Das Publikum des Lebens: Zur Soziologie des populären Wissenschaftsfilms [1. Aufl.] 9783839415832

Populäre Wissenschaftsfilme über den Körper setzen auf Visualisierungen des Körperinneren - und versprechen damit einen

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Das Publikum des Lebens: Zur Soziologie des populären Wissenschaftsfilms [1. Aufl.]
 9783839415832

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Wissenschaftspopularisierung
1.1 Anmerkungen zur Geschichte der Wissenschaftspopularisierung
1.2 Public Understarrding of Science
1.3 Abseits der bürgerlichen Öffentlichkeit 3
1.4 Das Populäre der Wissenschaft
1.5 Die Gesellschaft der Wissenschaftspopularisierung: Die Wissensgesellschaft
1.6 Wissenschaftsvermittlung durch populäre Wissenschaftsfilme
2. Das Medium des populären Wissenschaftsfilms
2.1 Kinematografisches Wissen
2.2 Fiktionalität des Films, dokumentarisierende Lektüre
2.3 Film und Labor
2.3.1 Rekonfigurationen im Labor
2.3.2 Film als Labor
2.4 Evidenz und Manipulierbarkeit
3. Die Organisation des Visuellen im populären Wissenschaftsfilm
3.1 Primäre und sekundäre Visualisierungen
3 .2 Im Körper
3.2.1 Eindringen in den Körper
3.2.2 Das Körperinnere
3.3 Rekonfigurationen: Homogene Räume und fragmentierte Körper
4. Aufbau und narrative Form der populären Wissenschaftsfilme
4.1 Der Kommentar
4.2 Kontextualisierung
4.3 Innen und Außen: Zwei Universen
4.4 Novellistische Struktur
4.4.1 Begrenzungen
4.5 Die Experten
5. Popularisierung des wissenschaftlichen Blicks
5.1 Identifizierung im Film
5.1.1 Die psychoanalytische Figur der Identifizierung in der Filmtheorie
5.1.2 Spiegel und Apparat
5.2 Gesellschaft- Technik- Subjekt
5.3 Der Blick des populären Wissenschaftsfilms
5.4 Medialität und Wissenschaftspopularisierung
Nachwort: Soziologie des populären Wissenschaftsfilms
Literatur und Filme
Dank

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Dirk Verdicchio Das Publikum des Lebens

... Masse und Medium 8

Editorial Masse und Medium untersucht Techniken und Macht des Diskurses, seine Funktionseinheiten, Flüchtigkeiten und Möglichkeiten zu seiner Unterbrechung. Damit geht die Reihe von einer eigentümlichen Brisanz des Massenund Medienbegriffs aus: Die Massenmedien markieren keineswegs ein einheitlich integratives und symmetrisches Konzept, sie sind vielmehr auf eine Differenz verwiesen, mit der das eine im jeweils anderen aufz.T. unberechenbare Weise wiederkehrt- weder ist die Masse in jeder Hinsicht auf Medien angewiesen noch gelingt es den Medien, die Masse allumfassend zu adressieren. Eine Differenzierung zwischen Massen und Medien zeigt, dass es sich dabei um beidseitigfragwürdige Konzepte handelt, die gerade auch in ihrer gegenseitigen Zuwendung problematisch und daher zu problematisieren sind. Für Masse und Medium steht damit weder ein Programm der Einheit noch eines der Differenz zur Debatte. Dagegen wäre ein Brennpunkt zu fokussieren, in dem beide Felder in merkwürdiger Solidarität längst schon und wiederholt auseinander driften und zusammenwachsen. Somit benennt die Reihe Medialität und >Massivität< als Grenzbegriffe des Sozialen und thematisiert darin ebenso jene Punkte, mit denen das Soziale in seiner Fragilität auf dem Spiel steht, indem es sich für politische Re-Artikulationen öffnet. Die Reihe wird herausgegeben von Friedrich Balke, Jens Schröter, Gregor Schwering und Urs Stäheli.

Dirk Verdicchio lehrt Soziologie an der Universität Basel. Seine Forschungs-

schwerpunkte sind Kultur, Medien, Science and Technology Studies sowie Wirtschaftssoziologie.

DIRK VERDICCHIO

Das Publikum des Lebens Zur Soziologie des populären Wissenschaftsfilms

[transcript]

...

MASSE UND MEDIUM

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Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ fdnb.d-nb.de abrufbar.

©

2010

transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Abbildung aus dem Film »The Heart« (USA 1950). Lizenz: Public Domain (www.archive.orgjdetailsj HeartTher9so) Lektorat & Satz: Dirk Verdicchio Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1583-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Vor kurzem habe ich in einer Wissenschaftssendung eine Infrarotaufuahme eines Niesenden in einem Nahverkehrsbus gesehen. Es war grauenvoll. Es sah aus wie ein Atompilz, der trotz vorgehaltener Hände dem Kopf des Niesers entstieg und alle Umstehenden unbemerkt mit einschloss. Solche Bilder vergisst du nie. Kriegsberichte von der Alltagsfront Wer in so einer Bakterienglocke landet, ist chancenlos gegen die Krankheitserreger, die in solchen Glocken wohnen. Aber auch die Vorstellung, in der badezimmerwarmen Innenluft meines Nächsten zu stehen, ist mir zuwider. Ich möchte nicht in seinem Atem schwimmen. (Rocko Schamoni 2007: lOf.)

Inhalt

Einleitung

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1. Wissenschaftspopularisierung

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1.1 Anmerkungen zur Geschichte der Wissenschaftspopularisierung 27 1.2 Public Understarrding of Science 33 1.3 Abseits der bürgerlichen Öffentlichkeit 3 8 1.4 Das Populäre der Wissenschaft 43 1.5 Die Gesellschaft der Wissenschaftspopularisierung: Die Wissensgesellschaft 55 1.6 Wissenschaftsvermittlung durch populäre Wissenschaftsfilme 58 2. Das Medium des populären Wissenschaftsfilms

2.1 Kinematografisches Wissen 66 2.2 Fiktionalität des Films, dokumentarisierende Lektüre 2.3 Film und Labor 74 2.3.1 Rekonfigurationen im Labor 74 2.3.2 Film als Labor 80 2.4 Evidenz und Manipulierbarkeit 82 3. Die Organisation des Visuellen im populären Wissenschaftsfilm

3.1 Primäre und sekundäre Visualisierungen 3 .2 Im Körper 100 3.2.1 Eindringen in den Körper 102 3.2.2 Das Körperinnere 109 3.3 Rekonfigurationen: Homogene Räume und fragmentierte Körper 112

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4. Aufbau und narrative Form der populären Wissenschaftsfilme

4.1 Der Kommentar 118 4.2 Kontextualisierung 127 4.3 Innen und Außen: Zwei Universen 4.4 Novellistische Struktur 132 4.4.1 Begrenzungen 140 4.5 Die Experten 142

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5. Popularisierung des wissenschaftlichen Blicks

5.1 Identifizierung im Film 160 5.1.1 Die psychoanalytische Figur der Identifizierung 164 in der Filmtheorie 165 5.1.2 Spiegel und Apparat 5.2 Gesellschaft- Technik- Subjekt 168 5.3 Der Blick des populären Wissenschaftsfilms 171 5.4 Medialität und Wissenschaftspopularisierung 175 Nachwort: Soziologie des populären Wissenschaftsfilms 177 Literatur und Filme Dank

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Einleitung For understanding what really goes on as an embryo develops, it is hard to beat a good movie, and this week German researchers released a set of potential blockbusters. [... ] The German filmmakers' technique promises to open new windows into the development of embryos and tissues of species. >This is what we have always wanted to do - foll ow everything in time and spacescientific literacyPublic Understanding of Science< zwei Konnotationen annehmen kann. Er lässt sich auf die Vermittlung von wissenschaftlichen Inhalten beziehen oder auf die Wissenschaft als kulturellem Unternehmen. Soll PUS Faktenwissen verbreiten oder der Öffentlichkeit ein reflexives Verständnis von der Produktion dieses Wissens verschaffen? Man kann, so Collins, durchaus eine exzellente wissenschaftliche Praktikerirr sein, ohne dabei mehr >reflexives< Verständnis von Wissenschaft zu haben als Shakespeare von generativer Grammatik. Welche Art von Wissen angebracht ist, hängt also letztendlich hängt davon ab, was damit bewirkt werden soll (Collins 1987: 689f). Um dahinter zu kommen, welchen Zweck PUS verfolgt und wie diesem nachgekommen werden soll, rekurriert Collins auf das Dokument der Royal Society, mit dem dieses Programm ins Leben gerufen wurde. Dort heißt es:

20 Unterzeichnet wurde im Mai 1999 ein entsprechendes Memorandum vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (bmb+f), dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der MaxPianck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, dem Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, der Herrmann-von-Helmholtz-Gemeinschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der augewandten Forschung, dem Wissenschaftsrat, der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, und der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen >Ütto von Guerickeacid rainbürgerlichen< Medien wie Zeitungen und Museen untersuchen und die dominanten Medien des 20. Jahrhunderts (Radio, Film, Internet) außer acht lassen. Dies gilt auch noch für einen großen Teil der Kritiker des canonical accounts der Wissenschaftspopularisierung. So finden sich beispielsweise in Massimiano Bucchis Science and the Media (1998) nur Analysen von Zeitungsberichten. 27 Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Diskurs über die Wissenschaftspopularisierung in Bezug auf zwei zentrale Momente der Popularisierung deutliche Defizite aufweist. Erstens operiert der Diskurs in der

26 Vgl. dazu auch Whitley (1985), der als einer der Ersten im Hinblick auf die Wissenschaftsvermittlung eine Differenzierung des Öffentlichkeitsbegriffs forderte. 27 Eine Ausnahme bilden hier die Studien, die nicht das Konzept der politischen Öffentlichkeit adaptieren, sondern vom Populären im Sinne der Cultural Studie.\· ausgehen. Auf diese werde ich weiter unten eingehen.

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WiSSENSCHAFTS POPULARISIERUNG

Regel mit einer Vorstellung von Öffentlichkeit, die dem Modell der politischen Öffentlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entspricht und das der gegenwärtigen Gesellschaft nicht gerecht wird. Eine Folge davon ist, dass der Diskurs häufig Fragen der Legitimation von Wissenschaft unverhältnismäßig stark betont. Zweitens zeigt sich ein Defizit in der Betrachtung der Vermittlungsmedien: Wenn diese überhaupt in den Blick kommen, werden meist nur diejenigen Medien thematisiert, die im Zusammenhang mit der Herstellung der politischen Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert standen. Möchte man dem Topos der politischen Öffentlichkeit entgehen, stellt sich die Frage, worauf die Wissenschaftspopularisierung zielt. Was ist also das Populäre der Wissenschaftspopularisierung? Um der Sackgasse zu entkommen, die ein an der Idee der politischen Öffentlichkeit angelehnter Begriff des Populären der Wissenschaft bedingt, bringen einige Autoren aus dem Bereich der Science and Technology Studies seit einigen Jahren mehr oder weniger explizit das Konzept der >Leute< (>the peoplepower blockthe peopleder Leute< gegen die ideologischen Botschaften basiert auf der kritischen und kreativen Lektüre populärkultureller Texte, die aufgrundihrer Polysemantizität aufkeine eindeutige Lesart reduziert werden können. Das Problem dieser Konzeption widerständiger Decodierungspraktiken zeigt Stäheli anhand von John Fiskes Aufsatz Television Culture, in dem Fiske diese Polysemie hervorhebt. Für Fiske spielt die Polysemie deshalb eine zentrale Rolle, weil sie Widersprüche im Text produziert, die diesen für alternative und kritische Lektüremodi öffnet (vgl. Fiske 1989: l03ff; 2001: 87). Ein Schwachpunkt von Fiskes Konzept der subversiven Decodierung ist, dass es die Möglichkeit nicht-subversiver Lektüremodi durch >die Leuteder Leute< voraussetzt. Die Probleme, die ein Konzept des Populären bedingt, das seine Charakteristika aus einer normativ aufgeladenen Subjektposition bezieht, wurden auch in den Cultural Studies reflektiert. So hat zum Beispiel Stuart Hall vorgeschlagen, das Populäre als Unterscheidung zwischen >the peoplenicht-hegemonialer Blocknot of the people< ideologische Botschaften aussendet, die >the people< dann subversiv decodieren (Stäheli 2005: 149ft} Im Gegensatz dazu unterscheidet Stäheli drei Aspekte des Populären: Einen inklusionstheoretischen Aspekt, der die Rolle des Populären für Inklusionsprozesse betont; einen kommunikationstheoretischen Aspekt, der die Kammunikationsweise des Populären thematisiert und einen differenzierungstheoretischen Aspekt, der die Form des Populären auf funktionale Differenzierung bezieht. Die Dekonstruktion des Konzeptes des Populären in den Cultural Studies ist für Stähelis Skizze einer Theorie des Populären auch insofern wichtig, als dass er einige zentrale Aspekte davon übernimmt. Dazu gehört einerseits das Polysemie-Argument von Fiske, das besagt, dass populärkulturelle Texte (womit auch Filme gemeint sind) so codiert sind, dass sie in verschiedenen Kontexten anschlussfähig sind. Die Polysemie trägt damit zur Allgemeinverständlichkeit kultureller Texte bei. Zudem übernimmt Stäheli den Gedanken des affektiven >AttachmentsUniversalitätGolem-Bücher< von Hany Collins und Trevor Pinch (1999; 2000) oder auch die Ausstellung Making Things Public, die von Bruno Latour und Peter Weibel kuratiert wurde

und die dazu gehörige Veröffentlichung (Latour/Weibel2005). 29 Siehe dazu Stäheli (2003) und Massumi (2003 ). 30 Die populären Wissenschaftsfilme provozieren bisweilen Ekel. So wird in DAs WUNDER\VERK

MENSCH das Ausdrücken eines Pickels in Großaufnahme gezeigt,

wobei der Eiter gegen das Objektiv, d. h. in Richtung Zuschauer spritzt. Im Berliner IMAX-Kino, wo ich den Film zusammen mit mehreren Schulklassen

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den Formen populärer Kommunikation muss angemerkt werden, dass sie meist nicht getrennt auftreten, sondern die Affektivität über hyperkonnektive Formen realisiert wird. Gerade im Film geht die Affektivität häufig von den eingesetzten filmischen Mitteln aus. Ein solcher Begriff des Populären hat den Vorteil, dass er das Populäre in Relation zu einem bestimmten Funktionssystem entwirft. Es existiert aus dieser Perspektive nicht nur ein Populäres, sondern jedes Funktionssystem verfügt über ein spezifisches Populäres, das immer ambivalent, umkämpft und in einem steten Wandlungsprozess begriffen ist. Ein solches Populäres setzt sich stark von den unscharfen Begriffen von Öffentlichkeit ab, die in den Science and Technology Studies angewandt werden. Häufig entsprechen diese >den Leuten< der Cultural Studies und unterliegen den erwähnten konzeptuellen Problemen, auf die Stäheli hinweist. Dies zeigen die Arbeiten zum Public Understarrding of Science von Brian Wynne, der auch an der Formulierung des Science and Society-Statements des Britischen Parlaments (House of Lords 2000) beteiligt war, das die offizielle Abkehr vom Defizit-Modell der Wissenschaftspopularisierung verkündete. Wynne erarbeitet in seinen Untersuchungen immer eine Frontstellung von einem hegemonialen Block der Wissenschaft, dessen Botschaften von den Empfängern in kreativer und subversiver Weise angeeignet und mit Hilfe ihres kontextuellen Wissens so übersetzt werden, dass sie der eigenen Alltagswelt entsprechen (vgl. z. B. Wynne 1996). Ein weiteres Konzept der Öffentlichkeit, das in den Science und Technology Studies verwendet wird, orientiert sich am Modell der politischen Öffentlichkeit. Wissenschaftspopularisierung wird dann in der Regel als demokratische Pflicht der Wissenschaft betrachtet, die ihre Daseinsberechtigung legitimieren muss (siehe Nowotny 1999). Ausnahmen bilden Studien wie die bereits angeführte von Bucchi (1998), die die Wissenschaftspopularisierung als boundary work im Sinne von Susan Leigh Star und James Griesemer ( 1989) verstehen. Hier wird der Blick von der demokratische Pflicht hin zu wissenschaftsinternen Effekten gelenkt. Dieses Konzept der Wissenschaftsvermittlung, das diese als Strategien zur Ausweitung und Einengung wissenschaftlicher Grenzen versteht, ist dem hier vorgeschlagenen Verständnis der populären Wissenschaftskommunikation sehr ähnlich. Allerdings wird die Öffentlichkeit hier nicht

besuchte, provozierte die Szene einen Aufschrei und ein heftiges Sich-hin-undher-Winden auf den Sitzen.

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als potentielles Publikum verstanden, das inkludiert werden könnte, sondern als strategische Masse zur Redefinition der Systemgrenzen. Die Öffentlichkeit bleibt auch hier eine unscharfe Entität, die der Wissenschaft gegenüber steht und deren Aufmerksamkeit es zu erregen gilt. All diese Begriffe von Öffentlichkeit im Diskurs um die Wissenschaftspopularisierung behandeln die Wissenschaft als einen Sonderfall, dem eine generalisierte Allgemeinheit gegenübersteht. Der hier vorgeschlagene Begriff des Populären der Wissenschaft geht dagegen davon aus, dass die Wissenschaft, ebenso wie jedes andere Funktionssystem, ein spezifisches Populäres produziert. Wissenschaftsvermittlung ist hier weder ein barmherziger Akt noch eine Form der Beichte vor der Öffentlichkeit, die Absolution und Gnade erweisen soll, sondern eine Notwendigkeit flir das Wissenschaftssystem. Zugleich wird mit einem solchen Begriff deutlich, dass das Populäre immer auch ein Paradox darstellt, da mit systemfremden Mitteln und Semantiken die Universalisiemng der Wissenschaft voran getrieben werden soll. Das erzeugt, so Stäheli, ein Repräsentationsproblem, »da in einem System etwas dargestellt werden muss, das den eigenen Universalismus übersteigt« (Stäheli 2005: 159). Die Suche nach hyperkonnektiven Formen und Semantiken zur Beschreibung dieses Universalismus führt aber nicht notwendig dazu, dass nur Semantiken aus der Unterhaltungskultur verwendet werden. Wie das eingangs angeführte Beispiel der Verwendung des im 18. Jahrhunderts beliebten literarischen Genres des Briefromans für die Wissenschaftsvermittlung in Rousseaus Botanik fiir Frauenzimmer in Briefen zeigt, ist nicht auszuschließen, dass auch Semantiken verwendet werden, die Lohmann als »gepflegte« und »bewahrenswerte« Semantiken beschreiben würde (Luhmann 1993: 18f, 45ff). 31 Auch in den hier untersuchten Filmen kann die Verwendung solcher etablierten »ernsthaften Semantiken« beobachtet werden. Die Form der Darstellung des wissenschaftlichen Wissens in den Filmen entspricht, wie ich in einem späteren Kapitel zeigen werde, der Struktur der Novelle. Auch der Einsatz von Medien, die gemeinhin als Unterhaltungsmedien gelten, ist eine Strategie zur Steigerung der Konnektivität und Affektivität populärer Kommunikation. Die Entstehung populärwissenschaftlicher Zeitschriften im 17. Jahrhundert oder des Briefromans im

31 So zeigt Kanduth fur Algarottis Neutonianismo per le Dame die Anlehnung an dichterische Traditionen (Kanduth 1987).

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18. Jahrhundere 2 zeigen, dass die Verwendung beliebter (beispielsweise der Roman) oder neuer Medien (beispielsweise Zeitschriften) kein junges Phänomen ist, sondern die Entstehung der Wissenschaft als Funktionssystem von Anfang an begleitet hat. Gegen die Annahme, dass populäre Wissenschaftsfilme zur Universalisierung des Wissenschaftssystems beitragen, könnte man einwenden, dass es sich bei den Filmen nicht um Beschreibungen handelt, die von der Wissenschaft selbst angefertigt werden, dass es sich hier also um Fremdbeschreibungen von Seiten eines Massenmediums her handelt und nicht um Selbstbeschreibungen, die dem Code der Wissenschaft folgen. Einem solchen potentiellen Einwand kann man entgegnen, dass die Produktion der Filme in der Regel von Wissenschaftlern zumindest begleitet, wenn nicht gar (mit)produziert werden und Wissenschaftler in diesen Filmen häufig zu Wort kommen. So wird beispielsweise die BBC-Serie THE HuMAN BonY (die englischen Version von DAs WUNDERWERK MENSCH) von dem wissenschaftlich noch aktiven Reproduktionsmediziner Sir Robert Winston präsentiert und von einem ganzen Stab von Wissenschaftlern begleitet, die über die Richtigkeit der dargestellten Methoden, Theorien und Themen sowie des präsentierten Wissens wachen. Diese Mitarbeit von wissenschaftlichen Akteuren und Institutionen an den populären Wissenschaftsfilmen verwischt die Grenze von Selbst- und Fremdbeschreibung, da hier neben den massenmedialen auch wissenschaftliche Codes zum Tragen kommen. Wie bereits an den Ausführungen zum Bodmer Report deutlich wurde, geht es bei der Popularisierung von Wissen nicht nur darum, Wissen an Unwissende zu vermitteln, sondern auch um die Unterscheidung von wahrem und unwahrem Wissen. 33 Dementsprechend kommt es in den populären

32 Die Rezeption von Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774), bei dem es sich um einen Briefroman handelt, zeigt, welch starke Leidenschaften Literatur im 18. Jahrhundert auslösen konnte. So wird der Werther mit einer Serie von Selbstmorden in Verbindung gebracht, bei denen Leser dem Protagonisten angeblich in den Tod folgten. Entsprechend bezeichnet der Werther-Eflekt in der Medienwirkungsforschung die Nachahmung von realen oder fiktiven Suiziden (vgl. Phillips 1974, Ziegler/Hegerl2002). 33 Nach Niklas Luhmann fuhrt die Wissenschaft als gesellschaftliches Funktionssystem alle seine Operationen auf die Unterscheidung von wahr und unwahr zurück (Luhmann 1990: 169t). Die Differenz wahr/unwahr markiert damit

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Wissenschaftsfilmen nicht nur zur Konfrontation von alltäglichem Wissen und wissenschaftlichem Wissen, sondern es werden wissenschaftliche Hypothesen erläutert, anderen gegenüber gestellt und unter Umständen auch verworfen. Die Akteure und Institutionen, die die populären Wissenschaftsfilme produzieren oder an der Produktion dieser Filme beteiligt sind, stehen auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft Dadurch wird die Grenze zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung der Wissenschaft und damit auch zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft unscharf. Einerseits kann man hier tatsächlich von Selbstbeschreibungen der Wissenschaft sprechen, andererseits handelt es sich aber auch um eine Form der Fremdbeschreibung. Dieser Umstand verweist auf die von Stäheli erwähnte Paradoxie populärer Kommunikation, die damit zusammenhängt, dass Funktionssysteme versuchen müssen, Selbstbeschreibungen mit Hilfe von systemfremden semantischen Formen zu realisieren. Im Falle des populären Wissenschaftsfilms wird die Verwischung der Grenze von Selbst- und Fremdbeschreibung, wie ich weiter unten zeigen werde, noch dadurch gefördert, dass die Filme Visualisierungen verwenden, die auch in der wissenschaftlichen Praxis und Kommunikation eingesetzt werden. Anders verhält es sich bei den Spielfilmen, die Peter Weingart in seinem Aufsatz zum Bild der Wissenschaft im Spielfilm untersucht (Weingart 2003). Dabei stellt er fest, dass wissenschaftliche Arbeit nur dann für diese Filme interessant ist, wenn sie krimineller Natur ist (Weingart 2003: 221). Auch im Science-Fiction-Genre, das per Definition Wissenschaft und Technik thematisiert, geht es meist darum, deren mutmaßlichen sozialen Effekte darzustellen, und nicht darum, wissenschaftliche Aussagen zu treffen oder den Stand der Wissenschaft zu reflektieren (vgl. Sobchack 1987, Seeßlen/Jung 2003: 28f). Das gilt selbst dann noch, wenn bei Fihnproduktionen wie beispielsweise Steven Spielbergs MINORITY REPORT (2002) Wissenschaftler mitwirken, die den möglichen Stand der Technik für die nahe Zukunft extrapolieren. Mikael Härd und Andrew Jamison betrachten Science-Fiction-Filme unter dem Aspekt der kulturellen Aneignung von Wissenschaft und Technik. Science-Fiction-Filme, so Härd und Jamison,

Kommunikationen als wissenschaftlich. Im Unterschied dazu beruhen ökonomische Kommunikationen auf der Differenz von zahlen/nicht-zahlen und die Operationen des Rechtssystems auf der Differenz von Recht/Unrecht.

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antizipieren und problematisieren Entwicklungen und nehmen damit Einfluss auf den Gang von Wissenschaft und Technik (Hard/Jamison 2005: 145ff). Dennoch haben diese Filme in der Regel nicht die Absicht, wissenschaftliches Wissen zu popularisieren, sondern sind im besten Fall als Reflektionen auf hypothetische soziale Auswirkungen von Wissenschaft und Technik zu betrachten. Populäre Wissenschaftsfilme lassen sich damit als Medien populärer Inklusion beschreiben, die ein spezifisches Publikum generieren und ansprechen. Dieses potentielle Publikum rekrutiert sich aus denjenigen, die über Filme erreichbar sind. Ein Problem bei einem solchen inklusionstheoretischen Konzept der Wissenschaftspopularisierung ist allerdings der Modus der Inklusion. Luhmann erwähnt zwar, dass selbst eine passive Teilnahme an der Wissenschaft wie beispielsweise die Nutzung von wissenschaftlichtechnischen Erkenntnissen und Produkten (z. B. Medizin, Elektrizität usw.) eine »form der Inklusion« darstellt, doch konzentriert er seine Ausführungen auf Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften (Luhmann 1990: 346ff). Da von Fernsehzuschauern im Gegensatz zu Wissenschaftlern jedoch nicht erwartet wird, dass sie wissenschaftliche Texte produzieren und diese dann in wissenschaftlichen Zeitschriften publizieren, muss man davon ausgehen, dass populäre Wissenschaftskommunikation einen anderen Modus der Inklusion vollzieht. Rudolf Stichweh unterscheidet im Zusammenhang von Popularisierung und Inklusion vier verschiedene Modi der Inklusion in die Wissenschaft (Stichweh 2003). Davon ausgehend, dass aus der Sicht der Systemtheorie die Wissenschaft mit der Unterscheidung von wahr/nicht wahr operiert (vgl. Luhmann 1990: 167ff), betont Stichweh, dass die Universalität der Wissenschaft zwei Dimensionen aufweist. Einerseits meint Universalität, dass es aus der Sicht der Wissenschaft kein Phänomen gibt, das sich ihrem Wahrheitsanspmch entziehen könnte (thematische Universalität). Andererseits impliziert die Universalität der Wissenschaft, dass es niemanden gibt, der sich diesem Wahrheitsanspruch entziehen könnte (soziale Universalität), d. h. dass das, was wissenschaftlich als wahr anerkannt wird, für alle Menschen wahr sein soll. Innerhalb wissenschaftlicher Kommunikationen macht es daher keinen Sinn, die Wahrheit eines Sachverhalts anzuerkennen und dabei auf eine alternative persönliche

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Wahrheit zu bestehen (Stichweh 2003: 211). 34 Eine weitere Voraussetzung flir wissenschaftliche Inklusionen ist die Offenheit der Wissenschaft, d. h. dass das wissenschaftliche Wissen nicht geheim, sondern prinzipiell für jedermann zugänglich ist. 35 Die Möglichkeit sozialer Inklusion in die Wissenschaft leitet sich, so Stichweh, durch diese beiden Charakteristika der Wissenschaft ab: »Social inclusion into science derives from universality and openness. If science can claim universality in the sense ofpresupposing validity ofits truth claims for any individual whosoever in the world, then it follows with a certain consequence that access to theseuniversal truths should not be denied to any one of those individuals for whom these truths are supposed tobe valid on the first hand. And if openness is the only standard acceptable in dealing with scientific lmowledge this openness should be realized for a public ofmaximum social extension.« (Stichweh 2003: 2 12)

Das Medium der Kommunikation, das eine solche umfassende Inklusion möglich machen soll, nennt Stichweh Popularisierung. Wie schon im Kontext von Stähelis Skizze einer Theorie des Populären deutlich wurde, versteht auch Stichweh die Wissenschaftspopularisierung als wissenschaftsimmanente Notwendigkeit. In Anlehnung an Ludwik Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache von 1935, betont er, dass Popularisierung elementar flir die Wissenschaftskommunikation ist. Dabei unterscheidet Stichweh zwischen vier verschiedenen Modi der Popularisierung: Erstens, die interdisziplinäre Popularisierung, die die Kommunikation zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen oder auch zwischen verschiedenen Forschungsfeldern innerhalb einer Disziplin umfasst. Zweitens, die pädagogische Popularisierung, die in Schule und Ausbildung zum Zuge kommt. Drittens, die politische Popularisierung, die sich an Institutionen richtet, die Ressourcen fllr die Wissenschaft bereit stellen. Viertens, und das ist der Modus zu dem die populären Wissenschaftsfilme zugerechnet werden müssen, die allgemeine Popularisierung, die in der Regel über Massenmedien verläuft. Dieser Modus hat die Eigenschaft, dass er die

34 Eben diesen universellen Wahrheitsanspruch kritisiert Feyerabend als eine antidemokratische Ideologie (Feyerabend 1980: 11 3ft). 35 Stichweh betont, dass diese Offenheit eine Differenz zwischen wissenschaftlichem und technischem Wissen markiert, das häufig geheim gehalten wird.

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lnklusionsentscheidung dem oder der Einzelnen überlässt, und dass potentiell jeder und jede inkludiert werden kann (Stichweh 2003 : 213f). Wer auf diese Art in die Wissenschaft inkludiert wird, muss weder eine wissenschaftlichen Anschlusskommunikationen vollziehen, noch zur materiellen Reproduktion des Wissenschaftssystems beitragen. Die Legitimität dieser Inklusion in die Wissenschaft ergibt sich ausschließlich aus den Ansprüchen von Universalität und Offenheit der Wissenschaft. Dies ist aus Sicht einer Theorie funktionaler Differenzierung ungewöhnlich. Wie Stichweh jedoch an anderer Stelle darlegt, verfügt die Wissenschaft über einen eigenen Typus der lnldusion. Dieser unterscheidet sich von der Politik oder der Wirtschaft dadurch, dass sie »keine institutionellen Formen der Rückäußerung des Publikums oder der Beobachtung von Publikumsreaktionen durch die Wissenschaft« aufweist. Zudem kann man eine Art »sekundärer Professionalisierung« der Wissenschaft beobachten, die außerakademische wissenschaftliche Berufe erzeugt, ohne dass dabei ein universalisierter Klientenstatus entstehen würde (Stichweh 2005: 28f). 36 Auch Peter Fuchs definiert Inklusion nicht ausschließlich im Sinne erfolgter und erfolgreicher Anschlusskommunikation, sondern betont stattdessen die Selektion bei der sozialen Adressierung von Kommunikation. Eine hinreichende Bedingung daflir, im Bezug auf die Wissenschaftspopularisierung von Inklusion zu sprechen, wäre demnach, dass jemand als Publikum der Wissenschaft angesprochen wird, indem auf den Code wahr/unwahr rekurriert wird (vgl. Fuchs 2003: 28ff). Dass an die in den populären Wissenschaftsfilmen dargestellten Inhalte kommunikativ angeschlossen wird, zeigen sowohl die vielen Schulklassen, die die entsprechenden Filme in IMAX-Kinos oder im Unterricht ansehen und die Webseiten der WissenschaftsabteiJungen von Fernsehsendern, wo zum Beispiel in Foren Auseinandersetzungen mit den Inhalten der Filme stattfinden. Dabei kommt es immer wieder zu Diskussionen, in denen darüber disputiert wird, ob dargestellte Sachverhalte dem aktuellen Stand der Forschung entsprechen. Folgt man Fuchs und Stichweh, wird deutlich, dass die Wissenschaftspopularisierung als eine Form der Inklusion betrachtet werden kann. Die Anschlusskommunikationen, die durch die pädagogische, politische oder

36 Stichweh verweist hier auf Organisationen der Wirtschaft und des technischen Staatsdiensts, die sich mit dem Transfer und Anwendbarkeit wissenschaftlichen Wissens befassen.

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allgemeine Popularisierung ausgelöst werden, stellen sicher keine wissenschaftliche Kommunikationen im engeren Sinne dar, und doch betreffen sie die Reproduktion des Wissenschaftssystems, indem über die Erforschungswürdigkeit von Fragen und Themen qua Förderung entschieden wird oderwie im Sinne des bereits erwähnten boundary work - bestimmte Themen oder Wissenschaftler zur medialen Popularität gelangen, was wiederum Auswirkungen auf die Akquisition von Forschungsgeldern haben kann oder gar die innerwissenschaftliche Reputation fördern kann (vgl. dazu Weingart 2001: 262ft). 37 Mit Bezug auf Wissenschaftspopularisierung bietet es sich daher an, verschiedene Modi der Inklusion zu unterscheiden: Neben einem Modus der wissenschaftlichen Inklusion, der über Anschlusskommunikationen im Sinne von wissenschaftlichen Veröffentlichungen stattfindet, existiert ein Modus populärer Inklusion, der nicht von wissenschaftlichen Veröffentlichungen bestimmt ist, aber dennoch wichtige Ressourcen für die Reproduktion des Wissenschaftssystems bildet oder mit dem Code wahr/unwahr operiert beziehungsweise das Publikum auf diese Weise adressiert.

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DIE GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTSPOPULARI· SIERUNG: DIE WISSENSGESELLSCHAFT

Weingart bringt die Etablierung eines außserwisssenschaftlichen Publikums der Wissenschaft mit der Herausbildung der Wissensgesellschaft in Zusammenhang. Deren Merkmale, so Weingart, führen zu einer »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und einer Vergesellschaftung der Wissenschaft« (Weingart 2001: 18). Im Diskurs um die Wissensgesellschaft wurden seit den 1960er Jahren verschiedene Theorien formuliert, die eine weitgehende Universalisierung der Wissenschaft diagnostizieren. Dazu gehören auch Theorien und Gesellschaftsdiagnosen, die nicht den Begriff der Wissensgesellschaft benutzen, sondern beispielsweise von einer wissenschaft-

37 Weingart bezieht sich auf eine vergleichende Betrachtung von Zitationen und Medienpräsenz und stellt dabei fest, dass sich hier zwei Muster zeigen: Einerseits kann wissenschaftliche Reputation zu einer erhöhten Aufmerksamkeit durch die Medien führen. Andererseits kann die wissenschaftliche Reputation auch aufgrundmedialer Präsenz zunehmen (Wein gart 200 I: 265t).

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lieh-technischen Revolution (Richta et al. 1968), der postindustriellen Gesellschaft (Bell 1985 [1973]) oder auch der Informationsgesellschaft (vgl. dazu Webster 1995) sprechen. 38 Gemeinsamer Nenner ist dabei, dass Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zur Leitvariable gesellschaftlicher Entwicklung geworden ist, dass wissenschaftliches Wissen zu einer unmittelbaren Produktionskraft geworden ist und die Lebenschancen vom jeweiligen Wissen abhängen (Böhme 1997: 54). Zwar wurde die herausragende Rolle des wissenschaftlichen Wissens bereits in Bezug auf die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise von Kar! Marx beziehungsweise der Rationalisierung und bürokratischen Organisation bei Werner Sombart und Max Weber betont, doch wurde dieses Wissen vor allem als Mittel zum Zweck thematisiert (Heidenreich 2003: 29ft). Martin Heidenreich sieht den entscheidenden Unterschied zwischen diesen frühen Analysen und der Debatte um die Wissensgesellschaft seit den 1960er Jahren darin, dass die Wissensbasierung gesellschaftlicher Entwicklung nun nicht mehr auf die Organisationen, sondem auf die wissenschaftlichen Tätigkeiten zurückgeführt wird. Heidenreich fasst das Verständnis von der Wissensgesellschaft in den 1960er und 1970er Jahren folgendermaßen zusammen: Die Wissensgesellschaft zeichnet sich durch eine Zunahme von Forschungsaktivitäten aus, die die Grundlage einer Verwissenschaftlichung ganzer Industriezweige bilden; dmch eine Zunahme des tertiären Sektors; und dadurch, dass professionalisierte, akademische Wissensarbeiter die Berufsstruktur bestimmen (Heidenreich 2003: 34ft). »Die Wissensgesellschaft der 60er und 70er Jahre wurde also als verwissenschaftlichte, dienstleistungszentrierte, akademisierte Gesellschaft konzipiert. Sie setzte sich ab von einer Industriegesellschaft, die dnrch den zentralen Stellenwert des in beruflichen Qualifizierungsprozessen erworbenen Erfahrungswissens, durch die Dominanz des industriellen Sektors, durch manuelle Tätigkeiten und durch Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit charakterisiert wurde.« (Heidenreich 2003: 36)

Seit Mitte der 1990er Jahre sieht Heidenreich einen weiteren Fokuswechsel im Diskurs um die Wissensgesellschaft Wurde diese in den 1960em und

38 Für einen Überblick über die verschiedenen Theorien der Wissensgesellschaft vgl. z.B. Stehr 1994, Böhme 1997, Heidenreich 2003.

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l970ern noch vor dem Hintergrund des Nationalstaats betrachtet, betont die neueste Diskussion um die Wissensgesellschaft vor dem Hintergrund der sich zunehmend entwickelnden Informations- und Transporttechnologien und der Liberalisierung der Finanzmärkte ihre globale Reichweite. Gerade die ökonomischen Veränderungen, insbesondere die zunehmende Bedeutung der Finanzmärkte, die eine permanente Selektion von Informationen fordern, haben in dieser Debatte einen zentralen Stellenwert. Damit zusammenhängend kommen grenzüberschreitende Organisationen, flexible und auf Dauer gestellte Lernprozesse sowie die Spannung von Regionalisierung und Globalisierung in den Blick der Debatte. Den größten Unterschied zu den früheren Debatten sieht Heidenreich jedoch in der Betonung von Risiken, Ambivalenzen und Paradoxien der sich globalisierenden Wissensgesellschaft (Heidenreich 2003; vgl. auch Bittlingmayer 2001 ). Neben den strukturellen Anforderungen, die die Veränderungen, die unter dem Label der Wissensgesellschaft diskutiert werden, an Organisationen und Institutionen stellen? ergeben sich auch veränderte Anforderungen an die Individuen. Der zentrale Stellenwert, der wissenschaftlichem Wissen, Flexibilität und Innovationen in der Wissensgesellschaft beigemessen wird, verlangt eine Bereitschaft zu einem lebenslangen Lernen. Betont wird hierbei vor allem die Bedeutung von nicht-formalen und informellen Lernprozessen. Nicht-formales Lernen bezeichnet dabei Bildungsvorgänge jenseits der tradierten Bildungsinstitutionen, wie z. B. am Arbeitsplatz oder in der Freizeit, und informelles Lernen bezeichnet ein in den Alltag eingebettetes Lernen, das weder einem vorgefasstem Ziel folgt noch explizierbar sein muss. Der Imperativ des lebenslangen Lernens, der die Wissensgesellschaft begleitet, entgrenzt die Bereiche von Ausbildung, Erwerb und Freizeit zugunsten eines flexibilisierten, endlosen und zum Teil unbestimmbaren Lernprozesses, der zur wissensgesellschaftlichen lnklusionsvoraussetzung erhoben wird40 (vgl. Tuschling 2004: 153f). Anna Tuschling betont, dass die Abrufbarkeit des Wissens dabei zweitrangig ist, da dieses in der medientechnisch induzierten Inflation von Informationen ohnehin schnell veraltet. Umso wichtiger ist dabei die Herausbildung kognitiver Kompetenzen, die entsprechende Selektionen ermöglichen. Lebenslanges Lernen ist damit einerseits eine ökonomische Ressource und andererseits ist damit ein Sub-

39 Vgl. dazu z. B. Heidenreich 2003, Wilke 1998, Weick/Westley 1996. 40 Vgl. dazu z. B. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000.

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jekt impliziert, das flexibel seine Selbststeuerungs- und Selbstorganisationspotentiale ausschöpft (Tuschling 2004: 155ft). Auch Rudolf Stichweh, der den Begriff Wissensgesellschaft als eine der legitimen Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft betrachtet, sieht eine zunehmende Inklusivität von Wissen in der Wissensgesellschaft, die mit einer sozialen Universalisierung von Wissen zusammenhängt. Die Wissensgesellschaft zeichnet sich nach Stichweh dadurch aus, dass viel mehr Personen Wissen zugemutet wird, der Erwerb von Wissen nicht auf begrenzte Phasen des Lebenslaufs beschränkt ist und nichtwissenschaftliche Wissensformen aufgewertet werden (Stichweh 2004: 150t). Gerade der letzte Punkt bringt uns zurück zum Thema der Wissenschaftspopularisierung, da alternative Wissensformen den wissenschaftlichen Anspruch auf soziale Universalität wissenschaftlichen Wissens herausfordert. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass sowohl der Bodmer Report als auch die bundesdeutsche Initiative zur Wissenschaftsvermittlung alternativen Wissensformen entgegentreten möchten. Die Wissensgesellschaft produziert neben der innerwissenschaftlichen Notwendigkeit einen außerwissenschaftlichen Druck zur Popularisierung, der sich nicht auf Fragen politischer oder ökonomischer Legitimation reduzieren lässt, sondern den universalen Wahrheitsanspruch der Wissenschaft betrifft. Es geht in einer Situation, in der Wissen zur Voraussetzung sozialer Inklusion aufgewertet wird, also darum, welches Wissen legitimerweise als inldusives Wissen gelten kann.

1.6

WISSENSCHAFTSVERMITTLUNG DURCH POPULÄRE WISSENSCHAFTSFILME

Vor dem Hintergrund der Diskurse über die Wissenschaftspopularisierung, der Wissensgesellschaft und der skizzierten Theorie des Populären lässt sich die Rolle von Filmen im Kontext der Wissenschaftsvermittlung fürs Erste näher bestimmen. Wie beschrieben ist die Wissenschaft einem doppelten Popularisierungsdruck ausgesetzt. Einerseits verlangt die Erweiterung und Definition der partikularen Universalität des Wissenschaftssystems die Adressierung eines potentiellen Inklusionspublikums. Wissenschaftspopularisierung dient damit zur Definition von Inklusionsbedingungen und Grenzen der Wissenschaft (boundary work). Die Wissensgesell-

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schaft verstärkt den Popularisierungsdruck zusätzlich. Da nicht nur das wissenschaftliche Wissen für immer weitere Bereiche der Gesellschaft zu einem unabdingbaren Bestandteil wird, sondern auch zunehmend alternative Wissensformen erweiterte Ansprüche anmelden, fordert die Wissensgesellschaft den Anspruch der Wissenschaft auf thematischer und sozialer Universalität des wissenschaftlichen Wissens heraus. Beide Faktoren machen die Popularisierung von Wissenschaft für die Wissenschaft selbst unerlässlich. Im Sinne von Stichwehs Differenzierung verschiedener Popularisierungsmodi gehört die Wissenschaftsvermittlung durch populäre Wissenschaftsfilme zum Modus der allgemeinen Popularisierung - ein Modus, über den prinzipiell jeder und jede inkludiert werden kann. Stähelis Theorie des Populären macht allerdings deutlich, dass wie bei jeder Popularisierung auch hier ein spezifisches Publikum adressiert und dadurch generiert wird. Im Gegensatz zu dem in den Diskursen über die Wissenschaftsvermittlung unscharfen aber gängigen Topos der Öffentlichkeit wird das Populäre der Popularisierung von Stäheli als ein Ort redefiniert, an dem ein potentielles Publikum der Wissenschaft entworfen wird. Im Falle der populären Wissenschaftsfilme rekrutiert sich dieses potentielle Publikum aus den Zuschauern der Filme. 41 Bezüglich der kommunikativen Form der Wissenschaftspoplarisierung ergibt sich beim Film eine spezielle Problemlage. Wie Stäheli erläutert, erzeugt das Populäre immer auch eine paradoxe Situation, da ein Funktionssystem versuchen muss, sich mit systemfremden Mitteln zu repräsentieren. Da Kommunikation innerhalb der Naturwissenschaften jedoch zu einem überwiegenden Teil mit Bildern operiert (vgl. Knorr Cetina 200 l , Heßler 2006), gestaltet sich das populäre Paradox der Selbstrepräsentation in einem audiovisuellen Medium wie dem Film auf eine spezifische Weise. Populäre Wissenschaftsfilme benutzen für die Popularisierung von Wissenschaft Bilder, die auch für Kommunikation innerhalb der Wissenschaft zum

41 ln Zahlen ausgedrückt, waren das fur die Erstausstrahlung von DAs

W uNDERW ERK

MENSCH im Oktober 1998 1,01 Millionen Zuschauer, von denen 0,69 Millionen zur Altersgruppe von 14-49 Jahren gehörten. Von diesen gaben wiederum 0,36 Millionen Zuschauer an, dass sie die Volksschule besucht und eine Lehre haben, 0,19 Millionen Zuschauer gaben an, das Abitur gemacht und anschließend eine Hochschule oder die Universität besucht zu haben. Ich danke der VOX Medienforschung fur die Bereitstellung der Zahlen.

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Einsatz kommen. Allerdings werden diese Bilder rekontextualisiert, um deren Konnektivität zu erhöhen. Dadurch ergibt sich die Situation, dass Filme semantische Mittel zur Beschreibung der Wissenschaft zum Teil aus der Wissenschaft übernehmen und nicht, wie das beispielsweise bei populären Darstellungen der Finanzökonomie der Fall ist, diese erst erfinden müssen, um diese überhaupt erst sichtbar machen zu können (siehe dazu Verdicchio 2006, StäheliNerdicchio 2006). Da die Naturwissenschaften ihre Objekte selbst schon visualisieren, müssen die Filme dies nicht unbedingt ein zweites Mal tun. Allerdings müssen die naturwissenschaftlichen Yisualisierungen in Narrative übersetzt werden, die in den lebensweltlichen Kontexten der Zuschauer anschlussfähig sind. Die Bilder der Wissenschaft, die in den populären Wissenschaftsfilmen eingesetzt werden, sind damit als immutable mobiles im Sinne von Bruno Latour (1987: 227f; 1990; 2000: 375f) beschreibbar. lmmutable mobiles, oder auch Stabil-Mobile (Warnke 2002: 20f), sind wissenschaftliche Inskriptionen (Bilder, Diagramme, Tabellen usw.), die in verschiedenen Medien und Kontexten zirkulieren können und so sowohl innerhalb als auch außerhalb des Labors oder Feldes, in dem die jeweilige Inskription erzeugt wurde, einsetzbar sind und damit neue Übersetzungen ermöglichen. Als Haupteigenschaften dieser immutable mobiles nennt Latour, dass sie unveränderlich, vorzeigbar, lesbar, kombinierbar und mobil sind (Latour 1990). Filme sind aufgrund ihrer medialen Eigenschaften für Herstellung von hyperkonnektiven und affektiven semantischen Formen offenbar besonders geeignet. Sie sind per Definition immer schon polysem und verfügen über ein großes und erprobtes Repertoire spektakulärer inszenatorischer Mittel. Dennoch stellt sich die Frage, wie die Bilder der Wissenschaft im Medium Film aufbereitet werden, damit sie für wissenschaftliche Laien verständlich werden. Denn nur so kann der populäre Wissenschaftsfilm seiner doppelten inklusiven Aufgabe gerecht werden und die Zuschauer als potentielles Publikum sowohl der Wissenschaft als auch der Wissensgesellschaft adressieren. Um auf diese Fragen einzugehen, werde ich im Folgenden auf den Film als Medium der Wissenschaftspopularisierung eingehen.

2. Das Medium des populären Wissenschaftsfilms Soziologische Theorien und Untersuchungen, die den Film als Medium thematisieren, sehen in der Regel von den konkreten Inhalten ab und unterstellen generalisierbare Funktionen (siehe z.B. Luhmann 1996) oder Effekte (siehe z.B. Horkheimer/Adomo 1997, Adomo 1997, vgl. dazu Waldman 1977). Solchen Ansätzen, die die Inhalte der medialen Kommunikation außer acht lassen, stehen andere gegenüber, die wiederum die Medialität des Films ignorieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist der bereits erwähnte Text von Harry Collins (1987). Neben der Auseinandersetzung mit dem Bodmer Report analysiert Collins zwei Femsehberichte: einen über eine Entdeckung im physikalischen Forschungszentrum CERNundeinen Bericht über Versuche, die Spuren auf dem Turiner Leichentuch als Jesus Christus' Gesichtszüge zu verifizieren. Collins ignoriert die audiovisuellen Eigenschaften des Filmischen und betrachtet die beiden Fernsehsendungen in Anlehnung an die Cultural Studies als seien sie Texte. So kommt er zu dem Schluss, dass das wissenschaftliche Wissen, welches Filme vermitteln, in der Regel als indiskutables, gesichertes Wissen dargestellt wird und fügtetwas befremdet hinzu, dass populäre Wissenschaftsfilme in Zweifelsfällen bisweilen selbst den Anspruch erheben, Wissen zu generieren (Collins 1987). Während er selbst den Umstand, dass er keine Zuschauerstudie durchgeführt hat und nicht die Produktion der Sendungen adäquat thematisieren kann, als ein Manko seiner Analyse bezeichnet, entgeht ihm, dass er die Medialität des Films außer acht lässt. 42 Was Collins, aber nicht nur er,

42 Collins Bekenntnis zu den scheinbaren lnsuffizienzen seines Textes zeugt von einer Ahnung davon, dass Filme und Texte nicht einfach gleichzusetzen sind.

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dabei übersieht, ist, dass mediale Spezifika für die Produktion von Sinn entscheidend sind. indem Collins die Visualität des Filmischen ignoriert, entgeht ihm sowohl die visuelle Evidenz der filmischen Bilder als auch die Herkunft des Films als Medium wissenschaftlicher Visualisierung- beides Aspekte, die sein Erstaunen über den Anspruch der Wissensgenerierung im Fernsehen hätten mildem können. Ein weiteres Beispiel findet sich bei Norman Denzin, der in Images of Postmodern Society (1991) Filme als konstituierende Selbstbeschreibungen einer postmodernen Identität betrachtet. Zwar geht er davon aus, dass in der >Postmoderne< visuelle Diskurse eine » Videozität« (»videocy«) produzieren, die die Sprache im Sinne gesprochener und gedruckter Sprache (»literacy«) ablöst (ebd.: 8), doch bleibt dieses Visuelle bei seinen exemplarischen Filmanalysen merkwürdigerweise abwesend. Im Folgenden werde ich einen medientheoretischen Rahmen für eine soziologische Thematisierung populärer Wissenschaftsfilme darlegen. Dabei soll besonderer Wert auf die medialen und technischen Eigenschaften des Films gelegt werden, die es erlauben, das Charakteristische der filmischen Wissenschaftspopularisierung herauszuarbeiten. Eine Herausforderung für die soziologische Analyse von Filmen ergibt sich, wenn man Filme nicht nur als ein Vehikel zum Transport von Botschaften betrachtet, sondern die medialen Eigenschaften des Films berücksichtigt. Denn dann muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass ein Medium lediglich einen durch den oder die Autoren intendierten Sinngehalt transportiert. Stattdessen gilt es anzuerkennen, dass Medien Sinn überhaupt erst produzieren. Damit soll nicht behauptet werden, dass der Sinn im Film immer schon vom Medium determiniert sei oder das Medium immer nur sich selbst als Botschaft transportiere, sondern dass das Vermittelte vom Medium geformt wird. Sybille Krämer betont, dass die Annahme, Medien seien nicht nur die Überbringer, sondern auch die Erzeuger von Sinn, »quer zu unseren alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit Medien« liegt, da die Medien selbst bei der Rezeption der Botschaften übersehen werden. »Medien«, so Krämer, »bleiben der blinde Fleck im Mediengebrauch« (Krämer 1998: 74). Krämer schlägt vor, die Materialität des Medialen als Spur zu

Wobei niemand den Interpreten von wissenschaftlichen oder literarischen Texten vorwerfen würde, er oder sie hätten keine Rezeptionsstudie durchgefuhrt oder die Produktion der Texte nicht genau betrachtet.

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betrachten, die einen Überschuss an Sinn produziert und die konventionalisierte Semantik intendierter Bedeutungen übersteigt (ebd.: 78f). Diese Spur des Medialen bestimmt sie als »prädiskursives« und »vorsemantisches Phänomen« (ebd.: 79) und zieht eine Analogie zum Unbewussten bei Freud: »Das Medium verhält sich zur Botschaft, wie die unbeabsichtigte Spur sich zum absichtsvoll gebrauchten Zeichen verhält, wie also -jedenfalls im Sprachspiel Freuds - das Unbewusste in einem Verhältnis steht zu dem, was dem Bewusstsein zugänglich ist.« (Krämer 1998: 81)

Das Verhältnis von Medien als Spuren und der Bedeutung von Zeichen denkt Krämer in Analogie zum Verhältnis von Unbewusstem und Bewusstsein. Medien ermöglichen und »prägen« Inhalte und Semantiken, bleiben dabei jedoch selbst im Verborgenen. Um das Spezifische und Verbindende von technischen Medien zu beschreiben, unterscheidet Krämer zwischen Technik als Instrument (im Sinne von Werkzeug, Hilfsmittel) und Technik als Apparat (im Sinne von Zubereiter, Hersteller), ohne jedoch diese Unterscheidung als ontologische Differenz verstanden wissen zu wollen, die eine Sortierung technischer Artefakte in zwei Gruppen erlaubt. Vielmehr geht es dabei um zwei Aspekte von Technik, die in verschiedenen technischen Artefakten unterschiedlich stark zum Tragen kommen. Medien sind, so Krämer, als technische Instrumente nur unzureichend beschrieben. Während technische Instrumente der Leistungssteigerung dienen, sind Medien als Apparate in dem Sinne produktiv, als dass sie etwas herstellen: »Apparate [.. ] effektivieren nicht einfach das, was Menschen auch ohne Apparate schon tun, sondern erschließen etwas, für das es im menschlichen Tun kein Vorbild gibt - und das an diesem Tun vielleicht auch gar keinen Maßstab findet. Die Technik als Werkzeug erspart Arbeit; die Technik als Apparat aber bringt künstliche Welten hervor, sie eröffnet Erfahrungen und ermöglicht Verfahren, die es ohne Apparaturen nicht etwa abgeschwächt, sondern überhaupt nicht gibt. Nicht Leistungssteigerung, sondern Welterzeugung ist der produktive Sinn von Medientechnologien.« (ebd.: 84f)

Betrachtet man das filmische Medium dergestalt als produktiven Apparat, so wird plausibel, dass dieses nicht einfach nur Botschaften - im Sinne identischer Verdoppelungen der Originale - transportiert, sondern eine spe-

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zifische Konfiguration der Welt und damit einen Sinnhorizont überhaupt erst generiert. Die von Krämer vorgeschlagene Perspektive auf technische Medien birgt zwei Konsequenzen: Die erste Konsequenz betrifft eine VerabschiedW1g eines anthropomorphen Technikmodells. Krämer verweist darauf, dass in der Regel von einer funktionellen Übereinstimmung von Mensch und Technik ausgegangen wird, die Technik in Gehlenscher Manier als prothetische Entlastung W1d Verstärkung des Menschen thematisiert.43 Ein Ergebnis dieses Schemas sei, dass Technik vertraut und gewöhnlich wirke und das Fremdartige, Unvertraute der Technik getilgt wird (ebd. : 85). Ob das anthropomorphe Schema der Technik noch immer so dominant ist, wie Krämer behauptet, kann man zwar bezweifeln, aber es spricht einiges dafür, dass Technik noch immer als anthropomorph aufgefasst oder beschrieben wird. So rekurriert zum Beispiel auch die AkteurNetzwerk-Theorie in ihren Beschreibungen häufig auf Semantiken des anthropomorphen Technikschemas, so wie beispielsweise Bruno Latour, wenn er von »streikenden Türschließern« spricht (Latour 1996). Die zweite Konsequenz betrifft das Denken des Mediums. Wenn man das technische Medium als produktive Apparatur denkt, verliert es den Charakter eines Kommunikationskanals, der als neutraler, transparenter Vermittler fungiert. Vielmehr schaltet sich das Medium als Drittes - als Bote, Übersetzer, Hermes - in die Kommunikation ein. Michel Serres (1987) unterscheidet zwischen drei Kommunikationssystemen. Das erste beschreibt er im Sinne der Leibnizschen Vorstellung von den Monaden. In diesem KommW1ikationssystem ist Gott der allwissende und allmächtige Mittler, die Monaden kommunizieren allesamt mit Gott- und nur mit Gott. Die KommW1ikation verläuft hier störungsfrei, denn wo Gott selbst vermittelt, gibt es kein Rauschen. Das zweite Kommunikationssystem benennt Senes nach Hermes, dem betrügerischen und redegewandten Götterboten der griechischen Mythologie. Hermes ist der Übersetzer, der den Engpass zwischen Sender und Empfänger besetzt und für Störungen und Rauschen verantwortlich ist. Das dritte System ist Pfingsten, benannt nach dem Biblischen PfingstwW1der, das die babylonische Sprachverwirrung aufhob, indem es möglich wurde alle Sprachen zu sprechen und zu verstehen (siehe Die Bibel, Apg 2). Pfingsten bezeichnet eine Utopie der Kommunikation,

43 Vgl. dazu z.B. Gehlen 1964. Zur Kritik am Gehlensehen Konzepts des Menschen als Mängelwesen, siehe auch Popitz 1989: 43ff.

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in dem alle Elemente eines Kommunikationsnetzes miteinander in Beziehung treten, ohne auf Vermittlung - d.h. ein Medium - angewiesen zu sein (Serres 1987: 66ft). Das Prinzip der pfingstlichen Kommunikation entspricht den Kommunikationsmodellen, die die Materialität des Medialen ignorieren und das Medium nur als einen Kanal auffassen, durch den verlustfrei kommuniziert werden kann. Das Pfingstwunder wurde durch den Heiligen Geist ermöglicht und Geister - ob nun heilig oder nicht - sind bekanntlich immateriell. Hermes beziehungsweise das Medium ist als Bote, Übersetzer und Parasit das konstitutive, dritte Element jeder irdischen Kommunikation und damit verantwortlich ftir deren Gelingen und deren Störung. Als Übersetzer ist Hermes aber auch derjenige, der die Botschaft verzerrt und falsch wiedergibt: »Die häufigste und am wenigsten gravierende, weil naive und am leichtesten durchsehaubare Täuschung betrifft nur den Inhalt der Botschaften; die Täuschung, um die es hier geht, ist unsichtbar und perverser, denn sie verändert und verzerrt den Kanal. Weil der Vertreter oder Delegierte diesen Kommunikationsweg kontrolliert, lügt er besser als der Lügner und täuscht wirksamer als der Betrüger, wenn er sich die Macht und das Ansehen seines Auftraggebers aneignet. Außerdem bleibt er unsichtbar, denn er tritt nur insofern in Erscheinung, als er für einen Anderen spricht.« (Serres 1996: 10 I)

Nach John Law (1999) und Michel Callon (1986) istjede Übersetzung immer ein Akt der Transformation, der die zu übersetzende Botschaft verändert. Daher könne jede Übersetzung auch als eine Art von Betrug oder Verrat an der ursprünglichen Botschaft betrachtet werden (vgl. dazu auch Brown 2002: 6f). Wie Serres erläutert, bedeutet dies jedoch nicht unbedingt eine vorsätzliche Veränderung des Inhalts. Die Fälschung der Botschaft kann, aber muss nicht auf V arsatz beruhen, sondern ergibt sich zwangsläufig aus den medialen Eigenschaften. Das Medium im Sinne eines Übersetzers oder Vermittlers ist der Kommunikationskanal, der der Botschaft die ihm eigenen Störungen (Rauschen), Verzerrungen und Spezifika mitgibt. Wie Sybille Krämer so betont auch Serres, dass das Medium selbst nicht sichtbar wird, aber nichtsdestotrotz der Botschaft ihren Stempel aufdrückt. Fasst man das Medium mit Serres und Krämer als Vermittler und Übersetzer auf, dessen Materialität Spuren hinterlässt, so hat das Konsequenzen

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für die soziologische Beschäftigung mit Medien, da eine klare Differenzierung von Medium und Inhalt sowie eine gesonderte Analyse beider Aspekte der Kommunikation nicht mehr möglich ist. Jede Artikulation eines Mediums muss damit vor dem Hintergrund seiner medialen Eigenschaften und der Prinzipien seiner Artikulationen betrachtet werden. In Bezug auf die hier behandelten populären Wissenschaftsfilme bedeutet das, dass diese nicht wie Texte interpretiert werden können, sondern dass man die Visualität des Filmischen berücksichtigen muss. Gerade aber der nicht auf sprachliche Aussagen reduzierbare Aspekt des Visuellen bedingt notwendigerweise ein Scheitern einer Sozialwissenschaft, die es sich zur Aufgabe macht, eindeutige und objektive Bedeutungen zu identifizieren. Für meine Beschäftigung mit den populären Wissenschaftsfilmen gehe ich davon aus, dass die Entwicklung der modernen Wissenschaft mit einem Dispositiv in Zusammenhang gebracht werden kann, das die Produktion eines spezifischen Wissens verlangt und dessen Objektivität durch bestimmte Formen der Sichtbarkeit gesichert wird. Als paradigmatisch für diese moderne Form der Wissensgenerierung können sowohl das Labor als auch der Film betrachtet werden. Im Folgenden werde ich zeigen, dass Labor und Film als analoge Technologien der Generierung und Repräsentation moderner Formen von Wissen, Sichtbarkeiten und Ordnungen betrachtet werden können. Dabei werde ich die produktiv-signifikatarischen Eigenschaften der visuellen Repräsentation wissenschaftlicher Objekte thematisieren. Hierbei liegt das Augenmerk darauf, dass auch oder gerade bei der popularisierenden Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Film, dieses Medium seine produktiven Merkmale nicht verliert. Der Film vollzieht also keine Wiederholung des wissenschaftlichen Wissens im Sinne einer identischen Verdoppelung oder Spiegelung, sondern muss als erneute oder verschobene Konfiguration von Wissen gefasst werden.

2.1

KINEMATOGRAFISCHES WISSEN

»Ein Film ist schwer zu erklären, weil er leicht zu verstehen ist.« Dieser paradoxe Sachverhalt, den Christian Metz in seiner Semiologie des Films (1972) so trefflich pointiert, wird jedem begegnen, der versucht über einen Film zu schreiben. Und dies nicht nur, weil im Film Signifikant und Signifikat nahezu identisch sind, so dass er nicht über ein ihm vorgängiges Sys-

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tem von Zeichen zu erklären ist (Metz 1972: 51-150). Wie andere soziale Phänomene auch sind Filme in ihrer Totalität nicht zu erfassen. Selbst wenn es mit viel Fleiß und Mühe gelingen würde, alle Denotationen eines Films aufzulisten, bliebe die Summe der Konnotationen noch immer unfassbar. Daraus lässt sich folgern, dass jede Konstatierung einer Ordnung eines Films und deren Bezüge zu Kultur und Gesellschaft, in denen er produziert und rezipiert wird, immer nur fragmentarisch, vorläufig und standpunktabhängig sein kann. Weit davon entfernt, damit die Beliebigkeit von Filmanalysen und Interpretationen zu behaupten, verweist diese Feststellung auf die multiple Verwobenheit des Films als Institution, Produkt, Technologie und Medium der Repräsentation in und mit unserer Gesellschaft, Kultur und Politik. Dieser Konnex bezieht sich auch auf die Ebene der Filmbilder. Um dies deutlich zu machen, müssen bei der Analyse eines Films neben dem Inhalt auch die Struktur des Mediums und die Prinzipien seiner Artikulationen berücksichtigt werden. Dies gilt selbstverständlich auch für Filme, die wissenschaftliche Inhalte repräsentieren. Für meine Analyse der wissenschaftlichen Filme werde ich den Film als strukturiertes und strukturierendes Element der Moderne begreifen. Das heißt, dass der Film als eine Technologie verstanden wird, die in Verbindung mit der Entwicklung spezifisch moderner Formen von Sichtbarkeit, Wissen und Subjektivität steht und sich dies auch heute noch in wissenschaftspopularisierenden Filmen zeigt. Denn lange bevor der Film zu einem der einträglichsten Produkte der Unterhaltungsindustrie wurde, entwickelte er sich als eine technische und soziale Apparatur zur Ausdehnung und Intensivierung der Felder des Sichtbaren und Darstellbaren. Damit ist der Film nicht von der Entwicklung eines anderen wesentlichen Moments der Modeme zu trennen: den Wissenschaften und den Versuchen, diese von allen subjektiven Kontaminationen zu reinigen. Wie Edgar Morin (1958: 9f) anmerkt, bekommt das Adjektiv >objektiv< im 19. Jahrhundert ein derart großes Gewicht, dass es zum Substantiv - zum Objektiv - wird. Der Kinematograf und seine Vorgänger, wie beispielsweise der Chronofotograf oder das Zoopraxiskop, entsprangen einem Bedürfnis nach Dekomposition von Bewegungen und der Reproduktion des Sichtbaren. So waren die ersten protokinematografischen Aufnahmen von Eadweard Muybridge (1830-1904) und Etienne Jules Marey (1830-1904), den >Gründungsvätern< der Kinematografie, Bilder von sich bewegenden Körpern, die die Mechanik der körperlichen Bewegung sichtbar machten. Linda Williams benennt

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vier Faktoren, die bei diesem >proto-kinematographischen Willen zum Wissen< zusammen wirkten: Die Tendenz, den Körper als Mechanismus zu begreifen; die Zweifel an der Fähigkeit des menschlichen Auges, diese Mechanik genau beobachten zu können; die Konstruktion von Apparaten, die dazu besser geeignet waren; und schließlich die Lust am Anblick von Aufnahmen sich bewegender Körper (Williams 1995a: 71 ). Die Struktur des kinematografischen Wissens, das populäre Wissenschaftsfilme repräsentieren, so die These, die ich im folgenden darlegen werde, entspricht in seiner Beschaffenheit dem Wissen, wie es im Labor erzeugt wird. Und dies nicht nur metaphorisch oder analogisch. Vielmehr in Form einer sozio-technischen Struktur, die ein Dispositiv in der Moderne bildet. Anders ausgedrückt: Film und Labor sind paradigmatisch und konstitutiv für die Konfiguration des Wissens in der Modeme und dessen Implikationen ftir die Ordnungen des Sozialen. Dies spielt für die Untersuchung der Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen insofern eine entscheidende Rolle, als dass der Film nicht als ein bloßer Mediator zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit betrachtet werden kann, sondern die medialen Bedingungen in den Blick genommen werden müssen, unter denen das Populäre der Wissenschaft hergestellt wird. Verdeutlichen kann man die Generierung neuen Wissens zum Beispiel anhand eines gefilmten Follikelsprungs im zweiten Teil von DAs WUNDERWERK MENSCH. Da es, wie in DAs WuNDERWERK M ENSCH betont wird, bislang noch keine fototechnischen Repräsentationen dieses Vorgangs gab und der Prozess der Ovulation auch sonst nicht zu sehen ist, rufen diese Bilder beim ersten Betrachten weder Effekte des Wiedererkennens hervor, noch illustrieren sie einfach wissenschaftliche Erkenntnisse. Wer die Aufnahmen gesehen hat, weiß wie es aussieht, wenn einmal im Monat an einem Ovar etwas geschieht, das die Offstimme des Films als das Öffnen einer »Wunde« beschreibt. Die hier vorgeschlagene Betrachtungsweise bedarf der Erläuterung einiger Grundlagen. Bevor erörtert werden kann, wie Film und Labor zusammen gedacht werden können, muss zunächst die Unterscheidung von fiktionalen und dokumentarischen Filmen problematisiert werden.

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2.2

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FIKTIONALITÄT DES FILMS, DOKUMENTARISIERENDE LEKTÜRE

Wenn man sich mit der Analyse von populären Wissenschaftsfilmen auseinandersetzt, ergibt sich als erstes das Problem des Verhältnisses von dokumentarischen zu fiktionalen Filmen. Die Versuche, diese Frage über den inhaltlichen Realitätsbezug von Filmen zu beantworten, scheitern bei der Präzisierung der Grenzen zwischen Fiktionalität und Realität der Inhalte, weil auch fiktionale Filme dokumentarische Aspekte zumindest beinhalten können und Dokumentarfilme meist fiktionale Elemente aufweisen (vgl. Kracauer 1985: 269-284, Hohenherger 1988: 26-65, Odin 1990). Wie schwer es mitunter sein kann, zwischen Fiktionalität und Realität filmischer Bilder zu unterscheiden, kann man zum Beispiel an den anfangliehen Realetionen auf die Bilder des Anschlags auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 ablesen. Dass viele Menschen dachten, die Bilder entstammten einem Spielfilm, zeigt nicht nur, dass solche Szenarien in Spielfilmen bereits vorweggenommen wurden, es zeigt auch, dass das filmische Bild keinen Unterschied zwischen der Repräsentation realer und fiktionaler Ereignisse macht. Diese Indifferenz schuldet sich bestimmten Eigenschaften des kinematografischen Signifikanten. In Der imaginäre Signifikant verdeutlicht Christian Metz die Bedingungen der Wahrnehmung von Filmen in Abgrenzung zu anderen Darstellungsformen (Metz 2000: 44ft). Demnach sind die Signifikanten in der Literatur, der Malerei, der Bildhauerei und der Fotografie ausschließlich visuell und besitzen keine Dimensionen von Zeit und Bewegung in dem Sinne, dass sie Veränderung in der Zeit darstellen (vgl. dazu auch Amheim 2004: 161). Dagegen wird der Signifikant der Musik oder der gesprochenen Sprache ausschließlich auditiv wahrgenommen. Der Signifikant des Films, so Metz, scheint gewissermaßen >wahrnehmbarer< als die erwähnten Ausdrucksmittel, weil er sowohl visuell als auch auditiv wahrnehmbar ist und damit die Wahrnehmung auf mehreren Ebenen anspricht. Das ist anders, wenn man den Signifikanten des Films mit dem des Theaters, der Oper oder von Performances vergleicht. Auch hier werden die Sinne sowohl auditiv als auch visuell angesprochen. Zudem spielen auch hier Zeit- und Raumdimensionen eine Rolle. Der Unterschied zum Film besteht jedoch darin, dass das Dargebotene nicht in einem abfotografierten Raum stattfindet, sondern von den involvierten Aktanten, d.h. den Darstellern, Requisi-

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DAS MEDIUM DES POPULÄREN WiSSENSCHAFTSF ILM S

ten, Bühnentechniken usw., in der Gegenwart der Zuschauern produziert wird. Diese Merkmale des filmischen Signifikanten sind unabhängig vom lnhalt. Das auf der Theaterbühne Dargebotene kann fiktional sein oder nicht, auf jeden Fall aber wird die »Handlung von realen Personen [oder Dingen, D.V.] entwickelt, die sich in einem realen Raum und einer realen Zeit at!f demselben >Schauplatz< wie das Publikum befinden« (Metz 2000: 45, Hervorhebung im Original). Der Bildschirm oder die Leinwand ist dagegen ein »anderer Schauplatz«. Was sich hier abspielt kann auch mehr oder weniger fiktional sein und doch ist der Ablauf selbst fiktiv, weil der ganze Signifikant aufgenommen und abwesend ist. Daher, so Metz, ist jeder Film ein fiktionaler Film ( ebd. ). »Das Charakteristische des Kinos besteht nicht im Imaginären, das das Kino eventuell darstellen kann, sondern darin, dass es von Anfang an imaginär ist, wodurch es sich als Signifikant konstituiert (das eine geht nicht ohne das andere: Wenn das Kino sich dazu eignet, das Imaginäre darzustellen, so deshalb, weil es imaginär ist; und dennoch bleibt es imaginär, auch wenn es das Imaginäre nicht mehr darstellt.) Dieser (möglichen) Verdoppelung, auf der die Fiktion beruht, geht im Kino stets eine erste Verdoppelung voraus, die stets schon stattgefunden hat und die den Signifikanten begründet. Das Imaginäre vereinigt in sich per definitionem eine gewisse Anwesenheit und eine gewisse Abwesenheit. Im Kino ist nicht nur das fiktionale Signifikat [... ] durch seine Abwesenheit anwesend, sondern zuallererst der Signifikant selbst.« (Ebd. 45f, Hervorhebung im Original)44

44 Es ist offensichtlich, dass Metz' Theorie, wie übrigens die meisten Filmtheorien, am Kino und nicht am Fernsehen entwickelt wurde. Dies widerspricht jedoch nicht ihrer prinzipiellen Gültigkeit in Bezug auf Filme, die im Fernsehen gesendet werden, insofern die Filme nicht ein typisches Fernsehformat, wie zum Beispiel Talkshows, haben. Einschränkungen sind nur dort zu machen, wo von der typischen Kinosituation (dunkler Raum) ausgegangen wird. Zur Verwirrung können auch sprachliche Differenzen beitragen. So bezieht sich der französische Terminus cim?ma, ebenso wie im italienischen und englischen, sowohl auf das Kino als Ort der Aufführung als auch auf den Film als Institution, Technologie und Produkt. Im Deutschen entsprechen dem die Begriffe >Kinematografi e< und >filmeine höhere ausgleichende Wahrheit< zu erkennen gebe« (zitiert in Freund 1998: 14). Wie Tieck betonen auch andere Novellentheoretiker die Objektivität der Gesetzlichkeit und die Bedingungen des Daseins als zentrale Momente der Novelle. Die Abgrenzung zum Roman wurde dahingehend formuliert, dass im Roman die Möglichkeit der Einflussnahme auf Geschehnisse im Vordergrund steht, während in der Novelle diese Möglichkeit durch die Objektivität der Bedingungen beschränkt werde ( ebd. 12 ft). Dabei geht es beim novellistischen »Bestimmtsein durch das Objektive« (Robert Musil zitiert in Freund 1998: 19) sowohl um die historische und soziale Bestimmtheit als auch um die Natur des Menschen.83 Wenn man versucht, den narrativen Aufbau der hier betrachteten Filme zu beschreiben, liegt der Vergleich mit Giovanni Boccaccios Novellenwerk Das Dekameron aus dem 14. Jahrhundert nahe. Auch im Dekameron gibt es einen Wechsel von Rahmen- und Binnenerzählungen, wobei die Binnenerzählungen den erzählerischen Rahmen bedingen. Das Dekameron, das, wie im Buch angemerkt wird, den Beinamen Der Erzkuppler trägt, versammelt hundert Geschichten, die von einer Rahmenerzählung zusammengehalten werden. In einer Vorrede berichtet der Erzähler vom Anlass des Erzählens. Demnach sei er selbst ein älterer Mann, der sehr unter der Begierde, die eine Liebe bei ihm entfacht habe, gelitten hatte und der nun für den Trost, der ihm entgegen gebracht wurde, sehr dankbar ist. Diese Dankbarkeit ist es, derentwegen er das Dekameron geschrieben habe und es nun den

83 So ist es in Gerhard Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1888) di e »Macht roher Triebe«, die Thiel in die sexuelle Abhängigkeit von seiner zweiten Frau führt und letztlich in den Wahnsinn treibt (vgl. Hauptmann 1970: 6).

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»holden Damen« widmet, damit er etwas von dem empfangenen Trost an sie zurückgeben kann. Den Frauen sei das Buch insbesondere deswegen gewidmet, weil sie im Vergleich zu Männem weniger Möglichkeiten haben, sich von »betrübenden Gedanken abzulenken«. Am Ende der Vorrede expliziert der Erzähler, was die Leserinnen von der Lektüre des Dekameron erwarten können: Er habe »zur Hilfe und Zuflucht der Liebenden [... ] hundert Geschichten, Fabeln, Parabeln oder wirkliche Begebenheiten, wie wir sie nennen wollen, mitzuteilen, die zur verderblichen Zeit der Pest von sieben Damen und drei jungen Männem erzählt wurden. [...] In diesen Geschichten wird man lustige und traurige Liebesmärlein und andere abenteuerliche Begebenheiten kennen lernen, die sich in neuer und alter Zeit zugetragen haben. Aus ihnen werden die Damen, welche sie lesen, gleichermaßen Lust an den spaßhaften Dingen, die darin vorkommen, schöpfen können als auch guten Rat und Belehmng, was zu fliehen und was zu erstreben ist.« (Boccaccio 1999: 9)

Die eigentliche Geschichte beginnt mit dem ersten Tag. Hier wird zuerst einmal die Pest, die im Jahre 1348 in Florenz grassiert, in bunten Farben ausgemalt und dann erzählt, wie sich in der Kirche von Santa Maria Novella sieben Frauen und drei Männer, deren Namen der Erzähler zu deren Schutz nicht nennen mag, darauf einigen, vor der Pest auf das Land zu fliehen. Dort angekommen, erzählen sie sich zum Zeitvertreib reihum täglich zehn sinnlich-frivole Geschichten von Liebesabenteuern, Ehebruch, Diebstahl, Betrug und Rache, bis sie am elften Tag wieder nach Florenz zurückkehren. Da der Erzähler nahe legt, dass die Pest die Strafe Gottes für die Sünden der Menschen sei (Boccaccio 1999: 17), illustrieren die Erzählungen der jungen Leute nun jene Sünden, die den Anlass für Gottes Strafe geben, vor der sie auf das Land flohen und sich mit den Geschichten die Zeit vertreiben (vgl. dazu auch Schlaffer 1993: 21ff). 84

84 Darüber, ob die Pest im Dekameron als Strafe Gottes zu betrachten ist, gibt es geteilte Ansichten. So ist beispielsweise Hans-Jörg Neunschäfer der Ansicht, dass die Pest definitiv nicht den Charakter einer Gottesstrafe hat (Neunschäfer 1969: 131 ). Boccaccio schreibt jedoch, dass sie »entweder durch Einwirkung der Himmelskörper entstanden oder im gerechten Zorn Gottes als Strafe über den Menschen verhängt« wurde (14). Hannelore Schlaffer betont darüber

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Einen vergleichbaren Aufbau findet sich auch in den populären Wissenschaftsfilmen. Die Geschichten aus dem Leben bilden die Rahmenerzählungen, die immer wieder von Erkundungsreisen in und durch den Körper unterbrochen werden. Auf diesen Erkundungsreisen sehen wir Bilder und Erklärungen vom Inneren des Körpers, die zeigen, wie das zustande kommt, was wir in der Rahmengeschichte erzählt bekommen. So erzählt beispielsweise die Rahmenhandlungen des zweiten Teils von DAs WUNDERWERK MENSCH mit dem Titel DIE GEBURT DES LEBENS die Geschichte von Philippa und Jeff Watson aus Bath. Das Paar will ein Kind bekommen, sie wird schwanger und trägt das Kind aus bis es am Ende der Folge geboren wird. Die Binnenerzählungen, die diesen Rahmen immer wieder erläuternd unterbrechen, thematisieren entsprechend Fruchtbarkeit, Befruchtung, die Entwicklung des Kindes im Mutterleib, die Veränderungen von und in Philippa Watsons Körper, die Geburt des Kindes und natürlich die Gefahren der Schwangerschaft. Der Kinderwunsch ist hier Anlass und Ausgangspunkt der Erzählung und entspricht der Pest bei Boccaccio. Das daraus Resultierende (Konzeption, Schwangerschaft und Geburt) korrespondiert mit den Rahmenerzählungen im Dekameron, die die Gesellschaft auf dem Lande beschreibt. Die Fahrten und Simulationen des Inneren der Körper entsprechen in dieser Parallelisierung von Novellenwerk und populärem Wissenschaftsfilm den Binnengeschichten, die die Bedingungen fiir die Gesamterzählung bereitstellen. Ohne Ovarien, ohne Ovulation, ohne die Produktion von Spermien usw.; d.h. ohne die spezifische Art der biologischen Reproduktion der menschlichen Spezies, die in den Binnenerzählungen en detail erläutert werden, fehlte der Anlass für diese Folge, und die Geschichte bräuchte oder könnte so nicht erzählt werden. Ein anderes Beispiel fiir einen solchen Aufbau ist der Film ALCHEMIE DER LIEBE. MEINE HORMONE SIND VERRÜCKT NACH DIR (F 1996), eine Koproduktion von La Sept Arte und Morgane Production. Die Rahmenhandlung dieses populären Wissenschaftsfilms besteht darin, dass sich ein junges Paar in einem Cafe kennen lernt und sich näher kommt; sie verbringen einige Zeit als verliebtes Paar und trennen sich am Ende wieder. Die verschiedenen Etappen dieser kurzen Beziehung werden auf biochemische Prozesse im Körper der beiden Protagonisten bezogen. Wie in DAs WuNDERWERK MENSCH wech-

hinaus, dass die Verwendung des epischen Präteritums »die Erzählungen der zehn Bücher zur Vorgeschichte des Untergangs« macht (Schlaffer 1993: 22).

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selt auch hier die Erzählung zwischen dem Äußeren und dem inneren des Körpers, so dass die gezeigten Episoden der kurzen Liebe durch die hormonellen Prozesse verständlich werden sollen. Diese Struktur wiederholt sich in verschiedenen Variationen, selbst wenn keine konkreten Lebenssituationen den Anlass der Erzählung bilden. Dabei findet auch die Vorrede des Dekameron seine Entsprechung. Die Zuschauer der deutschen Version der Serie DAs WUNDERWERK MENSCH werden von einem Mann begrüßt, der sich als Alex Taylor vorstellt und das Thema der j eweiligen Folge ankündigt. Das ganze Setting erinnert dabei sehr stark an Nachrichten- oder Newssendungen."' Herr Taylor steht an einem Tresen und auf einer Wand hinter ihm sieht man Ausschnitte aus der Sendung. Das Szenario soll ganz offensichtlich seriös wirken und dabei aber doch auch den Zuschauer auf aufregende Neuigkeiten vorbereiten. Dieser Nachrichtengestus findet sich häufig in den betrachteten Filmen. Er impliziert das Abenteuer der Reportage, die an der vordersten wissenschaftlichen Front agiert und Neuigkeiten enthüllt. Ganz im Sinne der oben erwähnten Mobvierung und Involvierung der Zuschauer verspricht Herr Taylor am Anfang der ersten Folge dann auch eine der »spektakulärsten Serien«, deren »Hauptdarsteller wir ganz persönlich kennen: Es ist unser eigener Körper« (DAS WUNDERWERK MENSCH, TEIL 1: WIE WIR WURDEN WAS WIR SIND). Als im Hintergrund die Kamera an einer Reihe nackter Menschen jeden Alters vorüber zieht, betont Taylor, dass »nicht nur nackte Tatsachen« gezeigt werden würden, sondern dass die Serie »unter die Haut« geht und mit »speziellen Minikameras« zeigen wird, was im Inneren der Körper passiert. Den Ankündigungen von Herrn Taylor folgt eine weitere Exposition in Form eines Trailers mit Offstimme. Diese Trailer, auf die weiter unten noch einmal gesondert eingegangen wird, sind immer besonders dramatisch und unterstreichen das Versprechen, dass den Zuschauer etwas ganz Besonderes erwartet, auch visuell.

85 Allerdings kann man nicht umhin, auch an die Persi1-Waschmitte1werbung, die von 1974-1985 im bundesdeutschen Fernsehen zu sehen war, zu denken. Der Journalist Jan-Gert Hagemeyer, der >Persi1-Mann>Es schließt des Dekameron sechster Tag, und es beginnt der siebente, an dem unter Dioneos RegierWlg von den Streichen erzählt wird [ ... ].« Boccaccio 1999: 521 ). Dass die gespielten Szenen in BRAINSEx häufig etwas albern wirken, liegt wohl auch daran, wie das Klientel dieser Sendung eingeschätzt wird. Laut dem von ProSieben ermittelten Zuschauerprofil der Sendung, handelt es sich bei diesen meist um Männer mit einer Affinität zu Online-Aktivitäten, PC- und Handybesitz, Sport usw. 98 Ein solches Publikum, so wohl der Gedanke, findet es auch attraktiv, wissenschaftliches Wissen auf >lockere< Art präsentiert zu bekommen. Der Einsatz der Simulationen und Bilder vom Körperinneren unterscheidet sich nicht wesentlich von dem bei DAs WUNDERWERK MENSCH. Die Kontinuität des Films wird hier allerdings ausschließlich sprachlich gewährleistet. Die Hauptgründe für diesen Unterschied sind sicherlich die Zeit, in der der Film produziert worden ist und das Geld, das in die Produktion des Filmes geflossen ist. Im Unterschied zu populären Wissenschaftsfilmen wie DAs WuNDERWERK MENSCH, deren Produktion sich über mehrere Jahre hinzieht und an deren Finanzierung über den Verkaufvon Senderechten zahlreiche Sendeanstalten beteiligt sind, ist BRAINSEX eine verhältnismäßig billige und schnelle Produktion. Sequenzen, wie sie in DAs WUNDERWERK MENSCH zu sehen sind, in denen man im Zeitraffer das Wachsen der Zähne eines Kindes sieht, bedingen, dass über Monate hinweg immer wieder Aufnahmen des Mundraumes des selben Kindes gemacht werden. Für durchschnittliche Produktionen ist ein solches Vorgehen nicht möglich. Daher kommt es auch häufig vor, dass Aufnahmen vom Körperinneren nicht selbst produziert werden, sondern die Rechte für solche Aufnahmen bei andem Produktionsfirmen wie beispielsweise der BBC eingekauft werden. Während bei der englischen Version von DAs WuNDERWERK MENSCH Sir Robert Winston als >netter Onkel< und wissenschaftliche Autorität durch die einzelnen Sendungen führt, fällt die Aufgabe der Betrachterführung in BRAINsEx, wie bei den meisten anderen Filmen, der Offstimme zu und den Experten bleibt die Aufgabe, den Aussagen das Gewicht ihrer wissenschaftlichen Autorität zu verleihen. Wenn man sich die Aussagen der Experten genauer ansieht, fällt der Kontextwechsel auf, den sie vollziehen.

98 Siehe Fußnote 80.

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Dieser Wechsel bedeutet keinen Bruch, sondern hilft vielmehr die Erzählung voranzutreiben. Der erste Auftritt von Grammer erfolgt, nachdem der Sprecher erläutert hat, dass sich »heutige Forscher nicht mehr« mit poetischen Beschreibungen zufrieden geben und Grammer als Biologe vorgestellt wird, der die natürlichen Gesetze der Liebe enträtseln möchte: »Ja, Liebe ist zunächst einmal etwas, das wir fiihlen und alles was wir fiihlen hat seine Entsprechungen in unserem Gehirn. Es müssen Neurotransmitter abgeschossen werden, es müssen elektrische Ströme laufen - folglich ist Liebe auch fasslich, fassbar und folglich auch untersuchbar. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Natürlich ist Liebe nicht etwas Neues, was wir erfunden haben im Laufe der Romantik, sondern Liebe ist etwas, was es schon immer gibt und Liebe ist die Basis des menschlichen Zusammenlebens.« (Grammer in BRAINsEx)

Grammers Aussage vollzieht hier den vom Sprecher angekündigten Perspektivenwechsel von der poetischen Sprache der Dichtung zur Sprache der Naturwissenschaft. Entgegen den Zitaten antiker Dichter, die das Geheimnis der Liebe besingen, stellt Grammer zuerst einmal klar, dass die Liebe ein materielles Phänomen ist, das mit den Mitteln der Naturwissenschaft untersucht werden kann. Zudem enthistorisiert und universalisiert er das LiebesgefühL Nachdem Grammer die Liebe auf das Tenain der Naturwissenschaften verlagert und ihre Bedeutung für jede menschliche Sozialität betont hat, greift der Sprecher dies auf und spricht von der Liebe als einem evolutionären Programm, das dem Willen der Natur entspräche, möglichst viel Nachwuchs zu produzieren. Wenn man die Gestaltung der Auftritte der drei Expertinnen und Experten in BRAINSEX betrachtet, Hillt als erstes auf, dass der Auftritt von Jütte weniger illuster ist als die Auftritte von Grammer und Fisher. Jütte wird an einem Computer sitzend interviewt. Im Hintergrund sieht man ein Regal und eine Garderobe. Insgesamt wirkt das Setting, in dem Jütte präsentiert wird, weniger drapiert als bei den beiden anderen wissenschaftlichen Experten. Auffallend ist vor allem das Fehlen von Nippes. Während bei Grammer sogar mitten auf der Arbeitsfläche seines Schreibtisch ein Figürchen steht, wirkt die Ausstattung bei Jütte eher funktional. Nur der Bildschirm des Computers wurde so gedreht, dass die Kamera einen guten Blick darauf hat. Leider kann man jedoch nicht erkennen, was der Bildschirn1 zeigt. Die Nüchternheit der visuellen Gestaltung konespondiert mit den Aussagen

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von Jütte. Während die beiden prominenten Wissenschaftler Grammer und Fisher Aussagen über den Menschen und seine Phylogenese im Allgemeinen treffen, stellt Jütte ein konkretes Forschungsprojekt vor. Dementsprechend werden Fisher und Grammer auch nicht in Laboratorien oder im freien Feld interviewt, sondern hinter ihren Schreibtischen. Das auffallendste dekorative Element bei Fisher und Grammer ist der Totenschädel, der bei Jütte fehlt. Der Totenkopf, spätestens seit dem Barode das Symbol für die Sterblichkeit des Menschen und die Vergeblichkeit des menschlichen Strebens, ist ein ClicM, das in den populären Wissenschaftsfilmen immer wieder in Verbindung mit den Wissenschaften vom Menschen auftaucht. In DAs WuNDERWERK MENSCH sieht man Winston durch Katakomben voller in Lumpen gekleideter Skelette gehen. Wie das barocke Memento mori steht der Schädel oder das Skelett auch hier für die Vergänglichkeit des Lebens. Eine über das bloße Zitieren des barocken Memento mori hinaus reichende Semantik des Totenkopfs erschließt sich in der Verbindung mit der ersten Szene im fünften Akt von William Shakespears Harnlet (1603), also der Szene, die das Stück mit dem Totenkopf assoziiert, der auf fast jeder Ankündigung des Stückes zu sehen ist. In dieser Szene geht Harnlet in Begleitung seines Freundes Horatio über den Friedhof, auf dem Totengräber lärmend ihr Geschäft verrichten. Dabei rollen Totenköpfe über den Boden. Beim Anblick dieser Schädel beginnt Harnlet über mögliche Persönlichkeiten der unbekannten Menschen zu spekulieren, von denen diese Schädel stammen. Er malt sich dabei einzelne Charaktereigeusehaften und Schicksale aus und fragt Horatio wiederholt, ob die Beschreibung zutreffen könnten, was dieser bejaht (Shakespeare 1992: 262ft). In dieser berühmten Szene verweist der Schädel einerseits auf die Sterblichkeit des Menschen, andererseits schafft das Bild des Schädels eine Verbindung von Universalität und Individualität des menschlichen Lebens. Ein Schädel, so machen Harnlets Spekulationen klar, könnte potentiell jedem Menschen gehören, weil ein Schädel aussieht wie jeder andere. Zugleich stammt jedoch jeder Schädel von einem konkreten Menschen mit einer individuellen Lebensgeschichte. Betrachtet man den Schädel in diesem Kontext, kann man ihn einerseits als Allegorie für das argumentative Verfahren der Induktion betrachten, bei dem vom Besonderen auf das Allgemeine geschlossen wird. Oder aber man kann den Schädel auch als Sinnbild für das narrative Vorgehen der hier besprochenen populären Wissenschaftsfilme begreifen, die anhand von individuellen Beispielen die universelle Beschaf-

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fenheit des Menschen thematisieren. Das Beispiel des Schädels verdeutlicht, dass nicht nur die Interviewaussagen der Experten in den Filmen erweiterte oder verschobene Kontexte eröffuen, sondern auch die visuelle Inszenierung der wissenschaftlichen Experten weitere Bedeutungsnuancen eröffnen. Einen andersartigen Einsatz der Experten findet sich in dem Film ALCHEMIE DER LIEBE. MEINE HoRMONE SIND VERRÜCKT NACH DIR (F 1996), der, wie auch DAs WUNDERWERK MENSCH, auf Werbung für die Publikationen der mitwirkenden Experten verzichtet. Insgesamt sind die Beiträge der Experten weniger summarisch und ausführlicher als in BRAINSEX und nehmen dem Offsprecher einen großen Teil der inhaltlichen Aussagen ab. Zudem dienen sie dazu die Anzahl der Visualisierungsstrategien zu erweitern. Neben den Simulationen und Bildern, die mittels bildgebender Verfahren gewonnen wurden, erläutert beispielsweise der Neurobiologe Jean-Didier Vincent anhand eines zerlegbaren Gehirnmodels die Lage der diversen zerebralen Zentren und die kortikale Verteilung von Neurotransmittern anhand von Zeichnungen, die er auf einem Flipchart erstellt. In ALCHEMIE DER LIEBE unterstützen die Experten damit eine Multiplikation der Visualisierungsstrategien. Neben den bildgebenden und invasiven Visualisienmgen, die es natürlich auch in ALCHEMIE DER LIEBE gibt, kommen hier also auch Techniken der Veranschaulichung aus dem alltäglichen universitären Unterricht zum Einsatz, die, neben den in den populären Wissenschaftsfilmen sonst üblichen Hightech-Visualisierungen, fast den Charme einer antiquierten Ästhetik besitzen. Diese Multiplizierung der Visualisierungsstrategien durch die im Film vorkommenden Experten bedeutet jedoch auch eine Relativierung der hochtechnisierten Verfahren der Bildgebung. Dadurch, dass die Zuschauer visuelle Erklärungen präsentiert bekommen, die nicht auf deren Verwendung beruhen, zeigt, dass auch jenseits der spektakulären Bilder vom Inneren des Körpers Einblicke in den Organismus möglich sind. Zugleich verweisen sie auf die Grenzen der neuen Verfahren, mit denen zwar vieles, aber eben nicht alles aufgezeichnet und verständlich gemacht werden kann. Die Analyse der narrativen Elemente populärer Wissenschaftsfilme zeigt die konstitutive Wichtigkeit der Stinune aus dem Off. Deutlich wird dies auch, wenn man die hier analysierten Filme mit einem Film wie BoDYSONG (GB 2003) vergleicht. BoDYSONG behandelt ebenfalls die Entwicklung eines Menschen von der Befruchtung einer Eizelle bis zum Tod

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und parallelisiert dabei Onto- und Phylogenese des Menschen mit kulturellen, sozialen und technischen Entwicklungen. Das Bildmaterial, das dieser Film dabei verwendet, unterscheidet sich von den bisher besprochenen Filmen, lediglich dahingehend, dass er zusätzlich zu den Bildern vom Inneren und Äußeren des Körpers allerlei Bildmaterial zur Illustrierung sozialer und kultureller Ereignisse und Entwicklungen verwendet. Allerdings existiert bei BoDYSONG kein Kommentator, der die Zuschauer mit Informationen über die Kontexte der Bilder versorgt und damit das Verständnis des Gezeigten sichert. Obwohl sich auch in BoDYSONG Ansichten vom Inneren und Äußern des Körpers abwechseln und so eine visuelle Kontextualisierung der Bilder geleistet wird, bleibt ohne Kommentar vieles unverständlich. Einsichtig wird dabei, dass die Verwendung und Anordnung von wissenschaftlichen Visualisierungen nicht ausreicht, um wissenschaftliches Wissen zu popularisieren. Vielmehr ist dafür das aufgezeigte Zusammenspiel von Bildern und Worten notwendig, das das Visuelle narrativ in Kontexte einbettet und so verständlich macht. Aus dem Informationsmaterial zu BoovsoNG geht hervor, dass auch dieser Film die Faszination des Körpers und dessen Rolle für das Leben jedes einzelnen thematisieren möchte. 99 Dies jedoch nicht mit dem Anspruch, Wissen über den Körper zu popularisieren. Stattdessen möchte dieser Film einen Eindruck von der Vielfalt und Intensität körperlicher Erfahrungen vermitteln. Die Off-Stimme übernimmt also narrative Aufgaben und motiviert die Zuschauer zum Anschauen der Sendungen. Unerlässlich sind diese Kommentare vor allem dort, wo entweder die Bilder selbst oder die Anschlüsse von Bildern, Sequenzen und Szenen nicht selbsterklärend sind und sich Zusammenhänge nicht visuell ergeben, wie dies häufig der Fall ist, wenn verschiedenes Bildmaterial zusammengefügt wird. Hier sichert der Kommentar das prinzipielle Verständnis des Gezeigten. Zudem versorgt die Stimme aus dem Off die Zuschauer mit Zusatzinformationen, die teilweise auch moralischer Natur sein können. Wichtig ist der Kommentar auch bei der Aktualisierung des Gezeigten, indem er auf Parallelen mit der antizipierten Lebenswelt der Zuschauer zieht.

99 Informationen zu BoDYSONG finden sich auf der entsprechenden Internetseite von Channel Four Television Corporation: www.channe14.com/culture/microsites/B/ bodysong/ (Zuletzt eingesehen am 1.3.2009).

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Auch die Experten übernehmen mehrere Funktionen. Eine wichtige Funktion ist die Authentifizierung des Dargestellten. Alleine schon durch ihre Präsenz im Film, geben die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu verstehen, dass sie das Gezeigte und Erklärte für richtig befinden. Besonders wirksam ist, wenn es sich bei den Experten wie in DAs WuNDERWERK MENSCH um bekannte Wissenschaftler handelt. Die Popularität eines Experten wie Sir Robert Winston kann dabei auch zur Motivierung von Zuschauern zum Betrachten einer Sendung beitragen. Diese Strategie wird in der Originalfassung von DAs WUNDERWERK MENSCH verfolgt, indem Winston die Zuschauer durch den Film führt und damit Kommentator und Experte zugleich ist. Eine weitere wichtige Funktion der Experten ist die Erweiterung des Kontextes des Dargestellten, die einer Universalisierung des im Film präsentierten Wissens gleichkommt. Die Kontextverschiebungen und -erweiterungen, die Wissenschaftler in den Filmen vornehmen, wenn sie einzelne Phänomene auf eine universale menschliche Konstitution beziehen, erhalten dadurch, dass sie von Wissenschaftlern hervorgebracht werden, eine größere Glaubwürdigkeit. Die narrative Struktur der populären Wissenschaftsfilme wurde mit Hilfe eines Vergleichs mit Giovanni Boccaccios Novellenwerk Das Dekameron analysiert. Ohne die mediale Differenz von Film und Literatur einzuebnen, stellt der Bezug zur narrativen Form der Novelle das Vokabular für die Beschreibung des Aufbaus populärer Wissenschaftsfilme bereit und zeigt, dass die Filme ein kulturell etabliertes Schema der Narration verwenden. Das auffallendste strukturierende Moment der Filme ist das Wechselspiel von Rahmen- und Binnenerzählung. Den narrativen Rahmen der populären Wissenschaftsfilme, der den Erzählanlass bietet, bildet immer eine Situation oder eine Fragestellung, die den Zuschauern bekannt ist. Die Binnengeschichten illustrieren die Vorgänge im Körper und damit die physiologische Grundlage der im Rahmen erzählten Ereignisse. Der Wechsel von Außen und Innen beschreibt damit das narrative Prinzip der Filme als auch die Bewegung der Bilder des Films. Wie im vorigen Kapitel über die Visualisierung des Körpers ausgeführt wurde, sind die Bilder vom Inneren des Körpers von zentraler Bedeutung flir den Popularisierungsmodus populärer Wissenschaftsfilme. Zwar können die körperlichen Prozesse, wie man an THE HEART und ALCHEMIE DER LIEBE sehen kann, auch ohne Bilder vom Inneren des Körpers erläutert werden, doch steigern sie aufgrundihres spektakulären Potentials die Attrakti-

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vität der Filme. Der Kommentar sichert dagegen die Allgemeinverständlichkeit der Bilder mittels zusätzlicher Informationen und Erklärungen und plausibilisiert den Anspruch auf Universalität des vermittelten Wissens.

5. Popularisierung des wissenschaftlichen Blicks Die beiden vorangehenden Kapitel behandelten die typischen visuellen und narrativen Strategien, mit deren Hilfe die populären Wissenschaftsfilme ihr Publikum herstellen und adressieren. Charakteristisch ist hierbei die Verwendung von wissenschaftlichen Visualisierungen und die Techniken, mit denen diese in eine Form gebracht und in Kontexte eingebettet werden, die auch dann ein Verständnis der präsentierten Sachverhalte und Bilder ermöglichen sollen, wenn das Publikum keine wissenschaftliche Expertise auf dem jeweiligen Feld hat. Das auf diese Weise aufbereitete Wissen ist äußerst vielfältig und reicht in die verschiedenen Teilgebiete der Wissenschaften vom Menschen wie beispielsweise die Biochemie, Anatomie, Physiologie, Neurologie und Gynäkologie. Auch wenn man davon ausgeht, dass die aufgezeigte Präsentationsform der untersuchten Filme den spezifischen Anforderungen einer popularisierenden Vermittlung von Wissenschaft in Filmen entspricht, wäre die Annahme, dass sich das Publikum all das dargebotene Wissen merken könnte, doch verwegen. Die Menge und die Vielfalt von Wissen, die diese Filme offerieren, ist schlicht zu groß, als dass man sich dieses bei ein- oder zweimaligem Ansehen eines solchen Filmes einprägen könnte. Will man sich nicht damit begnügen, dass populäre Wissenschaftsfilme ein reichhaltiges Angebot von Wissen zur Verfügung stellen, aus dem Zuschauer das sie Interessierende selektieren können, so stellt sich die Frage, ob sich über die Bereitstellung von wissenschaftlichem Wissen und den Einblick in wissenschaftliche Arbeit hinaus spezifische mediale Effekte populärer Wissenschaftsfilme feststellen lassen, die in der Lage sind die Wissenschaftspopularisierung in Filmen zu charakterisieren.

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PoPuLARISI ERUNG DES WISSENSCHAFTLIC HEN BLICKS

Die Frage nach den medialen Effekten stellt sich auch im Hinblick auf den medientheoretischen Rahmen, wie er im zweiten Kapitel ausgeführt wurde. Dort wurde der Film als eine Medientechnologie beschrieben, die nicht vorbehaltlos und neutral Botschaften transportiert, sondern als eine produktive Apparatur, die sowohl Objekte als auch Subjekte rekonfiguriert. Eine solche Perspektive auf den Film kann nicht bei der medialen Zurichtung der Inhalte stehen bleiben. Vielmehr muss deutlich gemacht werden, wie und welche Subjektivitäten im Zuge der filmischen Rekonfiguration erschaffen werden. Nicht zuletzt betrifft diese Frage die Schaffung des Populären der Wissenschaft und die Generierung und Adressierung des Publikums der Wissenschaft. Um der Frage nach den medialen Effekten dieser Art der Wissenschaftspopularisierung nachzugehen, werde ich im Folgenden einen Blick auf die Rezeptionsbedingungen von Filmen werfen. In der Filmtheorie werden die Bedingungen der Rezeption von Filmen unter dem Thema der Identifizierung behandelt. Deutlich wird dabei, dass dem filmischen Signifikanten bereits Subjektivierungsweisen technisch eingeschrieben sind, die jedem Inhalt vorausgehen und ihn strukturieren. Die Subjektivität, welche der Film voraussetzt und zugleich herstellt, trägt die Züge desjenigen Subjekts, das seit der Neuzeit von den optischen Verfahren der Wissenschaft und Technik (mit-)produziert wird. Die Popularisierung von Wissenschaft im Film, so werde ich zeigen, vermittelt damit nicht nur mehr oder weniger anschauliches und mehr oder weniger korrektes wissenschaftliches Wissen, sondern reproduziert im gleichen Zuge die kulturellen, soziotechnischen und individuellen Voraussetzungen dieses Wissens. Mit Bezug auf die erwähnte Unterscheidung Niklas Luhmanns zwischen Erziehung und Sozialisation kann man sagen, dass die untersuchten Filme neben der Verfolgung des Anspruchs, dem Publikum Wissen zu vermitteln, einen wissenschaftlichen Blick auf den eigenen Körper sozialisieren.

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IDENTIFIZIERUNG IM FILM

Wissenschaftliche Dokumentarfilme, die die körperliche Konstitution des Menschen thematisieren, erheben den Anspruch, dem Betrachter etwas über sein Leben als Mitglied der Gattung Homo sapiens mitzuteilen. Das vermittelte Wissen über die Beschaffenheit der Mitglieder dieser Spezies

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soll der Betrachter auf sich selbst beziehen, insofern dieser sich zu dieser Gattung zugehörig ftihlt. Hinweise und Beteuerungen der Off-Stimmen, in Filmen wie DAs WUNDERWERK MENSCH, BRAINSEX, FASZINATION LEBEN oder A LCHIMIE DER LIEBE, die betonen, dass die gezeigten Bilder vom Inneren und Äußeren des Menschen jeden Menschen, d.h. auch den jeweiligen Betrachter repräsentieren, finden sich in nahezu allen Dokumentarfilmen zu diesem Thema. Der Verweis auf den Betrachter wird durch die Komposition der Filme unterstützt, die den Rückbezug auf das eigene Leben erleichtert. Ob nun das Krabbeln eines Kindes zum Anlass genommen wird, den Skelettaufbau des Menschen zu erläutern (DAs WuNDERWERK MENSCH, FoLGE 2, DIE GEBURT DES LEBENS, GB 2007), das Kämmen der Haare z ur Darlegung des Haut- und Haarpartikelverlusts eines Menschen dient (FASZINATION L EBEN, TEIL 2, UNBEKANNTE WELTEN, SV/GB/D 1996) oder die Begegnung mit einem potentiellen Sexualpartner in einem Cafe als Gelegenheit zur Erklärung hormoneller Triebsteuerung heran gezogen wird (ALCHEMIE DER LIEBE, F 1996); immer bilden Szenarien einer antizipierten N ormalität und Vertrautheit den Hintergrund der Erläuterungen. In Verbindung mit dem Anspruch, Einsichten in die generelle Beschaffenheit des Menschen zu geben, verweist diese Komposition der Filme auch darauf, dass jeder Mensch mit dem Gezeigten identifizierbar sein und sich identifizieren soll. Der Film UNBEKANNTE WELTEN, der zweite Teil von Lennart Nilssons Trilogie FASZINATION LEBEN, handelt von Klein- und Kleinstlebewesen, wie Läusen, Museumskäfern, Silberfischen, Bakterien usw., die mit der menschlichen Zivilisation koexistieren und teilweise in und auf dem menschlichen Körper leben. D er Film setzt gezielt auf Effekte der Befremdung, die sich aus den extremen Vergrößerungen ergeben und die beispielsweise Haare wie - so der Sprecher des Films - »einen Urwald« erscheinen lassen sollen. 100 Zum Teil wird diese Befremdung durch den E insatz einer Film-

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Die Urwaldmetapher ist im Zusammenhang mit Phantasmen von der >>Unbekannten Welt« und der »faszinierenden Lebensweise« ihrer Bewohner ein Motiv, das eine gesonderte Betrachtung verdiente (vgl. hierzu z.B. Michael Flitner 2000). In FASZINATION LEBEN führt die Urwaldmetapher zu ebenso banalen wie falschen Darwinismen, die von der >>Unbekannten Welt« direkt wieder auf die »bekannte Welt«, d.h. unsere Lebenswelt übertragen werden. Hier nur ein Beispiel: »Das Überleben des Stärksten regelt die Evolution der unbekannten Welt, sowie unserer eigenen. « (FASZINATION LEBEN, Teil 2) In

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technik gesteigert, die die Tiefenschärfe des Hintergrunds auch bei stark vergrößerten Objekten im Vordergrund erhält. Obwohl es dabei zu einer perspektivischen Verzerrung kommt, ist das Geschehen im Hintergrund deutlich und scharf zu sehen. Eine Sequenz des Films thematisiert die Bildung neuer Hautschichten und das Abfallen von toten Hautschuppen, die sich im Raun1 verteilen und dort als Nahrungsgrundlage diverser Lebewesen wie beispielsweise Milben dienen. Diese Sequenz beginnt mit einem Mann bei der Rasur. Als dieser sich schneidet, dringt die Kamera wie auch andere >mnter Umständen tödliche Eindringlinge in die Blutgefaße« ein. 101 Von der »Verteidigung des K.örpers« 102 und der Schließung der »Eintrittspforte« geht der Film zur Bildung neuer Hautschichten über. Eine Computersimulation zeigt die Bildung neuer Oberhautschichten, die nach ihrem Absterben »wie fliegende Teppiche« durch die Luft gleiten. Über den Rand einer von Bakterien bewohnten Hautschuppe hinweg sieht man die zweite Protagonistirr des Films vor dem Spiegel ihre Haare frisieren. Diese Sequenz hat im Gegensatz zu anderen, bereits angesprochenen Sequenzen, keinen kohärenten narrativen Rahmen, der die Erläuterungen und Bilder vom Inneren des Körpers umschließt. Der narrative Rahmen dieser Sequenz besteht vielmehr aus zwei Alltagssituationen, zwischen denen die Aufnahmen und Animationen des Körperinneren als Scharnier dienen. Beide Rahmenelemente zeigen jeweils geschlechtsspezifisch konnotierte Situationen, während die Bilder vom Körperinneren geschlechtlich unmarkiert sind. Männer rasieren sich, Frauen frisieren sich vor dem SpiegeP0\ aber die Körperfunktionen der Verteidigung vor »feindlichen Eindringlichen« und der Hautschuppung bilden die Brücke zwischen den Ge-

Anbetracht einer so falschen Rezeption des Da1winismus, di e sich an die traditionellen Metaphern sozialdarwinistischer Plattitüden anlehnt, ist es bedenklich, dass dieser Film 1996 mit dem Emmy Award ausgezeichnet wurde. 101

Der Schnitt beim Rasieren, der zum Eindringen der Kamera einlädt, ist ein Topos, der auch in der Imax-Version von DAs WUNDERViERK MENSCH, in DIE WELT DES KöRPERS (GB 2001) auftaucht. Die Szene ist fast identisch mit detjenigen VOn FASZINATION LEBEN.

l 02

Solche Kriegsmetaphern finden

sich im Zusammenhang mit dem

Immunsystem auch im wissenschaftlichen Jargon. Siehe dazu Haraway (l995b).

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schlechtem. Diese Konstruktion scheint die Identifikation mit stereotypisierten weiblichen und männlichen Verhaltensweisen im Alltag zu erlauben oder gar zu fordern. Jedoch ist die naheliegende und verbreitete Vorstellung, dass wenn man ein bestimmtes Exemplar einer Gattung zeigt, sich alle entsprechenden Gattungszugehörige dazu aufgefordert flihlen, sich mit diesem zu identifizieren, zwar nicht falsch, greift aber dennoch zu kurz. Denn es ist fraglich, ob die Generalisierung eines so einfachen Mechanismus auch in Anbetracht geübter und reflexiver Medienrezipienten greift und welche Bedingungen seinem Funktionieren zugrunde liegen müssen. Zum Anderen bleibt die Frage unbeantwortet, mit wem sich Zuschauer beim Blick von einer dahinschwebenden Hautschuppe identifizieren könnten. So naheliegend die Konstatierung einer Identifikation mit einem etwaigen Akteur im Film auch sein mag, so sind die Implikationen flir den gegebenen Kontext keineswegs unproblematisch. Denn abgesehen davon, dass Identifizierungsprozesse nicht einfach mit Wiedererkennen gleichgesetzt werden können, stellt sich die Frage wie und womit sich der Zuschauer und die Zuschauerirr beim Betrachten der Filme identifiziert. Denn es mag einleuchten, dass man sich mit den menschlichen Protagonisten, und seien es Kleinkinder, identifiziert. Aber womit wird man sich identifizieren, wenn Gegenstände, Spermien, Partikel, Makrophagen, Herzklappen usw. gezeigt werden? Das Moment der Identifizierung des Filmrezipienten ist wichtig für die kulturelle und soziale Wirksamkeit von Filmen und berührt, wie sich im Folgenden zeigen wird, im Fall der Wissensvermittlung auch das, was in der Wissenschaftsforschung als Zeugenschaft verhandelt wird. Die Relation von Zeugenschaft und Identifizierung reicht damit über die Popularisierung von Wissenschaft hinaus und betrifft die wissenschaftlichen Inskriptionen, d.h. die apparative Sichtbarmacbungen der Forschung (vgl. dazu z.B. Latour/Woolgar 1986) im Allgemeinen. Nicht zuletzt ist sie ein wesentliches Element der dispositiven Struktur apparativer Wahrnehmung (im topalogischen sowie im sozio-technischen Sinne) und steht damit in Verbindung zur wissenschaftlichen Konstruktion von Subjektivität und Objektivität wie dies Daston und Galison ( 1992, 2007: 201ft) beschreiben.

103

Beim Rasieren des Mannes ist der Spiegel nicht zu sehen. Seine Position nimmt die Kamera ein.

164 I 5.

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Damit ist schon angedeutet, um was es im Folgenden gehen wird: Die Identifizierung im Film beschränkt sich nicht auf die Identifizierung mit einem Schauspieler, einem Charakter oder einem Körper, der auch der eigene sein könnte. Im Kontext von Film und Wissenschaft meint Identifizierung primär die Identifizierung mit der Apparatur und erst sekundär mit dem Dargestellten. Für die popularisierende Vermittlung von Wissenschaft durch Filme bedeutet dies einmal mehr, dass die Inhalte den Bedingungen des Mediums unterworfen sind. Die Form des Mediums infiziert das Vermittelte nicht nur in der Art und Weise der Darstellung, sondern auch in der Art und Weise der Rezeption. Wie jedes Medium verfugt der Film nicht nur über eine originäre Art der Artikulation, sondern er bestimmt auch die Art der Rezeption. Eine Beschäftigung mit der Popularisierung von Wissenschaft und Technik in Filmen kann daher nicht allein auf Inhalten und narrativen Strukturen beruhen, sondern muss die mediale Topologie reflektieren, in die der Zuschauer oder die Zuschauerin hinein versetzt wird.

5.1.1 Die psychoanalytische Figur der Identifizierung in der Filmtheorie

In seinem Kunstwerkaufsatz von 1935/36 bemerkt Walter Benjamin, dass sich der Zuschauer in die Kamera »einfühlen« müsse (Benjamin 1974: 24) und Siegfried Kracauer schreibt in seiner 1960 veröffentlichten Theorie des Films im Hinblick auf die subjektive Bewegung im Film 104, dass der Zuschauer »sich mit der schwenkenden, sich nach oben oder unten neigenden oder fahrenden Kamera identifizieren« soll (Kracauer 1985: 61 ). Zu einem zentralen Moment der Filmtheorie wurde die Identifizierung jedoch erst im Rahmen der so genannten Apparatustheorie im Anschluss an Jean-Louis Baudry in den 1970ern (Baudry 1992, 1994, siehe auch Winkler 1992). Um sich dem psychoanalytischen Verständnis von Identifizierung zu nähern, muss zunächst bedacht werden, dass >Identifizierung< sowohl transitiv (d.h.

104

Als subjektive Bewegung bezeichnet Kracauer die Bewegung der Kamera, womit bereits angedeutet wird, dass es sich hier um die Bewegung eines sehenden Subjekts handelt. Im Gegensatz dazu wird die Bewegung vor der Kamera als objektive Bewegung bezeichnet, also um die Bewegung eines gesehenen Objekts.

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jemanden oder etwas identifizieren, wie zum Beispiel die Polizei jemanden als Täter identifiziert) oder reflexiv (d.h. sich mit einem Objekt identifizieren) verstanden werden kann. In der Psychoanalyse kommen beide Modi der Identifizierung vor, wobei es hier nun zunächst um die reflexive Form, also um das sich identifizieren gehen soll (vgl. dazu z.B. Laplanche/Pontalis 1973: 219f). Zudem differiert das psychoanalytische Verständnis der Identifizierung, zumindest im Anschluss an die Theorie Lacans 105 , vom alltäglichen und zum Teil vom philosophischen Verständnis. Identifizierung wird hier nicht so gedacht, dass sich ein vorab existierendes A mit B identifiziert und sich in diesem Prozess graduell B angleicht, sondern vielmehr wird A überhaupt erst durch den Prozess der Identifizierung von B erzeugt. Identifizierung bedeutet also, »dass das Ding mit dem sich das Ich identifiziert, gleichzeitig die Ursache des Ich ist; das heißt, dass die aktive Rolle, die zuvor vom Ich übernommen wurde, nunmehr vom Objekt gewährleistet wird« (Nasio 1999: 75).

5.1.2 Spiegel und Apparat

Als psychoanalytisches Motiv wurde der Spiegel von Baudry in die filmtheoretische Diskussion eingeführt und entstammt der Lacanschen Psychoanalyse.106 Das Spiegelstadium kennzeichnet den Prozess der Primäridenti105

Obwohl Identifizierung einen zentralen Prozess in der Ich-Bildung und der psychoanalytischen Theorie darstellt, existiert keine Systematik des Begriffes, d.h. dass sich sowohl zwischen den verschiedenen theoretischen Schulen (z.B. von Freud, Klein, Lacan), als auch innerhalb der einzelnen Schulen keine konsistente Theorie der Identifizierung nachzeichnen lässt. (Vgl. dazu Laplanche/Pontalis I 973: 219ft)

106

Das Motiv des Spiegels taucht mit seiner Nähe zu Mimesis, Spekulation, Reflexion und Theorie (die lateinische Übersetzung des griechischen >theoria< lautet >speculatioje< und >moisekundäre< Aktivität auch, verlangt das Kino, daß die ursprüngliche Undifferenziertheit von Ich und Nicht-Ich überwunden ist.« (Metz 2000:47, Hervorhebungen im Original) 108

Wenn der Zuschauer sich aber nicht mit sich selbst identifiziert, womit identifiziert er sich dann? Wie bereits erwähnt, besteht natürlich die Möglichkeit sich mit einer menschlichen Figur des Films zu identifizieren. Dazu muss es aber erst einmal eine Figur geben, die eine solche Identifizierung zulässt. Die bereits von Kracauer beobachtete »Affinität zu den Dingen«, der »Kosmomorphismus« des Films, fUhrt dazu, dass es lange Sequenzen gibt, in denen alle möglichen Dinge zu sehen sind, aber keine menschliche Form zur Identifizierung angeboten wird. Dennoch findet auch hier eine ldentifiziemng statt, was darauf verweist, dass die ldentifiziemng mit menschlichen Figuren im Film wiederum nur sekundär sein kann. Aber selbst wenn die Möglichkeit einer Identifizierung mit einer Figur im Film gegeben ist, bleibt die Frage, wo sich das Ich des Zuschauers bei der Betrachtung eines Film befindet- oder mit Metz gesprochen: Wo der »Platz des Zuschauer-Ichs in der Signifikantenbildung« ist? (Metz 2000: 48) Wie erwähnt, wird das Ich im Verlaufe der primären ldentifiziemng, im Spiegelstadium, geformt, es existiert also bereits ein Ich bei der Betrachtung eines Films. Die Frage betrifft den Ort, den dieses Ich des Zuschauers beim Betrachten eines Films einnimmt, eben weil weder Leinwand noch Bildschirm Spiegel sind und der Zuschauer sich dort nicht mit sich selbst als Objekt identifizieren kann. Beim Betrachten eines Films nimmt der Zuschauer nicht am Wahrgenommenen teil, er ist vielmehr ganz auf der Seite

108

Metz' Darstellung ist natürlich idealisiert. Die Primäridentifikation ist kein Vorgang, der ein robustes Ich erzeugt und fortan hinfällig ist. Vielmehr muss dieses Ich durch immer neue Identifizierungen rekonstituiert werden, was nicht immer im gleichen Maße funktioniert. Die Möglichkeit, dass Filme dem Betrachter partiell oder auch gänzlich unverständlich bleiben, ist immer gegeben. Legitim ist diese Idealisierung von Metz insofern, als dass das Verständnis eines Filmes auf der Vorgängigkeil einer symbolischen Ordnung beruht.

168 I 5.

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des Wahrnehmenden, er ist die »all-wahrnehmende«, »konstituierende lnstanz des kinematographischen Signifikanten« (Metz ebd.).: »Kurz, der Zuschauer identifiziert sich mit sich selbst als reinem Wahrnehmungsakt (wach und wachsam): als Bedingung der Möglichkeit des Wahrgenommenen und daher als eine Art transzendentales Subjekt, das jeglichem Es gibt voraus geht.« (Metz 2000: 49, Hervorhebungen im Original)

Mit der Identifikation mit sich selbst als Blick nimmt der Zuschauer die Position der Kamera ein. Es ist sein oder ihr Blick, der die Sichtbarkeit der Objekte konstituiert. Dieses Moment der Identifizierung mit dem Blick der Kamera ist für die Wahrnehmung eines Filmes unentbehrlich. Denn nur so ist es möglich, dass der Betrachter zum Beispiel einen Kameraschwenk nachvollziehen kann, obwohl er den Kopf nicht bewegt. Die Identifizierung mit dem Blick der Kamera ist keine bewusste Aktivität - der Zuschauer muss dies weder wissentlich noch absichtlich tun. Vielmehr ist sie der kinematografischen Apparatur technisch eingeschrieben, ganz in dem Sinne, wie dies Bruno Latour sowohl flir Nutzer von Kopiergeräten oder auch flir die Leser von Texten zeigt (Latour 1996). Wenn aber die Identifizierung im Film und ihr Objekt in der Anordnung der Elemente (also dem Dispositiv im topologischen Sinne) bereits inskribiert ist, dann handelt es sich bei diesem Modus der Identifizierung nicht nur um einen reflexiven Vorgang (sich identifizieren), sondern auch um einen transitiven Vorgang (identifiziert werden).

5.2

GESELLSCHAFT -TECHNIK -

SuBJEKT

Aufgrund der Identifikation mit dem Blick der Kamera nimmt der Betrachter das imaginäre Bild einer apparativ aufgezeichneten Realität als den eigenen Blick wahr, ohne dass dabei die sukzessive Transformation des Aufgezeichneten (vom Drehbuch über die Aufzeichnung, den Schnitt, die Montage, die Projektion) gewahr wird. Innerhalb der zentralperspektivischen Konstruktion des filmischen Bildraums entspricht der Ort, der dem Betrachter dabei zugewiesen wird, dem Fluchtpunkt der monokularen Perspektive seit der Malerei des Quattrocento. Dieser bildet eine Lehrstelle im Universum des Sichtbaren und der Repräsentation, die dem »göttlichen

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Auge« (Haraway 1995a) vorbehalten ist, das alles sieht und dabei selbst nicht wahrgenommen werden kann. Jean Louis Baudry betont in seinem Aufsatz ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat ( 1992), der 1970 in französischer Sprache erschien und die so genannte Apparatus-Debatte initiierte 109, dass das Ende des Geozentrismus am Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft zu einer Dezentrierung des Universums fuhrt, die von einer Rezentrierung begleitet wird. Die Perspektive der optischen Apparate nach dem Modell der Renaissance stellt einen neuen Modus der Repräsentation bereit, der das Auge zum Zentrum hat. 11 0 Diese Verschiebung des Zentrums auf das Auge bedeutet nach Baudry »die Absicherung der Installation des >Subjekts< als aktivem Sitz und Ursprung des Sinns« (Baudry 1992: 36t). Wie andere Apparatusautoren nach ihm begreift Baudry das Dispositiv des Films als historisch entstandene, technisch-soziale Gesamtanordnung (siehe dazu auch Crary 1996: 37ft). Geschichte, Sozialität und Technik sind dabei auf zweifache Weise ineinander verwoben: »[Z]unächst dringen bestimmte Inhalte in die Maschinerie ein und geben ihr eine bestinunte Struktur, Form und Funktion. So, wenn der >bürgerliche< raumbeherrschende Blick in der materialen Struktur der Kamera vergegenständlicht, dort also quasi >festgeschrieben< wird. Dann aber ist ein zweiter Schritt zu nennen. In der Folge nämlich wird d ie Maschine diesen Blick reproduzieren, und sie wird beliebigen Inhalten aufprägen, was ihr selbst aufgeprägt worden ist.« (Winkler 1992: 69) 11 1

109

Zur Apparatus-Debatte siehe z.B. Winkler (1992) und Paech ( 1997).

110

Die Verwendung von Objektiven, die die Perspektive verzerren, wie ich es oben fiir den Film UNBEKANNTE WELTEN beschrieben habe, widerspricht dem nicht. Die Normalperspektive bleibt hier als referentielle Norm bestehen. So werden perspektivische Abweichungen, ebenso wie Sequenzen, die vom potentiell mit dem Auge wahrnehmbaren abweichen (z.B. die Aufuahmen mit einer Wärmekamera (DAs WUNDERWERK MENSCH, Folge 1) oder offensichtliche Simulationen, wie das krabbelnde Skelett eines Kindes in DIE WELT DES KöRPERS (08 2001) und DIE ERSTEN ScHRJTTE (DAS WUNDERWERK MENSCH, FoLGE 3), deutlich markiert. Meist verweist die Off-Stimme auf die »Spezialkamera« oder einen »Trick«, der hier angewandt wurde (vgl. dazu auch Baudry 1992: 37f).

170 I 5.

PoPuLARISIERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN BLICKS

Einen solchen Zusammenhang von Gesellschaft, Technik und Subjektivierung hat Michel Foucault am Beispiel von Benthams Panoptikum ( 1787) aufgezeigt (Foucault 1994: 25lff). Benthams architektonisches Konzept für Gefängnisse antwortete auf das Problem der Disziplinen und deren Wunsch nach Steigerung der sozialen Kräfte und der Nützlichkeit von Individuen (Wissen, Produktivität, Gesundheit, Kampfkraft usw.). Das Prinzip dieser Architektur liegt darin, dass sie eine potentiell permanente Überwachung ermöglicht, indem sie eine Asymmetrie von sehen und gesehen werden instituiert. Während der unter Beobachtung stehende jederzeit gesehen werden kann, sieht dieser den Beobachtenden nicht, so dass er nicht weiß, ob und wann er beobachtet wird. Foucault beschreibt das Panoptikum als optisches System und als Laboratoriun1, in dem mit verschiedenen Methoden zur Modifikation devianter Identitäten experimentiert werden kann (ebd.: 262). Worauf es im Kontext von Medientechnologien ankommt ist, dass Foucault einerseits zeigt, dass die Disziplinardiskurse in eine Technologie hinein fließen, die dann wiederum selbst disziplinierend wirkt. Und zweitens, dass er das Panoptikum als ein Dispositiv zur Organisation von Blicken beschreibt, das eine Scheidung von Sehen und Gesehen werden vollzieht und damit Subjekte und Objekte der Sichtbarkeit hervorbringt und positioniert. Dieses Blickregime, so Foucault, entspricht den ökonomischen, juristischen, politischen und wissenschaftlichen Notwendigkeiten der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, deren Durchsetzung es fördert. Als solches sieht Foucault das Panoptikum im Kontext der Entwicklung optischer Medien wie dem Panorama (ebd.: 266, siehe auch Winkler 1992: 194ff), das im gleichen Jahr, in dem Bentham das Panoptikum entwarf, patentiert wurde (Oettennann 1980: 7). 112

111

Diese Annahme von der Einschreibung geschichtlicher Formationen in die Technik, geht davon aus, dass die Technik anders aussehen würde, wenn ihr Entstehungszusammenhang ein anderer wäre (vgl. Winkler 1997). So auch der Historiker Jean-Louis Comolli, der betont, dass das Kino lange vor Lumiere und Edison als »soziale Maschine« voll entwickelt war. Die Technologie des Films ist nur eine Artikulation eines sozialen Dispositivs (vgl. Baudry I 980: 121ft).

112

Panoramen sind perspektivische Rundbilder und gelten als das erste optische Massenmedium. Auch Gettermann betont, dass die perspektivische

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I 171

Foucaults Charakterisierung des Panoptikums macht ebenso wie die Apparatustheorie deutlich, dass optische Medien keine neutralen Aufzeichnungs- und Wiedergabeapparaturen sind. Vielmehr werden sowohl die dargestellten Inhalte als auch der Zuschauer durch das Medium strukturiert. Die Signifikation der Zuschauer, ihre Identifikation als bürgerliche Subjekte, die der Film leistet, ist weder intendiert noch ist sie den Zuschauern bewusst. Im Gegenteil, der semantische Gehalt des zentralperspektivischen Bildraums des Films wurde, wie Winkler anmerkt, gleichsam in die technische Apparatur »hinein vergessen« und auch der Zuschauer oder die Zuschauerin wird sich der Position, die er oder sie bei der Betrachtung von Filmen einnimmt, nicht bewusst (Winkler 1992: 68ff). 113

5.3

DER BLICK DES POPULÄREN WISSENSCHAFTSFILMS

Die Diskussion über die Identifizierung mit der Kamera und die Produktivität der optischen Apparate ermöglicht es, die medialen Effekte populärer Wissenschaftsfilme näher zu beschreiben. Das Verschwinden des Mediums aus der Wahrnehmung des Rezipienten ist keine Eigenart von Filmen. Wie in Anlehnung an Michel Serres und Sybille Krämer bereits erläutert wurde, verschwindet das Medium beim Akt der Übermittlung aus dem Bewusstsein. Wie Krämer betont, bleiben Medien umso unsichtbarer desto besser sie funktionieren: »Wir hören[ .. .] nicht eine CD, sondern Musik kommt zu

Raumkonstruktion der Ausdruck »eines spezifisch modernen, bürgerlichen Natur- und Weltverhältnis ist« (Oettermann 1980: Sf, siehe auch: Soeffner 2001). 113

Wie schwierig es ist, diesen Effekt des kinematografischen Dispositivs zu unterminieren, zeigt sich an den Bestrebungen von Filmemachern und Künstlern, die in der Sichtbarmachung des Produktionsprozesses im Produkt selbst (z.B. das Zeigen der Kamera im Film) eine subversive Strategie sehen wollen. Metz bemerkt dazu: »Das Bestreben, das Dispositiv offen zu legen, ging bisweilen vom naiven und ein wenig undurchsichtigen Wunsch aus, ein pseudopolitisches Über-Ich mit der heftigen Bewunderung für das Kino und seine Technik zu versöhnen« (Metz 1997: 75). Paech fugt hinzu, dass das Vorzeigen der Apparate keinen politischen, sondern einen ästhetischen oder >Fetisch-Effektübt< der Zuschauer dieser Filme einen spezifischen Modus der Wahrnehmung. Die Unterscheidung zwischen Erziehung und Sozialisation, die Luhmann in

174 I 5.

PoPuLARISIERUNG DES WISSENSCHAFTLIC HEN BLICKS

Das Erziehungssystem der Gesellschaft trifft, hilft zwei Ebenen der populären Wissenschaftsfilme getrennt zn betrachten: Die Vermittlung von Wissen über den Körper ist die erklärte Absicht der Filme. Verfolgt wird dieses Ziel, indem das Wissen über den Körper explizit kommwliziert wird. Nach Luhmann sind Absicht und Kommunikationen, die etwas herausheben, »das sich nicht von selbst versteht«, Indikatoren für Erziehung. Dagegen bezeichnet Sozialisation eine »absichtslose Erziehung«, die keiner expliziten Kommunikation bedarf. »Sozialisation,« so Luhmann, >>vermittelt natürliche und soziale Verhaltensbedingungen als Selbstverständlichkeiten« (Luhmann 2002: 53, Hervorhebung im Original). 114 Auch wenn man, wie bereits erläutert, die populären Wissenschaftsfilme nicht mit den Erziehungsinstitutionen gleichsetzen kann, die Luhmann analysiert, beschreiben Erziehung und Sozialisation die Differenz zwischen der Vermittlung von Wissen und den medialen Effekten dieser Art von Wissenschaftspopularisierung: Während die Zuschauer der Filme Fakten über den Körper lernen, üben sie zngleich den objektivierenden Blick der Visualisierungstechnologien. Dabei unterstützen Narration und visuelle Gestaltung diese Sozialisierung des wissenschaftlichen Blicks, indem sie Kontexte schaffen, die diesen plausibel und selbstverständlich erscheinen lassen. Entscheidend für den hier gegebenen Kontext der Popularisierung von Wissen über den menschlichen Körper ist jedoch, dass der Zuschauer diesen Blick auf einen visuellen Körper anwendet, der auch sein eigener sein könnte. Durch die Doppelung von Individualisierung und Universalisierung der Bilder vom Inneren des Körpers, wie dies die Narration der Filme propagiert, zeichnet sich ein bestimmtes Selbstverhältnis ab, das durch die populären Wissenschaftsfilme impliziert wird. Der Zuschauer übernimmt nicht nur den Blick auf einen virtuellen Körper im Modus der Visualisierungstechnologien, sondern er blickt auf seinen eigenen Körper und lernt diesen auf eine wissenschaftliche Art wahrzunehmen. Die apparativ induzierte Trennung von Subjekt und Objekt des Sehens, wie dies Foucault am Panoptikum und die Apparatustheoretiker anhand der Identifikation mit der Kamera herausgearbeitet haben, soll hier wieder aufgehoben werden: Der Zuschauer ist nicht nur das Subjekt des Sehens, indem er sich den Blick der jeweiligen Apparatur aneignet, sondern er ist zngleich das Objekt, das in den Blick genommen wird. Diese visuelle Vivisektion des eigenen Körpers

114

Siehe dazu auch Kapite14.

DAs

PuBLIKUM DES LEBENS

I 175

verlangt jedoch einen distanzierten, nüchternen Blick auf sich selbst, der eine objektivierende Selbstbetrachtung ermöglicht.

5.4

MEDIALITÄT UND WISSENSCHAFTSPOPULARISIERUNG

Berücksichtigt man die Einübung eines wissenschaftlichen Blicks, stellt sich die Wissenschaftspopularisierung im Film in mehrfacher Hinsicht in einem neuen Licht dar. Denn die Popularisierung des wissenschaftlichen Blicks über den Einbezug epistemischer Objekte der Wissenschaft zielt auf die Schaffung epistemischer Subjekte, die sich selbst zum Wissensobjekt machen. Populäre Wissenschaftsfilme vermitteln aus dieser Perspektive nicht lediglich Inhalte und Wissen, sondern fördern auch eine wissenschaftliche Wahrnehmung und ein Selbstverhältnis. Das bedeutet, dass die Frage, ob das in einem jeweiligen Film behandelte Wissen wissenschaftlich stichhaltig, einseitig oder gar veraltet ist, für die Frage nach der Popularisierung nicht unbedingt entscheidend ist. So lässt sich zwar über den wissenschaftlichen Gehalt eines Films wie BRAINSEX aufgrund seines soziobialogischen Bias streiten, aber dennoch muss man auch einem solchen Film zugestehen, dass er zur Popularisierung von Wissenschaft beiträgt. Obwohl in der neueren Wissenschaftsforschung seit den 1980er Jahren der Prozess der Wissensgewinnung gegenüber dem bereits stabilisierten Wissen betont und als erklärungsbedürftig betrachtet wird (Callon 1986, Biagiolli 1999), wurden daraus bislang keine Konsequenzen für die Untersuchung der Wissenschaftspopularisierung gezogen. Statt nach dem >Wie< der Wissenschaftsvermittlung zu fragen, werden die vermittelten Inhalte oder deren Aneignung thematisiert. Das gilt auch für die wenigen Untersuchungen über die Popularisierung von Wissenschaft in Film und Fernsehen. Diese betrachten in der Regel entweder die Häufigkeit des Vorkommens wissenschaftlicher Themen oder ermitteln, ob Wissenschaft korrekt dargestellt wird (so z.B. Collins 1987, Scholz/Göpfert 2007). Auch Peter Weingart konzentriert sich, wenn er auf Filme zu sprechen kommt, auf die Themen von Wissenschaftssendungen im Fernsehen und stellt fest, dass »Wissen beziehungsweise Wissenschaft als Etikett verwendet« wird, die Wissenschaft selbst jedoch in den TV-Magazinen im Gegensatz zu den Printmedien oder Spielfilmen kaum vorkomme (Weingart 2005: 150f). Aus der hier vorgeschlagenen Perspektive handelt es sich jedoch hierbei um ein

176 I 5.

PoPuLARISIERUNG DES WISSENSCHAFTLIC HEN BLICKS

Missverständnis, das daraus resultiert, dass die Medialität von Filmen nicht berücksichtigt wird. Vermittelt wird hier durchaus Wissenschaft, allerdings nicht in Form von explizierbarem und faktischem Wissen. Wie die Science and Technology Studies betonen, lässt sich Wissenschaft aber gerade nicht auf die von ihr hervorgebrachten Fakten reduzieren, sondern besteht aus einer Vielzahl von Handlungen, Apparaturen und Repräsentationen (siehe dazu z.B. Latour/Woolgar 1986, Knorr Cetina 1984, Pickering 1992, Heintz 1998). Die Sozialisierung des wissenschaftlichen Blicks trägt zu einer Universalisiemng eines wissenschaftlichen Erkenntnismodus bei, der für die medizinisch-biologischen Wissenschaften von zentraler Bedeutung ist. Gerade im Bereich des Wissens über den Körper ist die Wissenschaft einer starken Konkurrenz von alternativen Wissensformen ausgesetzt, die den Anspruch auf soziale Universalität wissenschaftlichen Wissens herausfordert. Der Wahrheitsanspruch der Wissenschaft wird im Rahmen der populären Wissenschaftsfilme nicht nur im Sinne von Aussagen über den Körper universalisiert, sondem wesentlich basaler über dessen Wahmehmung, die die Grundlage flir wissenschaftliche Aussagen über den Körper bildet. Im Unterschied zum konkreten, explizierbaren Wissen, das veralten oder sich als falsch erweisen könnte, handelt es sich hier um ein implizites Wissen, das der Zuschauer mit dem Ansehen dieser Filme erwirbt. Dies kann man als einen Kompetenzgewinn beschreiben, der die Zuschauer dazu befähigt, sich weiteres wissenschaftliches Wissen anzueignen.

Nachwort: Soziologie des populären Wissenschaftsfilms Die vorliegende Studie fragte nach den lmplikationen der filmischen Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen. Der Ausgangspunkt war hierbei, dass internationale initiativen wie beispielsweise der Dialog Wissenschaft und Gesellschaft die Präsenz der Wissenschaftspopularisierung in politischen, wissenschaftlichen und medialen Kontexten verstärkte. Die sozialwissenschaftliche Forschung, die diese Praktiken und Debatten zur Wissenschaftsvermittlung begleitet, verzichtet jedoch bisher weitgehend auf eine sozialtheoretische Anhindung der Forschung zur Wissenschaftspopularisierung unter Berücksichtigung von unterschiedlichen Popularisierungsformen. lm Wesentlichen lassen sich hier zwei Versäumnisse feststellen: Einerseits agieren Studien zur Wissenschaftspopularisierung mit einem unzureichenden Begriff der Öffentlichkeit. Diese wird als immer schon konstituiert verstanden und orientiert sich an dem Modell der politischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts. Andererseits wird der Differenz und der Materialität von Medien zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Entsprechend fokussieren ein Großteil der Studien zur Wissenschaftspopularisierung auf Fragen der öffentlichen Legitimation von Wissenschaft und auf die Vermittlung konkreter Themen. Das Ziel der vorliegenden Studie bestand daher darin, eine Soziologie des populären Wissenschaftsfilms zu entwerfen, die die medialen Eigenschaften des Films zum Ausgangspunkt nimmt. Folgt man der Einsicht, dass jedes Medium über eine spezifische Art der Artikulation und Adressierung des Publikums verfügt, so ergeben sich daraus Folgen fiir eine soziologische Analyse von Medien. Die erste und offensichtlichste Konsequenz

178 I NACHWORT:

S OZ IOLOGIE DES POPULÄREN WiSSENSCHAFTSFILMS

ist, dass eine solche Studie inter- beziehungsweise transdisziplinär ausgerichtet sein muss da die Soziologie, aufgrundder traditionellen Vernachlässigung des Medialen für das hier verfolgte Vorhaben bislang keine ausreichenden konzeptuellen Mittel bereitstellen kann. So entstammen die theoretischen und methodischen Ansätze, die hier eingeflossen sind, unter anderem der Science and Technology Studies, der Medienwissenschaft und der Literaturwissenschaft. Sie halfen das Feld der Wissenschaftsvermittlung in Filmen einzugrenzen und stellten die analytischen Werkzeuge für diese Studie bereit. Eine weitere Folge betrifft die Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand. Die Frage, die die Analyse der populären Wissenschaftsfilme anleitete, lautete in Anlehnung an die Laborstudien und an mikrosoziologische Arbeiten dementsprechend nicht: >Was wird vermittelt?Wie wird vermittelt?wirklichPublic Attitudes Toward Science and Technology< in Science Indicators: The 1985 Report«, in: Public Opinion Quarterly 52, 3, S. 374385. Biti, Vladimir (2001): Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe, Reinbeck: Rowohlt. Bittlingmayer, Uwe H. (2001): »>Spätkapitalismus< oder >Wissensgesellschaft