm hätte sich der RjF wahrscheinlich nicht gebildet. Hierzu bereits oben sowie zur weiteren Illustration Reaktionen der RBZ auf die alljährlichen Reichsgründungsfeiern der Rechten: „Der 18. Januar?“, in: RBZ Nr. 2/1928 vom 15.2., „Ein Gespräch über den 18. Januar“ von Fritz Schwahn, in: RBZ Nr. 3/1930 vom 18.1. u. „Wir bauen das Reich. Der Sinn des 18. Januar“, in: RBZ Nr. 3/1931 vom 17.1. Es sind nicht alle Biographien der Mitglieder des Reichsvorstandes bekannt, auch wurden die Mitglieder der Gauvorstände nicht in dieser Arbeit berücksichtigt, da die biographische Erschließung dieser Personenkreise noch aussteht. Paul Crohn musste Deutschland in den 1930ern verlassen und verstarb im Januar 1945 im Judenghetto von Shanghai in Folge einer unbehandelten Krankheit (siehe Röder et al. (Hg.) 1983). Er selbst soll schon in den 1920ern dem Zionismus nahegestanden haben (Schriftliche Auskunft von Dr. Ilan Crohn an S. E.). Eine Erinnerungsschrift von Paul Crohn, welche die Zeit vor der Weimarer Republik behandelt, befindet sich in der Moses Mendelssohn Akademie in Halberstadt.

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von 179 Mitgliedern des Reichsausschusses oder 8,9%.8 Im Verhältnis zum jüdischen Anteil der Gesamtbevölkerung (~1%) erscheint diese Zahl recht groß und auch ein Blick auf die Berufsstruktur der betreffenden Personen verstärkt diesen Eindruck.9 Der ehemalige Reichsbannermann Arthur Schweriner (SPD), der als Syndikus des C.V. und als Journalist für die Vossische Zeitung tätig war, berichtete analog, dass aus seinem damaligen jüdischen Bekanntenkreis in Berlin fast Alle im Reichsbanner waren, was seiner Auffassung nach ein allgemeines Phänomen in Berlin gewesen sei. Schweriner beteiligte sich regelmäßig an den Demonstrationen des Reichsbanners und dessen Auseinandersetzungen mit der SA. Selbst die letzte große Demonstration des Reichsbanners im Berliner Lustgarten im Februar 1933 hatte er laut eigener Aussage noch in Uniform miterlebt.10 Ähnliche Einzelbeispiele von jüdischen Reichsbannermitgliedern ersetzen zwar keine umfassende statische Analyse, aber sie können illustrieren, warum sich diese Männer im Reichsbanner engagierten. So berichtete Arnold Munter (SPD), der das KZ Theresienstadt überlebte, dass der antisemitische Scheuenviertelpogrom von 1923 einen bleibenden Eindruck auf ihn hinterlassen hatte.11 Sein Vater, der den Sechsjährigen schon 1918 zu SPD-Demonstrationen mitnahm, hatte während der Krawalle einen Mann vor nationalsozialistischen Schlägern gerettet und 8

Siehe Dokumentenanhang Nr. 4. Dies sind: Georg Bernhard (Redakteur, DDP), Eduard Bernstein (Redakteur, SPD), Robert Breuer (Redakteur, SPD), Wilhelm Cohnstaedt (Redakteur, DDP), Erich Kuttner (Redakteur, SPD), Kurt Simon (Redakteur, DDP), Friedrich Stampfer (Redakteur, SPD), Theodor Wolff (Redakteur, DDP), Julius Deutsch (Politiker, SDAP), Ludwig Haas (Politiker, DDP), Paul Hirsch (Politiker, SPD), Ludwig Landmann (Politiker, DDP), Julius Lippmann (Politiker, DDP), Arnold Freymuth (Jurist, SPD), Wilhelm Kroner (Jurist) und Leopold Jessner (Theaterintendant). 9 Hier konnte nur die Berufsgruppe der Redakteure verglichen werden. Dies sind 8 von 16 Personen mit jüdischem Hintergrund (siehe oben). Während reichsweit von allen Redakteuren insgesamt 5,1% jüdischer Herkunft waren (siehe Dunker 1977, S. 16, Stand 1933), waren in allen Führungsgremien des Reichsbanners insgesamt 22,4% von Beruf Redakteur (42 von 186, Siehe Helmbold 1970, Anhang S. 47, Stand 1933), wobei hiervon ganze 20% einen jüdischen Hintergrund besaßen (8 von 42). Zu den sozioökonomischen Besonderheiten der Berufsstruktur der deutschen Juden ferner: Barkai 1998. 10 Vgl. Schweriner, Arthur: In Defense of Jewish Resistors, New York 1983 (posthum), S. 3 (in: Digi Baeck Onlinearchiv). Ähnliche anekdotische Beobachtungen zum starken Engagement von Juden im Reichsbanner bei Paucker 1969 u. Paucker 2003. Andere biographische Beispiele wären: Ludwig Stern, einer der Mitgründer des Reichsbanners in Württemberg, der dem Vorstand der DDP in Württemberg angehörte (siehe die biographische Notiz in: Frieda Stern: Zwei Jahre Frankreich…, in: Digi Baeck Onlinearchiv). Julius Hirsch, der im Juni 1932 dem Reichsbanner in Berlin beitrat (siehe Julius Hirsch Collection, Box 1, Folder 1, in: Digi Baeck Onlinearchiv) oder der Fotograf Omar Oscar Marcus (siehe Omar Oscar Marcus Collection, in: Digi Baeck Onlinearchiv). Ferner nennt Wiedl zwei Dutzend jüdische RBMitglieder in Wetzlar, die vielfach der DDP angehörten (siehe Wiedl 2013, S. 271). Becker gibt an, dass Arthur Batu der Reichsbannervorsitzende von Offenbach am Main jüdischen Glaubens war (siehe Becker 2000, S. 119). Laut Löwenstein war ferner der Reichsbannervorsitzende von Meseritz Jude (Siehe Löwenstein 1983, S. 81). 11 Zum Scheuenviertelpogrom vom 5. November 1923 ausführlicher Walter 1999, S. 151ff. Diese Vorkommnisse sind nicht zu verwechseln mit dem Kurfürstendamm-Krawall von 1931.

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Munter sei durch diese Ereignisse „nachdenklicher und bewusster“ geworden. Später übte er sich im Boxsport und war in der SPD, der SAJ und dem Reichsbanner aktiv.12 Wir kennen dieses Bedürfnis nach Schutz vor den gewalttätigen Übergriffen der Rechtsradikalen bereits von den pazifistischen Aktivisten des Reichsbanners. Was die jüdischen Reichsbannermitglieder neben solchen gewaltsamen Angriffen zusätzlich erleben mussten, war der Alltagsantisemitismus,13 wobei diesbezüglich Fred Uhlmann berichtet, dass diese alltäglichen Stiche nach dem verlorenen Weltkrieg häufiger geworden seien.14 Den Aufstieg des Nationalsozialismus erlebte Uhlmann dennoch als überraschenden, traumatischen Schock. Der Erfolg der NSDAP, so Uhlmann, habe ihm vorgeführt, dass er vorher in einer vergleichsweise toleranten Traumwelt gelebt habe, während Millionen, trotz der aufklärerischen Tradition Deutschlands, in ihrer politischen Unreife, Naivität und Unbildung auf die mit pseudowissenschaftlichen Argumenten untermauerte Rassenlehre der Nationalsozialisten hereinfielen. Uhlmann hob jedoch gleichfalls hervor, dass es eben auch Millionen Deutsche insbesondere aus der Arbeiterklasse gab, die den Antisemitismus ablehnten und diese gemeinsame Ablehnung verband Uhlmann mit der SPD und dem Reichsbanner.15 Er selbst unterstützte den Kampf des Reichsbanners als Rechtsanwalt und begleitete zahlreiche Reichsbannermitglieder vor Gericht, wo sie sich für die Auseinandersetzungen mit der SA rechtfertigen mussten, wobei Uhlmann recht drastische Anekdoten über die rechts orientierte Richterschaft einstreuen kann, denen er einen maßgeblichen Anteil an der Eskalation der Gewalt und dem Aufstieg der NSDAP gibt.16 In Württemberg waren lediglich zwei Anwälte für die gesamte Rechtsschutzarbeit des Reichsbanners verantwortlich: Uhlmann und Fritz Bauer (SPD). Beide waren Juden und in anderen Reichsteilen waren weitere jüdische Anwälte für das Reichsbanner tätig.17 Man wird allerdings genauso wenig etwas Jüdisches an den 12 Vgl. Erinnerungen Arnold Munter, in: BArch SgY30/2196/1 + 2. 13 Der Antisemitismus hatte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem kulturellen Code für anti-liberale Weltanschauungen und Werthaltungen entwickelt und war in diesem Sinne ein alltägliches Phänomen geworden (siehe Volkow 1990 u. Ziemann 2005). 14 Vgl. Uhlmann 1998, S. 37–42, 77ff. u. 98–121. Insbesondere in seiner Studienzeit in Tübingen wurde Uhlmann mit dem Antisemitismus seiner Kommilitonen konfrontiert. Zum Kontext: Ulmer 2011, insb. S. 331–366. 15 Das Verhältnis der SPD ist komplexer als wir es hier ausführen können (siehe Knütter 1971). Neben der DDP und Teilen des Zentrums war die SPD die einzige größere politische Strömung der Weimarer Republik, die den Antisemitismus entscheiden ablehnte und nicht bagatellisierte, sodass die jüdischen Wähler folgerichtig die Parteien der Weimarer Koalition bevorzugten (siehe Liepach 1996). 16 Vgl. Uhlmann 1998, S. 147–156. 17 Siehe Uhlmann 1998, S. 149 u. 157. Als Beispiele für jüdische Rechtsanwälte im Reichsbanners: Hugo Rosenthal (1884–1969) – parteilos, Vorsitzende des Israelitischen Männervereins von Wetzlar, Emigration in die USA (siehe Wiedl 2013, S. 262); Fritz Bauer (1903–1968) – SPD und RR sowie im Gauvorstand des Württemberger Reichsbanner, Emigration nach Dänemark und Schweden; Fritz Glück (1910–?), parteilos, Emigration nach Israel; Siegfried Goldschmidt (1890–?) – SPD, Staatsanwalt, Emigration in die USA; Herbert Pardo (1887–

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Aktivitäten dieser Männer finden, auch wenn sie als Personen mehr oder weniger starke Bindungen an das Judentum besaßen, wie bei ihren christlichen oder freidenkerischen Berufskollegen, die für das Reichsbanner arbeiteten.18 Mit Ulrich Wyrwa lassen sich fünf Strategien zur Abwehr antisemitischer Angriffe benennen: 1) Öffentlicher Einspruch, 2) zivilgesellschaftliches Engagement, 3) juristische Ahndung, 4) Gegenvereine, 5) Selbstschutz und bewaffnete Gegenwehr.19 Es ist ohne weiteres ersichtlich, dass all diese Strategien im Reichsbanner angewandt wurden und dies sowohl von jüdischen wie nicht-jüdischen Mitgliedern. Das Reichsbanner war als zivilgesellschaftliche Initiative zum Schutz der Republik auch eine Plattform, um juristischen, publizistischen, rhetorischen und selbst gewaltsamen Einspruch gegen Antisemitismus zu üben, auch wenn dies eher ein indirekter als direkter Vereinszweck war. Es ist gleichzeitig richtig, dass Juden (und Christen oder Freidenker) im Reichsbanner die Republik schützten und richtig, dass das Reichsbanner versuchte, Schutz für Juden (und Christen oder Freidenker) zu bieten. Insofern wäre es eine unnötige Verengung, das Reichsbanner als „Judenschutztruppe“ zu sehen, da es eine Schutztruppe für alle Republikaner unabhängig von ihrer Religion war. Eine andere Frage ist, welche Verbindungen zwischen dem Reichsbanner und jüdischen Organisationen bestanden, um gemeinsam am Schutz der Republik zu arbeiten. Die Anzahl der in diesem Sinne in Frage kommenden Organisationen ist überschaubar, wobei als weitaus größte jüdische Organisation der Weimarer Zeit der C.V. den antisemitischen und republikfeindlichen Bestrebungen der NSDAP entgegen trat und hierbei mit dem Reichsbanner vielfältig verbunden war. So waren unter anderen Erich Kuttner und Ludwig Haas sowohl im Reichsbanner als auch dem C.V. führend aktiv.20 Julie Meyer (DDP), die ebenfalls eine führende Rolle im C.V. und im RRB spielte, berichtet ausführlich in ihrer Denkschrift über die Abwehrarbeit des Centralvereins. Zwar hatte sich der C.V. schon seit der Kaiserzeit mit den Antisemiten auseinandergesetzt und hierbei vor allem eine aufklärende Strategie verfolgt, doch angesichts der Entwicklung des Antisemitismus zu 1974), SPD und Mitglied des Hamburger Gauvorstandes, Emigration nach Israel; Carl Rawitzki (1879–1963), SPD und Stadtverordneter in Bochum, Emigration nach Großbritannien; Rudolf F. Stahl (1899–?), parteilos und Dozent des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt a. M., Emigration in die USA (die Beispiele ab Bauer laut Röder et al. (Hg.) 1983). Andere jüdische Mitglieder des RR wie Freymuth und Kroner waren im Reichsbanner organisiert, aber waren wahrscheinlich nicht als Anwälte des Reichsbanners aktiv. 18 In diesem Sinne wären als Beispiele folgende Juristen zu nennen: der Bundessyndikus Horst Baerensprung (1893–1952) – SPD, Emigration in die USA und China; Robert Kempner (1899–1993) – SPD, Emigration in die USA; Otto Reinemann (1902–1976) – SPD, Emigration in die USA; Friedrich Wilhelm Wagner (1894–1971) – SPD- und RB-Gauvorsitzende der Pfalz, Emigration in die USA (alle Beispiele laut Röder et al. (Hg.) 1983). Weitere Beispiele im Dokumentenanhang Nr. 4 sowie bei Siemens 2017, S. 129f. 19 Siehe Wyrwa 2013, Kap. 2. 20 Siehe Paucker 1969, Barkai 2002, S. 196ff., Suchy 2003 u. Benz 2011, S. 30f. Aus der Führung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus (Abwehrverein) waren Wolfgang Heine und Heinrich Rönneburg im RB-RA aktiv (siehe Dokumentenanhang Nr. 4). Zur Abwehrarbeit des C.V. ferner: Enzenbach 2015.

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einem organisierten Massenphänomen in Form der NSDAP war der C.V. vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Zumal die bisherige Form der juristischen Auseinandersetzung und der inhaltlichen Gegenargumentation bei einem Gegner nicht fruchtete, der an einer rationalen Auseinandersetzung nicht interessiert war und Gerichtskosten einkalkulierte. Das Reichsbanner war in diesem Sinne eine willkommene Möglichkeit für den C.V., die eigenen Argumente mittels Broschüren unter die umkämpften Massen zu bringen. Demgemäß wurde dem Reichsbanner massenhaft Aufklärungsmaterial zur Verfügung gestellt, während finanzielle Beihilfen nur gering waren.21 Mit dem RjF als Interessenverband von Frontsoldaten gab es ebenfalls eine Zusammenarbeit, doch gestaltete sich diese schon schwieriger, da der RjF versuchte, sich möglichst neutral gegenüber allen nicht-jüdischen Veteranenverbänden zu verhalten und auch Beziehungen zum Stahlhelm unterhielt.22 Dennoch gab es zwischen den beiden Kriegsteilnehmerverbänden Reichsbanner und RjF durchaus regionale Kooperationen. So etwa bei gemeinsamen Gefallenengedenkfeiern in Hamburg oder in Worms, wobei es mitunter personelle Überschneidungen zwischen der lokalen Führung des Reichsbanners und der des RjF gab. So gehörte der Vaterländische Bund der jüdischen Frontsoldaten zu den regionalen Vorläuferorganisationen des Reichsbanners in Hamburg, wobei der Aufruf zur Gründung dieses Bundes die Parallelen, aber auch die Unterschiede zum Reichsbanner recht offensichtlich macht.23 Kameraden! Gleich einer sturmgepeitschten Meereswoge brandet ein fanatischer Haß gegen das Judentum. Gebieterisch ruft die Ehrenpflicht unser teures Erbgut in dem leidenschaftlichen, aufgewühlten Zeitlauf zu schützen, alle gehässigen Angriffe abzuwehren, die unserm nach schwerem, jahrhundertelangem Ringen erworbenen Eigentum drohen. In der

21 Siehe Meyer, Julie: „Jewish Anti-Defamation Work in Pre-Hitler Germany“ (1944), in: Tamiment Library & Wagner Labor Archives, Box: 270; Folder: 27, dort zum Reichsbanner ab S. 15. Meyer hebt hervor, dass individuelle Spenden von Juden an das Reichsbanner wesentlich häufiger waren als Zuwendungen des C.V. Zur publizistischen Zusammenarbeit des C.V. mit dem Reichsbanner ausführlicher unten. 22 Siehe Grady 2010, S. 5ff. Hierzu der Artikel „Jüdische Frontsoldaten“, in: RBZ Nr. 6/1931 vom 7.2., wo über einen öffentlichen Streit zwischen dem RjF und dem Kyffhäuserbund berichtet wird. Demnach wurden RjF-Mitglieder aufgrund antisemitischer Vorbehalte von einer Reichsgründungsfeier des Kyffhäuserbundes in Kaiserslautern ausgeladen und diese Ausladung öffentlich verkündet. Die Reichsbannerautoren mahnten daher den RjF nicht länger im Fahrwasser des Kyffhäuserbundes zu schwimmen und sich restlos zu Schwarz-Rot-Gold zu bekennen, was man wärmstens begrüßen werde (vgl. ebd.). 23 Hierzu ausführlich: Toury 1997, S. 93–108 sowie Bönnen 2006 u. Büttner 2008, S. 290 (herzlichen Dank an Dr. Gideon Roemer-Hillebrecht vom Bund jüdischer Soldaten für Hinweise in dieser Frage). Zeitgenössische Lageberichte enthalten die Information, dass der RjF dem Reichsbanner korporativ angeschlossen worden sei, was unrichtig ist (siehe KPD-Lagebericht vom 1.2.26, in: BArch RY12/1, Bl. 2–11 u. Lagebericht der Polizeidirektion München vom 15.11.26, in: THStA, P 277, Bl. 116f.). Richtig ist hingegen, dass sich der Vaterländische Bund jüdischer Frontsoldaten aus Hamburg dem dortigen Reichsbanner korporativ anschloss (siehe Toury 1997, S. 93f.).

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Hingabe einstiger deutscher Frontsoldaten stehen wir unbeugsam Schulter an Schulter für unser höchstes Heiligtum: Vaterland und Glauben bis zum letzten Atemzuge.24

Die Verteidigung des Vaterlandes vor dem antisemitischen Rechtsradikalismus und die Wahrung der Religionsfreiheit waren neben der (betont front-) soldatischen Sprache Gemeinsamkeiten mit dem Reichsbanner, auch wenn die jüdischen Frontsoldaten ohne die explizite Würdigung der Republik auskamen.25 Der C.V. und der RjF hatten nicht zuletzt deswegen ein besonderes Interesse an einer gedeihlichen, wenn auch nicht institutionalisierten Zusammenarbeit mit dem Reichsbanner, weil die Aufstellung eigener Selbstschutz- bzw. Saalschutzorganisationen über erste Ansätze nicht hinaus gekommen war, wobei im Zuge dessen – quasi als Ersatz – bereits ab 1924 einzelne Hinweise auf eine Kooperation mit dem Reichsbanner in Sicherheitsfragen auftauchen.26 Das Reichsbanner als areligiöser Verband betätigte sich weder in einem christlichen, jüdischen noch atheistischen Sinne. Welche religiösen, weltanschaulichen oder anderen Gründe die Einzelmitglieder für ihr Engagement besaßen war irrelevant, solange der Boden der Weimarer Verfassung nicht verlassen wurde. Man sieht wohl eindeutig die bereits aufgezeigten Parallelen zur Position der Pazifisten im Reichsbanner, die aber auch auf die Haltung anderer Religionsgemeinschaften oder ethnischer Minderheiten zum Reichsbanner verallgemeinerbar ist. So arbeiteten die Republikaner mit der Wendischen Volkspartei der sächsischen Sorben genauso zusammen wie mit der Zentrumspartei als Vertretung der katholischen Minderheit im Reich.27 Entscheidend war die Haltung der jeweiligen Parteiführer zur Republik. Der Windthorst-Funktionär Herbert Scholtissek (Zentrum) war wie die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der Zentrumsjugend ein flammender Republikaner. So führte er 1928 bei der Enthüllung eines EbertDenkmales aus, dass Ebert als Vorbild von „echtem deutschen Mannestum“ keineswegs nur einer Partei, sondern dem ganzen Volk gehöre. Ebert habe nie ver24 Zeitschrift des Vaterländischen Bundes jüdischer Frontsoldaten. Ortsgruppe Hamburg e.V., Nr. 1 vom März 1922, in: StA Hamburg, Jüdische Gemeinden Nr. 869, Bl. 14. Dort auch einzelne Schriftstücke zu gemeinsamen Vortrags- und Gedenkveranstaltungen des Reichsbanners mit dem RjF und der Deutsch-Israelitischen Gemeinde (siehe ebd., Bl. 50ff.). 25 Zum Vergleich der RB-Gründungsaufruf oben. 26 So bestand Ende der 1920er in Berlin kurzzeitig ein konspirativer Jüdischer Abwehrdienst (JAD), der aus wenigen Dutzend Bewaffneten bestand (siehe Paucker 1969). Vorherige ebenfalls konspirative Versuche, einen bewaffneten jüdischen Selbstschutz gegen die rechtsradikalen Übergriffe aufzustellen, waren am Widerstand der Sicherheitsbehörden gescheitert, die zeitweise sogar ein Verbot des hierin involvierten RjF ins Auge gefasst hatten (siehe GStA PK, I. HA., Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 402). Hierzu auch Walter 1999, S. 152f. 27 Zur Zusammenarbeit mit der Wendischen Volkspartei im Zuge des Flaggenstreits und einem Republikanischen Tag in Bautzen siehe Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom Mai 1926, in: THStA Weimar, P 256, Bl. 65f. Demnach gab es auf der Veranstaltung mehrere kleinere Zwischenfälle. Zur Zusammenarbeit mit dem Zentrum und speziell Wirth bereits oben sowie Lagebericht der Polizei Bremen vom 15.1.26, in: THStA Weimar, P 284, Nr. 1. Dort ein Bericht über eine eigens auf die Person Wirth zugeschnittene Versammlung des Reichsbanners und des RRB in Bremen. Wirth wurde demnach von 400 Uniformierten vom Bahnhof bis zum festlich geschmückten Saal begleitet, wo er die Hauptrede hielt.

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sucht, die bürgerliche Minderheit zu tyrannisieren, sondern im demokratischen Sinne eine große Achtung vor den Minoritäten gehabt und es sei zu wünschen, dass die SPD es ihm weiterhin gleichtun werde.28 Diese Sorge einer Majorisierung durch die SPD mag durchaus ein wesentlicher Grund für die relative Zurückhaltung der organisierten Katholiken gegenüber dem Reichsbanner gewesen sein und es ist logisch anzunehmen, dass solche Befürchtungen bei anderen religiösen Gruppen ebenfalls vorhanden waren, wobei sich die deutschen Juden deutlich stärker im Reichsbanner engagierten als die Katholiken.29 Gleichwohl gab es auch in der katholischen Geistlichkeit engagierte Republikaner, wie den Kölner Domherrn Adolf Ott (Zentrum), der in seinem Ordensgewand (!) auf einer „vaterländisch-republikanischen“ Kundgebung des Reichsbanners in Geislingen/Württemberg ausführte, dass es „nur im Reichsbanner das Heil geben könne, nur in der Mitte, nur bei Schwarz-Rot-Gold, nur bei den Verfassungsparteien läge das Heil Deutschlands“, denn nur die Republik verspräche die Realisierung des Versprechens „Nie wieder Krieg“, während die Rechtsparteien ständig eine echte Verständigung mit den ehemaligen Kriegsgegnern hintertreiben würden.30 Von Seiten des Reichsbanners wurden solche Bekenntnisse von Kirchenvertretern zur Republik aktiv gefordert und die teils republikfeindliche Haltung insbesondere der evangelischen Kirchen beklagt. Der evangelische Theologe Gottfried Rade (DDP) legte in einem anonymen Leitartikel für die RBZ dar, dass das bisherige Verhalten der evangelischen Kirche die antirepublikanische Geisteshaltung der Kirchenoberen offensichtlich gemacht habe. Hierzu im Gegensatz sah Rade aber das Kirchenvolk, welches aufgrund des „mittelalterlichen“ Kirchenwahlrechtes nicht angemessen in den Strukturen repräsentiert sei. Dies werde in absehbarer Zeit leider

28 Vgl. ACDP, NL Herbert Scholtissek, I–073–001 (Redemanuskript zur Enthüllung eines Ebert-Denkmals in Hörde 1928). Ferner zum Windthorstbund: Morsey 1966, S. 592ff. u. Rohe 1966, S. 279ff. Die betont republikanische Haltung des Jugendbundes war in gewissem Sinne auch ein Versuch der Abgrenzung von den älteren Kadern der Zentrumspartei. Die militanten Aspekte der Zusammenarbeit mit dem Reichsbanner wurden anfänglich von Seiten des Zentrums negativ bewertet. Erst 1930 mit dem NS-Wahlerfolg setzte sich auch im PV die Ansicht durch, dass man die Parteijugend an einer katholischen Wehrbewegung partizipieren lassen sollte (siehe Morsey (Hg.) 1969, S. 502 (Dok. 647)). Dies geschah jedoch zum Teil außerhalb des Reichsbanners in separaten, rein katholischen Wehrverbänden wie den Kreuzscharen oder der Badenwacht (siehe Vogel 1989, S. 90ff., Zimmermann 1994, S. 300ff. u. Hitze 2002, S. 1046ff.). 29 Paucker berichtete, dass praktisch alle Funktionäre des C.V. dem Reichsbanner wenigstens als passive Mitglieder angehört hätten (Schriftliche Auskunft Pauckers an S.E.). Ob der Quellenprobleme in Bezug auf die Interna von C.V. und Reichsbanner konnte dieser Punkt leider nicht näher beleuchtet werden. 30 Vgl. Lagebericht Stuttgart vom 20.10.25, in: THStA, P 521. Die Haltung des Zentrums zum Reichsbanner war regional sehr unterschiedlich. Während die Kooperation in Baden grundsätzlich gut funktionierte, war das Verhältnis im benachbarten Württemberg fast schon feindselig (siehe Böhles 2016). Im badischen Pforzheim wiederum war der örtliche Zentrumsführer Herbstrith dem Reichsbanner gegenüber negativ eingestellt, da er dieses für eine „SPDKreation“ hielt (vgl. Fränkischer Kurier Nr. 218/1924 vom 7.8.). Somit war das Verhältnis zum Zentrum regional ähnlich heterogen wie oben für die DDP gezeigt wurde.

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zu einer Entfremdung zwischen republikanisch gesinnten Protestanten und ihrer Kirche führen.31 Die jüdischen Gemeinden waren keineswegs der Republik oder dem Reichsbanner gegenüber so negativ eingestellt wie evangelische Kirchenvertreter und insofern können Berichte über eine Mitwirkung des Reichsbanners an jüdischen Gemeindewahlen ebenso wenig überraschen wie die sportliche Kooperation.32 Freilich ging es bei diesem Engagement nicht darum, die jüdischen Eigenheiten zum Verschwinden zu bringen. Das Reichsbanner war wie gezeigt nicht nur ein überparteilicher, sondern auch ein überreligiöser Verband, der das religiöse und kulturelle Leben der deutschen Juden auf seine Weise förderte und insbesondere vor der antisemitischen Gefahr zu schützen versuchte. Der „jüdisch, pazifistische Landesverrat“ des Reichsbanners Wenn die Gegner des Reichsbanners dem Bund einen „jüdischen“ Charakter zuordneten, hatte dies, wie wir gesehen haben, keinen Grund in der Arbeit des Bundes oder seiner jüdischen wie nicht-jüdischen Mitglieder, auch wenn sich zahlreiche Juden im Reichsbanner engagierten. Vielmehr standen hinter solchen Aussagen antisemitische Motive und Argumentationslinien, die bereits in der Kaiserzeit eingeübt worden waren und nun auf das Reichsbanner übertragen wurden. Diese Feststellung kann untermauert werden durch einen Blick in die Presse der Gegner des Reichsbanners. Es überrascht nicht, dort kontinuierlich auf antisemitische Angriffe gegen das Reichsbanner zu treffen und wenn dieser Argumentation hier dennoch weiterer Raum gewährt wird, so geschieht dies, um zu zeigen, dass vonseiten der rechten Wehrverbände das Reichsbanner eben nicht als „national“ im 31 Vgl. „Die evangelische Kirche und die Republikaner“ [von Gottfried Rade], in: RBZ vom 9.9.26. Das Manuskript auch in AdL, NL Gottfried Rade, N116–90, Bl. 20ff. Einen konkreten Anlass für Streit mit evangelischen Kirchenvertretern gab es in Amesdorf, wo die örtliche Reichsbannergruppe eine kirchliche Gedenkfeier organisierte, die vom lokalen Kirchenrat jedoch offenbar sabotiert wurde (siehe ebd., Bl. 24ff.). Gleichwohl zeigt diese Veranstaltung, an der ein auswärtiger Geistlicher teilnahm, dass die RB-Mitglieder durchaus versuchten, religiöse Elemente in ihre Feierlichkeiten aufzunehmen. 32 So wirkten die jüdischen Sportvereine Bar Kochba und Hakoah an der Verfassungsfeier des Reichsbanners 1929 in Berlin mit, wobei deren Veranstaltungen vom Saalschutz des Reichsbanners gedeckt wurden (siehe R58/3370, Bl. 49). Bei jüdischen Gemeindewahlen war offenbar ebenfalls der RB-Saalschutz aktiv, auch wenn ein entsprechender Bericht aus der rechtsradikalen Presse sehr tendenziös ist (siehe „Seltsame Reichsbanner-Dienste“, in: Der Jungdeutsche Nr. 9/1931 vom 11.1.). Hier zeigt sich erneut das Quellenproblem, da die jüdische Presse ebenso wenig an einer extensiven Berichterstattung über eine solche Kooperation interessiert war wie die Reichsbannerpresse, sodass keine Nachweise über die Echtheit solcher Berichte von dieser Seite vorliegen. Grundsätzlich ist es aber nicht abwegig, dass das Reichsbanner als Propaganda- und Saalschutzinstrument in Gemeinde- oder Kirchenwahlen eingesetzt wurde. So erwähnte Höltermann in einem Nachsatz eines Briefes an Rade, dass das Reichsbanner „wohl die Kirchenwahlen 1928 wird machen müssen“ (vgl. Schreiben Höltermanns an Rade vom 1.9.26, in: AdL, NL Gottfried Rade, N116–90, Bl. 27).

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Sinne eines nationalrepublikanischen Wehrverbandes, sondern als „jüdisch“ und „pazifistisch“ angesehen wurde, was bereits folgende Bewertung des Reichsbanners zeigt, die aus der DNVP-Publizistik stammt. Daß die vaterländischen Kreise nicht mehr gewillt sind, diesem landes- und volksverräterischen Treiben noch weiterhin tatenlos zuzusehen, mag das Reichsbanner deutlich genug gemerkt haben als im ganzen Deutschen Reiche zahllose Massenprotestkundgebungen gegen den Landesverrat des Reichsbanners stattfanden. In der vordersten Front dieses Kampfes steht gemeinsam mit den Wehrverbänden die Deutschnationale Partei, die mit unermüdlicher Energie gegen diesen Geist der Zersetzung und der „moralischen Abrüstung“ angekämpft hat und es weiterhin tun wird, bis der Geist jenes schwarz-rot-goldenen „Anderen Deutschland“ vernichtet ist!33

In seiner Kampfschrift gegen den Pazifismus des Reichsbanners, deren Untertitel lautet „Herunter mit der nationalen Maske. Das wahre Gesicht des Reichsbanners“, bringt der Publizist Walter Korodi die zwei Argumentationslinien der „nationalen Kreise“ in Bezug auf das Reichsbanner auf den Punkt. Der „sehnlichste Wunsch unser Feinde, die moralische und seelische Abrüstung des deutschen Volkes, darf nicht in Erfüllung gehen!“, so heißt es in einem Begleitschreiben zur Broschüre und Korodi macht klar, dass er das Reichsbanner für den gefährlichsten Träger dieser „seelisch-moralischen Abrüstung“ hält. Gemeint ist der Pazifismus. Das gefährliche am Reichsbanner, so Korodi weiter im Text, sei nämlich, dass sich das Reichsbanner hinter einer „nationalen Maske“ verstecken würde, nämlich der schwarz-rot-goldenen Tradition der Burschenschaften. In Wahrheit sei das Reichsbanner aber ein Produkt des „Internationalismus“ und eine „verkappte Fortsetzung der roten Hundertschaften“. Eine Zusammenarbeit zwischen den bürgerlichen Parteien und Verbänden mit dem Reichsbanner dürfe folglich nicht in Frage kommen. Der „jüdische Giftpfeil des Pazifismus“ stecke fest im Reichsbanner, welches versuche, seine eigentlichen Ziele unter dem „Deckmantel der Überparteilichkeit“ zu verbergen. Dass es nicht überparteilich arbeite, sondern im Sinne „der Juden“, beweise unter anderem, dass das Reichsbanner den „französischen Juden“ und Pazifisten Henri Barbusse und Victor Basch Saalschutz bei deren Redeveranstaltungen in Deutschland gewährt habe. Ferner habe ein „jüdischer Redner“ des Reichsbanners in Frankfurt am Main damit geprahlt, dass Antisemiten sich vor dem Reichsbanner in Acht nehmen sollten. Korodi nimmt weiter an, dass nicht nur Juden in „stattlicher Anzahl“ im Reichsbanner vertreten seien und „überall“ das Reichsbanner „jüdischen Rednern“ Saalschutz gewähre. Nun müsse jedem klar sein, warum der „Jude Barmat“ der SPD Geld gegeben habe. Es sei doch offensichtlich, dass die „jüdische Hochfinanz“ die SPD und das Reichsbanner finanzieren würde, damit diese ihre „pazifistische Hetze“ gegen Hindenburg und andere „nationale Männer“ fortsetzen könne. Ferner unterstellt Korodi, dass das Reichsbanner mit der Zeitung Das Andere Deutschland sowie mit rheinländi-

33 Korodi 1928, S. 26. Fett im Original im Sperrdruck.

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schen Separatisten wie Josef Matthes zusammenarbeite, was zum allgemeinen „Landesverrat“ des Reichsbanners beitrage.34 In der republikfeindlichen Presse wurden die Tätigkeiten des Reichsbanners regelmäßig als „Landesverrat“ bezeichnet, wobei diese Anschuldigungen rechtlich haltlos waren.35 Korodis Methode war auch im Übrigen eindeutig diffamierend und verschwörungstheoretisch. Er vermengte einzelne offensichtliche Tatsachen mit Spekulationen und Gerüchten, sodass auf diese Weise eigentlich banale und wenig spektakuläre Beobachtungen, wie die Gewährung von Saalschutz für einzelne Redner, zu einer großangelegten Verschwörung „der Juden“ aufgeblasen wurden, die mittels pazifistischer Ideen versuchen würden, Deutschland „wehrlos“ zu machen. Weder war die radikalpazifistische Zeitung Das Andere Deutschland ein Organ des Reichsbanners, noch arbeitete der Bund mit Matthes zusammen, der sich seit 1924 ohnehin nicht mehr in Deutschland aufgehalten hatte. Korodi selbst war Mitglied des Stahlhelms und Autor für verschiedene rechtsradikale Publikationsorgane wie die Berliner Börsenzeitung. Er vertrat seine Ansichten in mehreren Broschüren36 und Mitgliederversammlungen des Stahlhelmes und anderer rechtsradikaler Verbände.37 Ein interessantes Beispiel einer solchen KorodiVersammlung liefert ein Artikel des oberschlesischen Volksblattes über eine Veranstaltung in Gleiwitz im Februar 1927. So war in der vorherigen Werbung des Stahlhelms die Reichsbanner-Führung in höhnischer Absicht dazu aufgerufen worden, sich persönlich bei der Versammlung gegen Korodis Anschuldigungen zu verteidigen. Sicherlich zur Überraschung Korodis nahm der Bundessekretär Albert Gebhardt (SPD) die Herausforderung tatsächlich an und zeigte in seinem Redebeitrag zahlreiche Widersprüche und Unwahrheiten auf, die Korodi verbreitet hatte.38 Wahrscheinlich war er der erste hauptamtliche Anti-Reichsbanner-

34 Die Broschüre ist zu finden in: BArch R1501/113501, Bl. 89f. Die Broschüre selbst ist 20 S. lang und stammt wahrscheinlich von 1925. Alle Zitate wurden von dort entnommen. 35 Was Anlass für polemische Reaktionen in der RBZ war (siehe u.a. „Zwanzig Millionen Landesverräter“ von Karl Höltermann, in: RBZ Nr. 8/1927 vom 15.4.). 36 Der Tenor der Broschüren ist grundsätzlich derselbe. Lediglich der Schwerpunkt wurde von Korodi anders gesetzt. So stand in Korodi 1927 die vermeintliche „Reichswehrhetze“ des Reichsbanner im Vordergrund. In Korodi 1932 war es die „Gottlosenpropaganda“ der SPD und des Reichsbanners und Korodi 1928 hat eher einen Überblickscharakter. Es existieren zudem zahlreiche Artikel Korodis gegen das Reichsbanner, die z.B. zu finden sind in: BArch R8034–III/252. 37 Nicht selten endeten die Veranstaltungen Korodis mit einer Resolution, die z.B. dem RIM, die Reichskanzlei oder dem Büro des Reichspräsidenten zugeschickt wurden. Zu finden in: BArch R43I/767, Bl. 147ff. (Eingabe des VVV Bayern an Marx vom 25.5.1927), BArch R1501/113502, Bl. 123f. (Eingabe der Reichsflagge und des VVV Nürnberg an Hindenburg vom 24.11.1926), BArch R1501/125668j, Bl. 35 (Eingabe des VVV Würzburg an Keudell vom 10.2.1927), ebd., Bl. 46 (Eingabe des Stahlhelm Kreises Neustettin an die Reichsregierung vom 28.3.1927). Der Inhalt der Eingaben entsprach stets dem Inhalt von Korodis Druckschriften. 38 Siehe „„Stahlhelm“ gegen „Reichsbanner““, in: Volksblatt Nr. 39/1927 vom 11.2., in: AAN, 2/482/0/1, Nr. 10 –Stahlhelm, Bl. 12.

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Agitator, aber Korodi blieb nicht der Einzige.39 Diese Agitation nahm im Laufe der Zeit solche Dimensionen an, dass sogar ein separater Verband gegründet wurde, welcher zeitweise mit der DVFP zusammenarbeitete und dessen einziger Zweck die Propaganda gegen das Reichsbanner war: das Deutschbanner SchwarzWeiß-Rot. Das Deutschbanner war 1927 vom Generalmajor a. D. Wilhelm Kaiser in München gegründet worden und sollte die Anti-Reichsbanner-Agitation der drei größten Rechtsverbände Bayerns bündeln. Dies waren die bayerische VVV, der Bund Bayern und Reich sowie die Reichsflagge. Natürlich wurde das Hauptreferat auf der Gründungsversammlung des Deutschbanners von Korodi gehalten, der zum Thema „Das Reichsbanner als Gefahr für unser Volk“ sprach. Anscheinend war die Versammlung gut besucht. Vor allem die Prominenz der rechtsradikalen Szene Bayerns hatte sich dort laut Polizeiangaben versammelt. Korodi konnte also auf interessierte Zuhörer hoffen, als er ausführte, dass das Reichsbanner ein „Verein von Kriegsdienstverweigerern“ und „Landesverrätern“ sei, dessen schwarzrot-goldene Vereinsfarben schlicht „Ekel erregend“ seien.40 Die VVV veranstalteten weitere Anti-Reichsbanner-Versammlungen, auf denen im Wesentlichen die gleichen Ideen propagiert wurden, die in Korodis Schriften zu finden sind. So wurde auf einer Versammlung des VVV vom Hauptredner Kneller, dem damaligen Schriftleiter der rechtsradikalen Süddeutschen Zeitung, ausgeführt, dass das Reichsbanner mit seiner „pazifistisch-internationalistischen Tendenz“ einen großen, schädlichen Einfluss in Deutschland ausübe. Es werde maßgeblich mit „Judengeldern“ finanziert, denunziere vaterländische Kreise bei den Alliierten und versuche, sie mit Terror zu unterdrücken. Allein in den letzten Monaten seien fünf Stahlhelmer von Reichsbannerleuten „ermordet“ worden und weitere 21 seien schwer verletzt. Diese Behauptungen wurden allerdings nicht mit weiteren Angaben oder nur den Namen der vermeintlichen Opfer belegt.41 Auch in anderer Hinsicht gingen die Vaterländischen eher lax mit Quellenzitaten um. So wurde von Kneller das bekannte Tucholsky-Zitat „Wer im Krieg gefallen ist, ist für einen Dreck gefallen“ dem Reichsbanner zugeschrieben, um einen vermeintlich „unehrenhaften“ Umgang mit den Weltkriegstoten zu belegen.42 39 Ein weiterer Anti-Reichsbanner-Agitator der ersten Stunde war Fritz Geisler, der allerdings nach 1924 nicht mehr groß in diesem Sinne in Erscheinung trat, während Korodi bis zum Ende der Republik diesem Thema treu blieb (zu Geisler bereits oben sowie ausführlicher unten). 40 Vgl. Lagebericht der Polizeidirektion München vom 9.6.27, in: THStA Weimar, P 278, Bl. 1ff. Ferner zum Deutschbanner: BArch R1501/113277, R1501/125668e, R1501/125960 u. R72/1834. Das Deutschbanner, dessen weiteren Werdegang wir hier nicht untersuchen können, war monarchistisch orientiert. Näheres bei: Fricke et al. (Hg.) 1983, S. 514ff. 41 Es ist hier lediglich ein Stahlhelmer für die Jahre 1924/25 bekannt, der bei einer Auseinandersetzung mit RB-Mitgliedern zu Tode kam, wobei im selben Zeitraum weitere 11 Stahlhelmer von Kommunisten oder Arbeitern getötet wurden. Umgekehrt waren 1924/25 mindestens fünf linksgerichtete Personen von Stahlhelmern getötet worden (siehe Statistikanhang Nr. 1). 42 Der Inhalt der VVV-Versammlung laut: Lagebericht der Polizeidirektion Stuttgart vom 18.11.25, in: THStA, P 521, Bl. 37. Das Zitat in: „Wo waren Sie im Kriege, Herr-?“ von Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky], in: Weltbühne Nr. 13/1926 vom 30.3. Dass Tucholsky tatsächlich ein Mitglied des Reichsbanners war, ist möglich. Er gehörte immerhin zu den Unter-

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Walter Korodi war, was seine Agitation gegen das Reichsbanner betraf, durchaus ein Ideen- und Stichwortgeber innerhalb der radikalen Rechten. Seine Broschüren enthalten alle Argumente, die auch von anderen Autoren in ihren Artikeln gegen das Reichsbanner angeführt werden. So in einer Artikelserie des Völkischen Beobachters. Dort heißt es zum Thema „Das wahre Gesicht des Reichsbanners“, wobei dieser Titel bereits ein Bezug auf Korodi ist, dass dieses „heimliche Polizeidienste“ zum Schutz „der Juden“ verrichte. Im preußischen Rathenow hätten „Straßenpatrouillen“ des Reichsbanners wegen einer angeblichen Bedrohung der jüdischen Bevölkerung „Jagd“ auf Nationalsozialisten gemacht. Das Reichsbanner sei eine „hebräische Prügelgarde“, „Sklarekgarde“, „Sklarekbanner“, „Judenschutztruppe“ und dergleichen.43 Bei Veranstaltungen des Reichsbanners würde zum „Bürgerkrieg aufgehetzt“, so hätten Stelling und Neidhart bei einer Versammlung des Berliner Reichsbanners den Kampf gegen den Antisemitismus verkündet und zu Gewalttaten gegen die SA aufgerufen. Das Reichsbanner wolle „im Auftrag der Juden die deutsche Jugend schächten“ und sei nicht besser als die „französischen Senegalneger“. Dass es daher bei „den Juden schnorrt“, wie verschiedene „Bettelbriefe“ beweisen, sei nur logisch. Zudem werde das Reichsbanner auch „vom Ausland“ und der Regierung finanziert.44 Diese antisemitische Agitation der Nationalsozialisten ist im Vergleich mit derjenigen Korodis nicht neu oder grundsätzlich anders. Auch in anderen rechtsradikalen Publikationsorganen findet sich dasselbe Argumentationsmuster bereits ab 1924. So in der Deutschen Zeitung, wo es über das Reichsbanner hieß, es sei eine „jüdisch finanzierte Knüppelgarde”, die ihr Geld vom C.V. erhalte.45 Die Deutsche Tageszeitung rief anlässlich des Reichstagswahlkampfes im Dezember 1924 „alle Juden und Judengenossen“ dazu auf, ihrer „deutschfeindlichen Natur“ gemäß reichlich für das Reichsbanner zu spenden, damit dieses weiterhin mit „Brachialgewalt“ gegen die Vaterländischen kämpfen könne.46 Solche Beispiele ließen sich quasi beliebig vermehren,47 wobei allein dieser massive Propagandaaufwand des VVV gegen das Reichsbanner zeigt, wie ernst man die Bedrohung für die eigene Politik durch den republikanischen Sammlungsverband nahm. Insbesondere die beiden wichtigsten Führungspersonen der VVV – Fritz Geislers und Rüdiger von der Goltz – investierten viel in ihre Anti-Reichsbanner-

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zeichnern des Gründungsaufrufs des RRB von 1921 (siehe oben). In den späten 1920er Jahren nahm er jedoch eine dezidiert skeptische Haltung gegenüber den „militaristischen“ Tendenzen des Reichsbanners ein (siehe ebenfalls oben). Die angesprochene Süddeutsche Zeitung ist übrigens nicht verbunden mit der heutigen Zeitung gleichen Namens. Diese Begriffe wurde regelmäßig in der rechtsradikalen Presse verwendet: Siehe z.B. DZ Nr. 523/1924 vom 20.11. oder „Sklarekbanner“, in: Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 290/1929 vom 23.10. Hierzu auch Schröder, Bremen 2014, S. 149. Vgl. VB Nr. 287–289/1930 vom 3., 4. u. 5.12. Auch in: BArch R1501/125965, Bl. 128, 131 u. 134. Vgl. DZ Nr. 172/1924 vom 30.7., DZ Nr. 523/1924 vom 20.11. u. DZ Nr. 187/1925 vom 23.4. Auch die Rote Fahne druckte solche „Bettelbriefe“ des Reichsbanners (siehe unten). Vgl. DTZ Nr. 550/1924 vom 22.11. Die in diesem Sinne reichste Sammlung von Zeitungsartikel ist: BArch R1507/3063–3067.

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propaganda, wobei sich die harsche Reaktion der VVV auf die Reichsbannergründung auch damit erklärt, dass hiermit der Linken etwas geglückt war, was der Rechten bislang nicht gelang, nämlich die Sammlung praktisch aller aktivistischen Elemente des eigenen Lagers.48 Die Kernelemente der Argumentation Geislers sind uns bereits bekannt, da er im Wesentlichen nur eine Wiederholung der bekannten rechtsradikalen Anschuldigungen bot. Das Novum an seiner Anti-Reichsbanner-Broschüre mit dem Titel Die falsche Front ist die Wortkreation des „Reichsbanner-Nollet“, die auf eine vermeintliche Steuerung des Reichsbanners durch das französische Wehrministerium und dessen Minister Nollet abhebt. Im Übrigen heißt es, dass das Reichsbanner eine „militaristische“ Bürgerkriegsformation wie die Roten Hundertschaften sei, die maßgeblich von „fremdstämmigen“ Juden und eben dem feindlichen Ausland gelenkt werde. Das Reichsbanner sei damit ein Teil des sozialdemokratischen, republikanischen „Landesverrats“, dem eine pazifistische, internationalistische Ideologie zugrunde läge. Der offene Widerspruch, eine Organisation gleichzeitig als pazifistisch und militaristisch darzustellen, wird von Geisler wie von allen seinen Geistesgenossen damit erklärt, dass sich der Pazifismus nach Außen, der Militarismus des Reichsbanners sich aber nach Innen gegen die „freiheitsliebende, nationale Bewegung“ richte.49 Abwertend wird das Reichsbanner in der Broschüre durchgehend diffamierend als „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gelb“ bezeichnet, was eine übliche Beleidigung der Reichsfarben beinhaltet.50 Gegenreaktionen: Anti-Antisemitismus und Sklarek-Skandal Geislers Broschüre und darauf aufbauende Redeversammlungen erzielten innerhalb der VVV, dessen Vorsitzender Geisler war, eine große propagandistische Wirkung, die sicherlich dadurch verstärkt wurde, dass Geisler Reichstagsabgeordneter war. Die Gegenreaktion der Republikaner ließ aber nicht lange auf sich warten. Wie Hörsing Geisler in einem offenen Brief vorwarf, missbrauche dieser seinen Abgeordnetenposten dazu, um sich vor Verleumdungsklagen zu schützen. Andernfalls hätte er Hörsing bereits eine gerichtliche Klärung von Geislers Be48 Diese Einschätzung bereits bei Diehl 1985, S. 626. 49 Dieser vermeintliche Widerspruch war ein beliebtes Argument in Rechtskreisen gegen das Reichsbanner, welches insbesondere in den späteren Jahren der Republik, als das Reichsbanner sich zunehmend militanter gebärdete, regelmäßig verwendet wurde. Der Journalist Felix Riemkasten, der vormals ein Mitglied der SPD und des Reichsbanners gewesen war, schrieb mit diesem Argument als Grundidee sogar einen Anti-Reichsbannerroman mit dem Titel Genossen, der sich in rechtsgesinnten Kreisen offenbar gut verkaufte (vgl. „Ein Roman über das Reichsbanner“ von Gerhard von Frankenberg, in: RBZ Nr. 26/1931 vom 27.6. sowie Riemkasten 1931). 50 Vgl. Geisler 1924, insb. das Fazit auf S. 46ff. Das Vorwort zur Broschüre steuerte der Generalmajor a. D. Graf Rüdiger von der Goltz bei. Die Reichsfarben wurden in rechtsradikalen, aber auch kommunistischen Kreisen durchgehend nicht als „Schwarz-Rot-Gold“, sondern als „Geld“, „Senf“ oder „Mostrich“ usw. bezeichnet.

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hauptungen gegen das Reichsbanner verlangt. So sei es insbesondere unwahr, dass das Reichsbanner neue Mitglieder mit einem Handgeld von 50 Mark begrüße. Durch solche „ungeheuerlichen“ Äußerungen habe sich Geisler als „Ehrabschneider“ entlarvt und wenn er es nicht wage, einen Beweis für seine Behauptungen anzuführen, dann sei er ein „Feigling“.51 Zur Untermauerung dieser Gegenreaktion veranstaltete das Reichsbanner in Eichwalde, dem Wohnort Geislers, eine Redeversammlung mit Friedrich Ebert jun., der sich Hörsing anschloss und zusammenfasste, dass Geisler „für uns erledigt“ sei. Anschließend zogen die Versammlungsteilnehmer vor das Haus Geislers, welches mit 50 Polizisten geschützt wurde.52 In deutschnationalen Kreisen waren die Äußerungen Geislers anscheinend durchaus umstritten, da er tatsächlich den konkreten Teil seiner Anschuldigungen nicht beweisen konnte und folglich offensichtlich war, dass er gelogen hatte.53 Noch gab Geisler zwar nicht klein bei,54 aber sein Rücktritt vom Vorsitz der VVV war eine unmittelbare Folge seiner unbewiesenen Anti-Reichsbanner-Agitation und der republikanischen Antwort. Geislers Argumentationsmuster ist typisch für die Auseinandersetzung des deutschen Rechtsradikalismus mit dem Reichsbanner. Stets werden einzelne Fakten überspitzt oder verdreht dargestellt und Gerüchte aufgebauscht zu einer großangelegten Verschwörung von „Juden“, Reichsbanner, „dem Ausland“ und republikanischen Politikern gegen die „nationale Freiheitsbewegung“. Die Anlässe für solche Artikel variieren entsprechend des Tagesgeschehens. Hierbei wird allerdings eindeutig der Methode gefolgt, dass nur berichtet wird, was zum bereits etablierten antisemitischen Bild der Verschwörung passt. Solche Agitation führte mitunter direkt zu Gewalttätigkeiten. So im August 1927 in Leipzig, wo es nach einer Stahlhelmversammlung mit Korodi zum Thema „Der Landesverrat des Reichsbanners“ zu Schlägereien und mehreren Festnahmen kam.55 Angesichts des Ausmaßes der rechtsradikalen Agitation gegen das Reichsbanner war es für dessen Mitglieder unmöglich, nicht hierauf zu reagieren oder zu versuchen diese Agitation zu ignorieren. Persönliche Maßnahmen, wie die Demonstration vor Geislers Haus, waren eine Ausnahme. Neben öffentlichen Verurteilungen des Antisemitismus der Rechten waren aufklärende Artikel in der verbandseigenen und republikanischen Presse der gängigste Weg des Reagierens. In diesem Kontext sind auch Artikel über jüdische Republikaner interessant. So wurde dem im Ersten Weltkrieg gefallenen SPD-Mann Ludwig Frank eine beson51 Vgl. „Hörsing an Geisler“, in: VZ Nr. 466/1924 vom 1.10., Vorwärts Nr. 464/1924 vom 2.10. u. BTB Nr. 470/1924 vom 3.10. 52 Vgl. „Abrechnung mit Geisler“, in: Vorwärts Nr. 471/1924 vom 7.10. 53 Hierzu „Deutschnationale gegen Geisler“, in: Vorwärts Nr. 520/1924 vom 4.11. u. als Gegenbeispiel für die Unterstützung Geislers: „Kampf gegen das Reichsbanner. Große Kundgebung in Magdeburg“, in: DZ Nr. 496/1924 vom 4.11. Dort der Bericht über eine erneute Redeversammlung mit Geisler, der gegen die „schwarz-rot-gelbe Reaktion“, also das Reichsbanner, sprach (vgl. ebd.). 54 Siehe „Das „Reichsbanner““ von Fritz Geisler, in: Der Tag Nr. 7/1925 vom 8.1. 55 Siehe Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom August 1927, in: THStA, P 257, Bl. 137.

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dere Verehrung von Seiten des Reichsbanners zugebracht. So hob Wolfgang Heine in einem Artikel für die RBZ Franks Judentum hervor und führte ihn als Beweis gegen „das Märchen alldeutscher und jüdischer Nationalisten [an], dass zwischen Deutschen und Juden eine unüberbrückbare Kluft läge.“56 In Bezug auf Korodi brachte die RBZ ein ganzseitiges Porträt zu seiner Person und dessen Agitationsmethoden unter dem Titel „Abrechnung mit Korodi“. Darin hieß es, dass die „Hetze“ von Deutschnationalen wie Korodi lediglich zum Ziel habe, das Reichsbanner zu lähmen und die eigene Zersplitterung auf Seiten der schwarzweiß-roten Verbände zu beenden. Beides sei misslungen, da Korodi und dessen Anhang außer „leerer Kraftmeierei“ und „nationalen Phrasen“ nichts zu bieten hätten. Korodi als Lautester unter den „Hetzern“ entwickele zwar eine „unübertreffliche Rabulistik“, seine Pose des nationalen Frontsoldaten und Stahlhelmmannes sei aber leicht durchschaubar. Korodi sei 1902 geboren und könne folglich kein Frontsoldat im Ersten Weltkrieg gewesen sein. (Korodi war jedoch Freikorpskämpfer gewesen.) Dass ihn der Stahlhelm als „wahren deutschen Mann“ feiere, obwohl Korodi gegen die Frontsoldaten des Reichsbanners „hetze“, bewiese die „moralische Minderwertigkeit“ dieser Kreise und insbesondere dieses Mannes. Korodis Beweisführung baue vor allem auf Zitaten, die aus dem Zusammenhang gerissenen und noch dazu meist von Leuten stammen, die dem Reichsbanner denkbar fernstünden, so wie Tucholsky. Auch die „Landesverratspsychose“ Korodis verrate, dass er eigentlich nicht wisse, was der rechtliche Inhalt des Landesverrats-Paragraphen sei. Die anhand von Korodi beobachtbare Radikalisierung der Wehrverbände werde letztlich in putschistischen Aktionen enden, so das Fazit.57 Im Hinblick auf die politische Gewalt war dieses Urteil nicht fehl am Platz. Auch durch die radikalisierende, antisemitische Agitation Korodis und anderer 56 Zit. aus: RBZ Nr. 8/1924 vom 1.9. Im Republikanischen Tag des Reichsbanners in Mannheim zu Ehren Franks sah der Vorwärts einen großen Verdienst um die „Volksgemeinschaft“ (zu diesem Ereignis siehe VZ Nr. 462/1924 vom 28.9., Vorwärts Nr. 459/1924 vom 29.9. und Vorwärts Nr. 461/1924 vom 30.9.). Diese Art der Gedenkfeier wurde regelmäßig in Mannheim veranstaltet (siehe „Dem Andenken Ludwig Franks“, in: VZ Nr. 210/1929 vom 3.9.). In einer Rundfunkansprache verteidigte Höltermann am 9.11.1931 das Andenken Franks, der ein Musterbeispiel für die Hinwendung der Arbeiterschaft zum Staat gewesen sei (vgl. „Eine Lüge mitten ins Herz. Im Geiste Ludwig Franks“ u. „Arbeiterschaft und Staat“, beide in: RBZ Nr. 47/1931 vom 21.11.). Zur Rolle Franks im Reichsbanner siehe ausführlich: Böhles 2016, S. 156ff. 57 Vgl. „Abrechnung mit Korodi“, in: RBZ Nr. 7/1927 vom 1.4. In einem späteren Artikel wurde in der RBZ berichtet, dass Korodi und Franz Seldte, der Führer des Stahlhelms, vom Amtsgericht Görlitz wegen Verächtlichmachung der Reichsfarben zu 210 bzw. 800 Mark verurteilt wurden, wobei der Anlass eine Beschimpfung des Reichsbanners war. Von der RBZ-Redaktion wurde befriedigt zur Kenntnis genommen, dass die schwarz-rot-goldenen Farben des Reichsbanners vom betreffenden Gericht als identisch mit den Reichsfarben und folglich ebenso schützenswert bezeichnet wurden (siehe „Reichsbanner-Beobachter“, in: RBZ Nr. 19/1928 vom 24.6.). Es ist ferner interessant zu bemerken, dass Korodi zu jenen Deutschnationalen gehörte, die sich nach 1933 von den Nationalsozialisten abwendeten. So warf er den NS-Machthabern (anonym) systematische Lügen in Bezug auf die Machtergreifung und den Röhm-Putsch vor (siehe Korodi 1936).

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Deutschnationalen wurde vor allem bei den jüngeren Mitgliedern des Stahlhelms und anderer Wehrverbände der Ruf nach radikaleren, militanten Antworten lauter, was letztlich der SA als militantester Version der rechten Verbände die Mitglieder zutrieb. Der Antisemitismus selbst wurde genauso wie die allgemeinere Entwicklung der Wehrverbände in der Reichsbannerpresse kontinuierlich thematisiert. Die RBZ berichtete in der Rubrik „Reichsbanner-Beobachter“ regelmäßig über antisemitische Friedhofsschändungen. So wurde hervorgehoben, dass dies keine Einzelfälle, sondern die Resultate der systematischen Verhetzung durch die NSParteiführung seien. Mitunter wurden von den Reichsbannergruppen an den von Friedhofsschändungen betroffenen Orten Protestkundgebungen veranstaltet.58 Zwar gab es durchaus verschiedene Nuancen bezüglich der Frage, was nun eigentlich unter dem Phänomen des Antisemitismus zu verstehen sei. Ist er ein „Überrest des Mittelalters“, das „Evangelium der Dummen“ und die SA in diesem Sinne eine „Fortsetzung des mittelalterlichen Mobs“ (Karl Perls)?59 Oder ein Teil der mittlerweile als unwissenschaftlich charakterisierten Rassenlehre des 19. Jahrhunderts (Erwin Frehe und Prof. Adolf Hebler)?60 Oder aber eine auf Affekte und Gefühle abzielende völkische Weltanschauung?61 Man kann feststellen, dass in der Reichsbannerpresse alle argumentativen Strategien angewendet wurden, die sich in der Abwehrarbeit gegen den Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hatten.62 Wie so oft war es Hörsing, der als Bundesvorsitzender den Rahmen der Debatte absteckte. In seinem Artikel „Kampf den Staatszerstörern. Zur Abwehr entschlossen“ führte Hörsing seine Gedanken zum Antisemitismus aus. Angesichts der durch die NSDAP ausgelösten „neuen Welle des Antisemitismus“ müssten die Republikaner ihre Abwehrbereitschaft erneuern. Es sei eine „Schande für Deutschland“, dass jüdische Friedhöfe geschändet und Leute auf der Straße verprügelt werden, 58 Siehe „Reichsbanner-Beobachter“, in: RBZ Nr. 1/1931 vom 3.1. u. in: RBZ Nr. 43/1931 vom 24.10. 59 Vgl. „„Juda verrecke!“ Wie die „Nazis“ im Mittelalter hausten“ von Karl Perls, in: RBZ Nr. 36/1932 vom 3.9. Perls veröffentlichte in der RBZ zudem einen Artikel über den konservativen Staatstheoretiker Julius Stahl, in dem er in ironischer Absicht versuchte nachzuweisen, dass das konservative Gedankengut Papens und Hugenbergs eigentlich vom „Juden“ Stahl stamme (siehe „Hugenberg-Papens jüdischer Nährvater“ von Karl Perls, in: RBZ Nr. 42/1932 vom 15.10.). 60 Vgl. „Rasse oder Volk?“ von Erwin Frehe, in: RBZ Nr. 26/1930 vom 28.6., u. „Rassenwahn“ von Prof. Adolf Hebler, in: RBZ Nr. 15/1932 vom 9.4. In der Deutsche Republik erschienen ebenfalls zahlreiche kulturkritische Artikel über den deutschen Antisemitismus, die vielfach aus der Feder Hugo Hugins stammten (siehe u.a. DR Nr. 46/1930, Nr. 22/1931 oder Nr. 24/1932). 61 Vgl. „Wesen, Entwicklung und Ideenwelt der völkischen Bewegung“ von Dr. Hollaender, in: RBZ Nr. 24/1929 vom 15.6. (Gaubeilage Hessen). Es könnte sich bei dem Autor um Felix Hollaender handeln. Es wird in diesem Artikel bereits die Haltung vertreten, dass Affekte nur mit anderen Affekten bekämpft werden können. 62 Siehe Wyrwa 2013, S. 16ff. Wyrwa stellte ferner fest, dass das Streuen von Gegengerüchten und Ironie bzw. Satire ebenfalls als publizistische Abwehrmittel genutzt wurden. Dies trifft auch für die Reichsbannerpublizistik zu, wie wir unten zeigen werden.

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weil man sie für Juden halte. In den Reihen der NSDAP fänden sich nur „unsaubere Menschen“ wie Ludwig Münchmeyer, die insbesondere auf dem Land ihr „antisemitisches Gift“ ausschütten würden. Zahlreiche Straftaten von Nationalsozialisten würden zeigen, dass Gewalt nicht nur in Einzelfällen von der NSDAP als politisches Mittel eingesetzt werde. Wie bereits August Bebel gesagt habe, sei Antisemitismus in der Tat der „Sozialismus der Dummen“. Die NSDAP verspreche in ihrer antisemitischen Agitation mittels simpelster Parolen eine schnelle Lösung aller wirtschaftlichen Probleme. Diese antisemitische „Dummheit werde zu einer Gefahr für Deutschlands Entwicklung“ und wirke in diesem Sinne als „Staatszerstörer“. Gegen die „niederen Pöbelinstinkte“ und den „brutalen Terror“ der NSDAP sei das Reichsbanner bereit, einen „unerbittlichen Kampf“ zu führen.63 Hörsing sah also die deutschen Juden als Teil des Staates bzw. des Staatsvolkes an und versuchte, militante Antisemiten wie die Mitglieder der NSDAP aus dem Staatsleben auszugrenzen. Ein spezielleres Problem in diesem Kampf ergab sich durch die mit den Namen von Julius Barmat und den Brüdern Sklarek zusammenhängenden Korruptionsfälle, da in diesem Zusammenhang in der rechtsradikalen Presse versucht wurde, das Reichsbanner als „staatsfeindlich“, da „ausländisch, jüdisch finanziert“ darzustellen. Beide Korruptionsaffären waren hingegen weniger ein Beweis für die vermeintlich endemische Korruption im republikanischen Weimar, denn im Vergleich mit dem größten Korruptionsfall dieser Zeit um die sog. Osthilfe in Verbindung mit der Schenkung eines Landgutes an Hindenburg ging es um relativ geringe Summen und – was wichtiger ist – die politischen Konsequenzen waren viel weniger gravierend. Das Interesse der republikfeindlichen Presse an den Strafprozessen und Ermittlungen in Bezug auf die Sklareks und Julius Barmat lag vielmehr daran, dass diese Männer osteuropäischer und jüdischer Herkunft waren und auch republikanische Politiker kompromittiert wurden. In der rechtsradikalen Presse und der kommunistischen Roten Fahne wurden seit 1925 regelmäßig Artikel zu diesen Fällen veröffentlicht. Die Namen „Barmat“ und „Sklarek“ wurden dort zu Synonymen für eine vermeintlich korrupte Republik und insbesondere eine vermeintlich korrupte Sozialdemokratie. So wurden auch bei Ereignissen, die nichts mit den zwei Korruptionsfällen zu tun hatten, höhnische und abfällige Verweise auf „Barmat“ oder „Sklarek“ gemacht. Etwa im Fall der oben dargestellten Finanzierungsprobleme des Berliner Reichsbannergaus wegen ausstehender Zahlungen an das Reichsinnenministerium, wenn geschrieben wurde, das Reichsbanner solle doch mit seinen „Barmat-Geldern“ die Rechnung begleichen.64 Dass in der rechtsradikalen Presse diese Berichterstattung stark antisemitisch war, sollte nicht überraschen. Doch auch von Seiten der KPD wurde offener 63 Vgl. „Kampf den Staatszerstörern“ von Otto Hörsing, in: RBZ Nr. 4/1929 vom 26.1. Eine Verurteilung des Antisemitismus findet sich auch in einer Rede Hörsings über „Des Reichsbanners Weg und Ziel“, die auf Schallplatte aufgenommen wurde (siehe Gerstenberg 1997, CD-Beilage) sowie bereits im Gründungsaufruf. 64 Vgl. DAZ Nr. 612/1925 vom 30.12.

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Antisemitismus verbreitet, wenn es vom Barmat hieß, dass dieser nur ein kleiner Teil der aus polnischen Juden bestehende „Barmat-Internationale“ sei, die gemeinsam mit der Sozialdemokratie für den Schutz des Kapitals arbeite und eine solche „deutschfreundliche“ Einstellung bei allen polnischen Juden üblich sei.65 Wie später beim Sklarek-Skandal wurde die „Barmat-SPD“ als „korrupt“, „entartet“ und „verwest“ bezeichnet.66 Gegenstellungnahmen in der Reichsbannerpresse sind aber nicht bekannt, sodass eine größere Verwicklung des Reichsbanners in den Skandal unwahrscheinlich ist. Anders war dies beim Korruptionsskandal um die drei Textilunternehmer Max, Leo und Willi Sklarek, der die deutsche Öffentlichkeit seit Ende der 1920er Jahre beschäftigte, als bekannt wurde, dass die Sklareks mittels gefälschter Rechnungen mehrere Millionen Mark von der Stadt Berlin widerrechtlich erhalten hatten. In Folge des Skandals trat Gustav Böß vom Amt des Oberbürgermeisters von Berlin zurück. Das Reichsbanner war insofern von dem Skandal betroffen, als dass einzelne Gaue des Bundes mit der Firma Sklarek Geschäftsbeziehungen gepflegt und Reichsbanner-Uniformen von dort bezogen hatten. Die bei solchen Auftragsarbeiten üblichen Zahlungen der Firma Sklarek an die Reichsbannergaue zur Finanzierung von Qualitätskontrollen wurden in der republikfeindlichen Presse zu einer „massiven Korruption“ aufgebauscht. Die Argumentation war, dass die Zahlungen wesentlich höher waren als die eigentlichen Kosten der Qualitätskontrollen und folglich das Reichsbanner „viele Millionen“ Mark ohne Gegenleistung erhalten habe.67 Insbesondere Hörsing und der Schatzmeister des Reichsbanners Paul Crohn waren Ziel der Anschuldigungen wegen Korruption. So habe laut der Roten Fahne nicht nur Crohn von den Sklareks persönlich Geschenke angenommen, sondern der gesamte Bundesvorstand habe sich persönlich bereichert. Als Beleg wird, wie in der Roten Fahne üblich, ein als offiziell ausgegebenes Schreiben des Reichsbanners abgedruckt und zitiert, dessen Echtheit nicht überprüfbar ist. In diesem vermeintlichen Schreiben Hörsings an die Sklareks heißt es, dass eigentlich überhaupt keine Qualitätskontrollen stattgefunden hätten, die Uniformen in Wahrheit in der Herstellung nur 20 Mark kosten würden, während sie für 48,85 Mark an die Mitglieder des Reichsbanners verkauft würden und dergleichen Behauptungen mehr. Das Fazit ist, dass die „Reichsbannerarbeiter“ sich nicht täuschen lassen dürften, endlich die Konsequenz aus der „Verlumpung“ von SPD und Reichsbanner ziehen und zur KPD überwechseln sollen.68 Auf Seiten der 65 Vgl. Radek 1925, hier S. 29ff. Dass Karl Radek selbst jüdischer Abstimmung war, tut seiner antisemitischen Agitation keinen Abbruch, die ferner in Radeks nationalbolschewistischen Schriften belegt ist (siehe unten). 66 All diese Formulierungen bei Radek 1925. 67 Vgl. BArch NS5VI/799. In dieser Artikelsammlung finden sich zahlreiche Artikel der BBZ, Roten Fahne und anderer republikfeindlicher Organe zum Thema Sklarek-Skandal. 68 Vgl. Rote Fahne Nr. 214/1929 vom 25.10. Weitere „Originaldokumente“, welche die Korruption im Reichsbanner belegen sollen in: Rote Fahne Nr. 212/1929 vom 23.10., Rote Fahne Nr. 209/1929 vom 20.10. u. Rote Fahne Nr. 205/1929 vom 15.10. In der Nr. 205 wird eine Werbeanzeige der Firma Sklarek in einer Gaubeilage der RBZ angeführt, was das einzig echte Originaldokument in dieser Zusammenstellung sein dürfte.

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rechtsradikalen Presse tat sich insbesondere die Berliner Börsenzeitung hervor, zu deren Mitarbeitern unter anderem Korodi zählte. Hier werden abgesehen von in der Reichsbannerpresse geschalteten Werbeanzeigen der Firma Sklarek keinerlei Belege für die Anschuldigungen angeführt.69 Für sich genommen sind Werbeanzeigen nicht kompromittierend. Hörsing reagierte auf diese Berichterstattung in der republikfeindlichen Presse seinerseits mit Artikeln in der RBZ. Hier versuchte er darzulegen, dass die Geschäftsbeziehungen zwischen einzelnen Reichsbannergauen und der Firma Sklarek nichts Unregelmäßiges an sich gehabt hätten. So habe Crohn als Schatzmeister im Auftrag der Bundesleitung mit der Firma über den Preis für die Qualitätskontrolle verhandelt, was völlig normal sei. Der Preis dieser Kontrollen (1,4 Mark pro Uniform) entspräche den tatsächlichen Kosten des Reichsbanners. Hörsing geht nach dieser Verteidigung der eigenen Geschäftspraxis sogleich in die Offensive. So hätten Politiker von DVP und DNVP ebenfalls Verbindungen zur Firma Sklarek besessen und nicht nur republikanische Politiker. Auch die Rote Hilfe habe Geschenke von ihnen erhalten. Die Geschäftspraxis der Wehrverbände dieser Gruppen, Stahlhelm und RFB, sei zudem ihrerseits angreifbar, wobei Hörsing aber seinerseits ebenfalls keine beweiskräftigen Belege anführt. So bleibt es bei der bloßen Behauptung, dass sowohl der RFB als auch der Stahlhelm sich bei Uniformlieferungen Unkostenbeträge hätten auszahlen lassen, die weit über deren tatsächlichen Unkosten gelegen hätten. Insgesamt sei es heuchlerisch, sich über den Fall Sklarek aufzuregen, während zur selben Zeit der Reichsfinanzminister Dietrich mehr als 64 Millionen Mark auf Kosten der kleinen Landwirte an die Großagrarier ausgezahlt habe.70 Die Auseinandersetzung zwischen der Presse des Reichsbanners und derjenigen der Republikfeinde erschöpft sich somit meist in Behauptung und Gegenbehauptungen, was zur allgemeinen politischen Stimmung nichts Positives beitrug. Offenbar standen hinter den Berichten über vermeintliche Korruptionsfälle allein propagandistische Motive, wobei von Seiten der Republikfeinde vielfach eine antisemitische Argumentation verwendet wurde. Über tatsächlich vorkommende Korruptionsfälle wie Unterschlagungen von Vereinsgeldern wurde, wenn dies überhaupt öffentlich bekannt gemacht wurde, in der Reichsbannerpresse meist nur in kurzen Notizen berichtet.71 Solche Fälle von Unterschlagungen konnten jedoch in jedem Verein vorkommen, unabhängig von dessen politischer Ausrichtung. 69 Siehe BBZ Nr. 484/1929 vom 16.10. u. BBZ Nr. 591/1929 vom 19.12. 70 Vgl. „Sklarek und wir“ von Otto Hörsing, in: RBZ Nr. 40/1929 vom 5.10. u. „Reichsbanner und Sklarek-Skandal“, in: RBZ Nr. 43/1929 vom 26.10. 71 Hier sind lediglich die Details zu einem Korruptionsfall im Reichsbanner bekannt. So war es 1932 zu einer Unterschlagung von Vereinsgeldern durch den Vorsitzenden einer OG im Havelland gekommen, woraufhin die Berliner Gauleitung mit den üblichen satzungsmäßigen Mitteln gegen diesen Missstand vorging. Von Hermann Worch, dem neu eingesetzten Kassierer der betreffenden OG, wurde der Schuldige verdächtigt, die Situation absichtlich herbeigeführt zu haben, um sich bei den Nationalsozialisten beliebt zu machen, was angesichts der Tatsache, dass die internen Schreiben in NS-Besitz gelangt sind, nicht unwahrscheinlich ist (siehe Schreiben Worchs an Berliner Gau vom 23.12.32, in: BArch NS26/800a).

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Aufgrund ihrer relativen Banalität eigneten sie sich jedoch nicht für ausgedehnte Medienkampagnen gegen das Reichsbanner, aber wohl auch, da der für die republikfeindliche Propaganda so wichtige antisemitische Aspekt hierbei fehlte. Dass es angesichts dieser aggressiven propagandistischen Anfeindungen auch zu tatsächlichen Gewalttaten zwischen den Mitgliedern der Wehrverbände kam, kann wohl nicht überraschen, was uns im folgenden Kapitel beschäftigen wird.

7. DER INNERE FEIND. DIE NICHT-TÖDLICHE POLITISCHE GEWALT Bereits direkt nach der Gründung des Reichsbanners wurden in der rechtsradikalen Presse Gerüchte über eine vermeintliche Bewaffnung der Reichsbannermitglieder gestreut, die direkt nach ihrem Beitritt neben den erwähnten „Handgeldern“ auch kostenlose Waffen erhalten würden.1 Wie im Fall der antisemitisch geprägten Korruptionsvorwürfe reproduzierte die kommunistische Presse auch solche Gerüchte bereitwillig.2 Von den amtlichen Stellen wurden solche Gerüchte durchaus ernst genommen und auf ihre Echtheit überprüft. Doch konnte 1924 keine systematische Bewaffnung des Reichsbanners amtlich festgestellt werden.3 Die Behörden gingen auch in den darauf folgenden Jahren mehreren Berichten über eine vermeintliche Bewaffnung des Reichsbanners nach, wobei die Ermittlungen aber keine Erhärtung der Anschuldigungen erbrachten. So insbesondere im Falle eines vermeintlichen Schmuggels von Waffen des RESCH. Die Rechtspresse hatte berichtet, dass dem Reichsbanner 2.500 Gewehre und Karabiner sowie 10 MGs von den Österreichern zur Verfügung gestellt worden seien, was aber laut einem Bericht der Polizeidirektion Wien nicht nur unwahr, sondern auch höchst unwahrscheinlich sei, da das Reichsbanner als Massenorganisation für eine „so kleine Zahl an Waffen“ wohl keine Verwendung habe, die zudem nur mit österreichischer Munition benutzt werden könnten.4 Auch Gerüchte über einen vermeintlichen „militärischen“ Gewerkschaftsschutz im Rheinland konnten nicht bestätigt werden.5 Lediglich die allgemeine Aktivität des Kleinkaliberschützenvereins des Reichsbanners wurde dem RKO als vermeintlich militärische Aktivität berichtet, wobei der Stahlhelm und völkische Gruppen in gleicher Weise aktiv waren.6 Zudem wurde auch polizeilich bestätigt, dass die interne Anweisung der Reichsbannerführung über das Verbot einer illegalen Bewaffnung notfalls mit disziplinarischen Mitteln durchgesetzt wurde.7 In den Lageberichten des RKO sind allerdings unabhängig von der (Schuss-)Waffenfrage zahlreiche Gewalttätigkeiten zwischen Mitgliedern des Reichsbanners und den rechten Wehrverbänden belegt. Die Zusammenstöße mit tödlichem Ausgang, die zwischen 1924 und 1928 keineswegs alltäglich waren und ab 1929 sprunghaft zunahmen. Hier interessieren uns zu1 2

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Siehe oben sowie DZ vom 25. u. 26.7.24. Siehe z.B. Sächsische Arbeiterzeitung vom 26.7.24. Dort auch die Behauptung, dass „massenhaft Faschisten“ in das Reichsbanner eintreten würden (vgl. ebd.). Unten ausführlicher zu der auch in dieser Behauptung enthaltenen Sozialfaschismus-These der KPD. Siehe Bericht des RKO Nr. 6709/24 III, in: BArch R1507/3063, Bl. 75. Vgl. Schreiben des RKO an RIM vom 17.5.26 u. Bericht der Polizeidirektion Wien vom 11.5.26, in: BArch R1501/113502, Bl. 47ff. Siehe Vermerk des RKO vom 10.8.26, in: BArch R1507/3066, Bl. 251f. Siehe Schreiben des Oldenburger Innenministeriums an den RKO vom 2.12.26, in: BArch R1507/3066, Bl. 284. Vgl. Lagebericht der Polizeidirektion München vom 7.10.24, in: BArch R1507/3063, Bl. 253.

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nächst die durchaus alltäglichen, nicht-tödlichen Fälle von politischer Gewalt8, wobei wir uns überwiegend auf die Auswertung von Lageberichten des RKO stützen werden. Nicht alle Nachrichten, die den RKO erreichten, waren auch brauchbar, was an der mitunter zweifelhaften politischen Haltung der Berichterstatter gelegen hat. Die politische Einstellung einzelner Polizeidirektionen wie derjenigen in Bremen oder Nürnberg-Fürth wurde bereits besprochen. Aber auch in Preußen kam es zu höchst fragwürdigen Berichten. So im Falle einer Meldung der Reichsbahndirektion Ost an den RKO. Darin heißt es betreffend einer „kommunistischen Eisenbahnpropaganda“ im Umkreis von Frankfurt (Oder), dass „jüdische Kaufleute“ in Verbindung mit dem RjF und „jungen Kommunisten“ mit schwarz-rot-goldenen Flaggen [gemeint ist das Reichsbanner, Anm.] systematisch am Aufbau eines bewaffneten, militanten Bahnschutzes arbeiten würden. Die „jüdischen Kapitalisten“ würden ferner die „Kommunisten“ zu Propagandazwecken mit einer Einheitskleidung und Musikinstrumenten ausstatten.9 Dass dieser Bericht auf Gerüchten und zweifelhaften Interpretationen basiert und damit keine relevanten Informationen über tatsächliche Aktivitäten des Reichsbanners bietet, sollte offensichtlich sein. Dennoch sind insgesamt betrachtet die Lageberichte des RKO die zuverlässigste Quelle über die politische Kriminalität der 1920er Jahre.10 Grundsätzliches zur politischen, nicht-tödlichen Gewalt Es kann hier keine statistische Aufarbeitung aller Fälle, an denen Mitglieder des Reichsbanners beteiligt waren, versucht, sondern nur eine exemplarische Auswahl besprochen werden. Für eine statistische Aufarbeitung müssten neben den Lageberichten zahlreiche weitere Einzelereignisse untersucht werden, die keine polizeilichen oder gerichtlichen Konsequenzen hatten und daher in ihrem Tathergang

8

Zum hiesigen Begriff der politischen Gewalt bereits oben. Uns interessiert hier vorwiegend physische Gewalt, während verbale Auseinandersetzungen höchstens als deren Vorstufe berücksichtigt werden. Publizistische Auseinandersetzungen werden wiederum in anderen Kapiteln behandelt. 9 Vgl. Vermerk des RKO vom 5.11.24 über einen Bericht der Reichsbahndirektion Ost vom 25.10.24, in: BArch R1507/3064, Bl. 25. In den Reihen der Eisenbahner wurde tatsächlich für eine Mitgliedschaft im Reichsbanner geworben (siehe etwa den entsprechenden Beschluss auf der Gauvorstandssitzung vom 22.11.26, in: LA Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 30, Bl. 8). Von dem Aufbau eines „bewaffneten Bahnschutzes“ kann aber keine Rede sein. 10 Wertvolle Ausführungen über die nicht-tödlichen Auseinandersetzungen des Reichsbanners mit Rechtsradikalen finden sich bereits in der Literatur, wobei regionale Schwerpunkte gesetzt wurden (siehe Schumann 2001, Wiedl 2013, S. 319–335, Schröder, Bremen 2014, S. 130–136 u. Böhles 2016, S. 284–291). Reichsweit wurde die Situation aber noch nicht betrachtet. Ehls kommt in ihrer Untersuchung zum Demonstrationsverhalten des Reichsbanners zu dem Schluss, dass es sich in Berlin vorwiegend mit Kommunisten und der Polizei auseinandergesetzt habe und kaum mit den Nationalsozialisten (siehe Ehls 1997, S. 343ff.). Dieses unzutreffende Ergebnis basiert jedoch auf einer sehr geringen Quellenbasis. Dieses Problem besteht auch bei Oomen 2007.

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nur schwer rekonstruiert werden könnten.11 Nicht nur über den eigentlichen Tathergang, sondern über die Gretchenfrage, welche Seite zuerst zuschlug, stach oder schoss, gibt es in den verbandsnahen Publikationen immer widersprechende Aussagen, die ohne eine amtliche Untersuchung nicht zufriedenstellend aufzulösen sind und insbesondere der Nachweis nicht erbracht werden kann, dass die Tat tatsächlich politisch motiviert oder lediglich ein Privatstreit zwischen Mitgliedern der Wehrverbände war. Während bei der hier durchgeführten Untersuchung der Tötungsfälle der Vorteil besteht, dass das Ausmaß der Tat eindeutig ist, kann bei Körperverletzungen stets über die Schwere der Tat diskutiert werden. Daher sind bei Körperverletzungen lediglich Polizeiberichte heranzuziehen, während bei Tötungsfällen auch die Zeitungsberichte der beteiligten Verbände relevant sein können, wobei die Tendenz zur Verbreitung von Unwahrheiten unterschiedlich ausgeprägt war. Bereits zeitgenössische republikanische Beobachter waren sich im Klaren darüber, dass in der Rechtspresse eine systematische „Greuelpropaganda“ gegen das Reichsbanner betrieben wurde, die der Kriegspropaganda gegen die Alliierten nachempfunden war. So wurde beklagt, dass die Rechtspresse mit einer Flut von schwer oder unbeweisbaren Berichten über zusammengeschlagene „harmlose“ Stahlhelmer, misshandelte Kinder und Greise sowie bewussten Übertreibungen versuche, eine feindliche Stimmung gegen das Reichsbanner zu erzeugen. Von der Kriegspropaganda würden sich solche Berichte nur im Fehlen drastischer Details wie „abgehackten Kinderhänden“ unterscheiden.12 Wenn wir im Folgenden verschiedene, reichsweit vorkommende Delikte von Körperverletzungen besprechen, so ist hierbei neben dem Reichsbanner zwischen vier Verbänden bzw. Gesinnungsgruppen zu unterscheiden: dem Stahlhelm, dem Jungdeutschen Orden, den Kommunisten und völkischen Gruppen. Zwei dieser Gruppen, nämlich die Kommunisten und der Jungdeutsche Orden, lieferten sich nur vergleichsweise wenige gewaltsame Auseinandersetzungen mit dem Reichsbanner, was teilweise damit erklärt werden kann, dass diese Gruppen nur über eine überschaubare Anzahl an Hochburgen verfügten. Aber auch der Stahlhelm war nicht reichsweit, sondern vorwiegend in Preußen und Norddeutschland aktiv, während die Völkischen vor dem Ende der 1920er nur in Süd- und Mitteldeutschland stärker vertreten waren. Wir wollen hier die These untersuchen, inwiefern die relativ geringe Anzahl an gewaltsamen Auseinandersetzungen des Reichsbanner mit dem Jungdeutschen Orden und den Kommunisten damit zu erklären ist, dass diese Gruppen eine gewisse Verhandlungsbereitschaft gegenüber dem Reichsbanner bzw. dessen Mitgliedern besaßen, während der Stahlhelm und

11 In einem regionalen Kontext wäre es denkbar, eine statistische Aufarbeitung derjenigen politischen Gewalttaten zu versuchen, in die das Reichsbanner verwickelt war. So bspw. in Berlin oder Hamburg. 12 Vgl. „Das schlimme Reichsbanner. Rechtsradikale Greuellegenden“, in: VZ Nr. 532/1924 vom 8.11. sowie „„Wahlterror des Reichsbanners“. Verlogene Hetze der „Vaterländischen““, in: Vorwärts Nr. 535/1924 vom 12.11. Hierzu auch Beispiele aus der oben näher dargestellten Anti-Reichsbanneragitation. So war etwa ein Vergleich des Reichsbanners mit „französischen Senegalnegern“ ein Echo der Kriegspropaganda.

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die Völkischen im Reichsbanner einen vernichtenswerten „inneren Feind“ sahen.13 Ebenfalls sei vermerkt, dass es nur vereinzelt zu Auseinandersetzungen oder Spannungen zwischen dem Reichsbanner und den amtlichen Waffenträgern kam, so wie bei der vermeintlichen Übung eines Angriffs auf die Reichswehr in Donaueschingen.14 Andere angebliche Übergriffe von Reichsbannermitgliedern auf Reichswehrangehörige wurden in der Rechtspresse zwar behauptet, aber polizeilich bewiesen wurden sie nicht.15 Solche Angriffe wären, sofern sie sich überhaupt ereignet hätten, angesichts der staatstragenden Ausrichtung des Reichsbanners auch abwegig gewesen. Sicher wurde Kritik an der Reichswehr geübt, aber zu Gewalttätigkeiten gegen sie wurde nicht aufgerufen, was bei den radikaleren Verbänden durchaus vorkam. Aufgrund der regen Demonstrationstätigkeit des Reichsbanners kam es mitunter zu Reibungen mit der diese Umzüge begleitenden Polizei, aber erneut gilt die Aussage, dass grundsätzlich alle amtlichen Waffenträger der Republik vom Reichsbanner nicht als Gegner angesehen wurden. Im Gegenteil waren die Beziehungen zwischen dem republikanischen Wehrverband und einer republikanischen eingestellten Polizeitruppe mancherorts recht eng. Dies äußerte sich zwar nicht in einer systematischen, von der Polizei organisierten Ausbildung von Mitgliedern des Reichsbanners, aber zivilkulturelle Verbindungen gab es fraglos.16 Wenn es dennoch zu Reibungen mit der Polizei kam, lag dies wohl an regionalen Gegebenheiten. So in Thüringen, wo nach dem Verbot einer Demonstration im Rahmen einer republikanischen Wartburgfeier von der Polizei berichtet wird, dass sie mehrfach gegen eine Ersatzversammlung des Reichsbanners hätte einschreiten müssen, da dort ein Plakat mit dem Goethe-Zitat „Revolutionen sind keine Verbrechen, sondern die Folge von Verbrechen“ zu sehen war. Ferner hätten bei dieser Gelegenheit Mitglieder des Reichsbanners gegen das De13 So mindestens die Ansicht in: „Das Reichsbanner – der innere Feind!“ von Major a. D. Freiherr v. Forstner, in: Deutsche Treue Nr. 13/1926 vom 1.4. (in: BArch R1507/3066, Bl. 59). Laut Retterath besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Verwendung von Begriffen wie „Volksgemeinschaft“ und „innerer Feind“, was in allen politischen Lagern zu beobachten sei (siehe Retterath 2016, S. 363–372). 14 Siehe oben. 15 Ein solcher angeblicher Vorfall ereignete sich in Königsberg am 21.2.25, wo es nach einer Reichsbannerdemonstration zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit dem Stahlhelm kam. Hierbei war von einem (danach verhafteten) RB-Mitglied namens Frankenstein auch ein Schuss abgegeben worden, der allerdings keinen Schaden angerichtet hatte. Die in großer Zahl anwesende Polizei konnte die Auseinandersetzung rasch beenden. Die Reichswehr war überhaupt nicht in die Angelegenheit involviert. Lediglich eine zeremonielle Wachablösung hatte in der Nähe stattgefunden. In der Rechtspresse wurde der Vorfall aber zu einem Angriff des Reichsbanners auf die Reichswehr aufgebauscht, bei dem es einen namentlich nicht genannten Toten gegeben habe. Ein Polizeibericht konnte aber belegen, dass diese Behauptungen vollständig unwahr waren (vgl. Vermerk des RKO vom 14.4.25, in: BArch R1507/3065, Bl. 27ff.). 16 So bspw. in Hamburg, wo ein Fackelzug des Reichsbanners ein offizieller Teil der amtlichen Gedenkfeierlichkeiten für die beim Thälmann-Aufstand gefallenen Polizisten war (siehe Lagebericht der Polizeidirektion Hamburg vom 18.8.25, in: BArch R1507/3065, Bl. 175).

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monstrationsverbot verstoßen und seien „grölend“ mit einem „Höllenlärm“ durch die Straßen gezogen, wobei sie Mitglieder der Rechtsverbände beschimpft und auch die Polizei verbal angegriffen hätten.17 Der betreffende Bericht erscheint nicht besonders neutral, was im Falle der Thüringer Polizei auch kein Einzelfall war.18 Die Haltung des Reichsbanners in Eisenach wird daher zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die allgemeine Haltung der Thüringer Polizei zurückzuführen sein. Eine ähnliche Reaktion des Reichsbanners ist auch in Bremen zu beobachten gewesen, wo die Polizei in ähnlicher Weise gegen den Bund eingestellt war und Versammlungsauflagen erließ.19 Andernorts war es wohl eher die politische Einstellung regionaler Reichsbannerführer, die für Gewalttätigkeiten mit Unbeteiligten und darauffolgende Konflikte mit der Polizei verantwortlich war. Der Kreisführer des Reichsbanners in Bochum Theodor Dahm (SPD), wurde beispielsweise als Rädelsführer in mehreren Gewaltdelikten gegen Unbeteiligte im Rahmen der Reichspräsidentenwahl angeklagt. Dahm hatte eigenhändig Minderjährige verprügelt, die er verdächtigte, Wahlplakate abgerissen zu haben. Die Anklageschrift lässt neben einer allgemeinen Gewaltbereitschaft Dahms auf radikale Ansichten schließen, die mit der Reichsbannersatzung unvereinbar waren.20 Sonderrollen: Kommunisten und Jungdeutscher Orden Abgesehen von Ausnahmefällen sind keine Übergriffe von Reichsbannermitgliedern auf Unbeteiligte oder die Polizei bekannt.21 Kommen wir also zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den republikfeindlichen Wehrverbänden. Das 17 Zu der verbotenen Wartburgfeier bereits oben sowie vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Weimar vom 29.10.24, in: BArch R1507/3064, Bl. 12f. 18 So der Lagebericht der Polizeidirektion Weimar vom 21.2.25, in: BArch R1507/3065, Bl. 20, wo es heißt, dass Mitglieder des Reichsbanners bei verschiedenen Gelegenheiten zahlreiche Unbeteiligte und Andersdenkende zusammengeschlagen hätten, was insofern aber unrealistisch erscheint, als dass keine Namen, Orte oder sich daraus ergebende Gerichtsverfahren genannt werden. 19 Vgl. Nachrichten der Polizeidirektion Bremen vom 1.12.26, in: THStA, P 284, wo über „Reibereien“ zwischen dem Reichsbanner und der Polizei berichtet wird, da einer Reichsbannerdemonstration der Zugang zu einer Bannmeile verwehrt worden war. 20 Vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten Arensberg an RIM vom 21.11.25, in: BArch R1507/3065, Bl. 253f. sowie die Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft Bochum gegen Dahm und Genossen vom 7.11.25, in: BArch R1507/3066, Bl. 9ff. Der Ausgang des Verfahrens ist unklar, da die Urteilsschrift nicht in den RKO-Akten enthalten ist. Zum Bochumer Reichsbanner unten. 21 In manchen Fällen ist es unklar, was darunter zu verstehen ist, wenn in Berichten eine Person als „unbeteiligt“ dargestellt wird. So ein Fall im Bericht des Polizeiamtes Darmstadt vom 10.6.25, in: THStA, P 279, Bl. 67, wo über die Verletzung eines „Unbeteiligten“ in GroßZimmern während der Präsidentschaftswahl berichtet wird, der das Herunterreißen einer schwarz-weiß-roten Fahne durch RB-Mitglieder kritisiert hatte. In einem politischen Sinne wird der betreffende Mann sicherlich nicht „unbeteiligt“ gewesen sein, was die Strafbarkeit der Handlung der RB-Mitglieder jedoch nicht aufhebt.

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konfliktreiche Verhältnis zwischen Reichsbanner und Kommunisten beschränkte sich keineswegs nur auf einen publizistischen Schlagabtausch. Kommunisten versuchten vielerorts die Versammlungen des Reichsbanners zu stören, wobei dies mit Lärm und Zwischenrufen, aber auch mit körperlicher Gewalt versucht wurde.22 Laut den Angaben des Reichsbanners wurden in den 1920er Jahren insgesamt drei Mitglieder des Reichsbanners aus politischen Gründen von Kommunisten getötet, wobei es wohl kein Zufall ist, dass diese Tötungsfälle sich alle im weiteren Kontext der Reichstagswahlen von 1928 und damit in einer Zeit der erhöhten Polarisierung ereigneten.23 Gleichzeitig gab es in derselben Zeitspanne auch mancherorts ein gemeinsames, gewaltsames Vorgehen von Reichsbannermitgliedern und Kommunisten gegen Mitglieder der Rechtsverbände. Insbesondere die Agitation für den Volksentscheid zur Fürstenenteignung von 1926 bot Gelegenheiten für eine solche Konstellation.24 Während also die Beziehung zwischen Reichsbanner und Kommunisten in dieser Hinsicht zwischen Störungen, Schlägereien und selbst tödlicher Gewalt sowie einer Tolerierung und sogar einer begrenzten Zusammenarbeit schwankte, war das Verhältnis zwischen dem Reichsbanner und den Rechtsverbänden eindeutig aggressiv. Eine grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft war lediglich bei einem Rechtsverband festzustellen, der allerdings im nationalistischen Lager auch eine gewisse Sonderrolle einnahm: der Jungdeutsche Orden. Die Sonderstellung des Jungdeutschen Ordens war das Ergebnis der politischen Ansichten seines als „Großmeister“ bezeichneten Vorsitzenden Arthur Mahraun. Mahraun, der sich als Dichter neo-romantischer Werke betätigte, war in der Anfangszeit der Republik Freikorpsführer gewesen und hatte dies als Ausgangspunkt seiner Wehrverbandsgründung genutzt. Seiner Ansicht nach war die damalige prekäre Lage Deutschlands das Ergebnis einer großangelegten Verschwörung „getarnter Mächte“, welche in Form des russischen Bolschewismus und des amerikanischen Kapitalismus an der Unterdrückung Deutschlands arbeiten würden. Soweit teilte Mahraun durchaus übliche Ansichten völkischer Kreise, doch ging sein Lösungsvorschlag nicht in Richtung eines „germanischen“ Bündnisses mit England, sondern in Richtung einer kerneuropäischen, „abendländischen“ Allianz zwischen Deutschland und Frankreich. Nur mit dem Rückhalt einer solchen Allianz könne Deutschland auf die Zurückdrängung des Bolschewismus als aktuell wichtigster Bedrohung hoffen, so Mahrauns wesentlichste Annahme. Die deutsch-französische Annäherung müsse freilich von einer 22 Ein gewaltloser Störversuch in: Lagebericht der Polizeidirektion Hamburg Nr. 6/1924, in: BArch R1507/3063, Bl. 60. Ein gewalttätiger Störversuch in: Nachrichten der Polizeidirektion Bremen vom 14.8.24, in: Ebd., Bl. 97. Ferner ein Bericht über eine Schlägerei zwischen RB-Mitgliedern und Kommunisten in: Nachrichten der Polizeidirektion Bremen vom 2.3.25, in: THStA, P 283, Bl. 27. 23 Siehe Statistikanhang Nr. 1. 24 Ein solches Zusammengehen in Form eines „planmäßigen Überfalls“ von Reichsbanner und RFB in: Schreiben des prIM an RIM vom 10.11.26, in: BArch R1501/113502, Bl. 116. Hierbei kam es zu einigen Körperverletzungen, weswegen drei Angeklagte zu insgesamt 19 Monaten Haft verurteilt wurden.

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„nationalen Wiederbelebung“ begleitet werden, wobei Mahraun dies durch einen Bezug auf die Werte und Vorstellungen des mittelalterlichen Deutschritterordens zu erreichen gedachte. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist ein eklektisches Gemisch von neo-romantischen, deutschnationalistischen und frankophilen Gedanken.25 In Hinsicht auf Mahrauns Ansichten, welche die Publizistik des gesamten Jungdeutschen Ordens bestimmten, wäre es denkbar, den Orden schlicht der völkischen Bewegung einzuordnen und nicht gesondert zu betrachten. Mahrauns französische Orientierung führte ihn jedoch zu einer teilweisen Unterstützung der Stresemannschen Verständigungspolitik und schließlich zu einer grundsätzlichen, wenn auch etwas oberflächlichen Akzeptanz der Republik als Staatsform.26 Hieraus ergab sich wiederum eine gewisse Gesprächsbereitschaft in Richtung des Reichsbanners, welches man von der Richtigkeit der eigenen Ansichten über den weiteren Ausbau der Republik zum „Volksstaat“27 überzeugen wollte, wobei der Orden mitunter einen akademischen Anspruch besaß und in studentischen Kreisen recht aktiv war. Diese propagandistische Überzeugungsarbeit schloss insbesondere die Forderung einer symbolischen „Versöhnung“ zwischen den alten und den neuen Reichsfarben mit ein, die vom Orden auch an das Reichsbanner wiederholt gerichtet wurde.28 Der bekannteste heraldische Versuch einer „Versöhnung“ der alten und der neuen Reichsfarben stammte vom Reichskunstwart Edwin Redslob, dessen schwarz-weiß-rot-goldener Flaggenentwurf mitunter auf Spott stieß, aber interessanterweise von Karl Höltermann gelobt worden war.29 Dem Reichsbanner oder zumindest Höltermann kann somit nicht der Vorwurf absoluter Unbeweglichkeit in dieser Frage gemacht werden. Den diplomatischen Offensiven Mahrauns in Richtung des Reichsbanners standen auf der Straße jedoch eine geringe Anzahl handgreiflicher Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen der beiden Wehrverbände gegenüber. Es sind aber mehrere Auffälligkeiten hierbei beobachtbar. Erstens ereigneten sich diese Auseinandersetzungen anscheinend relativ oft in Thüringen, zweitens ende-

25 Zur Ideologie und Geschichte des Ordens vor allem: Mahraun 1928, Bornemann 1928 u. Hornung 1958. Ansonsten existiert zum Jungdeutschen Orden kaum neuere Literatur (siehe Benz (Hg.) 2012, S. 343f.). Im Bezug auf den Antisemitismus im Jungdo betont Crim, dass ähnlich wie beim Stahlhelm ein ambivalentes Verhältnis zum Judentum bestanden habe, welches zwischen Indifferenz und Radikalantisemitismus geschwankt sei (siehe Crim 2016). 26 In der Nachkriegszeit verkaufte sich Mahraun der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit als Vorkämpfer einer direkten Demokratie, was er mit seinem Konzept der „Nachbarschaften“ als politischer Basiseinheiten begründete (siehe etwa „Auf gute Nachbarschaft“, in: Der Spiegel Nr. 9/1949 vom 26.2.). 27 Mit diesem Begriff suchte der Jungdeutsche Orden Anschluss an die demokratischen Parteien. „Volksstaat“ war eine gängige Redewendung im Parteienspektrum der Weimarer Koalition (siehe bspw. Dokumentenanhang Nr. 2 u. 3). Der Begriff ist als demokratisches Gegenstück zum Begriff „Obrigkeitsstaat“ zu verstehen. 28 Siehe „Innere Gesundung des Reichsbanners?“, in: Der Jungdeutsche Nr. 47/1926 vom 25.2. Hierzu auch Hornung 1958, S. 68. 29 Siehe Welzbacher 2009, S. 159 sowie Wirtz 2017.

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ten die Auseinandersetzungen lediglich mit leichten Körperverletzungen30 und drittens sind für den Zeitraum nach 1925 überhaupt keine Auseinandersetzungen mehr zu beobachten.31 Es ist möglich, dass die Ordensmitglieder in Thüringen tendenziell radikaler waren als anderswo, aber Klaus Hornung stellte fest, dass sich der Orden ab 1925 eher bemühte, die Gemeinsamkeiten zum Reichsbanner zu betonen und eine logische Folge hiervon war die Verringerung der gewaltsamen Auseinandersetzungen.32 Schließlich waren im Falle des Ordens nur dann Gewaltsamkeiten zu beobachten, wenn hierzu von der entsprechenden Führung mehr oder weniger explizit dazu aufgerufen wurde, so wie es in Thüringen geschah. Die Verbreitung verschwörungstheoretischer, antisemitischer und insgesamt aggressiver Publikationen reichte wohl nicht aus, um die Mitglieder des Ordens zu Tätlichkeiten gegen die Republikaner zu motivieren. Da das Reichsbanner wiederum eine defensive Gewaltstrategie ausübte, waren von dieser Seite aggressive Handlungen eher nicht zu erwarten, sodass es im Ergebnis nur zu relativ wenigen Auseinandersetzungen kam und sich der eigentliche ‚Kampf‘ zwischen dem Orden und dem Reichsbanner spätestens ab 1925 auf einer publizistischen Ebene abspielte. Hauptfeinde: Völkische und Stahlhelm Wie wir sehen werden, unterschied sich somit das Verhältnis zwischen dem Reichsbanner und dem Jungdeutschen Orden deutlich von den wesentlich gewalttätigeren Auseinandersetzungen des Bundes mit dem Stahlhelm und völkischen 30 Die einschlägige Liste des Reichsbanners berichtet über keinen tödlichen Zusammenstoß mit Ordensmitgliedern (siehe RB-Rechenschaftsbericht 1933, S. 2). Über etwaige Toten des Jungdeutschen Ordens ist hier und in der Literatur nichts bekannt (siehe Hornung 1958). 31 Hierzu folgende Vorkommnisse: Ein Leichtverletzter in Hochstedt/Thüringen am 31.8.24 im Kontext einer Privatfeier (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Weimar vom 10.9.24, in: BArch R1507/3063, Bl. 210), eine Schlägerei in Spandau/Berlin mit drei leichtverletzten studentischen Ordensmitgliedern am 3.11.24 am Rande einer Reichsbannerdemonstration, die durch die Beschimpfung „Judenrepublik“ ausgelöst wurde (vgl. „Völkische Provokateure“, in: Vorwärts Nr. 519/1924 vom 3.11. sowie „Das Reichsbanner mit Stahlruten und Gummiknüppeln!“, in: BLA Nr. 523/1924 vom 3.11.), Ermittlungen gegen zwei Ordensführer in Meiningen/Thüringen wegen der Aufforderungen zur Gewalt gegen „Rote“ (vgl. Schreiben der Polizeidirektion Meiningen an ThIM vom Januar 1924, in: THStA, P 265, Bl. 73), eine Schlägerei im Kontext eines Republikanischen Tages in Thüringen Anfang 1925 mit drei leicht verletzten Ordensmitgliedern (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Weimar vom Januar 1925, in: THStA, P 266, Bl. 39) sowie ein Zusammenstoß zwischen Jungdeutschem Orden und Reichsbanner im Kontext der Reichspräsidentenwahl in Neu-Isenburg/Hessen ohne Verletzte (vgl. Nachrichten des Polizeiamtes Darmstadt vom 1.9.25, in: THStA, P 279, Bl. 79f.). 32 Einen allgemeinen Überblick über die geographischen Schwerpunkte des Ordens bei Hornung 1958, S. 51f. Ein wesentlicher Grund für die Mäßigung des Jungdo auch in dessen Verhältnis zum Reichsbanner war laut Hornung ferner die erfolgreiche Wahl Hindenburgs, die in den Augen Mahrauns der Rechten positive Möglichkeiten zur Mitwirkung in der Republik eröffnete (vgl., S. 61f. u. 68 sowie bereits oben).

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Gruppen. Die Propaganda des Stahlhelms und völkischer Kreise gegen das Reichsbanner haben wir ausführlich behandelt und auch auf die zahlreichen Versammlungsaktivitäten der betreffenden Anti-Reichsbanner-Agitatoren wurde verwiesen. Diese aggressive Propaganda, bei der auch zur „Vernichtung“ des „schwarz-rotgelben Geistes der moralischen Abrüstung“ (Walter Korodi) aufgefordert wurde, hatte unmittelbare gewaltsame Folgen, was von den Zeitgenossen mitunter als „latenter Bürgerkrieg“ beschrieben wurde. Ob dieser Begriff angemessen ist, um die tatsächliche Konfliktsituation zu beschreiben sei erst einmal dahingestellt, aber ob der auch Mitte der 1920er Jahre regelmäßigen Gewaltausbrüche ist das Auftreten solcher Dramatisierungen auch jenseits der Publizistik nicht überraschend.33 Völkische Gruppen traten dem Reichsbanner vor allem in Süd-, Mittel- und Norddeutschland entgegen, was in etwa den regionalen Schwerpunkten dieser Bewegung entspricht. Anlass für gewaltsame Auseinandersetzungen waren meist die jeweiligen Versammlungsaktivitäten. So wurden wiederholt Reichsbannerveranstaltungen von völkischen Aktivisten gestört, wobei der Saalschutz des Reichsbanners in der Regel die Störungen ohne größere physische Gewalt beenden konnte, sodass nur selten Schwerverletzte zu beklagen waren.34 Ein juristisch folgenloser, aber bemerkenswerter Zwischenfall ereignete sich am 26. Januar 1926 in Gotha, wo nach einem Werbeabend der Bundesvorsitzende Hörsing auf dem Rückweg zu seinem Hotel von etwa 40–50 Völkischen angepöbelt und verfolgt 33 Hierzu ein knapper Aktenvorgang der Oberstaatsanwaltschaft von Breslau, die für ihren Zuständigkeitsbereich in nur zwei Jahren gut 50 schwere Zusammenstöße verzeichnete (siehe GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 53040. Dort das Zitat „latenter Bürgerkrieg“ in einem internen Schreiben vom 20.8.27). 34 Hierzu folgende Vorfälle: Störung einer Rede Schützingers auf der Gründungsfeier des Leipziger Reichsbanners am 5.7.24 durch 35 „Hakenkreuzler“ mit Stöcken, die des Saales verwiesen wurden, wobei die betreffenden Personen am darauffolgenden Tag bei einer RathenauGedenkfeier erneut versuchten zu stören (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Weimar vom Juli 1924, in: THStA, P 521, Bl. 17(a)ff. oder in: BArch R1507/3063, Bl. 42ff.), bei einer Festrede Luppes in München wurde ein RB-Mitglied vom eigenen Saalschutz irrtümlich verprügelt, nachdem es zu einer Schlägerei mit Nationalsozialisten gekommen war, die aus dem Saal vertrieben wurden, wonach dem Saalschutz von der Polizei mehrere Gummiknüppel und Messer abgenommen wurden (vgl. Nachrichten der Polizeidirektion München vom 21.12.26, in: THStA, P 277, Bl. 135f.), mehrere Werbeveranstaltungen des Reichsbanners in Berlin, darunter ein Fackelmarsch zum Gedenken an die Märzgefallenen, wurden weitgehend störungsfrei durchgeführt, während es im selben Zeitraum zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten kam (vgl. Nachrichten des Polizeipräsidiums Berlin vom März 1927, in: THStA, P 252, Bl. 59). Einen anderen Eindruck vermittelt ein Lagebericht aus Sachsen, demnach der „harte“ Saalschutz des Reichsbanners während der Wahlen 1924 für mehrere Massenschlägereien mit Kommunisten und Völkischen verantwortlich gewesen sein soll, wobei Angaben über evtl. Verletzte nicht gemacht werden. Ferner sollen bei einer Versammlung des RRB in Bad Elster am 23.11.24 in einer Schlägerei mit Völkischen vier RB-Mitglieder erheblich verletzt worden sein (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Dresden vom 12.12.24, in: BArch R1507/3064, Bl. 103). Die Braunschweiger Polizei meldete hingegen, dass das Reichsbanner in der Wahlzeit an keinen Zwischenfällen beteiligt war (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Braunschweig vom 20.12.24, in: Ebd., Bl. 108).

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wurde. Von der Polizei wurde der Vorfall zwar als harmlos und die entsprechende Berichterstattung in der republikanischen Presse als übertrieben eingestuft, da es bei einer tatsächlich vorgekommenen Schlägerei (an der Hörsing nicht selbst beteiligt war) zu keinen ernsthaften Verletzungen gekommen und Hörsing zu keiner Zeit in Gefahr gewesen sei, aber dieser Fall illustriert dennoch die insgesamt aggressive Grundstimmung.35 Umgekehrt störten auch Reichsbannermitglieder mancherorts völkische Veranstaltungen36 und lieferten sich Auseinandersetzungen mit Völkischen außerhalb der Versammlungsorte, wobei es auch schwere Verletzungen gab.37 Die an solchen Vorfällen beteiligten Reichsbannermitglieder mussten durchaus juristische Konsequenzen fürchten, wobei die Anklage meist Landfriedensbruch lautete.38 Gezielte Überfälle auf bestimmte Personen des völkischen Lagers sind dem Reichsbanner nicht nachweisbar, während von völkischer Seite durchaus gezielt Einzelpersonen aufgrund ihrer Prominenz oder anderer Merkma-

35 Vgl. die Materialsammlung des ThIM samt Polizeiberichten zum Vorfall, in: THStA, P 521, Bl. 60–71. 36 So in Bremen: Störung einer DVFP-Veranstaltung durch 400 Reichsbannerleute (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 2.2.26, in: THStA, P 284), Störung einer völkischen Versammlung durch 120 Reichsbannermänner ohne gewaltsame Zwischenfälle (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 1.6.26, in: Ebd., Bl. 127f.). Hierzu auch die eher ungenaue Angabe der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth, dass das Reichsbanner für „blutige Zusammenstöße“ auf einer Veranstaltung der (völkischen) Altreichsflagge am 17.8.24 in Zirndorf hauptverantwortlich gewesen sein soll (vgl. Mitteilung der Polizeidirektion NürnbergFürth an den RKO, in: BArch R1507/3063, Bl. 225). 37 So in Sachsen und Thüringen: ein schwerverletzter Frontbannmann nach einer Auseinandersetzung im Kontext eines Republikanischen Tages in Reichenbach i.V. am 13.9.25 (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Dresden vom 23.10.25, in: THStA, P 521, Bl. 21), eine Auseinandersetzung zwischen Reichsbannerleuten und Nationalsozialisten am Rande eines Kirchweihfestes in Nimritz am 12.10.24, wobei die Polizei ernsthafte Tätlichkeiten verhinderte (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Weimar vom 22.10.24, in: BArch R1507/3063, Bl. 261). Aber auch in Mecklenburg und in Franken: eine schwere Auseinandersetzung zwischen Reichsbanner und „Frontring“ (gemeint ist wohl der Frontbann) in Grevesmühlen am 6.12.24, wobei fünf Völkische und ein Unbeteiligter mit Messerstichen schwer verletzt wurden, sowie kleinere Übergriffe von RB-Mitgliedern auf Rechtsradikale in Groß-Weltzien und in Wismar (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Schwerin vom 10.12.24, in: BArch R1507/3064, Bl. 102). Ferner ein „Überfall“ von RB-Mitgliedern auf ein völkisches Stammlokal in Schwarzenbach am, wobei einige Angehörige des Bundes Bayern und Reich sowie der „zufällig anwesende“ Stadtrat Reul-Bürglich verletzt wurden (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 27.12.24, in: BArch R1507/3064, Bl. 109f.). 38 So beim Landfriedensprozess gegen 17 RB-Mitglieder wegen der Übergriffe in Grevesmühlen 1924. Wie bei manch anderen Reichsbannerprozessen auch, war der Verteidiger der Republikaner der Bundessyndikus Horst Baerensprung, der die hohen Haftstrafen für die Angeklagten aber nicht verhindern konnte. Das Urteil, welches sich vorwiegend auf die Zeugenaussagen der beteiligten Nationalsozialisten stütze, wurde in der republikanischen und auch der kommunistischen Presse als „Schandurteil“ einer „Hakenkreuz-Justiz“ kritisiert (vgl. hierzu die Materialsammlung zum Prozess, in: BArch R1501/113501, Bl. 159–183 sowie Leber 1976, S. 60ff.). Andere Landfriedensbruchprozesse gegen das Reichsbanner mit einem ähnlichen Ausgang waren bspw. der sog. Striegauer-Prozess (siehe unten).

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le tätlich angegriffen und auch getötet wurden. Anklagen wegen (versuchten) Mordes oder Totschlags gab es in solchen Fällen jedoch offenbar nicht. Der Reichstagsabgeordnete Richard Meier-Zwickau (SPD) wurde im Rahmen eines Reichsbannertages in Reichenbach i.V. am 11. Januar 1925 von einer Gruppe von Nationalsozialisten in der Straßenbahn erkannt und nach einer kurzen Anpöbelei mit Stockschlägen schwer verletzt. Da sich Meier mittels seines eigenen Stockes zur Wehr setzte, versuchten die Nationalsozialisten weitere Gesinnungsfreunde zur Unterstützung zu rufen, was aber nicht sogleich gelang. Meier konnte daher trotz einer schweren Kopfverletzung seinen Angreifern entfliehen, die nach der Tat noch einige Zeit erfolglos die Umgebung nach ihm absuchten. In diesem Verhalten der Nationalsozialisten und insbesondere der Verfolgung einer bereits schwer verletzten Person ist recht eindeutig eine Tötungsabsicht zu erkennen, aber da keine Tatverdächtigen ermittelt werden konnten, kam es zu keiner Anklage.39 Auch im Fall des Arbeiters Simon, der laut Zeitungsberichten dem Reichsbanner angehörte und Jude war, kam es zu keiner Anklage. Es wurde von amtlicher Seite sogar abgestritten, dass Simon aus antisemitischen oder sonstigen politischen Gründen von drei Völkischen zusammengeschlagen worden war, woraufhin er am 26. Dezember 1924 im Krankenhaus verstarb. Vielmehr wird das Opfer zum Täter gemacht, wenn in einem Polizeibericht behauptet wird, dass Simon ein „übel beleumundeter Mensch“, „oft betrunken“ und „übergriffig“ gewesen sei.40 Solche schweren Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern des Reichsbanners und Völkischen verdeutlichen weiter, dass diese Gruppen in ihrer Gewaltstrategie nicht gleichzusetzen sind. Gezielte Übergriffe von Reichsbannermitgliedern auf bestimmte Personen aus dem gegnerischen Lager hat es soweit bekannt nicht gegeben, während die Fälle Meier und Simon zeigen, dass vielmehr Reichsbannermitglieder Opfer von gezielten Angriffen wurden. Wo von Seiten des Reichsbannersaalschutzes bei Versammlungen Gewalt vermieden werden konnte, wurde sie denn auch vermieden, so wie es stets von der Reichsbannerführung angemahnt worden war. In entsprechenden Richtlinien über das Verhalten in Konfliktsituationen hieß es, dass Gewalt nur zur Verteidigung eingesetzt werden solle und müsse, da Gewalt nur mit Gewalt gebrochen werden könne. „Unwürdige Feigheit“ dürfe es nicht geben. Ein schwächliches Auftreten reize nämlich die meist feigen Gegner nur zu weiteren Taten, während ein kräftiges Auftreten die Angriffslust auch für die Zukunft ersticke.41 Die beobachtbaren Übergriffe mit schwer Verletzten sind, soweit die Hauptverantwortung bei Reichsbannermitgliedern lag, somit als spontane Gewaltausbrüche und nicht als Ergebnis einer organi39 Vgl. Bericht der Dresdener Polizei an den RKO vom 21.1.25, in: BArch R1507/3064, Bl. 129ff. 40 Vgl. Bericht der Stadtpolizei Tilsit vom 14.1.25, in: BArch R1507/3065, Bl. 35ff. Der Fall Simon wird in den einschlägigen, zeitgenössischen Aufstellungen von politisch motivierten Tötungsfällen nicht genannt und aufgrund der unklaren Quellenlage hier auch nicht in die statistische Aufstellung aufgenommen. Auch Walter nennt diesen Fall laut Personenregister nicht (siehe Walter 1999, Personenregister). 41 Vgl. Richtlinien betreffend Umgang mit Schusswaffen sowie Verhalten in Gewaltsituationen, in: LA-Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 19 (OG Husum).

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sierten Strategie zu interpretieren. Von Seiten der Reichsbannerführung wurde nicht zu Gewalttätigkeiten, sondern vielmehr zu Zurückhaltung aufgerufen und dies sowohl intern, als auch medienwirksam bei öffentlichen Veranstaltungen.42 Ähnlich wie völkische Gewalttäter agierten die Stahlhelmer. Auch Fälle einer tätlichen Unterstützung bzw. Zusammenarbeit zwischen dem Stahlhelm und Völkischen gegen das Reichsbanner sind bekannt.43 Ferner kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Reichsbanner und Stahlhelm, die prinzipiell ähnlich abliefen wie im Falle der Auseinandersetzungen mit Völkischen. Schlägereien entstanden meist direkt bei Versammlungen des Reichsbanners, Stahlhelms oder der Rechtsparteien sowie im Kontext solcher Veranstaltungen, die sich ob der geographischen Schwerpunkte der Stahlhelmorganisation vorwiegend, aber nicht ausschließlich, in Mittel- und Ostdeutschland und insbesondere in Schlesien ereigneten.44 Gezielte Übergriffe auf führende Personen des Stahlhelms konnten dem Reichsbanner, wie im Falle der Völkischen, polizeilich nicht nachgewiesen werden.45 In den Landfriedensbruchs-Prozessen mussten die angeklagten Reichs42 So auch im Kontext des erwähnten Reichsbannertages in Reichenbach i.V. im Januar 1925, wo den Mitgliedern durch den Gauvorsitzenden ausdrücklich jegliche Provokationen verboten worden waren (vgl. Polizeibericht Dresden vom 15.1.25, in: BArch R1507/3064, Bl. 124ff.). 43 So ein gemeinschaftlicher Angriff von „Hakenkreuzlern“ und Mitgliedern des VVV auf ein vom Reichsbanner genutztes Gewerkschaftshaus in Halle am 7.12.24, wobei Sach- und Personenschaden entstanden. Die Polizei konfiszierte von den Angreifern mehrere Schlagwaffen und erstattete Anzeige wegen Sachbeschädigung und unbefugten Waffenbesitzes (vgl. Schreiben Regierungspräsident von Merseburg an RIM vom 31.12.24, in: BArch R1507/3064, Bl. 144). 44 Hierzu als Beispiele: Zusammenstoß zwischen Reichsbanner und Jungstahlhelm bei einer Kundgebung des Reichsbanners gegen die Flaggenverordnung und einem parallelen Fackelzug des Stahlhelms in Bremen, wobei auch von einer „drohenden Haltung“ gegen die Polizei berichtet wird (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Bremen vom 14.5.26, in: THStA, 284, Bl. 112f. sowie Bericht der Polizei Bremen an den RKO vom 10.5.26, in: BArch R1507/3066, Bl. 103–108), Störung einer DNVP-Versammlung in Hamburg durch 50 Reichsbannerleute, die ankündigten, künftig alle DNVP-Veranstaltungen zu sprengen, wobei die Störung von der Polizei beendet wurde (vgl. Lagebericht der Polizeidirektion Hamburg vom 17.10.24, in: R1507/3063, Bl. 259), ein Zeitungsbericht über die Störung einer DVPVersammlung in Berlin, auf der auch DNVP-Mitglieder sprachen (vgl. „Reichsbanner-Terror mit Polizeiunterstützung“, in: DTZ Nr. 561/1924 vom 29.11., in: R1507/3064, Bl. 73), Störung einer Stahlhelm-Demonstration in Magdeburg am 29.4.25 durch Kommunisten und RBMitglieder, was einzelne Verhaftungen und Anklagen nach sich zog (vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten von Magdeburg an RIM vom 28.5.25, in: BArch R1507/3066, Bl. 27), Verletzung eines Stahlhelmmannes durch ein RB-Mitglied mit einem spitzen Gegenstand im Rahmen einer RB-Demonstration in Karlshorst/Berlin (vgl. Vermerk des RKO vom 16.6.26, in: BArch R1507/3066, Bl. 150). Für Beispiele aus Niederschlesien siehe GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 53040. Für Oberschlesien: AAN, 2/482/0/1, Nr. 10 –Stahlhelm, Bl. 12 u. 21ff. Weitere Beispiele aus der preußischen Provinz Sachsen bei Schumann 2001, S. 233–244. 45 Hierzu der Fall eines vermeintlichen „Attentats“ auf den Camburger Stahlhelmführer Walter Günther im Herbst 1924. Polizeilich konnte zwar ermittelt werden, dass das RB-Mitglied Fritz Triebel am 19.11. um halb vier Uhr morgens tatsächlich einen Schuss in Richtung Günthers abgefeuert hatte, aber dieser Schuss offenbar aus einer Schreckschusspistole stammte.

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bannermitglieder ebenfalls mit hohen Haftstrafen rechnen. So war es 1925 in Striegau zu einer ernsteren Auseinandersetzung gekommen, bei der zwar einige Verletzte, aber keine Toten zu beklagen waren. Bemerkenswerter als der eigentliche Vorfall war der ihm folgende Prozess gegen 25 Mitglieder des Reichsbanners. Stahlhelmer waren nicht angeklagt worden. Wie auch andere Urteile löste der Rechtsspruch des Amtsgerichts in Schweidnitz regen Protest in der republikanischen Presse aus.46 Der Hauptangeklagte, der Stadtrat und Striegauer Reichsbannervorsitzende Gustav Müller (SPD), wurde zu 2 Jahren Haft verurteilt, da das Gericht in ihm den geistigen Urheber der Tat erblickte. Weitere neun Reichsbannermitglieder wurden zu insgesamt rund 13 Jahren Haft verurteilt, während 15 Angeklagte freigesprochen wurden. Die republikanische Presse sprach dem Schöffengericht jegliche Objektivität ab, da in diesem mehrere Stahlhelmmitglieder bzw. DNVP-nahe Personen vertreten waren. So war selbst der Vorsitzende des Gerichts ein Vorstandsmitglied des Striegauer Königin-Luise-Bundes, dem Frauenverband des Stahlhelms, gewesen.47 Diese negative Einschätzung der Objektivität des Gerichtes wurde vom RKO geteilt, der einige Monate später vermerkte, dass alle Verurteilten aufgrund einer Amnestieregelung wieder freigekommen waren.48 Aufgrund der Regelmäßigkeit der Gewalttätigkeiten, bereitete sich die Reichsbannerführung in Berlin mit einer allgemeinen Alarmbereitschaft auf den Stahlhelmtag am 7. und 8. Mai 1927 vor, zu dem 60. bis 70.000 Stahlhelmer in der Reichshauptstadt erwartet wurden. Die Alarmbereitschaft wurde vom technischen Leiter des Gaues koordiniert, wobei für die Bereitstellung von Fahrradmeldern, eine dauerhafte Besetzung des Gaubüros sowie den Schutz von wichtigen Gebäuden des Bundes oder befreundeter Organisationen gesorgt wurde. Zudem wurde vom Reichsbanner ein ziviler Patrouillendienst eingerichtet und jedes Mitglied wurde verpflichtet, sich beim vereinbarten Alarmsignal an den ihnen im Vorfeld zugewiesenen Alarmplätzen in Uniform einzufinden. Erneut erfolgte die Ermahnung, ein provozierendes Auftreten zu unterlassen.49 Ob solche Alarmvorbereitungen einen Abschreckungseffekt hatten und folglich zur Beruhigung der allgemeinen Lage beitrugen oder nicht, ist zwar möglich, aber durchaus fraglich. Sie waren jedoch eindeutig ein Teil der Reaktion des Reichsbanners auf mehrere von Stahlhelmern begangene Tötungsfälle, von denen

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48 49

Augenzeugen wollen zwar einen Schrotschuss erkannt haben, aber die Staatsanwaltschaft stufte den Vorfall als groben Unfug ein und erhob keine Anklage gegen Triebel (vgl. Schriftwechsel zwischen dem RKO und dem ThIM vom Dezember 1924 und Januar 1925, in: BArch R1507/3064, Bl. 145f.). Zur politischen Justiz dieser Zeit siehe ferner unten. Vgl. „Das Schweidnitzer Urteil. Ein neuer Beitrag zur deutschen Rechtspflege“, in Vorwärts Nr. 160/1925 vom 4.4., „Das Striegauer Urteil“, in: VZ Nr. 159/1925 vom 3.4. u. VZ Nr. 157/1925 vom 31.3. Die Verteidigung der RB-Mitglieder hatte Otto Landsberg übernommen. Vgl. Vermerk des RKO vom 14.12.25, in: BArch R1507/3065, Bl. 286. Dort auch weiteres Material zum Prozess und dem Vorfall. Vgl. „Das Reichsbanner am Stahlhelmtage. Alarmbereitschaft!“, in: VZ Nr. 196/1927 vom 29.4.

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der Doppelmord von Arensdorf derjenige mit dem größten Medienecho gewesen ist.50 Das Reichsbanner veranstaltete reichsweit Protestkundgebungen wegen dieses Vorfalles bzw. zum Andenken an die beiden getöteten Reichsbannermänner Tietze und Wollank.51 Ihrerseits protestierte auch die Stahlhelmführung gegen die an den Mitgliedern ihres Bundes begangenen Gewalttätigkeiten. Hörsing wurde von Franz Seldte, dem ersten Bundesführer des Stahlhelms, persönlich vorgehalten, dass keinerlei Kooperation zwischen den Bünden möglich sei, solange die Gewalttätigkeiten anhalten würden, wobei Seldte die Verantwortung hierfür nur bei den Reichsbannermitgliedern suchte.52 In dieser Beschuldigung des Reichsbanners ist durchaus eine gezielte Strategie des Stahlhelms zu erblicken, da ähnlich anklagende Schreiben dazu benutzt wurden, um Druck auf das Reichsbanner wie auf amtliche Stellen auszuüben. In Eingaben aus deutschnationalen Kreisen wurden allgemeine Anschuldigung an das Reichsbanner, wie dessen vermeintlicher „Landesverrat“, zu selbst höchsten staatlichen Stellen getragen. In einer ausführlichen Denkschrift verbreitete 1925 das deutschnational geführte Reichsinnenministerium solche Anschuldigungen gegen das Reichsbanner in Regierungsund Ministeriumskreisen. Hierin finden sich die üblichen rechtsradikalen Argumentationsmuster über den „wahren Charakter“ des Reichsbanners, also dessen vermeintliche „sozialistische“ Haltung. Insbesondere wird der Bund für „zahlreiche“ nicht näher genannte, aber dennoch „systematische“ Gewalttaten gegen rechtsgerichtete Kreise sowie einen „Wahlterror“ verantwortlich gemacht. Das Ziel des Reichsbanners, so das Fazit, sei es eindeutig, durch eine „proletarischen Einheitsfront“ die Vernichtung seiner „inneren Feinde“ herbeizuführen.53 Speziellere Eingaben, deren Anlass einzelne gewaltsame Auseinandersetzungen mit dem Reichsbanner waren, wurden vom Stahlhelm ebenfalls genutzt, um bestimmte Personen anzuschwärzen. Im Falle des Zittauer Bürgermeisters Oswald Koltzenburg (DDP), der bei einer nichtöffentlichen Reichsbannerfeier zum (gewaltlosen) „Kampf“ um die Verfassung und Republik aufgerufen hatte, kam es zu einer solchen fragwürdigen Eingabe. Die strafrechtlich völlig unbedenkliche Äußerung Koltzenburgs wurde von der Zittauer Ortsgruppe des Stahlhelms dazu benutzt, um ihn beim Sächsischen Innenministerium und auch beim Reichsinnenministerium zu beschuldigen, dass er zur Gewalt aufgefordert habe und somit für mehrere, nicht genauer be-

50 Zum Vorfall ausführlich unten. 51 Als Beispiel eine Demonstration in Chemnitz (siehe Nachrichten des Landesinformationsamtes Dresden vom Juli 1927, in: THStA, P 257, Bl. 122). 52 Vgl. Schreiben Seldtes an Hörsing vom 30.6.26, in: FES, NL Franz Osterroth, 1/FOAC, Box 126, Mappe 204. Eine denkbare Kooperation zwischen den Bünden bestand vor allem in der Frage eines Reichskriegerdenkmals, dem sog. Heldenhain, welches von allen Kriegsteilnehmerverbänden gefordert wurde, aber letztlich auch aufgrund der Streitigkeiten zwischen den Bünden nicht zustande kam (siehe bereits oben). 53 Vgl. Bericht des RIM über das Reichsbanner an alle Ministerien, Staatssekretäre und Abteilungen vom 29.4.25, in: BArch R1501/113501, Bl. 56–67. Wie üblich werden als Belege aus dem Kontext gegriffene Zeitungstexte sowie Aussagen Schützingers oder Hörsings angeführt.

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schriebene „nächtliche Zwischenfälle“ verantwortlich sei.54 Diese Anschuldigung, deren einziger Beleg in einem Zeitungsbericht über die Feier lag,55 führte neben einem (folgenlosen) Dienststrafverfahren, auch zu einem längeren Austausch zwischen dem Reichsinnenministerium und dem Sächsischen Außenministerium.56 Das Reichsinnenministerium hatte keine Kompetenz, um selbst gegen Koltzenburg einzuschreiten, aber dies ist nicht das Entscheidende. Vielmehr wurde das Reichsbanner durch diesen und andere Vorgänge in ein dunkles Licht gerückt, selbst wenn die Verdächtigungen sich als haltlos erwiesen. Anders als die Völkischen war die DNVP an mehreren Regierungen auf Reichs- und Landesebene beteiligt, sodass die Gewalt zwischen dem Reichsbanner und dem Stahlhelm schnell zum Gegenstand amtlicher Auseinandersetzungen wurde. Dies galt auch für gewaltlose Konflikte wie Beleidigungen oder Streitigkeiten um Symbole.57 Diese insgesamt kompromisslose Haltung des Stahlhelms gegenüber dem Reichsbanner veranschaulicht das Bedrohungsgefühl, welches durch die Reichsbannergründung und dessen Aktivitäten entstanden war. Den Stahlhelmführern war klar, dass die republikanischen Massenveranstaltungen ein Gegengewicht zu ihren eigenen Bemühungen um eine antidemokratische Umformung der Republik darstellten. Anstatt hierauf in einem zivilkulturellen Sinne zu reagieren, entschieden sich die Stahlhelmer jedoch für den Weg der Gewalt.58

54 Vgl. Schreiben der Stahlhelm OG Zittau an RIM u. das Sächsische Innenministerium jeweils vom 31.1.25, in: BArch R1501/113501, Bl. 72f. 55 Siehe „Die Gründungsfeier des Reichsbanners“, in. Zittauer Morgenzeitung vom 27.1.25. 56 Siehe Schriftwechsel zwischen RIM und Sächsischem Außenministerium vom Februar, Mai und Juni 1925, in: BArch R1501/113501, Bl. 75ff. 57 Hierzu ein Schriftwechsel zwischen dem RWM, dem RIM und dem Staatspräsidenten von Württemberg Bazille vom März und April 1927. Bazille war vom Stuttgarter Reichsbannervorsitzenden Kurt Schumacher (SPD) verbal angegriffen worden, aber verzichtete auf weitere Schritte gegen Schumacher (siehe BArch R1501/125668j, Bl. 44f. u. 53). Ferner der Zeitungsbericht über einen „Tumult“ im Potsdamer Stadtparlament, welcher durch den Protest der DNVP-Fraktion über eine Bannerweihe des Reichsbanners ausgelöst worden war (siehe „Sturmszenen im Potsdamer Rathaus. Wegen der Bannerweihe des Reichsbanners SchwarzRot-Gold“, in: VZ Nr. 520/1924 vom 1.11.). 58 Die Radikalisierung des Stahlhelms ab 1924 ist auch mit dem Auftreten des Reichsbanners zu erklären, welches als Konkurrenzorganisation wahrgenommen wurde (siehe Schumann 2001, S. 222f.), wobei die RB-Geländeübungen mitunter durch vorherige Übungen des Stahlhelms provoziert wurden (siehe oben).

8. MÄRTYRER DER REPUBLIK. DIE TÖDLICHE POLITISCHE GEWALT Bislang wurde angenommen, dass das Reichsbanner lediglich als Opfer der radikalen Gewalt zu betrachten ist, da es eine rein defensive, staatstragende Einstellung besaß. Dieser Ansicht in der Literatur kann hier aber nicht gefolgt werden. So ergibt sich Dirk Schumanns Haltung in dieser Frage aus einer Beschränkung seines Forschungsansatzes, da das Reichsbanner in der von ihm untersuchten Region – die preußische Provinz Sachsen – zwar in mehrere tödliche Auseinandersetzungen verwickelt war, jedoch keine amtlichen Aktenvorgänge hierzu existieren und Schumann diese Fälle folglich nicht berücksichtigte.1 Aber bereits an dieser einen Region ließe sich zeigen, dass die Situation anders gelagert war. So starben in der Provinz Sachsen zwischen 1924 und 1932 mindestens 14 Personen bei politisch motivierten Auseinandersetzungen zwischen den Wehrverbänden. Hiervon entfielen acht Personen auf Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Rechtsradikalen und sechs auf Auseinandersetzungen des Reichsbanners mit seinen Gegnern.2 Aber wie erklärt sich diese hohe Fallzahl? Gewaltstatistik 1924–1928 Die Mitte der 1920er erlebten ein hohes Maß an politischer Gewalt. Gut ein Dutzend Personen starben zwischen 1924 und 1928 durchschnittlich pro Jahr in politisch motivierten Auseinandersetzungen zwischen den einschlägigen Gruppierungen. Die Tatsache, dass spätestens ab 1930 jährlich etwa das zehnfache dessen an Todesopfern zu beklagen war, sollte dieses bereits nicht geringe Ausmaß der politischen Gewalt in den 1920ern nicht vergessen machen. Das Reichsbanner war neben den Kommunisten und verschiedenen rechtsradikalen Gruppierungen einer der Hauptakteure dieser Auseinandersetzungen, die sich zwar in ihrer Anzahl bzw. Häufung von jenen Fällen der späten Weimarer Jahre unterschieden, aber auf einer Mikroebene durchaus vergleichbar waren.3

1 2

3

Siehe Schumann 2001, S. 22–30. Dort die Erklärung des Ansatzes. Siehe Statistikanhang Nr. 1. Dies sind die Stahlhelmer Preuß, Pietrzak, Steinbach, Koch und Küfner sowie der Nationalsozialist Wietfeld und die Kommunisten Krell und Joocksch. Ferner für die Auseinandersetzungen des Reichsbanners: die Nationalsozialisten Jaenicke und Gerhardt, die Reichsbannermänner Paasche jun., Schneidewind und Fritz Müller sowie der Stahlhelmer Gräfe. Weitere drei Stahlhelmer (Cortois, Bahn und Bergmann) wurden von „Arbeitern“ getötet, deren politische Zuordnung nicht geleistet werden konnte. Hierzu auch Tab. 11. Demnach war das Reichsbanner an 33% der politischen Tötungsfälle in der Provinz Sachsen zwischen 1924 und 1932 beteiligt. Diese Beobachtung anhand einer anderen Quellenbasis bereits bei Schumann 2001, u.a. S. 359ff.

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Uns interessieren zunächst aber statistische Aspekte. Die hier dargestellte Gewaltstatistik beruht auf der Auswertung zeitgenössischer Publikationen der beteiligten Parteien und Wehrverbände, die in einem zweiten Schritt durch staatliche Angaben überprüft und ergänzt wurden. Es gibt zwar beträchtliche Abweichungen zwischen der staatlichen Sicht auf den Ablauf der Gewalthandlungen und der jeweiligen parteilichen Sicht, aber in statistischer Hinsicht sind die Abweichungen weit weniger erheblich. Grundsätzlich muss angenommen werden, dass ein Tötungsfall, über den in den parteilich-offiziellen Publikationen berichtet wurde, sich auch tatsächlich ereignete, auch wenn die Darstellung des Tathergangs und der Täterschaft ungenau sein können und es vielfach auch sind. Diese grundsätzliche Richtigkeit liegt nicht zuletzt daran, dass die organisationseigenen Totenlisten des Reichsbanners, des Stahlhelms und der NSDAP mit einem Anspruch auf finanzielle Unterstützung für die Angehörigen der darin enthaltenen Personen verbunden waren. Hier werden zunächst die Jahre 1924 bis einschließlich 1928 besprochen, wobei nochmals zu betonen ist, dass die generelle Richtigkeit der Angaben dieser Quellen durch die Einsicht von Akten der Justiz- und Polizeibehörden bestätigt werden konnte, aber nicht die Richtigkeit jedes Einzelfalles. Tabelle 4: Politische Tötungsfälle 1924–19284 Opfer/Täter Reichsbanner NS KPD Stahlhelm Arbeiter Täter-Insgesamt

Reichsbanner / 11 0 1 0 12

NS

KPD

Stahlhelm

Arbeiter

7 / 4 0 2 13

3 10 / 14 2 29

6 0 4 / 4 14

0 0 0 10 / 10

OpferInsgesamt 16 21 8 25 8 78

Diese Zusammenstellung dient daher nicht dazu, die juristische Verantwortung für jeden Tötungsfall festzulegen, sondern bietet einen Überblick über die generelle Häufigkeit von tödlichen Auseinandersetzungen zwischen den relevanten politischen Gruppen und so ist dementsprechend die Bezeichnung „Täter“ bzw. „Opfer“ zu verstehen.5 Darüber, ob eine Tat nun aus Notwehr begangen wurde oder 4 5

Siehe Statistikanhang Nr. 1. Fälle, bei denen die Täterschaft je nach der politischen Ausrichtung der Quellen anders angegeben wird, werden hier nur in einer Kategorie gezählt. So etwa im Falle des Nationalsozialisten Kottmann, der anscheinend bei einer Saalschlacht mit Kommunisten irrtümlich von seinem Parteigenossen Hans Melk erschlagen worden war. Melk erhielt laut Gumbel hierfür eine Haftstrafe von 3 Monaten wegen fahrlässigem Totschlag (vgl. Gumbel 1931, S. 61). NSQuellen geben hingegen an, dass Kottmann von Kommunisten erstochen worden sei und erwähnen die Verurteilung Melks nicht (siehe Rentsch-Roeder 1932, S. 30, Ehrt/Roden 1934, S. 75 u. Weberstedt/Langer 1938, S. 72f.). Kottmann wird hier in der Kategorie „KPD-

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aus anderen Motiven bzw. ob das Gewaltopfer auch eine Schuld traf oder nur den Täter, bietet die Tabelle keine Auskunft. Die größte methodisch bedingte Abweichung dieser Angaben von den tatsächlichen Ereignissen dürfte die kommunistischen Toten betreffen, sodass die hohe Differenz zwischen den Zahlen der Kommunisten nicht nur als Ausdruck der besonderen, „revolutionären“ Aggressivität der KPD gelesen werden muss, sondern lediglich, dass nicht alle KPD-Toten bekannt sind.6 Grundsätzlich ist vielmehr von einer ungefähren Parität zwischen den Kategorien auszugehen, das heißt auf einen getöteten Linksaktivisten bzw. unpolitischen Arbeiter kommt (als Regel) ein getöteter Rechtsradikaler.7 Diese Annahme einer Parität entspricht den Erkenntnissen aus der Betrachtung der Mikroebene der Gewalttaten. So hätte im Fall Renz angesichts des massiven Einsatzes von Schusswaffen durch die Nationalsozialisten auch ein Teilnehmer der Versammlung des Arbeiterchores zu Tode kommen können und nicht (eher zufällig) der Nationalsozialist Renz. Umgekehrt wäre es im Fall Schulz denkbar, dass der spätere Täter Rehnig durch die Gruppe von Reichsbannermitgliedern schwer verletzt oder gar getötet worden wäre, bevor er den tödlichen Schuss hätte abgeben können. Als Gesamteindruck der Tabelle ist erneut festzustellen, dass die Zahl von etwa 78 Todesopfern in fünf Jahren – verglichen mit der Häufigkeit von politischen Tötungsfällen in der Bundesrepublik – zwar verhältnismäßig hoch erscheint, aber diese Zahl deutlich geringer ist als im ersten Jahrfünft der Republik (1919–1923) oder im letzten Jahrviert (1929–1932). In den Bürgerkriegsjahren zu Beginn der Republik starben schätzungsweise drei- bis viertausend Menschen bei politisch motivierten Auseinandersetzungen, also vor allem den bewaffneten Kämpfen in Berlin, dem Ruhrgebiet, München und andernorts. Noch 1923 starben laut zeitgenössischen Quellen allein 34 Polizisten bei politischen Aufstandsversuchen in Hamburg oder massiven Unruhen.8 Diese extreme Art der (quasi-) militärischen Gewalt verschwand ab 1924 praktisch völlig und wurde durch ande-

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Täter/NS-Opfer“ gezählt, so wie es den NS-Quellen entspricht, da staatliche Quellen zum Fall nicht gefunden wurden. Gumbel weist deutlich darauf hin, dass seine Auflistung nicht vollständig ist (siehe Gumbel 1931, S. 53). Dieser Zusammenhang wird in der Betrachtung des gesamten Zeitraumes von 1924 bis 1933 deutlicher, als es in diesem Ausschnitt der Fall ist. Bereits Graf betonte die Probleme einer statistischen Aufarbeitung politischer Gewalttaten und traf die Aussage, dass sich kommunistische und nationalsozialistische Gewalttaten zu Beginn der 1930er Jahre etwa die Waage hielten (siehe Graf 1983, S. 43–48), was mit unserer Annahme übereinstimmt. Siehe Ehrt/Roden 1934, S. 62–68. Die politische Vereinnahmung der getöteten Polizisten durch diese Quelle ist unbegründet. Diese Männer starben im Dienst für die Republik und nicht für den Nationalsozialismus, aber dies ist ein generelles, grundsätzliches Problem von Ehrt/Roden, die selbst getötete Mitglieder des Reichsbanners, wie den Polizisten Emil Kuhfeld, als „Blutopfer des Marxismus“ bezeichnen (siehe ebd., S. 90). Andererseits bietet kaum eine andere Quelle zur Weimarer Zeit eine ähnlich vollständige namentliche Zusammenstellung von im Dienst getöteten Polizisten.

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re Formen der politisch motivierten Gewalt ersetzt, die 1929 in eine erneute Eskalation mündeten.9 Was die Verteilung der Gewalt auf die relevanten politischen Gruppierungen betrifft, lässt sich feststellen, dass offenbar von Seiten des Reichsbanners die tödliche Gewalt des Stahlhelms nicht eins zu eins erwidert wurde (1 „RB-Täter/SHOpfer“ zu 6 „RB-Opfer/SH-Täter“), während der Bund in Richtung der Nationalsozialisten wesentlich härter auftrat (11 „RB-Täter/NS-Opfer“ zu 7 „NS-Täter/ RB-Opfer“). Weniger überraschend ist, dass sich die Gewalt fast ausschließlich zwischen links und rechts abspielte und lediglich die Kommunisten auch gegen das Reichsbanner tödliche Gewalt übten. Sofern es zu Gewalttätigkeiten zwischen Stahlhelm und Nationalsozialisten gekommen ist, war diese unseren Erkenntnissen nach nicht tödlich. Angesichts der aggressiven Gewaltbereitschaft der Kommunisten und der ebenfalls aggressiv gewaltbereiten Haltung der Rechtsradikalen, kann es ferner nicht überraschen, dass bei den Auseinandersetzungen zwischen diesen Gruppen in absoluten Zahlen mehr Menschen starben als bei den Auseinandersetzungen des Reichsbanners, obwohl in diesen Gruppen wesentlich weniger Personen organisiert waren.10 So betraf nur rund ein Drittel der tödlichen Gewalt das Reichsbanner (28 von 78 oder 36% der Fälle), obwohl der Bund weit mehr als die Hälfte aller Wehrverbandsmitglieder organisierte. Die weit weniger zahlreichen Kommunisten waren an 47%, die ebenfalls zahlenmäßig schwachen Nationalsozialisten an 44% und die Stahlhelmer an 50% der Fälle beteiligt.11 Man kann diesen Anteil des Reichsbanners aber auch als Beleg dafür nehmen, dass der Bund eben nicht irrelevant für das Bild der politischen Gewalt in der Weimarer Republik war. Die Reichsbannermitglieder übten nachweislich nicht nur verbale oder nicht-tödliche Gewalt gegen ihre politischen Gegner aus, was mit der im Allgemeinen defensiven Haltung des Bundes aber nicht unvereinbar ist (Stichwort Notwehr). Aufgrund der staatstragend defensiven Haltung des Bundes waren gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen dem Reichsbanner und der Polizei höchst selten und Tote hat es hierbei soweit bekannt nicht gegeben. Die KPD hingegen sah in der Polizei als wichtigster Repräsentation des Staates einen ihrer Hauptfeinde, wobei zwischen 1924 und 1928 mindestens 9 Beamte im Dienst von Kommunisten getötet wurden. Die Zahl der bei Polizeieinsätzen gegen Kommunisten zu Tode gekommenen Personen ist leider nicht bekannt, sodass die Gewalt zwischen den Wehrverbänden bzw. Parteien ohne diesen Kontext betrachtet werden muss. Als sicher kann jedoch gelten, dass diese Zahl die der getöteten Polizisten um ein Vielfaches überstieg.12 9 Siehe Schumann 2001. 10 So auch Siemens 2017, S. 50. 11 Dies ergibt sich jeweils aus dem addierten Anteil der Fälle der Kategorien „X-Opfer“ und „XTäter“, also z.B. KPD-Anteil = ((29+8) / 78) * 100 = 47,4. Da eine Dunkelziffer für getötete KPD-Mitglieder anzunehmen ist, ist der RB-Anteil wahrscheinlich geringer. 12 Siehe ausführlicher unten. Der Problemkreis der staatlichen Gewalt in der Weimarer Republik ist sicherlich als ein lohnendes Desiderat zu sehen, wie oben bereits vermerkt wurde. Hier nur einzelne Feststellungen. Ehrt/Roden nennen für die Jahre 1919 bis 1922 etwa 450 Tote, wobei es sich vor allem um getötete Reichswehrsoldaten und Polizisten handelt (siehe

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Hieraus wird aber ersichtlich, dass in statistischer Hinsicht das Reichsbanner und der Stahlhelm nicht unbedingt als Hauptkontrahenten dieser Periode anzusehen sind. Sicherlich ist von den Relationen im Falle der tödlichen Gewalt nicht ohne weiteres auf diejenigen der nicht-tödliche Gewalt zu schließen.13 Es sollte uns aber einen Grundeindruck von der Situation geben, wenn die Kommunisten (als Täter) ebenso häufig in tödliche Zusammenstöße mit der Polizei verwickelt waren wie mit den Nationalsozialisten oder Stahlhelmern, während in dieser Hinsicht das Reichsbanner praktisch ausschließlich mit den Nationalsozialisten aneinander geriet und die Rechtsverbände offenbar keinen größeren Unterschied zwischen Reichsbanner und Kommunisten machten. Die Thesen von Emil J. Gumbel Der Ablauf tödlicher Gewalthandlungen war in der großen Mehrheit der Tötungsfälle zwischen 1924 und 1932 nicht grundsätzlich verschieden, da gezielte, politische Tötungen erst 1933 zu einem Massenphänomen in Deutschland wurden.14 In diesem Licht wird das Jahr 1924 zum eigentlichen Schnittpunkt in der Entwicklung der politischen Gewalt der Weimarer Republik und nicht die Jahre 1929 oder 1930, welche mitunter sogar als Beginn eines „Bürgerkrieges“ bezeichnet wurden.15 In den eigentlichen Bürgerkriegsjahren Weimars zwischen 1918 und 1923 Ehrt/Roden 1934, S. 12–62). Das hierdurch sichtbar werdende Missverhältnis in der Anzahl der getöteten Soldaten und Polizisten zu der oben genannten Zahl der getöteten Zivilisten ist typisch für militärische Gewalteskalationen. Collins beschreibt diesen Sachverhalt mit dem Begriff der Vorwärtspanik. Demnach baut sich in den beteiligten Soldaten als Vorbedingung des Kampfes eine Konfrontationsanspannung auf, die, wenn sie auf einen unorganisierten, schwachen oder bereits geschlagenen Gegner trifft, sich in Form einer Vorwärtspanik entlädt und zu einem overkill führt. Laut Collins gehen Kriegsgräuel meist auf diesen emotionalen Mechanismus zurück, der einmal begonnen kaum mehr aufzuhalten ist (siehe Collins 2011, Kap. 3). Die u.a. bei Jones zu findende Aussage, dass die regierungsverantwortlichen Sozialdemokraten 1919 die Massaker an den offensichtlich unterlegenen Linksradikalen recht leicht hätten verhindern können, wenn sie eine Verhandlungslösung gesucht hätten (siehe Jones 2017, S. 208ff.), geht an den Erkenntnissen der Mikrosoziologie vorbei. Wie Jones selbst darstellt, wurde der Linksradikalismus von staatlicher Seite spätestens seit den Weihnachtskämpfen 1918 als tödliche Bedrohung wahrgenommen, die bei den beteiligten Regierungsmitgliedern Todesangst hervorrief (siehe ebd., S. 131f.). Da aber nun im Januaraufstand die deutliche Schwäche des vormals übermächtig erscheinenden Gegners offensichtlich wurde, führte dies zu einer Entladung der Angst in Form einer Vorwärtspanik. Aber „[a]nstatt im Rahmen einer Vorwärtspanik verübte Gräueltaten selbstgerecht zu verurteilen, sollten wir besser die Dynamik erkennen, die da am Werke ist, und uns damit befassen, wie ihr zu begegnen ist.“ (Collins 2011, S. 702). Eine Aufarbeitung der staatlichen Gewalt gegen Zivilisten ist somit anhand des auch von Jones berücksichtigten Ansatzes der Mikrosoziologie möglich, jedoch wesentlich komplexer als der von ihm verwendete Skandalisierungsduktus vermuten lässt. 13 Hierzu bereits die Ausführungen oben, wo aber keine statistischen Vergleiche gemacht werden konnten. 14 Hierzu unten ausführlicher. 15 So u.a. bei Blasius 2005. Eine nähere Diskussion zur „Bürgerkriegs“-Debatte unten.

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war eine gänzlich andere Form der politischen Gewalt verbreitet, die bislang noch am treffendsten von Emil Julius Gumbel beschrieben wurde. Gumbel – ein politisch linksstehender Statistikprofessor, der als Redner auch für das Reichsbanner aktiv war – hatte in einer privaten Anstrengung versucht, sämtliche politischen Tötungsfälle zu dokumentieren und eine angemessene juristische Bearbeitung dieser Fälle zu erwirken. Die von ihm beschriebenen Fälle lassen sich grob in drei Kategorien von Gewalthandlungen einteilen, deren Täter politisch, wie Gumbel nachwies, fast ausschließlich rechts standen.16 1. dokumentiert Gumbel mehrere hundert Fälle von Erschießungen von Geiseln, Gefangenen, Verdächtigen oder Unbeteiligten, die fast immer von Regierungstruppen während oder unmittelbar nach Kampfhandlungen begangen wurden. Lediglich ein Fall einer Geiselerschießung durch Truppen der Münchener Räterepublik wird bei Gumbel genannt. Das Schema dieser Handlungen ist dabei unabhängig vom Ort der Bürgerkriegsschauplätze, also Berlin, Mecklenburg, das Ruhrgebiet oder München, immer gleich. Stets führten Soldaten oder Offiziere die Erschießung von Personen durch (oder ordneten diese an), denen sie eine „bolschewistische“ Gesinnung oder Handlung unterstellten, ohne dass hierfür ein ordentlicher Befehl oder ein standrechtliches Urteil vorlag. Die Täter wurden für diese offensichtlich kriminellen Handlungen ebenfalls in fast allen Fällen entweder nicht angeklagt oder freigesprochen, da ihnen gerichtlich unterstellt wurde, dass sie über die Strafbarkeit ihrer Handlung nicht informiert gewesen seien oder nicht ausreichend Beweise gegen sie vorgelegen hätten, wobei angemessene Untersuchungen praktisch nie erfolgten. Der einzige Fall einer Verurteilung in dieser ersten Kategorie, welche gleichzeitig der einzige Fall einer Verurteilung in irgendeiner Kategorie Gumbels darstellt, ereignete sich in München, wo Regierungstruppen die Mitglieder einer katholischen Gesangsgruppe erschossen, was in Zentrumskreisen höchste Empörung hervorrief und daher eine Verfolgung der Täter politisch opportun war. 2. führt Gumbel mehrere Dutzend Attentate bzw. Fememorde auf, bei denen in vorher organisierter Weise bestimmte Personen des politischen Lebens oder vermeintliche „Verräter“ getötet wurden, sodass die Opfer nicht wie in der ersten Kategorie oft eher zufällig, sondern gezielt ausgewählt wurden. Die prominentesten Fälle Gumbels sind allgemein bekannt, also etwa die Ermordung Matthias Erzbergers oder Walther Rathenau. Was Gumbel allerdings erstmals nachweisen konnte war, dass hinter diesen Attentaten eine einzelne Organisation, die Organisation Consul bzw. C stand, die über Verbindungen zu Sicherheitskreisen verfügte und mit ihren Handlungen Aufstände oder Unruhen der Linken provozieren wollte. Auch zahlreiche Fememorde gingen auf das Konto dieser und ähnlicher rechtsradikaler Geheimorganisationen. Die 16 Siehe Gumbel 1922 u. Gumbel, Denkschrift 1924. Zu Gumbels Aufarbeitung der Fememorde: Southern 1982, Nagel 1991 u. Sauer 2004. Zur Einordnung das biographische Essay Vogt 1991.

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Delikte dieser zweiten Kategorie lassen sich also in einen konkreten, bewussten und politischen Plan eingliedern. 3. skizziert Gumbel eine Anzahl von Tötungen, die sich während der eigentlichen Bürgerkriegskampfhandlungen ereigneten. Hierunter fallen auch standrechtliche Erschießungen, bei denen tatsächlich ein formalrechtlich korrektes Urteil eines Standgerichtes vorlag. Da es sich bei den Tötungen dieser Kategorie aber definitionsgemäß um keine strafbaren, illegalen Handlungen handelte, befasst sich Gumbel mit diesen Fällen nicht im Detail. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der von Gumbel dokumentierten Fälle und dieser Periode als Ganzes ist zwar definitiv nicht abgeschlossen, aber auch so ist klar, dass sich ähnliche Fälle nach 1924 praktisch nicht ereigneten oder wenn überhaupt erst 1932/33 wieder zu beobachten waren. Die von Gumbel dokumentierten Fälle der Kategorien 1 und 3 konnten sich inhaltlich nur in echten Bürgerkriegssituationen ereignen. Die politischen Attentate der Kategorie 2 wiederholten sich nach der Zerschlagung der Organisation C ebenfalls nicht so bald (zumindest nicht als Massenphänomen). Auf der Mikroebene der Tötungshandlungen wird ersichtlich, dass die extreme sicherheitspolitische Instabilität der Weimarer Anfangsjahre den Rahmen für die Tötungen bildete. Nach der Stabilisierung der Republik 1924 ereigneten sich zwar immer noch politisch motivierte Tötungsfälle, diese waren allerdings deutlich verschieden von jenen der Jahre zuvor. Einzelne Fälle aus dem Jahr 1923 legen jedoch die Annahme nahe, dass dieser Wechsel nicht abrupt, sondern vielmehr fließend verlief.17 Das Jahr 1924 erlebte aber keine Fälle der benannten Kategorien mehr, sodass die von Gumbel ausgegangene These einer Kontinuität der politischen Gewalt über die gesamte Dauer der Weimarer Republik zurückgewiesen werden muss.18 Die Tötungsfälle ab 1924 waren nicht zuletzt aufgrund ihrer propagandistischen Potentiale für politisch interessierte Akteure von Bedeutung. Nicht nur das Reichsbanner veröffentlichte Berichte und statistische Angaben über getötete Mitglieder des Bundes, sondern auch die Nationalsozialisten taten dies. Emil Gumbel schließlich setzte seine begonnene Arbeit über rechtsradikale Gewaltdelikte fort und publizierte 1931 eine Aufstellung von „faschistischen Morden“ in der er die Toten des Reichsbanners und der KPD berücksichtigte. Gumbels Publikation ist im Vergleich mit ihren nationalsozialistischen Gegenstücken zwar näher an den gerichtlich festgestellten Tathergängen, aber systematische Unvollständigkeit zeichnet auch seine Arbeit aus. So berücksichtigt Gumbel, wie der Titel schon ankündigt, ausschließlich Fälle mit einem rechtsradikalen Täter, während er von Kommunisten begangene Tötungsfälle in seinem Vorwort als „tumultuöse Ab17 Ehrt/Roden 1934 nennen für 1923 drei von KPD getötete Stahlhelmer und zwei von „Marxisten“ getötete SA-Männer. Eine offizielle Totenliste des Stahlhelms nennt weitere Fälle vor 1923 (siehe NSDFB 1935), aber hierbei handelt es sich wahrscheinlich um Opfer von Kampfhandlungen, an denen Stahlhelmer auf Seiten der Regierungstruppen beteiligt waren. 18 Diese These u.a. bei Volkow 2014 u. Jones 2017, S. 339ff. Jones behauptet, dass die staatlich ausgeübte Gewalt der Weimarer Anfangsjahre „funktionell“ identisch sei mit der Gewalt des NS-Regimes 1933/34 (vgl. ebd., S. 254). Dagegen bereits Rosenhaft 1995, S. 238f.

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wehrreaktionen“ abtut, denen die Systematik des nationalsozialistischen Terrors fehle. Von Reichsbannermitgliedern begangene Tötungsfälle erwähnt Gumbel nicht. Gumbels Deutung der politischen Gewalt in der Mitte der 1920er Jahre ist wie gesagt auch insofern problematisch, als dass er diese als bloße Fortsetzung der Gewalt der Bürgerkriegszeit darstellt. Ferner fasst Gumbel verschiedene Sachverhalte, wie Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge etc., gleichermaßen als „Mord“ zusammen, was nicht zur Klärung der Handlungsebene beiträgt.19 Von der bloßen Tatsache abgesehen, dass zwischen der NSDAP und älteren rechtsradikalen Organisationen hohe personelle und ideologische Schnittmengen bestanden, sollten die hiesigen Ausführungen Gumbels Kontinuitätsthese in Bezug auf die Mikroebene der politischen Gewalt widerlegen. Keineswegs war die politische Gewalt ab 1924 eine schlichte Fortsetzung der vorherigen Bürgerkriegsgewalt. Dass auch einzelne Gewalttäter bereits vor 1924 einer rechtsradikalen Organisation angehört haben, mag zutreffen. In den hier nun dargestellten Fällen waren die angeklagten Täter oder Gewaltopfer jedoch fast alle zu jung, um aktiv an den Bürgerkriegskämpfen teilgenommen zu haben.20 Fallbeispiele 1924–1928 Politische Gewalt verschwand 1924 nicht aus der politischen Landschaft Weimars, sondern wurde in Form der Wehrverbände neu organisiert. Die Wehrverbände ermöglichten ihren Mitgliedern ein öffentliches Auftreten in Aufmärschen, Fahnenweihen und dergleichen militärähnlichen Verhaltensformen. Die politische Ausrichtung dieser Wehrverbände war natürlich sehr verschieden und auch das Verhalten der Männer in Konfliktsituationen unterschied sich voneinander, was nun an einigen Fallbeispielen erläutert wird, die aus Unterlagen der Sicherheitsbehörden entnommen wurden. Allein aus Zeitungsartikeln – egal welcher politischen Ausrichtung – ist der Handlungsablauf eines Tötungsfalls nicht zuverlässig zu rekonstruieren, selbst wenn der betreffende Artikel sprachlich neutral verfasst sein sollte. Ausnahmen von dieser Regel bestehen nur, wenn in Artikeln juristische oder polizeiliche Quellen direkt zitiert werden, was insbesondere in der Regionalpresse nicht unüblich war. Aber schon die Paraphrasierung solcher amtlichen Berichte macht ihren objektiven Erkenntniswert zunichte, da die Bewertung eines Falles meist an feinen Handlungsdetails hängt.21 19 Vgl. Gumbel 1931, S. 49–53 (Zitat auf S. 52). 20 Rehnig, Renz, Doelle und Gerhold waren 1919/20 ~12 Jahre alt. Allein Hirschmann (*1888) wäre im richtigen Alter gewesen (siehe die jeweiligen biographischen Informationen bei Busch 2010). Das Alter von Bruno Tietz ist unbekannt. Schmelzer und Magiera waren alt genug, aber kriegsgeschädigt und nicht Teil einer Bürgerkriegsformation. Für das Alter der RBMitglieder gilt soweit bekannt Ähnliches. Aber eine entsprechend detaillierte Darstellung dieser Personen liegt, anders als im Falle der Nationalsozialisten, nicht vor. 21 Die Fallbeispiele für die Gewalt zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten sind zu zahlreich, als dass sie hier angemessen behandelt werden könnten, zumal unser Fokus auf dem Reichsbanner liegen muss.

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So stand beispielsweise nach dem Tod des 17–jährgen SA-Mitglieds Fritz Kröber am 26. April 1925 in Durlach für die NS-Presse der Verantwortliche schnell fest. Der badische Polizeiwachtmeister Otto Reize, Mitglied der SPD und des Reichsbanners, habe einen LKW der SA zusammen mit einem großen Trupp Reichsbannermitgliedern aus einem Hinterhalt und ohne vorherige Provokation überfallen. Als die Reichsbannermitglieder mit Steinen und Holzlatten auf den Wagen und dessen Insassen eingeschlagen hätten, sei Reize herangetreten und habe aus nächster Nähe mit seinem Dienstrevolver in das Innere des Wagens zweimal gefeuert, wobei Kröber tödlich getroffen worden sei. In einem darauffolgenden Prozess gegen insgesamt 31 Mitglieder des Reichsbanners wurde Reize zu 12 Monaten Gefängnis verurteilt. Die übrigen Angeklagten wurden amnestiert.22 Nun besteht das Problem, dass diese nationalsozialistische Schilderung des Tatherganges durch neutrale Quellen nicht überprüfbar ist. In reichsbannernahen Zeitungen wurde der Tathergang so dargestellt, dass die Nationalsozialisten zuerst geschossen und daher die Reichsbannermitglieder in Notwehr gehandelt hätten.23 Somit steht Aussage gegen Aussage, wobei dieser Widerspruch nicht allein dadurch aufgelöst wird, dass Reize schuldig gesprochen wurde. Es ist ohne weiteres denkbar, dass die Nationalsozialisten zuerst gewalttätig geworden waren, aber Reize dennoch kein Notwehrrecht zustand, etwa wenn die Nationalsozialisten nach einem ersten Schlagabtausch dabei waren sich zurückzuziehen. Solange der juristisch festgestellte Tathergang nicht bekannt ist, lässt sich eine zuverlässige Bewertung der Geschehnisse nicht vornehmen und zu vieles bleibt Spekulation. Diese Unklarheit in Bezug auf den Tötungsfall Kröber besteht in der großen Mehrzahl der für die Statistik einbezogenen Fälle, obwohl durch die Berichte über diesen Prozess immerhin feststeht, dass tatsächlich Mitglieder der Nationalsozialisten und des Reichsbanners an dem Vorfall beteiligt und dies nicht nur Gerüchte waren. Eine Bewertung der Mikroebene ist nur über eine ausreichende Zahl an Gerichtsakten möglich, die glücklicherweise nicht in allen Fällen verloren gegangen sind. Bei folgenden Tötungsfällen ließ sich das Geschehen jedoch anhand von Gerichtsakten rekonstruieren, die wir nun eingehender besprechen werden.

22 Vgl. Busch 2010, S. 89f. Busch legt seine Quellen nicht in Anmerkungen offen, aber bei diesen handelt es sich um die einschlägigen NS-Presseerzeugnisse. So ist die Schilderung des Tathergangs in der NS-offiziellen Gedenkhalle mit Busch identisch (siehe Weberstedt/Langer 1938, S. 60f.). Über den Prozess berichtete u.a.: „Die Schüsse von Durlach“, in: VZ Nr. 58/1926 vom 4.2. Der RKO versuchte beim badischen Justizministerium nähere Informationen über den Fall zu ermitteln, aber wurde abgewiesen (siehe BArch R1507/3066, Bl. 142ff.). Zu Busch und dessen Rolle im heutigen Neonazismus: Jentsch/Metzger 2013. 23 Vgl. Böhles 2016, S. 88. Andere Zeitungsberichte gaben an, dass ein „Karl Gräber“ (gemeint ist Kröber) von Steinwürfen getötet worden sei. Der folgende Prozess gegen die Reichsbannermänner wurde in der republikanischen Presse als „Justizskandal“ bezeichnet, da Reize ohne belastbare Beweise verurteilt worden sei (herzlichen Dank an Dr. Marcel Böhles für weitere Auskünfte in dieser Sache).

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Tabelle 5: Fallbeispiele für politische Tötungsfälle 1924–1928 Name Erich Schulz Erich Volkmann Werner Doelle Karl Renz Felix Doktor Peter Erdmann24

Mitglied RB RB NS NS RB RB

Datum/Ort

Verantwortung

Urteil

25.4.1925 in Berlin 9.5.1925 in Oberberg

NS/Wiking, Alfred Rehnig SH, Bruno Tietz und Gustav Adolf Tietze RB, Rudolf Schnapp Unbekannt, RB oder NS SH, Paul Magiera SH, Josef Vobis und Genossen

Freispruch, Notwehr Freispruch, Notwehr

9.8.1925 in Berlin 21.2.1926 in Altlandsberg 29.6.1926 in Breslau 28.7.1926 in Düsseldorf

Georg Hirschmann Karl Tietze

NS

Richard Wollank

RB

20.7.1927 in Berlin

Hermann Heidorn

RB

17.5.1928 in Hamburg

RB

25.5.1927 in München 25.6.1927 in Arensdorf

Karl Schott, RB beteiligt SH/Wehrwolf, August Schmelzer SH/Wehrwolf, August Schmelzer NS, Robert Gerhold

Freispruch, Notwehr Ermittlungen ohne Ergebnis Freispruch, Notwehr 2,5 Jahre (insgesamt) wegen Körperverletzung 4 Jahre wegen Totschlags 5 Jahre wegen Totschlags, 1,5 Jahre abgesessen Ebenso 1 Jahr wegen Waffenbesitzes

Am 25. April 1925 führte das Berliner Reichsbanner in der Reichshauptstadt einen Propagandaumzug für Wilhelm Marx durch, der aus drei Schwarz-Rot-Gold geschmückten Wagen und einer Begleitung von 15 uniformierten Mitgliedern zu Fuß bestand. Hierbei entwickelte sich zwischen Mitgliedern des Zuges und einer Gruppe von fünf Passanten, darunter Alfred Rehnig (24 Jahre) und dessen Bekannter Pfundt (18 Jahre), die beide durch Abzeichen als Mitglieder des Wikingbundes zu erkennen waren, ein verbaler Streit, der sich an den mitgeführten Flag24 Laut Gumbel wurden wegen des Vorfalles drei Stahlhelmer und vier Arbeiter verurteilt. Beteiligt waren die Stahlhelmer Josef, Wilhelm und Christian Vobis (siehe Gumbel 1931). Zudem: GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52267ff. Die Umstände wurden nicht einwandfrei ermittelt. Es ist ferner ein Aktengang bezüglich eines Prozesses gegen den KPD-Redakteur Lambert Hom vorhanden, der wegen seiner Berichterstattung über den Freispruch von Vorbis angeklagt wurde (siehe GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52477). Der Fall Erdmann kann aufgrund des Fehlens von halbwegs genauen Angaben zum Tathergang nur tabellarisch berücksichtigt werden.

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gen entzündete. Mitglieder des Reichsbanners rissen daraufhin eine schwarzweiß-rote Papierfahne herunter, die Rehnig mit sich geführt hatte. Die Reichsbannermitglieder waren danach dabei sich zu entfernen, als ihnen Rehnig zurief: „Da habt ihr eine schöne Heldentat vollbracht“, woraufhin sich ein weiterer Wortwechsel entwickelte, der schließlich eskalierte. Laut den teils widersprüchlichen Aussagen mehrerer Zeugen drangen nun mehrere Reichsbannermitglieder mit Stöcken bewaffnet auf Rehnig ein. Dieser wandte sich zunächst zur Flucht, aber nachdem ihm der Weg durch die Männer versperrt worden war, zog Rehnig einen Revolver und gab Warnschüsse in die Luft ab. Als die Verfolger nicht von ihm abließen, sondern mit Stöcken nach ihm schlugen, versuchte Rehnig erneut zu fliehen. Hierbei schoss Rehnig den Reichsbannermann Erich Schulz nieder, der wenig später seinen Verletzungen erlag. Rehnig begab sich daraufhin in Polizeigewahrsam. Da er einen Waffenschein besaß und ihm ein Notwehrrecht zugesprochen wurde, erhielt er eine finanzielle Haftentschädigung für die 76 Tage UHaft nach seinem Freispruch.25 Der Tötungsfall zeigt zunächst, wie die Intensivierung der politischen Auseinandersetzungen zu Wahlkampfzeiten auch zu einer relativen Häufung an Gewaltdelikten führt. Dieser und praktisch alle weiteren noch zu besprechenden Fälle zeigen auch klar, warum dies so ist. Die Gewalt ereignet sich spontan und ist nicht vorher geplant worden, wie bei politischen Attentaten. Rehnig ist anders als die Rathenaumörder keineswegs morgens in der Absicht aufgestanden, an diesem Tag Erich Schulz zu töten. Er verfügte jedoch eindeutig über eine generelle Gewalt- und Tötungsbereitschaft, wie die Waffen zeigen, die er bei der Wahlwerbung für Hindenburg mit sich führte. Die Reichsbannermitglieder waren umgekehrt ebenfalls potentiell gewaltbereit, wie das Mitführen von Stöcken zeigte. Als nun diese beiden Gewaltpotentiale anlässlich der Wahlwerbung aufeinandertrafen, kam es nach anfangs eigentlich trivialen Bemerkungen zu dem tödlichen Zwischenfall. Dass nun Rehnig zum Täter und Schulz zum Opfer wurde, war dabei fast schon eine Frage des Zufalls.26 Zufälle, bzw. die besonderen Dynamiken eines gewaltsamen Zusammenstoßes auf der Straße regierten auch im pommerschen Oberberg im Mai 1925. Oberberg war eine Arbeiterstadt und als solche stark vom Reichsbanner geprägt. Als nun am 9. Mai aus den Nachbarorten Eberswalde und Freienwalde größere Grup25 Der Tathergang nach: GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52618 u. 52619. Dort auch eine Sammlung von Zeitungsartikeln zum Fall. Rehnig hatte neben seinem Revolver auch einen Gummiknüppel bei sich geführt. Gumbel nennt keine genaue Schilderung des Tatherganges (siehe Gumbel 1931, S. 54f.). 26 Erich Schulz steht als erster in Berlin getöteter Reichsbannermann seit kurzem im Zentrum eines neu aufgelebten öffentlichen Erinnerns an den Einsatz des Reichsbanners für die Weimarer Republik. Es muss im Unterschied zu solchen Initiativen betont werden, dass es hier nicht um die moralische oder juristische Bewertung, sondern nur um die soziologische Untersuchung des Falles gehen kann. Gleichwohl ist es wichtig zu wissen, dass der in diesem Fall zuständige Richter, der ein vergleichsweise mildes Urteil sprach, derselbe Richter war, der auch im Mordfall von Luxemburg und Liebknecht auf Freispruch für den mutmaßlichen Mörder geurteilt hatte und deswegen in den Verdacht geriet, mit der Tat zu symphatisieren.

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pen der VVV und des Stahlhelms eine Demonstration durch Oberberg veranstalteten, führte dies bereits im Vorfeld zu Spannungen. Es hatte sich eine gewisse Lokalfeindschaft zwischen dem schwarz-rot-goldenem Oberberg und den schwarzweiß-roten Nachbarorten herausgebildet, sodass es nicht überraschend war, dass die Demonstration von zahlreichen Anpöbeleien und Rempeleien begleitet wurde. Die Situation eskalierte vor einer Gastwirtschaft, die der Stahlhelm als Quartier genutzt hatte, als der Stahlhelmer Bruno Tietz einen jungen Mann, der selbst nicht dem Reichsbanner angehörte, vor der Wirtschaft anrempelte, seine Pistole zog und dem Mann damit ins Gesicht schlug. Daraufhin kamen Reichsbannermänner herbeigelaufen, die sich in einer anderen nahen Wirtschaft aufgehalten hatten. Tietz gab mehrere Schüsse auf die Männer ab. Der ebenfalls anwesende Stahlhelmer Gustav Adolf Tietze zog ebenfalls eine Pistole und schoss mehrfach. Hierdurch wurden das Reichsbannermitglied Erich Volkmann und der Arbeiter Georg Stolzmann getötet. Drei weitere Männer wurden schwer verletzt. In Folge des Vorfalles wurden die Schützen sowie acht Reichsbannermitglieder, darunter die Führung der Ortsgruppe, angeklagt. Die Stahlhelmer wurden freigesprochen. Von amtlicher Seite wurde im Nachhinein bemängelt, dass der Oberberger Bürgermeister nicht rechtzeitig Polizeiverstärkung angefordert habe, um den Zusammenstoß zu vermeiden.27 Das Verhalten der Polizei ist ein weiterer wesentlicher Aspekt. Die Polizei war reine Ländersache und unterlag wie auch die Reichswehr strengen Rüstungsauflagen, die sich vor allem im denkbar geringen Personalbestand äußerten. Aufgrund der von den Alliierten festgelegten Personalbeschränkung waren lediglich 150.000 Polizisten reichsweit angestellt, wobei hiervon allein 85.000 auf die preußische Schupo entfielen. Die materielle Ausstattung der Polizisten entsprach aufgrund der stets angespannten Finanzlage ebenfalls nicht den damaligen Standards. So erscheint es logisch, dass Demonstrationen nur mit einzelnen Beamten begleitet werden konnten, selbst wenn vorher Gewalttaten befürchtet wurden. Erst im Falle von bereits eingetretenen Zusammenstößen wurden Überfallkommandos an den Ort des Geschehens beordert. Für eine effektive Gewaltprävention gab es offenbar nicht ausreichend Polizisten.28 Anlässe für politische Demonstrationen gab es jedoch nicht nur in Wahlkampfzeiten reichlich. So auch im Falle der jährlichen Feiern des Reichsbanners zu Ehren der Reichsverfassung. Im Kontext einer solchen Feier am 9. August 1925 wurden zwei Reichsbannermitglieder, die an ihren schwarz-rot-goldenen Einsteckbändern zu erkennen waren, von 20–30 Völkischen auf dem Berliner Kurfürstendamm angehalten und zum Ablegen der Bänder aufgefordert. Als die beiden Männer dies verweigerten, wurden sie geschlagen, was den zufällig in der 27 Vgl. Vermerk des RKO vom Juli 1925, in: BArch R1507/3066, Bl. 142ff. Gumbel nennt Georg Stolzmann nicht, aber gibt stattdessen an, dass der Gastwirt Thieleckes ebenfalls seinen Verletzungen erlag. Ferner erwähnt Gumbel den Freispruch der Stahlhelmer, der im RKO-Vermerk nicht angegeben wird (vgl. Gumbel 1931, S. 55). 28 Siehe Bessel 1992, S. 339f. Bessel hebt hervor, dass es zwar mehr Polizisten gegeben habe als zu Zeiten des Kaiserreiches, aber die Kriminalität wesentlich stärker gewachsen sei.

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Nähe befindlichen Reichsbannermann Rudolf Schnapp zu einem Hilfeversuch veranlasste. Schnapp zog noch einige Meter von der Gruppe entfernt seine Pistole und gab nach einem Warnruf zwei Schüsse in die Luft ab. Als nun die Völkischen von ihren Opfern abließen und auf Schnapp zu rannten, ergriff dieser die Flucht und sprang auf das Trittbrett eines vorbeifahrenden Wagens. Den Fahrer des Wagens versuchte Schnapp unter vorgehaltener Waffe zum Weiterfahren zu bewegen, was erst nach einer kurzen Zeit gelang. Währenddessen hatten mehrere Völkische den Wagen erreicht und versucht Schnapp mit Stöcken und Totschlägern zu Boden zu werfen. Schnapp gab auf dem ihm am nächsten Stehenden einen Schuss ab, der den 15–jährigen Werner Doelle tödlich traf. Doelle gehörte der Bismarckjugend, der Jugendorganisation der DNVP und dem Frontbann an, einer Nachfolgeorganisation der kurzzeitig verbotenen SA.29 Der Wagen fuhr mit Schnapp davon. Dieser stellte sich jedoch bei nächster Gelegenheit der Polizei, wobei er sich in einem Zustand schwerster Erschütterung befand. Da Schnapp einen Waffenschein besaß und in Notwehr handelte, blieb er straffrei und erhielt wie auch Alfred Rehnig eine finanzielle Haftentschädigung.30 Die Urteile zugunsten von Schnapp und Rehnig stützten sich jeweils auf den Notwehrparagraphen, dessen juristische Fallstricke hier nicht ausgebreitet werden können. Aber beide Male geschah die Tat am helllichten Tag auf einem belebten Platz, sodass man annehmen muss, dass der jeweilige Tathergang hinreichend genau ermittelt werden konnte. In anderen Fällen war die Anwendung des Notwehrrechtes sehr viel schwieriger. So im Tötungsfall Felix Doktor. In der Nacht vom 28. zum 29. Juni 1926 trafen in Breslau drei Reichsbannermitglieder, darunter Felix Doktor, auf zwei Stahlhelmer. Nach einem kurzen Wortwechsel näherten sich laut Urteilsbegründung die Reichsbannermänner den Stahlhelmern in bedrohlicher Weise. Paul Magiera (31 Jahre) zog daraufhin eine Pistole und schoss Doktor ins Herz. Beide Stahlhelmer flüchteten. Magiera wurde in der Verhandlung ein Notwehrrecht zugesprochen, da er aufgrund seiner Kriegsverletzung – Verlust eines Armes – schwere Folgen von einem Körperverletzungsversuch zu erwarten gehabt habe. Ein ballistisches Gutachten belegte, dass Doktor nur wenige Meter von Magiera entfernt war, als ihn das Geschoss traf. Reichsbannernahe Quellen behaupteten hingegen, dass Doktor mindestens 10–15 Meter entfernt gewesen sei und somit keine Notwehrsituation bestanden habe. Die Tat löste in Breslau eine große Empörung aus und die Beerdigungsfeier Doktors wurde von mehreren tausend Personen besucht. Die örtliche Reichsbannerführung versuchte, mittels Eingaben an die preußische Regierung eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen, was jedoch nicht gelang. Magiera hingegen war weiterhin in Gewaltde-

29 Alter und Vereinsmitgliedschaften laut Busch 2010, S. 93f. Busch schildert den Tathergang gänzlich anders als die überlieferten Gerichtsakten. So habe der Führer eines Reichsbannerzuges nach einem Zusammenstoß mit dem Frontbann „wahllos in die Menge gefeuert“, dabei Doelle getroffen und sei dann mit einem wartenden Auto geflüchtet (vgl. ebd.). In NSPublikationen wurde Schnapp als „Jude“ bezeichnet (siehe Weberstedt/Langer 1938, S. 61f.). 30 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 54954 u. 54955.

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likte verwickelt, die erneut keine negativen juristischen Konsequenzen für ihn hatten.31 War die Notwehrsituation im Fall Doktor nun gegeben, obwohl vor dem tödlichen Schuss kein einziger Schlag gefallen war? Die Zeugenaussagen hierüber waren widersprüchlich. In der Dunkelheit konnte kein Unbeteiligter die Situation einwandfrei erkennen, sodass sich das Gericht letztlich auf das Bedrohungsempfinden Magieras stützen musste. In einem weiteren Fall aus dem Frühjahr 1926 gab es ebenfalls keine zuverlässigen unbeteiligten Zeugen, sondern lediglich die Aussagen der Beteiligten. In der Stadt Altlandsberg in Brandenburg feierte am 21. Februar 1926 der örtliche Männerchor sein jährliches Vereinsfest in einer Gaststätte. Da der Vorsitzende des Vereins gleichzeitig der Vorsitzende des örtlichen Reichsbanners war, waren zahlreiche Mitglieder des Bundes anwesend. Parallel fand an diesem Tag eine Gründungsfeier des Altlandsberger Frontbanns mit etwa 60 Teilnehmern statt, die auch von Mitgliedern des Berliner Frontbanns besucht wurde. Nach Ende der Veranstaltung besuchten kleine Gruppen des Frontbanns die örtlichen Lokale und waren hierbei auf der Suche nach Reichsbannermitgliedern, wie ihre drohenden Fragen an die Gäste verdeutlichten. Als sie die Veranstaltung des Männerchores aufgefunden hatten, entstand schnell ein Wortwechsel, aus dem sich Handgreiflichkeiten entwickelten. Ein Frontbannmitglied riss einem Besucher das Reichsbannerabzeichen ab. Ein weiterer Frontbannmann schlug eine Frau und einen anderen Mann mit einem Gummiknüppel auf den Kopf. Die restlichen Versammlungsteilnehmer drangen daraufhin auf die Frontbannmitglieder ein und vertrieben diese zunächst aus dem Saal. Einer der Frontbannmänner schoss daraufhin durch die halbgeöffnete Tür, woraufhin die Versammlungsteilnehmer mit Stuhl- und Tischbeinen bewaffnet erneut auf die Nationalsozialisten eindrangen. Diese gaben ihrerseits 60–80 Schüsse ab, aber wurden dennoch vertrieben. Der Polizei war trotz der vielen Schüsse lediglich ein Schwerverletzter dieses Abends bekannt, der am nächsten Tag verstarb. Ob das Frontbannmitglied Karl Renz aber von den Schüssen seiner Kameraden oder von den Versammlungsteilnehmern verletzt wurde, konnte polizeilich nicht einwandfrei ermittelt werden. Im Nachklang der Ereignisse nahm die Polizei Ermittlungen gegen mehrere Nationalsozialisten aus Altlandsberg und Berlin auf.32 Die Täterschaft im Fall Renz blieb somit ungeklärt, was die politisch Interessierten zu ihren jeweiligen Spekulationen einlud. Dass der tatsächliche Ablauf

31 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 55134, insb. Bl. 117ff (Urteilsbegründung). Gumbel gibt abweichend von der gerichtlichen Feststellung an, dass Magiera aus 15 Metern Entfernung geschossen habe, was dem ballistischen Gutachten widerspricht (siehe Gumbel 1931, S. 56). 32 Vgl. Bericht des Polizeipräsidenten von Berlin an den RKO vom 2.3.26 (gez. Grzesinski), in: BArch R1507/3066, Bl. 43f. Busch schildert den Vorfall wie folgt. Zuerst seien die Frontbannmitglieder aus dem Lokal angegriffen worden, wobei Renz in das Lokal verschleppt und dort umgebracht worden sei (vgl. Busch 2010, S. 95f.). Die Schilderung bei Rentsch-Roeber ist im Hinblick auf die Verursacher des Zusammenstoßes unklar (siehe Rentsch-Roeber 1932, S. 26). Die Schilderung in der Gedenkhalle ist mit Busch identisch (siehe Weberstedt/Langer 1938, S. 62).

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eines Zusammenstoßes zahlreiche schwer kontrollierbare Unwägbarkeiten, sprich ein Risiko für alle Seiten, beinhaltete, wird spätestens jetzt offensichtlich. Im Falle Georg Hirschmanns sollte diese den Konfliktsituationen inhärente Unsicherheit größere politische Konsequenzen nach sich ziehen. In der Münchener Humboldtstraße trafen am 25. Mai 1927 mehrere SA-Leuten, die eine Werbeaktion durchführten, auf eine Gruppe Passanten. Ob die ersten Pöbeleien von den Passanten oder der SA ausgingen, blieb unklar, schnell entwickelte sich hieraus jedoch eine Schlägerei. Die Situation eskalierte endgültig, als aufgrund des Aufruhrs mehrere Dutzend weitere Personen aus den umliegenden Häusern und Straßen herbeiströmten und die SA-Männer mit Schlag- und Stichwerkzeugen verletzten. Die Nationalsozialisten wandten sich zur Flucht. Doch folgten ihnen über hundert Personen beiderlei Geschlechts nach, die weiter auf die SA-Männer einschlugen. Hierbei erlitt der Nationalsozialist Hirschmann eine tödliche Kopfwunde. Als Hauptverantwortliche wurden 14 Personen angeklagt, wobei der Arbeiter Karl Schott als Verantwortlicher für den tödlichen Schlag identifiziert werden konnte. Schott gab in der polizeilichen Vernehmung an, unpolitisch zu sein und keiner politischen Organisation anzugehören. Andere Angeklagte gehörten jedoch dem Reichsbanner an, auch wenn ihnen keine unmittelbare Verantwortung für den Tötungsfall zugeschrieben werden konnte. Schott erhielt 4 Jahre wegen Totschlags und ein weiterer Angeklagter erhielt 2 Jahre wegen Raufhandels, wobei die Jugendlichkeit der beiden Männer strafmildernd wirkte.33 Der Vorfall hatte weitere Konsequenzen. Aufgrund von Gerüchten über die Täterschaft, die unmittelbar nach dem Vorfall in München kursierten, war in Rechtskreisen dem Reichsbanner die Hauptverantwortung für den Tod Hirschmanns zugeschrieben worden. Hitler höchstpersönlich fragte in einer Rede im Bürgerbräukeller „die Marxisten“ klagend: „Warum habt ihr den Arbeiter Hirschmann erschlagen“?34 Diese gerüchteweise Schuldzuschreibung wurde als effektives Propagandamittel gegen eine großangelegte Feier des Reichsbanners genutzt, welche als erster Republikanischer Tag in Oberbayern überhaupt geplant worden war. Die Münchener Polizei verbot diese Veranstaltung mit dem Argument, dass keine weitere Erregung der Öffentlichkeit zugelassen werden könne, während nationalsozialistische Demonstrationen anlässlich der Beerdigung Hirschmanns weiterhin stattfinden konnten. Die lokale Führung des Reichsbanners reagierte damit, dass sie die vier an dem tödlichen Zusammenstoß beteiligten

33 Vgl. StA München, Polizeidirektion München, Nr. 6747, insb. Bl. 85, 88 u. 165ff. Schott war nach seiner Freilassung der KPD beigetreten und erneut in Gewaltdelikte verwickelt. Im Februar 1933 wurde er wegen einer Messerstecherei verurteilt, bei der vier Nationalsozialisten und ein Kommunist verletzt worden waren (vgl. ebd., Nr. 6757). 34 Vgl. Dusik (Hg.) 1992, S. 337ff. (Dok. 140). Die Gedenkhalle bietet ein langes Zitat aus dem Völkischen Beobachter vom 28.5.27, worin es heißt, dass Hirschmann von einer schwerbewaffneten Gruppe Reichsbannermänner erschlagen worden sei (vgl. Weberstedt/Langer 1938, S. 68ff.). Buschs Schilderung des Vorfalles ist hiermit identisch, wobei er auch den Prozessverlauf und die Verurteilung des als „Kommunisten“ bezeichneten Schotts darstellt (siehe Busch 2010, S. 109ff.).

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Reichsbannermitglieder, die sich ursprünglich aus rein privaten Gründen vor Ort aufgehalten hatten, ausschloss.35 Selbst wenn die Vorgänge eines Zusammenstoßes angemessen ermittelt und der bzw. die Täter verurteilt werden konnten, war dies also keine Garantie dafür, dass sich die allgemeine politische Lage nach einem Zusammenstoß wieder beruhigte. Die diskriminierende Verbotspraxis der Polizei hingegen war mindestens im Fall Hirschberg ein Grund dafür, dass die Lage weiter angespannt blieb. Umgekehrt scheint es naheliegend, dass eine gleichmäßige Anwendung des Verbotsrechtes gegen Veranstaltungen der Rechten wie Linken zu einer Entspannung hätte beitragen können. So aber hatten die Münchener Republikaner das Gefühl, von Staatsorganen benachteiligt zu werden und gleichzeitig den Angriffen der Rechtsradikalen ausgesetzt zu sein. Ähnliche Gefühle weckte nur wenige Wochen später ein Vorfall in Brandenburg. Republikanische Justizkritik – Fallbeispiele Arensdorf und Hamburg Auf dem Weg zu einem Republikanischen Tag in Frankfurt (Oder) war am 25. Juni 1927 eine Gruppe von etwa 50 Reichsbannermitgliedern aus Erkner bei Berlin durch die Ortschaft Arensdorf gezogen. Die Reichsbannermänner saßen auf einem LKW und hatten keine Absicht, im Dorf Halt zu machen. Auch führten sie keine Transparente oder Fahnen offen mit sich. Nachdem ein Reichsbannermann, der auf einem Fahrrad dem LKW in geringem Abstand nachfolgte, jedoch von Passanten angepöbelt und kurz darauf von drei Personen geschlagen wurde, stieg eine Zahl Reichsbannermänner ab und es entwickelte sich eine Schlägerei, zu der rasch mehrere Dorfbewohner dazukamen. Einige der Dorfbewohner waren mit Mistgabeln und ähnlichen Stichwaffen ausgestattet, allerdings wurden bei der Schlägerei nur wenige Personen leicht verletzt, darunter zwei Reichsbannermitglieder. Hieran beteiligt war der Landwirt August Schmelzer (28 Jahre) und dessen Vater Paul (43 Jahre). Der Sohn war Mitglied des Wehrwolfs und der Vater im Stahlhelm aktiv. August Schmelzer trug von der Schlägerei eine blutende Wunde im Gesicht davon und war darüber so aufgebracht, dass er den sich bereits entfernenden Reichsbannermitgliedern nachsetzte. Vorher hatte er jedoch aus dem Elternhaus ein Schrotgewehr samt Patronen entnommen, welches dort verschlossen aufbewahrt worden war. Die Reichsbannermitglieder hatten sich bereits wieder auf ihren LKW begeben, der sich aus dem Dorf entfernte, wobei der Wagen in einigem Abstand von einer aufgebrachten Menge verfolgt wurde, in der sich auch Paul Schmelzer befand. August Schmelzer erreichte die Menge und schoss in Richtung des LKW. Zwar hatten einzelne Dorfbewohner versucht, ihn von den Schüssen abzuhalten, aber eine Anzahl feuerte ihn auch an. Schmelzer konnte 35 Zu den polizeilichen Konsequenzen und den Vereinsausschluss der Reichsbannermänner siehe die Polizeiberichte, in: THStA, P 521, Bl. 79ff. u. 274ff. sowie P 278, Bl. 10f. u. 114f. Der verbotene Republikanische Tag wurde erst 1929 nachgeholt und von etwa sechs- bis zwölftausend Personen besucht (siehe BArch R1501/125668j, Bl. 180f.).

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ungehindert das Gewehr nachladen und erneut in Richtung der Reichsbannerleute abfeuern, die sich weiterhin entfernten. Durch diese insgesamt vier Schuss wurden 9 Reichsbannermitglieder teils schwer verletzt. Das Reichsbannermitglied Karl Tietze (18 Jahre) starb wenige Minuten später aufgrund eines Lungenschusses. Richard Wollank (24 Jahre) wurde mit einer Schrotkugel im Bein ins Krankenhaus eingeliefert, wo er am 20. Juli aufgrund einer Tetanusinfektion verstarb. August Schmelzer und dessen Vater wurden verhaftet und nach einem langwierigen Prozess, der aufgrund der widersprüchlichen Zeugenaussagen der Dorfbewohner und Reichsbannermitglieder erneut keine unbeteiligten Zeugen erlebte, wurde August wegen Totschlags zu 5 Jahren Gefängnis und sein Vater Paul zu 1,5 Jahren wegen Beihilfe verurteilt. Das Gericht nahm an, dass Paul Schmelzer, spätestens als sein Sohn das Gewehr nachlud, hätte einschreiten müssen, was er jedoch unterlassen und sogar auffordernde Worte geäußert hatte. August Schmelzer wurde strafmildernd angerechnet, dass er kriegsgeschädigt war, dann innerhalb der Familie gewalttätig wurde und daher einige Zeit in ärztlicher Behandlung verbracht hatte. Seine Haftstrafe musste er ebenfalls nicht vollständig absitzen, da er nach 1,5 Jahren mit der Begründung freigelassen wurde, dass er als Landwirt nicht unter Fluchtgefahr stehe und er seine Behandlung auch in Freiheit fortsetzen könne.36 Nun stellen sich dem Laien bei der Betrachtung dieses Urteils mehrere Fragen. 1) Warum wurde Schmelzer nur wegen Totschlags angeklagt und nicht wegen Mordes, obwohl er die Waffe nicht bei sich geführt hatte und somit auch nicht spontan benutzen konnte? Vielmehr hatte er einige Mühe auf sich gewandt, um an die Waffe zu gelangen und sogar den Waffenschrank seines Vaters gewaltsam aufgebrochen. 2) Warum erhielt Schmelzer nur für einen Totschlag (Tietze) eine Haftstrafe, während der zweite Totschlag (Wollank) sowie der versuchte Totschlag bzw. die vollendete schwere Körperverletzung in weiteren sieben Fällen offenbar straffrei blieben? Die Mindeststrafe für Totschlag belief sich auf 5 Jahre. Hätte seine Strafe nicht also mindestens 10 Jahre plus die jeweilige Strafe für die Körperverletzungen sein müssen? 3) Warum wurde Schmelzer nicht wegen illegalen Waffenbesitzes und/oder für den Diebstahl der Waffe seines Vaters angeklagt? 4) Warum wurde ein Mann, der wiederholt schwer gewalttätig geworden war und den Tod zweier Menschen zu verantworten hatte, vorzeitig aus der Haft entlassen und nicht einmal in geschlossener psychiatrischer Behandlung behalten? Es kann nicht verwundern, dass in republikanischen Kreisen nicht nur die Tat selbst, sondern auch das Urteil und die weitere juristische Behandlung der Sache schwerste Empörung auslöste. In einem Leitartikel für die RBZ beklagte Höltermann, dass man von den Gerichten keine Sühne für das Verbrechen erwarten könne. Schon im Fall Doktor sei selbst von höchster Stelle des Reichsgerichtes bestätigt worden, dass Magiera in Notwehr gehandelt habe. Nun würden dieser 36 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52651 u. 52652. Gumbels Schilderung des Tatherganges entspricht den gerichtlichen Feststellungen. Abweichend von den Gerichtsakten vermerkt Gumbel, dass August Schmelzer erst nach 2,5 Jahren freikam und dessen Vater bereits nach 9 Monaten (siehe Gumbel 1931, S. 58ff.).

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und weitere Vorfälle als „moralische Siege“ der Republikaner bezeichnet, aber keine noch so große Anzahl solcher Siege werde den Gegnern der Republik ernsthaft schaden. Diese Gegner, die bewusst amoralisch handeln würden, könne man nicht moralisch besiegen, so Höltermann. Das Reichsbanner müsse auf die bewusste Provokation mit einer Intensivierung der Führerschulung reagieren. Die Täter hätten gewusst, dass sich nur eine Autostunde von Arensdorf entfernt 10.000 Reichsbannerleute und mehrere hundert Polizisten aufgehalten hätten, weswegen die Schüsse und Toten als Niederlage nicht nur des Reichsbanners, sondern auch der preußischen Regierung aufzufassen seien.37 Der Vorfall von Arensdorf stellte sicherlich nicht den Ausgangspunkt, aber mindestens eine große Etappe in der Herausbildung des reichsbannereigenen Märtyrerkultes dar. In einem Artikel stellte der Generalsekretär Gebhardt die Toten von Arensdorf in eine Reihe mit den ermordeten Staatsmännern der Weimarer Anfangsjahre. Hinter all diesen Morden stehe dieselbe antirepublikanische Hetze, so Gebhardt.38 In allen Teilen des Reiches wurden vom Reichsbanner Protestkundgebungen veranstaltet, die der Toten Tietze und Wollank gedachten. Auf dem Friedhof in Erkner wurde auf Kosten des Reichsbanners ein Denkmal errichtet, welches aus drei Stelen bestand auf deren Mitte der Reichsbanneradler prangte.39 In diese Reihe republikanischer Märtyrer sollten in den kommenden Jahren noch weitere Männer gestellt werden.40 Die zaghaften Hoffnungen darauf, dass sich nun die juristische Behandlung der Vorfälle verbessern würde, wurden allerdings nicht erfüllt. Schmelzers Verurteilung blieb ein einzigartiges Ereignis. So wurden in den hier ermittelten Fällen lediglich Kommunisten zu höheren Haftstrafen verurteilt, während angeklagte Rechtsradikale, wenn überhaupt nur geringe Strafen fürchten mussten.41 So etwa im Fall Heidorn. In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1928 trafen in Hamburg zwei Gruppen von Plakatklebern aufeinander. Gerichtlich festgestellt wurde später die Beteiligung von vier bis fünf Reichsbannermitgliedern und sieben bis acht Nationalsozialisten, wobei aufgrund der nächtlichen Situation unklar blieb, von welcher Seite die Pöbeleien zuerst ausgingen. Am Ende war der Reichsbannermann Hermann Heidorn (22 Jahre) tot und ein Weiterer schwer verletzt. Der Nationalsozialist Robert Gerhold (19 Jahre) hatte auf beide Männer geschossen, wobei ihm das 37 Vgl. „Die Schüsse von Arensdorf“ von Karl Höltermann, in: RBZ Nr. 13/1927 vom 1.7. Im selben Heft wurde ein Sonderbericht des Berliner Tageblattes über die Geschehnisse und die allgemeine „Mordstimmung auf dem Lande“ abgedruckt. Darin heißt es, dass es bereits vor einem Jahr zu einem Überfall auf RB-Mitglieder in Arensdorf gekommen sei (siehe „Der Arensdorfer Mord“, in: Ebd.). 38 Vgl. „Arensdorf – das Warnsignal“ von Albert Gebhardt, in: RBZ Nr. 1/1928 vom 1.1. Die Gerichtsverhandlung gegen Schmelzer und die diesbezügliche Presseberichterstattung wurde in derselben Ausgabe thematisiert (siehe „Die Sühne für Arensdorf“, in: Ebd.). Dass diesmal die Täter überhaupt bestraft wurden, war für manche Zeitungen bereits Anlass zur Freude (siehe „Zuchthausstrafen für Arensdorf“, in: Vorwärts Nr. 597/1927 vom 18.12.). 39 Ein Foto des Denkmals in: RB-Bundesverfassungsfeier 1929, S. 6. 40 Siehe hierzu unten. 41 Siehe Tab. 5.

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Gericht zubilligte, in Notwehr gehandelt zu haben. Zwar seien die Nationalsozialisten in der Überzahl gewesen, aber Gerhold sei von schwächlicher Statur und aufgrund der allgemeinen „Grausamkeit und Erbitterung, mit der die Straßenkämpfe in den letzten Jahren durchgefochten zu werden pflegen“ habe Gerhold um sein Leben fürchten müssen. Jedoch wurde Gerhold aufgrund von illegalem Waffenbesitz zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt. Diese nicht nur für einen Minderjährigen verhältnismäßig hohe Strafe wurde damit begründet, dass Gerhold eine homosexuelle Beziehung mit einem anderen SA-Mann gepflegt hatte, was im Laufe der Ermittlungen herausgekommen war und sich negativ auf die Bewertung seiner Persönlichkeit auswirkte, die, wie es in der Urteilsbegründung hieß, „allgemein minderwertig“ sei.42 Die Betrachtung der Handlungsebene bietet somit einen Einblick in den justiziellen Umgang mit politischer Gewalt, auch wenn dieser Aspekt hier nicht im Vordergrund stehen kann. Andere Arbeiten widmeten sich bereits dem juristischen Umgang mit politischen Gewaltdelikten. Generell wird dort unsere Feststellung bestätigt, dass Kommunisten in vergleichbaren Fällen wesentlich härter bestraft wurden als Nationalsozialisten, was mit der politischen Grundhaltung der Richterschaft erklärt wurde.43 Das Reichsbanner spielte in diesen Untersuchungen aber nur eine untergeordnete Rolle. Hier kann ergänzt werden, dass Reichbannermitglieder nicht so hart wie Kommunisten bestraft wurden, aber tendenziell härter als Nationalsozialisten oder Stahlhelmer, wobei weitere Untersuchungen in dieser Frage sehr lohnend erscheinen.

42 Vgl. StA Hamburg, 213–11, Nr. L 106/1929. Gumbels Schilderung des Tathergangs stimmt mit den gerichtlichen Feststellungen überein (vgl. Gumbel 1931, S. 61f.). Ein herzlicher Dank geht an Christine Heitmann für die Beratung im StA Hamburg. 43 Siehe Rasehorn 1987, Angermund 1991, Siemens 2005 u. Fülberth 2013.

9. EIN GESPALTENES MILIEU. DAS REICHSBANNER UND DIE ARBEITERPARTEIEN Die Gewalt der Rechtsradikalen und die tendenziöse Rechtsprechung im Nachhall der Gewaltakte konnte durchaus Verbindungen zwischen den betroffenen Anhängern von SPD und KPD stiften. Das Reichsbanner stellte in diesem Sinne jedoch keine Brücke zwischen den Arbeiterparteien dar. Als Schutzorganisation der Republik, die von Seiten der KPD gewaltsam bekämpft wurde, war das Reichsbanner im Gegenteil ein Bollwerk gegen den Kommunismus. Von der Bundesführung wurde denn auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Argument angeführt, dass das Reichsbanner eine Radikalisierung der Arbeiterschaft verhindere, weil es den demokratisch gesinnten Arbeitern eine militante Alternative biete gegen den Rechtsradikalismus vorzugehen. In der Tat war die Differenz zwischen der SPD und der KPD keineswegs allein das Ergebnis von persönlichen Vorbehalten oder vermeintlichen Fehlern auf der Führungsebene. Ganz grundsätzlich trennte die Parteien und ihre Anhänger eine entgegengesetztes Bild auf den Wert der parlamentarischen Demokratie, die von den Anhängern der SPD stets unterstützt worden war, während die KPD sich als antiparlamentarische Partei konstituiert hatte und mit der Parole der „Diktatur des Proletariats“ ein autoritäres Politikmodell vertrat. Es mag überraschen, dass sich das jeweilige Verhältnis beider Parteien zum Reichsbanner angesichts solcher Differenzen dennoch durch Ambivalenzen auszeichnete und weniger durch vorbehaltlose Freund- bzw. Feindschaft. Das Reichsbanner als Stiefkind der SPD? Nun war die parlamentarisch-demokratisch eingestellte SPD neben den Freien Gewerkschaften eine der organisatorischen Hauptstützen des Reichsbanners, welchem ein Großteil der sozialdemokratischen Funktionärsschicht wenigstens pro Forma angehörte. Der Grad des Engagements der SPD-Funktionäre unterschied sich jedoch ähnlich stark wie bei den Parteigängern der DDP. Otto Hörsing war innerhalb seiner Partei zwar eine wichtige Figur, aber einen wesentlichen Einfluss auf die Parteiführung kann ihm nicht attestiert werden. Im Gegenteil waren Hörsings Ambitionen obersten SPD-Führern wie Wels, Otto Braun, Heilmann oder auch Severing und Grzesinski zunehmend unbequem.1 Umgekehrt kritisierte Hörsing seinerseits die mitunter laue Haltung der Partei gegenüber dem Reichsbanner, welchem mancherorts lediglich in Wahlkampfzeiten Beachtung geschenkt werde, sodass eine nachhaltige Werbung für republikanisches Gedankengut merklich erschwert wurde.2 Diese Spannungen wurden sicherlich auch durch die streitbare Persönlichkeit Hörsings erzeugt, aber es wäre verkürzt, hierin den alleinigen 1 2

Hierzu die Abschnitte zum Fall Hörsing oben und unten. Siehe oben Hörsings Bewertung der Reichstagswahlergebnisse von 1928.

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Grund für die ambivalente Haltung der SPD gegenüber dem Reichsbanner zu sehen. Der Bund konkurrierte mit den sozialdemokratischen Parteiorganisationen schließlich um begrenzte Ressourcen wie Geld und Räumlichkeiten sowie um Mitglieder und deren Arbeitszeit bzw. Engagement. Insbesondere die Kritik von Otto Wels auf dem Kieler SPD-Parteitag 1927, dass das Reichsbanner unnötig personelle Ressourcen der SPD binde und ab jetzt den Ausbau der Organisation auf Kosten der SPD einstellen solle, war in diesem Sinne von Bedeutung.3 Aber fast noch bedeutender waren ideologische Differenzen. Die Notwendigkeit eines überparteilichen Abwehrbündnisses war gewiss nicht allen Sozialdemokraten vollends bewusst. Insbesondere der Führer der österreichischen Sozialdemokratie Julius Deutsch vertrat den Standpunkt, dass ein klassenübergreifendes Abwehrbündnis gegen den Faschismus nicht tragfähig sei und auch das Reichsbanner besser auf die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Republikanern verzichten solle.4 In dieser Anklage an das Reichsbanner war auch der Vorwurf des „Militarismus“ enthalten, der etwa von Lothar Persius in der RBZ entschieden zurückgewiesen wurde. So wehrte sich Persius gegen Deutschs Gleichsetzung der Begriff Militarismus und Militär. Da der Militarismus als ein bestimmter, „preußischer Geist“ oder „System der organisierten Gewalt“ aufzufassen sei, welches auch vom Reichsbanner abgelehnt werde, könne man nicht das Bestreben des Reichsbanners, sich vor der Gewalt der Republikfeinde zu schützen, gleichfalls als „militaristisch“ diffamieren. Den besten Schutz vor Gewalt könne nun mal nur die Organisation einer Gegengewalt bieten, die im Falle des Reichsbanners primär dem Schutz der demokratischen Freiheit diene.5 Sicherlich war Deutschs Haltung im Reichsbanner nicht mehrheitsfähig und auch nicht in der SPD, doch lokale Tendenzen in diese Richtung eines SPD-exklusiven Reichsbanners hat es bereits vor 1928 gegeben. So etwa in Bochum, wo 1927 der lokale Reichsbannerführer Dahm, der wegen verschiedener Gewaltdelikte vorbestraft war, zusammen mit anderen regionalen SPD-Funktionären versucht hatte, einen sog. „Republikanischen Wehrbund“ als rein sozialdemokratische Abspaltung zu etablieren. Die Reichsbannerbundesleitung schritt daraufhin gegen die betreffenden Führer ein und erzwang die Auflösung des „Wehrbundes“.6 Bereits vor diesem Bruch hatte es deutliche Anzeichen dafür gegeben, dass Dahm die im Reichsbanner vorgegebene nationalrepublikanische Linie nicht mittrug und wie Deutsch lediglich an einer Verteidigung des eigenen sozialdemokratischen Milieus gegen äußere Einfälle interessiert war, was auch eine Ablehnung des „militaristischen“ Heeresdienstes oder einer Zusammenarbeit mit dem „Klassenfeind“ einschließen konnte. Diese Abschottungstendenz war im sozialdemo3 4 5 6

Siehe Adolph 1971, S. 173f. Wels Forderung wurde (glücklicherweise) von der Reichsbannerführung nicht erhört, wie die späteren Jahre zeigen sollten. Siehe Deutsch 1926. Hierzu bereits oben. Vgl. „Wehrhaftigkeit und Reichsbanner“ von Lothar Persius, in: RBZ Nr. 20/1926 vom 15.10. Siehe Nachrichten des westfälischen Oberpräsidenten vom 2.8. u. 18.10.27, in: BArch R1507/3067, Bl. 298a u. 298b. Die Bundesleitung musste gegen solche lokalen Initiativen auch in späteren Jahren einschreiten (siehe unten am Beispiel Halle).

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kratischen Milieu ebenso vorhanden wie im katholischen, wo ab 1930 sogar rein katholische Wehrbünde gegründet wurden. Die liberalen Reichsbanneraktivisten waren hingegen mitunter explizit mit dem Wunsch in das gemeinsame Abwehrbündnis eingetreten, um solchen Abschottungstendenzen entgegenzuwirken. Dies fiel den Liberalen auch insofern leichter als ihren sozialdemokratischen oder katholischen Bundesgenossen, weil ihr (ursprünglich nationalliberales) Milieu in der Weimarer Republik zunehmend unter sozialen und nicht nur politischen Druck geriet.7 Die Tatsache der liberalen Wahlverluste kann man mit ihrer relativen Offenheit erklären, da ihre auch im Reichsbanner bewiesene Kompromissbereitschaft in Zeiten zunehmender Polarisierung offenbar als Profillosigkeit verstanden wurde. Diese Wahrung des eigenen Profils war auch für die Sozialdemokraten ein zentrales Anliegen, die sich aus diesem Grund mehrfach in die parlamentarische Opposition begaben. In der Reichsbannerkoalition waren sie ähnlich wie im Reichstag immer die stärkste republikanische Kraft, aber dieses Engagement forderte dennoch zahlreiche Kompromisse. So auf dem Feld des Symbolischen, wenn es etwa um die öffentlichen Feierlichkeiten (Revolutions- oder Verfassungsfeier) oder Flaggen (Rot oder Schwarz-Rot-Gold) ging. Dass in diesen Fragen alle Beteiligten nicht vollständig befriedigt werden können, ist aber ein wesentliches Merkmal von Kompromissen. Das Reichsbanner als quasi institutionalisierter Kompromiss war in diesem Sinne eine ständige Belastung für die SPD, aus der sie sich anders als im Reichstag nicht in die Opposition flüchten konnte, wie auch dem Parteivorstand klar war. Die Haltung der SPD gegenüber dem Reichsbanner war somit, wenn man die unterschiedlichen Größenverhältnisse der jeweiligen Parteiflügel außer Acht lässt, nicht anders als bei den anderen republikanischen Parteien. Während sich der rechte SPD-Flügel enthusiastisch im Reichsbanner engagierte, blieb der linke Flügel um Paul Levi auf mitunter sehr kritischer Distanz, sodass die Parteimitte und der Parteivorsitz auf einen Ausgleich achten mussten.8 So wird auch Wels Schaukelpolitik in Bezug auf das Reichsbanner verständlich. Mal unterstützte er es wie in den Zeiten der Gründung. Mal forderte er Mäßigung wie 1927 oder gar eine Kursänderung wie im Streit um das Reichskura-

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Klassischerweise werden vier Milieus unterschieden, die sich bereits im Kaiserreich herausgebildet hatten: das katholische, das konservativ-protestantische, das nationalliberale und das Milieu der Arbeiterbewegung (siehe Peukert 1987, S. 149ff.). Einen wesentlichen Beitrag zur Milieuforschung leistete Karl Rohe, der unter Auslassung der Liberalen von einem Dreilagersystem ausging (siehe Rohe 1992). Dieser wissenschaftliche Schwenk ist auch als Konsequenz aus Rohes Arbeit zum Reichsbanner zu verstehen. Die Betrachtungen von Rohe kamen schließlich zu dem Schluss, dass diese milieuübergreifende Organisation scheiterte, was ihm die Bedeutung von Milieugrenzen verdeutlicht haben wird. Dies spiegelt sich auch im Reichsauschuss des Reichsbanners wieder, wo abgesehen von Karl Okonsky kein Vertreter der äußersten Parteilinken, die sich 1931 als SAPD abspaltete, zu finden ist, wobei in Okonskys Memoiren keine größeren Bezüge auf das Reichsbanner festzustellen waren (siehe Dokumentenanhang Nr. 4 sowie FES, NL Karl Okonsky, 1/KOAA, Nr. 13). Die scharfe Kritik am Reichsbanner von Küster (ebenfalls später SAPD) wurde oben bereits dargestellt.

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torium für Jugendertüchtigung 1932. 9 Aber anders als die Vorsitzenden der Zentrumspartei (siehe Marx) gehörte Wels dem Reichsbanner durchgehend an. Das Reichsbanner wurde in den innerparteilichen Richtungsstreit der SPD (ähnlich wie beim Zentrum, aber anders als bei der DDP) hineingezogen, sodass in politischer Hinsicht die SPD keineswegs als „die Reichsbannerpartei“ anzusehen ist, auch wenn sie organisatorisch die Hauptstütze darstellte. Wenn es politisch betrachtet überhaupt eine Reichsbannerpartei gab, so war es die DDP und ihre linksliberale Nachfolgeparteie. Für die SPD war das Reichsbanner nicht zuletzt deshalb ein eher ungewolltes „Stiefkind“ (Jacob Toury), weil sie entgegen anderer Darstellungen in der bundesdeutschen Nachkriegshistoriographie eben nicht für dessen „Zeugung“ verantwortlich war. Das Reichsbanner wurde zwar von allen republikanischen Parteien unterstützt, aber es war ursprünglich das Ergebnis der Initiative des Magdeburger Gründerzirkels, der hiermit auf das Schutzbedürfnis nicht nur der SPD-Basis, sondern aller republikanischen Kreise reagierte.10 Soweit es ersichtlich ist, wurden die Parteivorstände aller drei republikanischen Parteien bei wichtigen Fragen eingebunden und nicht nur der SPD-Parteivorstand, was dort wohl nicht ausschließlich positiv registriert wurde.11 Wider den „Sozialfaschismus“: KPD und Reichsbanner Das Verhältnis der KPD zum Reichsbanner war zwar gänzlich anders gelagert als dasjenige der SPD, aber es war gleichfalls ambivalent. In der Roten Fahne nahm die Auseinandersetzung mit dem Reichsbanner einen durchaus zentralen Platz ein.12 Die Berichterstattung war jedoch wie auch die Politik der KPD insgesamt an mehreren Strategien ausgerichtet. So wurden Gewaltakte zwischen dem Reichsbanner und rechtsradikalen Verbänden in der KPD-Presse ausführlich geschildert und Solidarität mit den Opfern auf Seiten des Reichsbanners gezeigt, was in der Regel gleichzeitig Anlass für Einheitsfront-Aufrufe war, da nur eine enge proletarische Kooperation den rechten Terror beenden könne.13 Hinter solchen Solidaritätsbekundungen steckte allerdings kein gemeinnütziger Zweck, was bei der Be9 Hierzu unten ausführlich. 10 Hierzu bereits oben. Der wichtigste Ausdruck dieses allrepublikanischen Schutzbedürfnisses waren die Vorläuferorganisationen des Reichsbanners ohne die Hörsings Gründungsinitiative wohl verpufft wäre. 11 Hierfür waren insbesondere die drei stellvertretenden Vorsitzenden Lemmer, Krone und Stelling wichtig. Als konkretes Beispiel einer solchen parteiübergreifenden Beratung ist die Kleinkaliber-Frage von 1926, wo selbst auf den regionalen Ebenen alle drei Parteivorstände eingebunden wurden (siehe Protokollbuch des Gaues Kiel, in: LA-Schleswig, Abt. 384 I, Nr. 30, Eintrag vom 13.9.1926). 12 So findet sich in den Jahrgängen 1931–1933 in praktisch jeder Ausgabe ein Artikel über das Reichsbanner. 13 So bspw. der Tenor in: Schneller, Geheimverhandlungen 1932 u. Schneller, Hindenburg 1932.

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trachtung des breiteren Spektrums der kommunistischen Berichterstattung über das Reichsbanner deutlich wird. Die kommunistische Presse griff die KorruptionsAnschuldigungen rechtsradikaler Kreise gegen das Reichsbanner regelmäßig auf und bediente in diesem Kontext auch antisemitische Muster, auch wenn dies nicht immer im Vordergrund stand. Das Hauptelement der Anti-Reichsbanner-Agitation ist besser mit dem KPD-eigenen Begriff des Sozialfaschismus zu umfassen, der als das Ergebnis einer systematischen Strategie der KPD-Parteiführung aufzufassen ist.14 Wir wollen hier nicht auf die Einzelheiten der kommunistischen Parteiengeschichte in den 1920ern eingehen. Nur so viel sei gesagt, dass die KPD nach dem Scheitern ihrer wiederholten Aufstandsversuche und insbesondere dem Desaster des Thälmann-Aufstandes 1923 eine tiefe, politische wie organisatorische Krise durchmachte. Nachdem die KPD-Führung um Karl Radek und Ruth Fischer sich im Frühjahr 1923 völkischen Gruppen angebiedert hatte,15 versuchte die teils neue, teils alte Parteiführung sich 1924 in einem „ultralinken“ Kurs, der vor allem in Angriffen auf die Sozialdemokratie bestand. Dies war keine 180° Wende, sondern eher eine Anpassung der bisherigen „nationalbolschewistischen“ Strategie von 1923, da der (sozialdemokratische) Hauptfeind derselbe blieb. Auch die von Hermann Schützinger dargestellte dreiphasige Bürgerkriegs-Strategie der KPD (1. Massenerhebung, 2. Bewaffneter Aufstand, 3. Machteroberung) wurde nicht aufgegeben.16 Die Gründung des Reichsbanners wurde folglich von der KPD-Presse nach denselben Mustern gedeutet, nach denen auch die SPD-Politik der vorherigen Jahre interpretiert wurde, das heißt der vermeintliche „Klassenverrat“ und das „Bündnis“ der SPD mit Vertretern des „Kapitalismus“ boten die Grundlage praktisch jedes Artikels. Hierbei versuchte die KPD, einen alleinigen Führungsanspruch innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung durchzusetzen, was auf eine Abwerbung der SPD-Anhängerschaft hinauslaufen sollte. Der Begriff Sozialfaschismus tauchte bereits in der „ultralinken“ Phase der KPD 1924 auf.17 Doch waren die Angriffe auf das Reichsbanner im Vergleich mit der kommunistischen Anti-SPD-Agitation stärker vom Faschismusbegriff geprägt. Schon direkt nach der Gründung des Reichsbanners reagierten kommunistische Blätter mit der Anschuldigung des „Faschismus“. So hieß es im Weckruf, dass das Reichsbanner ein 14 Siehe Winkler 1988, S. 663 u. 679–689. 15 Zur Schlageter-Linie: Dupeux 1985, S. 173ff. 16 Siehe zur Bürgerkriegsstrategie die Nachrichten des Polizeipräsidiums Stuttgart vom 11.3.25, in: THStA, P 270, Bl. 63ff., wo dargestellt wird, dass weiterhin die KPD-Schrift Vom Bürgerkrieg Verwendung finde. Ausführlich zur Entwicklung der KPD in dieser Zeit: Winkler 1985, S. 701–711, Winkler 1988, Kap. 2.7 u. 3.6, Mallmann 1996 sowie Fuhrer 2011. Schützingers Sicht in: Schützinger, Kampfbrevier 1924, Kap. 2 u. allgemeiner RB-Unsere Gegner 1932, ab. S. 16, insb. S. 35ff. (in: FES, NL Franz Osterroth, 1/FOAC, Box 53, Mappe 138). Dort erneut der alte Hinweis Schützingers, „dass sich ein Bürgerkrieg [der KPD, Anm.] nicht von Laien improvisieren lasse“ (vgl. RB-Unsere Gegner 1932, S. 17ff.). Die Autoren der Broschüre sind nicht namentlich genannt. 17 Siehe Winkler 1985, S. 705 u. Winkler 1988, S. 383f.

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„nationalistischer Schwindel“ sei und „echte“ Sozialisten und Arbeiter mit der Weimarer „Misch-Masch-Verfassung“ nichts zu tun hätten. Ferner wird das Reichsbanner mit den Adjektiven „reaktionär“, „monarchistisch“, „kapitalistisch“ und „konterrevolutionär“ abgewertet. Insgesamt sei es klar als „faschistischer Bruder“ des Stahlhelms zu begreifen.18 Die Behauptung einer grundsätzlichen Gleichheit mit dem Stahlhelm, auch im Hinblick auf die politischen Ziele, wurde in der Roten Fahne ebenfalls aufgestellt.19 Die Publikation von „Bettelbriefen“,20 deren Echtheit nicht bestätigt werden kann, aber deren Inhalt neutral betrachtet nicht besonders spektakulär ist, wurde im Hauptorgan der KPD von AntiReichsbanner-Karikaturen begleitet. Das Hauptmotiv dieser Karikaturen bildete ein geöffneter Geldschrank, vor dem Reichsbannerleute paradieren und hierfür von einem in Monokel, Frack und Zylinder gekleideten „Kapitalisten“ belohnt werden. Das Ziel der Karikaturisten war es hierbei, eine vermeintliche Arbeiterfeindlichkeit des Reichsbanners auf den Punkt zu bringen. In einem Comicstrip ist Hörsing zu sehen, der auf Befehl des „Kapitalisten“ einen Arbeiter mit einem Bajonett niedersticht und daraufhin vor dem geöffneten Geldschrank auf die Knie fällt.21 Mit dem Reichsbanner als Sammlung von „Arbeiterverrätern“ griff die Rote Fahne ein Motiv wieder auf, welches sie seit dem Beginn der Weimarer Republik in ihrer Propaganda etabliert hatte. Sie war entsprechend darum bemüht, die Kontinuität zwischen dem Reichsbanner und republikanischen Zeitfreiwilligenformationen wie den Regimentern Liebe und Reichstag aufzuzeigen, die ja auch tatsächlich bestand, wobei die Rote Fahne rechtsradikale Propaganda reproduzierte. So wurde das Reichsbanner als Organisation zur „Versklavung der deutschen Arbeiterklasse“ beschrieben, welche im Dienste des französischen Wehrministers Nollet stehe.22 Wie auch in der rechtsradikalen Propaganda wurden von den Kommunisten einzelne aus dem Kontext gegriffene Aussagen von Reichsbannermitgliedern als vermeintliche Belege für die eigene Deutung der politischen Position des 18 Vgl. Weckruf Nr. 56/1924 vom 12.3., in: BArch R1507/3063, Bl. 4. 19 Siehe hierzu eine Anti-Reichsbanner-Karikatur in der Roten Fahne vom 29.9.1924 (in: BArch R1507/3063, Bl. 216), die mit dem Ausspruch eines vermeintlichen „Kapitalisten“ versehen ist, dass das Reichsbanner nur belohnt werde, „wenn [es] sich brüderlich mit seinem Bruder „Stahlhelm“ vertrage.“ In der Zeichnung paradierten Reichsbannermänner vor einem geöffneten Geldschrank. Dieselbe Karikatur wurde Jahre später in Bezug auf die Nationalsozialisten wiederverwendet (siehe Rote Fahne Nr. 164/1932 vom 31.7.). 20 Hierzu oben. Die Rote Fahne brachte solche Anschuldigungen bereits ab 1924. So wurde bspw. ein Spendenaufruf des Berliner RB-Gaues vom 5.8.24 als „Bettel-Brief“ abgedruckt (siehe „Reichsbanner „Schwarz-Rot-Gold“ am Pranger! Da hilft kein Schweigen und kein Leugnen!“, in: Rote Fahne Nr. 108/1924 vom 18.9., in: BArch R1507/3065, Bl. 3). Diese Praxis wurde bis zum Ende der Republik beibehalten (siehe etwa Rote Fahne Nr. 1/1933 vom 1.1.). 21 Diese Karikatur in: Rote Fahne Nr. 60/1929 vom 12.3. sowie die Geldschrank-Karikatur oben. 22 So in Rote Fahne Nr. 56/1924 vom 17.6. oder Rote Fahne Nr. 57/1924 vom 18.6. (in: BArch R1507/3063, Bl. 16 u. 19), wo das Reichsbanner als Instrument zur „Niederhaltung des Proletariats“ in der „Ebert-Republik“ beschrieben wird.

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Bundes herangezogen. Diese Deutung ist denkbar simpel. Als Organisation zum Schutz der Republik, schütze das Reichsbanner auch den „Kapitalismus“ und stünde somit gegen die „revolutionäre“ Arbeiterbewegung. Hierin unterscheide es sich auch nicht von den Monarchisten, da auch diese das „kapitalistische“ System decken würden. Aus dieser Grundfeststellung wird abgeleitet, dass das Reichsbanner „chauvinistisch“, „militaristisch“, „reaktionär“, „nationalistisch“, „kleinbürgerlich“ und „pfaffenhörig“ sei.23 Von dieser Bewertung bis zur Annahme, dass das Reichsbanner eine „faschistische“ Organisation sei, war es in der Logik der KPD-Propaganda nur ein kleiner Schritt. Explizit wurde dieser Schritt etwa von Heinz Neumann auf einer KPDVersammlung in Stuttgart im Dezember 1924 gemacht, wo er das Reichsbanner als „neueste Form des Sozialfaschismus“ beschrieb. Das Reichsbanner sei die „fleischgeworbene Einheit zwischen Faschismus und Sozialdemokratie“, da es neben proletarischen SPD-Anhängern auch Kleinbürger, Angestellte und ehemalige Militärs umfasse. Ferner sei die Gründung des Reichsbanners eine Reaktion auf die allgemeine Krise des Faschismus nach dem gescheiterten Hi