Das Naturrecht.: Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. [8 ed.] 3428056604, 3428155769, 9783428155767

Das "Naturrecht" ist Messners Hauptwerk und gilt noch heute als umfassendste Darstellung der christlichen Sozi

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Das Naturrecht.: Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. [8 ed.]
 3428056604, 3428155769, 9783428155767

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JOHANNES MESSNER

DAS NATURRECHT

Duncker & Humblot . Berlin

JOHANNES MESSNER · DAS NATURRECHT

DAS

NATURRECHT H a n d b u c h der

Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik

Von

JOHANNES

MESSNER

Siebente, unveränderte Auflage

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

BERLIN

Nachdruck mit Unterstützung der Internationalen Stiftung Humanum

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Messner, Johannes: Das Naturrecht: Handbuch d. Gesellschaftsethik, Staatsethik u. Wirtschaftsethik / von Johannes Messner. — 7., unveränd. Aufl., unveränd. Nachdr. d. 6. Aufl., [Innsbruck, Wien, München, Tyrolia-Verl., 1966]. — Berlin: Duncker und Humblot, 1984. ISBN 3-428-05660-4 Bis 6. Aufl. im Tyrolia-Verl., Innsbruck, Wien, München

Alle Rechte vorbehalten © 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41 Unveränderter Nachdruck der 6. Auflage Gedruckt 1984 bei Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-05660-4

Zur Gedächtnisauflage

von Johannes Messner »Das Naturrecht"

Eine umfassende Darstellung der christlichen Sozialethik unter Einschluß der ethisch-anthropologischen und sozialphilosophischen Grundlegung zu einem System ist vor Johannes Messner nicht in so geschlossener Form unternommen worden. Messner hat aus einer immensen persönlichen Forschungsarbeit in eiserner Selbstdisziplin durch Jahre an seiner „Summe" gearbeitet und sie bis zur 6. Auflage erweitert und betreut. Auch nur die Literatur bis zum heutigen Stand — es sind fast zwanzig Jahre vergangen — zu ergänzen, würde niemand so aus einem Guß vermögen, was die kluge und repräsentative Auswahl der Werke betrifft, wie es Messner getan hat. Es soll daher auch hier in der Neuauflage nichts am ursprünglichen Text der 6. Auflage hinzugefügt oder verändert werden. Die erkenntnistheoretischen Arbeiten Messners im Zusammenhang des Naturrechtsdenkens mit den Sozialwissenschaften mögen durch diesen Neudruck ein weiteres Mal in Erinnerung gerufen werden. Messner hat um die Hereinnahme empirischen Erfahrungsdenkens besonders gerungen, beeinflußt vom angelsächsischen Denken während seiner Exilzeit und von den Geistesströmungen der Gegenwart. Er wollte die katholische Naturreditslehre ebenso auf die Höhe der Zeit bringen wie dem sozialwissenschaftlichen Forschen und der analytisch-ethischen Überlegung begegnen und Orientierung von einem gesicherten Wertstandpunkt her bieten. Er hat Jahre an dem Begriff der „wesentlichen Lebenszwecke" gearbeitet, bis er ihn in den letzten Auflagen als „existentielle Zwecke" bezeichnete, um ein der modernen Denkweise entsprechendes, aber doch naturrechtliches Kriterium der Sittlichkeit anzubieten. Unter diesem Gedanken öffnet sich die sittliche Betrachtung des Menschenwürdigen als Naturrichtigem und Sachgerechtem in der Ordnung von Gesellschaft, Völkergemeinschaft, Wirtschaft und Staat. Der Verlag Tyrolia hat in dankenswerter Weise die Druckrechte weitergegeben. Besonderer Dank gebührt Herrn Senator Professor Dr. Dr. h. c. Johannes Broermann, der aus Hochachtung vor dem am 12. Februar 1984 verstorbenen Meister des Naturrechts das Werk in seinen Verlag, Duncker & Humblot, aufnahm. Schließlich gebührt ebenso aufrichtiger Dank der Internationalen Stiftung Humanum, die, nachdem sie das weltweite geistige Wirken von Johannes Messner im Jahre 1980 durch die Verleihung des Augustinus-Bea-Preises geehrt hatte, nun auch durch großzügige Unterstützung zum Weiterleben seines Gedankengutes beitragen wollte. Es sieht hinsichtlich der Uberbelastung der Sozialwissenschaftler, vor allem der Sozialethiker mit Detailfragen nicht so aus, daß in absehbarer Zeit ein ähnlich umfassendes und zugleich kompaktes Standardwerk naturrechtlichen Denkens entstehen würde. Darum ist zu erwarten und zu hoffen, daß die Nachfrage nach diesem Werk nicht absinken wird. Alfred

Klose · Anton Rauscher · Herbert Schambeck Arthur F. Utz · Rudolf Weiler

Vorwort

zur fünften

Auflage

Wer in der Welt der Bücher Bescheid weiß, wird verstehen, wie dankbar ein Autor ist, wenn ein so umfangreiches Werk wie das vorliegende in fünfter Auflage, davon in der dritten neubearbeiteten, erscheinen kann, zumal wenn man bedenkt, daß einer Statistik der Frankfurter Buchmesse zufolge nur zwanzig Prozent der jährlich neu erscheinenden Bücher überhaupt eine zweite Auflage erleben. Naturgemäß fühlt er sich gedrängt, nach Gründen zu fragen. Vielleicht gehören dazu die Leitgedanken, die ihm für die wissenschaftliche Arbeit auf dem weitgespannten Gebiet, mit dem sich dieses Buch befaßt, maßgebend schienen. Dazu gehört zunächst, daß das Buch von Anfang an im „Gespräch" gedacht und geschrieben wurde, nämlich in Auseinandersetzung mit älterer, neuerer und neuester Literatur, soweit eigene Gedankengänge Stützung erfuhren oder der kritischen Klärung bedurften. Damit hängt engstens zusammen, daß es auf eine präzise und prägnante Wiedergabe der Hauptgedanken der erörterten Literatur ankam, was oft bedeutende Mühe verursachte, jedoch dem Benützer des Buches zu Bereichen der einschlägigen Literatur, besonders auch des englischen Sprachkreises, einen Zugang erschließt, der ihm sonst nicht so leicht offen steht. Im Zusammenhang damit werden Hauptlinien der Entwicklung im Ringen des Menschen mit Grundfragen seiner persönlichen und gesellschaftlichen Existenz sichtbar, überall mit dem Für und Wider, dessen kritisches Abwägen die Voraussetzung für allen Erkenntnisfortschritt bildet. Daher war idi bemüht, in allen Auseinandersetzungen immer auch die Wahrheitsgehalte in Lehren hervorzuheben, die der Kritik zu unterziehen waren, weil ich überzeugt bin, daß ohne den Geist der Toleranz und Konzilianz das Ringen um die Erkenntnis der Wahrheit auf keinem Gebiet erfolgreich sein kann, vielmehr notwendig zu ideologisch bedingten Kurzschlüssen führen muß. Schließlich darf erwähnt werden, daß namhafte Gelehrte der verschiedenen in diesem Buche behandelten Gebiete versicherten, durchwegs seien die langen Aufenthalte in England und die Vertrautheit mit der englischen empirischen Denkweise dem Buche zugute gekommen, da ständig von der unmittelbaren Erfahrung und nicht von als feststehend angenommenen Begriffen und Lehren ausgegangen wird. Die Bedeutung des Naturrechts wird heute auch manchmal von unerwarteter Seite in Frage gestellt mit dem Hinweis, daß seine Prinzipien zu allgemein seien, um Wegweisung zur Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in der heutigen Welt zu sein. Zur Zeit der großen Naturrechtsfreudigkeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde es aber gegen mich

öfters als Vorwurf erhoben, daß ich das Naturrecht als Prinzipieneinsicht der sittlich-rechtlichen Vernunft auf allgemeine Grundsätze beschränke und nicht als konkreten Rechtsbereich verstanden wissen wolle. Daß das vorliegende umfangreiche Buch trotzdem „Naturrecht" genannt werden kann, hat seinen Grund darin, daß die Naturrechtslehre, ausgehend von jenen allgemeinen Grundsätzen, gestützt auf die Einsicht in die „Natur der Sache" angesichts der bestehenden Verhältnisse, die Gerechtigkeitsprinzipien zu entwickeln hat, die auf den vielen, höchst komplizierten Gebieten des heutigen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens für die Forderungen der humanen Werte in dem Sinne sprechen, wie sie der christliche Humanismus heute versteht. Zu danken habe ich Frau Dr. Rosa-Maria Steinbauer vom Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien für das Mitlesen der Korrekturen und für die Anlegung des Sachverzeichnisses, Frau Nora Munton, ehemalige Leiterin des Arbeitsamtes in Leamington-Spa, England, für die Mitarbeit an den Korrekturen und für die Anlegung des Namenverzeichnisses, Fräulein Luise Dirnhofer vom Institut für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wien für die Ermittlung und Beschaffung wesentlicher Literatur, Herrn Kollegen Dr. Herbert Schambeck für das Mitlesen eines Teiles der Korrekturen. J. M. Oktober 1965

Aus dem Vorwort

zur ersten Auflage

Das Buch soll einen doppelten Zweck erfüllen. Es ist gedacht als Handbuch für Leser mit Allgemeinbildung, Studierende, Vortragende, die um die gesellschaftlichen, staatlichen, wirtschaftlichen, sozialen Probleme Bemühten, die eine umfassende, übersichtliche, gemeinverständliche Darstellung des Wesentlichen zu rascher Orientierung auf diesem Gebiete suchen; es möchte aber auch ein Handbuch für den Fachmann sein, dem es einen Überblick über die tieferliegende Problematik sowie über die in Frage kommenden Prinzipien und einen Beitrag zu einer eingehenden Diskussion bieten soll.

GESAMTÜBERSICHT

I. BUCH.

GRUNDLEGUNG

Tea

I. II. III. IV.

Seite

D I E N A T U R DES M E N S C H E N : F U N D A M E N T A L E T H I K D I E N A T U R DER GESELLSCHAFT: SOZIALPHILOSOPHIE

149

D I E O R D N U N G DER GESELLSCHAFT: RECHTSPHILOSOPHIE

221

DAS VERSAGEN DER GESELLSCHAFTLICHEN O R D N U N G : SOZIALE FRAGE U N D SOZIALE REFORM

473

I I . BUCH. I. II.

23

GESELLSCHAFTSETHIK

DIE FAMILIE

529

D I E K L E I N E R E N GESELLSCHAFTLICHEN E I N H E I T E N

590

III.

DIE N A T I O N

645

IV.

D I E VÖLKERGEMEINSCHAFT

665

I I I . BUCH. I. II.

STAATSETHIK

D I E N A T U R DES STAATES

725

D I E S O U V E R Ä N I T Ä T DES STAATES

771

III.

D I E F U N K T I O N E N DES STAATES

836

IV.

D I E D Y N A M I K DES STAATES

915

I V . BUCH. I. II.

WIRTSCHAFTSETHIK

DER PROZESS DER S O Z I A L W I R T S C H A F T

981

D I E O R G A N I S A T I O N DER S O Z I A L W I R T S C H A F T . . . . 1067

III.

D I E I N T E G R A T I O N DER S O Z I A L W I R T S C H A F T

1146

IV.

D I E K O O P E R A T I O N DER S O Z I A L W I R T S C H A F T E N : DIE WELTWIRTSCHAFT

1224

I N H A L T

I. B u c h .

Grundlegung

I. TEIL. D I E N A T U R DES MENSCHEN.

FUNDAMENTALETHIK

Kapitel

Seite

1.

D e r Mensch

23

2.

D i e N a t u r des Menschen

25

/. Der christliche Humanismus 25: 1. Empirische Anthropologie 25 — 2. Metaphysische Antropologie 26 — 3. Christliche Anthropologie 27 //. Der naturalistische Humanismus 27: 1. rationalistischer 27 — 2. szientistischer 28 — 3. dialektisch-materialistisdier 28 — 4. psychoanalytischer 29 — 5. behavioristischer 30 6. biologisch-evolutionistischer 30 — 7. neo-positivistischer 31 — 8. existentialistischer 32 — 9. idealistischer Humanismus 32 3.

Das Naturgesetz I. Die Fragestellung 33 — II. Das sittliche Bewußtsein 35 — I I I . Der Seinsgrund der Sittlichkeit 37 — I V . Das Wesen der Sittlichkeit 39 Der Begriff der existentiellen Zwecke 43 — V. Das Kriterium der Sittlichkeit 48 — VI. Der Begriff des Naturgesetzes 55 — V I I . Naturrechtsethik und Wertethik 63 — V I I I . Grundfragen der Methode der Ethik 66

33

4.

Das Naturgesetz als N a t u r I. Der Grundtrieb der menschlichen Natur 70 — II. Die Grundtatsache der Deontologie (Lehre von der Pflicht) 73 — III. Die Grundtatsache der Eudämonologie (Lehre von der Glückserfüllung) 82 — I V . Wirklichkeit und Sittlichkeit 87 — V . Die experimentelle Nachprüfung des Naturgesetzes 89 — VI. Ethik, Erkenntnistheorie, Metaphysik 92

69

5.

Das Naturgesetz als Gesetz I. Das Naturgesetz als Gesetzesgebot 94 — II. Die Theonomie der sittlichen Ordnung 95 — III. Die Promulgierung des Naturgesetzes 96 — I V . Die Sanktion des Naturgesetzes 97 — V. Göttliches Gesetz und Naturgesetz 98

94

6.

Die Wirkweise des Naturgesetzes I. Das Naturgesetz als Vernunfteinsicht 99 — Erkenntnistheoretische und logische Art der naturhaften sittlichen Vernunfteinsicht 100 — Irrtumsfähigkeit der sittlichen Vernunft 102 — II. Das Naturgesetz als Wirkkraft 104

99

7.

Das universale und individuelle Wesen des Naturgesetzes . . . . Die individuelle Sittlichkeit in den ethischen Theorien 110

107

8.

Einheit und Mannigfaltigkeit im Naturgesetz Die gesellschaftliche Sittlichkeit 116

113

10

Inhalt

Kapitel

Seite

9. Ununterschiedlichkeit und Unterschiedlichkeit im Naturgesetz

116

Klassen- und Rassenmoral 117

10. Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit im Naturgesetz

118

Der Entwicklungsgedanke in der Ethik 119 — Ethik und Erfahrungswissenschaften 120 — Der ethische Evolutionismus 121

11. Die Beeinträchtigung der Menschennatur

124

Ausschließlich theologische Anthropologie? 125

12. Das christliche Sittengesetz

129

Ausschließlich theologische Ethik? 130 — Sozialtheologie 137

13. Die menschliche Person

143

II. TEIL. D I E N A T U R DER GESELLSCHAFT. SOZIALPHILOSOPHIE

14. Die gesellschaftliche Natur des Menschen

149

Die sozialphilosophische Idee der Kommunikation 150

15. Der Seinsgrund der Gesellschaft

152

Der Mensch als Kulturwesen 154

16. Die Natur der Gesellschaft Individualistische und kollektivistische Gesellschaftsauffassung

156 158

17. Die Gesellschaft als Wirklichkeit

162

Nominalismus. Fiktionstheorie. Universalismus 166 — Sozialphilosophie und Soziologie 168

18. Die Gesellschaft als Einheit

176

Mechanistische Gesellschaftsauffassung 177

19. Die Gesellschaft als Ganzheit

178

Zweckbetrachtung und Ganzheitsbetrachtung in der Gesellschaftslehre 179

20. Die Gesellschaft als Organismus

179

Organische, organizistische Gesellschaftsauffassung 181

21. Die Gesellschaft als Person

182

Die wertphilosophische Sozialtheorie 184

22.

Zweck und Aufgabe der Gesellschaft: Das Gemeinwohl

189

Individualistische und kollektivistische Auffassung 191

23.

Das Gemeinwohl als Wirklichkeit

193

24.

Das Gemeinwohl als Ordnung

195

25.

Das Gemeinwohl in seinen Ursachen

199

26.

Das Gemeinwohl in seinen Wirkungen

201

27.

Das Gemeinwohl in seinen Größenverhältnissen

204

28.

Das Gemeinwohl in seinen Umfangsverhältnissen

209

Inhalt Kapitel

Seite

29.

Die Hilfsstellung des Gemeinwohls

212

30.

Der Unterschied zwischen Gemeinwohl und Einzel wohl

214

31.

Das pluralistische Wesen des Gemeinwohls

215

Anti-pluralistische Gesellschaftstheorien 217 32.

Aufbau und Gliederung der Gesellschaft

217

33.

Die Gesellschaft als Eigenwert

219

I I I . TEIL. D I E O R D N U N G DER GESELLSCHAFT RECHTSPHILOSOPHIE 34.

D i e Ausgangsfrage

221

35.

Der Ursprung des Rechts Vielzahl von Ursprungslehren 224

223

36.

Das Wesen des Rechts Zwangssystem oder Freiheitssystem? 229

226

37.

Das sittliche Wesen des Rechts Sozialvertragstheorien 235

232

38.

Das arteigene Wesen des Rechts Zwangstheorie und Anerkennungstheorie 240

237

39.

Der Zweck des Rechts Wertphilosophische Richtung der Naturrechtslehre 246 — Existenzphilosophische Richtung der Rechtsphilosophie 252 — Individuai-, Sozial- und Kulturzweck des Rechts unverbunden 253 — Der Rechtsutilitarismus 254

243

40.

Die geschichtliche Bedingtheit des Rechts Der Rechtshistorismus 258 — Die historische Rechtsschule 260

255

41.

D i e gesellschaftliche Bedingtheit des Rechts Marx' soziologische Rechtstheorie 265

262

42.

Die Rechtsordnung, die Vielheit der Rechte und die Einheit des Rechts I. Die Einheit der Rechtsordnung 266 — Formale und hypothetische Rechtstheorien 269 — II. Die Vielheit der Rechte 274 — III. Die Friktionen in der Rechtsordnung 280 — I V . Der Widerstreit von Rechten und Rechtspflichten 281

43.

Rechtsordnung und Ordnungsgewalt

266

284

44.

Rechtsordnung und Gemeinwohlprinzip

290

45.

Rechtsordnung und Subsidiaritätsprinzip Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Autorität 302 — Wertcharakter eines Sozialsystems 303

294

46.

Das Naturrecht Sondergesichtspunkte in heutigen Naturrechtserörterungen 308 Was ist Naturrecht? 312

304

Inhalt

12

Seite

Kapitel

47. Das Naturrecht in seiner Wirklichkeit und Naturrechtserkenntnis /. Naturrechtswirklichkeit

312 313

Wissenschaftliches Rechtskriterium und elementare Rechtsprinzipien 325 a) Zur bisherigen innerscholastischen Naturrechtslehre 326 b) Zur heutigen außerscholastischen Naturrechtslehre 333

IL Naturrechtsbegründung

und Naturrechtsursprung

344

1. Induktiv-ontologische Naturrechtsbegründung 345 2. Empirisch-historische Naturrechtsbegründung 352 3. Metaphysisch-theologische Naturrechtsbegründung 353 — Naturrechtsursprung: Evolutionismus und Historismus 355

48. Das Naturrecht: seine Wirkweise

359

Das primäre Naturrecht 359 — Das sekundäre Naturrecht 362 — Das erbsündige Naturrecht 375 — Das ius gentium 377 — Erneuerungskraft des Naturrechts 381 — Wahrheitserkenntnis und Erkenn tnisgewißheit im Bereich des Naturrechts 382 — Tragik und Chance jeder Rechtspolitik 385 — Naturrechtslehre und Wissenschaftsethos 387 — Naturrechtslehre und Erkenntnislehre 389 — Naturrechtserkenntnis und evangelische Ethik 394

49. Das Naturrecht im positiven Recht

397

Naturrecht: Teil des positiven Rechts 397 — Naturrecht und Rechtspositivismus 399 — Naturrecht und Gesetzgeber 402 — Naturrecht und Richter 407 — Richter und Rechtsfortbildung 411 — Recht- sprechung und Naturrechtssätze 414 — Naturrechtliches und juristisches Denken 416

50. Die Gerechtigkeit

420

Der Begriff der Gerechtigkeit 420 — Theorien über den Gerechtigkeitsbegriff 422 — Maßbestimmtheit der GerechtigkeitsVerpflichtung 426 — Die Arten der Gerechtigkeit 427 — Die gesetzliche Gerechtigkeit 428 — Die soziale Gerechtigkeit 429 — Die internationale Gerechtigkeit 430 — Die distributive Gerechtigkeit 431 — Die kommutative Gerechtigkeit 431 — Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit 432

51. Die Freiheit

434

Die Menschenrechte 436 — 1. Die Freiheit des Gewissens 436 — 2. Die Freiheit der Religionsausübung 437 — 3. Das Recht auf das eigene Leben 437 — 4. Das Recht auf die Vollachtung der Person 437 —- 5. Das Recht zu Ehe und Familie 439 — 6. Das Recht zur Erziehung der eigenen Kinder 439 — 7. Das Recht zum Unterhaltserwerb 439 — 8. Das Recht auf Eigentum 440 — 9. Das Recht auf die Heimat 440 — 10. Das Recht auf Asyl 440 — 11. Das Recht der freien Berufswahl 440 — 12. Das Recht zur Persönlichkeitsentfaltung 441 — 13. Das Recht der freien Meinungsäußerung 441 — 14. Das Recht der freien Vereinigung 441 — 15. Das Recht zur Mitbestimmung in der Ordnung und Verwaltung des Gemeinwesens 441

52. Die Gleichheit Sozialistische Gleichheitsidee 444

442

Inhalt Kapitel

Seite

53. Nächstenliebe und soziale Liebe

447

Die Nächstenliebe 447 — Die soziale Liebe 449 — Begriff der sozialen Liebe 452

54. Die drei Hauptrichtungen der Naturrechtstheorie

455

1. Die traditionelle Naturrechtslehre 455 — 2. Die idealistische Naturrechtstheorie 456 — 3. Die materialistische Naturrechtstheorie 457 — Vielheit der Naturrechte? 457 — Die Wiederannäherung an das Naturrecht 459 Die drei Hauptrichtungen der Naturrechtsgegnerschaft 464: Die soziologische Rechtstheorie 464 — die formalistische Rechtstheorie 465 — die evolutionistische Rechtstheorie 468 Die heutige Lage der Naturrechtsdiskussion: Positivismus, Relativismus, Theologismus 469 — Zum Begriff „christliches Naturrecht" 471 I V . TEIL. DAS VERSAGEN DER GESELLSCHAFTLICHEN O R D N U N G : SOZIALE FRAGE U N D SOZIALE REFORM

55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65.

Die neuzeitliche soziale Frage Das Wesen der sozialen Frage Die Grundursache der sozialen Frage Das Ideologische als Ursache der sozialen Frage Das Institutionelle als Ursache der sozialen Frage Die Erscheinungsformen der sozialen Frage Die Sozialkritik Die Sozialreform Das Ziel der Sozialreform Evolution und Revolution in der Sozialreform Die Zuständigkeit zur Sozialreform: Die „Gesellschaft" erstzuständig 66. Die Zuständigkeiten des Staates in der Sozialreform 67. Die Zuständigkeit der Kirche in der Sozialreform 68. Sozialethik und Sozialreform als angewandtes Naturrecht: Die Einteilung unseres Naturrechts : Literatur zu Buch I · II. B u c h .

473 475 478 479 483 486 488 490 491 494 496 499 501 502 505

Gesellschaftsethik

I. TEIL. DIE FAMILIE

Vergesellschaftung:

529

Geschichtlichkeit 530 — Vielschichtigkeit 532 — Wachsende Dichte 539

69. Die Ehe Ehe und Staat 548 — Ehe und Kirche 549

547

Inhalt

14 Kapitel

Seite

70. Die Familie 71. Die Familie: Lebensgemeinschaft 72. Die Familie: Wirtschaftsgemeinschaft

550 552 556

Familienpolitik: Forderung der Gerechtigkeit 559 — Die Gewährleistung des Familieneinkommens 561

73. Die Familie: Erziehungsgemeinschaft

564

Erziehungsrecht der Eltern 566 — Der Inhalt des elterlichen Erziehungsrechtes 568 — Erziehungsrecht des Staates 569

74. Hausgemeinschaft

570

Die Familienwohnung 570 — Die Wohnungspolitik 572

75. 76. 77. 78. 79. 80.

Die Die Die Die Die Die

Familie: Zelle der Gesellschaft Normalfamilie erweiterte Familie Familienerbfolge Frauenfrage Erziehung zur Familie

II. TEIL. D I E K L E I N E R E N GESELLSCHAFTLICHEN

578 580 581 582 584 588 EINHEITEN

81. Die Nachbarschaftgemeinschaft (Gemeinde) 82. Die regionalen Einheiten 83. Der Stamm

590 593 594

84. Die Minderheiten 85. Die Berufsgemeinschaft

596 599

Selbstverwaltungsgebiete 607 — Unterschied heutiger und mittelalterlicher korporativer Ordnung 609 — Unterschied zwischen demokratischem und faschistischem Korporativismus 611

86. Die Klasse

612

Klassenkampf in der industriellen Gesellschaft 617 — Die Marxsche Klassentheorie 619

87. Die politische Partei 88. Die Gewerkschaft

620 626

Der Streik 633 — Der Gewerkschaftszwang (closed shop) 636

89. Die freien Vereinigungen

641

III. TEIL. DIE N A T I O N

90. Der Begriff der Nation 91. Das Werden der Nation 92. Die Nation: Blutsverbundenheit 93. Die Nation: Bodenverbundenheit

645 646 648 652

Inhalt Kapitel

94. 95. 96. 97. 98.

Seite

Die Nation: Schicksalsverbundenheit Die Nation: Geistesverbundenheit Die Nation: Willenseinheit Die Nation: ihr politischer Status Nation und Staat

653 654 657 659 662

I V . TEIL. D I E VÖLKERGEMEINSCHAFT

99. Die natürliche Völkergemeinschaft als Idee und Wirklichkeit . . 100. Die Voraussetzung der Gemeinschaft der Völker: Ihre Gleichberechtigung

665 667

Was sind die gleichen Rechte aller Staaten? 667

101. Die Folge Wirkung der natürlichen Völkergemeinschaft: Keine absolute nationale Souveränität

670

Das Recht der Intervention 673

102. Das Völkerrecht

674

Entwicklung des positiven Völkerrechts 678

103. Die Grundlagen des Völkerrechts: Die Heiligkeit der Verträge 104. Die Hauptaufgabe des Völkerrechts: Die Friedenssicherung . . 105. Der Hauptinhalt des Völkerrechts: Das Kriegsrecht

680 683 688

Krieg mit Atomwaffen 691

106. Die organisierte Völkergemeinschaft

694

Recht der Neutralität 698

107. 108. 109. 110.

Die organisierte Völkergemeinschaft: Ihre Autorität Die politischen Funktionen der organisierten Völkergemeinschaft Die Gerichtsbarkeit in der organisierten Völkergemeinschaft . . Die wirtschaftlichen Aufgaben der organisierten Völkergemeinschaft 111. Die sozialen Aufgaben der organisierten Völkergemeinschaft . . 112. Kolonien, Mandate und Treuhandverwaltung

Literatur

zu Buch II

699 702 704 708 710 711 715

III. Buch. S t a a t s e t h i k I. TEIL. D I E N A T U R DES STAATES

113. Der Staat: Die Gesamtgesellschaft

725

Gesellschaft und Staat 727

114. Der Ursprung des Staates 115. Der Staat: Rechtsordnung Der juristische Staatsbegriff 737 — Der Anarchismus 738

734 736

Inhalt

16 Kapitel

Seite

116.

D e r Staat: Machtorganisation Der soziologische Staatsbegriff 742 — Staatstheorie des dialektischen Materialismus 743 — Machtstaatstheorie 745

738

117.

Der Staat: Naturgewalt Die rassisch-biologische Staatsphilosophie 748

746

118.

D e r Staat: Willenseinheit

748

Konsenstheorie 749 119.

Der Staat: Wohlfahrtsverband

751

120.

Der Staat: Politischer Pluralismus Staat n u r politischer Pluralismus? 754 — Staat o h n e politischen Pluralismus? 755

752

121.

D e r Staat: Willkürverband

757

122.

D e r Staat: Zweckverband

758

123.

Der Staat: Geschichtliches Wesen Der Staat des Historismus 761 — Der Staat des Idealismus 763

760

124.

Der Staat: Sünde Unausweichliche Dämonie? 765

764

125.

Der Staat: Sittlicher W e r t Die Integrationstheorie 769

766

II. TEIL. D I E S O U V E R Ä N I T Ä T DES STAATES 126.

D i e Staatsgewalt

771

127.

Der Ursprung der Staatsgewalt Theorien über den Ursprung der Staatsgewalt 774

772

128.

Die N a t u r der Staatsgewalt Zwangsgewalt Grundwesen der Staatsautorität? 778 — charisma Grundwesen der Staatsautorität? 780

776 Führer-

129.

Der ursprüngliche Träger der Staatsgewalt Ideologische Bedingtheiten von Staatstheorien 782

780

130.

Die Volkssouveränität Die Folgerungen aus der naturrechtlichen Volkssouveränität 785 Die Kontroverse über die Volkssouveränität in der traditionellen Naturrechtslehre 787 — Die Kontroverse über die Übertragungsfrage in der traditionellen Naturrechtslehre 789

782

131.

Der bürgerliche Gehorsam Sittliche Verpflichtung 791 — Begrenzung 791 — Gegenüber Usurpator 793

790

132.

Das Recht des Widerstandes Passiver, aktiver Widerstand 797 — Die Revolution 800 — Der Tyrannenmord 801

796

133.

Die Staatsformen

802

Inhalt Kapitel

Seite

134.

D i e moderne Demokratie I. Ihre Grundlagen 806 II. Wesenszüge der modernen Demokratie 807 III. Zur Kritik der modernen Demokratie 810 I V . Reform der Demokratie 814 V. Probleme der demokratischen Maschinerie 818 — 1. Das Wahlsystem 819 — 2. Das Vertretungssystem 822 — 3. Der Kompromiß 825 — 4. Die Mehrheitsentscheidung 828 VI. Die vordringlichsten Aufgaben 830

806

135.

Der moderne totalitäre Staat

831

III. TEIL. D I E F U N K T I O N E N DES STAATES 136.

D i e Subsidiarität der staatlichen Funktionen Die freie und offene Gesellschaft 839 — Der Staat ohne freie und offene Gesellschaft 840

836

137.

D e r Primat der Politik

841

138.

D i e Rechtsfunktion des Staates: A . Die Verfassung Die naturrechtlichen Verfassungsprinzipien 845 — Die naturrechtlichen Prinzipien der Verfassungsänderung 847

844

139.

D i e Rechtsfunktion des Staates: B. Die Rechtssetzung

849

140.

Die Rechtsfunktion des Staates: C. Die Rechtsverwaltung . . . .

851

t41.

D i e Wohlfahrtsfunktion des Staates: A . Die Ordnung der Wirtschaft

142.

D i e Wohlfahrtsfunktion des Staates: B. Die Sozialpolitik Begründung der staatlichen Verpflichtung zur Sozialpolitik 861 — Grenzen der staatlichen Zuständigkeit zur Sozialpolitik 862

857 859

143.

D i e Kulturfunktion des Staates: A . Die Schule

867

144.

D i e Kulturfunktion des Staates: B. Die Kulturpflege

871

145.

Staat und Religion

875

146.

D i e Selbstschutzfunktion des Staates: D e r Verteidigungskrieg Die allgemeine Wehrpflicht 883 — Die Kriegsdienstverweigerung 884

880

147.

D i e Selbsterhaltungsfunktion des Staates: Die Bevölkerungspolitik I. Das quantitative Bevölkerungsproblem 885 — II. Das qualitative Bevölkerungsproblem 888 — 1. Negative Eugenik 888 — 2. Positive Eugenik 893

148.

D e r Staatshaushalt: Die Steuer- und Budgetpolitik Begründung und Begrenzung des Besteuerungsrechts 900 — Prinzip des Gemeinwohls in der Steuer- und Budgetpolitik 902 — Prinzip der Leistungsfähigkeit in der Steuer- und Budgetpolitik 910 — Haushaltsgestaltung und Haushaltspolitik (Fiscal Policy) 912

2 Messner, Naturredit

885

899

Inhalt

18 Kapitel

Seite

I V . TEIL. D I E D Y N A M I K DES STAATES 149.

Die Staatsräson Der absolute Pazifismus 920 — Der politische Utilitarismus 921 — Staatsräson und doppelte Moral 922

915

150.

Der Krieg

923

151.

D i e Bevölkerungsbewegung I. Bevölkerungsvermehrung 929 — Der Neomalthusianismus 933 — II. Bevölkerungsrückgang 933 — Ursachen des Geburtenrückgangs 935 — Folgen des Geburtenrückgangs 935

929

937

152.

Der Nationalismus

153.

Der Kapitalismus

940

154.

Der Imperialismus

943

155.

Der Militarismus

946

156.

Der Revolutionismus

947

157.

D i e ideologischen Mächte

949

158.

D i e sittlichen Mächte

951

159.

Aufstieg und Niedergang der Völker Die Geschichtsphilosophie 957

954

Literatur

zu Buch III

960

IV. Buch.

Wirtschaftsethik

I. TEIL. DER PROZESS DER SOZIALWIRTSCHAFT 160.

Die Sozial Wirtschaft

981

Marx' Werttheorie 985 — Methode der Wirtschaftsethik 986 161.

Der Zweck der Sozialwirtschaft

987

162.

Der M a r k t : Organ des sozialwirtschaftlichen Prozesses „Anarchie" der Konkurrenz 992 — „Gesetze" der Volkswirtschaftslehre 992 — Wertfreie Theorie in der Volkswirtschaftslehre 994 Der Bedarf: Die Nachfrage Konsumentenethik 998

990

163.

996

164.

Das Erwerbsstreben: Das Angebot 1001 Begriff der „volkswirtschaftlichen Produktivität" 1002 — Unternehmerfunktion 1004 — Gewinnstreben 1006 — Produzentenethik 1007 — Reklameethik 1009

165.

Das Geld Keynes' „Allgemeine Theorie" 1017

1010

166.

Das Kapital Keynes' „Sozialisierung der Investitionen" 1023

1019

167.

Der Kredit Keynes' „Theorie dynamisch?" 1027

1024

Inhalt Kapitel

19 Seite

168. Der Preis

1029

169. Der Lohn

1038

170. Der Zins

1057

Grundprinzipien der Preisethik 1030 — Einzelprinzipien 1033 — Kommutative Gerechtigkeit 1034 — Legale und distributive Gerechtigkeit 1035 — Der Wucher 1037 Grundprinzipien der Lohngerechtigkeit 1038 — Einzelprinzipien: Die soziale Gerechtigkeit 1047 — Die kommutative Gerechtigkeit 1050 — Legale und distributive Gerechtigkeit 1052 — Verhältnis der verschiedenen Prinzipien der Lohngerechtigkeit zueinander 1053 — Lohnbewegung und Gewerkschaftsmacht 1053 — Recht auf den vollen Arbeitsertrag 1055 — Gewinnbeteiligung 1055 Das kirchliche Zinsverbot 1062 — Neue Beurteilung der mittelalterlich-scholastischen Zinslehre 1063 — Mehrwertlehre von K. Marx 1065 II. TEIL. DIE O R G A N I S A T I O N DER S O Z I A L W I R T S C H A F T

171. Das Privateigentum

1067

Wandel der Eigentumsformen 1072 — 1. Die Eigentumspflichten 1073 — 2. Die Eigentumsrechte 1076 — 3. Eigentumsverteilung 1078 — Eigentumspolitik 1080

172. Die Arbeit

1084

Die Arbeit im Staatssozialismus 1088 — Die Arbeit im Betriebssozialismus 1089 — Die Arbeit im Arbeitergenossenschaftsunternehmen 1090 — Entwicklung des Genossenschaftsgedankens 1091 — Das Recht auf Arbeit 1093

173. Der Betrieb

1094

174. Die Unternehmung

1100

175. Das Gesellschaftsunternehmen

1105

Die Automatisierung 1098

Die Mitbestimmung 1101 Das Großunternehmen (Großbetrieb) 1111

176. Der Konzern 177. Das Kartell

1112 1117

Monopol und Oligopol 1120 — Konzentrationsgesetz 1128

178. Die Banken 179. Die Börse

1129 1136

III. TEIL. D I E I N T E G R A T I O N DER SOZIALWIRTSCHAFT

180. Das Wirtschaftssystem 181. Die Ordnung der Sozial Wirtschaft

I. Wettbewerb als Ordnungsprinzip der Sozialwirtschaft 1150 — II. Das Prinzip für die Ordnung des Wettbewerbs 1152 — III. Der Ansatzpunkt für die Sicherung freien und geordneten Wettbewerbs 1155 — Drei Einwände 1156 — I V . Die Organe der Sicherung freien und geordneten Wettbewerbs 1159 — V. Wettbewerbsordnung und wirtschaftliche Selbstverwaltung 1163 — V I . Wettbewerbsordnung und wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungspolitik 1166 —

2*

1146 1149

20

Inhalt

Kapitel

Seite

V I L Einwände und Bedenken 1167 — V I I I . Organisation der wirtschaftlichen Selbstverwaltung 1170 — I X . Wettbewerbsordnung und Wettbewerbsregelungen 1171 — X. Wirtschaftliche Selbstverwaltung und Staat 1174 — XI. Einige Wirkungen der erörterten Sozialwirtschaft der geordneten Freiheit 1175

182. Die Funktionelle Integration der Sozialwirtschaft

1177

183. Die Beschäftigungsintegration der Sozialwirtschaft

1196

184. Die soziale Integration der Sozial Wirtschaft 185. Die strukturelle Integration der Sozialwirtschaft

1200 1203

I. Konjunkturschwankungen 1177 — II. Die „neue" oder „säkulare" Inflation 1180 — The New Economics 1185 — I I I . Wirtschaftswachstum 1188 Technisierung und Arbeitslosigkeit 1199

1. Prinzip der relativen äußeren Selbständigkeit der Sozialwirtschaft 1203 — 2. Prinzip der relativen inneren Ausgeglichenheit der Wirtschaftsstruktur 1204 — 3. Prinzip der produktivitätsbestimmten Betriebsgrößenordnung 1205

186. Die Funktion des Staates bei der Integration der Sozialwirtschaft :··:···. ;···

1 2 0 9

Allgemeine Prinzipien hinsichtlich staatlicher Eingriffe in das Privateigentumsrecht 1212 — Möglichkeiten und Grenzen der Sozialisierung und Verstaatlichung („Nationalisierung") 1212 — Entschädigung im Falle der Sozialisierung oder Verstaatlichung 1214

Sozialismus auf der Sudoe nach neuen Wegen 1215 Das gemischte Wirtschaflssystem in sozialistischer cher Auffassung 1219

und in naturrechtli-

I V . TEIL. D I E K O O P E R A T I O N DER SOZI AL W I R T S C H A F T E N : DIE WELTWIRTSCHAFT

187. Die "Weltwirtschaft 188. Die Ordnung der weltwirtschaftlichen Kooperation

1224 1226

189. 190. 191. 192. 193. 194. 195. 196. 197. 198.

1228 1230 1234 1236 1239 1243 1245 1246 1247 1248

Der internationale Handel Das internationale Geldsystem Die internationale Kapitalbewegung Der internationale Nahrungsmittelmarkt Der internationale Rohstoffmarkt Das internationale Schuldenproblem Die internationale Konjunkturpolitik Die Integration der Weltwirtschaft Weltwirtschaft und Weltfriede Weltgerechtigkeit: Internationale soziale Gerechtigkeit

Literatur

zu Buch IV

Personen Verzeichnis Sachverzeichnis

1264 1231 1301

I.

BUCH

G R U N D L E G U N G

I.

Teil

Die Natur des Menschen: Fundamentalethik

1. Der Mensch Gegenstand der Wissenschaft vom Naturrecht ist die gesellschaftliche Ordnung als Inbegriff von Rechten und Rechtspflichten in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Beziehungen bestehen zwischen Einzelmenschen, zwischen Einzelmenschen und Gesellschaftsgebilden, und zwischen Gesellschaftsgebilden. Weil die Ordnung der Gesellschaft betreffend, scheint die Untersuchung von der Gesellschaft als solcher ausgehen zu müssen. Ihre Eigenart selbst scheint dies zu fordern. Sie besitzt ihr eigenes Sein, sie handelt unabhängig vom Individuum, und das Individuum hängt nicht nur in seiner Entfaltung ganz von ihr ab, sondern ist weitgehend ihrem Willen unterworfen; der Prozeß der Vergesellschaftung ist, national und international, im ständigen Fortschreiten begriffen. Außerdem überlebt die Gesellschaft den Menschen: Staaten überleben viele Generationen von Menschen, Nationen überdauern Hunderte von Jahren. Und schließlich besitzt das Wohl der Gemeinschaft einen solchen Vorrang über das Wohl des einzelnen, daß von diesem, wenn notwendig, das Opfer von Gut und Leben für die Gemeinschaft gefordert sein kann. Zweifellos mag die Gesellschaftslehre mit der Erforschung der Gesellschaft als Ganzem beginnen, wenn sie darangeht, ihre Natur zu ergründen, die Gesetze ihres Seins, ihres Lebens und ihrer Tätigkeit aufzufinden. Je weiter sie jedoch in ihrer Untersuchung fortschreitet und zum Seinsgrund der Gesellschaft vordringt, um so mehr wird sie sich der Frage gegenübersehen, worin die gesellschaftliche Wirklichkeit besteht und worauf sie beruht. Die Gesellschaftslehre wird dann finden, daß alles gesellschaftliche Sein an den Menschen hängt, die die Gesellschaft bilden. Und wenn sie nach den Kräften des Lebens und Wirkens der Gesellschaft forscht, dann wird die Gesellschaftslehre wieder auf die Menschen stoßen, die in der Gesellschaft zusammengeschlossen letztlich wirken und handeln. Wenn die Gesellschaftslehre schließlich nach den Rechten und Funktionen der Gesellschaft fragt, wird sie sich vor den Eigeninteressen und den Eigenrechten der Menschen sehen. Allen diesen sich der Gesellschaftslehre aufnötigenden Fragen kann sie nur genügen mit einer Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? Tatsächlich liegt jeder Gesellschaftslehre und Sozialethik eine Auffassung vom Men-

24

Die Natur des Menschen

sdien, eine philosophische Anthropologie, zugrunde, über die klar und eindeutig Rechenschaft abzulegen, eine ihrer fundamentalen wissenschaftlichen Aufgaben ist. Daher ist es berechtigt, wenn nicht geboten, die Antwort auf die Frage nach dem Menschen an die Spitze der Gesellschaftslehre zu stellen. An sich sind beide Verfahrensweisen, die vom Menschen und die von der Gesellschaft ausgehende, gerechtfertigt, solange sie in einer Weise gehandhabt werden, daß sie der Erfassung der ganzen Wirklichkeit dienen. Mensch und Gemeinschaft sind die beiden Pole in dieser Wirklichkeit. Wenn die angewandte Methode unvermögend ist, das ganze Feld der Erfahrung im Bereiche eines dieser Pole zu erfassen, dann ist sie wissenschaftlich unzulänglich. Das Ergebnis muß dann ein ideologischer Dogmatismus sein an Stelle des wissenschaftlichen Realismus. Die Gesellschaftslehre des Individualismus ging vom Einzelmenschen als einem in sich selbst fertigen Wesen und mit ganz in sich selbst beruhendem Werte aus, gelangte aber nie wirklich zum Begriff der Gemeinschaft als einer Wirklichkeit mit überindividuellem Sein, Zweck und Wert. Die Gesellschaftslehre aller Formen des Kollektivismus dagegen geht vom Sein der Gesellschaft als des unbedingten Erstwertes aus, gelangt aber nie zur ganzen Wirklichkeit der menschlichen Person mit ihren übergesellschaftlichen Zwecken und ihrem übergesellschaftlichen Wertrang. Weder das individualistische noch das kollektivistische Wertsystem, noch die darauf begründete liberalistische bzw. sozialistische Sozialideologie sind in der Praxis je voll verwirklicht gewesen, noch können sie es je sein. Die menschliche Natur läßt es niât zu. In Theorie und Praxis erfolgten daher mehr oder weniger weitreichende Modifizierungen. Es ist nicht Ziel dieser Darstellung der Naturrechtsethik, uns damit im einzelnen zu befassen. Wir haben einen eingehenderen Versuch dieser Art in einer anderen Arbeit unternommen 1 . Die Programme und Taktiken der Gruppen und Parteien, die die Vorkämpfer solcher Wertsysteme sind, wechseln. Nicht die Einzelheiten solcher Programme sind Sache einer Naturrechtsethik, sondern die ihnen zugrunde liegenden Gesellschaftsauffassungen und Wertsysteme. Es sei aber gleich zu Anfang betont, daß die notwendige Kritik keineswegs ein unterschiedsloses Verwerfen aller Bestrebungen und Erfolge der individualistisch-liberalistischen oder der kollektivistisch-sozialistischen Sozialbewegungen und Gesellschaftsformen der Neuzeit und der Gegenwart bedeutet. Die liberalistische Bewegung mit ihren Freiheitsforderungen wirkte sich teilweise in einer gesunden und berechtigten Auflehnung gegen überalterte Ordnungen und Einrichtungen des gesellschaftlichen, wirt1 Die soziale Frage im Blickfeld der Irrwege von gestern, der Sozialkämpfe von heute, der Wcltcntscheidungen von morgen, 7. Aufl., 1964.

2. Die Natur des Menschen

25

schaftlichen und politischen Lebens aus. Auf dem europäischen Kontinent war sie Träger der Erhebung gegen den Absolutismus, den Polizeistaat, gegen die merkantilistische Reglementierung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Die sozialistische Bewegung hinwiederum mit ihrer Verschiebung des Schwerpunktes der gesellschaftlichen Ordnung auf die entgegengesetzte Seite, teilweise zu verstehen als Gegenwirkung gegen die durch die individualistischen Kräfte verursachten Mängel der modernen Gesellschaft, kann in allen Ländern wirkliche und dauernde Erfolge in ihrem Bemühen um die Sozialreform buchen, was von den Anhängern aller Gesellschaftsauffassungen anerkannt wird. Wir haben gesagt, immer münde die Frage nach der Ordnung und den Funktionen der Gesellschaft in die Frage: Was ist der Mensch? Es ist die Frage nach der Natur des Menschen. Diese muß uns daher zunächst beschäftigen.

2. Die Natur des Menschen Wir beginnen mit einem Überblick über die heutigen Anschauungen in der Lehre vom Menschen. Es ist eine für die moderne Wissenschaftslehre (Erkenntnistheorie und Methodenlehre der Wissenschaften) feststehende Tatsache, daß das wissenschaftliche Denken durch unbewußt oder bewußt festgehaltene Anschauungen mitbestimmt ist. Daher sind zunächst die Grundanschauungen festzustellen, die für die der christlichen Anthropologie verpflichtete „traditionelle Naturrechtslehre" maßgebend sind. Das soll in diesem Kapitel geschehen zugleich mit einer Gegenüberstellung der wichtigsten heute festgehaltenen Anschauungen über die Natur des Menschen. Mit Betonung sei jedoch hervorgehoben, daß wir unsere Lehre vom Menschen und die darauf begründeten ethischen Prinzipien nicht aus den gleich folgenden Begriffen ableiten, sondern vermittels einer Analyse der Wirklichkeit und der Erfahrung gewinnen wollen. Diese Analyse wird uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen. Dabei wird über die Methode der Ethik mehrfach und ausführlich zu handeln Gelegenheit sein. Die verschiedenen Systeme der Lehre vom Menschen werden heute als Formen eines Humanismus vertreten. Wir folgen daher am besten dieser Ausdrucksweise. /. Der christliche

Humanismus

Der von der traditionellen Naturrechtslehre seit Augustin vertretene Humanismus gründet sich auf folgende Tatsachen und Einsichten: 1. Der empirischen Anthropologie, die die Erfahrungsgegebenheiten des menschlichen Bereiches kritisch erhebt und systematisch ordnet, entnimmt die

26

Die Natur des Menschen

traditionelle Naturrechtslehre zwei Einsichten: zunächst, daß der Mensch seinem Leibe nach dem Tierreich nahesteht, andererseits aber eine einzige „Art" im zoologischen Sinne darstellt; denn alle menschlichen „Rassen" sind unbeschränkt kreuzungsfähig. Die zweite Einsicht, die wir der empirischen Anthropologie entnehmen, ist die, daß der Mensch ein mit Vernunft begabtes Wesen ist. Er ist homo faber, das einzige Lebewesen, das Werkzeuge anfertigt, auf Grund seiner Fähigkeit verallgemeinernd die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung zu erfassen. Als einziges Lebewesen ist der Mensch ausgestattet mit der Fähigkeit bewußter Selbstbestimmung in seinem Verhalten. Sein Erkenntnis- und Selbstbestimmungsvermögen unterscheiden ihn als animal rationale, homo sapiens, wesentlich von der Tierwelt. 2. Der metaphysischen Anthropologie, die, von der Erfahrung ausgehend, das Wesen des Menschen ergründet, entnimmt die traditionelle Naturrechtslehre zwei weitere Einsichten: erstens, daß der Mensch eine geistige Seele besitzt; zweitens, daß er zufolge seiner leiblich-geistigen Natur ein Gesellschaftswesen ist, d. h. ein Wesen, das seine volle Entfaltung nur in der Gesellschaft findet. Für die traditionelle Naturrechtslehre ist Metaphysik auf Erfahrung begründet, wobei sie geleitet ist von der Überzeugung, daß Metaphysik methodisch ihrer Aufgabe nur entspricht, wenn sie ihre Ergebnisse zum ganzen Bereich der ihren Gegenstand betreffenden Erfahrungswirklichkeit in Beziehung zu setzen vermag. Gewiß, es gibt keine Metaphysik, die beanspruchen könnte, alle ihre Probleme mit unbestreitbarer Gewißheit zu lösen. Ebenso wahr ist jedoch, daß jede Metaphysik, die sich teilweise der Erfahrung verschließt oder Tatsachen der Wirklichkeit wegzuerklären versucht, in Dogmatismen der einen oder anderen Art verfällt, das sind Annahmen und Behauptungen ohne hinreichende oder ohne jegliche empirische oder philosophische Begründung. Die metaphysische Anthropologie der Naturrechtslehre hält daran fest, daß die menschliche Seele im Gegensatz zur Tierseele geistigen, selbständigen, unsterblichen Wesens und der Sitz der Vernunft ist. Daraus ergibt sich die wesenhafte Verschiedenheit (Dualismus) von Körper und Geist: der Körper ist materiellen, die Seele geistigen Wesens; keines der beiden kann aus dem anderen abgeleitet werden. Beide zusammen bilden die menschliche Natur als wesenhafte Einheit, wobei die geistige Seele das Prinzip der spezifisdi menschlichen, d. h., der durch die Selbstbestimmung des vernünftigen Wesens bedingten Handlungen ist. Weil durch Vernunft und Selbstbestimmung (Willensfreiheit) ausgezeichnet, ist der Mensch Person; weil geistigkörperlicher Natur, ist der Mensch gesellschaftlichen Wesens: die Vollentfaltung seiner Natur, namentlich auch als Person, ist ganz und gar gesellschaftlich bedingt.

2. Die Natur des Menschen

27

3. Der christlichen Anthropologie entnimmt die traditionelle Naturrechtslehre die endgültige Gewißheit hinsichtlich der vorhin erwähnten, sich der empirischen und metaphysischen Anthropologie erschließenden Einsichten über die durch seine Geistseele bedingte Natur des Menschen. Damit verbinden sich zwei Einsichten über die menschliche Existenz von größter Tragweite für die Gesellschaftslehre. Die erste betrifft die Tatsache der Erbsünde, den Grund für die mensdiliche Irrtumsfähigkeit und Willensverkehrtheit und die daraus entspringenden Fehlentwicklungen der gesellschaftlichen Lebensordnungen („soziale Frage"). Die zweite Einsicht betrifft die Tatsache, daß Gott selbst in die Welt eingetreten ist, durch die Annahme der Menschennatur die in die Seele des Menschen geschriebene Gottesebenbildlichkeit besiegelt, ihn durch die Erlösung der Gotteskindschaft, tatsächlich oder seiner Bestimmung nach, teilhaftig gemacht und damit bezeugt hat, daß der Wert („die Würde") der menschlichen Person über jeglichen irdischen Wert erhaben ist, so daß weder die Gesellschaft noch der Staat noch die Nation noch die Rasse noch die ganze Welt diesen Wert aufzuwiegen vermögen. IL Der naturalistische

Humanismus

Der eben entwickelten Idee des Menschen steht die naturalistische in ihren verschiedenen Spielarten gegenüber. Gemeinsam ist diesen 1. der Glaube an den „natürlichen" Menschen, nämlich den Menschen, dessen Daseinszweck ganz auf seine Lebensspanne beschränkt ist; 2. der Glaube an das alleinige Sein der der Erfahrung zugänglichen Wirklichkeit; 3. die Ablehnung der geoffenbarten Religion. Nach den Voraussetzungen und Sinngebungen in der Deutung der Natur des Menschen (ihrer Anthropologie) lassen sich folgende Abarten des naturalistischen Humanismus unterscheiden : 1. Der rationalistische Humanismus und seine Anthropologie sind hauptsächlich wegen ihrer Bedeutung für die geistesgeschichtliche Entwicklung des naturalistischen Denkens zu erwähnen. Sie beruhen auf drei Grundannahmen. Die erste besteht im Glauben an das Allvermögen der menschlichen Vernunft zur Erfassung und Gestaltung der Welt, ein Glaube, der seit den Tagen von Comte (1798—1857) immer mehr zum Glauben an das Allvermögen der Wissenschaft wurde. Dazu kommt zweitens der Glaube, daß der Mensch an sich zufolge seiner Vernunftnatur unbeeinträchtigt gut ist, wenn er nur „natürliche" Voraussetzungen für seine Entwicklung findet; daher der Ruf „Zurück zur Natur" (Rousseau, 1712—1778). Damit verbindet sich drittens der Glaube an das „Gesetz des Fortschritts" ohne Ende auf allen Gebieten der menschlichen und kulturellen Werte, zuerst von SaintSimon (1760—1825) und Fourier (1772—1837) verkündet. Das Ideal dieses Humanismus ist die sich in der Harmonie der Lust erfüllende Persönlichkeit, nicht weit von dem entfernt, das Bentham (1748—1832) als das „des größten Glücks der größten Zahl" gleichzeitig in England entwickelte. Die mit dem ersten und zweiten

28

Die Natur des Menschen

Weltkrieg gemachten Erfahrungen der Menschheit haben die rationalistische Anthropologie als wirklichkeitswidrig erwiesen. Geblieben ist jedoch der Glaube an die Vernunft mit immer neuen Hoffnungen im Gefolge der gewaltigen Fortschritte der Wissenschaften. Dies gilt ganz besonders für die beiden folgenden Abarten der naturalistischen Anthropologie. 2. Der szientistische Humanismus will sich in der Lehre vom Menschen und von der Gesellschaft ausschließlich an die Naturwissenschaften und an die mit naturwissenschaftlichen Methoden arbeitenden Wissenschaften vom Menschen halten, nämlich an die nur der empirischen Erkenntnis vertrauenden Biologie, Psychologie, Soziologie und Ethnologie. In den angelsächsischen Ländern sprechen manche geradezu von einem „naturwissenschaftlichen" Humanismus (Scientific Humanism) mit der Hoffnung, daß der Sozialwissenschaftler und der Sozialtechniker einmal fähig sein werden, in der Organisation des Gesellschafts- und Staatslebens das gleiche zu leisten, was der Naturwissenschaftler und Techniker auf dem Gebiete der äußeren Lebensbeherrschung leisten. Die unmittelbaren Vorväter des Szientismus als Weltanschauungslehre finden sich unter den Vertretern einer „naturwissenschaftlichen Weltanschauung" gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in Deutschland. Ganz weithin das Denken der angelsächsischen Welt beherrschend, ist heute der Szientismus auch in Kontinentaleuropa stark im Vordringen, außerdem in den Intelligenzschichten der außereuropäischen Welt, allerdings überall jetzt überschattet von der Angst, daß infolge eines Mißbrauches naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in einem neuen Weltkrieg der Fortbestand der Menschheit oder doch der Kultur bedroht ist. In diesem westlichen szientistischen Humanismus sind mit verschiedener Akzentuierung Einzelheiten aus „wissenschaftlichen" Theorien über die Natur des Menschen kombiniert. Diese Theorien sind vor allem: die biologischevolutionistische, die psydio-analytische, die utilitaristisch-pragmatistische, die logisch-positivistische, die ökonomisch-sozialdeterministische. Der östliche szientistische Humanismus weist der letzteren die ganz und gar dominierende Stellung zu. Dem Szientismus aller genannten Richtungen liegt eine gemeinsame Metaphysik zugrunde, wenn man darunter das Festhalten an Denkvoraussetzungen versteht, denen mit naturwissenschaftlichen Methoden keine Begründung gegeben werden kann. Denn tatsächlich ist die Erkenntnisweise mit naturwissenschaftlichen Methoden auf die der Sinneserfahrung zugängliche Welt beschränkt, sie ermöglicht daher keine im Sinne dieser Methoden wissenschaftlich begründeten Feststellungen über das Nichtbestehen einer darüber hinaus liegenden metaphysischen Wirklichkeit, während aller Szientismus die Annahme einer solchen Wirklichkeit (der übermenschlichen Gewissensautorität, der Willensfreiheit, der geistigen Seele, des überweltlichen Schöpfergottes) „wissenschaftlich" als Selbsttäuschung des Menschen erweisen zu können glaubt. Jede der vorhin erwähnten „wissenschaftlichen" Weltanschauungen hat eine eigene Spielart des naturalistischen Humanismus entwickelt. Eine jede bedarf daher der gesonderten Besprechung. 3. Der Humanismus. In der Darstellung seiner Anthropologie folgen wir Lenin, da er mit guten Gründen beansprucht, der logisch folgerichtigste Vertreter des dialektischen Materialismus zu sein. Das MarxEngels-Institut in Moskau ist mit der Bewahrung und dem Ausbau der Tradition der Leninschen Marx-Interpretation betraut. Ihre Prinzipien lassen sich aus Lenins Schriften kurz folgendermaßen zusammenfassen: „Das Psychische, Bewußtsein usw. ist das höchste Produkt hochentwickelter Materie, ist eine Funktion jenes komplizierten Bißchens von Materie, das das menschliche Gehirn genannt

2. Die Natur des Menschen

29

wird." — „Die materialistische Ausschaltung des Dualismus von Geist und Körper (materialistischer Monismus) besteht darin, daß die Existenz des Geistes als abhängig von der des Körpers erwiesen wird, indem der Geist als sekundär, als Funktion des Gehirns und Reflexion der äußeren Welt erklärt wird." Daher besteht die Natur des Menschen darin, höchstentwickelte „organische Materie" zu sein. „Die Materie ist das Primäre. Wahrnehmung, Denken, Bewußtsein sind die höchsten Produkte der in einer besonderen Form organisierten Materie. Das ist die Lehre des Materialismus im allgemeinen und von Marx und Engels im besonderen." Die organische Materie ist „das Ergebnis einer langen Entwicklung" der „ewig sich bewegenden und ewig sich verändernden Materie"; „Entwicklung ist ,Kampf' von Gegensätzen". Nur „der Kampf der sich ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie es Bewegung und Entwicklung sind *", was der Grund ist, warum der Materialismus dialektisch sein, d. h. „die Anerkennung von unveränderlichen Elementen, ,des unveränderlichen Wesens der Dinge', ablehnen muß 2 ". Jede Metaphysik, die vom dialektischen Materialismus abweicht, wird von Lenin als „Fideismus" bezeichnet, als „eine Doktrin, die Glauben an die Stelle von Wissen setzt 8 ". Der „Fideismus" des dialektischen Materialismus selbst ist freilich offenbar genug, da er sich, wie wir sehen werden, in den für ihn wesentlichsten Punkten auf wissenschaftlich unbegründete Annahmen, d. h. auf Dogmatismen stützt. 4. Der psychoanalytische Humanismus. Nach der Anthropologie von Freud spaltet sich der „Geistmechanismus" des Menschen auf in das Superego, das Ego und das Id: das Uberich, das Ich und das Es. Das letztere umfaßt das körperbedingte Triebhafte: die Libido mit dem Geschlechtlichen als bewegender Hauptkraft. Das Superego besteht in der Hemmungsautomatik auf Grund von anerzogenen Verhaltensnormen: Wie das Id, so gehört das Superego völlig dem „Unbewußten" an. Dieses Superego mit der ihm eigenen Uberzeugung von der übermenschlichen Autorität des Gewissensgesetzes besteht in der introjizierten Autorität der Eltern (oder Pflegepersonen), die dem Kinde in der der Erlangung des Selbstbewußtseins vorausgehenden frühesten Kindheit die willkürliche Befriedigung von Triebregungen zu versagen haben, vor allem auch die von Ausscheidungsbedürfnissen, und ihm die gesellschaftlich geltenden Verhaltensnormen, einschließlich der sittlichen, vermitteln. Das Ego ist der Bewußtseinsbestandteil der menschlichen Natur und damit jener Bestandteil des „Geistmechanismus", der sich in bewußter Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt bildet, im Vergleich zu den 1 Lenin, Materialism and Empirio-Criticism, 1908. Collected Works, ed. by A. Trachtenberg, authorized by the Lenin Institute, Moscow, Vol. XIII. Trans, by D. Kvitko, 1927, 26, 34, 52, 65 f., 191, 228, 323 f. 3 Lenin, a. a. O. 220. Eine andere Umschreibung dieses grundlegenden Begriffes der „Dialektik' lautet so: „In der Erkenntnislehre, wie in anderen Zweigen der Wissenschaft, müssen wir dialektisch denken, d. h., wir dürfen unsere Erkenntnis nicht als etwas Fertiges und Unveränderliches ansehen, sondern müssen zeigen, wie Erkenntnis sich allmählich aus Unwissenheit entwickelt und wie unvollständige, unexakte Erkenntnis allmählich vollständiger und exakter wird" (a. a. O. 77). In all dem schließt sich Lenin eng an Engels an. Die Natur arbeitet exakt, sagt Engels; die Welt, besonders die Geschichte, ist ein Entwicklungsprozeß, d. h. ist in ständiger Bewegung, Veränderung, Umbildung, Entwicklung; dieser Entwicklungsprozeß kann seinen intellektuellen Abschluß nicht in der Entdeckung einer sogenannten absoluten Wahrheit finden (Fr. Engels, Der Sozialismus als Utopie und Wissenschaft, 1892, 27-29; bemerkenswert ist darin die Stelle über die materialistische Dialektik und ihre Verpflichtung gegenüber Hegel). Über Engels' Bedeutung für die Marxinterpretation sagt Lenin: „Es ist unmöglich, den Marxismus zu verstehen und ihn wirklich auezulegen, ohne alle Werke von Engels heranzuziehen* (Lenin, The Teachings of Karl Marx, 1931, 48). * Lenin, a. a. Ο. yii. Zu den Fideismen in der Anthropologie des dialektischen Materialismus vgl. Messner, Widersprüche in der menschlichen Existenz, 305—315.

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Die Natur des M e n s e n

beiden anderen einen verhältnismäßig kleinen Teil der Konstitution der Persönlichkeit ausmacht, aber mit seiner Entwicklung die Integration der Persönlichkeit entscheidet. Diese kurze Zusammenfassung der Grundgedanken der Psychoanalyse 4 ist für den gegenwärtigen Zweck ausreichend. Die Freudsche Psychoanalyse weiß nichts von einer selbständigen Geistseele als wesenhaft bestimmendem Teil der menschlichen Natur, gehört daher als metaphysische Lehre vom Menschen zu den Richtungen der materialistischen Anthropologie. Unsere Kritik bedeutet nicht die Ablehnung der Psychoanalyse als Methode der Psychologie und Psychotherapie, da in der Tat, um mit R. Dalbiez zu sprechen, „das Werk von F r e u d die tiefste Analyse der weniger menschlichen Elemente der menschlichen Natur ist, die die Geschichte kennt 5 ". 5. Der behavioristische Humanismus. Seine Anthropologie sagt uns, wie der amerikanische Psychologe E. L. Thorndike β sich ausdrückt, daß „zufolge der nahezu vierzigjährigen experimentellen Erforschung des Tierintellekts und der heutigen Fortschritte in der Erkenntnis des menschlichen Denkens und der menschlichen Urteilskraft keine klare, allgemeine qualitative Unterscheidung zwischen den intellektuellen Anlagen der menschlichen Gene und der der niedrigeren Tiere möglich erscheint". Die Anthropologie des Behaviorismus ist materialistisch: Der Mensch ist als höheres Tier gedacht ohne Geistseele. Hinsichtlich der Urteilskraft ist es „jetzt bekannt", sagt Thorndike, daß der Mensch Verbindungen im Intellekt herstellt geradeso wie die Tiere, allerdings in ungeheuer größerer Anzahl, und daß seine Kraft der abstrakten Verallgemeinerung und Schlußfolgerung sozusagen als Nebenprodukt entwickelt wird. Thorndike behauptet: Schimpansen, die Stöcke gebrauchen, und Ratten, die sich auf ihren Ortssinn verlassen, haben Köhler, Norman Maier, McDougal und andere „am Ende zur Uberzeugung gebracht", daß diese Tiere „etwas solcher Art" tun, nämlich „das sogenannte Schlußfolgern". „Im allgemeinen", wenn die Tatsachen das Interesse der Tiere wecken und wenn deren Verhalten in Beziehung auf die Tatsachen lebhaft und vielseitig ist, dann „scheinen und sind" die Tiere „irgendwie" wie Menschen. Soweit Thorndike. Wir brauchen nicht zu erörtern, wie sehr ein solches Vorgehen der Verallgemeinerung und Gleichsetzung von „scheint" und „sind" auf der Grundlage von „irgendwie" im Widerspruch zu jeder wissenschaftlichen Methodik steht. Was Thorndike sagt, drückt seine persönliche Meinung aus, hat aber nichts mit Wissenschaft zu tun. Die Anthropologie des Behaviorismus fußt ganz auf vorgefaßten Dogmatismen und Fideismen. 6. Der Humanismus läßt sich am besten nach dem Buch „Evolution" von Professor Julian Huxley darstellen. Für die Theorie der Evolution sei jetzt „eine Phase der Synthese erreicht 7". Dabei kommt er zum Schlüsse, daß Evolution „genau so ein Produkt blinder Kräfte ist wie das Fallen eines Steines zur Erde oder Ebbe und Flut in den Meeresgezeiten. Wir selbst sind es, die einen Sinn in die Evolution hineinlegen müssen, wie die Menschen früherer Zeiten Willen nnd Gefühl in anorganische Erscheinungen wie Sturm und Erdbeben hineinverlegt.il. Wenn wir auf einen Zweck in der Zykunft des 4 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. I-XVII, London 1940; zur philosophischen und ethischen Seite der Psychoanalyse Freuds vgl. Messner, Kulturethik, 1954, 36 ff., 73 ff., audi Κ. Stern, The Third Revolution, 1951 (USA), dt. Die dritte Revolution, 1956. 5 R. Dalbiez, Psychoanalytical Method and Doctrine of Freud, 1941, Vol. II, 327. β E. L. Thorndike, Human Nature and the Social Order, 1940, 288 ff. 7 J. Huxley, Evolution. The Modern Synthesis, 2. Aufl. 1963, 13.

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Menschen hinarbeiten wollen, dann müssen wir einen solchen Zweck selbst formulieren. Zwecke des Lebens werden gemacht, nicht gefunden". Alle Werte sind entwicklungsbedingt, die Annahme absoluter Werte und ihre Personifizierung in Gott war ein Irrtum des Menschen, den zu erkennen ihn der Fortschritt der Wissenschaft befähigt; andererseits „könne der evolutionäre Humanismus der Kern einer neuen Religion werden", diese verstanden als Bestimmung und Pflicht des Menschen zur Fruchtbarmachung der noch unerschlossenen Kräfte des Menschen8. In der Anschauung dieser materialistischen Anthropologie ist der Mensch nur eine hochentwickelte Art der Wirbeltiere, „lebendige Materie", und als solche ausschließlich Ergebnis der Evolution des „Weltstoffs" in einer einzelnen Richtung unter den unzählbaren anderen. Ein anderer Neodarwinist, Professor D. M. S. Watson , gibt offen zu, daß es ein Fideismus ist, auf den sich die materialistische Anthropologie des Neodarwinismus gründet: „Evolution selbst wird von den Zoologen nicht angenommen, weil ihr Vorkommen beobachtet oder durch logisch zureichende Argumente belegt worden ist, sondern weil es den Tatsachen der Klassifikation, der Paläontologie und der geographischen Distribution entspricht und weil keine andere Erklärung glaubhaft ist." Warum nicht? Watson gibt als Grund an: Die Evolutionstheorie ist „allgemein angenommen, nicht weil durch logisch zwingende Beweise dargetan werden kann, daß sie wahr ist, sondern weil die einzig mögliche andere Erklärung, die besondere Erschaffung (des Menschen), klar erweise unglaubhaft ist 9 ". Humanismus. Für die Anthropologie des logischen 7. Der neo-positivistische Positivismus, der in England und Amerika das philosophische Denken seit der Zeit vor und nach dem zweiten Weltkrieg weitgehend beherrscht, ist nach Professor Gilbert Ryle, einem seiner führenden Vertreter in England, die Menschenseele, wenn unmateriell gedacht, nichts anderes als „das Gespenst in der Maschine". Nach dem logischen Positivismus gibt es Wahrheitserkenntnis nur bezüglich der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit, also bezüglich von Tatsachen, die durch sinnliche Wahrnehmung nachprüfbar (verifizierbar) sind; daher können Aussagen über eine metaphysische Wirklichkeit wie auch über Werte weder als wahr noch als falsch gelten, sie seien sinnlos10. Allerdings könne der Mensch ohne Wertannahmen und Wertsetzungen im persönlichen und sozialen Leben nicht auskommen. Der Fideismus in den Denkvoraussetzungen des logischen Positivismus ist vielfach hervorgehoben worden. Denn nach diesen Voraussetzungen ist,\ erstens, sein Verifizierungsprinzip selbst nicht empirisch verifizierbar, ist es also im Sinne des logischen Positivismus eine metaphysische Aussage und daher sinnlos; die Vertreter des Neopositivismus vermochten bisher nicht, diese ihr ganzes System in Frage stellende Grundschwierigkeit zu lösen. Ein zweiter Fideismus besteht darin, daß der Vertreter des logischen Positivismus geistige Zustände und noch mehr geistige Gehalte mit dem verbindet, was ihm die Sinneswahrnehmung von anderen Menschen vermittelt; diese Zustände und Gehalte sind aber als solche mit der 8 /. Huxley , a. a. Ο. 576; drs., Evolutionary Ethics, 1943, 41 f., 84; drs., Evolution in Action, 1953/ 149 f· ® British Association for the Advancement of Science, Report on 97th Meeting, 1929, pp. 88, 95, erwähnt in The Nineteenth Century, March 1943. 10 G. Ryle , A. /. Ay er and others, The Revolution in Philosophy, 1956; A. J. Ay er, Language, Truth and Logic, 2. Aufl. 1948; C. L. Stevenson, Ethics and Language, 1944; G. Ryle, The Concept of Mind, 1949, 2. Aufl. 1950. Zur Kritik vgl. C. E. M. Joad, A Critique of Logical Positivism, 1950; Fr. Lobleston, Contemporary Philosophy: Studies in Logical Positivism and Existentialism, 1956; K. R. Poppor, The Logic of Scientific Discovery, 1962, 35 ff., 51 f.

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Die Natur des Menschen

Sinneswahrnehmung selbst nicht verifizierbar. Nur im Widerspruch zu seinen Denkvoraussetzungen kann daher der Vertreter des logischen Positivismus versuchen, sich mit anderen Menschen über solche Zustände und Gehalte zu verständigen. Eine Sozialtheorie hat der logische Positivismus nicht einmal im Ansatz versucht, alle Sozialgestaltung kann nach ihm ausschließlich nur Resultante der in einer Gesellschaft tatsächlich wirksamen individuellen und kollektiven Bestrebungen nach der Realisierung von Werten sein, über deren Wahr oder Falsch jedoch philosophisch-rational keine Verständigung möglich sei. Humanismus, zwar vielfältig gespalten, erhält sein 8. Der existentialistische besonderes Gepräge im Gegensatz zu allen anderen Richtungen der naturalistischen Anthropologie dadurch, daß er behauptet, wir können nur etwas über die Existenz des Menschen wissen, nichts über sein Wesen (Essenz), also nur etwas über das „Wie" menschlichen Seins, nicht über das „Was". Zum Unterschied vom bloßen Dasein sei das „eigentliche" Existieren des Menschen durch Verwirklichung seines Selbst in der jeweiligen Situation auf Grund seiner Freiheit, daher nur durch „Selbstentwurf" möglich. Infolgedessen kann es auch für dieses Existieren keine allgemeingültigen Wertmaßstäbe geben, das Gesetz für seine Entscheidung kann dem Menschen nur im Existieren selbst offenbar werden. Dieser Existentialismus bestreitet somit das Bestehen der allgemeingültigen sittlichen Ordnung als der aus der Natur (Wesen) des Menschen selbst zu erhebenden Existenzordnung. Der Gegensatz der existentialistischen zur naturrechtlichen Anthropologie ist offenbar: Die Grundannahme der letzteren in allen ihren Formen ist die Möglichkeit der Erkenntnis der Natur des Menschen, eben seines Wesens und der darin erkenntlichen einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Existenzordnung. So bedeutungsvoll die Existenzphilosophie für die Ethik ist infolge ihrer entschieden antideterministischen Einschätzung der Freiheit sowie der Hervorhebung der Bewußtheit im eigentlichen Existieren, sie bleibt fast ausschließlich mit dem Einzelmenschen befaßt, zum Bereich der Sozialnatur des Menschen und den Fragen der Sozialordnung hat sie mit ihrer Deutung der menschlichen Existenz aus der individuellen Freiheit bisher kaum Zugang gefunden 1 1 (über neue Bestrebungen vgl. Kap. 39). 9. Der idealisti sehe Humanismus. Während der Monismus (Wesensgleichheit von Materie und Geist) materialistischer Art den menschlichen Geist zu einer Form der Entwicklung der Materie macht, faßt der idealistische Monismus den Menschen und überhaupt alles Wirkliche als Entwicklungsformen des Geistes und diesen als Grundwesen der Welt auf (heute wird diese Philosophie auch manchmal als Psychismus bezeichnet). Die Philosophie des idealistischen Monismus in der von Hegel gegebenen Prägung ist deshalb für die Gesellschaftsichre von größter Tragweite, weil nach ihr der Staat eine „höhere" Form in der Selbstverwirklichung des Geistes ist: „indem er (der Staat) objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es Glied desselben ist"; womit eine gerade Linie vom idealistischen Monismus zum totalitären Prinzip der „Identifizie11 Zur Existenzphilosophie die bekannten Werke von Heidegger, Sartre, auch teilweise Jaspers sowie zur Kritik an neuerer Literatur? F. J. Rintelen, Philosophie der Endlichkeit, 1951; Hans Meyer, Die Weltanschauung der Gegenwart, 1949, 430—476; Hans Pfeil, Existentialistische Philosophie, 1952; O. F. Bolhiow, Existenzphilosophie, 4. Aufl. 1955; Emanuel Mounier, Einführung in die Existenzphilosophie (deutsch v. W. Richter), 1949, bes. seine eingehende Kritik gegenüber Sartre; Joseph de Tonquédec SJ, Une philosophie existentielle. L'existence d'après Karl Jaspers, 1945; /. M. Hollenbach SJ, Sein und Gewissen. Eine Begegnung zwischen Martin Heidegger und Thomistischer Philosophie, 1945; Auguste Etdieverry SJ, Le conflit actuel des Humanismes, 1955, geht außer auf den existentialistischen auch auf den rationalistischen und marxistisdien Humanismus ein.

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rung von Staat und Individuum" führt, wie es Gentile für den italienischen Faschismus formuliert h a t 1 2 . Er war von Hegel beeinflußt, obwohl dieser selbst sicher jede Form des modernen totalitären Staates zurückgewiesen hätte, da nach seiner Auffassung die Weltgeschichte letztlich die Entwicklung der Idee der Freiheit ist. Trotzdem läßt sich wohl sagen, daß der aktualistische Idealismus von Gentile der annimmt, daß der Geist nur im Handeln existiert und nicht als Sein in sich selbst, jede Bekräftigung in Hegels Denken finden konnte, da nach Hegels Anschauung „der Geist die existierende Wahrheit der Materie ist", „der Geist seine Wirklichkeit nur dadurch hat, daß er sich in sich selbst entzweit" und „er nur ist, was er t u t 1 4 " . Die einflußreichste deutsche Neuformulierung der Hegeischen Philosophie auf dem Gebiete der Gesellschaftslehre, der Universalismus von O. Spann mit seinem verwandten Begriff der „Gezweigung des Geistes", gelangt zu einer ähnlichen Metaphysik des Menschen mit der Schlußfolgerung, daß es „Grundtatsache aller gesellschaftlichen Wirklichkeit und Grunderkenntnis aller echten Gesellschaftswissenschaft i s t . . . , daß nicht die einzelnen das eigentlich Wirkliche seien, sondern das Ganze, und daß die einzelnen nur insoweit Wirklichkeit und Dasein haben, sofern sie Glieder des Ganzen sind 1 S ".

3. Das Naturgesetz 1. Die Fragestellung Die Natur der Dinge erkennen wir aus ihren Wirkweisen 1 . Die einzelnen Wissenschaften gehen bei der Erforschung der leblosen Natur und der Naturgesetze von der Beobachtung der Kräfte aus, die in ihnen wirksam sind, so von den Verhaltensweisen der Lebewesen, namentlich denen gegenüber ihrer Umwelt. Bei der Erhebung der Natur des Menschen und der ihr wesenseigenen Gesetze des Verhaltens kann der Weg kein anderer sein. Wir müssen daher die Kräfte, Triebe und Antriebe untersuchen, die wir im Menschen am Werke finden. Auf den ersten Blick werden sich der Beobachtung darbieten: der Trieb zur Selbsterhaltung, der Nährungstrieb, der Trieb nach Unterhaltssicherung, der Vorsorge für die Zukunft, der Geschlechtstrieb, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, der Trieb zum Familienleben, der Trieb zur Gesellung, der Trieb nach Erweiterung von Erfahrung und Wissen, der Trieb nach dem Schönen, das Verlangen nach Achtung von Seiten anderer, der Trieb nach einem geordneten Verhältnis zum höchsten Wesen, alle anderen Triebzwecke einbeziehend der Glückstrieb. 12

G. Gentile, Origini e Dottrine del Fascismo, 1934. G. Gentile, The Theory of Mind as Pure Act, engl. Übers, von H. W. Carr, 1922, 20, 27. 14 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§ 187, 343; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1830, § 389. 15 Ο. Spann, Gesellschaftslehre, 3. Aufl. 1930, 562; Der wahre Staat, 3. Aufl. 1931, 33 ff. 18

1 So auch Thomas v. Aq. I, 76, 1: Die Natur eines jeden Dinges (rei) wird aus seiner Wirkweise (operatio) offenbar; drs., S. c. g. II. 79: Die Wirkweise eines Dinges erweist sein Wesen (substantiam) und sein Sein; denn die Wirksamkeit eines jeden Dinges geht darauf zurück, daß es ist, und die ihm eigene Wirkweise folgt der ihm eigenen Natur.

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Messner, Naturrecht

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Einige dieser Triebe sind dem Menschen mit dem Tiere gemeinsam. Trotzdem springt ein Unterschied sofort ins Auge: Der Mensch vermag sich seiner Triebe bewußt zu werden und den Zusammenhang zwischen seinen Trieben und den ihnen innewohnenden Zwecken zu erfassen. Zum Unterschied vom Tier ist sich der Mensch bewußt, daß der Nahrungstrieb der Erhaltung des Lebens und der Gesundheit des Individuums dient. Er ist sich weiters bewußt, daß es, wenigstens teilweise, von ihm, seiner Selbstbestimmung, abhängt, ob und wie weit er in seiner Triebbefriedigung jenen Zwecken entspricht, ζ. B. ob er bei der Befriedigung seines Nahrungstriebes jenes rechte Maß einhält, daß er dessen Zweck nicht durch zuwenig oder zuviel vereitelt. Er weiß aber außerdem mit gleicher Sicherheit, daß es nicht ganz seiner Willkür überlassen ist, wie er sich in dieser Hinsicht verhält, sondern daß es seiner Vernunftnatur gemäß nur geschieht bei Einhaltung des rechten Maßes, während er durch ein Übermaß an Essen und Trinken, das ihn in der Erfüllung seiner Aufgaben oder im Gebrauch seiner Vernunft behindert, im Widerspruch zu der ihm mit der Vernunftnatur auferlegten Verantwortung menschenunwürdig, „untermenschlich" handelt. Er ist sich weiters eines inneren Antriebes, der Nötigung durch die Pflicht, zum Verhalten im Einklang mit dieser Verantwortung bewußt. Und schließlidi erkennt der Mensch sofort den anderen Menschen als solchen mit der gleichen Vernunftnatur und erkennt damit bestimmte von ihm selbst geforderte Verhaltensweisen gegen den andern wie auch des andern gegen ihn selbst. Wir beobachten somit im Bereich der Natur des Menschen geistige und körperliche Triebanlagen und haben keinen Grund, die Wirksamkeit derselben nicht als die Wirksamkeit des Naturgesetzes im Menschen zu betrachten, solange wir die gleichen Prinzipien gelten lassen, nach denen wir die Naturgesetze der äußeren Welt erfassen. Gewiß, die Art und Weise der Wirksamkeit des Naturgesetzes im Menschen ist nicht die gleiche wie die in der unvernünftigen Natur. Die Natur hat ihre je eigene Wirkweise in den leblosen, den pflanzlichen und den tierischen Wesen. Das gleiche muß vom Menschen gelten, auch in ihm besitzt die Natur ihre eigene Wirkweise. In der Tat besteht seit den Anfängen des uns bekannten Denkens des Menschen über sich selbst (ζ. B. in den eine weit in die Vorzeit zurückreichende Tradition übernehmenden Homerischen Dichtungen) allgemeine Übereinstimmung darüber, daß der Ansatzpunkt zum Verstehen der Natur des Menschen seine Vernunft ist 2 : daß nämlich seine Natur als solche durch jene Verhaltensweisen charakterisiert ist, die von seiner Vernunft abhängig sind. Das so durch die Vernunftnatur bedingte spezifisch menschliche Verhalten a

Vgl. O. Dittrich,

Geschichte der Ethik, Bd. I, 1926, 24 ff.

3. Das Naturgesetz

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wird deshalb den Gegenstand der Erforschung des Naturgesetzes des Menschen bilden müssen: das arteigene Verhalten des Menschen, bedingt durch seine Selbstbestimmung und seine Verantwortung als Vernunftwesen. Dieser vorläufige Aufriß unseres Problems, das im einzelnen zu erörtern die Aufgabe der folgenden Kapitel sein wird, zeigt, daß es jene Fragen umschließt, die aus der menschlichen Erfahrung hinsichtlich des sittlichen Bewußtseins und der sittlichen Ordnung entspringen. Tatsächlich stimmen alle Systeme der Ethik darin überein, daß das Wissen um Gut und Böse, das Bewußtsein der Pflicht und der Verantwortung, das Gewissen, die sittlichen Erfahrungsgegebenheiten sind. In der Erklärung des Ursprungs, des Wesens und des Verpflichtungsgrundes des Sittlichen gehen die verschiedenen Systeme jedoch weit auseinander. In unserer Erörterung der Grundprobleme der Ethik werden wir in der Hauptsache der Denklinie folgen, die auf Plato und Aristoteles zurückgeht, von Augustin und Thomas ν . Aq. weiter entwickelt wurde, einen zweiten Höhepunkt mit den großen Spaniern des 16. und 17. Jahrhunderts, vor allem Franz v. Vitoria und Suarez, erreichte und seither in ununterbrochener Tradition fortgeführt wurde: der traditionellen Naturrechtsethik. Dabei werden wir gewiß auf die Kritik dieser Tradition durch die moderne Ethik einzugehen, auch selbst kritische Vorbehalte zu machen haben; auch werden wir uns, wo es notwendig erscheint, um eine weitere Befestigung der Grundlagen und des Ausbaues ihrer Argumente bemühen. Besonders hoffen wir, neue Aspekte hinsichtlich der daraus für die moderne Gesellschaft sich ergebenden Folgerungen eröffnen zu können. Die Entwicklungslinie der traditionellen Naturrechtslehre wieder aufzunehmen hat auf den ersten Blick schon den ungeheuren Vorteil, daß sie auf ein ununterbrochenes Bemühen des menschlichen Denkens durch eine Zeit von mehr als zweitausend Jahre begründet ist, und zwar auch auf ein selbstkritisches wie keines der anderen Systeme der Ethik. Dieser Vorteil scheint besonders beder größere Teil der deutungsvoll in der Zeit einer „Krise der Ethikda zeitgenössischen Philosophie keine wirkliche Antwort weiß, ja vielfach keine wissen zu können vorgibt, auf die fundamentalen Fragen der menschlichen Existenz, die in den bekannten Worten von Kant lauten: „Was können wir wissen, was sollen wir tun, was dürfen wir hoffen", und auf die Frage, in der, wie er sagt, die genannten zusammenlaufen: „Was ist der Mensch?" Abgesehen von all dem drängt das neuerwachte Interesse sowie die neueinsetzende Kritik des heutigen Rechtsdenkens an der Naturrechtsidee zu einer neuen Überprüfung der entscheidenden Stellungen der Naturrechtslehre, wie sie in ihrer großen Tradition entwickelt wurden. Nicht zuletzt scheint eine Neuüberprüfung dieser Stellungen angesichts der ungeahnten 8*

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Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften und des von ihnen gebotenen Erfahrungsmaterials geboten. Alle Fragen der Ethik (Moralphilosophie) können in dem folgenden Abschnitt nur behandelt werden, soweit es für die Grundlegung der Naturrechtsethik und damit der Sozialethik notwendig ist. Für eine ausführlichere Darlegung sei auf meine „Kulturethik", Budi I : „Prinzipienethik", verwiesen 3 . IL Das sittliche

Bewußtsein

Die Grundtatsache der sittlichen Erfahrung, von der eine jede Ethik ausgeht, ist des Menschen Wissen um Gut und Böse. Bei Vollgebrauch der Vernunft weiß der Mensch, daß Mutter oder Bruder zu ermorden, um in den Besitz ihrer Habe zu kommen, böse ist, und daß er es daher nicht tun darf. Der damit für das menschliche Bewußtsein verknüpfte allgemeine Imperativ „Meide das Böse, tue das Gute" wendet sich an den Menschen nicht bedingungsweise, sondern als unbedingte Forderung. Er sagt nicht: Tue das Gute, wenn du von anderen geachtet sein oder einen Vorteil erzielen willst. Der in Frage stehende Imperativ befiehlt: Töte nicht, obwohl du auf die Habe von Mutter oder Bruder verzichten mußt, die dir zur Versuchung wird, und obwohl auf dich kein Verdacht fallen würde. Es ist das Gewissen, kraft dessen jedermann vom sittlichen Imperativ weiß. Die bei allen Völkern in Kraft stehenden Systeme sittlicher Normen, vom Tabu bis zu dem der fortgeschrittenen Gesellschaften, lassen keinen Zweifel über die Allgemeinheit des Bewußtseins von diesem Imperativ, der den einzelnen Vorschriften und Regeln dieser Systeme zugrunde liegt. Wie über die Grunderfahrung des allgemeinsten Wissens um Gut und Böse herrscht bei allen Schulen der Ethik gleicherweise Ubereinstimmung über einzelne mit diesem Wissen verbundene Grundprinzipien des spezifisch menschlichen Verhaltens, wie: Bewahre Mäßigung, verhalte dich menschenwürdig; tue anderen nicht, was du nicht willst, daß sie dir tun (goldene Regel); gib jedem das Seine (Gerechtigkeit); vergilt Gutes nicht mit Bösem (Dankbarkeit); halte das gegebene Wort (Treue); gehorche der rechtmäßigen Obrigkeit. Es sind die unmittelbar einsichtigen sittlichen Prinzipien. Prinzipien heißen sie als Wahrheiten über verpflichtende Verhaltensweisen; unmittelbar einsichtig oder evident heißen sie als in sich selbst gewiß 3 Gegenüber zu sehr verkürzten Perspektiven mancher Kritiker darf darauf verwiesen werden, „daß die ,Kulturethik' dem Tatunrecht', wenn auch nicht zeitlich, so doch systematisch vorausgeht, daß nämlich der originäre Ansatz der hier vertretenen Naturrechtslehre eben in der ,Prinzipienethik' des Bandes ,Kulturethik' liegt . . . Für die Methode bezeichnend ist der als selbstverständlich ausgesprochene, in Wirklichkeit aber gleichzeitig ganze Systeme umstoßende Satz: ,Wie alle Wissenschaften, so muß auch die Ethik von den Erfahrungstatsachen ausgehen'" (Albredit Beckel, in: Hochland, Dezember 1961, 160).

3. Das Naturgesetz

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und daher als allgemeingültig erkannt. Verpflichtend ist ein Verhalten als unbedingte, vom Willkürwillen unabhängige Forderung an die Selbstbestimmung. Aller dieser Seiten seiner sittlichen Vernunft wird sich der Mensch am unmittelbarsten inne durch sein Gewissen mit seinem billigenden, mißbilligenden, mahnenden, warnenden, drängenden, hemmenden, lobenden, anklagenden, mächtigste Gefühle aufrufenden Urteil vor bzw. nach einer Entscheidung über ein in den Bereich des Guten oder Bösen fallendes Verhalten. HL Der Seinsgrund der Sittlichkeit Die Wissenschaften erheben die Erfahrungsgegebenheiten ihres Bereiches mit dem Zwecke, den inneren Zusammenhang derselben in sich selbst und in ihrer Verursachung zu ermitteln. Gleicherweise muß auch die Ethik die Zusammenhänge der Erfahrungsgegebenheiten erforschen, die sie in ihrem Bereich vorfindet. Wir haben sie im vorangehenden festgestellt. Als Grundfragen, die alle großen Systeme der Ethik beschäftigen, ergeben sich dann drei: die Frage nach dem Grund, nach dem Wesen und nach dem Kriterium des Sittlichen. Die ersten beiden kann kein System der Ethik übergehen, ohne gegenüber der wesentlichen Anforderung jeder Wissenschaft, nämlich der Ermittlung des Begründungszusammenhanges für die Erfahrungsgegebenheiten ihres Bereiches, zu versagen: dazu kommt für die Ethik als praktischer Wissenschaft die dritte Frage nach den Ordnungsprinzipien des einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Lebens, für deren Beantwortung sie in einem Kriterium der Sittlichkeit die Richtschnur zu bieten hat. Der natürliche Weg für den Zugang zu diesen Fragen scheint sich bei Thomas v. Aq. 4 zu finden. Das sittlich Gute, sagt er, kann nur eine Art des Guten seinem allgemeinen Begriff nach sein. Die Frage ist dann: Wann nennen wir Dinge gut und wann schlecht? Es scheint bemerkenswert, daß Vertreter einer der neuesten Hauptrichtungen der Philosophie, der „analytischen", die vom allgemeinen Sprachgebrauch ausgeht und deren Vertreter sich common sense philosophers nennen, zur gleichen Ausgangsfragestellung zurückkehren. Gut kann man zunächst die Eignung eines Dinges für einen besonderen Zweck bezeichnen, so wenn wir von einem guten Pferde sprechen in Anbetracht seiner Eignung als Zugpferd oder seiner Gefügigkeit im Gegegensatz zur Störrigkeit. Vor allem aber und schlechthin ist ein Pferd gut, wenn sein Organismus allseitig (unter Einschluß der normalen Intelligenz eines Pferdes) richtig funktioniert. Das ist offensichtlich der Fall, wenn 4 Thomas v. Aq., ι . II. qu. 18. a. 1; vgl. seine Definition des Guten im allgemeinen 1. II. qu. 71. a. 1.: In hoc enim consistit uniuscuisque rei bonitas, quod convenienter se habet secundum modum suae naturae.

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seine Natur die ihren wesenhaften Funktionen innewohnenden Zwecke erfüllt, ζ. B. die des Verdauungsapparates, des Sehens, des Hörens, des Nervensystems; widrigenfalls ist es in der einen oder anderen Hinsicht ein mit Mängeln behaftetes oder schlechtes Pferd. Wir nennen somit Dinge gut oder schlecht, je nachdem sie die Eignung zur Erfüllung der ihre Natur bestimmenden Funktionen besitzen. Das Gute schlechthin ist demnach die einem Dinge gemäße Vollkommenheit. Daher muß das spezifisch menschliche Gute, wie Aristoteles sagt, innerhalb des Bereiches der dem Menschen gemäßen „Vortrefflichkeit" gesucht werden, oder wie Thomas im Anschluß an Aristoteles sich ausdrückt, im Bereiche der dem Menschen wesenhaften „Vollkommenheit 5 ". Weil der Ausdrude „Vollkommenheit" heute sehr oft im moralischen Sinn gebraucht wird, während er hier im ontologischen Sinn zu verstehen ist, verwenden wir lieber Ausdrücke wie die Vollwirklichkeit menschlichen Seins oder das vollmenschliche Sein. Demnach ist das Gute eine Seinsweise und daher eine Qualität von besonderer A r t e . Da die menschliche Natur zum Unterschied von der Tierwelt durch die Vernunft bestimmt ist, müssen wir die Voraussetzung für die ihr eigene „Vortrefflichkeit", „Vollkommenheit", Vollwirklichkeit, in der Vernunft suchen. Wäre das anders, dann müßte ein krüppelhafter Mensch als wesenhaft schlecht angesehen werden, eine Idee, der unser Bewußtsein mit einem scharfen Protest begegnet; ja wir wissen, daß in seiner Persönlichkeit das wesenhaft Menschliche viel voller verwirklicht sein kann als in einem ganz und gar Gesunden. Es ist die Vernunft, in der und durch die der Mensch Vollmensch ist gemäß den Forderungen der Voll Wirklichkeit seiner Natur. 6

Aristoteles, Ethik I.; Thomas v. Aq., S. c. g. I. 40; auch in I. Ethic., lect. 1. Die von G. £. Moore in seinem berühmten Buch Principia Ethica (1903) aufgeworfene Frage wurde außerhalb der Naturethik nodi nicht wirklich beantwortet. „Gut", sagt er, „ist einer jener Denkgegenstände, die letzte Begriffe sind, selbst nicht definierbar, aber notwendig zur Definition alles Definierbaren." Was gut ist, sei, sagt er, unmittelbar einsichtig (evident), bedarf keiner weiteren Begründung und ist einer solchen auch nicht fähig; etwas anderes sei die Frage nach absoluten, allgemeingültigen Prinzipien; solche könne die Ethik nicht umschreiben, weil alle Pflichten situationsbedingt seien; was noch möglich sei, seien allgemeine Wahrheiten, gewonnen durch Verallgemeinerungen aus der Erfahrung hinsichtlich situationsbedingter Pflichten. (Beachtenswert ist die Parallelität dieser Gedanken von Moore mit den Grundanschauungen von Sdieler, so erstens, daß die Werte Gut und Böse ein eigener Bereich von Gegenständen sind, deren Erfassen auf unmittelbarer Einsicht, Evidenz, beruht, zweitens, daß sie nicht in einem Begründungsverfahren auf andere Wirklichkeiten zurückführbar sind, drittens, daß Prinzipien bezüglich Pflichten, des Sollens, nur Verallgemeinerungen der Werterfahrungen in den konkreten Situationen seien; zu Sdieler vgl. in diesem Kapitel VII.) Auch Thomas v. Aq. (1. II. 91. 3) ist wie Moore (und Sdieler) der Ansicht, daß die das Gute betreffenden allgemeinsten sittlichen Prinzipien Gegenstand unmittelbarer Einsicht, Evidenz, sind und eines Beweises weder bedürfen noch fähig sind; diese Prinzipien der praktischen Vernunft sind wie die der spekulativen indemonstrabilia, naturaliter cognita. Die Tatsache, daß sie nicht beweisbar sind, bedeutet indessen keineswegs, daß sie nicht weiter ergründbar sind hinsichtlich ihres Zusammenhanges mit der menschlichen Natur und der menschlichen Existenz, deren entscheidenden Zug ihr Geltungsanspruch bildet. Nur diese Ergründung ermöglicht, zu sagen, was dieser Geltungsanspruch für eine Berechtigung besitzt und was er in der konkreten Situation fordert. Denn das Gute und Böse, sittlicher Wert und Unwert, sind nicht nur, wie Moore und Sdieler annehmen, Gegenstände spekulativer, sondern solche praktischer Natur, d. h., sie sind ganz und gar existenzbezogen. 6

3. Das Naturgesetz

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Er ist jedoch nicht unausweichlich genötigt zum Verhalten nach diesen Forderungen. Der Mensch kann sich ζ. B. gegen seinen Trieb zur Selbsterhaltung kehren und aus freiem Entschlüsse Selbstmord begehen; das Tier kann das nicht, seine Instinkte nötigen es zu dem von seiner Natur geforderten Verhalten. Das Tier ist daher immer das, was es seiner Natur nach zu sein bestimmt ist. Anders der Mensch. Das spezifisch menschliche Verhalten ist nicht bestimmt durch blinde Kräfte, nidit nach Art der Unausweichlichkeit, die dem tierischen Instinkt innewohnt. Sein Verhalten nach oder entgegen den Forderungen seines vollwirklichen Seins als Mensch hängt vom Einwirken seiner Vernunft ab, von seiner Selbstbestimmung. Diese der menschlichen Natur eigene Anlage zur Selbstbestimmung ist somit der Grund für die Verantwortlichkeit des Menschen in seinem Verhalten, für das Entstehen des Phänomens des Sittlichen im Menschen. IV. Das Wesen der Sittlichkeit Unsere Analyse der menschlichen Natur führte uns zum Ergebnis, daß ihr vollwirkliches Sein nicht beruht auf einer Triebautomatik wie im tierischen Organismus, sondern auf der Wirksamkeit der Vernunft, die in Tätigkeit treten muß, sooft spezifisch menschliches Verhalten und das spezifisch menschliche Gute in Frage stehen7. Das Wirksamwerden der Drüsen des menschlichen Körpers hängt nicht von der unmittelbaren Tätigkeit der Vernunft ab, wohl aber die Art des Wirksamwerdens der Triebe und Antriebe zur Selbsterhaltung, zum Essen, zur Paarung, zum Erkennen in allen Wirklichkeitsbereichen, besonders auch zum Erkennen des Lebenssinnes und Daseinsgrundes, des Triebes zum Schönen als Mittel der Lebenserfüllung, wie überhaupt zur Lebensausweitung durch schöpferische Kulturentfaltung, wirtschaftlich und geistig. Offenbar stellt sich die Frage: Ist die Vernunft des Menschen auch befähigt, die rechte Art des Wirksamwerdens der seiner Selbstbestimmung unterstehenden Triebe zu erfassen und damit auch seine Natur selbst recht zu verstehen? Diese Fähigkeit besitzt die Vernunft, weil sie audi die den Trieben der menschlichen Natur innewohnenden Zwecke zu erkennen vermag. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, daß dem Men7 Die Vernunft ist es, wie Plato sich ausdrückt, durch die der Mensch Herr seiner irrationalen Triebneigungen und damit „Herr seiner selbst" ist (Der Staat, IV. 430); es ist die Bestimmung der Vernunft, „dem Menschen innerhalb seiner selbst", wie er das personhafte Ich nennt, „die vollständige Herrschaft über das ganze menschliche Sein zu geben" (a. a. Ο. IX. 589). Dazu sagt W. jaeger (Paideia: The Ideals of Greek Culture, Bd. II. 1944, 353); „The true man, the man in man, as Plato beautifully expresses the new Idea, is the intellectual part of the soul. It is unnecessary to explain the significance of this image in the history of humanism . . . It is clear once more that the whole complex structure of the Republic was meant only to serve as a background against which to work out this picture of the human soul . . . The function of education is to train our nobler irrational impulses to harmonize with the intellect so that the weak human element in us may be supported by them, and keep the sub-human part in check."

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sehen für die dazu notwendige Einsicht nicht nur die äußere, sondern auch die innere Erfahrung zur Verfügung steht, außerdem daß er die äußere und besonders die innere Erfahrung der Überlegung und der Beurteilung durch den Verstand (reflexiv) zu unterziehen sich genötigt sieht. Daher kommt es zu einem „Verstehen" der eigenen Natur in einer nur dem geistbegabten Wesen möglichen Art. Diese Einsicht in die eigene Triebnatur betrifft die geistige wie die leibliche Triebveranlagung, sie betrifft die den leiblichen wie den geistigen Trieben innewohnenden Zwecke. Im Bereich der leiblichen Triebe weiß der Mensch sofort auch um die bei den höheren Lebewesen sich findende Parallelität der Triebveranlagung und der Triebzwecke mit denen seiner eigenen Natur. Nur einfachste Erfahrung und Überlegung ist zum Verständnis der in dieser Triebveranlagung gelegenen Zwecke erforderlich. Zum Verständnis des Organismus des Pferdes und seiner spezifischen Triebanlagen ist keine detaillierte Kenntnis der chemischbiologischen Prozesse in seinem Gehirn, seinem Herzen, seiner Verdauung, seinem Sehen oder Hören erforderlich, sondern die Kenntnis, daß ζ. B. dem Trieb zur Nahrungsaufnahme eine für seinen Organismus wesenhafte Funktion innewohnt, wesenhaft, weil ihr Zweck die Erhaltung des Lebens ist. Ähnlich vermag der Mensch seine geistige Triebveranlagung zu verstehen, ζ. B. seinen Erkenntnistrieb mit dem allgemeinen Zweck der Wahrheits-, d. i. Wirklichkeitserkenntnis, so im Bereich der äußeren Welt, um diese sich dienstbar zu machen, ebenso aber in jenem der letzten Wirklichkeit, des Lebenssinnes im ganzen, dies namentlich in Verbindung mit seinem Wissen um das Gewissensgesetz. Wenn wir von „Trieben" sprechen, ist nach dem Gesagten klar, daß wir an die geistigen ebenso wie an die körperlichen Triebe denken 8 . Der Ausdruck „Trieb" ist nicht zuletzt in Anlehnung an seinen Gebrauch in der modernen Psychologie und Soziologie gewählt, die damit physische und psychische Triebanlagen bezeichnet. Es scheint notwendig, ausdrücklich zu betonen, daß diese Verwendung des Ausdrucks „Trieb" ganz und gar nichts zu tun hat mit dem Ausdruck „das Triebhafte", ja geradezu von vornherein die Verengung des Begriffes „Trieb" auf den der Vernunft ent® Wieder können wir uns an dieser entsdieidenden Stelle unserer Erörterung des menschlichen Naturgesetzes auf einen Gedanken von Thomas v. Aq. stützen, nämlich ι . II. q. 94. a. 2: secundum igitur ordinem inclinationum naturalium est ordo praeeeptorum legis naturalis; inclinationes sind nicht „Neigungen", sondern die Triebe; er spricht auch von der Triebkonstitution des Menschen und unterscheidet darin drei Gruppen von Trieben: 1. den ihm mit allen Wesen gemeinsamen Trieb zur Sclbsterhaltung nach der Seinsweise der eigenen Natur (conservationem sui esse secundum suam naturam), 2. die ihm mit den Lebewesen gemeinsamen körperlichen Triebe, wie den zur Geschlechtsverbindung, zur Aufzucht des Nadiwuchses, 3. die seiner Natur arteigenen geistigen Triebe, wozu er u. a. den Trieb zur Erkenntnis des Daseinsgrundes und Lebenssinnes (Gotteserkenntnis), den Sozialtrieb rechnet Bezüglich aller Triebe geht er vom Prinzip aus: omnia ilia ad quae homo habet naturalem inclinationem, ratio naturaliter apprehendit ut bona, et per consequens ut opere prosequenda, et contraria eorum ut mala et vitanda.

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zogenen oder widerstrebenden Bereich der menschlichen Natur ausschließt. Von den Triebanlagen sind gleichfalls zu unterscheiden „Triebregungen" und „Triebneigungen", die im Einklang zu den den Trieben innewohnenden Zwecken oder im Widerspruch dazu stehen können. Wir fassen zusammen: Das arteigene oder spezifisch menschliche Verhalten ist das des Vernunftwesens; das vom Menschen durch die Vollwirklichkeit dieser seiner Natur geforderte Verhalten bestimmt sich nach den in den geistigen und körperlichen Trieben seiner Natur vorgezeichneten Zwecken, kurz, nach der Zweckrichtigkeit; weil durch seine Vernunfterkenntnis und seinen Vernunftwillen (Selbstbestimmung) bedingt, erhält für den Menschen das von der Vollwirklichkeit seiner Natur geforderte Verhalten das Wesen des Sittlichen. Demnach können wir definieren: Die Sittlichkeit besteht in der Ubereinstimmung des Verhaltens des Menschen mit den in seiner Natur, ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecken, oder kurz, in der „Triebrichtigkeit". Wir können daher auch, einen bekannten Ausdruck von Aristoteles gebrauchend, sagen, daß das Gute im „rechten Triebe 9 " bestehe oder, wie die traditionelle Naturrechtsethik sich auch ausdrückte, in der „rechten Vernunft" („Vernunftrichtigkeit"), da es die Vernunft ist, die die spezifisch menschlichen Triebe auf die in ihnen vorgezeichneten Zwecke und damit das menschliche Verhalten auf die Ubereinstimmung mit der wahren Wirklichkeit der Menschennatur 10 hinordnet. 9 Audi an diesem für unsere Grundlegung der Naturrechtsethik entscheidenden Punkt können wir auf Ansätze bei Thomas hinweisen. Wo Thomas in die ontologisch-metaphysische Analyse eintritt, tut er es genau in der Richtung, in der wir uns um die heute erforderlich scheinende Fortbildung der traditionellen Naturrechtslehre bemühen: Er, der die psychologische (Vernunftseinsicht in Prinzipien) und theologische (ewiges Gesetz) Seite im Naturgesetz so stark betont, setzt in dieser Analyse bei den Zwecken an, und sofort wird ihm dann auch die Zweckrichtigkeit zum Kriterium der Sittlichkeit selbst; so fragt er in 2. Sent. dist. 38. qu. 1. art. 1. Utrum sit tantum unus finis rectarum voluntatem (ob die Zweckrichtigkeit des Willens nur einer einzigen Art ist) und sagt dazu: eodem ordine res referuntur in finem quo procedunt a principio, eo quod agens unusquisque ordinat effectum suum in finem aliquem; et ideo secundum ordinem agentium est ordo finium; inveniuntur diversi fines proprii, secundum diversitatem entium; res referuntur in finem ultimum communem mediante fine proprio; obzwar der Endzweck nur einer ist, nämlich Gott, nihilominus tarnen sunt alii fines proximi, et, si secundum illos fines servetur debita relatio voluntatis in finem ultimum, erit recta voluntas. Mit der ihm eigenen Präzision sagt er dann: actus morales non specificantur a fine ultimo, sed a finibus proximis: hi autem plures diversorum sunt, sicut et fines naturales sunt plures; das ist nichts anderes als die Zweckrichtigkeit. Will man sich um die Interpretation und Fortbildung der Naturrechtslehre von Thomas bemühen, dann, scheint uns, müßte es geschehen 1. durch eine umfassende ontologisch-metaphysische Analyse der menschlichen Natur, 2. durch den Aufweis der der Natur des Menschen innewohnenden Eigenzwecke, „fines proprii", 3. durch die Deutung des Naturgesetzes nicht nur als Vernunftgebot, sondern auch als Wirkkraft auf Grund der der menschlichen Natur innewohnenden Triebe, vermöge derer sie zur Verwirklichung der ihr gemäßen Naturordnung im gesellschaftlichen Leben gedrängt ist. Diese drei Richtungen sind es u. a., in denen wir um eine Fortbildung der traditionellen Naturrechtslehre bemüht sind. 10 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI. 2. Dieses Buch der nikomachischen Ethik macht es sehr zweifelhaft, ob das „klassische Menschenbild" durch den Einwand in Frage gestellt werden kann, daß es der Verbindung zwischen Vernunft und Trieb nur eine negative Note gibt, wie R. Niebuhr (The Nature and Destiny of Man, Bd. I. 1941, 32 ff.) anzunehmen scheint. Es ist nicht nur ein „Vernunftschema" (pattern of human reason, a. a. Ο. 3°)/ das dem Kriterium der „rechten Vernunft" zugrunde liegt. Allein schon Aristoteles' Grundlegung seiner Ethik durch die weitgespannte

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Da die Gesamtnatur des Menschen nach ihrer körperlichen und geistigen Seite in Frage steht, besteht demnach die Sittlichkeit in der Naturrichtigkeit (daher im gesellschaftlichen Bereich in der „Sachrichtigkeit", in dem von der „Natur der Sache" Geforderten, vgl. Kap. 4. IV.). Und da die in der Natur des Menschen mit ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecke, als von ihm in Selbstbestimmung (Freiheit) in den jeweils gegebenen Umständen zu verwirklichend, die Eigenart der menschlichen Existenz bedingend, können wir sie die „existentiellen Zwecke" des Menschen nennen. Die „existentiellen Zwecke" werden den Grundbegriff unserer Ethik bilden. Der Stellung des Zweckes in der traditionellen Naturrechtsethik zufolge eignet dieser ein teleologischer Wesenszug (wie auch, vgl. Kap. 4, ein eudämonistischer und, vgl. Kap. 6, ein intuitionistischer). Ein Überblick über die existentiellen Zwecke des Menschen scheint es klarzumachen, daß unsere Begriffsbestimmung der Sittlichkeit im Einklang steht mit der allgemeinsten und sichersten menschlichen Erfahrung. Wir können diese Zwecke so umschreiben; die Selbsterhaltung einschließlich der körperlichen Unversehrtheit und der gesellschaftlichen Achtung (persönliche Ehre); die Selbstvervollkommnung des Menschen in physischer und geistiger Hinsicht (Persönlichkeitsentfaltung) einschließlich der Ausbildung seiner Fähigkeiten zur Verbesserung seiner Lebensbedingungen sowie der Vorsorge für seine wirtschaftliche Wohlfahrt durch Sicherung des notwendigen Eigentums oder Einkommens; die Ausweitung der Erfahrung, des Wissens und der Aufnahmefähigkeit für die Werte des Schönen; die Fortpflanzung durch Paarung und die Erziehung der daraus entspringenden Kinder; die wohlwollende Anteilnahme an der geistigen und materiellen Wohlfahrt der Mitmenschen als gleichwertiger menschlicher Wesen; gesellschaftliche Verbindung zur Förderung des allgemeinen Nutzens, der in der Sicherung von Frieden und Ordnung sowie in der Ermöglichung des vollmenschlichen Seins für alle Glieder der Gesellschaft in verhältnismäßiger Anteilnahme an der ihr verfügbaren Güterfülle besteht; die Kenntnis und Verehrung Gottes und die endgültige Erfüllung der Bestimmung des Menschen durch die Vereinigung mit ihm. Es besteht wohl kein Zweifel, daß eine solche Aufzählung der existentiellen Zwecke des Menschen, ausgenommen den letzten, allgemeine Zustimmung findet. Das beweist, daß das voll entwickelte sittliche Gewissen des Einzelmenschen selbst, wenn es sich mit dem Sinn des Lebens beschäftigt, sich auf die existentiellen Zwecke verwiesen sieht, die es in der menschontologische Analyse des menschlidien Glückstriebes schließt ein solches Urteil aus. Nicht die auf das klassische Menschenbild begründete Ethik hat die sittliche Ordnung aus der Vernunft schlechthin abgeleitet, sondern die Ethik der Stoa und später die des Rationalismus. Darin war der Hauptgrund der Reaktion der Ethik der Romantik gelegen, besonders audi der von Nietzsche mit der Betonung der Vitalseite der menschlichen Natur.

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liehen Natur vorgezeichnet findet. Wir sehen darin einen Beweis von bedeutendem Gewicht dafür, daß unser Prinzip des Sittlichen der Wirklichkeit entspricht. Ein Beweis von nicht geringerem Gewidit liegt in der Tatsache, daß ein solcher Inbegriff der existentiellen Zwecke ganz allgemein, kraft des entwickelten sittlichen Bewußtseins der Menschheit, in Gebrauch steht zur Beurteilung der Richtigkeit oder Verkehrtheit des Funktionierens gesellschaftlicher Einrichtungen und gesellschaftlicher Systeme, mögen auch im einzelnen die Akzente verschieden gelegt werden. Eine Zwischenbemerkung: Da es sich demnach um die menschliche Natur als Triebkonstitution und um das Verhältnis von Trieb und Triebzweck als Triebstruktur handelt, kann der Ethik keine biologische oder psychologische naturwissenschaftliche Forschung in den Grundfragen über die Natur des Menschen und das dadurch bedingte Wesen des Sittlichen des sittlichen Verhaltens. Neue weiterhelfen. Anders in Einzelfragen Erkenntnisse hinsichtlich der der menschlichen Natur arteigenen Wirkweisen und ihrer Umstandsbedingtheit können zu neuen sittlichen Einsichten führen; als Beispiel sei auf die Erkenntnisse der Biologie hinsichtlich der „unfruchtbaren Periode" hingewiesen. Der Begriff

der existentiellen

Zwecke

Unser Begriff hat zu mancher Frage Anlaß gegeben. So schreibt Professor Veit: „Wenngleich die Richtungen der gegenwärtigen Philosophie, die sich den Begriff der Existenz irgendwie zu eigen machen, immer mehr auseinanderstreben, dürfte es kaum zulässig sein, Johannes Messner einer dieser Richtungen zuzurechnen. Sind wir nun so weit, daß man eine terminologische Konzession an die existentialistische Grundhaltung machen muß, um in Europa Aufmerksamkeit zu finden? Oder will Messner im Gegenteil zum Ausdruck bringen, daß die Beschlagnahme eines guten alten Begriffes wie Existenz uns nicht zu kümmern braucht, daß man diesen Begriff auch verwenden kann unvorbelastet durch Kierkegaard, Heidegger und andere Namen, die bei Messner kaum vorkommen? Ist die letztere Deutung zulässig, so wäre das ein großer Gewinn. Oft müssen erstarrte Denkmodelle mit ursprünglicher Kraft der Anschauung durchstoßen werden, um zum Sachgehalt der Probleme vorzudringen. Das wird heute erschwert dadurch, daß Annäherungsprobleme auf dem Weg zum Kern zu viel Raum einnehmen und daß man dabei im Streit um modellbedingte Methoden der Annäherung sich erschöpft n . " So ist es in der Tat: Wir wollten ein unnötiges Eingehen auf unfruchtbare begriffliche Auseinandersetzungen innerhalb und außerhalb der traditionellen Naturrechtslehre und auf nur theorethische 11

O. Veit

in seiner Besprechung unseres NR in: Ordo Bd. VII., 1955, 276.

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Spekulationen vermeiden, um möglichst rasch zu den Kernproblemen der heutigen Rechts-, Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung vorzudringen. Unser Begriff der „existentiellen Ζ wedce" ist durch den modischen Wandel des philosophischen Denkens nicht berührt. Der traditionellen Naturrechtslehre war das existentielle Denken der Sache nach immer eigen, insofern sie zwar die Grundforderungen des wahrhaften Menschseins in seinem „Wesen" (essentia) begründet, jedoch die Verwirklichung derselben in seiner persönlichen und besonders gesellschaftlichen Existenzweise durch seine Selbstbestimmung (Freiheit) und die Sachverhältnisse (Situation) bedingt sah. Der Begriff drängte sich mir schon bald auf, nachdem ich in England zu Beginn des zweiten Weltkrieges die Bemühungen um eine an die Verhältnisse der heutigen Welt herankommende Naturrechtsethik aufgenommen hatte. Was die Existenzphilosophie angeht, so hatte sie als solche damals nicht einmal auf dem Kontinent besonderes Interesse geweckt und war in England während des Krieges kaum dem Namen nach bekannt geworden. Unter den Gründen, die mich bestimmten, den Begriff der „existentiellen Zwecke" zu verwenden, seien folgende hervorgehoben: 1. Es ist eine der großen Überraschungen beim Eindringen in das angelsächsische Denken und Schrifttum, daß die gewohnte Art der metaphysischen Grundlegung der Ethik und Rechtsphilosophie dem angelsächsischen Denken fremd ist. Dieses hält sich viel unmittelbarer an die Erfahrung, daher mußte eine möglichst erfahrungsnahe Grundlage gesucht werden, wenn man sich nicht den Weg zu jenem Denken von vornherein versperren wollte. Nicht minder überraschend war das Vorhandensein einer ausgedehnten Literatur, die auf Grund der ungeahnten Entwicklung der Erfahrungswissenschaften vom Menschen (Biologie, Psychologie, Soziologie, Ethnologie) einen rein erfahrungs-, ja naturwissenschaftlichen Humanismus unter Ablehnung jeglicher metaphysischen Wirklichkeit vertritt, ganz abgesehen von dem rein erfahrungs- und naturwissenschaftlichen Humanismus des dialektischen Materialismus. So war die Frage nach der Natur des Menschen und der Naturordnung der Gesellschaft neu gestellt. Angesichts dieser erfahrungswissenschaftlichen Fragestellungen schien es mir für die Naturrechtslehre geboten, zu versuchen, bei der Ergründung der Natur des Menschen soweit als möglich die Erfahrung selbst sprechen zu lassen. Es mußte daher versucht werden, die menschliche Natur aus ihren Wirkweisen zu begreifen, ähnlich wie wir beim wissenschaftlichen Bemühen um das Verständnis der Natur der Dinge verfahren. Es schien von vornherein unzweifelhaft, daß die Ergründung der Natur und Naturordnung menschlichen Seins auch unmittelbar von der Natur des Menschen her möglich

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sein müsse ohne den Umweg über den mit vielen metaphysischen Fragen verbundenen „letzten Zweck" und das „ewige Gesetz". Nur nach langen Bemühungen ergab sich mir die nun einfach scheinende Lösung mit Hilfe der Erhebung der „existentiellen Zwecke" aus der Triebkonstitution und Triebstruktur der menschlichen Natur. Allerdings war mir auch klar, daß mit dem neuen Begriff die Naturrechtstradition nicht nur nicht verlassen war, sondern ihre Fruchtbarkeit für das heutige erfahrungswissenschaftliche Denken sichtbar werden mußte. Hat doch die philosophia perennis, der die traditionelle Naturrechtsethik angehört, immer mit größtem Nachdruck ihr Ausgehen von der Erfahrung betont 12 . 2. Die auf diesem Wege aus der Triebkonstitution und Triebstruktur der menschlichen Natur erhobenen Zwecke sind die an die Unveränderlichkeit des Grundwesens der menschlichen Natur gebundenen „wesenhaften" Lebenszwecke. Angesichts der erwähnten, einer modernen Naturrechtsethik sich stellenden Aufgaben schien jedoch der Begriff „wesenhafte" Lebenszwecke (ich verwende ihn in der Grundlegung der „Kulturethik") nicht zu genügen. Denn er ließ zu sehr die die Naturrechtslehre in ihrer neuzeitlichen Entwicklung stark beherrschende Auffassung des Menschen als eines abstrakten Vernunftwesens, animal rationale, anklingen mit der Ein12 Unverständlich erscheint die Unterstellung (F. M. Schmölz, O. P., Das Naturgesetz und seine dynamische Kraft, Thomistische Studien, 1959, SS. 122 ff., 130 ff.)/ die Triebe seien in meiner Behandlung des Naturgesetzes „durchaus im physischen, biologischen Sinn verstanden" (113), während ich ausdrücklich von körperlichen und geistigen Trieben spreche und die ersteren nur zur Veranschaulichung der in den Trieben vorgezeichneten Zwecke verwende. Unterstellt wird mir, daß idi die Sittlichkeit „in der Übereinstimmung mit den vorgezeidmeten Trieben'' sehe, tatsächlich spreche ich nicht von „vorgezeichneten Trieben", sondern von den „in den Trieben vorgezeichneten Zwecken" als Kriterium, woraus sich die rechte Ordnung der Betätigung der Triebe ergibt. Daher kann es weiters kein Einwand sein, daß „die Sittlichkeit auch in Nichtübereinstimmung mit den Trieben", nämlich in ihrer Nichtbetätigung, bestehen könne; denn es besteht keineswegs eine Verpflichtung zur Betätigung aller Triebe, wohl aber die Verpflichtung, im Falle ihrer Betätigung, dies nach der Ordnung der Zwecke zu tun; ganz im Sinne dieser Ordnung kann um höherer Zwecke willen auf die Betätigung mancher, Triebe ganz oder teilweise verzichtet werden. Daß die Sittlichkeit „nicht identisch ist mit den Strebekräften", kommt in meiner Darstellung klar zum Ausdruck, da ich die Sittlichkeit der Triebbetätigung von der Einhaltung der Ordnung der Zwecke kraft der Vernunfterkenntnis und des Vernunftwillens abhängig mache. Gewiß ist das sittliche Naturgesetz, worauf Schmölz in seiner Interpretation von Naturgesetz und Naturrecht immer wieder zurückkommt, im Sinne der Lehre von Thomas aliquid rationis; ebenso gewiß ist aber, daß die wissenschaftliche Ethik nach dem Bestimmungsgrund, dem Kriterium, fragen muß, worin die recta ratio besteht. Die erwähnten Einwände verkennen völlig das Y/esen und die Funktion des Kriteriums der Sittlichkeit, dessen Ermittlung ein Grundproblem der wissenschaftlichen Ethik ist. Dieses Kriterium, der Bestimmungsgrund des „wahrhaft guten Willens" bzw. der „rechten Vernunft", kann nur gewonnen werden durch Zurückgehen auf die ontisdie Grundlage des Sittlichen (und des Naturrechts). Wie anders könnte gezeigt werden, daß das Gewissen der Völker mit Kopfjägerei, Polygamie, Jugendpromiskuität irrig und im Widerspruch zur recta ratio steht? Die erwähnten Einwände wurden gegenüber der 1. Auflage des „Naturrechts" erhoben; in der 3. Auflage schien sich ein Eingehen darauf zu erübrigen, weil achtsame Leser selbst aus dem Gesamtzusammenhang ihre mangelnde Stichhältigkeit erkennen konnten. Die vorangehende Klarstellung wurde aber notwendig, weil Schmölz (Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, Bd. 7, i960) nach Erscheinen der 3. Auflage seine Einwände wiederholte, und wieder mit fehlerhaften Zitierungen. Zu Schmölz' eigener Auffassung des Naturgesetzes vgl. die ausführliche scharfe Kritik von Claude Desjardins SJ, Dieu et l'obligation morale. L'Argument déontologique dans scolastique récente, Bruges, 1963, 169 ff.

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engung des Naturrechts auf das sittlich-rechtliche Vernunftapriori. Tatsächlich hat der Mensch die wesenhafte Naturordnung im einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Leben nicht nur als abstraktes Vernunftwesen, sondern immer auch als konkretes Geschichtswesen zu verwirklichen, d. h. in der Bedingtheit seiner Existenz durch die geschichtlichen Verhältnisse, die Umstände, die Situation. Diese Bedingtheit wurde zwar von der traditionellen Naturrechtsethik immer hervorgehoben, ihre Tragweite jedoch nicht immer im einzelnen durchgearbeitet. Für eine wirklichkeitsnahe Naturrechtsethik von heute schien die Hervorhebung dieser Bedingtheit der Verwirklichung der Naturrechtsordnung schon in ihrem Grundansatz geboten. Dem zu entsprechen war mit dem Begriff der „existentiellen" Zwecke beabsichtigt. 3. Eine zu einseitige Verlegung des Naturrechts in die allgemeinen Prinzipien der sittlich-rechtlichen Vernunfteinsicht konnte den Eindruck erwecken, als wären sie nur „formaler" Art, d. h. inhaltlich unbestimmt. Mit unserem Begriff der „existentiellen" Zwecke in ihrer Bezogenheit auf die menschliche Gesamtnatur und auf die für die menschlichen Verhaltensweisen maßgebende Seinsordnung, die ontologisch allgemeine und die geschichtlidi geprägte, wird die Sachnatur der Naturrechtsordnung neben dem Vernunftapriori in gleicher Weise hervorgehoben; der Begriff der „Natur der Sache" erhält damit wieder seine Schlüsselstellung für die konkrete Naturrechtslehre. Zugleich läßt sich, wie sich zeigen wird, die inhaltsbestimmte Art der Naturrechtsprinzipien, also der einfachen Rechtswahrheiten, an der Existenzsituation des Menschen selbst erweisen. (Vgl. unten Kap. 47 u. 48 über die angebliche Inhaltsleere der Naturrechtsprinzipien.) 4. Mit der im Begriff der „existentiellen Zwecke" erfolgenden starken Hervorhebung der Seinsordnung mit der Umstandsbedingtheit ihrer Verwirklichung wird weiters die besondere Art der Aufgaben der Naturrechtsethik von heute betont: daß diese die Naturordnung der verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nur zu erarbeiten vermag unter fortwährendem und allseitigem Rückgriff auf die gesicherten Erkenntnisse der verschiedenen Wissenschaften vom Menschen, besonders der Sozialwissenschaften, und in enger Zusammenarbeit mit ihnen. Alles andere muß sich immer wieder auf Allgemeinheiten, sei es prinzipieller oder methodischer Art, zurückgeworfen sehen. 5. Vielleicht kann durch nichts die Stellung unseres Grundbegriffes der „existentiellen Zwecke" besser sichtbar gemacht werden, dabei auch seine Verbundenheit mit der Tradition sowie ihre damit ermöglichte Weiterentwicklung als mit folgenden Hinweisen. Theodor Steinbüchel schreibt: „Ein Gedanke vor allem durchzieht die gesamte thomistische Philosophie und Theologie: der Zweckgedanke. Der Zweck ist die allgemeine Kategorie,

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unter der das gesamte Universum sowohl wie das Leben der einzelnen betrachtet wird 1 3 ." Robert Linhardt stellt mit gleicher Betonung fest: „Die Fundamentalbedeutung der Teleologie im aristotelisch-thomistischen System kann nicht entschieden genug betont werden", und zwar ist zu denken an die „immanente Teleologie der Dinge, des Menschen, der Gemeinschaften 1 4 ". Gegenüber der vorthomistischen, an Augustins Ethik anknüpfenden Scholastik, in der man im irdischen Leben vorwiegend eine Vorbereitung auf das himmlische erblickt habe, gewinnen bei Thomas, sagt Steinbüchel, „die Diesseitszwecke doch eine bedeutungsvollere Stellung; sie werden in ihrem relativen Eigenwert voll anerkannt", die Scholastik gehe also mit Thomas dazu über, „die immanenten Zwecke des Lebens zu würdigen und ihre Erreichung zur sittlichen Pflicht zu machen". Jedoch der Begriff der sittlichen Persönlichkeit, ein Grundbegriff der modernen Naturrechtslehre, sei bei Thomas nicht eigentlich, sondern nur dem Keim nach vorhanden, personalitas werde von ihm in rein metaphysischem Sinne verstanden 1 δ . Fr. Utz kommt zu der für viele überraschenden Feststellung, daß bei Thomas das Individualprinzip überhaupt noch kein vorstaatliches Rechtsprinzip im Sinne eines Prinzips des Naturrechts bilde, sich also auch das Prinzip der Individualrechte bei ihm nicht finde, auch nicht die diesem zugrunde liegende Idee der Menschenwürde, „wie Thomas niemals eingefallen wäre, auf Grund der Menschenwürde ein Freiheitsrecht für den einzelnen zu behaupten"; das Individualprinzip und die Menschenwürde auf Grund der für alle gleichen Menschennatur „in die konkrete Situation weiterzudenken und auf dieser lebensnäheren Basis zum Naturrecht zu erklären..., dazu war die Zeit des hl. Thomas noch nicht reif. Es bedurfte hierzu der sozialen Revolution, wie sie die Industrialisierung und der Liberalismus mit sich brachten. Bei Thomas aber finden sich alle dazu notwendigen Denkelemente 1 β . " Mit dem Begriff der „existentiellen Zwecke" bleibt der Zweckgedanke in den Mittelpunkt der Naturrechtslehre gerückt. Aus dem Gesagten dürfte jedenfalls zu ersehen sein, daß die Verlegung des Grundansatzes der Naturrechtsethik in den Begriff der „existentiellen Zwecke" tatsächlich den Versuch bedeutet, möglichst unmittelbar „zum Sachgehalt der Probleme vorzudringen", wie O. Veit sagt, nämlich zu den Forderungen der sittlich-rechtlichen Naturordnung in den verschiedenen ge18

Th. Steinbüchel, Der Zweckgedanke in der Philosophie des hl. Thomas v. Aq., 1912, 1. R. Linhardt, Die Sozialprinzipien des hl. Thomas v. Aq., 1932, 32, 55. 15 Th. Steinbüchel, Der Zweckgedanke in der Philosophie des hl. Thomas v. Aq., 1912, 1, 84, 87, 90 f., 105. le Fr. Utz, Recht und Gerechtigkeit, Deutsche Thomasausgabe, 1953, 494, 496, 499 f. Angesichts der von Steinbüchel und Linhardt hervorgehobenen zentralen Stellung des Zweckgedankens bei Thomas überrascht es, daß der Zweckgedanke in neueren Darstellungen der Naturrechtslehre des hl. Thomas kaum erwähnt, geschweige denn in seiner grundlegenden Stellung behandelt wird. 14

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seilschaftlichen Lebensbereichen angesichts der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit, ohne uns im viel beackerten Vorfeld bloß theoretischer oder ideengeschichtlicher Untersuchungen zu verfangen. Nun kann auch das Verhältnis unseres Begriffs der Existenz zu dem der Existenzphilosophie mit wenigen Worten umschrieben werden. Natürlich besteht ein Berührungspunkt, nämlich der in der Tatsache gelegene, daß wahrhaftes, „eigentliches" voll wirkliches menschliches Sein immer bedingt ist durch die Selbstbestimmung (Freiheit) des Menschen und immer bedingt ist durch die Umstände (Situation), wie die traditionelle Naturrechtslehre in ihren besten Vertretern stets betont hat. Unser Begriff der „Existenz" schließt nach dem Gesagten den der einzelmenschlichen und der gesellschaftlichen Existenzordnung ein, die der Mensch im allgemeinen Umriß in seiner Natur vorgezeichnet findet und die er im einzelnen in der jeweiligen Situation zu verwirklichen hat, geleitet von seiner Vernunfterkenntnis und seinem Vernunftwillen, auf Grund dessen er mit der Freiheit ausgezeichnet ist. Alle Richtungen der Existenzphilosophie, soweit sie sich nicht dem christlichen Humanismus verpflichtet wissen, verstehen den Menschen ausschließlich aus seiner an keine solche Existenzordnung gebundenen Freiheit. Nach der Existenzphilosophie gibt es daher keine allgemein und in gleicher Weise verpflichtende sittliche Ordnung, kann es keine „Normethik", sondern nur eine „Situationsethik" geben. Daß sich ihr kein unmittelbarer Zugang zur gesellschaftlichen Existenz des Menschen, zu seiner ganz und gar gesellschaftlichen Natur, ergibt, ist, wie schon (vgl. Kap. 2, II.) hervorgehoben, ein weiterer Einwand gegen ihre Lehre vom Menschen, ihre Anthropologie. V. Das Kriterium

der Sittlichkeit

Es bildet den Gegenstand der dritten Grundfrage der Ethik (vgl. oben I I I ) . Das Kriterium (Erkenntnisgrund, Bestimmungsgrund) der Sittlichkeit wird auch als „Moralprinzip" bezeichnet. Es muß ein Dreifaches leisten: 1. Es muß die Bestimmung der Verhaltensweisen ermöglichen, die an sich und daher immer böse sind und zugleich den Grund dafür ersichtlich machen, also die Antwort auf die Frage ermöglichen: Warum ist Lügen, Ehebruch, Selbstmord an sich und darum immer sittlich verwerflich? 2. Das Prinzip der Sittlichkeit muß im Bereich der nicht an sich bösen und daher immer verbotenen Verhaltensweisen das Urteil über die sittliche Beschaffenheit des jeweiligen Verhaltens, über die Mittel im Dienste von Zwecken ermöglichen, also darüber, was in der jeweiligen Situation geboten, erlaubt oder verboten ist. 3. Das Prinzip der Sittlichkeit muß ermöglichen, im Falle

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anscheinend widerstreitender sittlicher Forderungen (Gewissenskonflikt, Pflichtenkollision) eine Entscheidung über das rechte Verhalten zu treffen. Das Kriterium der Sittlichkeit muß sich als Folgerung aus der Wesensbestimmung der Sittlichkeit ergeben. Diese hat sich uns erwiesen als das Verhalten des Menschen im Einklang mit den „ Th., Topik und Jurisprudenz, 1953, 2. verb. Aufl. 1963. Vierkandt, Α., Der geistig-sittliche Gehalt des neueren Naturredits, 1927; drs. (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, 1931; drs., Gesellschaftslehre. Hauptprobleme der philosophischen Soziologie, 1923. Vilfredo Paretos System der allgemeinen Soziologie. Einleitung, Texte und Anmerkungen v. Gottfried Eisermann, 1962. Vries, J. de, Die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus, 1958. Walsh, W. H., Metaphysics (London), 1963. Was sagt die Kirche zum Recht auf Heimat? Mit Beiträgen v. Joachim Beckmann, Gerhard Gülzow, Ludwig Landsherg, Dieter Munsdoeid, Friedrich Spiegel-Schmidt, 1961. Weber, Alfred, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, 1951; drs., Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie, 1951. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922; drs., Soziologische Grundbegriffe (aus vor. erw. Werk), hrsg. v. / . Windselmann, 4. Aufl. 1960; drs., Staatssoziologie, hrsg. v. J. Winckelmann, 1956; drs., Rechtssoziologie, hrsg. und eing. v. / . Winckelmann, 1960; drs., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, die Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 2 Bde., 1920 f.; drs., Wirtschaftsgeschichte, 1923; drs., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922. Wehrung, G., Welt und Reich. Grundlegung und Aufbau der Ethik, 1952. Weinkauff, Weizsäcker,

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Werner

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II. B U C H

GESELLSCHAFTSETHIK

Einleitung

Vergesellschaftung : Geschichtlichkeit, Vielschichtigkeit, zunehmende Dichte Ist der Mensch, wie gezeigt, kraft seiner Natur gesellschaftliches Wesen mit Grundformen der Vergesellschaftung, so bezeugt die Geschichte, daß die Struktur und die Funktionen solcher Grundformen keineswegs immer die gleichen sind, außerdem aber, daß sich neue Formen entwickeln, die unter neuen Verhältnissen sich als Grundformen erweisen in dem Sinn, daß sie von der Menschennatur selbst gefordert und für das engere und weitere politische, wirtschaftliche und kulturelle Gemeinwohl unerläßlich sind. Ein erster Überblick über die Formen der Vergesellschaftung ergibt folgendes Bild: Zuerst ist die Familie zu nennen als die allen Bestand und alle Kultur der Menschheit bedingende gesellschaftliche Einheit. Zweitens sind zu erwähnen Stamm und Volk als die den Einzelmenschen zutiefst körperlich und seelisch prägenden, zunächst unpolitischen Lebensgemeinschaften und Lebensordnungen. Daran schließt sich drittens die die kleineren gesellschaftlichen Einheiten umfassende politische „Gesamtgesellschaft", der Staat, sowie die sich an alle Menschen wendende religiöse „Gesamtgesellschaft", die Kirche. Gleich ist viertens zu erwähnen das auf dem Recht der freien Vereinigung beruhende vielfältige Verbandswesen innerhalb des modernen Staates, das sich seit hundert Jahren zu einer den Einzelmenschen in zahlreiche Verbandsgebilde einbeziehenden Dichte entwickelte; nicht zu vergessen sind auf dieser Stufe auch die den Einzelmenschen in verschiedener Hinsicht beanspruchende Verbandsbildung innerhalb der religiösen Gesamtgemeinschaft. Fünftens besteht die die ganze Menschheit umfassende internationale Vergesellschaftung, ein Ergebnis jüngster weltgeschichtlicher Entwicklung, sich vollziehend auf doppelter Ebene, einmal als Zu- und Miteinander aller Staaten, so daß alle einzeln und in ihrer Gesamtheit für alle mitverantwortlich sind, zum andern als die über alle Staatsgrenzen hinweg reichende tausendfältige Weise des Zusammentreffens und der Zusammenarbeit der in den einzelnen Staaten bestehenden freien Vereinigungen mit wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und anderen Interessen und Zielen. 34

Messner, Naturrecht

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Gesellschaftsethik

Geschichtlichkeit Der Mensch ist kraft seiner Natur gesellschaftliches Wesen, daher auch geschichtliches Wesen. Infolgedessen unterliegen die Vergesellschaftungsformen dem geschichtlichen Wandel, der Entwicklung. Das gilt auch von den Vergesellschaftungsformen, die jeder geschichtlichen Epoche eigen sind. Sie finden sich überall in der Geschichte, weil der Mensdi ohne sie nicht das vom Tiere durch seine Kultur sich unterscheidende Wesen sein könnte. Diese Formen sind die Familie, der Staat, der wirtschaftliche Tauschverkehr. Nicht weiter zu erörtern ist die Tatsache, daß die Familie einer Geschichtlichkeit ihrer Formen und ihrer Funktionen trotz ihres in allen Gesellschaften sich findenden überdauernden Bestandes unterworfen ist; noch viel mehr der Staat, obwohl ein politisches Ordnungssystem auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung unerläßlich ist. Eine viel zu sehr unterschätzte Vergesellschaftungsform, die die Menschheit in ihrer ganzen Geschichte begleitet, in ihren Erscheinungsformen aber allergrößtem geschichtlichen Wandel unterliegt, ist der wirtschaftliche Tauschverkehr. Ausgestattet mit verschiedenen Fähigkeiten und verfügend über verschiedene Naturgüter sahen sich die Menschen von Anfang an zum Austausch von Gütern gedrängt, weil sie nur durch solche Vergesellschaftung zu reichlicherer Befriedigung ihrer Lebens- und Kulturbedürfnisse gelangen konnten. Der wirtschaftliche Tauschverkehr im Fernhandel wurde der erste Weg der Berührung von Kulturen und zur Bildung kulturell geeinter größerer Einheiten, wie etwa der hellenistischen Welt des antiken Orients. Dem wirtschaftlichen Tauschverkehr folgt sehr rasch die gewaltsame von Völkerschaften durch mächtigere Völker, zeitweise eine Unterwerfung der bedeutsamsten Formen von Vergesellschaftungsprozessen über große Territorien hinweg. Die Nachhaltigkeit der Auswirkung solcher Prozesse in der Verschmelzung von wirtschaftlichen und geistigen Kulturbeständen ist je nach der Dauer der politischen Bande verschieden. Die Tatsache, daß auch heute von der politischen Gewalt Vergesellschaftungswirkungen größten Ausmaßes ausgehen, ist an der Hegemonie großer totalitärer Systeme zu ersehen. Gehen von der Gewalt Vergesellschaftungsprozesse je verschiedener geschichtlicher Prägung aus, so nicht minder von der Freiheit. Das einzigartige Beispiel dafür bildet die durch den Individualismus des 19. Jahrhunderts in Gang gesetzte gesellschaftliche Revolution, die gewaltigste der Geschichte, da durch sie die frühere Verbandsordnung der Gesellschaft zersetzt und größtenteils beseitigt, die Gesellschaft zum Nebeneinander und Gegeneinander von Individuen atomisiert wurde, woraus das moderne Massenphänomen mit seinen Folgewirkungen erwuchs. Durch diese Entwicklung bedingt, entstand eine neue Form der Vergesell-

Einleitung

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sdiaftung und politische Organisationsform, die freiheitliche Demokratie. Sofort setzte damit ein weiterer neuer, aus der Freiheit erwachsender Vergesellschaftungsprozeß ein: die Gruppierung der Staatsbürger nach gleichgerichteten politischen und wirtschaftlichen Interessen in Parteien und Verbänden. Das Ergebnis ist die heutige verbandspluralistische Gesellschaft. Sind die Ziele der Verbände hauptsächlich materieller, so sind die der Partei stärker ideologischer Art und auf Einfluß auf die Gestaltung und Führung des Gemeinwesens gerichtet, doch überschneiden sich die Zielbereiche der Parteien und Verbände. Mit der Freisetzung der ideologischen Mächte im Gesellschaftsprozeß bildet sich als neue Form der Vergesellschaftung die weltanschaulich pluralistische Gesellschaft, deren Einheitsband der Wille zur freiheitlichen Demokratie und der dafür bestimmenden Werte ist, jedoch so, daß wesentliche Verschiedenheiten in der Deutung des Verpflichtungsgrundes und der Geltungsweite dieser Werte und der dafür maßgebenden Deutung des Menschen (Anthropologie) bestehen. Wesentlich mitbestimmend für die expansive und intensive Entwicklung der modernen Vergesellschaftung wurde der Fortschritt der Tedmik. Die auf den Fortschritt der Naturwissenschaften zurückgehende Technik bildet ganz offenbar einen geschichtlichen Faktor von größter Tragweite im Werdeprozeß der modernen Vergesellschaftungsformen. Eine unübersehbare Literatur besteht darüber, die die Auswirkungen der Technik anthropologisch, psychologisch und soziologisch analysiert, positiv oder kritisch wertet, zu einem mehr optimistischen oder pessimistischen Urteil kommt, was alles in der Hauptsache als bekannt gelten muß. Auf Einzelnes wird noch zurückzukommen sein. Die Geschichtlichkeit und Entwicklungsbedingtheit der Vergesellschaftungsformen zu sehen und zu beachten, sowohl der naturgegebenen wie der frei geschaffenen, ist eines der Grundaxiome der Naturrechtslehre. Zwei Folgerungen knüpfen sich unmittelbar daran. Die erste: daß geschichtlich bedingte Ordnungen nicht in die allgemeingültige naturrechtliche Ordnung hineingelesen werden dürfen; streng ist darauf zu achten, was die allgemein gültigen, in der Natur des Menschen selbst vorgezeichneten Ordnungsprinzipien sind und was nur geschichtlich bedingte Ordnungsform ist; so ist ζ. B. in der naturrechtlichen Staatslehre zu oft geschichtlich bedingten Staatsformen eine naturrechtliche Sanktion gegeben worden. Das Gesagte erweist zugleich, wie sehr darauf zu achten ist, die naturrechtliche Vernunfteinsicht auf die Allgemeinprinzipien einzugrenzen und im Naturrecht nicht einen fertigen, für alle Zeiten gültigen konkreten Rechtskodex: zu suchen, eine Seite des Naturrechts, auf die hinzuweisen wir im vorangehenden nicht müde wurden. Die zweite Folgerung: Mit dem Entstehen 34*

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Gesellsaftsethik

neuer Vergesellschaftungsformen erwächst der Naturrechtslehre die Aufgabe, aus den allgemeinen naturrechtlichen Prinzipien die konkreten Gerechtigkeitsimperative zu entwickeln, die sich für die neuen Formen Natur der Sache nach, also in Ansehung der Personwürde des Menschen und der Funktionsform wie des Funktionsziels der neuen gesellschaftlichen Gebilde ergeben. Solche Gerechtigkeitsimperative bilden werdendes Naturrecht. Naheliegende Beispiele bilden die Geltungsformen des Toleranzprinzips in der weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft und das sich mit der Einsicht in die Schicksalsgemeinschaft der Menschheit im Zeitalter der nuklearen Waffen entwickelnde Völkerrecht.

der

Vielschichtigkeit Die Vielschichtigkeit, die die moderne industrielle Großgesellschaft kennzeichnet, besteht im Einbezogensein des Einzelmenschen in eine VielOrdnungen und Organisationen, die ihn in zahl von gesellschaftlichen vielfältiger Weise berechtigen und verpflichten. Die noch junge Theorie der „sozialen Rolle" geht nicht zuletzt darauf zurück, daß der Einzelmensch in der modernen vielschichtigen Gesellschaft einer Vielzahl von Vergesellschaftungsformen angehört, woraus sich für Status und gesellschaftlicher Funktion ihn Arten von gesellschaftlichem ergeben. Was man bisher als gesellschaftliche Funktionen kannte, bezeichnet die neue, von Amerika ausgehende Theorie als „soziale Rolle". Ohne wesentliche neue Erkenntnisse zu bieten, vermag die neue Theorie doch das Gesellschaftsgefüge und den Gesellschaftsprozeß unmittelbar als einen Wechselwirkungszusammenhang sichtbar zu machen, den der einzelne mitbestimmt und von dem er mitbestimmt ist. Status ist die mit bestimmten Rechten und Pflichten verbundene Stellung des einzelnen in diesem Prozeß. Funktion ist eine in diesem an gesellschaftlichen Zwecken, Interessen, Werten ausgerichtete besondere Aufgabe. Die Ausdrucksweisen sind in der erst in Entwicklung begriffenen Theorie nicht einheitlich. Nicht zu übersehen ist, daß die Begriffe soziale Rolle, Status und Funktion den Begriff eines gesellschaftlichen Ordnungsgefüges und damit die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen Staat und Recht voraussetzen. Somit ergibt sich eine Unterscheidung von sozialen Rollen bzw. von gesellschaftlichen Funktionen von maßgeblicher Bedeutung. Da sind erstens die sozialen Rollen, die sich ah die ursprünglichen Gesellschaftsgebilde Ehe, Familie und Nachbarschaftsgemeinschaft (Gemeinde) sowie an die gleich ursprüngliche, weil für den Menschen als Kulturwesen unerläßliche gesellschaftliche Kooperation mit der wachsenden Vielgestaltigkeit von „Berufen" knüpfen. Eine zweite Gruppe von gesellschaftlichen Funktionen sind

Einleitung

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begründet in der staatlichen Ordnung (Volksvertreter, Regierungsmitglieder, Beamte) und der Rechtspflege. Dazu kommt die sich mit der Vielschichtigkeit des modernen Gesellschaftsprozesses ganz außerordentlich ausweitende Vielzahl sozialer Rollen, verbunden mit dem auf ökonomische Interessen, ideologische Überzeugungen und unübersehbare Ziele freien Vereinigungswesens zurückgehenden gesellschaftlichen Pluralismus. Diese neuartigen Vergesellschaftungsformen sind es, die uns im gegenwärtigen Zusammenhang besonders interessieren. Mit ihnen sind für den einzelnen soziale Rollen mit Rechten und Pflichten verbunden, die zu einem nicht geringen Teil in Entwicklung begriffenes oder schon vollgültiges Naturrecht bilden. Die Vielschichtigkeit der heutigen Vergesellschaftung erhält ihre besondere Eigenart infolge des gewaltigen Ansteigens der in den gesellschaftlichen Gesamtprozeß einbezogenen Bevölkerungsmassen, nicht minder aber durch die Freisetzung des Interesses als der stärksten bewegenden Kraft in diesem sich ausweitenden Gesellschaftsprozeß. Die vom Selbstinteresse der Gruppen ausgehende Gliederung und Schichtung des Gesellschaftsprozesses verzweigt und verästelt sich seit hundert Jahren in zunehmendem Maße. Das Interesse als bewegende Kraft für die Entwicklung der heutigen Formen der Vergesellschaftung gelangte dabei zu stärkster Wirkung mit der Verselbständigung des Kapitals als „gesellschaftlicher Macht" (Marx), von dessen Gewinninteresse die Beschäftigung oder Nichtbeschäftigung von Arbeit abhängig wurde. Die davon ausgehende Klassenschichtung wurde bald zur Ursache neuer Vergesellschaftungsvorgänge. Vor allem: die Arbeiterseite, das Proletariat, organisierte sich, nicht ohne harten Kampf um die Koalitionsfreiheit, und gab der industriellen Gesellschaft eine völlig neue Gestalt. Denn auf den Aufstieg der Arbeiterschaft zur „gesellschaftlichen Macht" in Gleichberechtigung mit dem Kapital geht der Hauptanstoß zur Entwicklung der heutigen verbandspluralistischen Gesellschaft zurück. Die Arbeiterschaft schuf sich im Laufe dieser Entwicklung drei Organisationsformen, die selbst wieder nichts anderes als drei neue Vergesellschaftungsformen darstellen. Die erste, an die jeder schon bei der Erwähnung des Aufstieges der Arbeiterschaft denkt, sind die Gewerkschaften, Verbände, in denen sich die Arbeiterschaft organisierte, um der Arbeitgeberschaft zur Verhandlung und zum Abschluß des kollektiven Arbeitsvertrages gegenüberzutreten. Die Auswirkung der damit geschaffenen Vergesellschaftungsform reichte über den frei zusammengeschlossenen Kreis der Arbeiter hinaus, weil ihre Tarifvereinbarungen für alle im betroffenen

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Gesellsaftsethik

Wirtschaftszweig Geltung erlangten, ja in manchen Ländern sogar ein Zwang für alle in einem Unternehmen Beschäftigten zur Vergesellschaftung in der Gewerkschaft (Koalitionszwang) durchgesetzt wurde. Die zweite Organisationsform, deren sich die Arbeiterschaft zur Durchsetzung ihrer Interessen, namentlich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik bedienten, war die politische Partei, zwar keine neue Vergesellschaftungsform, doch jetzt mit einer in der vom Widerstreit der Klasseninteressen bewegten Gesellschaft neuen, das gesamte Parteiwesen durchdringenden Dynamik. Kraft dieser Dynamik rückte immer stärker die gesellschaftliche Ordnungsfrage in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung der Parteien. Eine dritte Organisationsform der Arbeiterschaft auf ihrem Wege in die Freiheit waren die Konsumgenossenschaften, die aus dem Gedanken der Selbsthilfe in der Marktgesellschaft entsprangen, deren Vergesellschaftungseffekt über ein Drittel der Bevölkerung in manchen Industriestaaten umspannt. Auf die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts geht auch eine Vergesellschaftungsform zurück, die heute in manchen Industriestaaten schon fast das ganze Volk umfaßt. Das sind die auf dem Solidaritätsprinzip beruhenden Institutionen der Sozialversicherung und darüber hinaus der sozialen Sicherheit. Sie sind als öffentlich-rechtliche Organisationen eingerichtet, so daß es dem einzelnen, wenn er ein Arbeitsverhältnis als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer eingeht, nicht freisteht, sich der Sozialversicherungsinstitution als Art der Vergesellschaftung zu entziehen. Das hatte zur Folge, daß mit diesen Institutionen neue Machtpositionen in der Gesellschaft entstanden, aber auch, daß es Machtbereiche wurden, die an die Arbeiterbewegung gebunden blieben. Die Arbeiterbewegung war zunächst nur indirekt an der Schaffung dieser Institutionen beteiligt. Sie selbst hat sie weder gefordert noch angeregt noch ins Leben gerufen, vielmehr geschah dies durch die für die Staatspolitik damals, in den achtziger Jahren, verantwortlichen Gruppen, die für die ruhige Entwicklung des staatlichen Gemeinwesens, das durch revolutionäre Stimmungen in der Arbeitsbewegung bedroht war, zu sorgen hatten. War damals an den Einkommensausfall durch Krankheit, Unfall und Alter der abhängig Beschäftigten gedacht, so sind seither in einzelnen Industriestaaten Sozialversicherungseinrichtungen auch für die Selbständigen in Landwirtschaft und Gewerbe geschaffen oder in Erwägung gezogen worden. Hatte sich die Arbeiterschaft als Großgruppe von Konsumenten durch genossenschaftliche Organisation eine mächtige Hilfe geschaffen, gingen auf Seite der Eigenunternehmer und Selbständigen in Gewerbe und Landwirtschaft vielfältige und weitgespannte Organisationsbestrebungen der Produzenten einher, so besonders in der Form der Kredit-, Produktiv-

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und Absatzgenossenschaften, Vergesellschaftungsformen, in denen Großgruppen der Gesellschaft ihre Wettbewerbsstellung in der nach dem Prinzip der größtmöglichen Freiheit funktionierenden Marktwirtschaft zu festigen suchten. Daran schlossen sich auf privatrechtlicher Grundlage Organisationen von Unternehmern und Unternehmen des Klein- und Großgewerbes, um ihr Gewicht auch in der Staats-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Geltung zu bringen, namentlich Interessenvertretungen der einzelnen Industriezweige. Daneben bestehen die Handelskammern, die öffentlichrechtliche Institutionen sind, so daß die Zugehörigkeit zu ihnen und die Beitragspflicht obligatorisch ist; sie beraten ihre Mitglieder in rechtlichen und geschäftlichen Fragen, namentlich auch über Handelsverbindungen mit dem Ausland. Wie die Gewerkschaften ihre internationale Organisation besitzen und Jahrestagungen derselben veranstalten, so sind auch die Handelskammern in internationalen Handelskammern mit jährlichen Tagungen zusammengeschlossen. Schichtungen des Vergesellschaftungsprozesses reichen damit vom Einzelunternehmen über nationale Zusammenschlüsse bis zu den internationalen Organisationen. Der von Gruppeninteressen her erfolgende Schichtungsprozeß der heutigen Gesellschaft verfielfältigt sich noch dadurch, daß alle Gruppen auch ihre eigenen Ordnungsbilder des Gesellschafts- und Wirtschaftsprozesses haben, nach deren Verwirklichung sie streben, immer mit einer Mischung von konkreten nächsten Zielen im Interessenbereich und von weltanschaulichen Grundwerte. Überzeugungen über persönliche und gesellschaftliche gegenwärtigen Zusammenhang sind weltanschauliche und ideologische Überzeugungen gleichbedeutend. Denn Ideologien sind, soziologisch gesehen, Wahrheits- und Wertüberzeugungen, die sich als Richtmaße gesellschaftlicher Ordnungsbilder verstehen und die je für die Gruppe bei ihrem Streben nach Gestaltung der Gesellschaftsordnung bestimmend sind. In den letzten hundert Jahren führten die weltanschaulich-ideologischen Faktoren eine ungeahnte Vielfalt in der Schichtung des Vergesellschaftungsprozesses herbei. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, daß die europäische Gesellschaft bis lange in die Neuzeit hinein sich weltanschaulich homogen als christlich verstand. Das hatte eine doppelte Folge: Erstens kam es zwar zu religiösen Auseinandersetzungen, ja Religionskriegen, aber eine Preisgabe der christlichen Idee vom Menschen trat nicht ein; zweitens waren mit dieser christlichen Anthropologie Grundüberzeugungen über gesellschaftliche Ordnungsprinzipien verbunden, die es verhinderten, daß die bestehenden Ordnungen als solche in Frage gestellt wurden, sosehr Kriege zwischen den christlichen Fürsten die Jahrhunderte erfüllten; die Grund-

Im

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Gesellsaftsethik

lagen der „bestehenden Ordnung" wurden erst Gegenstand des Angriffes durch neue ideologische Mächte mit dem Auftreten der „sozialen Frage". Einmal weltanschaulich-ideologisch in Bewegung gebracht, fand sich die Gesellschaft alsbald in einem neuen Prozeß vielschichtiger Vergesellschaftung. Die Gruppen mit je einheitlichen Menschen- und Gesellschaftsbildern organisierten sich in Abwehr und Angriff: die sich zur Verteidigung ihrer der christlichen Anthropologie verpflichteten Wahrheits- und Wertüberzeugungen genötigt sahen, die anderen, die in diesen Überzeugungen das Haupthindernis einer ihren Ideologien entsprechenden gesellschaftlichen Neugestaltung sahen. Nicht überall erfolgten die Gruppierungen mit gleichem Nachdruck gegen und für jene Überzeugungen, scharf kämpferisch stellte sich das kontinentale marxistisch denkende Proletariat ein, während in England das Toleranzprinzip durchaus bestimmend blieb, ja das gemeinsame Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie auch die revolutionäre Klassenbewegung verhinderte, die in Kontinentaleuropa um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Vergesellschaftungsprozeß in bedrohliche Bahnen drängte. In dem in der englischen demokratischen Denkart eingewurzelten Toleranzprinzip ist auch die Verschiedenheit des englischen vom kontinentalen Liberalismus begründet: Der letztere war „kulturkämpferisch" (gegen einen Einfluß von Kirche und Religion im öffentlichen Leben), was der englische nie war. Dieser Hinweis auf den Liberalismus zeigt auch, daß der weltanschauliche Pluralismus keineswegs erst besteht seit dem Ende des zweiten Weltkrieges, da man in Kontinentaleuropa von der weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft zu sprechen begann, sondern bis mindestens in die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurückgeht, in Kontinentaleuropa aber als neues Phänomen beachtet wurde im Gefolge des Aufkommens eigentlicher demokratischer Denkweisen und Haltungen. In allen Ländern erfolgte die Gruppierung nach weltanschaulich-ideologischen Überzeugungen vornehmlich in politischen Parteien. Infolge der eingelebten demokratischen Haltung, einschließlich der nach dem Toleranzprinzip, waren in England und Amerika Religion und Kirche, ganz anders als in Kontinentaleuropa, nie Gegenstand des Parteienkampfes oder Gewerkschaftskampfes. Die um weltanschauliche oder ideologische Positionen erfolgten Gruppierungen haben eine vielfältige Verzweigung und Verästelung erfahren, die in alle Lebensbereiche des Menschen hineinreicht. Diese Gruppierungen, nämlich die Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände haben sich Organisationen geschaffen, die Nachwuchs suchen und erziehen sollen. Für diesen Zweck erwiesen sich bloß lehrhafte Veranstaltungen wenig geeignet, also wurden Vereine verschiedener Art für Interessenbereiche eingerichtet, mit denen man die Jugend zu fesseln versuchte; so Sportvereine,

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Wandervereine, literarische Runden, Theatergruppen u. dgl. Bemerkenswert ist, wie sehr man sich wegen der starken Werbekraft soldier Organisationen genötigt sah, ähnliche Vergesellschaftungsformen auch im kirchlichen Raum zu schaffen. Im Bereich des wirtschaftlichen Interessenkampfes selbst verzweigt sich der weltanschaulich-ideologische Vergesellschaftungsprozeß. Die von den Mehrheitsverhältnissen bestimmte ideologische Haltung der Organisationsführung bestimmte minderheitliche Gruppen zur Einrichtung von Sonderorganisationen mit engerer oder loserer Bindung an die einheitliche Interessenfront. Der christlichen Welt sich verpflichtet wissende Gruppen einten sich innerhalb der großen Einheitsgewerkschaft, auch entstanden Unternehmerverbände, Mittelstandsvereinigungen mit ähnlichen Bindungen an im Christentum wurzelnde Grundüberzeugungen über einzelmenschliche und gesellschaftliche Lebensordnungen. Ausführlicher zu berichten über die Kirchen selbst, den ihnen eigenen Vergesellschaftungsprozeß und über die Vergesellschaftungsformen innerhalb der Kirchengemeinschaft, sei es zur religiösen Beeinflussung einzelner Gruppen (Jugend usw.) oder zur Auseinandersetzung mit der „Welt" und ihren geistigen Mächten, scheint im Rahmen dieser Ubersicht nicht notwendig. Eine stark ausgeprägte Schichtungsform der heutigen industriellen Gesellschaft besteht in der Masse. Man wird das Phänomen Masse mit jenen richtig umschreiben, die das Gemeinsame in einem größeren oder geringeren Mangel des Massenmenschen an einem eigenen Wertbild von sich selbst und einem eigenen Wertwillen in seiner Lebensgestaltung suchen. Dies ist die „Selbstentfremdung", wie bekanntlich Freyer („Theorie des gegenwärtigen Zeitalters") die Situation des Massenmenschen diagnostiziert. Durch die Selbstentfremdung wird er in besonderem Maße offen für den Einfluß der Massenmedien und für die von ihnen übermittelte Welt von Wertvorstellungen. Als seelisch-geistige Haltung zieht sich die Massenmentalität durch eine große Zahl konkreter Gesellschaftsgebilde hin. Andererseits ermöglicht gerade das der Massenmentalität eigene geistig Unbestimmte den ideologischen Formkräften eine Vielzahl von Vergesellschaftungsformen zu durchwirken. Man hat oft und mit guten Gründen „Masse" und „Gemeinschaft" als gegensätzliche gesellschaftliche Phänomene gesehen. Vor allem ist dabei an das Volk als ursprünglichster Vergesellschaftungsform gedacht. Die nur negativ wertende Soziologie der „Masse" übersieht jedoch, daß sich „Volk" auch noch in der „Masse" findet. Außerdem: Die Masse hat mit „Volk" das gemeinsam, daß beide nicht auf bewußten Vergesellschaftungsvorgängen beruhen, daß vielmehr die je gemeinsamen Wertungen und Haltungen durch das Unterbewußtsein oder Unbewußte wirksam sind; beiden ist weiters gemeinsam, daß sie in eigen-

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artiger Weise Voraussetzungen bieten, Gegenstand politischer Formkräfte zu werden. Gegenstand solcher Formkräfte wird das Volk in der Hand nationalistischer Bewegungen, ähnlich die Masse in der Hand von Organisationen, die ein einzelnes Interesse (Interessenverbände) oder einen einzelnen Wert (Nonkonformismus) zu unabhängig von dem größeren Ordnungszusammenhang sich als Ziel setzen. Etwas anderes als das Sichbemächtigen des Volkes durch nationalistische Bewegungen, die sich seiner Degradierung zur Masse schuldig machen, ist die moderne Vergesellschaftungsform der Nation, worin sich das Volk seiner Einheit, Eigenart und Verantwortung für sein Schicksal bewußt wird, sich im politischen Willen findet und organisatorisch zur Selbstbehauptung bereit macht. Das über die Masse Gesagte muß im gegenwärtigen Zusammenhang genügen, da es sich hier nur um eine soziologische Bestandsaufnahme über Formen des modernen Vergesellschaftungsprozesses handelt. Im Gefolge der Bestandsaufnahme der aus Weltanschauung, Ideologie, Interesse und Massenmentalität stammenden Formkräfte im heuauf zwei ganz tigen Vergesellschaftungsprozeß muß die Naturrechtsethik eigentlich auf diesen Vergesellschaftungsprozeß zurückgehende neue konkrete naturrechtliche Verpflichtungen des Einzelmenschen hinweisen. Beide waren in der vormodernen Gesellschaft nicht gegeben, da die einheitliche christliche Lebensauffassung und die institutionell vorgeformte Lebensordnung den Einzelmenschen in Pflicht nahmen, ihm bestimmte weltanschauliche Überzeugungen übermittelten und sittliche Verhaltensweisen auferlegten. Anders in der weltanschaulich und ideologisch geteilten Gesellschaft und ihrem weiten Freiheitsraum zur Entscheidung für frei zu wählende Organisationen und, damit in Verbindung, für Wahrheits- und Wertüberzeugungen, zu denen sich diese Organisationen als für ihren Zweck und ihr Handeln maßgebend bekennen. Die erste Verpflichtung besteht darin, daß für den heutigen Menschen die Frage „Was ist Wahrheit" hinsichtlich der weltanschaulichen Grundüberzeugungen und sittlichen Verhaltensnormen eine Entscheidung fordert und immer neu fordert. Infolgedessen muß er sich auch um die Erkenntnis der Voraussetzungen und Gründe für seine Entscheidung kümmern. Warum ist er dazu verpflichtet? Weil ihn sein Gewissen, wenn nicht wider seinen unzweideutigen Imperativ zum Schweigen gebracht, über Recht und Unrecht, Gut und Böse unterrichtet, sowie darüber, daß damit engstens die Fragen des Lebenssinnes und der Lebensordnung verbunden sind, zumal die meisten Menschen auf Grund des aus traditionellen geistigen Beständen stammenden und des aus der weltanschaulichen Umwelt an sie herankommenden Wissens auf diesen Zusammenhang aufmerksam werden. Nicht nur die

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Entscheidung in der erwähnten Hinsicht wird demnach zur ernstlichen Pflicht für den heutigen Menschen, sondern auch das Bemühen um die hinreichende Information über die dafür maßgebenden Fragen, Gesichtspunkte, Tatsachen. Zu diesen Gesichtspunkten und Tatsachen gehören auch die ihm in seinem Gewissen als „metaphysischer Offenbarungsquelle" (Spranger) sich zuerst offenbarenden Ausblicke auf die das sinnenhaft Gegenwärtige überhöhenden Wirklichkeiten. Die zweite Verpflichtung des Einzelmenschen in der weltanschaulich-ideologisch pluralistischen Gesellschaft besteht darin, daß er sich verantwortlich wissen muß für die Funktionsweise der Vergesellschaftungsformen, mit denen er direkt oder indirekt in Berührung steht. Denn ein großer Teil der Organisationen der heutigen Gesellschaft sind in ihrer Funktionsweise von Wertzielen geleitet, die oft weltanschaulich, zumeist aber ideologisch bestimmt sind, daher von allen Gliedern solcher Organisationen mitverantwortet werden müssen. Keiner ist heute unter ethischen Gesichtspunkten nur Privatperson, jeder hat eindeutig sich abzeichnende Verpflichtungen hinsichtlich der Ordnung des öffentlichen Lebens auf Grund seiner Rechte, nämlich seiner Freiheitsrechte der Beteiligung an den einzelnen Vergesellschaftungsformen sowie seiner Rechte als Glieder der freiheitlichen demokratischen Ordnung der staatlichen Gesamtgesellschaft. Die erörterten Rechte und Verpflichtungen ergaben sich in der Entwicklung der modernen Vergesellschaftung als „werdendes Naturrecht", sind heute mit der institutionellen Gewährleistung der persönlichen und gesellschaftlichen Freiheitsrechte unzweifelhaft feststehendes Naturrecht. Jede der erörterten Verpflichtungen ist eine naturrechtliche im eigentlichen Sinn, da jede die gesellschaftlichen Lebensordnungen betrifft, bei letzterer Verpflichtung ist das direkt der Fall, weil die weltanschaulich ideologische Gestimmtheit des gesellschaftlichen Organisationswesens von der Entscheidung der Organisationsangehörigen abhängt, bei der ersteren Verpflichtung indirekt, weil der Einzelmensch ohne die klare Einsicht in seine Gewissensverantwortung nicht zur Erfüllung der ihm obliegenden Verpflichtungen im gesellschaftlichen Bereich fähig ist. Wachsende Dichte Vergesellschaftung kann losere oder engere zwischenmenschliche Beziehungen im Gefolge haben. Siedlungsgebiete, in denen einzelne Ansiedlungen weit auseinanderliegen, bieten ein Beispiel der ersteren Art, Großstädte ein Beispiel der zweiten Art. Sofort drängt sich aber eine wesentliche Unterscheidung zweier Begriffe von Dichte der Vergesellschaftung auf. In einer kleineren Landgemeinde kann insofern eine sehr eng verbindende Vergesellschaftung bestehen, als jeder jeden kennt, oft nur beim

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Rufnamen nennt, jede Familie am Schicksal, den Sorgen, den Freuden jeder anderen teilnimmt, alle das Bewußtsein der ihnen als Nachbarschaftsgemeinschaft erwachsenen gemeinsamen Anliegen haben. In dieser Art der Vergesellschaftung besteht eine seelische Dichte der zwischenmenschlichen Beziehungen, alle wissen sich für alle als Glieder der verhältnismäßig kleinen Gemeinschaft mitverantwortlich und von allen mitverantwortet, diese Vergesellschaftung reicht ins eigentlichst Persönliche eines jeden hinein. Die kleine Nachbarsdiaftsgemeinschaft ist keineswegs das einzige Beispiel solcher seelisch dichter Vergesellschaftung in der heutigen Welt. Man denke allein an die große Anzahl von Klubs und Vereinigungen, die auf der freien Entscheidung ihrer Mitglieder beruhen und diesen einen seelischen Lebensraum bieten, der nur dem im Familienheim vergleichbar ist. Wird heute von Dichte der Vergesellschaftung gesprochen, ist zumeist gedacht an räumliche Dichte im Sinne des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens großer Mengen von Menschen auf verhältnismäßig engem Raum. Dazu gehört die Vergesellschaftungsform der Großstädte. Was die Gesellschafts- und Kulturkritik darüber zu sagen hat, braucht hier nicht wiederholt zu werden. Diese wachsende Dichte der Vergesellschaftung hat paradoxer Weise vielfach genau die gegenteiligen Wirkungen wie die erstgenannte Art der Vergesellschaftung. Als solche Wirkung ist vor allem zu nennen die weitreichende Entpersönlichung des zwischenmenschlichen Daseins. Teilweise als Wirkung der Entpersönlichung geht die seelische Vereinsamung Ungezählter einher. Entpersönlichung und Vereinsamung sind Erscheinungen, die genau dem entgegengesetzt sind, was der Natur der Sache nach im Sinne der Vergesellschaftung gelegen wäre. Eine weitere mit den genannten beiden zusammenhängende Wirkung ist die seelische Verarmung gerade an jenen Werten, an denen sich gegenseitig zu bereichern wichtigster Sinn und Zweck der gesellschaftlichen Verbundenheit und der zwischenmenschlichen Begegnung innerhalb solcher Verbundenheit wäre. Auf diese Folgewirkungen von Verstädterung (was die Soziologie auch Urbanisierung nennt) hinzuweisen scheint bei einem Uberblick über den modernen gesellschaftlichen Verflechtungsprozeß geboten, weil dieser vielfach zu mechanistisch, durch Wirtschaft und Technik bedingt, gesehen wird, während seine Wirkungen auf den Menschen für die soziologische Analyse ausschlaggebend sein müßte. Auf diese Folgewirkungen der Verstädterung hinzuweisen besteht umso mehr Grund, als die seelisch-geistigen Fehlentwicklungen mit der scheinbar unaufhaltsamen

Verstädterung

neue Nahrung

erhalten werden. Tatsache ist, daß die Großstadtbildung in allen Kontinenten weitergeht, außerdem, daß alle Großstädte, alt und neu, sich in den zivilisatorischen Einrichtungen und den daraus erwachsenden Lebensformen

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ganz weitgehend gleichen, daß sie eine einzigartige Anziehungskraft auf Angehörige der Bevölkerung des umliegenden Landes ausüben, nicht zuletzt, daß sie wie ein Schmelztiegel in der Auflösung überkommener weltanschaulicher, besonders traditioneller Bindungen wirken. Mit der genannten hängt eine weitere höchst bedeutsame Folgewirkung der Verstädterung als Gesellschaftsform zusammen: die seelische Entwurzelung der in sie einbezogenen Menschen. Mindestens in der zweiten oder dritten Generation verliert der ursprüngliche sittlich-religiös-kulturelle Wurzelboden seine lebenzeugende Kraft. Angesichts dieser seelischen Entwurzelung und der dadurch bedingten, sich als geistigen Leerraum erweisenden Massenmentalität erklärt sich soziologisch die heute so oft genannte Angst des modernen Menschen weitgehend als Folge der Art des modernen Vergesellschaftungsprozesses. Gewiß sind es äußere Ursachen wie die ständige Gefahr kriegerischer Verwicklungen, die diese Angst bewußt machen. Aber die Angst als Situation des sich keiner seelischen Existenzgrundlage sicheren Menschen ist Folge des mit der Urbanisierung einhergehenden Verlustes letzter Wahrheits- und Wertüberzeugungen, der im Agnostizismus und Nihilismus und damit in der Verzweiflung endet. Nicht verwunderlicherweise wird den durch die Urbanisierung gebotenen Möglichkeiten der Lebenserfüllung ein ganz unverhältnismäßig hoher Rang in der Ordnung der Werte zugemessen. Jedoch beim Fehlen überdauernder Werte wird die jenen Möglichkeiten wesenseigene Vergänglichkeit zu einem Anlaß dauernder Angst. Keine soziale Sicherheit vermag diese Art von Angst zu paralisieren. Ist diese Angst soziologisch und psychologisch zum nicht geringsten Teil, wie gezeigt, aus modernen Vergesellschaftungsformen zu verstehen, so erklärt die Angstverfallenheit wieder zu einem guten Teil die Wohlstandsmentalität der industriellen Gesellschaft mit ihrer Verhaftung an äußeren Lebenskomfort, auch daß sich beide in einem circulus vitiosus steigern. Bleibt noch die bekannte Tatsache zu erwähnen, daß die durch die Verstädterung und Massenmentalität bedingte Geistigkeit rasch fortschreitend aufs „Land" übergreift vermöge der Reichweite der Massenmedien, von Rundfunk, Fernsehen, Presse, Illustrierten, Reklame. Im Anschluß an das Gesagte ist gleich ein Kernpunkt der modernen Vergesellschaftung zu erwähnen, wenn von ihrer Dichte die Rede ist: der industrielle Großbetrieb. Angesichts der reichen Literatur, die darüber besteht, sei im gegenwärtigen Zusammenhang nur auf die Seite seiner soziologischen und sozialethischen Problematik hingewiesen, die in dieser Vergesellschaftungsform Möglichkeiten erkennen läßt, die über die bloße Arbeitsgroßorganisation zur Herstellung bestimmter auf dem Markt ge-

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Gesellschaftsethik

fragter Güter hinausweisen. Daß in solchen Großbetrieben sich täglich hundert, tausend oder hunderttausende Menschen zur Kooperation zusammenfinden, zeigt die Ausmaße solcher Arbeitsorganisationen. Sie müsSacherfordernissen eingerichtet sen nach technischen und wirtschaftlichen werden und müssen, ob sie in einer freien Wirtschaftsordnung oder einer Zentralverwaltungswirtschaft (Kommunismus) ihren Zweck erfüllen, in ihrer Organisation gleichen Gesetzen folgen. Menschen in leitender und abhängiger Stellung sind zur Erfüllung des Betriebszweckes verbunden. Sosehr jedoch diese Vergesellschaftungsform von Sacherfordernissen und dem Zwang der „Mitarbeiter" zum Erwerb von Einkommen bestimmt ist, wird sie eine überhöhende Einheit, wenn betriebliche Sozialpolitik und Formen des Partnerschaftsverhältnisses das Ihrige tun. Dann vermag das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit im Dienste einer gemeinsamen Sache allen Beteiligten, auch der abhängigen Arbeit, trotz der Geregeltheit aller Arbeit durch technische und organisatorische Erfordernisse das Gefühl einer Lebenserfüllung in Ausübung einer gesellschaftlichen Funktion zu geben. Wege zu suchen zu einer Gestaltung der Voraussetzungen für eine Sozialordnung des Betriebes im letzterwähnten Sinn, stellt heute in allen Industrieländern Ziele nach den Imperativen der humanen Werte im Sinne sich rasch entwickelnden Naturrechts. Eine weitere Form eines zu nie gekannter Dichte sich konzentrierenden Vergesellschaftungsprozesses brachte und bringt die sich heute der ganzen Welt bemächtigende industrielle Entwicklung mit sich. Die großen bevölkerungsreichen Nationen des Ostens wie die neuen kleinen selbständig gewordenen Staaten Afrikas sehen in der Steigerung ihrer industriellen Produktion ein Hauptziel. Dabei sind sie geleitet von der Sorge um die Ernährung ihrer rasch wachsenden Bevölkerung, nicht minder vom Streben nach Angleichung des Lebensstandards an den der hochindustrialisierten Länder. Die augenfälligste Erscheinung der Dichte dieses Vergesellschaftungsprozesses sind die industriellen Ballungszentren. Im äußeren Bild wie in der seelischen Verfassung der dort arbeitenden und beheimateten Menschen, ob in Europa, Nord- oder Südamerika, in Sowjetrußland oder China, in Afrika oder im Fernen Osten, gleichen sie einander in hohem Maße. Mag es verschiedene klimatische Verhältnisse, Unterschiede in Bekleidungsund Ernährungsgewohnheiten geben, die das Leben beherrschenden industriellen Großanlagen funktionieren überall gleich, zu ihnen bewegt sich am Morgen eine alle Verkehrsmittel und Straßen bis zum Bersten füllende Bewegung der Massen von Arbeitern und Angestellten. Sie verrichten je gleiche Teilprozesse von Arbeitsvorgängen, ob sie im Stahlwerk oder am Fernschreiber ihren Platz haben. Ihr Zurückströmen zu ihren

Einleitung

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Wohnungen auf meist sehr langen Wegen bildet überall das gleiche Bild einer Bewegung ungeheurer Massen. Körperlich müde und seelisch leer sucht der größere Teil davon Entspannung und Erlebnis im Kino, am Radio, am Bildschirm, mit der Zeitung oder der Illustrierten, die alle weiter seelisch uniformierend wirken und der ohnedies nicht vorgesehenen Rückkehr zum Wertwesen der eigenen Person noch weiter im Wege stehen, zumal das von den Massenmedien Gebotene sich vielfach an eine verhältnismäßig niedrige Rangstufe der Werte hält. Gewiß bleiben Räume bestehen, in denen Teile audi dieser Bevölkerung ihr seelisches und besonders im Familienheim mögliches Eigenwesen zu wahren vermögen. Seelisch verkümmernd wirken weiter die unnatürlichen Lebensverhältnisse in den geballten Industriezentren. Merkwürdigerweise hat man während fast hundert Jahren der industriellen Entwicklung in Europa sich über das Unnatürliche dieser industriellen Ballungszentren kaum Gedanken gemacht. Der Kampf gegen eine Barbarei wie die Slums in Industriestädten von hochkultivierten Völkern wurde erst nach dem zweiten Weltkrieg aufgenommen. Wer etwa die Slumsviertel der Großstädte in England kennen lernte, konnte sich nur wundern, wie es möglich war, dai? \ihre Bewohner, für die das Christentum aufgehört hatte eine Lebenswirklichkeit zu sein, nicht im Kommunismus ihr neues Welt- und Gesellschaftsbild suchten. Nicht nur die Arbeits- und Lohnverhältnisse, sondern die mit diesen Formen gesellschaftlicher Entwicklung verbundene seelische Verkümmerung war wesentlicher Bestandteil des Proletarismus der stürmischen industriellen Entwicklung mit ihren sich wiederholenden krisenhaften Rückschlägen. Daß sich Christentum und Naturrecht die längste Zeit nur mit dem Arbeitsverhältnis befaßten, ist angesichts der überlangen Arbeitszeiten, der Arbeitslosigkeit, der Erregung der Arbeiterschaft verständlich. Erst seit dem zweiten Weltkrieg wird der anderen Seite der Sozialreform in einer wachsenden Zahl von Ländern größere Aufmerksamkeit zuteil: der Entballung der Industriezentren, der Raumplanung, der Städteplanung, der Wohnsiedlung außerhalb der Industriezentren mit Schnellverbindungen zu diesen. der Humanisierung des In Frage stehen naturrechtliche Grundforderungen modernen Industrielebens, darunter auch der Raumordnung als Aufgabe der Gesellschaftspolitik. Ein mit der Industrialisierung einhergehender Verdichtungsprozeß in der heutigen Vergesellschaftung knüpft sich an die Überorganisierung der industriellen Massengesellschaft. Die Folge ist die vielfache Unterwerfung des Einzelmenschen unter gesellschaftliche Bindungen. Das Eigenartige dieses Vergesellschaftungsprozesses besteht darin, daß die Oberorganisierung zum ganz großen Teil vom Bewußtsein der Freiheit getragen ist. Denn die Frei-

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Gesellschaftsethik

heit der Vereinigung ermöglicht es, daß sich größere und kleinere Gruppen zusammenschließen zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen. Diese Möglichkeit ist ausschlaggebend für das Wesen der freiheitlichen Demokratie und ihre verbandspluralistische Entwicklung. Die beiden damit verbundenen Gefahren werden viel erörtert. Erstens ist der Organisationspluralismus zwar auf das Freiheitsrecht begründet, das Verbandsbildungen nach dem Prinzip gemeinsamer Interessen ermöglicht, gleichzeitig geht damit ein Verlust oder eine Bedrohung der Freiheit einher. Die organisatorischen Apparate gewinnen Macht über die darin vergesellschafteten Menschen, eine Macht, die von den Verbandsführungen gesucht und ausgenützt wird meist mit Berufung auf ihre Unerläßlichkeit zur Wahrung der Interessen der Gruppe in dem durch Interessengegensätze weitgehend bestimmten gesellschaftlichen Gesamtprozeß. Die zweite Gefahr dieser Herrschaft der organisatorischen Apparate in der überorganisierten Gesellschaft besteht darin, daß die Gruppeninteressen im gesamtgesellschaftlichen Prozeß ein Gewicht erhalten, das das Gesamtinteresse, das Gemeinwohl, benachteiligt, sei es unmittelbar, sei es in seiner künftigen Entwicklung, ζ. B. wenn Gruppenforderungen auf Kosten von Bildungsinvestitionen durchgesetzt werden. In dieser Freiheitsgefährdung und Gemeinwohlgefährdung sieht die Naturrechtslehre ihren Einwand gegen die mit dem Individualismus beherrschend gewordene Freiheitsidee, die sich heute im Gruppenindividualismus der Interessenverbände auswirkt: Die Freiheit ist nicht institutionell an die durch das Gemeinwohl gebotene Verantwortung gebunden. Es bedarf der Einrichtungen für das Wirksamwerden des Verantwortungsbewußtseins Verbände gegenüber der Gemeinschaft im ganzen und ihrem Gemeinwohl. Verantwortung sieht die Naturrechtslehre aber auch verbunden mit der Freiheit, kraft deren die Mitglieder der Organisationen und Verbände diesen angehören. Sie sind daher gehalten, sich um eine Führung ihrer Organisationen nach Prinzipien zu kümmern, die sie vor ihrem Gewissen mitverantworten können. Das heißt, es kommt auf die verbandsinterne Demokratie an. Das ist nicht nur eine ethische Forderung, sondern auch eine, die im Eigeninteresse der Verbandsmitglieder gelegen ist. Soweit diese Demokratie fehlt, gewinnt die Freiheitsbedrohung der Mitglieder und die Herrschaft des Apparates an Gewicht. bedingte Besonderer Erwähnung bedarf noch die wirtschaftlich internationale Vergesellschaftung. Feststeht, daß die Wohlstandsentwicklung einer jeden Volkswirtschaft von der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung abhängt. Dies findet seinen augenfälligsten Ausdruck darin, daß die höchstentwickelten Volkswirtschaften zugleich die Länder mit dem größten Ausmaß von Handelsverkehr sind. Diese wirtschaftliche Verflechtung

der

Einleitung

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und gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Industrieländer verdichtet sich ständig weiter mit der „Liberalisierung" des Handelsverkehrs. Heute ist außerdem eine neue Form der weltwirtschaftlichen Vergesellschaftung im Werden: die der hochentwickelten Länder mit den Entwicklungsländern. Darüber besteht eine von Tag zu Tag sich häufende Literatur. Was noch fehlt, ist das Bewußtsein der Bevölkerung der hochentwickelten Länder von der für ihr eigenes Schicksal ausschlaggebenden Dringlichkeit des fraglichen engeren Vergesellschaftungsprozesses. Ihr eigenes Schicksal steht in Frage, weil der sich heute noch immer ausweitende Abstand zwischen dem Lebensstandard der hochentwickelten Volkswirtschaften und dem der Entwicklungsländer dem Weltkommunismus unermeßliche Chancen bietet. In weltpolitischer Perspektive gibt es keinen isolierten Wohlstand einzelner Länder. Nur wenn den Entwicklungsländern von den hochentwickelten die Hilfen für ein Aufholen in der Wohlstandsentwicklung geboten werden, wird ihr eigener Wohlstand und der ihrer Kinder zu erhalten sein. Die damit gestellten Fragen und Aufgaben werden rasch eine ungeheure Komplizierung erfahren durch das Bevölkerungswachstum der Entwicklungsländer. Aus dieser völlig neuen Weltsituation erwachsen naturrechtliche Imperative hinsichtlich der Sozialfunktion des Privateigentums, der Leistungssteigerung der hochentwickelten Volkswirtschaften und der Haltung der letzteren gegenüber den Entwicklungsländern. Wenn von der wachsenden Dichte der Vergesellschaftung gesprochen der Welt im ganzen zu wird, ist vor allem auch die Vereinheitlichung erwähnen. Sie hat sich schon seit langem vorbereitet, aber als Wirklichkeit trat sie erst voll ins Bewußtsein mit den nach dem zweiten Weltkrieg erfolgten raschen Schritten in der Entwicklung der Technik, der Nachrichtenübermittlung, des Flugverkehrs und der Kernphysik. Diese Entwicklung hat in kurzer Zeit bewirkt, daß sich heute die Menschheit als Einheit empfindet und Weltgeschichte einen neuen Sinn erhielt. Die Universalgeschichte der Zeit vor dem zwanzigsten Jahrhundert war im Grunde Partikulargeschichte von Einzelvölkern oder Einzelkontinenten und ihrer friedlichen oder kriegerischen Beziehungen. Erst seit kurzem gibt es Weltgeschichte im eigentlichsten Sinn, weil politische Entwicklungen in jedem Teil der Welt Ausstrahlungen in der ganzen übrigen Welt verursachen können, so daß sich die ganze Menschheit wie nie zuvor als Schicksalsgemeinschaft weiß. Besteht heute die Angst aller um die eigene Zukunft und die der Menschheit und der Kultur, so erwächst gerade aus ihr die Hoffnung, daß sie Antrieb zur Gestaltung einer Ordnung der Völkergemeinschaft werde, die einen dauernden Frieden zu begründen vermögen. Die neue Ordnung könnte nur eine naturrechtliche sein, eine, die darauf beruht, daß 35

Messner, Naturrecht

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Gesellschaftsethik

im ganzen Umkreis der Menschheit sich die Völker auf das in der Natur der Sache begründete Eigeninteresse besinnen. Eine solche Friedensordnung ist der Königsgedanke der Naturrechtslehre, den sie begründet sieht in der allen Menschen gemeinsamen Vernunftnatur mit ihrer Einsicht in die humanen Grundwerte. Im vorangehenden war nur ein skizzenhafter Überblick über die Entwicklungstendenzen des innergesellschaftlichen und internationalen Vergesellschaftungsprozesses zu versuchen. Die bei der Erörterung solcher soziologischen Erscheinungen üblichen Warnrufe über Kollektivisierung und Sozialisierung des Menschen wurden ebenso vermieden wie die unbesehene Gleichsetzung von Entwicklung und allem Neuen mit Fortschritt. Für die Behandlung der mit dem modernen Vergesellschaftungsprozeß für die Naturrechtsethik sich ergebenden Fragen wird im folgenden bei der Behandlung seiner einzelnen Erscheinungsformen Gelegenheit sein.

I.

Teil

Die Familie

69. Die Ehe Die Ehe ist die rechtmäßige, dauernde Lebens- und Geschlechtsgemeinschaft von Mann und Frau. Die wichtigste treibende Kraft zur Verbindung von Menschen in der Ehe ist die in der Verschiedenheit des Geschlechtes begründete Liebe. Da jedoch Mann und Weib die Natur geistiger Personen haben, ist ihre Liebe geistige wie körperliche Liebe in gegenseitiger Durchdringung. Sie ist in einem doppelten Sinne schöpferisch, durch das Hinauswachsen der Lebenden über sich selbst im Kinde, sowie durch ihr Hinauswachsen in ihrer Persönlichkeitsentfaltung über das, was jeder nur für sich allein vermöchte. Denn die Liebe macht, solange sie lebendig ist, immer hellsichtig für das Tiefste und Feinste in der Person des anderen und will, daß es ganz Wirklichkeit werde. Und die Liebe im anderen antwortet diesem Rufe durch die nie endende Entfaltung, das Wachstum und Reifen der Persönlichkeit, an dem die Liebe des anderen ihre immer neue Befriedigung findet, sich aber auch immer neu entzündet. Dieses heilige Feuer der ehelichen Liebe zu hüten und zu immer neuer Kraft zu nähren ist sittliche Verpflichtung derer, die in ihr verbunden sind. Und es ist ihre Verpflichtung, vor der Knüpfung des ehelichen Bandes zu prüfen, ob sie wirklich dieses heilige Feuer treibt, das allein ihr innerstes Wesen in eine Einheit zu verschmelzen vermag, oder nur der Brand der Leidenschaft, der nie wirklich einigen kann, weil sein Wesen Selbstsucht ist. In der Ehe stehen somit existentielle Zwecke des Menschen in Frage, die in seinen stärksten Trieben vorgezeichnet sind und das Innerste seiner Person berühren. Und es ist offenkundig, daß die Ehe als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau ihre Einheit und Unauflöslichkeit bedingt, d. h. die dauernde Verbindung eines Mannes mit nur einer Frau. Jede andere Form der Geschlechtsverbindung steht im Widerspruch zum Wesen wahrer Liebe zwischen Personen, deren existentielle Zwecke im Sexualbereich nur Teil der Gesamtheit der existentiellen Zwecke sein können. Sonst muß der Sexualtrieb wegen seiner Gewalt sich in Egoismus verkehren, während er Kraft der Liebe zu werden bestimmt ist. Selbstverständlich darf die Liebe zwischen Personen nicht mit ihrer bloßen Gefühlsseite verwechselt werden. Das Gefühl geht vorüber, Liebe will ihrem Wesen nach dauern. Polygamie in ihren 35*

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Die Familie

alten und neuen Formen und die Auflöslichkeit der Ehe sind unvereinbar mit der Liebe, die die ganze Existenz der Liebenden umfaßt und durchdringt. Sie verhindern die Existenzerfüllung in der ehelichen Liebe. Sie stehen dem individuellen Zweck entgegen, den die Liebenden mit der Ehe im Sinne haben. Diese Liebe verlangt die ganze und ausschließliche Person des anderen und die Einigung mit ihm ohne jegliche Begrenzung. Alles, was die Dichter über die bräutliche Liebe gesungen haben, ist ein einziger Beweis für die einmütige Uberzeugung der Menschheit in dieser Hinsicht. Wir haben unseren Beweisgang für die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe zunächst dem persönlichen Zweck der Liebenden, aus ihrem Individualzweck, entwickelt, der bei der Eingehung einer Ehe so sehr im Vordergrund steht. Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe ergeben sich aber noch klarer aus dem Sozialzweck der ehelichen Vereinigung, der Aufzucht der Kinder. Wegen dieses natürlichen Zweckes enthält der Ehevertrag Bedingungen, die nicht dem Willen der Vertragschließenden überlassen, sondern durch das Naturgesetz festgelegt sind. Wer also den Ehevertrag schließt, verpflichtet sich ipso facto auch auf die im Sozialzweck der Ehe begründeten Bedingungen. Diese sind die Einheit und Unauflöslichkeit. Hauptsächlich die letztere ist heute umstritten. Sie ist jedoch durch das Wohl des Kindes gefordert. Das Kind ist genau so wie die Eltern der Würde der menschlichen Natur teilhaftig; es besitzt darum vom ersten Lebenstage an das Recht auf die ihm in der Familie durch die Naturordnung zugewiesenen Voraussetzungen für eine allseitige Lebensentfaltung. Weil diese den Sozialzweck der Ehe bilden und weil das Gemeinwohl dem Einzelwohl vorangeht, ist die Ehe ihrer Natur nach unauflöslich. Dies gilt auch für den Fall, daß ein oder beide Elternteile in der Ehe ihr persönliches Glück nicht zu finden vermögent Wenn aber eine Ehe kinderlos ist? Oder wenn die Eheleute doch getrennt leben müssen, weil sonst Seele und Leib derselben und das Wohl der Kinder bedroht ist? Um des Sozialzweckes der Ehe willen verlangt die Natur trotzdem ihre Unauflöslichkeit. Denn dieser geht über die einzelne Ehe hinaus und betrifft die Gesellschaft im allgemeinen. Wäre das Band der Ehe nicht unauflöslich, viele, die in einer Ehe sich verbinden, würden von vornherein nicht die Anstrengungen machen, die notwendig sind, um den Individual- und Sozialzweck der Ehe zu erreichen. (Die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe als positives göttliches Gesetz und andere Einzelfragen fallen außerhalb des Rahmens der Sozialethik; diese selbst wird im Bemühen um die Beantwortung dieser Fragen immer auf den einen oder anderen Gedanken zurückgeführt werden, den wir aus der Natur der Ehe und der ehelichen Liebe erhoben haben.)

69. Die Ehe

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Ehe und Staat Da die Ehe ein Vertrag ist, der Rechtswirkungen für die Ehepartner, für die Nachkommenschaft und für die Gesellschaft nach sich zieht, fällt sie auch in den Bereich der staatlichen Zuständigkeit. In allen Kulturländern befaßt sich das Recht mit der Ehe, soweit die Interessen der Gesellschaft in Frage stehen. Es legt die Form der Beurkundung des Ehevertrages fest; es schützt das Eheband durch Bestrafung des Ehebruchs; es umschreibt Rechte und Pflichten der Ehepartner, soweit sie gesellschaftliche Auswirkungen haben, besonders die, welche die Sorge für die Kinder und die wirtschaftliche Stellung der Familienmitglieder betreffen, ζ. B. als Erben. Welche Rechte hat der Staat zur Festlegung wirtschaftlicher, rassischer und eugenischer Ehehindernisse? Es gehört zu den merkwürdigsten inneren Widersprüchen im Denken des Liberalismus, daß das ökonomische Ehehindernis nicht nur bestehen, sondern unter seinen hervorragendsten Vertretern Verteidiger finden konnte Heute stehen die beiden anderen staatlichen Ehehindernisse im Vordergrund der Erörterungen. Das rassische Ehehindernis mancherorts in den Kolonien wendet sich gegen Rassenmischehen, nämlich gegen die eheliche Verbindung von Weißen mit Eingeborenen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die geschlechtliche Promiskuität mit allen ihren gesundheitlichen und seelischen Folgen durch diese Eheverbote sehr gesteigert wurde, desgleichen die Prostitution der farbigen Frauen und die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Unter die gleiche Art staatlicher Eheverbote fällt auch das eugenische, das ist das Verbot von Ehen von „erblich Belasteten". In diesem Falle wie in dem der kolonialen Rassenmischehe ist selbstverständlich die angelegentlichste Prüfung aller Folgen für die Zukunft schwere sittliche Pflicht derer, die an eine solche Ehe denken. Der Staat mag auf geeignete Weise auf die wirklich eingehende Selbstprüfung der Ehekandidaten einwirken. Ein obligatorisches „eugenisches Unbedenklichkeitszeugnis" auf Grund einer solchen Untersuchung durch einen erfahrenen Arzt kann zweckmäßig sein. Es steht aber nicht in der rechtlichen Macht des Staates, die Erlaubtheit einer Ehe von einem solchen Zeugnis abhängig zu machen; er könnte es nur tun unter Verletzung von naturrechtlich begründeten Rechten und Freiheiten der menschlichen Person. Verschieden von einer subsidiären Art der Mitwirkung in der Erziehung zu eugenischem Verantwortungsbewußtsein ist auch die Anmaßung einer unmittelbaren Beratungsfunktion durch den Staat, ζ. B. durch die Einrichtung von Eheberatungsstellen. In manchen Ländern sind solche Stellen durch den Staat oder mit staatlichen Mitteln zur unterschiedslosen Beratung einer möglichst großen Anzahl von Ehewilligen eingerichtet worden. In 1

/. S. Mill, On Liberty, 1878, Kap. V., gegen Ende.

Die Familie

allen Ehefragen stehen jedoch audi sittliche Prinzipien in Frage, und diese Prinzipien sind von der religiösen Überzeugung nicht trennbar. Daraus folgt, daß Eheberatungsstellen ihre Aufgaben nur wirklich erfüllen können, wenn sie Ärzte beschäftigen, die gleicher religiöser Überzeugung sind wie die, die sie zu beraten haben. „Neutrale" staatliche Eheberatungsstellen können daher nur für Religions- und Konfessionslose in Frage kommen, während die Eheberatung für Angehörige der christlichen Kirchen am besten durch Einriditungen im Rahmen der kirchlich-karitativen Organisationen erfolgt. Ehe und Kirche Infolge der säkularisierten Auffassung der Ehe versuchte der Staat in zunehmendem Maße auch die Ehe von Christen seiner Jurisdiktion zu unterwerfen. In manchen Ländern geschah dies, indem er der kirchlichen Ehe von Christen die Anerkennung versagte oder sie unter Strafe stellte, wenn die Ehe nicht vor den staatlichen Behörden geschlossen war (obligatorische Zivilehe), oder indem er den Christen die Möglichkeit einer bloßen Zivilehe anbot und so die Umgehung der kirchlichen Jurisdiktion ermöglichte (fakultative Zivilehe). In vielen Ländern ist jedoch die Stellvertretung des Staates einfach an den beim Sakrament der Ehe mitwirkenden kirchlichen Amtswalter delegiert. Die Ehe zwischen Getauften ist ein Sakrament und fällt daher unter die Zuständigkeit der Kirche, so daß der Staat sich einer Verletzung des natürlichen und göttlichen Redites schuldig macht, wenn er sich die aussdiließliche Jurisdiktion über Ehen von Christen anmaßt. Anderseits dürfte der moderne Staat nicht imstande sein, die Ermöglichung der Ehescheidung ganz zu vermeiden, wenn die Gewissen durch verkehrte Einflüsse in dieser Frage verfälscht worden sind. Je mehr jedoch der Staat die Ehescheidung erleichtert (in nicht wenigen Ländern des westlichen Kulturbereiches verfallen bis zu zwanzig Prozent der Ehen der Scheidung), umso weitgehender schwächt er seinen eigenen Lebensgrund, die Familie. Der Erörterung der Familie wenden wir uns nun zu. Individualismus und Kollektivismus reihen die Ehe grundsätzlich unter jene Verträge ein, die in allen ihren Bedingungen letztlich von dem Willen der Vertragsparteien abhängen. Der dieser Auffassung zugrunde liegende Irrtum steht hinter den Ideen der „freien Liebe", der „Kameradschaftsehe" (Zusammenleben ohne Ehevertrag), der „Versuchsehe", die alle mit dem Aufstieg des Liberalismus und Säkularismus zum Programm erhoben worden sind. Für den dialektischen Materialismus ist, wie jede andere gesellschaftliche Institution, so auch die Ehe der sozialen Entwicklung unterworfen: „Die Monogamie entstand aus der Konzentrierung größerer Reichtümer in einer Hand — und zwar der eines Mannes — und aus dem Bedürfnis, diese Reichtümer den Kindern des Mannes

70. Die Familie

551

und keinen anderen zu vererben... Was aber von der Monogamie ganz entschieden wegfallen wird, das sind alle die Charaktere, die ihr durch ihr Entstehen aus den Eigentumsverhältnissen aufgedrückt wurden, und dies sind erstens die Vorherrschaft des Mannes und zweitens die Unlösbarkeit 2 ."

70. Die Familie Die Familie ist die Gemeinschaft der Eltern mit ihren Kindern. Die die Eltern und Kinder verknüpfenden Bande des Blutes begründen Neigungen und Antriebe innerhalb der Familiengemeinschaft, die über die Grundgesetze ihrer naturrechtlichen Verfassung keinen wirklichen Zweifel lassen. Trotzdem konnte der Mensch auch darin irren, ja ein so überragender Denker wie Aristoteles verteidigte die Kinderaussetzung, und Plato faßte sogar den Gedanken einer völligen Ersetzung der Familie durch die Promiskuität von Männern und Frauen unter staatlicher Erziehung ihrer Kinder. Indessen das Naturrecht spricht zu deutlich. Aristoteles sieht, daß sich das Gefühl gegen die Kinderaussetzung richten mag 1 , und er findet viele Gründe gegen Piatos Frauen- und Kindergemeinschaft 2, während Plato selbst in seinem Spätwerk „Die Gesetze" diesen Gedanken nicht mehr vertritt. In der Tat gilt auch den Alten der Herd, das Symbol der Familiengemeinschaft, als heilig und wird stets zugleich mit dem häuslichen Altar genannt. Constantin Frantz hat recht, wenn er in der Gewohnheit, „Thron und Altar" zu verbinden, eine Verkennung und Verfälschung eines fundamentalen Tatbestandes sieht, da nur „Herd und Altar" durch den Spruch der Natur miteinander verbunden sind 8 . Keine Naturwirklichkeit bringt dem Menschen seine Beziehung zum Schöpfer näher als die Verantwortlichkeit und die Geheimnisse, die mit der Zeugung und Aufzucht eigener Kinder verbunden sind. Christus hat dieser natürlichen Ordnung die klare göttliche Sanktion gegeben in der Heiligung der Familie durch seine Geburt vom Weibe und durch sein Leben und seine Arbeit in der Familie. Und in seiner Lehre hat die Familie klar den Platz des ersten und wichtigsten Gesellschaftsgebildes. Der Zweck der Familie ist ein dreifacher: die Versorgung ihrer Glieder mit den für das geordnete tägliche Leben notwendigen Gütern für Körper und Geist; die Heranziehung der Kinder; die Zelle der Gesellschaft zu sein. Auf diesen individuellen und gesellschaftlichen Lebensaufgaben (existentiellen Zwecken) beruht der Vorrang der Familie vor allen anderen gesellschaftlichen Gebilden einschließlich des Staates. Denn die existentiellen 2 1 2 8

F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 1896, 63 u. 64, 72. Aristoteles, Politik VII. 16 § 15. Aristoteles, a. a. O. II. 1. § 3. C. Frantz, Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaften, 1870, 126 f.

Die Familie

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Zwecke und die darauf beruhenden Aufgaben und Verantwortlichkeiten bestimmen die Stellung einer Gemeinschaft innerhalb des Pluralismus der Gesellschafts- und Rechtsordnung. Daher ist die Familie vor dem Staate und besitzt natürliche Rechte, zu deren Anerkennung der Staat verpflichtet ist. Den die staatliche Gemeinschaft bildenden Familien die Erfüllung ihrer natureigenen Aufgaben zu ermöglichen ist die vorzüglichste Aufgabe des Staates. Nur insoferne die gesicherte Erfüllung der Aufgaben der Familie durch die Begründung von Frieden, Ordnung und Wohlfahrt der Gesellschaft durch den Staat bedingt ist, besitzt daher Aristoteles 9 Erklärung, daß dem Staat vor der Familie der Vorrang gehöre, ihre Berechtigung. Die Natur läßt keinen Zweifel darüber, daß die „Ordnungsgewalt", die Autorität, die für jede Gemeinschaft wesentlich ist (vgl. Kap. 45), in der wird, von Familie beiden Eltern gemeinsam zusteht. Die Familienautorität jeglichem Gesichtspunkt aus gesehen, am besten von den Eltern einverständlich ausgeübt. Wenn jedoch Entscheidungen notwendig sind und die Eltern sich nicht zu einigen vermögen, ruht die Autorität dazu in der Regel beim Vater. Der Grund liegt darin, daß in jeder Gemeinschaft eine oberste Autorität unerläßlich ist und daß der Vater zufolge der ihm für die Erhaltung der Familie obliegenden Verantwortung durch die Natur zur Ausübung dieser Autorität bestimmt ist. Daher sind es im Grunde die naturrechtlichen Prinzipien, die Paulus mit seiner Umschreibung der Pflichten innerhalb der Familiengemeinschaft in Eph. 5 und 6 darlegt, sosehr er den Christen die höchsten Motive für ihre Befolgung lehrt. Im Familienrecht regelt der Staat die Ausübung der elterlichen Entscheidungsgewalt hinsichtlich aller wesentlichen Fragen. Wozu der Staat dabei bevollmächtigt ist, läßt sich naturrechtlich nicht ein für alle Male im einzelnen umschreiben, weil es weitgehendst durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt ist. Das Allgemeine findet sich treffend ausgesprochen bei Constantin Frantz, der auch in dieser Sache den Kern des Prinzips trifft: „Darüber kann das Gesetz verschiedenes bestimmen. Es ist dabei alles für zulässig zu erachten, was mit dem Wesen und Zweck der Ehe verträglich ist, alles für löblich, was dazu dient, das Wesen der Ehe rein zu erhalten oder ihren Zweck sicherzustellen, unstatthaft hingegen, was dem Wesen der Ehe widerspricht oder ihren Zweck gefährdet 4." Am Anspruch des Staates auf den Vorrang vor der Familie wird gleicherweise von der individualistischen und der kollektivistischen Gesellschaft festgehalten. Die erstere betrachtet die Staatsgemeinschaft nicht in erster Linie als einen Verband von Familien, sondern von Individuen; es bleibt also kein Platz für einen Vorrang der Familie. Durch nichts hat sich die individualistisch-kapitalistische Gesellschaft so sehr selbst gerichtet wie durch ihre zerstörenden Aus4

C. Frantz,

a. a. O. 130 £.

7 . Die Familie:

sgemeinschaft

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Wirkungen auf die Familie, durch die „Krise der Familie" (vgl. Kap. 71—80). Für den dialektischen Materialismus ist die jeweilige gesellschaftlich-rechtliche Familienordnung nur ein Teil des „Überbaues" des gesellschaftlichen Wirtschaftsprozesses und ganz der an diesen Prozeß gebundenen Entwicklung unterworfen. Daher wird die „bürgerliche Familie", womit das „Kommunistische Manifest" offensichtlich die auf absolute Werte und Rechte begründete Familie meint, „natürlich wegfallen... mit dem Verschwinden des Kapitals: die Familie ist demnach nur ein dem Gesellschaftsprozeß untergeordnetes Element".

71. Die Familie: Lebensgemeinschaft Schon Aristoteles, und Thomas v. Aq. folgt ihm darin, hat die Familie definiert als die von der Natur eingerichtete Gemeinschaft zur Vorsorge für die Bedürfnisse des täglichen Lebens1. Mit Recht fügt er unter Berufung auf die Dichter hinzu, daß die Familienmitglieder Tischgenossen oder, nach einer anderen Lesart des Griechischen, Herdgenossen seien. Audi heute noch, da die Familienmitglieder (meist ein, oft beide Elternteile und auch erwachsene Kinder) durch die Arbeit, die schulpflichtigen Kinder durch die Schule größtenteils untertags außer Haus festgehalten sind, ist es der gemeinsame Tisch, der sie noch am öftesten vereinigt. Die Familie hat aber keine geringeren Aufgaben in der Befriedigung der anderen Bedürfnisse des Menschen. Darunter sind vor allem die aus dem Trieb nach Frohsinn, Spiel, Scherz, Unterhaltung, Entspannung entspringenden Bedürfnisse zu erwähnen. Mittel und Wege dafür zu finden wird die Familie, wenn sie innerlich gesund ist, nie in Verlegenheit sein; denn die Natur selbst schenkt, wie mit Recht gesagt wurde, den jungen Eltern das schönste, edelste und ein nie ermüdendes Spielzeug, das Kind. Und man kann mit gleichem Recht sagen, daß das Kind auch in den jungen Eltern und später in seinen Geschwistern seine liebsten Spielgefährten sieht. Dies fügt sich sehr wohl einer der höchsten Aufgaben der Familie ein; es ist ja eine alte pädagogische Weisheit, daß kaum etwas so viele Möglichkeiten der Erziehung bietet wie gerade das Spiel. Außerdem hat die Lebensgemeinschaft der Familie auch den Durst des Menschen nach Dingen zu befriedigen, die über den Alltag und seine Mühen hinausheben, nach geistigem Austausch, nach dem Schönen, nach Fortbildung, nach Geselligkeit, Gastfreundschaft. Hausmärchen, Sagen, Legenden, das „Geschichtenerzählen" hat eine bedeutende Aufgabe in der genannten Hinsicht. Die Musikpflege im Hause, das Spielen irgendeines Instrumentes oder mehrerer zugleich durch die Familienmitglieder, vielleicht unter Zuziehung von Freunden, war immer ein besonders dankbares Feld gemeinschaftlicher Betätigung und gemeinschaftlicher Freude. Das alles mag 1

Aristoteles,

Politik, I. 2. § 5.

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Die Familie

ein wenig wirklichkeitsfremd klingen. Tatsächlich ist das Leben vieler Familien in der heutigen gewandelten, besonders in der industriellen Welt wirklichkeitsfremd in dem Sinn, daß die der wesenhaften Wirklichkeit der Familie eigenen Gemeinschaftswerte durch die der kommerziellen Unterhaltungsindustrie verdrängt werden. Gerade die industrielle Entwicklung vermöchte aber neue Wege zu diesen Gemeinschaftswerten zu eröffnen. Was früher das Kunstgewerbe und die Kunstpflege im Hause vermochten, das ermöglicht der Familie die heutige Reproduktionstechnik, die in Wahrheit für wenig Geld ein kleines Museum der Künste ins Haus zu liefern vermag, wenn man will. Die Technik, Grammophon und Schallplatte, hat das gemeinsame Erleben der größten Schöpfungen des menschlichen Geistes im Heim ermöglicht. Auch Rundfunk und Fernsehen können eine ähnliche Aufgabe erfüllen. So würde der Fortschritt der Technik in vieler Hinsicht nicht weniger der Festigung der Familiengemeinschaft dienen können, als er zur Zerstörung beigetragen hat, und eine Hilfe für ihr Leben gerade in Stunden sein, die der Unterhaltung, Entspannung, dem Spiel und Scherz, der Fortbildung, der Teilnahme an den verschiedenen Bereichen des Schönen, des Wissens, der Ausweitung der Kenntnis der Welt gehören sowie dem geselligen Verkehr. Das alles bedeutet nicht eine Idealisierung der Familie, sondern ihr Naturbild, das nicht dadurch falsch wird, daß das heutige Familienleben sich zum Großteil weit davon entfernt. Vielmehr wird daran ersichtlich, wieviel Familienkultur verlorengegangen ist. Die erwähnten Möglichkeiten stellen die Eltern und die Familie auch vor einzigartige Aufgaben in der durò die industrielle Entwicklung gewandelten Welt. Die Stellung der Familie in dieser Welt wird oft erörtert, zu wenig wird aber realistisch gesehen, welche neuen Möglichkeiten sich für die Erfüllung der erzieherischen Funktion der Familie gegenüber der zweifellos bestehenden Gefährdung der Jugendlichen bieten. Nach dem Urteil der Fachleute geht von Film und Fernsehen auf Kriminalität und Erotik der Jugendlichen nur ein verhältnismäßig geringer Einfluß aus, dagegen mehr von der täglichen Umwelt des Lebens auf der Straße, in Park und Bad, mit den Druckwerken von Schmutz und Schund und all den Eindrücken, die allmählich, im einzelnen kaum wahrnehmbar wirken, aber gerade deshalb die seelische Haltung des heranwachsenden Menschen zu formen vermögen. Alle Richtungen der Pädagogik stimmen darin überein, daß mit bloßen Warnungen und Verboten von Seiten der Eltern nichts getan ist, vielleicht manchmal sogar das Gegenteil erreicht wird. Andererseits ist gerade angesichts der bestehenden Sachlage die Verantwortung der Eltern eine außerordentliche und tatsächlich auch die Sorge vieler

7 . Die Familie:

sgemeinschaft

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Eltern dementsprechend. Die größte Hoffnung, dieser Verantwortung gerecht zu werden, besteht darin, daß den Kindern eine Wertwelt vermittelt wird, in der sie Schutz und Geborgenheit gegenüber den Anreizen einer Welt zu finden vermögen, in der sie nun einmal zu leben genötigt sind. Nich einmal bloß abwehrende Kritik wird viel ausrichten gegenüber dem Gesetz der unmittelbarer ansprechenden Reize, die sich überall vordrängen, potenziert durch den Konkurrenzkampf in der Spekulation auf die Anfälligkeit des Menschen für diese Reize. Nur die Bildung des Wertsinnes und des Wertgewissens selbst wird das Entscheidende vollbringen. Dazu bieten die Mittel der heutigen Technik, eben des industriellen Zeitalters, wie im Vorangehenden ausgeführt, eine Fülle von Möglichkeiten und sie bieten sie außerdem in der Form, in der die Bildung des Wertsinnes und Wertgewissens am bestimmendsten wirksam wird, in der Unterhaltung, im Leben der Familie, oft in freundschaftlichem Beisammensein mit anderen Familien, ihren Kindern und ihren heranwachsenden Jugendlichen. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß das meiste schon vertan ist, wenn die Eltern selbst nicht zu widerstehen vermögen und die Kinder nur fernhalten mit der Warnung „nichts für Kinder". Die Pflege des Gemeinschaftslebens der Familie, um auf all den erwähnten Bereichen ihren Gliedern das zu geben, wessen sie körperlich und geistig für das tägliche Leben bedürfen, bezeichnet man als Familienkultur. Grundlegend dafür ist die menschliche und sittliche Haltung der Familienmitglieder zueinander und zu den Werten, die in den existentiellen Zwecken des Menschen begründet sind und in denen allein er sein bestes Selbst gewinnen kann. Familienkultur drückt sich äußerlich aus in den Formen des Umgangs der Familienmitglieder miteinander, in ihrer gegenseitigen Hilfsbereitschaft im täglichen Leben, in der Selbstlosigkeit ihrer Liebe zueinander, überhaupt in all dem, was man als „die Kinderstube" bezeichnet, die den Menschen unverlierbar durch das Leben begleitet. Eine starke Stütze findet die Familienkultur in Sitte und Brauch, in denen ein Teil der Familienkultur eines Volkes die Form gefestigter Tradition annimmt. An Sitte und Brauch nährt die gegenwärtige Generation ihre Familienkultur, zugleich kann sie, wenn sie selbst eine lebendige Familienkultur besitzt, neuschaffend auf die Familienkultur der kommenden Generation einwirken. Sitte und Brauch stehen meist in engster Verbindung mit der Religion, die selbst ein wesentlicher Teil der Familienkultur ist, ja eine unerläßliche Grundlage für die Verwirklichung ihrer eigensten Werte. Mit den erwähnten Gedanken der Familienkultur ist heute engstens das Problem der Eltern im vorgerückten Alter verbunden. Im vorindustriellen Zeitalter, bemerkt Joseph Höffner, war es selbstverständlich, daß die

Die Familie

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alten Menschen in den Familien ihrer Kinder wohnten; heute nehme die Z a h l der einsam gewordenen alten Leute ständig zu; hier berge sich häufig nicht nur bittere wirtschaftliche N o t , sondern eine erschütternde seelische Vereinsamung; wenn auch das Zusammenleben mit den Großeltern nicht wesentlich zur Gestalt der Familie gehöre, so bedeute es doch eine einzigartige Bereicherung des Familienlebens; in der Familientradition verwurzelt und seelisch gereift vermögen die älteren Menschen der Familie innere Reichtümer zu schenken; das Aufgenommensein in die Liebe und Sorge der Familie erleichtere es den Gealterten, in lebendiger Gläubigkeit die mit dem Altern einhergehenden Opfer, Leiden, Verzichte und schließlich den den

eigenen

Haushalt der erwachsenen und verheirateten Kinder hat ohne

Tod

hinzunehmen.

Zweifel

ihre

eigenen

Probleme.

„Die

Aber

Aufnahme

der

meistens werden

alten

Eltern

in

die alten Eltern

ihren

Haushalt erst dann auflösen und zu den Kindern ziehen, wenn die junge Ehe, die gerade in den ersten Jahren das Fürsichsein braucht,

schon

jahrelang besteht und sich gefestigt hat. Übrigens lehrt die Erfahrung, daß in diesen Fällen der Bezug einer ausreichenden Altersrente sowohl das Selbstbewußtsein der alten Eltern zu heben als auch ihre Stellung im Haushalt der Kinder zu stärken vermag 2 . " Die individualistische und liberalistische Unterschätzung der Familie und Überschätzung der freigeschaffenen Vereinigungen hatte zur Folge, daß die einzelnen Familienmitglieder, Vater, Mutter, Kinder, der Familiengemeinschaft durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Organisationen (Verein, Partei, Klub, Sportverband) und durch die sich daraus ergebenden Verpflichtungen zur Teilnahme an Veranstaltungen weitgehend entzogen wurden. Dazu kamen die Folgen der Fabriksarbeit ferne vom Heim mit oft langen Hin- und Rückfahrten. Nicht selten wird für einzelne Familienmitglieder das Heim fast nur zur „Schlafstelle", ihr ganzes übriges Leben spielt sich außerhalb der Familie ab. Dazu kommen der moderne Vergnügungsbetrieb, das Gasthaus, die Tanzhalle, das Kino, das Varieté usw., die viel vom Gemeinschaftsleben der Familie wegnehmen. Der Zersetzungsprozeß wurde weitergeführt durch die kollektivistischen Einflüsse auf die gesellschaftliche Entwicklung. Es sei an die marxistisch-sozialistische Bewegung erinnert mit ihrer seinerzeitigen starken Werbekraft, womit man die Jugendlichen in ihren politischen und kulturellen Organisationen zu erfassen und mit ihrer Gemeinschaftsauffassung zu durchdringen wußte. Die unmittelbare Folge war, daß der übrige Teil der Gemeinschaft sich in wachsendem Ausmaße gezwungen sah, sich ähnlicher Organisationen zu bedienen, um dadurch den liberalistischen und sozialistischen Einflüssen entgegenzuwirken. Auch die Kirchen sahen sich veranlaßt, diesen Einflüssen durch Schaffung eines ausgedehnten Vereinswesens zu begegnen, haben aber damit teilweise selbst, wenn auch gezwungenermaßen, zur Lockerung der Familienbande beigetragen. Die Sorge um die Abwehr der erwähnten Gefahren ließ die Kirchen teilweise die Tatsache aus dem Auge ver2 J. Höffner. Ehe und Familie. Wesen und Wandel in der industriellen Gesellschaft, 2. Aufl., 1965, 85 ff. Vgl. L. Rosenmayr und £. Köckeis, Umwelt und Familie alter Menschen, 1965.

72. Die Familie: Wirtschaftsgemeinschaft

557

lieren, daß sie in der Familie, in der Festigkeit ihrer Bande und im Ausbau ihrer geistigen Grundlagen eines der allerwichtigsten Ziele der Sozialpastoral zu sehen haben. Der Frontalangriff auf die Familie erfolgte dann durch die totalitären Staaten: durch die Hineinzwingung der Jugend in die staatlichen Jugendorganisationen. Dies stellt eine der folgenschwersten Usurpierungen von Rechten dar, die nicht Gäsars sind; denn mit diesen Organisationen zielt der totalitäre Staat auf die Durchtränkung der Jugend mit seinem „Glauben", seiner Lebens- und Wertauffassung hin, ganz abgesehen von der Demoralisierung der Jugend durch ihre Erziehung zur Bespitzelung und Denunzierung von Familienmitgliedern.

72. Die Familie: Wirtschaftsgemeinschaft Die Vorsorge der Familiengemeinschaft für die Bedürfnisse eines geordneten Lebens ist zum großen Teil eine wirtschaftliche Aufgabe. Kaum eine ihrer anderen Aufgaben ist davon völlig unabhängig. In den Zeiten, wo die Arbeitsteilung noch einen verhältnismäßig geringen Umfang hatte, war die Familie eine Wirtschaftsgemeinschaft in einem sehr vollkommenen Sinn: Mann, Frau und erwachsene Kinder arbeiteten in Haus, Feld, Garten und Werkstätte, jedes arbeitsfähige Kind mehrte die Arbeitskräfte, aber auch den Ertrag und das Einkommen. Dies ist ganz anders geworden, seit ein sehr großer Teil der Bevölkerung die Mittel für die Familienwirtschaft außer Haus und in Form von Geldeinkommen erwerben muß. Keineswegs ist aber nur an das Einkommen des lohnabhängigen Familienvaters zu denken, sondern ebenso an das des Selbständigen in Landwirtschaft und Gewerbe. Die Antwort auf die Frage nach dem durch die naturrechtlichen Prinzipien geforderten Familieneinkommen ist von geschichtlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. Zu diesen Verhältnissen zählen vor allem die Produktivität der Volkswirtschaft, die von der kulturellen Entwicklung abhängige Bedürfnisgestaltung, der Stand der sittlichen Kräfte und des Lebenswillens eines Volkes. Daher ist naturrechtlich das gerechte Familieneinkommen eine relative Größe und sind die maßgeblichen Prinzipien solche des relativen Naturrechts. Falsch wäre es, die Frage der Familienwirtschaft nur als eine solche des Einkommens zu betrachten, wie es sehr oft geschieht, und nicht ebenso als Frage des Auskommens. Nie wird die Entwicklung der technischen und wirtschaftlichen Produktivität die Begrenzung der Einkommen beseitigen können, daher das ist im wird die Familienwirtschaft immer auch Haushaltsführung, wahren Sinne des Wortes Wirtschaft bleiben müssen, nämlich der Verwendung begrenzter Mittel zur bestmöglichen Befriedigung aller Bedürfnisse entsprechend ihrer an die Zweckordnung gebundenen Dringlichkeit. Wenn Mädchen in die Ehe kommen ohne jegliche Vorbereitung für den Haushalt und ohne jegliches Interesse daran, dann wird das alte Sprichwort

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Die Familie

wahr, daß eine Frau mehr zum Fenster hinauswerfen kann, als je der Mann durch die Tür ins Haus zu bringen vermag. Die Familie findet dann nicht die Obsorge für ihre Bedürfnisse, die das Heim ausmacht. Die durch eine verkehrte Ausgabenwirtschaft von Frau oder Mann (Trinken, Rauchen, Spielen) verursachten Mängel in der Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse werden heute als „sekundäre Armut" bezeichnet1. Ist demnach die wirtschaftliche Lage der Familie immer zur Hälfte auch eine Frage der Haushaltsführung, so ist sie ebenso gewiß zur Hälfte die Frage des Familieneinkommens. Dieses hat ihr die Deckung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse, deren Befriedigung der naturgegebene Zweck ihrer Lebensgemeinschaft ist, zu ermöglichen. Offenbarerweise ist damit eine Grundfrage der Wirtschaftsordnung gestellt. Denn der Ausgangspunkt der Erörterung des Familieneinkommens liegt im naturrechtlichen Prinzip, daß der nichtbegüterte Mann, sobald er voll arbeitsfähig ist, zu einem Einkommen durch Beteiligung an der sozialwirtschaftlichen Kooperation berechtigt ist, mit dem er eine Familie gründen und erhalten kann. Darüber spricht die Natur des Menschen und die Bestimmung der Erdengüter (vgl. Kap. 171) so klar, daß eine wirkliche Meinungsverschiedenheit kaum denkbar ist. Drei Gesichtspunkte sind allerdings zu berücksichtigen. Weil die Familie Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft ist, haben erstens alle, die dazu befähigt sind, zur Mithilfe im Haushalt bereit zu sein; dazu gehören auch heranwachsende Kinder, sei es, daß sie im Haushalt mitwirken, sei es, daß sie, besonders im Falle erhöhten Aufwandes für jüngere Geschwister, aus eigenem Einkommen zuschießen; man denke, wie selbstverständlich die Mitarbeit der Kinder in der Bauernwirtschaft ist. Der Familienlohn kann, zweitens, nicht für die kinderreiche Familie, songemeint sein, also für die Familie mit dern nur für die Normalfamilie drei bis vier Kindern. Für größere Familien wird immer in besonderer Weise vorgesorgt werden müssen auf einem der im folgenden beschriebenen Wege. Schließlich, drittens, dürfte darauf hinzuweisen sein, daß es eine irrige Annahme wäre, der Familienlohn könnte der Familie schlechthin den „Lebensstandard" des kinderlosen Ehepaares ermöglichen. Ganz abgesehen von der Frage der ökonomischen Möglichkeit würden in einer solchen Annahme die äußeren Kriterien des Lebensstandards im Vordergrund stehen, während die Familienwerte selbst sich der Schätzung durch solche und Maßstäbe entziehen. Zu sichern ist der Familie das wirtschaftliche kulturelle Existenzminimum. Durch unsere Einbeziehung der Kulturbedürfnisse wird der Begriff des Existenzminimums in doppelter Hinsicht ein relativer: Erstens weil die über die bloßen Lebensbedürfnisse hinausge1 Vgl. F. Zweig, Labour, Life and Poverty, Preface von Lord Beveridge und Vorwort von B. Seebohm Rowntree, 1948, 2, 20 ff., 118.

72. Die Familie: Wirtschaftsgemeinschaft

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henden Kulturbedürfnisse keineswegs nur geistige Ansprüche sondern auch solche des äußeren Lebens betreffen; zweitens weil Kulturbedürfnisse nicht nur relativ sind im Verhältnis zum bloßen Lebensbedarf sondern auch zum gesamten Lebensstandard der gesellschaftlichen Umwelt. Beide Gesichtspunkte sprechen aber wieder für das Prinzip: Alle Familienpolitik hat im Grunde den Zweck, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die wesenhaften Familienwerte, die dem Bereich der Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte (vgl. die folg. Kap.) angehören, reichste Lebenswirklichkeit werden können 2 . (Zur sozialökonomischen Seite der Frage vgl. Kap. 163, letzter Abschnitt und dort Anmerkung 4.) Nach diesen Feststellungen müssen wir das Gebiet theoretischer Betrachtungen verlassen; denn praktisch besteht kein Zweifel darüber, daß für absehbare Zeit allgemein das Familieneinkommen für die Normalfamilie in keinem Land erreicht werden wird; außerdem sind besondere Maßnahmen zugunsten der kinderreichen Familien unerläßlich. Die Erfüllung einer so offensichtlichen Forderung der natürlichen Gerechtigkeit wie der des ausreichenden Familieneinkommens leidet jedoch keinen Aufschub. Es müssen daher Maßnahmen ergriffen werden, die dieser Forderung Genüge tun. Was sind die naturrechtlichen Gesichtspunkte dafür? Nur diese zu erörtern ist hier unsere Aufgabe, nicht die Erörterung von einzelnen Einrichtungen und Bestrebungen der Familienpolitik in den verschiedenen Ländern. (Vgl. zu Einzelfragen unsere „Soziale Frage" Kap. 130 u. 142.) Familienpolitik:

Forderung

der Gerechtigkeit

Darüber, daß es sich bei der Familienpolitik um Forderungen der Gerechtigkeit handelt, kann kein Zweifel bestehen. Allerdings dürften sie als Gerechtigkeitsverpflichtungen kaum zu begründen sein mit dem Hinweis auf ökonomische Leistungen der Eltern in der Aufbringung der Kinder als Arbeitskräfte der Gesellschaft der Zukunft, also nicht als eine Art von Forderungen der ausgleichenden Gerechtigkeit, schon weil eine zukünftige wirtschaftliche Leistung nicht feststeht, besonders aber weil der Mensch nicht nur Gegenstand des wirtschaftlichen Kalküls sein kann, ist man sich doch endlich darüber in allen Sozialtheorien einig, daß der Mensch nicht nur als „Produktionsfaktor" gewertet werden darf. Aber 3 Daher sind alle Maßnahmen zur Sicherung eines hinreichenden Familieneinkommens möglichst eo zu treffen, daß die Vorsorge für die laufenden Bedürfnisse der Familie in ihren eigenen Händen bleibt. Familienhilfe, die sich an die Stelle der eigenen Haushaltsfunktion der Familie setzen will, ist fragwürdig. Nur die schon erwähnte völlige Verkennung des Wesens der Familie durch den S o z i a l i s m u s ermöglicht den Gedanken der Übernahme solcher Grundfunktion der Familie durch den Staat nach den Worten von Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 1896, 64: „Mit dem Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum hört die Einzelfamilie auf, wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft zu sein. Die Privathaushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie."

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Die Familie

auch ob die Familienpolitik und besonders die auf die Sicherung des Familieneinkommens gerichtete Sozialpolitik als Forderung der sozialen Gerechtigkeit aufgefaßt werden kann, scheint fraglich, wenn man bedenkt, daß die Familien nicht eine geschlossene Gruppe mit gleichartigen Interessen wie die organisierten Interessengruppen bilden (die soziale Gerechtigkeit könnte nur Begründung sein, wenn man ihren Begriff mit dem der „legalen" Gerechtigkeit im Sinne der alten Einteilung der Gerechtigkeit zusammenfallen ließe). Wenn, wie wohl allgemein zugegeben wird, die Gerechtigkeit fällt, muß das auch von Sozialpolitik unter die distributive ihren das Familieneinkommen sichernden Maßnahmen gelten, zumal diese allgemein als Sache der „zweiten Einkommensverteilung" angesehen werden. Tatsächlich reichen die Aufgaben der Familienpolitik weit über eine auf das Familieneinkommen abzielende Sozialpolitik hinaus. Die Familienpolitik ist das Herzstück der Gesellschaftspolitik und als solche Forderung der Gemeinwohlnorm, wonach die über die bloße distributive, auf die Einkommensverteilung abzielende Gerechtigkeit hinaus einem staatlichen Gemeinwesen zufallenden aktuellen, konkreten Aufgaben zu ermessen sind. Die Gründe, daß das Denken so weithin sich erst allmählich dieser Selbstverständlichkeit erschließt, liegen in der vom Liberalismus verschuldeten, über ein Jahrhundert zurückgehenden Verkennung von Status und Funktion der Familiengemeinschaft im Lebensprozeß von Volk, Staat und Kultur. Maßgebend für die Stellung der Familie in der Gemeinwohlpolitik sind im letzten Grunde zwei Gesichtspunkte: Erstens eignet der Familie die Funktion des Lebensgrundes der Gesellschaft biologisch, moralisch und kulturell (vgl. Kap. 75); daher gibt es unter den dem Staat durch die Gemeinwohlnorm gestellten Aufgaben der gesellschaftlichen Ordnungspolitik keine wichtigere Aufgabe, als die Voraussetzungen zu schaffen, daß die Familie ihre Funktion als dieser Lebensgrund möglichst vollkommen zu erfüllen vermag. Werden diese Voraussetzungen in hinlänglichem Umfang geschaffen, dann sind die davon für die Gesellschaft ausgehenden Erneuerungskräfte fast ungemessen. Ein Beispiel dafür bildet die wachsende Zahl der Jungehen in der heutigen, an die materiellen Werte verhafteten Welt in allen Industrieländern; die Ursachen sind nicht zweifelhaft: die jungen Menschen finden in der Welt der Wohlstandswerte keinen wahrhaften Lebenssinn, sie suchen Geborgenheit und ein Leben der Verantwortung auf Zukunft hin, darum streben sie nach Ehe und Familie und sehen hohen Lebenssinn in dem Eingehen der damit verknüpften vielfältigen Verpflichtungen. Sofort zeigt sich audi schon ein Sparwille, so weit sich vom Verdienst beider etwas für die Ausstattung des zukünftigen Heims erübrigen läßt. Das Haupthindernis für das noch raschere Zuneh-

72. Die Familie: Wirtschaftsgemeinschaft

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men der Anzahl der Jungehen bilden die Schwierigkeiten, eine erschwingliche Wohnung zu finden. Die familienpolitisch orientierte Wohnungspolitik gehört daher zu den allerersten Aufgaben einer gesellschaftlichen Ordnungspolitik, die sich an Gemeinwohlzielen orientiert und nicht am Druck der Interessengruppen. Darüber wird gleich im folgenden ausführlich zu sprechen sein. Als den einen Grund für die zentrale Stellung der Familie in der Gemeinwohlpolitik und unter den davon bestimmten Gerechtigkeitsaufgaben haben wir ihre Funktion als Lebensgrund des staatlichen Gemeinwesens erwähnt. Der zweite Grund besteht in der besonderen Lage unserer staatlichen Gemeinwesen in der heutigen Welt. Diese Lage ist innergesellschaftlich gekennzeichnet durch das Verhältnis der arbeitsfähigen Bevölkerung zu der aus dem Arbeitsprozeß ausscheidenden, d. i. die Tatsache, daß in absehbarer Zeit schon ein im Arbeitsprozeß Stehender je einen Rentner zu erhalten haben wird. Wie leicht ersichtlich ist, kann zwar durch Mechanisierung und Automatisierung des Arbeitsprozesses vieles geschehen zur Überwindung eines weiter zunehmenden Mißverhältnisses von Werte schaffender und Werte verbrauchender Bevölkerung. Einer solchen Entwicklung sind aber natürliche Grenzen gesetzt, nicht nur weil der Mensch im Arbeitsprozeß nicht entbehrt werden kann, sondern auch, weil Mechanisierung und Automatisierung eine Kapitalbildung durch Sparen erfordert, dessen Ausmaß vom Arbeitseinsatz quantitativ und qualitativ leistungsfähiger Menschen abhängt. Dazu kommen die Gründe für die Familienpolitik, die die internationale Lage klar erkennen lassen. Viel zu sehr wird die Entwicklung der Weltpolitik nur als Frage des Vorsprunges in der Kernwaffenrüstung angesehen. Tatsächlich sind die meisten Fachleute der Meinung, daß es zu einem Weltkrieg mit Atomwaffen nicht kommen wird, sondern es auch in Zukunft nur zu einem Krieg kommen wird, in dem der Einsatz von Streitkräften zu Lande und zu Wasser entscheidend sein wird. Selbstverständlich soll damit nicht gesagt sein, daß an Familienpolitik mit dem Ziel der Schaffung großer „Volksheere" zu denken sei, wohl aber, daß kein besonders geschärfter Blick für die Realitäten dazu gehört, um zu sehen, daß Wohlstandsländer mit einer geringen Geburtenrate ein verlockendes Ziel bevölkerungsstarker Staaten bilden werden, vor allem aber, daß genauso wie der Atomkrieg auch der gewöhnliche Krieg hauptsächlich dann überhaupt nicht eintritt, wenn ein angriffswilliger Staat sich einem Gegner gegenüber sieht, dessen Bürger in hinreichender Zahl ihre höchsten Werte, nämlich die an die Familien geknüpften, zu verteidigen bereit sind. Dazu kommt, was die internationale Lage angeht, daß auch die Volkswirtschaft eines Landes in 30

Messner, Naturrecht

562

Die Familie

dem sich verschärfenden Konkurrenzkampf sich nicht behaupten, daher seinen relativen Wohlstand nicht gewährleisten kann, außer wenn mit einer genügend hohen Zahl junger Menschen der für das Wirtschaftswachstum erforderliche Standard der Forschung und Ausbildung sichergestellt ist. So ergeben sich Zukunftsaufgaben der Gemeinwohlpolitik von schicksalhafter Tragweite, in deren Mittelpunkt die Familie steht. Die im vorangehenden erörterten Gründe erweisen unzweifelhaft, daß die Gemeinwohlnorm, ob in ihrer distributiven, sozialpolitischen oder in ihrer gesellschafts- und staatspolitischen Geltung gesehen, die die volle Erfüllung der gesellschaftlichen Funktionen der Familie ermöglichende Familienpolitik zu einer allerersten Gerechtigkeitsverpflichtung der staatlichen Gemeinschaft macht. Von den für die Erfüllung dieser Funktionen notwendigen Voraussetzungen ist zunächst die Gewährleistung des Familieneinkommens zu behandeln (über die Wohnungspolitik vgl. Kap. 74). Die Sicherung des Familieneinkommens 1. So unentbehrlich die Kinderbeihilfen sind, so unzweifelhaft ist, namentlich in Zeiten gesicherter Beschäftigung und steigender Einkommen, der Schwerpunkt der Vorsorge für das Familieneinkommen in der Steuerpolitik des Staates zu suchen. Die distributive Gerechtigkeit verpflichtet den Staat zur gleichmäßigen Verteilung der Steuerlasten, daher bei der Besteuerung des Familieneinkommens zur vollen Berücksichtigung der besonderen Auslagen, die die Erfüllung der wesenhaften Aufgaben der Familie erforderlich machen. Dem wird dadurch entsprochen, daß die Besteuerung des Familieneinkommens gesondert erfolgt zu je gleichen Teilen für die Ehegatten, nach Abzug der allgemein geltenden Freibeträge für jeden Teil („Haushaltsbesteuerung", zur Vermeidung der Progression) und daß Beträge für die Aufbringung der Kinder, ihrer Zahl entsprechend, steuerfrei bleiben; dies letztere kann auch geschehen durch Einbeziehen der Kinder in die erwähnte Teilung des Familieneinkommens zum Zweck je gesonderter Besteuerung, um zu vermeiden, daß das Gesamtfamilieneinkommen der hart treffenden Steuerprogression unterliegt. Einzelheiten werden je nach den Einkommensverhältnissen und Steuersystemen der Staaten verschieden sein müssen. So ist in den Vereinigten Staaten (Steuergesetz vom 2. April 1948) das Einkommen des Familienerhalters (ebenso das summierte Einkommen, wenn beide Ehegatten verdienen) je zur Hälfte für ihn und seine Frau („Splitting"), nach Abzug der allgemein geltenden Freibeträge, zu versteuern; dazu kommt ein beträchtlicher Freibetrag jährlich für jedes Kind; außer dieser steuerpolitischen Sicherung des Familieneinkommens bestehen in den Vereinigten Staaten keine wesentlichen familienpolitischen Maßnahmen (außer Mietbeihilfen bei Familieneinkom-

72. Die Familie: Wirtschaftsgemeinschaft

563

men unter dem Fünffachen der ortsüblichen Miete), werden auch nicht von der öffentlichen Meinung des Landes als erforderlich angesehen. In Frankreich ist die steuerpolitische Behandlung des Familieneinkommens so geregelt, daß das Gesamteinkommen, einschließlich der Kinderzulagen, nadi der Zahl der Familienmitglieder geteilt und jeder Teil, nach Abzug der allgemein geltenden Freibeträge, gesondert versteuert wird: bei der Teilung zählen die Ehegatten als je ein Teil, die Kinder als halber Teil; die Kinderzulage (erhöht mit dem 10. Lebensjahr) wird vom zweiten Kind an bezahlt, wozu noch eine Reihe anderer Beihilfen (Wöchnerinnengeld, Geburtszulage, Wohnungsbeihilfe, Fahrpreisermäßigungen, Zulagen für Mütter ohne Erwerbstätigkeit) kommen; auch in Frankreich darf nach dem Urteil der öffentlichen Meinung des Landes das Problem des Familienlastenausgleichs als gelöst gelten. 2. Soweit auf steuerpolitischem Wege (sei es infolge des Steuersystems oder der zu niedrigen Einkommen) das Mindesteinkommen der Familie (vgl. oben) nicht erreicht wird, ist seine Ergänzung durch Kinderbeihilfen Sache der Gerechtigkeit. Familienzulagen werden heute nach zwei Systemen geleistet, nach dem der Ausgleichskassen und nach dem der Staatsbeihilfen 3 . Beim ersteren erhalten Beihilfen die Arbeiter und Angestellten, werden die Mittel durch Beiträge der Arbeitgeber aufgebracht und erfolgt die Auszahlung der Kinderzulagen durch die von den beruflichen Selbstverwaltungskörperschaften eingerichteten Familienausgleichskassen. Auf dieser Grundlage wurde die französische 4 Regelung aufgebaut. Unter naturrechtlichen Gesichtspunkten besitzt das System der Ausgleichskassen wesentliche Vorzüge: Die unmittelbare Aufbringung der Mittel aus dem Wirtschaftsertrag wahrt den Zusammenhang der Familienzulagen mit dem Arbeitseinkommen, und die Auszahlung der Zulagen durch die Berufskörperschaften erweitert den Selbstverwaltungsbereich der letzteren (vgl. Kap. 85). Beim zweiten System, dem der staatlichen Kinderbeihilfen, werden diese aus Steuermitteln gewährt, so in Deutschland seit dem Kin8 Eine Übersicht über Art und Ausmaß der monatlichen Barleistungen für die Familie in 33 Staaten bietet A. u. R. Sàierer u. J. Dorneidi (Hrsg.), Ehe und Familie, Heft VII der Reihe Wörterbuch der Politik, 1956, 241 ff. 4 Erste Anfänge der Ausgleichskassen (Caisses de Compensation pour Allocations Familiales) in Frankreich, noch vor der Jahrhundertwende, gingen vom Unternehmer Léon Harmel aus, der von Nationalökonomen und Soziologen, wie Le Play, in seinen Bestrebungen bestärkt wurde und von der päpstlichen Enzyklika Rerum novarum (1891) weiteren Ansporn empfing. 1918 wurden von mehreren Unternehmern die ersten eigentlichen Ausgleichskassen geschaffen, 1920 bestanden 56 Ausgleichskassen mit einer halben Million Arbeiter, 1930 230 mit fast zwei Millionen. Die Ausgleichskassen wurden dadurch besonders gefördert, daß die Erteilung von Staatsaufträgen an Unternehmungen von ihrem Beitritt zu den Ausgleichskassen abhängig gemacht wurde. Die Erfahrungen mit den Ausgleichskassen in Frankreich sind besonders dadurch gekennzeichnet, daß die kommunistischen Gewerkschaften, die zuerst aus doktrinären Gründen, d. h. der Sorge vor der Verlangsamung der dialektisch-revolutionären Entwicklung, dagegen waren, sich 1926 zur Erklärung genötigt sahen, daß die Mehrheit des Proletariats das System für gut halte und daß es zwecklos sei, gegen diese Auffassung anzurennen.

86*

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Die Familie

dergeldgesetz 1964 und in Österreich. Diese Regelung wurde zuerst 1927 in New South Wales, Australien, eingeführt. In England wurde auf Grund des Beveridge Reports (1942) eine staatliche Familienzulage eingeführt (1946) und wird ausgezahlt ohne Unterschied des Einkommens der Eltern. Als Grund für diese radikale Lösung wird im Report angegeben, daß „das englische Volk sich bei der gegenwärtigen Reproduktionsziffer nicht erhalten kann". In der Tat, es gibt nur diesen einen Grund, der die ausschließlich staatliche Lösung des Problems der Familienzulage rechtfertigt: daß die Situation der Familie so kritisch und der Bevölkerungsrückgang so katastrophal wird, daß keine andere Lösung einen Erfolg verspricht. Aus naheliegenden Gründen sollten Kinderbeihilfen als Regel zuhanden der Mutter ausgezahlt werden. 3. Steuerpolitik und Kinderbeihilfe vermögen zumeist nicht die verhältnismäßig stärkere Belastung des Familieneinkommens durch dauernde Sonderausgaben abzugleichen. Sie sind daher je oder vorübergehende nach den Verhältnissen durch familienpolitische Maßnahmen von Staat und Gemeinden zu ergänzen. Als solche sind in verschiedenen Ländern zu verzeichnen: Ehegründungsdarlehen teilweise mit abgestufter Erlassung der Rückzahlung im Gefolge der Geburt von Kindern, Mutterschaftsbeihilfen für die Zeit vor und nach der Geburt, unentgeltliche Entbindung im Krankenhaus, Beistellung von Heimhelferinnen für Wöchnerinnen, Wohnungsbeihilfen je nach der Kinderzahl, besondere Zahlungen an nicht außer Haus beschäftigte Mütter, Ausbildungsaushilfen je nach Einkommen der Eltern bei Auslagen für Kinder beim Besuch der Fachschulen, die unentgeltliche Einbeziehung der Familienangehörigen in die Sozialversicherung des Vaters, Fahrpreisermäßigungen für kinderreiche Familien, freie Schulspeisungen, Kinderheime, Mütterferienheime. Für einige weitere bisher in der staatlichen Familienpolitik zuwenig beachtete Forderungen spricht zweifellos die Gerechtigkeit: daß bei mindestens drei Kindern ein den Aufwendungen für eine Hausgehilfin entsprechender Betrag bei der Einkommenbesteuerung abgesetzt werden kann; daß dem Mehraufwand der Familie bei Benützung der Leistungen der öffentlichen Versorgungsbetriebe (Gas, Elektrizität, Wasser) durch Tarifermäßigungen Rechnung getragen werde. Nach dem von uns entwickelten Gerechtigkeitsprinzip für die Familienpolitik ist auch die bei der sonstigen Beanspruchung des Familieneinkommens schwer mögliche Vermögensbildung besonders zu fördern durch eine Staffelung der Spar- und Wohnbauprämien nach der Kinderzahl. 4. Neben der Sicherung des notwendigen Familieneinkommens wird, was heute manchmal zu sehr vergessen wird, immer noch beträchtlicher Raum durch karitative Institutionen bleiben für die private Familienfürsorge

73. Die Familie: Erziehungsgemeinschaft

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auf konfessioneller Grundlage, wie es die Karitasorganisationen, Vinzenzvereine, Elisabethvereine, Josephvereine, Müttervereine sind. Ihnen obliegt allerdings nicht nur die Obsorge für die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Familie in den besonderen Umständen, in denen karitative Hilfe notwendig ist, sondern auch die helfende Fürsorge in gesundheitlicher, sittlicher und religiöser Hinsicht. Höchst wichtige Aufgaben fallen ihnen namentlich auch zu hinsichtlich der Vorbereitung und Schulung der heranwachsenden Mädchen für ihren zukünftigen Beruf der Mutterschaft und Haushaltsführung: also für die unumgänglich notwendige Ehevorbereitung.

73. Die Familie: Erziehungsgemeinschaft Wdnn von Familienerziehung gesprochen wird, denkt man in erster Linie an die Erziehung der Kinder durch die Eltern. Tatsächlich geht die Familienerziehung viel weiter, und jedes Familienmitglied hat dabei eine aktive und passive Rolle zu spielen. In dreifacher Beziehung muß nämlich im Schöße der Familie Erziehung wirksam werden: die der Eltern durch das Familienleben, die der Kinder durch die Eltern, die gegenseitige der Kinder. Wir sprechen somit, und nicht zuletzt, auch von der Erziehung der Eltern durch das Familienleben und denken dabei hauptsächlich an die Selbstzucht, die ihre Beziehungen zueinander und zu den Kindern von ihnen fordern: die Vermeidung von Streitigkeiten untereinander, die Beherrschung von Stimmungen und Launen, die gegenseitige Achtung, Sparsamkeit, Hilfsbereitschaft, Zuvorkommenheit und vor allem die Opferbereitschaft füreinander und für die Familie als Ganzes. Nicht zuletzt hat die Familie erzieherischen Einfluß auf die Eltern durch den ständigen Ansporn, ihr Bestes zu geben angesichts der vornehmen und großen Zwecke der Familiengemeinschaft. Die Bedeutung des erzieherischen Einflusses der Familie auf die Eltern darf umso weniger unterschätzt werden, als die jungen Eheleute noch selbst in ihrer eigenen Erziehung unfertig sind und ihnen die Ehe einen neuen „Lebensstand" mit neuen Aufgaben gibt. Und Aufgaben mit der damit verbundenen Verantwortung sind eines der wirksamsten Erziehungsmittel. So wird die ihnen zustehende Autorität zu einem Ansporn für ihre Selbsterziehung. Und nur jene Eltern können ihre Kinder wirklich erziehen, die durch die Familie zu fortwährender Selbsterziehung kommen und damit durch das Beispiel zu wirken vermögen, ohne das keine Erziehung möglich ist (vgl. zur Erziehung in der industriell gewandelten Welt Kap. 71). Die Erziehung des Kindes selbst wird in der Tat am besten gedeihen, wenn dieses sich dem Bilde der Eltern nachbilden kann. Es muß an

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Die Familie

seinen Eltern die Art des Menschenwesens sehen können, die es selbst werden soll. Anderseits ist die Erziehung keineswegs eine Ausbildung von Klischees im menschlichen Verhalten, sondern Erweckung alles dessen, was in der Natur des Menschen selbst angelegt ist und in der Entfaltung seines Wesens verwirklicht werden soll. Sein Naturgesetz selbst ist für den Menschen zuallererst Natur, daher etwas, was im Menschen selbst wirksam ist, so daß es der Grundsinn der Erziehung ist, diese Wirksamkeit zu wecken, zu fördern und vollkräftig zu machen. Infolgedessen ist nur ein weiser Gebrauch der Autorität ein wirkliches Erziehungsmittel, als solches aber audi unerläßlich. Erziehungsgemeinschaft ist die Familie nicht zuletzt durch die Erziehung, die sich die Kinder gegenseitig geben. Ihre Bedeutung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie fehlt völlig, wenn nur ein Kind vorhanden ist. Sie erreicht ihre höchste Wirksamkeit in der kinderreichen Familie. Sie besteht darin, daß die Kinder von Anfang an auf Grund der Erfahrung ihres täglichen Lebens lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen, sich zu beherrschen, die anderen zu respektieren, nachgiebig zu sein, nur so viel Recht zu verlangen, als auch jedem andern zukommt, entgegenkommend und gegenüber den anderen hilfsbereit zu sein, ihnen gerne eine Freude zu machen, auf manches zugunsten anderer zu verzichten, Opfer zu bringen, kurz, alles, was notwendig ist, damit ein Zusammenleben wirklich eine Gemeinschaft sein und ihren Gliedern das Wohlsein und Wohlgefühl geben kann, das eben nur das Heim zu geben vermag. Daß in der größeren, in der kinderreichen Familie für alle Kinder größere Opfer, mehr Selbstlosigkeit erforderlich sind, ist der Grund, warum sie den Kindern ein besonderes Maß von innerer Kraft mit ins Leben gibt und der Gesellschaft Menschen zuführt, die sich oft besonders bewähren. Voraussetzung ist allerdings eine Familienpolitik, die sorgt, daß den Kindern der größeren Familie nichts davon abgeht, was auch Kindern der Durchschnittsfamilie zu ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zur Verfügung steht. Das Erziehungsrecht

der Eltern

Der Begriff der Erziehung: die Entfaltung der körperlichen und geistigen Anlagen der Kinder, so daß sie zur Erfüllung ihrer wesentlichen einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Lebensaufgaben (existentiellen Zwecke) kraft eigener Verantwortung befähigt sind. Schon in der Antike (Plato), dann im Schrifttum des frühen und des „wissenschaftlichen" Sozialismus, heute auch in der an der analytischen Psychologie (Freud) orientierten Pädagogik tritt immer wieder vereinzelt der Gedanke auf, daß die Erzie-

73. Die Familie: Erziehungsgemeinschaft

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hung der Kinder den Eltern entzogen und Menschen übertragen werden sollte, die philosophisch, politisch, wissenschaftlich besonders qualifiziert sind. Die Wirklichkeit selbst, nämlich die menschliche Natur, weist vier Züge auf, die schon auf Grund der unmittelbaren Einsicht die Erziehungsaufgabe klar den Eltern zuweisen, nicht minder der wissenschaftlichen Ethik die Handhabe für die Begründung des Erziehungsrechtes der Eltern bieten: 1. Der Trieb des Menschen nach Ehe und nach Zukunft im Kinde wurde schon von Aristoteles hervorgehoben mit dem Hinweis, daß der Mensch in seiner Nachkommenschaft ein Bild von sich zu hinterlassen strebe. Nicht fremde Menschen, nur die Eltern können dieses Bild in den Kindern entwickeln, die Erziehung ist daher das Vorrecht der Eltern. Wohl kein anderer Grund weist naturrechtlich die Erziehungsaufgabe so entschieden den Eltern zu wie dieser. Kein anderer Grund des Erziehungsvorrechts der Eltern vermag die mit solcher Unnachgiebigkeit von der traditionellen Naturrechtslehre festgehaltene Forderung verständlich zu machen, daß die religiös-sittliche Erziehung der Kinder Sache der Eltern ist. Bekannt ist, mit welcher Bestimmtheit Thomas v. Aq. 2 die Frage, der er einen eigenen Artikel widmet, ob ein Kind jüdischer Eltern entgegen dem Willen der letzteren getauft werden dürfe, mit Nein beantwortet, weil es naturreditswidrig sei. Nicht anders wird heute die traditionelle Naturrechtsethik einen Eingriff in das Recht kommunistischer Eltern zurückweisen, erblickt aber ebenso in der Verletzung der Elternrechte im totalitär kommunistischen Staate ein naturrechtswidriges Gewaltrecht. 2. Klar spricht die Natur für das Erziehungsrecht der Eltern weiters durch die natürliche Abhängigkeit der Kinder von den Eltern und die damit den Eltern auferlegte Verantwortung. Das Kind braucht viel länger als das Tier bis zur vollen Entfaltung seiner physischen und psychischen Anlagen und bis zur Erlangung der Befähigung zur selbständigen Erfüllung seiner Lebensaufgaben. In dieser ganzen Zeit ist es so sehr Gegenstand der Verantwortung der Eltern, daß die Existenz des Kindes geradezu einen Teil der Existenz der Eltern bildet. Wäre außer dem unzweifelhaften Eigenbewußtsein der Eltern von dieser Verantwortung ein Beweis notwendig, er wäre erbracht durch das klare Rechtsbewußtsein der ganzen Menschheit: Alle Rechtssysteme weisen die rechtliche Verantwortlichkeit nicht den Kindern, sondern an ihrer Stelle den Eltern zu. Das bedeutet, daß das Kind, während der Entwicklung zu der für ihr Verhalten und für die Erfüllung ihrer Lebensaufgaben verantwortlichen Person, Teil der Existenz der Eltern und ihrer Verantwortung für ihre eigenen existen1 2

Aristoteles, Politik, I. 2. 2. Thomas v. Aq., S. Th. III. qu. 68. a. 10.

568

Die Familie

tiellen Zwecke bleibt, den Eltern daher die Erziehungsaufgabe und das Erziehungsrecht zufällt. 3. Die Natur zeugt klar für das Erziehungsrecht der Eltern durch die Kraft der natürlichen Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Die Liebe ist unübertreffliche wie unerläßliche Macht in der Erziehung. Nur eine Psychologie, die keinen Blick für die Wirklichkeit der menschlichen Seele hat, kann sich dieser Tatsache verschließen. Auch auf Seiten des Kindes ist keine bessere Voraussetzung für die Erziehung denkbar als seine natürliche Liebe zu den Eltern. Auf Seite des Kindes entspricht dieser in der Natur der Sache gelegenen Voraussetzung fruchtbarer Erziehung das Recht des Kindes auf diese Liebe. Sosehr man im allgemeinen nur mit Vorsicht von einem Recht auf Liebe sprechen darf, in diesem Falle besteht ein wirkliches Recht. Darin ist ein entscheidender Grund für die Unauflöslichkeit der Ehe gelegen, desgleichen ein Grund für die Verpflichtung der Eltern zu aller sittlichen Anstrengung, über Friktionen im eigenen Eheglück hinwegzukommen, um dem Kinde das Bewußtsein der Geborgenheit in einer die gefestigte Familiengemeinschaft durchwaltenden Liebe zu erhalten. Alles, was sich gegen dieses Urrecht des Kindes kehrt, sei es im Verhalten der Eltern gegeneinander (Streit, Trennung, Auflösung der Ehe), sei es durch außerhäusliche Tätigkeit der Mutter, wendet sich gegen ein primäres Lebensgesetz der Gesellschaft. Denn ohne die Erfahrung dieser Liebe wird der Mensch nur sehr schwer zu einer mitmenschlich ganz offenen Persönlichkeit kommen, und die Gesellschaft wird sich bei der Häufung der Fälle solchen Versagens gegenüber dem Kinde vor der wachsenden Gefahr der Überwucherung der humanen Werte durch das „Interesse" sehen. 4. Die Natur selbst stattet die Eltern mit der für die Erziehung notwendigen Autorität aus. Lange bevor das heranwachsende Kind sich als Einzelwesen begreifen und die Gehorsamspflicht als Gewissenspflicht verstehen kann, weiß es sich nur als Teil der Familiengemeinschaft und damit ganz der Führungs- und Weisungsgewalt der Eltern unterstellt. Von der vollentwickelten Vernunft wird diese dann als die in der Familiengemeinschaft durch die Natur begründete Befehlsgewalt eingesehen (vgl. Kap. 47). Die heute in der Pädagogik und Soziologie oft gebrauchten Definitionen der Erziehung als „Sozialisierung" oder „Enkulturation" des Menschen heben nur eine Seite des Erziehungsvorganges hervor/nämlich die Heranbildung des Menschen zu einem sich in die gesellschaftlichen Lebensformen einfügenden Menschen. (Das letztere häßliche deutsche Wort ist das amerikanische enculturation und spricht nicht gerade für die Sprachkultur, für die die Pädagogik als eines wichtigen Mittels der Erziehung eine erhöhte

73. Die Familie: Erziehungsgemeinsaft

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Empfindlichkeit besitzen müßte.) Drei Bedenken erheben sich gegen die beiden Definitionen. Sie lassen erstens nicht erkennen, daß es sich um die Erziehung zu Eigenverantwortlichkeit, dies besonders auch sittlich verstanden, handelt (manche Darstellungen erwecken den Eindruck, als sei zwischen Mensch und Tier im Antrainieren gesellschaftsorientierter Verhaltensweisen wenig Unterschied oder als handle es sich um die Einordnung des Menschen in eine nur nach empirisch-soziologischen Gesetzen zu regelnde Welt). Sie lassen zweitens nicht erkennen, daß es sich um der Menschennatur eigene, anthropologisch begründete Erziehungsziele handelt, sondern erwecken den Eindruck, daß die Gesellschaft das erste und der Mensch nur etwas auf sie zu Beziehendes sei; sie lassen im Gefolge davon drittens auch nicht ersehen, daß Erziehung auch Heranbildung zur eigenverantwortlichen Erfüllung der einzelmenschlichen, im sittlichen Wesen der menschlichen Person begründeten Lebensaufgaben bedeutet und diese, wenn die Würde des Menschen als Realität verstanden wird, die vorrangige Aufgabe bildet, zumal die Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber dem Mitmenschen und der Gesellschaft im sittlichen Verantwortungsbewußtsein ihre beste Gewähr findet. Der Inhalt des elterlichen

Erziehungsrechtes

umfaßt:

1. das alleinige Recht der Eltern, die Grunderziehung der Kinder zu bestimmen, nämlich die religiös-sittliche Erziehung; 2. das erste Recht der Eltern auch auf die Erziehung in jeder anderen Hinsicht, nämlich zum Unterricht gemäß den vom Staate gestellten Unterrichtszielen, soweit sie dazu fähig und willens sind; 3. das Recht der Eltern zur Erstellung eigener Bildungsstätten (Schulen), worin Erziehung und Unterricht ihrer Kinder in dem von ihnen gewollten Geiste erfolgt, dabei in Erfüllung der Forderungen der vom Staate gestellten Unterrichtsziele; zugrunde liegt das Redit der Eltern, ihr Erziehungsrecht zu delegieren, nämlich jemand mit der Stellvertretung in ihren Erziehungsaufgaben zu betrauen; auch der Staat ist mit seinen Schulen für noch unmündige Kinder tätig kraft delegierten Rechtes, also im Auftrag der zur Erziehung Erstberechtigten, der Eltern; das gleiche gilt von den durch öffentliche Körperschaften unterhaltenen Kindergärten; 4. das Recht der Eltern, die ihre eigenen Schulen unterhalten, auf einen verhältnismäßigen Beitrag vom Staate, nämlich, soweit ihm selbst Kosten durch solche Privatschulen erspart werden. Die die Schule betreffenden Rechte lassen sich als „Recht auf die freie Schule" zusammenfassen. Das Erziehungsrecht der Eltern ist ein ausschließliches und unveräußerliches. Ein ausschließliches: Wie ein Kind nicht aufgebracht werden

570

Die Familie

kann, wenn es gleichzeitig der ständig wechselnden Diät verschiedener und mit gleicher Autorität ausgestatteter Pflegerinnen unterstellt ist, so kann seine Persönlichkeitsentfaltung, die es zur Erkenntnis und Erfüllung seiner wesenhaften Lebensaufgaben befähigt, nicht grundgelegt werden, wenn seine Erziehung verschiedenen Autoritäten untersteht, die das Kind in verschiedener Richtung beeinflussen. Das Recht der Eltern kann somit nur ein ausschließliches sein. Es ist auch ein unveräußerliches. Sie können sich der ihnen durch die Berufung zur Erziehung ihrer Kinder übertragenen Verantwortung nicht entledigen. Sie können andere delegieren, zu ihrer Stellvertretung bestellen: Hauslehrer, Privatschulen, staatliche Schulen. Sie bleiben aber immer dafür verantwortlich, daß Erziehung und Unterricht der Kinder so erfolgt, daß sie zur Erfüllung ihrer wesentlichen Lebensaufgaben (existentiellen Zwecke), namentlich der religiösen und sittlichen, kraft eigener Verantwortung befähigt werden. Das Erziehungsrecht

des Staates

Wenn wir das Erziehungsrecht der Eltern als ausschließliches bezeichneten, bedeutet dies nicht, daß nicht auch dem Staat Erziehungsrechte zukämen. Aus vielerlei Gründen ist er, wie wir später (Kap. 143) darlegen werden, unter den heutigen Verhältnissen naturrechtlich befugt, Unterrichtsziele vorzuschreiben und zur Sicherstellung ihrer Erreichung Schulen zu unterhalten. Aus dem vorher Gesagten folgt jedoch, daß alle Tätigkeit des Staates in Sachen der Erziehung unter dem Gesetz der Subsidiarität steht. Das heißt, der Staat hat zu eigenem Recht keinen Anspruch zur Übernahme von Erziehungsaufgaben, solange die Eltern fähig und willens sind, ihren Kindern den von ihm geforderten Unterricht zu vermitteln; es bedeutet weiter, daß Staat und Gemeinden in allen Einrichtungen, in denen auch Ziele der Erziehung in Frage stehen, also nicht nur in Schulen, sondern auch in Kinderheimen, nur im Namen der Eltern wirken; schließlich, daß der Staat, auch soweit er in der Aufstellung obligatorischer Unterrichtsziele zu eigenem Recht tätig ist, immer durch das Erziehungsrecht der Eltern gebunden bleibt. Aus der dargelegten Geltung der existentiellen Zwecke in der Erziehung folgt anderseits, daß die eine Gemeinschaft, deren Sendungsaufgabe die absoluten existentiellen Zwecke des Menschen betrifft, Rechte im Bereich der Erziehung besitzt. Darauf beruht das Recht der Kirche: Ihr Lehramt und ihr Hirtenamt erstrecken sich auch auf die Schule. Christliche Eltern widersetzen sich diesem göttlichen Recht, wenn sie der Kirche die notwendige Mitwirkung in der Erziehung versagen, der Staat widersetzt sich diesem Recht, wenn er sich Erziehungsrechte unter Beeinträchtigung der Sendung der Kirche gegenüber der Schule anmaßt.

7 . D i e Familie:

571

usgemeinschaft

Liberalismus und Sozialismus beanspruchen ein unmittelbares und den Rechten der Eltern wie der Kirche vorgeordnetes Recht des Staates auf die Kindererziehung. D e r liberalistische Staat bekannte sich, w o er die Macht hatte, zum Schulmonopol und Schulzwang und strebte nach einer Form säkularisierter Erziehung. D e r marxistische Sozialismus vertritt das Prinzip der Säkularisierung der Erziehung in Staatsschulen: „ D i e Pflege und Erziehung der Kinder w i r d öffentliche Angelegenheit 8 ." D i e Verfassung der Sowjetunion ( A r t . 124) hat die Trennung von Schule und Kirche ausdrücklich festgelegt: „ U m die Gewissensfreiheit der Bürger zu sichern, ist die Kirche in der U d S S R vom Staat und die Sdiule von der Kirche getrennt."

74. Die Familie: Hausgemeinschaft V o r a u s s e t z u n g f ü r e i n physisch u n d moralisch gesundes F a m i l i e n l e b e n ist ein d e n Bedürfnissen der F a m i l i e als Lebens- u n d entsprechendes Erörterung. Die

Heim.

Darum

stehen

Erziehungsgemeinschaft

naturrechtliche

Gesichtspunkte

Sie betreffen d i e F a m i l i e n w o h n u n g u n d die

zur

Wohnungspolitik.

Familienwohnung

D a m i t eine W o h n u n g f ü r d i e F a m i l i e w i r k l i c h e i n H e i m sein k a n n , ist ein Dreifaches n o t w e n d i g . 1. Sie m u ß so g e r ä u m i g sein, d a ß sie f ü r a l l e Z w e c k e der

Familie

als

Lebensgemeinschaft

eigenes S c h l a f z i m m e r

und

ausreicht.

Sie

muß

den

mindestens d e n heranwachsenden

M ä d c h e n je e i n eigenes S c h l a f z i m m e r

bieten, e i n geräumiges

Eltern

Knaben

ihr und

Wohnzimmer

u n d a u ß e r d e m eine W o h n k ü c h e e n t h a l t e n , so d a ß nicht a l l e

Familienmit-

glieder

sondern

gewisses

sich i m m e r Fürsichsein

in

einem

möglich

Raum 1

ist .

2.

aufzuhalten Eine

brauchen,

weitere

Voraussetzung

w i r k l i c h e n H e i m s ist eine gewisse A b g e s o n d e r t h e i t der e i n z e l n e n

ein eines

Familien

v o n e i n a n d e r . Sie m u ß d i e T r a u l i c h k e i t u n d I n t i m i t ä t ermöglichen, die u n t e r a l l e n Gemeinschaften d e r F a m i l i e a l l e i n eigen ist. D e r H a u s g a r t e n ist ein wesentlicher B e s t a n d t e i l des H e i m s der F a m i l i e ; er ist nicht n u r 8

notwen-

F Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums, des Staates, 1896, 64. Der Wohnungsskandal der Zeit des individualistischen Kapitalismus ist eine der schwersten Anklagen gegen ihn, wobei die sogenannten Slums nur die ärgste Erscheinung dieses Skandals sind. Mit besonderer Bezugnahme auf England schildert Eleanor F. Rathbone, The case for Family Allowances, 1940. S. 17 ff., eindrucksvoll, wie der Mann das „Heim" mit der Schar Kinder auf engstem Raum, mit dem Küchengeruch im ganzen Haus, mit der zum Trocknen aufgehängten Wäsche ungemütlich findet, keinen ruhigen Winkel für sich und seine Freunde zu finden vermag und daher ins Wirtshaus geht; die Frau findet sich allein mit den zahllosen Schwierigkeiten der Hausarbeit auf so engem Raum und sieht sehr oft ihre Ideale vom Familienleben an einer furchtbaren Wirklichkeit scheitern. Auch die Wohlstands- und Uberflußgesellschaft hat ihren Wohnungsskandal: daß das größte Hindernis für die auffallend zunehmende Tendenz zur Frühehe, die eines der hoffnungsvollsten Anzeichen für die Regenerationsfähigkeit der vom materiellen Denken befallenen Gesellschaft bildet, das Fehlen der erschwinglichen Wohnungen bildet (vgl. Kap. 72). Nichts ist kennzeichnender für die von den Wertprioritäten her gesehenen Paradoxien der Wohlstandsgesellschaft, als daß gerade sie mit dem durch den Wohnungsmangel gegebenen schreienden Unrecht nicht fertig zu werden vermag. 1

572

Die Familie

dig für die leibliche Gesundheit der Kinder und der Eltern, sondern gibt der Familie audi die Möglichkeit gemeinsamen Verweilens in der Natur, gemeinsamer Arbeit im Garten, des sozial so wichtigen Gefühles des Besitzes eines sei es noch so kleinen Stückchens Erde. Aus allen diesen Gründen ist grundsätzlich das Einfamilienhaus mit Garten als Wohnstandard zu fordern, das Zweifamilienhaus mit getrennten Gartenteilen sollte schon mehr die Ausnahme sein. Alle genannten Gründe sprechen gegen das große Zinshaus (Etagenhaus) als Wohnanlage für Familien. 3. Schließlich ist die richtige Stadtsiedlung eine Voraussetzung des wirklichen Heims. In den diditbesiedelten Industriestädten aus dem letzten Jahrhundert, in denen ganze Straßenzüge entlang Haus an Haus gedrängt steht, jedes im Widerspruch zur Würde und zu den Aufgaben der Familie, mit Stadtteilen ohne Baum und ohne Grashalm, kann von der Familie nicht erwartet werden, daß sie sich ein Heim im Vollsinn des Wortes zu schaffen vermag. Die heutige Stadtplanung ist weitgehend von Prinzipien geleitet, die auch und nicht zuletzt durch die Bedürfnisse der Familie bestimmt sind 2 . Die Wohnungspolitik Die Erstellung eines den Bedürfnissen einer wachsenden Gesellschaft genügenden Wohnungsangebotes stellt eine der allerersten, wenn nicht die erste Aufgabe aller dar, die Verantwortung haben für das Wohl der Familie. Denn nichts anderes bedroht das naturrechte Familienleben so sehr an der Wurzel wie das Fehlen der dafür erforderlichen Wohnung. Die naturrechtlichen Prinzipien lassen auch keinen Zweifel darüber, daß die Wohnungspolitik in die Verantwortung einer Reihe von Stellen fällt, deren Zusammenwirken eine in der Natur der Sache gelegene Forderung darstellt. Unter den Verantwortlichen ist zuallererst die Familie selbst zu nennen, wozu dann die zur Sorge für die allgemeine Wohlfahrt Ver2 Die fortschrittliche Städteplanung, worin England heute führend ist, sieht das Ein- oder Zweifamilienhaus als Grundtyp der Wohnsiedlung an. Als allgemeine Prinzipien der Städteplanung müßten gelten: die Gliederung der Stadtanlage, so daß in den einzelnen Bezirken die Konstituierung eigener Gemeinden und das Gefühl der Zusammengehörigkeit gefördert wird; gut ausgedachte Zugs-, Autobus-, Trambahn- und Untergrundbahnlinien sollen rasche Verbindung mit dem Stadtzentrum, den Arbeitsplätzen, Einkaufsstraßen, mit dem Theater und Konzertsaal ermöglichen. Die als Gemeinden konstituierten Vorortesiedlungen dürfen der eigenen Kirche nicht entbehren; die Verbindung der Familie mit der Ortskirche, sei es in der gemeinsamen Heiligung des Sonnund Feiertags oder sei es bei frohen und traurigen Ereignissen des Familienlebens, wie bei Geburten, Hochzeiten, Todesfällen, bildet einen wesentlichen Teil des Familienlebens und eine unerläßliche Voraussetzung für die tiefere seelische Verwurzelung des Menschen im Heime. Zur Frage der Wohnungs- und Stadtplanung vgl. besonders Ridiard Neutra, Survival through Design, 1954, dt. Wenn wir weiterleben wollen, Erfahrungen und Forderungen eines Architekten, übers, v. Chr. E. Lewalter, 1956, W. H. Maclean, Planning the Modern City, 2. Aufl., 1949; soziologisch aufschlußreich: G. Krall, L. Rosenmayr, A. Sàiimka, H. Strotzka, . . . wohnen in Wien. Ergebnisse und Folgerungen aus einer Untersuchung von Wiener Wohnverhältnissen, Wohnwünschen und städtischer Umwelt, „Der Aufbau'', hrsg. vom Stadtbauamt Wien, 1956.

7 . Die Familie:

usgemeinschaft

573

pflichteten, also vor allem Staat und Gemeinden kommen. Wenn wir sagen: zuallererst die Familie, so ist an Aufbringung der Kosten der Familienwohnung aus dem Familieneinkommen gedacht. Das in Frage stehende Prinzip bedeutet, daß die Selbsthilfe bei der Aufgabe der Erstellung der Familienwohnung den ersten Platz einnimmt, daß dagegen der Staatshilfe Aufgaben der Wohnbauförderung nur angesichts besonderer Verhältnisse zukommen. Diese letzteren sind besonders gegeben bei langjährigem Ausfall des Wohnbaues und der Zerstörung von Wohnraum in Kriegen. Die staatlichen Aufgaben können bis zu Maßnahmen der Wohnungszwangswirtschaft gehen, wie sie sich nach dem ersten und zweiten Weltkrieg in den meisten europäischen Ländern ergeben haben. Heute besteht bei allen, die den Zusammenhang von sozialpolitischen und sozialökonomischen Fragen zu übersehen vermögen, die Überzeugung, daß die Wohnungszwangswirtschaft nicht nur kein geeignetes Mittel sozialer Wohnungspolitik ist, sondern das Gegenteil einer solchen, daß vielmehr die Eingliederung der Wohnungswirtschaft in die allgemeine Marktwirtschaft der einzige Weg ist, um aus der unheilvollen Verknappung des Wohnungsangebotes und der damit zusammenhängenden Mißstände herauszukommen. Niemand denkt dabei an die uneingeschränkte Wettbewerbswirtschaft, gehörte doch gerade das Ausmaß und die Art der Wohnungsvorsorge zu den dunkelsten Punkten des individualistischen Kapitalismus. Zur Erzielung eines ausreichenden Wohnungsangebotes sind daher der Marktwirtschaft besondere soziale Aufgaben gestellt. Die Schwierigkeiten sind doppelter Art: die der Kapitalbeschaffung und die der Baugrundbeschaffung. Die Schwierigkeiten der Kapitalbeschaffung bestehen in jeder Volkswirtschaft mit fortschreitender Produktivitätsausweitung, weil Kapital eine Mangelware ist und daher sein Einsatz durch Produktivitätsrücksichten bestimmt ist. Dies gilt keineswegs nur in der privatkapitalistischen Marktwirtschaft, sondern genauso, ja in noch höherem Maße von der staatskapitalistischen Planwirtschaft, wie der ungedeckte Wohnungsbedarf in der Sowjetunion zeigt. Die aus der erwähnten Ursache entstehende Schwierigkeit der Kapitalbereitstellung für den Wohnbau zu den marktbedingten Zinssätzen hat zur Folge, daß der für die Wohnungsbeschaffung erforderliche Kapitalaufwand zu große Teile des Einkommens für den kostendeckenden Wohnungszins beansprucht. Dies gilt von der Verzinsung des für ein Eigenheim aufgebrachten Kapitals wie vom Mietzins im Falle der Mietwohnung. Die Voraussetzung für den kostendeckenden Wohnungszins bildet das ihn ermöglichende Einkommen. Allen vorhin (Kap. 72) erörterten Mitteln zur Sicherung des Familieneinkommens kommt daher entscheidende Bedeutung zu. Von nicht geringerer Bedeutung ist allerdings, daß auch die

574

Die Familie

Bereitschaft besteht, aus dem Einkommen den notwendigen Teil auf die Befriedigung des Wohnbedürfnisses zu verwenden. Als durchschnittliche Belastung für den Wohnungsaufwand galt vor 1914 ein Fünftel des Einkommens, heute, infolge des durch zwei Kriege erhöhten Wohnungsausfalls und der erhöhten Kapitalknappheit, stieg sie auf ein Viertel des Einkommens und darüber. Die Bereitschaft zur Verwendung eines so hohen Einkommensanteiles ist aber in allen Ländern, die sich zu einer längeren Wohnungszwangswirtschaft mit künstlicher Niedrighaltung des Mietzinses gezwungen sahen, weithin untergraben 3. Hinsichtlich solcher Länder wird man als bedenklichen Mißstand festzustellen haben, „daß die Mehrheit der Bevölkerung nur einen durchaus unzureichenden Teil ihres Einkommens auf die Befriedigung des Wohnbedürfnisses verwendet, seine Befriedigung daher zu einem beträchtlichen Teil zu Lasten der Allgemeinheit (zu einem gewissen Teil auch zu Lasten ausreichender Instandhaltung des Wohnungsbestandes) geht 4 ". Nur langsam bahnt sich darin eine wirkliche Wendung an, und zwar nicht zuletzt mit der allgemeinen Hebung der Einkommen im Zuge der anhaltend ansteigenden Konjunkturentwicklung. Die Hauptanzeichen dafür liegen in den verschiedenen Formen des Bausparens. Die gewiß auf lange Zeit nicht zu entbehrende staatliche Hilfe in der Wohnungswirtschaft würde nach den dargelegten Gesichtspunkten zunächst in steuerlicher Begünstigung des Wohnbausparens und der Kapitalinvestition im sozialen Wohnbau zu suchen sein, wobei an den Bau von Arbeiterwohnungen durch größere industrielle und landwirtschaftliche Unternehmungen gedacht ist 5 . Eine weitere Aufgabe der staatlichen Wirt8 Dies so sehr, daß nicht nur von sozialistischer Seite sogar ein „Redit auf Wohnung" vertreten wurde. Folgerichtigerweise wurde dabei an den Staat als den Rechtsverpflichteten gedacht. Für ein solches Recht auf Wohnung ist nicht nur keine wirkliche Begründung beizubringen, vielmehr sind sofort Gründe zu sehen, die dagegensprechen. Wenn nämlich beim Recht auf Wohnung an einen eigentlichen Rechtsanspruch gedacht ist, dann muß jemand sein, der ihm zu entsprechen verpflichtet ist. Das könnte nur der Staat (und unter seinem bestimmenden Einfluß die Gemeinde) sein. Einem solchen Rechtsanspruch könnte er nur genügen bei Sozialisierung des Wohnungswesens, mit der die volle Wohnungszwangswirtschaft einhergèhen müßte. Die Familie würde damit in einer Weise vom Staate abhängig, die ihre die Erfüllung ihrer Aufgaben bedingenden Eigenrechte am entscheidenden Punkt, dem Heim, in Frage stellen müßte. Dabei ist außerdem nicht zu vergessen, daß der „Staat" in der modernen Demokratie der Parteienstaat ist und, wie die Wohnungspolitik und Wohnungseinweisungspolitik großer Gemeinden zeigt, das Machtstreben im Dienste der Parteipolitik gerade im Wohnungswesen sich geltend macht. Dazu würde eine auf ein angebliches Recht auf Wohnung begründete staatlich-gemeindliche Wohnungswirtschaft die naturrechtliche Eigentumsordnung an einem der entscheidenden Punkte treffen. Ist doch das private Wohnungseigentum für die Eigentumsbildung und Eigentumsverteilung gleich wichtig. Das Verhältnis von öffentlicher und privater Verantwortlichkeit in Fragen der Wohnungswirtschaft kann daher kurz mit Ο. v. Nell-Breuning, Art. Wohnwirtschaft, Staatslex. d. Görresg. Bd. V. 1932, so umschrieben werden: „Gerade auf dem Gebiet der Wohnwirtschaft gilt, daß die öffentliche Gewalt Führerin sein sollte, anstatt die Wirtschaft in die öffentliche Hand übernehmen zu wollen. Unbedingt festzuhalten ist. daß das Wohnbedürfnis nicht gemeinwirtschaftlich, d. h. auf Kosten der Allgemeinheit, sondern auf Kosten des einzelnen zu befriedigen ist." 4 Ο ν Nell-Breuning, SJ, Wirtschaft und Gesellschaft, 1956, 67. 6 An Steuerbegünstigungen von Investitionen im Wohnbau, die nach dem zweiten Weltkrieg in

7 . Die Familie:

usgemeinschaft

575

schaftspolitik ist die Einwirkung auf die Senkung der Baukosten, eine Aufgabe, der viel zuwenig Aufmerksamkeit zugewendet wird. In mehrfacher Hinsicht kann dabei Wesentliches geschehen. Einmal dadurch, daß der durch die Kartellierung der Baustoffindustrien erfolgenden Versteuerung der Baumaterialien vorgebeugt werde. Außerdem ist der Überhöhung der Baukosten entgegenzuarbeiten, die die mangelnde Leistungsfähigkeit der Bauindustrie und der Baustoffindustrien mit sich bringt, wenn sie auf Grund von vieljährigem Zollschutz eine quasi Monopolstellung innehaben. Zu denken ist auch an eine Verbesserung der Baumethoden, die die Fortsetzung der Bauarbeiten im Winter ermöglichen; Versuche sind bereits verschiedentlich im Gange, die, falls erfolgreich, eine wesentliche Rationalisierung der Bauindustrie bedeuten würden. Die Frage der Bodenbeschaffung ist weitgehend eine solche des Bodenrechts. Dabei handelt es sich vornehmlich um ein Doppeltes: die Vorsorge für städtisches Bauland, und dies zu volkswirtschaftlich gerechtfertigten Preisen. Beides ist mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, weil mit dem raschen Anwachsen der Städte und der Nachfrage nach Wohn- und Geschäftsraum die natürliche Knappheit des Bodens zu vielfältig verstärkter Auswirkung kam, daher ein starkes Ansteigen der Preise erfolgte. Die damit zusammenhängenden volkswirtschaftlichen, sozialethischen und sozialpolitischen Fragen waren Gegenstand vieljähriger Auseinandersetzungen. Dabei wurde lange Zeit die Bodenspekulation für die hohen Bodenpreise und die Wohnungsnot verantwortlich gemacht und in der Wertzuwachsbesteuerung das Hauptmittel zur Herbeiführung eines Bodenangebotes mit einer den volkswirtschaftlichen Gegebenheiten und Erfordernissen gerecht werdenden Preisbildung angesehen. Diese Anschauung ist heute fallengelassen®. In den meisten Ländern sind die städtischen Gemeinden einzelnen Ländern erfolgten, seien beispielsweise erwähnt: Freibeträge (Abzugsmöglichkeit von dem zu versteuernden Einkommen) für Beiträge an Bausparkassen zur Erlangung von Baudarlehen; für RückZahlungsleistungen an öffentliche Fonds, von denen Baudarlehen bezogen wurden; für Beträge, die zur Errichtung oder Erlangung von Wohnungseigentum gezahlt wurden; begrenzte Freibeträge für Aufwendungen von Industrieunternehmungen zur Errichtung von Arbeiterwohnungen in betriebseigenen Gebäuden und für Zuwendungen an gemeinnützige Bau-, Wohnungs- und Siedlungsvereinigungen für den Bau von Arbeiterwohnungen; zeitliche Befreiung von der Grundsteuer für Wohnbauten und im besonderen für Bauten der Bau-, Wohnungs- und Siedlungsvereinigungen, desgleichen Befreiung von den durch Gemeinden vom Gebäudebesitz und vom Wohnbau eingehobenen Abgaben. β Ihre Irrtümlichkeit geht nicht zuletzt darauf zurück, daß man das volkswirtschaftliche Wesen der städtischen Grundrente verkannte, sie als Ursadie des Preises der Grundstücke statt als Folge der Preisbildung für Boden betrachtete, wonach für Grundstücke in besonderer Lage sich Sondergewinne ergaben. Darauf hinzuweisen dürfte noch immer angezeigt sein, da infolge der langen gegenteiligen Beeinflussung der öffentlichen Meinung noch weithin falsche Vorstellungen anzutreffen sind. Einer der ersten, der sich gegen diesen Irrtum wandte, war Adolf Weber, Bodenrente und Bodenspekulation, 1904; Boden und Wohnung, 1908. Die heute allgemein herrschende Anschauung dürfte mit Professor Triedridi Lütge, Evangelisches Soziallexikon, hrsg. v. Fr. Karrenberg, 1954, Art. Wohnungswirtschaft und Wohnungspolitik, 1162, so umschrieben werden: „Mag Spekulation (Ringbildung, planmäßige Zurückhaltung von Land usw.) auch vielfach dazu beigetragen haben, daß diese Preisaufstiegstendenz gefördert wurde, im wesentlichen ist diese Entwicklung nicht,

576

Die Familie

zu einer Bodenvorratsbildung übergegangen, verbunden mit der Anlage von Verkehrswegen und Einbeziehung dieser Aufschlußgebiete in die Belieferung durch die städtischen Versorgungsbetriebe; dadurch wird der städtischen Grundrentenbildung ganz weitgehend vorgebaut. Die Zurückhaltung von Bauland in Aufschließungsgebieten wird erschwert, wenn die Eigentümer der in diese einbezogenen Grundstücke gleich und nicht erst im Baufalle zu Beiträgen für die Erschließungsauslagen der Gemeinde herangezogen werden, eine Maßnahme, die durch die Wertsteigerung der Grundstücke gerechtfertigt erscheint. Dem gleichen Zwecke dient eine Besteuerung baureifer, unbebauter Grundstücke. Als Ergänzung zu den erwähnten bodenpolitischen Maßnahmen kann dann doch auch eine Besteuerung des nicht auf Leistungen des Eigentümers zurückgehenden, also „unverdienten" Wertzuwachses von Grundstücken oder überhaupt der Grundrente in Frage kommen, jedoch, aus den schon erwähnten Gründen, nicht mit fiskalischen sondern sozialpolitischen Zielsetzungen. Das Gesamtziel der Bodenpolitik muß es nämlich sein, das Privatinteresse an der Steigerung der Bodenpreise auszuschließen und ein genügendes Angebot von Bauland zu gerechten Preisen zu erreichen. Preiskontrollausschüsse, wie wir sie (vgl. Kap. 181) erörtern werden, hätten eine offensichtlich wichtige Funktion an einem kritischen Punkt des Preisbildungsprozesses zu erfüllen. Damit verbindet sich die rechtliche Ermöglichung der Enteignung von Grundstücken, wenn deren freiwilliger Verkauf nicht erfolgt, aber ihre Einbeziehung in die Stadtplanung erforderlich ist. „Jede zwangsweise Entziehung von Eigentum ist ein Übelstand", wird gerade die Naturrechtsethik mit Fr. Lütge sagen, aber ebenso ihre Berechtigung für den Notfall darin sehen, „daß Boden ein Gut besonderer Art ist, keine Ware im Sinne beliebig vermehrbarer Güter, vielmehr der Lebensraum des ganzen Volkes 7 ." In der Tat, die naturrechtliche Begründung eines solchen wie das die Kritik der Bodenreformer damaliger Prägung behauptete, das Ergebnis der Spekulation, sondern ist aus den Markttatsachen der damaligen Zeit sowie der leider erst spät als verkehrt erkannten Stadtbaupolitik heraus zu verstehen . . . Demgegenüber sind Besteuerungen des Wertzuwachses von kaum nennenswerter bodenpolitischer Bedeutung gewesen, während ihre finanzwirtschaftliche Wirksamkeit unter dem Dilemma litt, daß diese umso größer sein mußte, je höher die Bodenpreise stiegen. Der finanzwirtschaftliche Effekt stand also in einem ausgesprochenen Gegensatz zu der sozialpolitischen Zielsetzung." Audi v. Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft, 1956, 354 f., sagt von der Wertzuwachssteuer und ihrer Bedeutung für die Einwirkung auf das Bodenangebot: „Inzwischen haben wir hinzugelernt, daß audi die Wertzuwachssteuer hier nicht helfen kann - entgegen der in öffentlichen Kreisen zeitweilig verbreiteten Meinung der Bodenreformer, der auch ich angehangen habe, bis ich durch die Erfahrung eines Besseren belehrt wurde. Die Wertzuwachssteuer hilft hier nicht, sondern wirkt in der genau entgegengesetzten Richtung. Sie bedeutet Prämiierung des Kapitalstarken, der seinen Boden selbst auswertet durch Geschäfts-, Wohnungs-, Industriebauten u. dgl., und eine Schlechterstellung desjenigen, der dazu nicht in der Lage ist und infolgedessen den Boden zum Zwecke der baulichen oder anderen Nutzung veräußern muß"; vergleiche auch Ο v. Nell-Breuning, Wertzuwadissteuer, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl., hrsg. v. W. Gerloff u. Fr. Neumark, Bd. II.. 1956, 557 ff.; außerdem E. Lubahn, Die städtische Grundrente, 1952; F. Lütge, Wohnungswirtschaft, 2. Aufl., 1949. 7

Fr. Lütge, Evangelisches Soziallexikon, 1954, 1158 f.

7 . Die Familie:

usgemeinschaft

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Enteignungsrechtes liegt ganz und gar in den Gemeinwohlerfordernissen. Es ist natürlich mit der Verpflichtung der Entschädigung in der Höhe des Grundstückswertes in Anbetracht der Angebots- und Nachfrageverhältnisse verbunden, wobei die Gerechtigkeit die Berücksichtigung aller wertbestimmenden Faktoren erfordert. Die Enteignungsfrage steht in engem Zusammenhang mit der Raumplanung durch Länder und Gemeinden, die Bodenpolitik daher auch in Zusammenhang mit der Raumordnungspolitik. Diese besteht darin, die Bodenverwendung nach volkswirtschaftlichen, sozialpolitischen, bevölkerungspolitischen und staatspolitischen Interessen vorauszuplanen und Entwicklungsgebiete für besondere Zielsetzungen (Entballung zu dicht bevölkerter Industriegebiete, Herbeiführung zweckdienlicher Betriebsgrößen in Landwirtschaftsgebieten) festzulegen. Die Verwirklichung der getroffenen Regelungen ist unter Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen durch Enteignungsmöglichkeiten sicherzustellen. Im vorangehenden ist nur die eine Hälfte der Wohnungspolitik im Dienste der Familie zur Sprache gekommen. Die andere Hälfte betrifft die Siedlung, die städtische und die bäuerliche. Unter naturrechtlichen Gesichtspunkten kommt ihr aus mehreren Gründen erhöhte Bedeutung zu. Sieht man auf die Familiengemeinschaft und ihre Bedeutung für Volkstum und Staatsordnung, dann schafft die Siedlung offenbar naturnähere Voraussetzungen als jede andere Lösung der Wohnungsfrage, „Natur" verstanden als die ganze Umwelt, die der Entfaltung der Familiengemeinschaft angemessen ist. Unschätzbar ist an sich schon das Bewußtsein, ein Stück Boden zu eigen zu besitzen, ein Bewußtsein, an das sich ein Reichtum an Werten knüpft, die mit Geld und Gold nie aufzuwiegen sind. Es sind die Werte der zutiefst in der menschlichen Natur verwurzelten Freude an einem gegenüber allen Wechselfällen beständigen Besitz, die Werte des der innersten Natur des Menschen entsprechenden Verbundenseins mit den schöpferischen Urkräften, die Werte der daran sich schließenden Möglidikeit der gleicherweise der innersten Natur des Menschen zugeordneten schöpferischen Persönlichkeitsentfaltung durch Fruchtgewinnung aus der Bearbeitung des Bodens, die Werte des Sparwillens und weiterer Eigentumsbildung, die Werte des Wissens um Gesichertheit und Geborgenheit, die Werte des viel wurzelkräftigeren Heimatgefühls, die Werte der Verbundenheit mit der äußeren Natur und der natürlicheren, gesünderen Lebensumwelt, und dazu die alle erwähnten Werte in ihrer Bedeutung vielfältig steigernden Werte des ihnen urgründig eigenen Bindenden, Gemeinschaftsbildenden, Heimgebenden. Damit verbinden sich die die Gesellschafts- und 37

Messner, Naturrecht

578

Die Familie

Wirtschaftsforschung betreffenden Werte, verbunden mit der Eigentumsbildung und Eigentumsstreuung. Das Gesagte gilt gleicherweise für die städtische und die bäuerliche Siedlung. Bei der städtischen Siedlung ist zu denken an das Einfamilienhaus mit Fruchtland („Kleinsiedlung"), das der Siedlerfamilie ein zusätzliches Einkommen bietet auf Grund von Gemüseeigenbau und Kleintierhaltung. Die eindeutige Folgerung aus den vorangehenden Hinweisen ist, daß, soweit städtische Wohnbauförderung aus öffentlichen Mitteln erfolgt, sie vor allem auch der Familiensiedlung zuzuwenden ist, nämlich in dem Ausmaß, als die Verwirklichung jener Wertwelt durch die Siedler gewährleistet erscheint8. Die Aufgaben der landwirtschaftlichen Siedlung melden sich in Europa von Jahr zu Jahr mit größerer Dringlichkeit wegen der Bedeutung des Bauernstandes für die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, wegen der unvermindert fortdauernden Landflucht, wegen der Einbußen an landwirtschaftlichem Boden infolge des durch den anschwellenden motorisierten Verkehr geforderten Straßenbaues, nicht zuletzt wegen des erlahmenden Widerstandes des Bauerntums gegenüber den seine äußere Lebensart und seelische Grundhaltung zersetzenden Einflüssen aus dem städtischen Bereich. Die naturrechtlichen Gesichtspunkte sind daher in der behandelten Frage nicht zweifelhaft. Die Fragen der Bodenbeschaffung und Kapitalausstattung nehmen dabei besondere Formen an, wobei umfassendere wirtsdiafts-, sozial- und staatspolitische sowie familien-, bevölkerungs- und kulturpolitische Gesichtspunkte zur Erwägung stehen

75. Die Familie: Zelle der Gesellschaft Die Familie ist die Zelle der Gesellschaft, da diese nur fortdauern, wachsen und sich erneuern kann, wenn Ehen zahlreich genug und hinreichend fruchtbar sind. Die Familie ist demnach Zelle der Gesellschaft im biologischen Sinn. Kaum eine andere Tatsache macht klarer ersichtlich, daß 8 Nikolaus Ehlen, Familiensiedlung, in: Ehe und Familie, hrsg. v. A. u. R. Sdierer u. /. Dorneich, 1956, 276, schätzt auf Grund langjähriger Erfahrung, daß „heute nicht viel mehr als zehn Prozent des Volkes willig und fähig zu soldier Siedlung sind", bei der eine Arbeitersiedlerstelle von 2000 Quadratmetern wirtschaftlich ausgewertet wird. 9 Im Gegensatz zur Zeit zwischen den Weltkriegen besteht wenig neuere Einzelliteratur zur bäuerlichen Siedlung. Vgl. hauptsächlich die Zeitschrift für das gesamte Siedlungswesen (Forts, ν Archiv für innere Kolonisation und von Siedlung und Wirtschaft), I. Jg. u. folg., 1952 ff.; W. F. Boy ens, Siedlung und Bodenreform als Aufgabe des Bundes (Deutsche Bundesrepublik), 1950; I . D. Stamp, The Land of Britain, its Use and Misuse, 1948; Hans-Jürgen Seraphim in Verb, m. Jürgen Β. Heuer, I. Ländliche Siedlung, II. Städtische Siedlung, i. Handw. d. Sozialwissensdiaften, Bd. 9, 1956, 238 ff., 248 ff.; vgl. audi /. Messner, Die soziale Frage, 423 f., 468 f., 565 f.; über geschichtliche, wirtschaftliche, nationale, staats- und sozialpolitische Gesichtspunkte noch immer Art. Siedlung im Staatewertvoll A Hermes, O. v. Nell-Breuning, Ferd. Degenfeld-Sdiönburg, lexikon der Görresgesellschaft, Bd. IV., 1931.

75. Die Familie: Zelle der Gesellschaft

579

das sittliche Naturgesetz wirkliches Lebensgesetz der Völker ist, wie die Abhängigkeit ihrer biologischen Entwicklung von der Einhaltung der Normen, die das Naturgesetz der Ehe und der Familie vorschreibt. Es wäre jedoch völlig verfehlt, in der Familie die Zelle der Gesellschaft nur im biologischen Sinn zu sehen. Die Familie ist die Zelle der Gesellschaft mindestens ebenso in moralischer Hinsicht. Nicht nur haben wir gezeigt, wie überhaupt die für die gesellschaftliche Existenzordnung des Menschen maßgebenden Verhaltensweisen und Wertungen durch die Wirkweise der menschlichen Natur in der Familiengemeinschaft bedingt sind, sondern auch wie durch die Familienerziehung der Mensch für die eigenverantwortliche Erfüllung seiner einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Lebensaufgaben gebildet wird. Die beiden wichtigsten sozialen Tugenden, Nächstenliebe und Gerechtigkeit, lernt der Mensch vor allem in der Familie. Dazu kommen die beiden nächstwichtigen sozialen Tugenden des rechten Gehorsams und des rechten Befehlens. Das rechte Gehorchen setzt die Achtung der Autorität als sittlicher, gottgegebener Gewalt voraus, das rechte Befehlen setzt das Bewußtsein voraus, daß die Autorität zum Wohle derer gegeben ist, denen befohlen wird. In der Familie lernt der Mensch, daß der Gehorsam für den Menschen nie willenlose Unterwürfigkeit sein kann, daß sein Wesen vielmehr Unterwerfung unter die Ordnung seines gesellschaftlichen Seins ist, ohne die sein einzelmenschliches Sein verkümmert bleibt. Der Mensch muß beides, Gehorchen und Befehlen, in der Familie gelernt haben, um in der Lage zu sein, der Autorität in der Gesellschaft die Form zu geben, die mit der Würde und dem Recht der menschlichen Person vereinbar ist. Und nur jene, die in ihren Familien gelernt haben, daß Gebieten nicht Herrschsucht sein darf, sondern fürsorglicher Dienst an der Gemeinschaft und ihren Gliedern sein soll, werden als Träger gesellschaftlicher Autorität der Gemeinschaft und ihrem Gemeinwohl wirklich dienen können Die Familie ist daher sozialpädagogisch unersetzbar. Auch alle sozialen Tugenden, nämlich die, die auf die Achtung anderer als Personen mit der gleichen menschlichen Natur und den gleichen menschlichen Rechten begründet sind, wie Hilfsbereitschaft, Güte, Verträglichkeit, Selbstbescheidung, Rücksichtnahme, Nachgiebigkeit, Aufrichtigkeit, lernt der Mensch in der Familie. Sie ist moralisch wie biologisch die Zelle der Gesellschaft. Hinsicht die Zelle der Gesellschaft. Die Familie ist auch in kultureller Es darf als ein soziologisches Gesetz bezeichnet werden, daß Völker mit rückgängiger Geburtenbewegung, wenn diese die Reproduktionsziffer unter1

87·

Vgl. Augustin, De civitate Dei, L. 19. c. 14.

Die Familie

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schreitet, niedergehende Kulturen haben. Der tiefere Grund: Einer der wichtigsten Antriebe zur Hochhaltung jener Werte, die die Höhe der Kulturen bestimmen, nämlich der sittlichen und geistigen Werte als Formkräfte des Lebens, fällt mit dem Niedergang der Familie weg. Ehepaare, die sich aus Selbstsucht um die Verantwortung vor Kindern und für Kinder drücken, sind nie Aktivposten in der Kulturentwicklung eines Volkes. Zwar kann ein solches Volk ökonomisch eine Zeitlang bessergestellt sein, es wird jedoch nicht über die seelischen Kräfte verfügen, die für den Aufstieg von Kulturen unerläßlich sind. Daß die Familie die Lebenszelle der Gesellschaft ist, bietet die soziologische Erklärung für die alte Erfahrungstatsache, daß man den Zustand einer Gesellschaft, ihre innere Lebens- und Erneuerungskraft am Zustand ihrer Familien ablesen kann. Wer die richtige Diagnose des Zustandes einer Gesellschaft finden will, muß auf die Familien sehen, wie der Arzt zuerst den Puls des Kranken fühlt. Wenn die Familie in der Gesellschaft mißachtet, vom Staate vernachlässigt, wenn ihre Gemeinschaft gelockert, ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage unzureichend ist, wenn ihr Nachwuchs sie nicht wieder ersetzt, die Ehescheidungen zunehmen, dann sind das untrügliche Symptome, daß der Gesellschaftskörper sich in einer schweren Krise befindet. Die Geschichte beweist zur Genüge, daß der Verfall des Familienlebens die tiefste Ursache des Verfalles der Völker ist. Die Folgerung aus der Stellung der Familie als Zelle der Gesellschaft besteht darin, daß alle wirkliche Sozialreform bei der Familie einsetzen muß. Alle angebliche Sozialreform, die dieses Gesetz außer acht läßt oder :gar verletzt, muß notwendig am Ende fehlschlagen. Individualismus, Liberalismus, marxistischer und liberaler Sozialismus richten sich alle selbst dadurch, daß sie den Schwerpunkt der Sozialreform anderswo als bei der Familie und bei ihrer Funktion als biologischer, moralischer und kultureller Zelle der Gesellschaft suchen.

χ*

76Vi|Mfe Normalfamilie Was ist die natürliche Größe der Familie? Von vielen Soziologen und Bevölkerungspolitikern wird eine solche Fragestellung abgelehnt. Soweit sie liberalistisch oder sozialistisch denken, bekennen sie sich grundsätzlich zum neomalthusianischen Axiom, daß die Planung der Größe der Familie ganz und gar Sache des Ehepaares ist. Der Begriff der Normalfamilie hat in der Tat wenig Sinn, wenn man individualistisch die Familie nur für sich oder die Familienplanung kollektivistisch nur als Teil der gesam-

. Die

r m i l i e

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ten Sozialpläne betrachtet. Zieht man aber die biologische und moralische Funktion der Familie im Leben der Gesellschaft in Erwägung, dann ergibt sich ein eindeutiger Begriff der natürlichen oder, was gleichbedeutend ist, der normalen Größe der Familie. Tatsächlich läßt die biologische Funktion der Familie über ihre natürliche Größe keinen Zweifel. Ein Volk würde sich in seiner nächsten Generation ersetzen, wenn die gegenwärtige Generation gleich viele Mädchen und Knaben zählte, die später verheiratet wieder je zwei Kinder hätten. Nun erreichen aber schon nicht alle das heiratsfähige Alter, sondern sterben früher; andere sind durch Krankheit an der Verehelichung verhindert; andere ersehen höhere Ziele für sich, die nur ohne Bindung an Familienverpflichtungen erreicht werden können; andere wiederum finden nicht den Ehepartner, mit dem sie sich zur Ehe entschließen könnten; und von den Ehen, die zustande kommen, bleiben nicht wenige aus gewollten oder ungewollten Ursachen kinderlos. Auf Grund aller dieser Erfahrungstatsachen ergibt sich, daß ein Volk sich nur erhalten kann, wenn die durchschnittliche Kinderzahl der Familien drei bis vier ist, und daß sie größer sein muß, wenn die Bevölkerungsziffer wachsen soll. Das gleiche beweist die moralische Funktion der Familie als Zelle der Gesellschaft. Bei einem ausgedehnten Ein- oder Zweikindersystem kann die Familie ihre sozialpädagogischen Aufgaben nicht erfüllen. Das einzige Kind entbehrt des Lebens in Gemeinschaft mit Geschwistern und damit der Erziehung zu den wichtigsten sozialen Tugenden durch das Zusammenleben mit ihnen. Die Verwöhnung des einen Kindes durch die Eltern ist außerdem eine geläufige Erfahrungstatsache; sie bedeutet Stärkung der egozentrischen Einstellung des Kindes anstatt Weckung des sozialen Pflichtbewußtseins. Das Zweikindersystem hat ähnliche Folgen: Zwei bilden keine Gemeinschaft, in der ein solches Mindestmaß sozialer Tugenden notwendig wäre wie in der Gemeinschaft von drei, vier und mehr Kindern. Bei einer größeren Zahl von Kindern bleiben die Kinder länger Kinder, sind unter sich, wissen sich selbst zu unterhalten und ihr Spielzeug zu schaffen, bilden sich ihre eigene Welt im Spiel, lernen die Einordnung ins Soziale unmittelbar aus der Erfahrung. Dagegen nehmen ein oder zwei Kinder viel früher an dem Denken und Leben der Erwadisenen teil und werden „frühreif", was körperlich und geistig unerwünscht ist. Es weist somit alles darauf hin, daß die Familie audi für die Erfüllung ihrer moralischen Funktion als Zelle der Gesellschaft der normalen Größe bedarf, d. h. mindestens einer Zahl von drei oder vier Kindern.

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77. Die erweiterte Familie Für Aristoteles schließt die Familie, die für die Bedürfnisse des täglichen Lebens vorsorgt, auch die Sklaven ein 1 . Die Naturrechtsethik ist ihm insoferne darin gefolgt, als sie im Hausgesinde immer Glieder der Familiengemeinschaft gesehen hat. Sie muß das umso mehr tun, als das Christentum die Anerkennung der vollen Würde der Person in allen Menschen, also auch in den Mitgliedern des Hausgesindes, fordert. Infolgedessen hat das Christentum auch die Familiengemeinschaft mehr auf innere sittliche Bande begründet, während die vorchristliche Familie mehr auf die äußeren gesetzlich geltenden Herrschaftsrechte des Vaters begründet war. Dieses christliche Ideal der Hausgemeinschaft bleibt die Forderung, wenn sich auch im letzten Jahrhundert in weitem Ausmaße das Gemeinschaftsverhältnis zwischen den Hausangestellten und der Familie tatsächlich in das des bloßen Arbeitsvertrages verwandelt hat. Gewiß beruht das Dienstverhältnis in der Familie auf einem freien Vertrag, seiner ganzen Natur nach schließt jedoch der Dienstvertrag dieser Art viel mehr ein als nur genau abgemessene Leistungen in Geld und Arbeit. Das Verhältnis zwischen der Familie und ihrem Gesinde ist nach beiden Seiten ein Treueverhältnis. Die Familie ist zur Erfüllung verschiedener Aufgaben auf Hilfe angewiesen, die sich nicht im einzelnen genau umschreiben läßt wie die Arbeit eines Fabriksarbeiters, sondern nur aus der mitsorgenden Anteilnahme des Gesindes am Wohle der Familie entspringen kann. Auch im Interesse des Hausgesindes schließt der Dienstvertrag seiner Natur nach viel mehr ein als nur die Bezahlung von Dienstleistungen in Geld: Die Familie ist verantwortlich für das leibliche und geistige Wohl des Hausgesindes. Wenn es sich auf lange Zeit in den Dienst der Familie stellt und sein Leben mit den Leiden und Freuden der wachsenden Familiengemeinschaft eint, wird es selbst Teil der Lebensgemeinschaft der Familie. Für alle wesentlichen Bedürfnisse des Hausgesindes muß daher im Schöße der Familie vorgesorgt werden, auch für ihre Bedürfnisse nach Achtung, Liebe, Unterhaltung, Fortbildung, Gesichertheit in Krankheit und Alter, selbstverständlich auch für würdige Wohnung, Freizeit und was sonst das äußerliche Wohl betrifft. Wie für alle Verhältnisse, die eine Leistung und Gegenleistung einschließen, so wird in der liberalistischen Gesellschaft auch für die Beziehung zwisdien Gesinde und Familie der Geldmaßstab fast ausschließlich bestimmend. Die „Herrschaft" erwartet bestimmte Leistungen, mit einer bestimmten Geldsumme werden die „Hausangestellten" entlohnt. Für diese, namentlich die weiblichen, und zwar gerade die feineren Typen unter ihnen, bedeutete dies eine unausdenkbar schwere 1

Aristoteles,

Politik, 1. 2.

8. Die Familie

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Last von Demütigung, Entwürdigung, Einsamkeit, Verlassenheit, psychischer und geistiger Verkümmerung, die meist schweigend getragen wurde, aber eine der himmelschreienden Sünden der Gesellschaft des Liberalismus ist. Unter diesen Umständen bedeutete für den Großteil der Dienstboten die Einreihung des häuslichen Dienstvertrages unter die Arbeiterschutzgesetzgebung und seine Behandlung als Arbeitsvertrag einen bedeutenden Fortschritt. Der Staat hatte in Wahrheit nach ihren Rechten zu sehen. Selbsthilfeorganisationen und karitative Organisationen (Dienstmädchenvereine) suchten außerdem zu ersetzen, was ihnen an Gemeinschaftsleben in den Familien vorenthalten wurde. Die Folge der individualistischen Auflösung dieses Teiles der Hausgemeinschaft ist, daß heute in den Industrieländern die Mädchen lieber in die Fabriken gehen, wo sie mehr Freizeit und besseren sozialen Schutz genießen als im Haushaltsdienst. Die Nachteile sind der Wegfall der Gemeinschaftsbindungen, die für junge Menschen notwendig sind, zugleich auch der Wegfall der Erziehung zur Familie, die das junge Mädchen nirgends besser als in der Familie und im Haushalt selbst erhalten kann. Den sozialistischen Systemen ist infolge der für sie maßgebenden Auffassung der Familie das Problem der Hausangestellten fremd, da für die Beschäftigung solcher eine Berechtigung nur in Ausnahmefällen anerkannt und diesen Industriearbeit nahegelegt wird; dafür wird den Eltern Hilfe außerhalb der Familie in Kindergärten und Schulen unter Verabreichung von Mahlzeiten und den Frauen Arbeit außer Haus angeboten.

78. Die Familienerbfolge Unter Familienerbfolge verstehen wir die Rechtsnachfolge der Kinder in das Eigentum und die Rechte der Eltern. Nichts ist gewisser, als daß die Eltern normalerweise den stärksten Wunsch haben, auch über ihren Tod hinaus den Kindern eine Hilfe zu sein, ihr Fortkommen zu sichern und ihnen daher durch letztwillige Verfügung zuwenden zu wollen, was sie besitzen. Eines der wichtigsten Motive für Arbeit und Sparsamkeit in der Familie würde wegfallen, wäre das letztwillige Verfügungsrecht über das Familieneigentum zu einem wesentlichen Teil ausgeschlossen. Den Eltern steht aus diesen Gründen kraft Naturrechts für den Todesfall das Recht der Verfügung über ihren Besitz in solchem Ausmaße zu, daß sie ihrer Verantwortung für die Wahrung des Wohles der Familienangehörigen entsprechen können. Aus den gleichen Gründen und in gleichem Ausmaße besteht das Recht der Familienerbfolge auch, wenn eine letztwillige Verfügung nicht erfolgte; denn es muß angenommen werden, daß es dei Wille der Eltern ist, ihren in der Natur der Familiengemeinschaft begründeten Verpflichtungen zu entsprechen. Aus diesen Gründen müssen die kleineren Familienvermögen von der Besteuerung völlig freibleiben; große Erbschaften, die weit über den Bedarf der Kinder und ihrer Familien hinausgehen, können dagegen namhafter Besteuerung unterzogen werden

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innerhalb der Grenzen, wie sie gesteckt sind durch die eben dargelegten Prinzipien in ihrer Anwendung auf die billigen Ansprüche, welche Söhne und Töchter mit Familien auf die Aufrechterhaltung ihres gesellschaftlichen Lebensstandards haben. Die Rechte der Familie verbieten daher die konfiskatorische Erbschaftsbesteuerung überdurchschnittlichen Privateigentums durch unterschiedslose progressive Erbschaftssteuern. Für die Erbfolge von Verwandten läßt sich aus der Familienzugehörigkeit keine naturrechtlich zwingende Norm aufstellen, abgesehen die, daß für den Gesetzgeber Rücksicht auf bedürftige Familien geboten ist. Zweifellos ist der Gesetzgeber verpflichtet, familienähnlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen , ζ. B. wenn testamentarisch Bedachte sich den Erblasser durch langjährige Dienste zu Dank verpflichtet haben. Auf die Tragweite konfiskatorischer Erbschaftsbesteuerung für die Sozialordnung und Kulturentwicklung wird bei der Behandlung der Steuerpolitik hinzuweisen sein (vgl. Kap. 148). Unter den Formen des gesetzlichen Erbrechts kommen jene den naturrechtlichen Forderungen am nächsten, die den elterlidien Erblassern eine gewisse Freiheit zubilligen, so daß sie bedürftigere (ζ. B. kränkliche) oder würdigere Kinder mit größeren Anteilen bedenken können. Manche Staaten setzen dem freien Willen der Eltern nur insoferne eine Schranke, als jedes Kind wenigstens einen Teil dessen bekommen muß, was bei gleicher Verteilung auf alle Kinder entfallen würde. Von den Naturrechtsnormen entfernen sich am meisten jene Formen des Erbrechts, die die gleiche Verteilung des Nachlasses auf alle Kinder verlangen. Sie entsprechen nicht dem Familiengedanken, da sie für die Kinder, die schlechte Familienmitglieder sind, gleiche Behandlung vorschreiben wie für die guten und überdies der väterlichen Autorität keine Stütze bieten. Solche Formen des Erbrechts haben Aufspaltungen landwirtschaftlicher Grundstücke zur Folge, die den Fortbestand des bäuerlichen Stammbetriebes unmöglich machen; Gewerbebetriebe (Fabriken) müssen in solchen Fällen oft verkauft werden, um die vorgeschriebene Teilung zu ermöglichen. Die Erfahrung zeigt, daß die Beschränkung der Kinderzahl sehr oft als Mittel angewendet wird, um solche Folgen zu verhindern. Ähnliche Folgen können auch entgegengesetzte, in manchen Ländern für die Landwirtschaft bestehende Erbrechtsformen haben, wonach der Erstgeborene nach dem Grundsatz „Der Bauer hat nur ein Kind" das ganze bäuerliche Anwesen erhält und die übrigen Kinder nur eine Abfertigung; Eltern, die fürchten, daß die übergroße Starrheit solcher Gesetze sie an der testamentarischen Fürsorge für das zweite, dritte usw. Kind hindert, entschließen sich leicht zur

79. Die Frauenfrage

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Geburtenbeschränkung. Wenn jedoch eine solche Starrheit vermieden wird, dann braucht eine Bevorzugung des Kindes, das den wirtschaftlichen Betrieb des Familiengutes fortführen soll, nicht in Widerspruch zum Naturrecht zu stehen, sondern kann vielmehr dem Familiengedanken dienen.

79. Die Frauenfrage „Werden die Hunde je nach ihrem Geschlecht verschieden verwendet oder werden sie unterschiedlich verwendet zur Jagd und zum Wachhalten und zu den anderen Aufgaben von Hunden? Oder vertrauen wir den männlichen Tieren die alleinige und ausschließliche Sorge für die Herde an, während wir die Hündinnen daheim lassen auf Grund der Annahme, daß Gebären und Säugen Arbeit genug für sie ist *?" So leitet Plato seine Begründung der völligen Gleichstellung der Frau mit den Männern in seiner Frauen- und Kindergemeinschaft ein. Immerhin gesteht auch er ein, daß die Frauen schwächer sind als die Männer, worauf bei der Verteilung der Pflichten Rücksicht genommen werden müsse. Über den Gedanken „Es ist widersinnig, aus der Ähnlichkeit mit Piatos sagt Aristoteles: den Tieren einen Beweis dafür abzuleiten, daß Männer und Frauen die gleichen Arbeiten vollbringen sollen; denn die Tiere haben keinen Haushalt zu führen 2 ." Damit gibt Aristoteles den entscheidenden naturrechtlichen Grund gegen die absolute Gleichstellung von Frau und Mann an: Familiengemeinschaft und Mutterverpflichtung sind bei Tier und Menschenwelt so verschieden, wie Tier und Mensch verschieden sind. Wenn die modernen Vorkämpfer der absoluten Gleichstellung der Frau erwidern, daß die Frau wie der Mann volle menschliche Person ist und daher die gleichen Rechte besitze, dann antworten wir: Gewiß, rein als Individuum betrachtet, hat die Frau alle Rechte, die der Mensch als Mensch hat, aber als soziales Wesen hat die Frau besondere Aufgaben, die ihr durch die ihrer Natur eigenen besonderen Fähigkeiten und Zwecke vorgezeichnet sind, daher hat sie auch besondere Rechte. Diese Zwecke und Aufgaben sind die Pflege und Aufziehung der Kinder, die viel länger braucht und ganz andere Bedingungen voraussetzt als die Aufbringung der Jungen in der Tierwelt. Sie setzt die Familiengemeinschaft mit der ununterbrochenen physischen und geistigen Betreuung der Kinder, also den Haushalt, voraus. Der Frau ist somit durch die Natur eine besondere Stelle in der Zelle der Gesellschaft zugewiesen. Als Schlußfolgerung ergibt sich das Prinzip: Was die Aufgabe der Frau als Familienmutter beeinträchtigt, sei es der einzelnen Frau oder der Frau im allgemeinen, ist 1 2

Plato, Republik, 5. 451. Aristoteles, Politik, II. 5. 24.

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gegen die Natur und das Naturrecht. Die Forderung der absoluten Gleichstellung der Frau mit dem Mann ist unvereinbar mit dem Prinzip, daß Redite und Pflichten sich aus Zwecken herleiten, die in der Natur vorgezeichnet sind. Die Natur der Familie und die besondere Naturanlage der Frau weisen ihr klar die Familie als den ersten und wichtigsten Platz ihrer Tätigkeit in der Gesellschaft zu. Daraus folgt das Prinzip: Die Mutter gehört in die Familie. Darnach ist es eine Grundforderung der Gerechtigkeit, dem Vater das notwendige Familieneinkommen (vgl. Kap. 72) zu sichern, so daß die Mutter nicht zum Einkommenserwerb außer Haus oder in der Form der Heimarbeit genötigt ist. Ausnahmen können gerechtfertigt sein, wenn, um ein konkretes Beispiel anzuführen, in einer kinderreichen Familie mit mehreren Mädchen die Mittel für die Aussteuer verdient werden oder die Mittel für ein Siedlungseigenheim gespart werden müssen und die Kinder während der Arbeitszeit der Eltern sich bei Großeltern oder in einem Kinderheim in guter Obhut befinden. Das dem Wohl der Familie geltende Prinzip, daß die Mutter in die Familie gehört, bietet auch den Schlüssel zur Entscheidung des Widerstreites von Pflichten (vgl. Kap. 42), so, wenn in einem Lande infolge einer Konjunkturüberspannung Mangel an Arbeitskräften entsteht. Ist dann um der dabei in Frage stehenden Güter ein Hineinziehen von Müttern in den Arbeitsprozeß gestattet, wie es da und dort mit einer ausgedehnten Propaganda versucht wird? Das Gut der Familie, ihr von der Betreuung durch die Mutter abhängiges Wohl, geht unzweifelhaft vor; anders im Kriegsfall, wenn die Anspannung aller Kräfte der Volkswirtschaft für die Zwecke der Landesverteidigung notwendig ist; wieder anders, wenn, besonders nach Frühehen, die Kinder der Obsorge der Eltern entwachsen sind und die Frau einen Beruf außer Haus ergreift oder in ihr früheres Berufsleben zurückkehrt. Unser Prinzip besagt allerdings etwas ganz anderes als die veraltete Maxime: Die Frau gehört ins Haus. Die tiefgreifenden Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse haben den Mädchen und Frauen (wir denken jetzt hauptsächlich an die unverheiratete Frau) ihren Platz im Erwerbsleben gesichert. Denn was früher in der Hauswirtschaft erzeugt wurde, wird infolge der modernen Arbeitsteilung und technischen Entwicklung in der Fabrik erzeugt, und zwar hauptsächlich von Frauen, man denke ζ. B. an die Textilindustrie. Außerdem haben sidi Berufe in bedeutender Zahl entwickelt, denen Frauen ebenso oder besser entsprechen können als Männer, namentlich seit der Zulassung der Frauen zu den höheren Schulen: So finden wir heute die Frauen besonders tätig in der sozialen Wohlfahrtspflege, als Krankenpflegerinnen, Ärztinnen (vor allem

79. Die Frauenfrage

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für Frauen und Kinder), Lehrerinnen, Stenotypistinnen, Fabriks- und Sanitätsinspektoren, in Bibliotheken und Museen, im Kunstgewerbe, als schaffende und ausübende Künstlerinnen* in der wissenschaftlichen Forschung und in vielen anderen Berufen. Als eine treibende Kraft für die Erwerbsarbeit der Frau darf auch der Frauenüberschuß in vielen Ländern nicht vergessen werden, namentlich nach Kriegen. Viele Frauen, denen die Ehe versagt ist, sehen sich zur Erwerbsarbeit gezwungen, sehr viele davon, ohne darin je volle Befriedigung zu finden und ohne sich mit dem Schicksal der Ehelosigkeit abzufinden. Sosehr heute die Erwerbsarbeit der Frau kaum mehr ein Streitobjekt genannt werden kann, so sicher ist, daß im Erwerbsleben die Art der Tätigkeit des Mädchens und der Frau ihrer Eigenart angemessen sein muß. Dazu gehört nicht nur ihre größere Schwäche im Vergleich zum Manne, sondern ihre ganze Anlage, da, wie die moderne Psychologie feststellt, der Geschlechtscharakter der Frau sich in ihrem ganzen Wesen auswirkt. Daher bedarf nicht nur die physische Konstitution der Frau, sondern audi die psychische der Berücksichtigung. Außerdem verlangt die geschlechtliche Würde der Frau besonderen Schutz, namentlich wo die gemeinsame Arbeit von Frauen und Männern unvermeidlich ist: in Büros, Fabriken, Gaststätten, Vergnügungslokalen, besonders bei Nachtarbeit. Die Entlohnung der Frauenarbeit kann nur dann Gegenstand gegensätzlicher Meinungen sein, wenn das Äquivalenzprinzip nicht als unbedingtes Gerechtigkeitsprinzip für den Einzelarbeitsvertrag anerkannt wird. Dieses Prinzip bedeutet die Gleichheit von Leistung und Gegenleistung, bedeutet aber auch die gleiche Entlohnung, wo gleiche Leistungen zu entlohnen sind. Es ist ein Prinzip, das auch kein kollektiver Arbeitsvertrag umgehen dürfte. Der Verstoß gegen dieses Prinzip ist eindeutig Lohnwucher, beruhend auf Ausbeutung der Frauenarbeit. Tatsache ist, daß in der Mehrzahl der Länder der freien Welt (gar nicht zu reden von den nah- und fernöstlichen) die Löhne der Frauen im Durchschnitt wesentlich unter denen der Männer liegen. Die Gründe dafür sind nicht nur auf Seite der Unternehmer zu suchen, auch auf Seite der Arbeiter wird die niedrigere Entlohnung der Frauenarbeit trotz gleicher Leistung teilweise als „natürlich" empfunden. Bei der statistischen Feststellung, daß die Löhne der Frauen durchschnittlich 20 bis 30 Prozent niedriger sind, darf allerdings nicht übersehen werden, daß eine große Zahl der Frauen ungelernte Arbeit verrichten, weil ihnen in der Jugend die Möglichkeit oder auch der Anreiz zur Ausbildung fehlt. Nicht zu übersehen ist anderseits, daß ein zu starr verstandenes Prinzip der Gleichberechtigung der Frauenarbeit nach Leistungsart und Lohnanspruch einen Wettbewerb um die Arbeitsplätze zur Folge hat, der sich vielfach in Überschreitung der in der Natur der Frau gelegenen Möglichkeiten, sowohl was Arbeitsart wie Arbeitszeit betrifft, auswirken müßte. Ein soldier Wettbewerb könnte sich außerdem in einer Verdrängung von Familienvätern von den Arbeitsplätzen auswirken, namentlich in der Zeit einer Unterbeschäftigung, zumal wenn jüngere Arbeitskräfte, wie heute oft, bevorzugt werden.

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Die Familie

War aber die Frau einmal ins Erwerbsleben eingetreten, dann war die Forderung des Frauenwahlrechts, ihre Anteilnahme am öffentlichen und politischen Lehen, die notwendige Folge. Außerdem mußte das wachsende Bewußtsein der Gleichheit der Menschenrechte in der modernen Demokratie zur Gleichheit von Mann und Frau an der Wahlurne führen. Das gleiche allgemeine Wahlrecht für Mann und Frau ist heute in fast allen Ländern des Westens durchgeführt (eine Ausnahme bilden bisher die Schweiz und Portugal). Die Erfahrungen mit dem Frauenwahlrecht sind nicht einheitlich, im großen und ganzen jedoch scheinen die Frauen als Wähler in Zeiten radikaler Bewegungen eher zurückhaltend und im Sinne mehr konservativer Grundsätze ihre Stimme zur Geltung zu bringen. Das passive Wahlrecht der Frauen, ihre Wählbarkeit in die Volksvertretung, war eine weitere notwendige Folge ihres Eintritts ins öffentliche Leben und des allgemeinen Wahlrechts in der modernen Demokratie. Die hier dargelegten Prinzipien machen den Fehler offensichtlich, in den alle Programme und Bewegungen zur absoluten Gleichstellung von Mann und Frau verfallen: Sie messen die Frau durchwegs am Manne, während in Wahrheit weder der Mann noch die Frau der Maßstab des anderen sein kann. Beide haben ihre besonderen Anlagen und Aufgaben, weshalb ihre besondere Wertung von diesen abhängig sein muß 8 . Der individualistisch-mechanistische Gleichheitsbegriff sowie die vorherrschende Bewertung des Menschen als „Arbeitskraft" im Kapitalismus wirkten wesentlich auf die Entwicklung der Idee der unterschiedslosen Gleichheit von Mann und Frau ein, die der modernen Frauenbewegung vielfach zugrunde liegt, einschließlich der Suffragettenbewegung und der Frauenemanzipation. Der liberale wie der marxistische Sozialismus folgen der gleichen Idee und betonen sie noch weiters durch ihre Forderung der Befreiung der Frau vom „Gebärzwang 4 ". Die Verfassung der Sowjetunion (Art. 122) erklärt: „Den Frauen sind in der UdSSR die gleichen Rechte in allen Bereichen des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen, sozialen und politischen Lebens zuerkannt wie den Männern."

80. Die Erziehung zur Familie W i r dürfen die Familie nicht verlassen, ohne von ihr als sozialpädagogischer Aufgabe gesprochen zu haben. Wie zumeist in Krisenzeiten der K u l turvölker, treten heute im Westén die Erziehungsprobleme

in den Vorder-

grund der Erörterung. Dabei w i r d überwiegend an die Schulreform gedadit, sie ist in vielen Ländern Gegenstand politischer und sozialer Programme. Den meisten Richtungen der modernen Pädagogik mit ihrer Verhaftung an individualistische und kollektivistische Ideen liegt der Familiengedanke ferne. V o n der Erziehung zur Familie ist, wenn überhaupt, nur nebenher die Rede. Auch in der in den europäischen Ländern seit einigen Jahren rasch angewachsenen Familienbewegung,

deren Verdienste für die

Förderung des Familiengedankens und der Familienpolitik nicht zu hoch 8 Besonders klar darüber Albert Mitterer, v. Karl Rudolf, 1953. 4

Was ist die Frau? In: Um die Seele der Frau, hrsg

Vgl. Ausust Bebel, Die Frau und der Sozialismus, 1879 (seither über 60 Auflagen).

80. Die Erziehung zur Familie

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eingeschätzt werden können, scheint mancherorts der Erziehung zur Familie zu wenig Aufmerksamkeit und das Interesse zu einseitig der ökonomischen Seite der Familienfrage zugewendet zu werden. Wie kann die heranwachsende Generation zum Familienleben, zur Liebe zur Familie, zur Erfüllung der Aufgaben und Pflichten des Familienlebens erzogen werden? Unter allen Mitteln dazu ist als das erste und alle anderen weit überragende die Familie selbst zu nennen. Soweit daher ein gesundes Familienleben besteht, muß es voll ausgenützt und für die Erziehung zur Familie fruchtbar gemacht werden. Zweitens, die Familie muß in den Stand gesetzt werden, ihre Aufgaben als Lebens-, Wirtschafts- und Erziehungsgemeinschaft zu erfüllen: Nur wenn die Gesellschaft ihre Aufgabe gegenüber der Familie wieder erfüllt, wird die Familie ihre Aufgabe als Zelle der Gesellschaft nach der biologischen, moralischen und kulturellen Seite wieder erfüllen. Drittens ist die erneuerte Achtung der Familie in Gesellschaft und öffentlichem Leben notwendig. Wie ein Mensch sich selbst richtet, wenn er seine Eltern öffentlich herabsetzen läßt, so richtet sich die Gesellschaft, wenn sie Ehe und Familie öffentlich herabsetzen läßt. Nur dann lernt der junge Mensch die Familie dauernd lieben, wenn er sie überall geachtet sieht. Unerläßlich für Erziehung zur Familie ist ferner die tiefere Achtung der jungen Menschen verschiedenen Geschlechts füreinander. Nichts zerstört diese Achtung mehr und schädigt die Erziehung zur Familie mehr als geschlechtlicher Libertinismus. Wir können das hier nur betonen und müssen im übrigen auf die Sexualethik und Sexualpädagogik verweisen. Vielleicht dürfen dazu auch Kap. 1 und 2 unseres Buches „Widersprüche in der menschlichen Existenz" erwähnt werden. Fünftens muß die Schule ihre sozialpädagogische Aufgabe richtig verstehen, zur Familie erziehen durch die nachhaltige Mitwirkung an der Einwurzelung der Schätzung der Familienwerte, durch Unterricht in der Haushaltsführung sowie durch Erziehung zur Häuslichkeit; daneben können Haushaltskurse für schulentwachsene Mädchen und für junge Hausfrauen von großem Nutzen sein. Sechstens darf als Mittel der Erziehung zur Familie die Pflege der geselligen Seite des Familienlebens nicht unterschätzt werden. Heute zerreißen Vereins- und Klubleben die Familie. In jedem Volk sollte die Familie unbestritten der erste „Klub" sein. Namentlich die jungen Leute sollten sich gegenseitig soviel als möglich in ihren Familien treffen, dort gemeinsam ihre Unterhaltung finden, sich gemeinsam an Musik, Literatur, Kunst erfreuen, miteinander die Familienbräuche pflegen, kurz, in ihrem ganzen Tun und Lassen den Zusammenhang mit der Familiengemeinscfcrft wahren, der eigenen und der ihrer Freunde.

II. T e i l

Die kleineren gesellschaftlichen Einheiten

81. Die Nachbarschaftsgemeinschaft (Gemeinde) Unter den kleineren gesellschaftlichen Einheiten, die Träger eigener Funktionen innerhalb der staatlichen Gemeinschaft und daher auch eigener Gemeinschaftsrechte (vgl. Kap. 32, 42) sind, ist nebst der Familie die Ortsgemeinde die kleinste. Ihre Funktion im Alltagsleben ihrer Glieder übertrifft jedoch an Bedeutung die aller größeren Gemeinschaften, wenn man von der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung durch den Staat absieht. Wir sind uns dessen allerdings kaum je bewußt, sondern finden es selbstverständlich, daß wir, wenn wir in der Stadt leben, gepflegte Straßen, Wasserversorgung, Beleuchtung, Abwasseranlagen, Krankenhäuser, Schulen, Friedhöfe, öffentliche Bäder, Parkanlagen, Büchereien und viele andere Versorgungsdienste vorfinden, für die die Ortsbehörden verantwortlich sind. Ähnliche Aufgaben erfüllen die Dorfgemeinden, wenn auch nur unter Zusammenschluß zu regionalen Einheiten. Aus den erwähnten Beispielen ist zu ersehen, daß die Aufgaben der Nachbarschaftsgemeinschaft hauptsächlich in zwei Gruppen zerfallen. Zur ersten gehört die Versorgung von Bedürfnissen, von deren ausreichender und gesicherter Befriedigung der größte Teil der Gemeinschaft in ihrem täglichen Leben und in ihrer Berufsarbeit abhängt, weshalb diese Versorgung nicht dem privaten Unternehmerinteresse anheimgegeben werden kann. Zur zweiten Gruppe gehören Dienste wie die auf dem Gebiete der Erholung, des Gesundheitswesens und des Kulturlebens, die für das private Unternehmerinteresse keine hinreichende Aussicht auf Rentabilität bieten. In beiden Fällen aber handelt es sich um Bedürfnisse, die der durch Nachbarschaft verbundenen Gruppe gemeinsam sind und nur durch deren gesellschaftliche Kooperation ihre geordnete Befriedigung finden können. Nachbarschaft ist daher der Grund der gesellschaftlichen Aufgaben der Ortsgemeinde. Die damit gegebene gesellschaftliche Funktion, die für die Befriedigung von Bedürfnissen, die an die existenziellen Zwecke gebunden sind, unerläßlich ist, begründet das Recht der Ortsgemeinde auf Selbstverwaltung (Autonomie) in der Wahrnehmung ihrer eigenen Angelegenheiten. Die praktische Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche von Gemeinde und

81. Die Nadibarsdiaftsgemeinsdiaft (Gemeinde)

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Staat ist nicht immer einfach, das Subsidiaritätsprinzip bietet jedoch einen festen Anhaltspunkt dafür insofern, als es die Beweislast dem Staate auferlegt, falls er Rechte beansprucht; denn die Ortsgemeinde hat ein natürliches Recht auf Selbstverwaltung in allen Angelegenheiten, soweit sie nur ihr eigenes Allgemeininteresse betreffen und sie dieses mit ihren eigenen Hilfsquellen wahrzunehmen vermag. Nicht minder klar sind Zuständigkeitsbereiche und Rechte des Staates begründet. Sie betreffen erstens die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und den Schutz der verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte und Freiheiten der Individuen, der Familie und der sonstigen kleineren gesellschaftlichen Einheiten, heute nicht zuletzt gegenüber der parteipolitisch geführten Selbstverwaltung von Großgemeinden. Zweitens hat der Staat unterstützend, regelnd und überwachend Einfluß zu nehmen auf die Tätigkeit der Ortsgemeinden, vor allem durch Aufstellung pflichtmäßiger Standards auf dem Gebiete des Gesundheits-, Wohnungs-, Schul- und Wohlfahrtswesens. Drittens bedarf die Verwaltung der Gemeindefinanzen, einschließlich der Anleiheaufnahme, der Staatsaufsicht, da es auf Kosten der Gesamtgemeinschaft geht, wenn die Gemeinden durch schlechte Finanzverwaltung zahlungsunfähig werden. Als die Gesetzgebung den Umfang der kommunalen Selbstverwaltung im Laufe des letzten Jahrhunderts in verschiedenen Ländern zu umschreiben begann, machte sich gleich schon das Streben des modernen Staates zur Zentralisierung geltend. Anderseits ermöglichen die naturrechtlichen Grundprinzipien und Grundbeziehungen eine weite Mannigfaltigkeit in der Gestaltung der Gemeindeautonomie, dabei die volle Berücksichtigung geschichtlicher Entwicklungen Die 4 In Deutsdilani empfing die Selbstverwaltung der Gemeinden einen entscheidenden Anstoß durch die berühmtgewordene Stein-Hardenbergsche Reform der Gemeindeverwaltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen. Es wurde Grundsatz, daß in den eigenen Vollmachtsbereich der städtischen Verwaltung alles fällt, was sie unter Ausnutzung der ihr verfügbaren eigenen Hilfsquellen für die Wohlfahrt der Gemeinschaft, einschließlich des materiellen und geistigen Fortechrittes der Bürger, zu tun vermag. Grenzen sind nur gezogen durch die Beschränkung auf Aufgaben, die im allgemeinen Interesse der Gemeinde liegen und die mit den eigenen Hilfsquellen der Gemeinde erfüllt werden können. Dieses Prinzip kommt in der Tat dem idealen Abgrenzungsverhältnis der gemeindlichen und staatlichen Sphären sehr nahe. Eine reiche Entfaltung der öffentlichen städtischen Einrichtungen auf sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiete war die Folge. Die Städte schufen sich ihre eigenen sozialen Wohlfahrtseinrichtungen, städtische Sparkassen, städtische Feuerversicherungsanstalten, städtische Theater, Opern, Gemäldegalerien, Sportstadien. In England können die Gemeinden solche Aufgaben fast ausnahmslos nur unternehmen, nachdem sie vorher in jedem einzelnen Falle durch einen eigenen Parlamentsakt, für den sie die Kosten zu tragen haben, dazu ermächtigt worden sind. Der Umkreis ihrer Autonomie ist gesetzlich genau umschrieben und im Vergleich zu der deutschen Gemeinde sehr enge begrenzt. In Frankreich besteht ein autonomer Bereich der Gemeinden überhaupt nicht, abgesehen von Geringfügigkeiten. Nichts kann in der Gemeindeverwaltung geschehen ohne die Zustimmung des Ministers für das Innere. Die Ortsvorsteher werden durch den Präfekten des Departements bestellt, dieser vom genannten Minister; der Zentralismus ist nahezu vollständig. In den Vereinigten Staaten besaßen die Gemeinden lange Zeit eine solche Selbständigkeit, daß eine bedeutende Willkürherrschaft durch Gruppen, Parteien oder auch einzelne möglich war. Mit dem Anwachsen der Städte sind diese weitgehend zu einer Verwaltung durch Fachbeamte übergegangen, die durch eine Körperschaft von

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Die kleineren gesellschaftlichen Einheiten

Erfahrungen mit der Gemeindeverwaltung in der freien Gesellschaft sowie auch die verwickelten Fragen der Zusammenarbeit mit den Zentralbehörden machen namentlich für Großgemeinden die Beschäftigung besonders ausgebildeter Fachbeamter unter Leitung und Kontrolle einer gewählten Gemeindevertretung unerläßlich. I n den Landgemeinden mit ihren verhältnismäßig einfachen Aufgaben kann der Gemeinderat die Gemeindeverwaltung durchführen, aber auch da erweist sich die besondere Schulung eines oder einiger seiner Mitglieder mehr und mehr als notwendig. Die Selbstverwaltung der Gemeinden ist oft als Schule der Demokratie, der aktiven Teilnahme der Bürger an der demokratischen Führung der Geschäfte ihrer staatlichen Gemeinschaft und damit auch als Bollwerk einer lebendigen Demokratie bezeichnet worden. Da es sich dabei um einen Bereich von unmittelbarem Interesse für den Bürger handelt, in dem sich sein alltägliches Leben bewegt, und da außerdem die Führung der Gemeindeangelegenheiten auf seine Kosten erfolgt, scheint vieles für eine solche Annahme zu sprechen. Trotzdem findet diese Anschauung keine eigentliche Bestätigung durò die Erfahrung. Die Bürger geben sich leicht zufrieden, wenn die kommunalen Dienste zu ihrer Befriedigung funktionieren und wenn die kommunale Steuer- und Abgabenbelastung nicht zu hoch ist. Ein weiteres Interesse an der Gemeindeverwaltung ist eine Ausnahme. Daß das Recht der Autonomie auch mit Pflichten für die Bürger verbunden ist, dessen sind sich wenige bewußt. Jedoch nur, wenn sie vom tätigen Interesse der Bürger getragen ist, kann sich die Gemeindeautonomie entfalten. Die Weckung dieses Interesses ist eine Aufgabe der staatsbürgerlichen und politischen Erziehung. Voraussetzung für ein unmittelbares Interesse scheint es zu sein, daß die größeren Gemeinden in kleinere Einheiten mit eigenen Selbstverwaltungsaufgaben zerlegt werden und den Landgemeinden Aufgaben zugebilligt werden, die des Interesses wert sind. Der Mangel des Interesses der Bürger ist aber nicht die einzige Gefahr für die Gemeindeautonomie. Die viel größere Gefahr droht ihr von der Tendenz zur Zentralisierung, die dem modernen Staate eigen ist. Sie hängt zum Teil mit der geänderten Art und dem wachsenden Umfang der Aufgaben der Gemeinde zusammen. Die dafür notwendigen Mittel übersteigen die Leistungsfähigkeit vieler Gemeinden bei weitem. Sie müssen sich daher oft an den Staat um finanzielle Unterstützung wenden. Die Folge ist, daß der Staat seine Kontrollbefugnisse ausdehnt und dabei so weit geht, daß die Ortsverwaltungen in zunehmendem Maße zu bloßen ausführenden Organen der zentralen Stellen werden. Das kollektivistisch-sozialistische Denken will die Entwicklung bewußt die damit gekennzeichnete Richtung lenken, da es ihm zufolge keine Begründung des für die naturgemäße Ordnung der Gesellschaft wesenhaften sozialen und rechtlichen Pluralismus gibt. Denn, versichert Laski, es bestehe theoretisch kein Grund dafür, warum nicht alle notwendigen Verwaltungsfunktionen von einer zentralen Behörde mit Hilfe von Fachbeamten ausgeübt werden sollgewählten Gemeindevertretern kontrolliert werden. Für die staatliche Kontrolle bestehen verhältnismäßig geringfügige Möglichkeiten der Einmischung. Diese Art der Selbstverwaltung kommt zweifellos auch den oben erörterten Prinzipien sehr nahe.

in

82. Die regionalen Einheiten

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ten 2 . Wenn Laski dennoch viele Gründe für die Selbstverwaltung der Gemeinde findet und diese angelegentlich befürwortet, so erbringt er nur einen neuen Beweis dafür, daß die von ihm vertretene sozialistische Theorie in diesem wie in anderen Punkten mit der wesenhaften Wirklichkeit in Widerspruch steht. Gegen das Streben des Staates nach ständiger Ausdehnung seiner Zuständigkeiten gibt es nur ein Mittel in der freien Gesellschaft; daß sich die Gemeinden selbst ihrer Autonomie und Unabhängigkeit zu versichern wissen und dafür auch zu kämpfen bereit sind. Auf diesem Gebiet gilt fast noch mehr als auf anderen die bekannte Wahrheit, daß die Freiheit immer neu erworben werden muß, wenn sie bestehen soll. Nur wenn sich die Bürger der Eigenaufgaben der Gemeinde und der damit verbundenen Verantwortlichkeiten und Rechte bewußt sind, werden sie Herren in ihrem eigenen Hause bleiben und sich der wachsenden Zentralisierungsbestrebungen des heutigen Staates zu erwehren vermögen. Daraus ist zu ersehen, daß das Subsidiaritätsprinzip, das in Frage steht, keineswegs nur der Staatsautorität Pflichten auferlegt, sondern ebenso den Bürgern: überall die Rechte zu verteidigen, die durch staatliche Übergriffe gefährdet sind.

82. Die regionalen Einheiten Der große moderne Territorialstaat ist in der Regel untergeteilt in regionale Einheiten, so die Bundesstaaten in den USA, die Bundesländer in Deutschland und Österreich, so Schottland, Wales, Nordirland, England in Großbritannien, die Republiken in der UdSSR. Bei der Gliederung der großen staatlichen Gemeinschaften wirkten viele Faktoren zusammen. Darunter sind neben den historischen die psychologischen nicht zu unterschätzen. Das gemeinsame Heimatgefühl, die Stammesverwandtschaft, die vertraute Landschaft und alles, was zu regionalem Patriotismus führt, wirkt auf die Gliederung des Territorial- und Nationalstaates in regionale Einheiten hin; auf Grund solcher Faktoren erlebt der Mann in der Normandie und der in der Auvergne sein Frankreich verschieden. Dazu kommen zweitens starke gemeinsame Interessen praktischer Art, deren Gemeinsamkeit in der erweiterten nachbarschaftlichen Verbundenheit begründet ist. Die regionale Einheit kann Funktionen für das ganze Gebiet erfüllen, zu denen die einzelnen Gemeinden nicht fähig sind. Straßen, Brücken und Verkehrseinrichtungen aller Art, Versorgung mit elektrischem Licht und elektrischer Kraft, Spitäler mit allen durch die fortschreitende moderne Wissenschaft gebotenen Einrichtungen, höhere Bildungsanstalten und Universitäten gehen über die Leistungskraft der Gemeinden hinaus, während diese durch ihren 2 H. /. laski , A Grammar of Politics, 1941, 410. There is „in strict theory . . . no reason why all the necessary functions of government should not be carried on by a single body. It could maintain its local officials, who would report directly to it, and apply the necessary solutions in accordance with its directions''.

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Messner, Naturrecht

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Zusammenschluß zu regionalen Einheiten die finanziellen Grundlagen dafür zu schaffen vermögen. Gleichzeitig ergibt sich damit eine dritte wichtige Funktion der regionalen Einheiten: den Gegensatz der Interessen von Stadt und Land zu überbrücken. Die Verlegung der genannten Einrichtungen in die Städte, die damit verbundene Zentralisierung des Geschäftslebens in ihnen, das Zusammenlaufen aller wichtigen Verkehrswege, der Besitz der Bildungsund Kulturzentralen, wie Bibliotheken, Theater, Konzertunternehmungen, Gemäldesammlungen, Vergnügungsstätten, der gehobenere soziale Standard im Wohnungswesen und in den Arbeitsbedingungen geben der Stadt und ihren Bewohnern große Vorteile. Auf dem umliegenden Land liegt dagegen die Last der Belieferung der Stadt mit einem Großteil der Lebensmittel unter verhältnismäßig ungünstigen Transportverhältnissen, ungünstigen ökonomischen Bedingungen infolge Zwischenhandels, ungünstigeren Arbeitsbedingungen, ungünstigeren Bedingungen für die Fortbildung. In der „Hauptstadt" der regionalen Einheit befinden sich auch die Ämter regionaler und staatlicher Verwaltung. All das benachteiligt das Land gegenüber der Stadt. Für einen gerechten Ausgleich zu sorgen gehört zu den wichtigsten Aufgaben der regionalen Selbstverwaltung. Fast immer bildeten in der Geschichte der Nationalstaaten die regionaBollwerk gegenüber dem Streben len Einheiten das widerstandskräftigste staatlicher Großgebilde nach Ausweitung ihrer Zuständigkeiten. Sie sind dazu in die Lage versetzt und daher auch dazu berufen, weil sie einen verhältnismäßig großen Teil des Staatsvolkes in sich vereinigen und daher nicht nur mit Protesten, sondern auf wirksame Art für ihre autonomen Rechte einzutreten vermögen. Das naturrechtliche Prinzip des Föderalismus (vgl. Kap. 32), um das es sich dabei handelt, ist eines der entscheidenden die Subsidiaritätsordnung des Staates bestimmenden Prinzipien. Die Organe der Regionalautonomie sind vor allem die regionalen Vertretungs- und Gesetzgebungskörperschaften, die davon gebildeten eigenen Regierungen und eigenen Verwaltungsdienste. Der Einwand der Doppelgeleisigkeit und daher Kostspieligkeit ist ein Scheinargument, wie die Erfahrung im totalitären Staat erweist.

83. Der Stamm Der Stamm ist eine durch engere Abstammungs-, Sprach-, Kultur- und Lebensgemeinschaft geeinte Gruppe als Teil eines größeren Gemeinschaftsverbandes. Manche Sprachen haben keinen gleichwertigen Ausdruck. Im Englischen spricht man ζ. B. von der Scottish Nationality, von der Welsh Nationality, wobei im eben erwähnten Sinn eine Großgruppe der

83. Der Stamm

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Staatsnation verstanden wird. Jedoch nationality wird oft auch einfach gleichbedeutend mit Nation schlechthin gebraucht. Im Deutschen wurden die Stämme, ζ. B. die Westfalen, Bayern, Preußen, Sachsen, immer als Einheiten innerhalb des deutschen Volkes auf Grund engerer sprachlich-völkisch-kultureller Bande angesehen. Die verbindenden Faktoren der Stammesgemeinschaft sind demnach die gemeinsamen Blutsbande, der gemeinsame Dialekt, die gemeinsame geschichtliche Erfahrung und natürliche Umwelt. Die Bildhaftigkeit und Lebensnähe des Dialekts im Vergleich zur Hochsprache läßt ersehen, wieviel mehr der Stamm in ihm denkt, sich in ihm verständigt, darin sich heimisch fühlt und zum Bewußtsein einer engeren Verbundenheit gegenüber anderen Stämmen eines größeren Volkes kommt. Es ist daher der Gebrauch des Dialekts, durch den zum großen Teil die anderen gemeinschaftsbindenden Faktoren ihre Wirksamkeit im Leben des Stammes ausüben. Blutsbande durch Familienversippung, Heimat, Volkstum, Brauchtum, die den Stamm einigen, stellen grundlegende Gemeinschaftswerte dar. Sie bilden einen Wesensbestandteil in der unmittelbaren Umwelt des Menschen, die, wie uns die Sozialbiologie und Kulturanthropologie sagen, eine entscheidende Bedeutung für das Werden der Persönlichkeit besitzt und einen unerläßlichen Nährboden für die gesunde Entfaltung der menschlichen Natur überhaupt bildet. Die Pflege dieser Werte steht folglich in enger Beziehung zu den existentiellen Zwecken, begründet daher eine gesellschaftliche Aufgabe und daher ein natürliches Recht des Stammes. Aber auch für die staatliche Großgemeinschaft als Ganzes besitzt die Stammesgemeinschaft ihre eigenste Aufgabe. Denn die Kultur eines Volkes wird ihre ursprüngliche Lebenskraft behalten, soweit ihre Wurzeln in den naturhaften Grund gesenkt bleiben, auf den der Stamm schon seinem Namen nach hinweist. Die kulturelle Sterilität der Großstadt hat ihren Grund zum Großteil in der Abtrennung von diesen Quellgründen. In der Tat, der Stamm lebt sein wurzelhaftes Eigenleben hauptsächlich auf dem Lande. Die Großstadt entspringt weitgehend der Uniformierung des Lebens durch Technik und Industriewirtschaft und diktiert ihrerseits wieder weitgehend dem Gesamtvolk die Lebensführung und Lebensformung. Damit wird der Boden für die Entwicklung der Massengesellschaft bereitet mit der Kollektivisierung ihres Lebens und der Zentralisierung ihrer Verwaltung. Das alles trifft das Leben des Stammes an seinen Wurzeln. Der Begriff der früher behandelten regionalen Einheit und jener der Stammesgruppe überschneiden sich teilweise, wenn man an die Untersuchung einer konkreten Staatsgemeinschaft geht. Die Bedeutung der Gemeinschaftsbande des Stammes erbringt ein neues kräftiges Argument 88·

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für das Prinzip des Föderalismus mit seinen Forderungen für die Strukturierung einer Großgesellschaft wie der des modernen Territorialstaates. Das Recht des Stammes auf sein Eigenleben ist vor allem das auf Selbstverwaltung;. Die Autonomie auf den kulturellen Bereich beschränken zu wollen wäre schon deshalb wirklichkeitswidrig, weil ohne politische Eigenrechte der Stammesgemeinschaft keine Gewähr besteht, daß sie gegenüber dem Willen der Zentralgewalt des Gesamtstaates zur Ausweitung seiner Rechte und Zuständigkeiten zu widerstehen vermag. Ist dieses Prinzip für den Status der Stammesgemeinschaft anerkannt, dann ist die Frage, wie der Stamm als Selbstverwaltungskörper konstituiert sein soll, von sekundärer Natur. Die konkrete Lösung ist weitgehend von geschichtlichen Faktoren sowie von der Kraft des Gruppenwillens zur Selbstbestimmung abhängig. In England zeigen die Stellung Schottlands und die dortige Bewegung zur Ausweitung des Bereichs der Autonomie, desgleichen die Bestrebungen von Wales, daß die Vertreter des Föderalismus noch keineswegs dem Zentralismus das Feld zu räumen gewillt sind. In Deutschland vermochte der nationalsozialistische totalitäre Staat nicht die auf das Eigenleben der deutschen Stämme in den „Ländern" gerichteten Kräfte zu brechen: Die föderalistische Struktur des Staates setzte sich nach dem zweiten Weltkrieg sofort wieder durch.

84. Die Minderheiten Das Übergewicht der nationalen Idee im politischen Denken des 19. Jahrhunderts und der jüngsten Gegenwart haben es verursacht, daß zumeist an „nationale" Minderheiten gedacht wird, wenn vom Minoritätenproblem gesprochen wird. Jahrhundertelang war es vornehmlich ein religiöses Problem und kehrt als solches seit dem Frieden von Augsburg (1555) und Westfalen (1648) bis ins 19. Jahrhundert in Staatsverträgen wieder. Inzwischen schien die Annahme, daß Freiheit der Religionsausübung ein verfassungsmäßig garantiertes Grundrecht aller Bürger ist, in allen Kulturländern eine solche Selbstverständlichkeit geworden zu sein, daß, wenigstens für einige Zeit, kein Anlaß bestand, noch weiter die Behandlung der „religiösen" Minderheiten zum Gegenstand der Erörterung in Staatsdokumenten zu machen. Die Frage der rein „sprachlichen" Minderheiten hat auch in den meisten Kulturstaaten ihre Lösung gefunden. Minderheiten wie die deutschsprechenden oder italienischsprechenden Bürger der USA bilden keine Gruppen im Sinne von nationalen Minderheiten, es stehen ihnen aber alle bürgerlichen Rechte zur Verfügung, die sie zur Pflege ihrer besonderen kulturellen Werte brauchen.

84. Die Minderheiten

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Das Problem der „nationalen" Minderheiten entstand im Gefolge des Nationalismus und kam zu einem Höhepunkt mit dem die Friedensverträge des ersten Weltkrieges beherrschenden Prinzip der nationalen Selbstbestimmung. Dieses stellt die Ausdehnung des individualistischen Denkens auf eine Kollektiveinheit dar. Erst allmählich, und zwar erst im Verlauf des zweiten Weltkrieges, öffneten sich die Blicke für die an dieses Prinzip geknüpfte geschichtliche Tragik Europas und der Welt. Die weittragendste Wirkung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung war die Zerschlagung des Staatengefüges der Österreichisch-Ungarischen Monarchie: Heute kann es keinen Zweifel darüber geben, daß bei Fortbestand dieses Staatengefüges das nationalsozialistische Deutschland nicht die Grundlagen der europäischen Ordnung in solchem Ausmaß erschüttern und daß damit auch der Einbruch Rußlands bis ins Herz von Europa nicht hätte erfolgen können. Das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung war es auch, auf das sich das nationalsozialistische Deutschland im Bestreben nach Eingliederung aller deutschen Minderheiten der Randstaaten berief. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges vollzog sich ein Umschlag des haltlosen Prinzips ins Gegenteil. Nicht nur fanden nationale Minderheiten wenig Berücksichtigung, sondern ganze Nationen wurden in einer Weise behandelt und ohne jede Rücksicht auf Menschenrechte und nationale Selbstbestimmungsrechte den „Interessensphären" von Großmächten zugewiesen, als hätte die Welt sich nie an der Idee der nationalen Selbstbestimmung entzündet. Ja die Lösung der Minderheitenfrage wurde nach dem zweiten Weltkrieg in so barbarischen Methoden wie der unterschiedslosen Massendeportation gesucht; all die großen bisherigen Anstrengungen, eine Lösung im Einklang mit einer von sittlichen Prinzipien getragenen Kulturidee zu finden, schienen vergessen. Eine selbst von den uns bekannten Barbarenvölkern nicht als Prinzip vertretene und geübte Methode der Lösung von Minderheitenfragen ist das Genocidium (Völkermord), nämlich die Ausrottung unerwünschter rassischer, nationaler, religiöser, politischer Gruppen. Urrechte dieser Minderheitsgruppen und ursprünglichste Menschenrechte wie das auf Leben, Unverletzlichkeit, religiöse und sittliche Uberzeugungen wurden dabei politischen Interessen geopfert. Zu wenig Beachtung findet, daß das Genocidium nicht nur die Sache weniger Jahre sein kann, sondern auch das Ziel einer sich auf mehrere Generationen erstreckenden Politik. Dies ist dann der Fall, wenn die Einwanderung von Angehörigen der Gastnation in das Wohngebiet der Minderheit gefördert, die Einwanderer siedlungs- und wohnbaupolitisch bevorzugt, außerdem die Minderheit wirtschaftspolitisch (Kreditwesen), sozial- und bildungspolitisch benachteiligt wird. Ist damit

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der Minderheitsbevölkerung die Erlangung des kulturellen Existenzminimums und der Existenzsicherheit unmöglich gemacht, wird in absehbarer Zeit ihr Aussterben bis auf einen unerheblichen Rest, das Ziel solcher „Minderheitenpolitik", ohne Zweifel erreicht. nach eine durch völkischDie nationale Minderheit ist ihrem Begriffe kulturelle Bande geeinte Großgruppe auf gemeinsamem Wohngebiet als Teil einer staatlichen Gemeinschaft anderer Nationalität; oft ist sie verwandt mit der herrschenden Nationalität einer anderen staatlichen Gemeinschaft. Zur Lösung der Frage, wer in nationalen Grenzgebieten zu einer Minderheit gehört, eine Frage, die, wie die Erfahrung zeigt, zu großen Schwierigkeiten in der Zuerkennung des Anspruches eines Gebietes auf den Minderheitsstatus führen kann, gibt es ein sicheres Kriterium: die Sprache, die im Familienkreis gesprochen wird. Auch der Völkerbund hat dieses Kriterium mit Erfolg angewandt1. Zwei Dinge scheinen unerläßlich für eine wirkliche Lösung des Minderheitsproblems: die Ausstattung der Minderheiten mit der Möglichkeit der direkten Anrufung der organisierten Völkergemeinschaft und die Vorschreibung bestimmter Schritte der organisierten Völkergemeinschaft im Falle einer durch einen entscheidenden Teil der Minderheit vorgebrachten Klage über eine Verletzung von international festzulegenden Rechten. Der Minderheit kommt das Recht auf Selbstbestimmung (Autonomie) zu, in dem Umfang, als diese für die ihr als Lebens- und Kulturgemeinschaft gestellten gesellschaftlichen Aufgaben erforderlich ist. Die Abstammungs- und Lebensverbundenheit, die Gemeinsamkeit der Sprache, des Volkstums und der Kultur bilden nicht nur ein Einheitsband der Gruppe, sondern auch Wurzel- und Nährboden des ganzen Wesens ihrer Glieder. Es sind daher Aufgaben in Verbindung mit den existentiellen Zwecken, die das Recht der Minderheit begründen, durch geeignete Einrichtungen jenen Wurzelboden für das persönliche und kulturelle Leben der Gruppe und ihrer Glieder fruchtbar zu machen. Diese Rechte sind die der kul1 Die Friedensverträge nach dem ersten Weltkrieg enthielten zwei grundlegende Bestimmungen über die Minderheiten. Sie gaben, erstens, den Minderheiten einen politischen Status in der organisierten Völkergemeinschaft durch die Festlegung ihrer Rechte; zweitens sicherten sie diesen Status durch das Interventionsrecht der organisierten Völkergemeinschaft. Der den Minderheiten gegebene politische Status bedeutete, daß ihre Rechte nicht mehr bloß eine Sache des guten Willens des Staates waren, in dem sie lebten, sondern daß sie im positiven Völkerrecht verankert waren. Die Minderheiten erhielten eine Art Klagerecht für den Fall, daß sie ihre Rechte verletzt glaubten. Die Klage konnte durch die Minderheit beim Völkerbund vorgebracht werden unter gleichzeitiger Vorlage derselben bei der Regierung ihres eigenen Staates. Der Völkerbundrat war aber nicht zur offiziellen Kenntnisnahme der Klage gehalten, bevor nicht eines seiner Mitglieder sie ihm unterbreitete. Der Völkerbundrat war auch dann nicht verpflichtet, bestimmte Schritte zu ergreifen falles war seinem Gutdünken anheimgegeben, darunter auch die Anrufung des ständigen Internationalen Gerichtshofes. Durch die erwähnten Regelungen wurden nur die durch die Friedensverträge nach dem ersten Weltkrieg getroffenen Staaten verpflichtet; nach dem zweiten Weltkrieg ist wesentlich Neues nicht geschaffen worden.

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turellen Autonomie. Der Ausdruck soll die Autonomie der Minderheit abgrenzen gegenüber der politischen Autonomie, ζ. B. der eines Bundesstaates. Die Kulturautonomie der Minderheiten umfaßt hauptsächlich fünf Gruppen von Rechten: 1. Das Recht auf den ungestörten Besitz des angestammten Wohnungsgebietes mit den für die Pflege aller völkischen Werte erforderlichen Voraussetzungen. Dieses Recht wird kurz als das Recht auf Heimat bezeichnet. Das territoriale Element gehört zum Begriff der Minderheit. Denn für Sein oder Nichtsein der Minderheit, ihre Entfaltung oder Verkümmerung bildet der Besitz des gemeinsamen Wohngebietes die erste Voraussetzung. Weitere Voraussetzungen, die darum in den Bereich der Kulturautonomie der Minderheit fallen, sind 2. das Recht auf die Gleichstellung im Besitz aller verfassungsmäßig gewährleisteten bürgerlichen Rechte mit der Mehrheitsnation, also der Schutz des Lebens, der persönlichen Freiheit, der freien Religionsübung, der Ausübung der politischen Rechte, das Recht freier Vereinigung und Versammlung, das Recht auf eigene Presse und Verlagsunternehmungen. 3. Das Recht auf den freien Gebrauch der Muttersprache im Privatleben, in der öffentlichen Religionsausübung, in öffentlichen Versammlungen, in Presse und Schrifttum, im Verkehr mit den Behörden des Minderheitsgebietes und vor allem in Schule und Erziehungseinrichtungen. 4. Das Recht auf einen verhältnismäßigen Anteil an den von Staat und Gemeinden für wirtschafts-, sozial-, wohnbau-, bildungspolitische Zwecke zur Verfügung gestellten Mittel. 5. Das Recht, daß ein verhältnismäßiger Teil der Beamtenschaft der staatlichen Verwaltungszweige in den Minderheitsgebieten der nationalen Minderheit angehöre. Solange die Minderheit nicht an der Verwaltung auf diese Weise beteiligt ist, kann eine feindlich gesinnte nationale Mehrheit leicht einen größeren oder geringeren Teil der verfassungsmäßig garantierten Minderheitenrechte unwirksam machen.

85. Die Berufsgemeinschaft Die Organisation der Gesellschaft in Berufsgruppen hat sich in der kapitalistischen Gesellschaft in viel weiterem Maße entwickelt, als ihre Klassenstruktur vermuten läßt. Man darf nur nicht mit dem an die Zunftorganisationen des Mittelalters gewohnten Auge darnach suchen. Allerdings geht auf das Mittelalter und seine Tradition eine große Anzahl moderner beruflicher Vereinigungen in allen Kulturländern zurück, wie die der Handwerkerinnungen, der Universitätskörperschaften, der Rechtsanwälte und anderer freier Berufe. Die kapitalistische Gesellschaft hat neue Ansätze

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berufsgemeinschaftlicher Organisationen hervorgebracht, so vor allem die Tarifvertragsausschüsse, in denen die nach der Klassenschichtung getrennten Verbände großer Berufszweige zur Regelung gemeinsamer Angelegenheiten zusammenwirken. Diese neuen Ansätze, die an sich zur Klassendynamik der kapitalistischen Klassengesellschaft in Widerstreit stehen, zeigen, wie sich die Natur mit der ihr eigenen Kraft, wie überall, auch in der Gesellschaft allen widerwärtigen Umständen zum Trotz behauptet. Der individualistische Liberalismus und der marxistische Sozialismus haben sich gleicherweise lange nicht mit dem Gedanken abfinden können, daß im Widerspruch zu ihren deterministischen Gesellschaftstheorien über die Mechanik der Interessen im ungehemmten Konkurrenz- bzw. Klassenkampf hinweg die Unternehmer und Arbeiter zu Verhandlung und Verständigung bereit sein sollten. Alle Widerstände des orthodoxen Liberalismus und Marxismus haben jedoch die Entwicklung des Kollektivvertrages als Mittel der Verständigung zwischen den „beiden Seiten der Wirtschaft" nicht zu unterbinden vermocht. Mit dem Kollektivvertrag ist jedoch die Entwicklung zur beruflichen Organisation der Gesellschaft nicht zu Ende. Eine so maßgebende Stelle wie die Internationale Arbeitskonferenz (26. Tagung in Philadelphia 1944) setzte dem Zusammenwirken von Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine viel weitere Aufgabe, nämlich die Zusammenarbeit zur fortdauernden Steigerung der Produktivität und zur Vorbereitung und Durchführung sozialer und wirtschaftlicher Maßnahmen in der Volkswirtschaft 1 . Tatsächlich finden wir in England Einrichtungen wie die Regional Production Boards als beratende Ausschüsse auf paritätischer Grundlage, in den USA unverkennbare Züge beruflicher Organisation im New Deal, in nicht wenigen Ländern Bewegungen für einen demokratischen (im Gegensatz zum faschistischen) Korporativismus oder doch starkes Interesse für einen solchen, und zwar in Ländern von so verschiedenem politischen Temperament wie der Schweiz, Portugal, Brasilien, Österreich, Irland, um nur einige zu nennen. Man kann mit Recht sagen, daß mit den heute schon vorhandenen Einrichtungen zur Verhandlung über gemeinsame Angelegenheiten die organisatorischen Grundelemente für die Ausbildung der beruflichen Selbstverwaltung in der Industrie wie überhaupt in der Wirtschaft bereits bestehen 2 . 1 Vgl. Official Bulletin, International Labour Office, Bd. 26, Nr. 1, Juni 1944, S. 3: „The coopération of management and labour in the continuous improvement of productive efficiency, and the collaboration of workers and employers in the preparation and application of social and economic measures." 2 Zu dieser und all den in diesem Kapitel behandelten Fragen vgl. J. Messner, Die berufsständische Ordnung, 1936; das Buch darf als die umfassendste Theorie der berufsständischen Ordnung nach ihrer rechtlichen, staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Seite bezeichnet werden (mit ausgedehnten Literaturhinweisen). Eine sehr wertvolle Darstellung der tatsächlich bestehenden beruflichen Organisationen in einer bedeutenden Anzahl von Ländern bietet der Report

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Die Entwicklung bewegt sich heute wesentlich über die Schaffung von Mitteln zur Überwindung der Interessengegensätze innerhalb des einzelnen Berufszweiges hinaus in die Richtung eines Zusammenwirkens der Berufsgruppen mit dem Ziele des Ausgleichs ihrer Interessen im Gesamtrahmen des volkswirtschaftlichen und staatlichen Gemeinwohls. Noch befinden sich die in diese Richtung gehenden Bemühungen in den Anfängen, Erfahrungen müssen erst gesammelt werden, die organisatorischen Farmen weisen nach Ländern weitgehende Verschiedenheiten auf. In allen Ländern sind es aber die über die volkswirtschaftliche Leistungskraft hinausgehenden Ansprüche und Einkommensforderungen der Berufsgruppen, die zum Bemühen nach Formen solchen Zusammenwirkens drängen. Nicht nur wirkt sich die Überforderung des Sozialproduktes im Nachlassen der Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften auf den Weltmärkten aus, die Einkommenssteigerungen selbst erweisen sich infolge der Geldentwertung als teilweise illusorisch, ganz abgesehen davon, daß zukunftbedingende Gemeinwohlerfordernisse wie die der Bildungspolitik leiden. Organe solchen Zusammenwirkens der Berufsgruppen bestehen u. a. in Schweden (Nationalbudget), den Niederlanden (Sozialökonomischer Rat), Belgien (Zentraler Wirtschaftsrat), Frankreich (Generalkommissariat für Planung), England (National Economic Development Council), den USA (Council of Economic Advisers), Deutschland (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung). Abgesehen von den beiden letztgenannten ist allen anderen gemeinsam das Zusammenwirken der Berufsgruppen zum Zweck der Erzielung von Grundentscheidungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik nach demokratischen Prinzipien. Um Natur und Funktion der Berufsgemeinschaft näher zu durchleuchten, ist es zweifelsohne zweckmäßig, von dem unbestreitbaren demokratischen Prinzip auszugehen, daß alle, die durch ihre Leistung am Zustandekommen der wirtschaftlichen und kulturellen Wohlfahrt des Staatsvolkes teilhaben, auch gleichberechtigt an der Entscheidung aller Angelegenheiten mitwirken sollen, durch die sie unmittelbar betroffen sind. Diese Leistung erfolgt nicht durch die Individuen als solche, sondern durch gesellschaftliche Gruppen: Der Lebens- und Kulturbedarf des Staatsvolkes wird in der Weise gedeckt, daß seine Glieder zu Leistungsgruppen verbunden sind, die sich in die notwendige Arbeit teilen. Solche Gruppen sind beispielsweise die Bauernschaft, die Industriezweige, die Lehrer, die of the Commission on Vocational Organisation, Dublin, 1943. Uber Ideen und Bestrebungen in den USA vgl. Ph. S. Land SJ, u. G. P. Klubertanz SJ, Practical Reason, Social Fact, and the Vocational Order, in: The Modern Schoolman, Bd. 28, 1951, 239—266. Aus der Literatur hervorzuheben: P. Berkenkopf. Aufgaben u. Aufbau einer berufsständischen Ordnung, 1948: M. Simonett, Die berufsständische Ordnung u. die Politik, 1951; O. v. Nell-Breuning, Wirtschaft u. Gesellschaft, Bd. I., 1956, 219-305.

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Verleger, der Lebensmittelhandel. Im Rahmen der gesellschaftlichen Kooperation sind die Glieder dieser Gruppen durch die gemeinsame gesellschaftliche Leistung enger verbunden und bilden so die Berufsgemeinschaft, die einen bestimmten Bedarf der Glieder der Gesamtgesellschaft befriedigt. Der Beruf ist die Erwerbsarbeit des Einzelmenschen, womit er sich an der gesellschaftlichen Kooperation beteiligt. Nach beiden Seiten, der gesellschaftlichen wie der einzelmenschlichen, ist daher die Berufsarbeit engstens mit den existentiellen Zwecken verknüpft. Denn sie stellt einerseits die Mitwirkung an einer gesellschaftlichen Leistung dar, anderseits gewinnen die Glieder der Gemeinschaft durch ihre Berufstätigkeit ihren Lebensunterhalt und sichern sich damit die materielle Grundlage für die Erfüllung der in den existentiellen Zwecken begründeten Lebensaufgaben. Tatsächlich gehört der beste Teil ihrer Zeit und Kraft der Berufsarbeit. Gewiß, zahllose Menschen sind gezwungen, ihr Brot durch Arbeit zu verdienen, die „uninteressant" und oft von untergeordnetem Werte ist. Indessen kann auch der Straßenkehrer das Bewußtsein haben, eine gesellschaftlich unerläßliche Leistung zu vollbringen. Ihr Charakter als einer gesellschaftlichen Leistung gibt jeder Arbeit ihren Adel. Der Christ sieht in der Berufsarbeit aber noch einen weiteren sittlichen und religiösen Adel: In der individuellen Veranlagung und Umwelt, die dem Individuum die Art des Leistungsbeitrages zur gesellschaftlichen Kooperation vorzeichnen, sieht der Christ den Willen des Schöpfers, daher den Ruf des Schöpfers zu einer bestimmten Art der Teilnahme an dieser Kooperation 3. Weil so einem weiten Bereich gesellschaftlicher und einzelmenschlicher existentieller Zwecke verbunden, wozu auch die sittlichen und religiösen gehören, müßte die Berufsarbeit einen wesentlichen Teil der Lebenserfüllung des Menschen bilden. Daß dies in der industriellen Gesellschaft zum Großteil nicht der Fall ist, ist einer der tiefstliegenden Gründe ihrer krisenhaften Entwicklung bis auf den heutigen Tag. An diesem Punkt die Voraussetzungen durch eine Umgestaltung des Sozialsystems für die allseitige Sinnerfüllung der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Existenz des Menschen zu schaffen, ist der Zweck der berufsständischen Ordnung. Wenn die gesellschaftliche Funktion der Berufsgruppe in der modernen Gesellschaft, wie wir sie an Beispielen erläutert haben, feststeht, dann wird der Beruf das natürliche Organisationsprinzip der Marktgemeinschaft. Die gesellschaftliche Funktion eines Berufszweiges begründet gemeinsame 8 Μ αχ Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1920, machte die Berufsidee zum Mittelpunkt seiner bekannten und aufsdilußreichen Beiträge zur Geschichte des modernen Kapitalismus. Seine Kritiker haben jedoch mit Recht eingewandt, daß er den Ursprung der Berufsidee zu sehr mit der kalvinistischen Ethik verbindet und der gewaltigen, gesellschaftsformenden Kraft der Berufsidee im mittelalterlichen Zunftsystem nicht gerecht wird; über die vorkalvinistische Zeit: W. Sdiwer, Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters, 1934.

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Interessen und gemeinsame Verantwortlichkeiten aller daran Beteiligten. Das Wissen um diese Verantwortung hat sich tatsächlich oft genug als entscheidend erwiesen für eine friedliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen Kapital und Arbeit in den einzelnen Industriezweigen: Um des allgemeinen Interesses willen haben sich beide Seiten bereitgefunden, trotz aller Interessengegensätzlichkeiten sich um Aufrechterhaltung der Produktion zu bemühen. Dadurch erkennt der Wirtschaftszweig an, daß er sich als Ganzes verantwortlich weiß für die Versorgung der Gemeinschaft mit Gütern, deren Bereitstellung seine gesellschaftliche Aufgabe ist. Gewiß aber wäre es unrealistisch, nicht zu sehen, daß das unmittelbar treibende Motiv der Haltungen auf Seiten der organisierten Arbeit wie des organisierten Kapitals das Interesse ist. Aber gerade dieses selbst fordert Verantwortungsbewußtsein. Denn die Arbeiter sehen wohl, daß sie sich auf die Dauer befriedigende und steigende Löhne nur sichern können, wenn ihr Industriezweig als Ganzes sich günstig entwickelt und als Ganzes im Rahmen der Volks- und Weltwirtschaft sich zur Geltung zu bringen vermag. Ähnlich sagen sich die Arbeitgeber, daß das Gedeihen ihrer Unternehmungen wesentlich von der sozialen Befriedigung der Arbeiterschaft und ihrem aktiven Interesse an der Produktivität ihrer Arbeit abhängt. der BerufsgemeinWir finden demnach eine doppelte Verantwortung schaft in Anbetracht ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Kooperation: erstens die Verantwortung für die im Dienste der Gesamtgesellschaft zu erbringende Leistung, das ist vor allem für die Produktivität nach Menge und Qualität; zweitens die Verantwortung für ihre eigenen Glieder, das ist einerseits für den der gesamten Berufsgruppe zukommenden Anteil am Sozialprodukt, anderseits für die den berechtigten Interessen von Eigentum und Arbeit entsprechenden Einkommen aus dem Gesamtleistungserfolg der Berufsgemeinschaft. Diese doppelte Verantwortung begründet Eigenzuständigkeiten der Berufsgemeinschaft, ihre Autonomie, ihre Selbstverwaltung, im ganzen Ausmaß der Regelungen, die für die Erfüllung der in dieser Verantwortung begründeten Aufgaben erforderlich sind. Der Zusammenhang dieser doppelten Verantwortung mit den existentiellen Zwecken des Menschen erhellt aus dem schon Gesagten: Der Mensch erfüllt durch die Teilnahme an der gesellschaftlichen Kooperation eine wesenhafte gesellschaftliche Aufgabe und erfüllt zugleich durch den damit erfolgenden Erwerb des Lebensunterhalts eine wesenhafte individuelle Lebensaufgabe. Verantwortung für die Erfüllung von Lebensaufgaben, wurzelnd in existentiellen individuellen und gesellschaftlichen Zwecken, begründet, so haben wir (Kap. 35) gesehen, natürliche Rechte, hier Rechte der Berufsgemeinschaften.

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Um MißVerständnisse auszuschließen, soll noch eine genauere Festlegung der Grenzen dieser Autonomie erfolgen. Da es Aufgabe des Staates ist, darauf zu sehen, daß alle Tätigkeiten und Bestrebungen von Gruppen sich dem Allgemeininteresse einfügen, kommt ihm diese Aufgabe auch hinsichtlich der verschiedenen Berufsgemeinschaften zu. Die staatliche Ordnungsgewalt (Gesetzgebung und Regierung) wird vor allem darauf zu sehen haben, daß die Berufsgemeinschaften nicht einfach als Interessenverbände in Tätigkeit treten; dabei würden unfehlbar die stärkeren auf Kosten der schwächeren sich ihre Vorteile im Widerstreit zur sozialen Gerechtigkeit zu sichern wissen. Um zur Erfüllung dieser Aufgabe befähigt zu sein, muß die staatliche Hoheitsgewalt in der Ausübung ihrer Ordnungs- und Gemeinwohlfunktion gegenüber Macht und Druck der Interessenverbände wieder hergestellt werden. Daß die Verbände Einfluß nehmen auf die politische Willensbildung ist ihr gutes Recht. Je mehr aber heute der Staat zur Resultante der Kraftverhältnisse von Interessengruppen wird, erwächst der Demokratie schwere Gefahr. Der Autonomie der Berufsgruppe ist demnach durch die Ordnungsfunktion der staatlichen Hoheitsgewalt eine unzweifelhafte Grenze gesteckt. Nach der anderen Seite ist sie begrenzt durch die Rechte ihrer Untergruppen, Kapital und Arbeit, zur Wahrung ihrer Sonderinteressen. Diese Gruppen behalten ungeschmälert das Recht, Vereinigungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zum Schutz ihrer Sonderinteressen zu bilden; weiters das Redit des Zusammenschlusses mit gleichberechtigten Organisationen zwecks gegenseitiger Unterstützung, wie sie in den heutigen nationalen Verbänden der Gewerkschaften und jenen der Unternehmervereinigungen bestehen; schließlich muß ihnen auch das Streikrecht als letztes Mittel gesichert bleiben, obwohl eine berufliche Organisation der Gesellschaft in ihrem Selbstverwaltungsbereiche Organe und Einrichtungen schaffen wird, die eine friedliche Beilegung aller Streitigkeiten nach dem Prinzip der Gleichberechtigung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer ermöglichen. Eine solche Maschinerie des Schlichtungs- und Schiedsgerichtsverfahrens nach streng demokratischen Methoden wird Kraftproben wie Streiks und Aussperrungen als Mittel der Beilegung von sozialen Streitfällen wenig aussichtsreich machen, da ihre Anwendung keine Unterstützung durch die öffentliche Meinung finden dürfte angesichts ihrer Vermeidbarkeit sowie ihrer nachteiligen Auswirkungen auf das Allgemeininteresse. Der demokratische Korporativismus, oder, was ein anderer Ausdruck dafür ist, die soziale Demokratie, will die Arbeit zum vollen Status eines Ordnungsprinzips in Gesellschaft und Wirtschaft erheben. Der individualistische Liberalismus machte das Eigentum, und zwar das Kapitaleigen-

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tum, zum bestimmenden Prinzip der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Er betrachtete die Arbeit nur als ein Mittel im Dienste des Erwerbsund Profitinteresses, dementsprechend nur als Produktionsfaktor und Ware. Der Sozialismus dagegen denkt hauptsächlich an die gesellschaftliche Funktion der Arbeit. Er sieht die Lösung des Sozialproblems der Arbeit in der ausschließlichen Beherrschung des sozialwirtschaftlichen Gesamtprozesses durch die Arbeit; die Voraussetzung bilde das Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln und die staatliche Planung und Kontrolle des sozialwirtschaftlichen Prozesses. Dabei bleibt jedoch die Arbeit genauso geplant wie in der kapitalistischen Wirtschaft: Dem einzelnen Arbeiter ist in der sozialistischen Wirtschaft keine unmittelbare Mitverantwortung und Mitbestimmung hinsichtlich des Ablaufes und der Zweckerfüllung des sozialwirtschaftlichen Prozesses ermöglicht. Nur eine solche Mitverantwortung und Mitbestimmung könnte die Arbeit aus der Stellung des Produktionsfaktors, der durch andere geplant, dirigiert und kontrolliert ist, befreien und dem Arbeiter wahrhafte Lebenserfüllung durch seine Berufsarbeit sichern im Bewußtsein, daß er durch seine unmittelbare Beteiligung an der Lenkung und Erfolgsgestaltung des Wirtschaftsprozesses gleicherweise eine Funktion im Dienste der Gesellschaft wie in seinem Interesse erfüllt. Dafür könnte die berufsständische Ordnung die Voraussetzungen schaffen. Dem Arbeiter wird der volle Einsatz seiner Persönlichkeit im ganzen Bereich seiner Berufsarbeit ermöglicht. Es ist das Problem, das der Sozialismus nicht gesehen hat und mit seiner Art von behördlich gelenkter Planwirtschaft auch nicht zu lösen vermag. Denn die Sozialisierung der Produktionsmittel legt alle Gewalt in die Hände der staatlich-zentralen Planungs- und Lenkungsbehörden. Die Arbeit bleibt geplant und gelenkt wie das dem Staate übereignete Kapital. Die unmittelbare Mitverantwortung und Mitbestimmung des Arbeiters am sozialwirtschaftlichen Prozeß setzt die Gleichstellung der Arbeit mit dem Eigentum als Ordnungsprinzip der Sozialwirtschaft voraus, daher die Partnerschaft von Arbeiter und Arbeitgeber in den gemeinsamen Verantwortlichkeiten auf allen Ebenen des sozialwirtschaftlichen Prozesses. Grundlage der Selbstverwaltung der Berufsgemeinschaft ist das Prinzip der Gleichberechtigung (Parität) von Arbeitern und Arbeitgebern in der Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten. Entscheidend für die Gleichberechtigung ist nicht die Kopfzahl auf beiden Seiten, sondern die Gleichheit des Status der beiden Gruppen der Arbeiter und Arbeitgeber bei der Regelung ihrer gemeinsamen Angelegenheiten. Nach diesem Prinzip der Gleichberechtigung erfolgt heute die Regelung solcher Angelegenheiten durch die Kollektivvertragsausschüsse. Die Führung des Unternehmens

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selbst fällt nicht in den Bereich der unmittelbar gemeinsamen Interessen. Sie bleibt Sache des Arbeitgebers. Ein Gebiet gemeinsamen Interesses der ganzen Berufsgemeinschaft sind jedoch die Preise des Industriezweiges und der Volkswirtschaft im ganzen. Die allgemeine Wohlfahrt ist dann am besten gesichert, wenn der Wettbewerb seine Sozialfunktion erfüllt und die Preise in Bewegung hält in der Richtung zu den niedrigsten Kosten. Denn dann erfährt die Kaufkraft des Geldeinkommens der Konsumenten, der Arbeiterschaft, eine ständige Steigerung. Unnachgiebig auf die Verwirklichung der Sozialfunktion des Wettbewerbs hinzuwirken ist demnach eine der wichtigsten Funktionen einer beruflich organisierten Gesellschaft. Sie müßte durch Ausschüsse erfüllt werden, die nach dem Prinzip der Gleichberechtigung von Arbeitern und Arbeitgebern aus allen Gruppen gebildet werden, die an der einen besonderen Preis betreffenden Wettbewerbslage unmittelbar interessiert sind. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Wettbewerbskontrolle durò Preisfixierungen, sondern um das genaue Gegenteil: die Preisbewegung durch den Leistungswettbewerb mit dem Ziel größtmöglicher volkswirtschaftlicher Produktivität in Gang zu halten. Arbeit und Eigentum gleichberechtigt in Mitverantwortung und Mitbestimmung nach der Seite der Preisgestaltung wie der Lohngestaltung zu verbinden, ist der entscheidende Schritt berufsständischer Ordnung über die liberalistische und sozialistische Wirtschafts- und Sozialordnung hinaus, zugleich die entscheidend Kapital und Arbeit in der einzelnen Berufsgemeinschaft einigende Funktion, eine Funktion, die, was von größter Bedeutung ist, das Sonderinteresse der einzelnen Berufsgemeinschaft in das Gesamtinteresse der Volkswirtschaft einordnet, weil sie es dem Sozialzweck der Wirtschaft unterordnet. All das wird bei der Behandlung der Wirtschaftsordnung (Kap. 181) im einzelnen zu erörtern sein. Wir würden damit zu einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung gelangen, wie sie J. M. Keynes folgendermaßen umschrieb: „Ich glaube, daß vielfach die ideale Größe der Kontroll- und Organisationseinheit irgendwo zwischen dem Individuum und dem modernen Staat liegt. Ich behaupte daher, daß der Fortschritt in der Bildung und Anerkennung von halb autonomen Körperschaften innerhalb des Staates liegt — Körperschaften, deren Maßnahmen im eigenen Bereich nur durch das öffentliche Interesse nach ihrem besten Wissen bestimmt und von deren Entschlüssen Rücksichten auf Privatinteressen ausgeschlossen sind, obwohl vielleicht bis zur Entfaltung eines größeren Altruismus Raum gelassen werden muß für die Sonderinteressen von Gruppen, Klassen oder Universitäten — also Körperschaften, die im normalen Verlauf der

85. Die Berufsgemeinsaft Dinge

vorwiegend

Grenzen,

letztlich

autonom aber

der

sind innerhalb im

Parlament

der

607 ihnen

ruhenden

vorgezeichneten

Souveränität

der

Demokratie unterstellt sind. Ich schlage daher sozusagen eine Rückkehr zur mittelalterlichen Auffassung

gesonderter

Autonomien vor.

In

Eng-

land sind jedenfalls Korporationen eine Selbstverwaltungsform, die nicht aufhörte, von Bedeutung zu sein, und sich mit unseren Institutionen wohl verträgt 4." Was wären die Selbstverwaltungsgebiete in einer nach Berufsgemeinschaften Wir illustrieren sie wieder an Elementen, die im organisierten Gesellschaft? Kern schon in den bestehenden beruflichen Organisationen und den gemeinsamen Ausschüssen von solchen zu finden sind. Die Selbstverwaltung würde umfassen: 1. Die Herbeiführung des sozialen Friedens durch den Kollektivvertrag in der Regelung der Arbeits- und Lohnbedingungen der einzelnen Berufszweige sowie durch Schlichtung oder schiedsgerichtliche Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten. 2. Die Produktivitätsförderung durch die Einrichtung von gemeinsamen Ausschüssen zur „Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur fortwährenden Verbesserung der Produktivität", wie es in der oben erwähnten Philadelphia-Deklaration der Internationalen Arbeitskonferenz heißt. 3. Im Bereich der Sozialpolitik die Erfüllung der durch die besonderen Verhältnisse des Wirtschaftszweiges bedingten Aufgaben innerhalb des Rahmens der sozialpolitischen Gesetzgebung des Staates: „Die Vorbereitung und Anwendung sozialer und wirtschaftlicher Maßnahmen", um Worte der eben erwähnten Deklaration zu gebrauchen. 4. Im Bereich der Wirtschaftspolitik die Steuerung der Wirtschaft durch Sicherung der Erfüllung der Sozialfunktionen des Wettbewerbes, was, wie oben dargelegt wurde, eine der Hauptaufgaben der Selbstverwaltung der berufsständisch geordneten Wirtschaft bilden würde. 5. Die Pflege des beruflichen Verantwortungsund Ehrbewußtseins, bei den Berufsangehörigen, ohne das keine der individuellen und gesellschaftlichen Aufgaben des beruflichen Lebens den Sachforderungen entsprechend erfüllt werden kann. 6. Begrenzte richterliche Befugnisse bei berufswidrigem Verhalten von Berufsangehörigen. Einige Berufsorganisationen, wie die der Ärzte oder Rechtsanwälte, üben in vielen Ländern solche Vollmachten aus, die oft bis zur Ausschaltung von der Ausübung der Berufstätigkeit gehen. 4 /. M. Keynes, The End of Laissez faire, 1926, 41—42: „I believe that in many cases the ideal size for the unit of control and organization lies somewhere between the individual and the modern State. I suggest, therefore, that progress lies in the growth and the recognition of semiautonomous bodies within the State-bodies whose criterion of action within their own field is solely the public good as they understand it, and from whose deliberations motives of private advantage are excluded, though some place it may still be necessary to leave, until the ambit of mens' altruism grows wider, to the separate advantage of particular groups, classes, or faculties — bodies whidi in the ordinary course of affairs are mainly autonomous within their prescribed limitations, but are subject in the last resort to the sovereignty of the democracy expressed through Parliament. I propose a return, it may be said, towards mediaeval conceptions of separate autonomies. But, in England at any rate, corporations are a mode of government which has never ceased to be important and is sympathetic to our institutions/'

608

Die kleineren gesellschaftlichen Einheiten

7. Die berufliche Bildungspolitik, besonders die reine Berufsschulung sowie die berufliche Fortbildung der Erwachsenen. Beides würde gleicherweise auf die Förderung der persönlichen Eignung für die Berufsarbeit und des Interesses an ihr sowie auf die Eignung der einzelnen zur Anteilnahme an der beruflichen Selbstverwaltung gerichtet sein. 8. Die Aufstellung eines Berufsstatuts durch jede Berufsgemeinschaft als rechtlicher Grundlage für die Erfüllung aller dieser Selbstverwaltungsaufgaben im Rahmen der vom Staate kraft seiner Ordnungsfunktion getroffenen Regelungen. Hand in Hand mit einer sich ausdehnenden Selbstverwaltung durch die beruflichen Organisationen müßte eine wesentliche Rückbildung der Zuständigkeitsbereiche und der Überbürokratisierung der heutigen Staatsverwaltung gehen. Die Umkehrung der gegenwärtigen Entwicklung zu Staatsallmacht und Staatsallzuständigkeit, die für die freie Gesellschaft und die echte Demokratie so gefährlich sind, würde eine der bedeutungsvollsten Früchte eines demokratischen Korporativismus sein. Die hypertrophische Staatsverwaltung unvermindert bestehen zu lassen und gleichzeitig die Selbstverwaltung der Berufsgemeinschaften auszubilden, würde das Übel und die Komplikationen nur vergrößern, anstatt sie zu heilen. Vor allem aber muß ein sehr großer Teil dessen, was heute durch die von Ministerien ausgeübte „delegierte Gesetzgebung", dieses Hauptmittel unkontrollierter Gewaltausübung, geschieht (vgl. Kap. 134 und 139), an die beruflichen Selbstverwaltungskörper übergehen. Diese sind es, die die Einzelheiten der Gesetzesanwendung zumeist angehen, mit der heute so weitgehend Ministerialerlässe befaßt sind. Für den Übergang schiene es am zweckmäßigsten zu sein, beratende Ausschüsse aus den Berufsorganisationen zu bilden, die mit den über solche Befugnisse verfügenden Ministerien zusammenarbeiten und so den Einfluß der Berufsgemeinschaften zur Geltung bringen. Abschreckend in Fragen der Organisation der Gesellschaft nach Berufsgemeinschaften müssen die verschiedenen doktrinären Versuche wirken, detaillierte Organisationsschemen mit unzähligen Organisationen und Institutionen auszuarbeiten. Die Wirklichkeit selbst hat jedoch diese Frage längst gelöst. In allen Kulturländern finden wir nämlich eine weitgehende Gleichartigkeit der beruflichen Organisationen. Die Natur selbst, wie sie sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchsetzt, zeigt auch hier den Weg: Es ist die Verschiedenartigkeit der gesellschaftlichen Funktionen, nach denen sich die bestehenden Berufsorganisationen scheiden. Ihre Gliederung erfolgt in der Hauptsache nach der Gliederung des Bedarfs an Gütern und Diensten in der modernen Gesellschaft und den dadurch bedingten Leistungsgruppen. So finden wir heute die beruflichen Organisationen in Gewerbe und Handwerk, wie die der Bäcker, Schuster, Friseure; die Organisationen der freien Berufe, wie die der Ärzte, Rechtsanwälte, Notare; die industriellen Organisationen in den Arbeitgebervereinigungen und parallelen Gewerkschaften, so in der Kohlenindustrie, Eisenindustrie, Textilindustrie; neueren Datums sind die beruflichen Organisationen der Ingenieure, Buchprüfer, Dentisten, der Journalisten. Die Berufsgruppen, die in gesonderte Arbeitgeberund Arbeitnehmerorganisationen gespalten sind, bilden zum Zwecke der Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben und Interessen verbindende Ausschüsse. Dafür zeigt die bisherige Entwicklung des Kollektivvertragswesens klar den Weg. Die Entwicklung der modernen Gesellschaft bietet aber auch genügend Fingerder beruflich organisierten Gesellschaft: Man braucht zeige für die Grundstruktur nur an die Unterteilung der staatlichen Verwaltungszweige zu denken, die sich

609

85. Die Berufsgemeinsaft

im Anschluß an die natürliche Gliederung des modernen Berufslebens in allen Kulturstaaten fast völlig parallel entwickelt hat. Sogar ein so neuartiger Versuch der Organisierung der Gesellschaft wie der Sowjetrußlands ist im wesentlichen dem gleichen Schema gefolgt. Diese Gliederung muß somit in den Dingen selbst begründet sein. Ihre Hauptzweige sind: Heerwesen, öffentlicher Dienst, Unterricht, Landwirtschaft (mit Forstwesen), Industrie (und Bergbau), Gewerbe, Handel, Verkehrswesen, Finanzwesen, Gesundheitswesen; Hauptgruppen bilden weiters die Berufsgemeinschaften im kulturellen Bereich, wie Universitäten, Lehrer, Presse, Künstler usw. Bei all dem werden im einzelnen die länderweisen wirtschaftlichen und kulturellen Verschiedenheiten zu berücksichtigen sein. Zusammenfassend können wir vier Prinzipien für die Gliederung der Berufsorganisationen in der modernen Gesellschaft aufstellen. 1. Diese Gliederung und weitere Entfaltung muß von den bestehenden beruflichen Organisationen ausgehen und darf sich nicht auf eine vorgefaßte, konstruierte Schematik festlegen. 2. Entscheidend für diese Gliederung und Entfaltung sind zunächst die gesellschaftlichen Ordnungsfunktionen, die von den einzelnen Berufsgruppen bereits ausgeübt werden, man denke an die Kollektivvertragsausschüsse der Industrie. Ausschüsse mit ähnlichen Funktionen können leicht in den übrigen Wirtschaftszweigen gebildet werden. Um solche Funktionen herum müssen sich die Organisationen der einzelnen Berufsgemeinschaften wie Gehäuse bilden. 3. Der Schwerpunkt der beruflichen Selbstverwaltung liegt bei den regionalen, in größeren Städten bei den lokalen Berufsgruppen, nicht bei den zentralen Organisationsstellen der Berufsgemeinschaften. Die wichtigsten Wirkungsbereiche der letzteren sind: Berufungsinstanzen für die ersteren in Schlichtungs- und Schiedsgerichtsfällen zu stellen; die Bildung und Entsendung von Vertretungsausschüssen zur Zusammenarbeit mit der staatlichen Verwaltung und Gesetzgebung; die Einrichtung von statistischen, wirtschaftspolitischen und wissenschaftlichen Forschungsstellen im Interesse des ganzen Berufszweiges im Staate. 4. Die berufliche Organisation einer Gesellschaft muß elastisch und zur Anpassung an die fortschreitende Verzweigung der Bedarfsgliederung und Leistungsgliederung fähig sein; sie muß für die Unterteilungen von Berufsorganisationen Raum bieten, wenn sie durch das Fortschreiten der industriellen Arbeitsteilung geboten ist, es sei, um ein jüngstes Beispiel zu erwähnen, an die Abtrennung der Radioindustrie von der Elektroindustrie erinnert. Der Unterschied

heutiger und mittelalterlicher

korporativer

Ordnung

Die Ähnlichkeit zwischen der von ihm vorgeschlagenen Ordnung und dem mittelalterlichen Zunftsystem, auf das Keynes in der oben wiedergegebenen Stelle hinweist, bezieht sich hauptsächlich auf das korporative Prinzip als solches und auf das damit verbundene Prinzip der Selbstverwaltung. Der Unterschied zwischen mittelalterlichen und modernen Formen und Funktionen ist jedoch als so groß zu denken, daß er nur ermessen werden kann an dem Umfang der Veränderungen im Wandel von der mittelalterlichen zur modernen Wirtschaft und Gesellschaft. Der Unterschied ist vielseitig: 1. Eine berufliche Organisation der heutigen Gesellschaft könnte als Mittel der Verwirklichung der sozialen Demokratie nur in engster Wechselbeziehung mit der modernen politischen Demokratie eingerichtet werden; sie würde diese wesentlich ergänzen, aber zugleich in ihr ein starkes Gegengewicht finden. Das kann 39

Messner, Naturrecht

610

Die kleineren gesellschaftlichen Einheiten

offensichtlich nur zum größten Vorteil beider sein, da sich dann berufliche Selbstverwaltung und politische Autorität die Waage halten würden. Sie können dies, wenn die berufliche Selbstverwaltung einen hinreichenden Zuständigkeitsbereich besitzt, aber zugleich die politische Autorität stark genug ist, die Sonderinteressen der Berufsgruppen dem Allgemeininteresse unterzuordnen. Das politische Parlament wird sich dann auf das Allgemeininteresse und das Staatsinteresse konzentrieren können, während die Institutionen und Vertretungskörper der beruflichen Organisationen, darunter eine zentrale Wirtschaftskammer, für die Befriedigung der Gruppeninteressen und ihren gegenseitigen Ausgleich sorgen werden. Dies würde ermöglichen, die Funktion der Parteien und des Parlaments auf die besten Geister der Nation zu begründen, anstatt auf die Vertretung von Gruppeninteressen, ein Problem, das schon Tocqueville als Lebensproblem der modernen Demokratie gekennzeichnet hat (vgl. Kap. 134), dessen Lösung jedoch in der formalen Demokratie nicht gefunden werden kann, vielmehr ihre Fortentwicklung zur sozialen Demokratie der berufsständischen Ordnung voraussetzt. 2. Die durch die Produktionstechnik bedingte Trennung von Kapital und Arbeit bildet einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen der mittelalterlichen und der heutigen Gestalt eines demokratischen Korporativismus; denn sie muß zur getrennten Organisation von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zum Zweck des Schutzes der beiderseitigen Interessen führen. Dieser Unterschied wird besonders unterstrichen werden durch das Prinzip der völligen Gleichberechtigung in der Maschinerie für den Ausgleich dieser Interessen, ein Zug, der im mittelalterlichen Zunftsystem kaum ansatzweise entwickelt war. Das hauptsächliche Streben des mittelalterlichen Gesellen ging auf Erwerb der Meisterschaft, und die besonderen sozialen Schwierigkeiten des Zunftsystems beruhten darauf, daß der Lehrling nicht Geselle werden und eine Familie gründen konnte, auch daß er wegen der Zunftsperre keine Aussicht hatte, Meister zu werden. In der heutigen Gesellschaft ist es die erste Aufgabe eines demokratischen Korporativismus, dem Gliedes der Gemeinschaft zu geben, Arbeiter den Status eines gleichberechtigten in deren sozialwirtschaftlicher Kooperation er mitarbeitet, und damit die soziale Demokratie zu verwirklichen. 3. Der dritte Unterschied liegt darin, daß in der mittelalterlichen Stadt die entscheidende Kontrolle des Wirtschaftssystems in den Händen der Meister lag, die die Zünfte beherrschten. Der heutige Korporativismus müßte dagegen die Arbeit zu dem mit dem Eigentum gleichberechtigten Ordnungsprinzip der Sozialwirtschaft machen und damit der Arbeit ein gleiches Mitbestimmungsrecht in der Kontrolle des sozialwirtschaftlichen Prozesses sichern, wie wir es oben geschildert haben. 4. Im Mittelalter konnte sich die Zunft gegen die Zulassung von neuen Meistern „schließen" und damit voraussichtlichen Konkurrenten die Ausübung des Gewerbes unmöglich machen. Der damit von „Arbeitslosigkeit" bedrohte Bevölkerungsüberschuß der mittelalterlichen Städte wurde größtenteils von den Ostsiedlungsgebieten und vom Uberseehandel aufgenommen. Das gegenwärtige Wirtschaftssystem muß durch Wirtschaftswachstum vermittels der Ausweitung des inneren Marktes und daher durch fortschreitende Arbeitsteilung für neue Arbeitskräfte bei steigenden Wohlstandsansprüchen Raum schaffen. Die heutige Berufs„offen" sein für neue Unternehmen, organisation muß daher grundsätzlich Dieses Prinzip verlangt eine Elastizität der organisatorischen Struktur eines

85. Die Berufsgemeinschaft

611

modernen Korporativsystems, die dem mittelalterlichen völlig fremd war. Das letztere war seiner ganzen Natur nach statisch, ein heutiges Korporativsystem muß dynamisch sein. Durch „Schließung der Zunft" vermochten die mittelalterlichen Meister Monopole zu bilden. Der Beweggrund dafür war im Wesen der gleiche wie der, der heute zur Bildung von Kartellmonopolen führt: die Einkommenssicherung durch Ausschluß des Wettbewerbes. Es wäre eine Grundfunktion einer modernen, nach Berufsgemeinschaften organisierten Gesellschaft, die Bildung von Monopolverbänden zu überwachen und die Freiheit des Wettbewerbes zu gewährleisten, soweit sie im allgemeinen Interesse gelegen wäre. Der Wettbewerb würde demnach geordnet, aber auch geschützt sein durch eine nach dem Paritätsprinzip ausgeübte Kontrolle, wie wir sie oben angedeutet haben. Geordnete Freiheit im Bereich der Wirtschaft wäre damit der Grundzug eines demokratischen Korporativsystems. 5. In einem modernen demokratischen Korporativsystem würden, wie im mittelalterlichen, die vereinbarten Regelungen automatisch für die ganze Berufsgemeinschaft und alle ihre Glieder bindend sein, und alle würden zu Beitragsleistungen für die Bestreitung der Auslagen der Organisationen auf Arbeitgeberund Arbeitnehmerseite verpflichtet sein. Durch das Zusammenwirken beider würde die Willensbildung der Berufsgemeinschaft als solcher erfolgen. Anders als im Mittelalter würde es jedoch in viel höherem Grade der freien Entscheidung einzelner überlassen bleiben, ob sie einen mehr oder weniger großen Anteil an der Tätigkeit von Gewerkschaft oder Unternehmerorganisation nehmen und überhaupt ihnen als Mitglieder beitreten wollen. Das Wahlrecht bei der Bestellung der führenden und leitenden Beamten der Gewerkschaften und Unternehmerverbände würde jedoch durch die Mitgliedschaft an diesen OrganisatioDruck für eine aktive Beteiligung nen bedingt sein. Damit würde ein indirekter an der Willensbildung der Berufsgemeinschaft ausgeübt werden, was indessen im Interesse einer kraftvollen sozialen Demokratie nur erwünscht sein kann. Diejenigen, die sich von dieser Beteiligung ausschließen, sind' trotzdem durch die Abmachungen und Regelungen, die durch die gemeinsamen Ausschüsse der Organisationen der Arbeiter und Arbeitgeber getroffen werden, gebunden, genauso wie in der politischen Demokratie jeder Bürger durch die staatlichen Gesetze gebunden ist, auch wenn er nicht Mitglied einer Partei ist und sich an der Wahl der Gesetzgebungskörperschaft nicht beteiligt hat. Unterschied

zwischen demokratischem

und faschistischem

Korporativismus

Unsere Erörterung der beruflichen Organisation der Gesellschaft darf nicht abgeschlossen werden ohne Hinweis auf den völligen Gegensatz des eben besdiriebenen demokratischen Korporativismus zum faschistischen Korporativismus in Italien zwischen den beiden Weltkriegen. Auf eine kurze Formel gebracht, läßt sich der Unterschied zwischen den beiden so ausdrücken: im faschistischen Korporativismus sind die beruflichen Organisationen Organe der Staatsverwaltung, im demokratischen Korporativismus sind sie Selbstverwaltungskörperschaften. Für den faschistischen Korporativismus ist die berufliche Organisation der Gesellschaft das Mittel zur Unterordnung der „Gesellschaft" unter die totalitäre Staatsgewalt, für den demokratischen Korporativismus ist sie das Mittel der Gewährleistung der Freiheit der gesellschaftlichen Bewegungskräfte durch die wirtschaftliche und soziale Selbstverwaltung. 30·

612

Die kleineren gesellschaftlichen Einheiten

Die ideologische Grundlage des faschistischen Korporativismus ist das Prinzip der „Immanenz des Staates im Individuum 5 " und der „Identifizierung der Gesellschaft mit dem Staate e ". Diese Prinzipien mit ihrer Verwerfung des Dualismus von Staat und Gesellschaft lassen keine eigene Autonomie beruflicher Organisationen zu. Das schließt eine begrenzte und delegierte Autonomie im Rahmen genauer staatlicher Regelungen nicht aus. Gegenüber den Versuchen einiger Juristen und Soziologen im faschistischen Italien, den Korporationen theoretisch den Status von Rechtspersönlichkeiten und damit ein ursprüngliches Recht der Autonomie zu sichern, erklärte der Erlaß (1. Juni 1926, Art. 43) über die Durchführung des Kollektiv Vertragsgesetzes (3. April 1926) autoritativ: „Die Korporation besitzt keine Rechtspersönlichkeit, sondern ist ein Organ der Staatsverwaltung"; dies wurde noch besonders klargemacht im Artikel 46: „Das korporative Organ ist in jeder Hinsicht abhängig vom Minister für die Korporationen." Die Carta del lavoro stellte außerdem fest: „Die Korporationen bilden die Einheitsorganisationen der Produktionskräfte und repräsentieren die Gesamtheit ihrer Interessen. Kraft dieser allumfassenden Vertretung und zufolge des nationalen Charakters dieser Interessen sind die Korporationen richtigerweise als staatliche Organe aufzufassen." Darüber führte Bottai aus: „Das Syndikat vervielfältigt seine Macht im Staate, obwohl es gestern sich nodi gegen den Staat bewaffnete oder herablassend die Mitarbeit unter bestimmten Bedingungen anbot. Die ganze Originalität des faschistischen Syndikalismus liegt darin: daß der Staat die syndikale Funktion in den Bereich seiner Gewalt aufnimmt, ohne sie zu zerstören oder sich von ihr beherrschen zu lassen7." Auf Grund des Totalitätsanspruches des Staates gemäß dem Prinzip der Identität von Staat und Gesellschaft mußte die berufliche Organisation der Gesellschaft das werden, wozu sie der faschistische Korporati vismus gemacht hat: ein Werkzeug zur Beherrschung von Gesellschaft und Wirtschaft durch den Staat. Dagegen bildet das Ziel des demokratischen Korporativismus die Untermauerung der politischen Demokratie durch die soziale Demokratie.

86. Die Klasse Die Klassenspaltung ist nidn nur eine Fehlentwicklung wie man in Kreisen der christlichen Sozialreform

der Gesellschaft,

vielfach

anzunehmen

geneigt ist. Es gibt nicht nur eine destruktive Klassenidee, wie sie die Marxsche Theorie vertritt, sondern auch eine konstruktive Klassenidee. Ein Blick in die Geschichte lehrt uns, daß es kaum ein Stadium in der Entwicklung einer Gesellschaft gibt, in dem wir nicht Klassengegensätze finden. M a n lese allein die Psalmen, und man r wird finden, daß das israelitische V o l k nicht ohne Schicht von sozial Bedrückten war. I n dem auf der Sklaverei basierten Staat des Altertums spitzt sich der Gegensatz in den 5 G. Gentile , Origini e Dottrina del Fascismo, 3. Aufl., 1934, 51. • G. Bottai , Grundprinzipien des korporativen Aufbaues in Italien, 1936, 6. 7 G. Bottai, op. cit. 21.

86. Die Klasse

613

Sklavenaufständen zu. In der mittelalterlichen Stadt erheben sich die Gesellen gegen die Meister in Streiks, ja sogar in blutigen Aufständen. In der Feudalordnung finden wir die Klassen der Grundherren und Leibeigenen. In der kapitalistischen Gesellschaft stehen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Bourgeoisie und Proletariat gegenüber. Der Klassengegensatz muß also mehr sein als nur eine Folge einer bestimmten Wirtschaftsstruktur, er muß schon eine Begründung in der Natur des Menschen haben. Eine Gesellschaftslehre, die der Wirklichkeit gerecht werden will, wird daher die Ursadien des Klassenkampfes weder ausschließlich in Auswirkungen der marxistischen Klassenideologie suchen noch auch an die Möglichkeit einer Gesellschaftsordnung denken, in der die Klassengegensätze völlig fehlen würden. Klassengegensätze sind nicht nur ein tatsächlicher Zug jeder Gesellschaft, der Gesellschaft selbst kommt in weitem sondern der wirkliche Fortschritt Maße durch die Wechselwirkung von Klassen zustande. Die ganze Geschichte der abendländischen Kultur zeigt, wie sehr ihr Fortschritt in der Richtung auf höhere soziale Ideale durchwegs mit der Dialektik von Klassenbewegungen zusammenhängt. Die Geschichte der Freiheit im westlichen Kulturbereich kann geradezu als Geschichte von Gegensätzen und gegenseitigen Einwirkungen von Klassen bezeichnet werden. In den sozialen Bewegungen und ihren Gegenbewegungen der antiken, feudalen und kapitalistischen Gesellschaft sind es Klassen, wovon die einen um ihre sozialen Rechte kämpfen, die anderen einen Ausschlag des Pendels in die entgegengesetzte Richtung zu verhindern suchen. Es sind dies Spannungen, in denen sich die bleibenden sozialen Freiheitswerte kristallisieren und ihre fortschreitende Verwirklichung erfahren. Dieser den Klassengegensätzen entspringende dynamische Antrieb strahlt vom sozialen in den politischen, rechtlichen und kulturellen Bereich aus. Er führt den Adern des Gesellschaftsprozesses neues Blut zu und bringt in der institutionellen Struktur der Gesellschaft mächtigste Erneuerungskräfte zur Auswirkung. Für eine undoktrinäre, realistische Gesellschaftsauffassung stellen sich die Ursachen der Klassenspaltung folgendermaßen dar: 1. Interessengegensätze sind unvermeidlich, sobald sich die Bedarfsdekkung nicht mehr im einzelnen Haushalt, sondern vermittels gesellschaftlicher Arbeitsteilung vollzieht. Die Interessengegensätze sind dann eine natürliche Erscheinung, weil im Durchschnitt die egoistischen gegenüber den altruistischen Motiven überwiegen. Die dabei maßgebliche höhere Einschätzung eigener Leistungen und eigener Bedürfnisse gegenüber denen der anderen hat ihren psychologischen Grund in der Menschennatur selbst, so wie sie nun einmal ist. Die natürlichen Interessengegensätze müssen

614

Die kleineren gesellschaftlichen Einheiten

sich umso mehr auswirken, je weitgliedriger in einer Gesellschaft die Arbeitsteilung zur Deckung des Lebens- und Kulturbedarfs geworden ist. 2. Im engsten Zusammenhang damit steht „das Institutionelle" (vgl. Kap. 59) als Ursache von Klassengegensätzen. Dabei wirken sich weitgehend „Produktionsverhältnisse" und „Eigentumsverhältnisse" aus. Denn gesicherte Interessen", nämlich Interdaran knüpfen sich „institutionell essen, die in gesellschaftlichen Institutionen die Gewähr dauernder Durchsetzbarkeit besitzen (der von uns gewählte Ausdruck dürfte dem für die Soziologie höchst bedeutungsvollen, wörtlich nicht übersetzbaren englischen Ausdruck „vested interests" am besten entsprechen). Institutionell gesicherte Interessen sind aber keineswegs nur die an wirtschaftlich bedingte Machtverhältnisse gebundenen, sondern in noch höherem Maße die durch politische Machtverhältnisse begründeten. Es ist diese Institutionsgebundenheit von Interessen, die auf die Verfestigung des Sozialsystems selbst (vgl. Kap. 57) und auf die Verschärfung der Interessengegensätze hinwirkt. Trotz ihrer Tragweite sind die wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse ein sekundärer Faktor im Vergleich zu dem eingangs hervorgehobenen menschlichen Faktor. Sie beeinflussen die Form der Klassengegensätze, bilden aber nicht ihre letzte, in der menschlichen Natur selbst gelegene Ursache 1 . 3. Die Sozialgeschichte läßt nicht weniger klar einen anderen allgemeinmenschlichen Faktor in den Klassengegensätzen erkennen, nämlich den sittlichen. Er besteht im natürlichen Rechtssinn der sozial benachteiligten Gesellschaftsgruppen, denen der ihrer Leistung in der gesellschaftlichen Kooperation entsprechende Anteil am wirtschaftlichen Gemeinwohl und an den kulturellen Werten vorenthalten ist. Sie wissen die Gerechtigkeit auf ihrer Seite, wenn sie auf eine Änderung des Sozialsystems hinarbeiten. Die marxistische Bewegung würde niemals eine solche Kraft erlangt haben, wenn nicht der Glaube an die Gerechtigkeit der Sache der Arbeiterschaft die Massen in ihre Reihen gedrängt hätte. Es ist die dynamische Kraft des sittlichen Naturgesetzes, die die innerste Triebkraft der Klassendynamik bildet: Durch das natürliche Rechtsgewissen wissen sich die sozial benachteiligten Gruppen legitimiert zum Streben nach einer den Gemeinwohlzweck besser verwirklichenden Gesellschaftsordnung. 4. Eine gewichtige Ursache der Klassenspaltungen ist biologisch bedingt. Mit dem Ablauf der Zeit entarten herrschende, wohlhabende Klassen: eine 1 Die soziologische Theorie der Klassen unterschätzt die allgemein-menschlichen Faktoren in der Klassenbildung und will sie ausschließlich auf gesellschaftliche Faktoren zurückführen, setzt dabei zu sehr vereinfachend die institutionell in ihren Interessen gesicherte „Klasse" mit „Stand" gleich; so Max Weber, Wirtsdiaft und Gesellschaft, 1921, 177 ff., 631 ff.; K. Mannheim, Ideologie und Utopie, 1929; 172 ff.; H. Frey er, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, 1930. 264 ff.

86. Die Klasse

615

wohlbekannte Tatsache der Geschichte. Sie versagen dann in der Erfüllung der an ihren gesellschaftlichen Status gebundenen gesellschaftlichen Funktionen. Das antike, auf die Sklaverei begründete Sozialsystem brach nicht infolge von Entwicklungen der wirtschaftlichen Produktionstechnik zusammen, wie es nach der Marxschen Theorie sein müßte, sondern deswegen, weil immer weitere wesenhafte gesellschaftliche Funktionen im wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Bereich in die Hände der Sklaven übergingen, so daß diesen die Erlangung eines neuen gesellschaftlichen Status möglich wurde. Ähnlich ist das Entstehen des dritten Standes in der neuzeitlichen Gesellschaft weitgehend die Folge der Ausübung der wesenhaften Funktionen im Rechts-, Verwaltungs- und Militärbereich des modernen Staates durch den Mittelstand; daher war auch die Französische Revolution, wie heute allgemein zugegeben, im Grunde eine politische, nicht eine soziale Revolution. Diese Tatsachen allein wären Zeugnis genug für die Irrigkeit der Marxschen Begründung des Klassenphänomens auf die Gestaltung der „materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft", also technisch-ökonomische Faktoren. 5. Zu den bisher erörterten allgemein-menschlichen und gesellschaftlichUrsachen von Klasinstitutionellen kommen noch geschichtlich-politische senverhältnissen. Ihre Hauptform ist die Unterwerfung eines Volkes durch Krieg und seine Dienstbarmachung durch das Siegervolk. Dabei sind geschichtlich zwei Arten des Verhältnisses der herrschenden und der abhängigen Schichten zu verzeichnen: das innerstaatliche, wenn die beiden in staatlicher Gemeinschaft leben, und das koloniale, wenn ohne solche Gemeinschaft das Herrschervolk politische Obermacht zu Zwecken der wirtschaftlichen Ausbeutung staatlich fremder Gebiete benützt. Unsere Erörterung legt die folgende allgemeinste Definition nahe: Klassen sind gesellschaftliche Gruppen, deren Glieder verbunden sind durch die Gleichartigkeit des Strebens nach einer Änderung der Sozialordnung in ihrem Interesse oder nach einer Abwehr solcher Änderungen. Für den Begriff der Klasse ist somit die Gemeinsamkeit der Interessen das Primäre, die Leistung im Prozeß der gesellschaftlichen Kooperation das Sekundäre; für den Begriff der Berufsgemeinschaft (vgl. das vorausgehende Kapitel) ist dagegen die gemeinsame gesellschaftliche Leistung das Primäre, das gemeinsame Interesse das Sekundäre. Da Mängel größeren oder geringeren Ausmaßes in jedem Sozialsystem unvermeidlich sind, gehören Klassengegensätze größeren oder geringeren Grades zu den unausweichlichen Erscheinungen einer fortgeschritteneren Gesellschaft. Klassengegensätze werden jedoch zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Form und in verschiedener Stärke hervortreten. Manchmal werden sie ohne beträcht-

616

Die kleineren gesellschaftlichen Einheiten

lichere gesellschaftliche Spannungen durch evolutionäre soziale Reformen gemildert und ausgeglichen. Zu anderen Zeiten werden sie zu revolutionären Umwälzungen in der Gesamtstruktur der Gesellschaft und ihren grundlegenden Institutionen führen. Da jeweils die Verwirklichung des wirtschaftlichen und kulturellen Gemeinwohls Gegenstand der Auseinandersetzung ist, steht bei den Interessengegensätzen der Klassen immer die soziale Gerechtigkeit in Frage. Tatsächlich ist auch im Klassenkampf immer die Gerechtigkeit angerufen worden, und zwar gewöhnlich von beiden Seiten in betonter Weise. Die eine Seite dachte dabei vorwiegend an die bestehende, durch das Sozialsystem verwirklichte Gerechtigkeitsordnung, die andere Seite vorwiegend an natürliche Gerechtigkeitsprinzipien, auf die die Forderungen nach Änderungen des Sozialsystems und seiner Institutionen begründet wurden. Als Gruppen, die zur Sicherung ihrer Gruppeninteressen auf eine bessere Wirkungsweise des Sozialsystems hinarbeiten, kommt den Klassen die Stellung von kleineren Gruppen mit natürlichen Rechten zu. Diese Rechte sind: 1. Das Recht zur Klassenorganisation. Ohne dieses Recht hätte die Klasse nicht die Möglichkeit, auf die Neuordnung des wirtschaftlichen und kulturellen Gemeinwohls und auf die Neugestaltung der gesellschaftlichen Grundfunktionen hinzuwirken. Das Recht der Klassen in der fortgeschrittenen Gesellschaft auf ihre eigene Organisation ist nicht nur im Recht der freien Vereinigung für rechtmäßige Zwecke begründet, sondern auch in wesenhaften Forderungen des Gemeinwohls, weil durch die Auseinandersetzung der Klassen, wie schon erwähnt, Kräfte des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts entbunden werden. Die hauptsächlichsten dieser Auseinandersetzung dienenden Organisationen sind in der heutigen Gesellschaft die Gewerkschaften und die Arbeitgebervereinigungen. Alle totalitären Staaten verneinen das in Frage stehende Recht. Sie gründen sich alle auf ein System des Klassen- oder Parteimonopols oder beider zugleich. Die Ideologien und der Wille solcher monopolitischer Gruppen sind die allein zugelassenen formenden Kräfte in der „klassenlosen Gesellsdiaft" der totalitären Systeme. Sie alle haben behauptet, die Klassengesellschaft überwunden zu haben; tatsächlich unterdrücken sie die Klassenorganisationen durch Beseitigung der freien Gesellschaft. 2. Das Recht zum Klassenkampf. Unter Klassenkampf verstehen wir die Anwendung aller im Rahmen von Gerechtigkeit und Liebe zulässigen Mittel durch eine Klasse in der Auseinandersetzung mit anderen zum Schutze und zur Förderung ihrer Interessen. Unter den mehr friedlichen Formen des Klassenkampfes sind zu erwähnen die Organisierung von

86. Die Klasse

617

Wahlkampffronten, parlamentarische Auseinandersetzungen über Maßnahmen der Sozial- und Wirtschaftsform, Anstrengungen von Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zur Verstärkung ihrer Position in den Kollektivvertragsverhandlungen, welch letztere, wie die jüngere Sozialgeschichte zeigt, ebenso Mittel des Klassenkampfes wie des Ausgleichs von Klasseninteressen sind. Der Streik, die Aussperrung und die Revolution sind die ernsteren Formen des Klassenkampfes. 3. Das Redit zur Klassensolidarität. Innerhalb der Schranken der Gerechtigkeit und Liebe ist die Klassensolidarität eine echt sittliche Haltung. Sie besteht in dem das Verhalten des einzelnen bestimmenden Bewußtsein seiner Verbundenheit mit der Klasse im Streben nach der Sicherung ihrer sozialen Rechte, dabei in der Zurücksetzung privater Interessen, um die Aussichten auf den Erfolg der gemeinsamen Anstrengungen der Klasse zu fördern. Natürlich darf diese Zurücksetzung eigener Interessen nicht die Erfüllung unveräußerlicher Verpflichtungen gegenüber anderen beeinträchtigen, wie etwa der gegenüber der Familie oder gegenüber der Gemeinschaft im ganzen. Im Einzelfall kann demnach die Unverträglichkeit bestimmter im Klassenkampf angewandter Methoden mit Gerechtigkeit und Liebe dem Individuum verbieten, Klassensolidarität zu äußern. Tatsächlich besteht eine Tendenz zur Identifizierung von Brüderlichkeit mit Klassensolidarität, während richtig verstanden die Verpflichtungen der ersteren, nämlich der Nächstenliebe, alle Beziehungen des Menschen zum Menschen umfassen: Kein Unrecht kann daher unter Berufung auf einen angeblich „höheren" sittlichen Wert der Klassensolidarität seine Rechtfertigung erfahren. Eine „Klassengesinnung" als geistige Haltung, die alles im gesellschaftlichen und praktischen Leben ausschließlich vom Standpunkt des Klasseninteresses beurteilt, ist unvereinbar mit den Verpflichtungen von Individuum und Gruppe gegenüber der Gemeinschaft. Noch mehr ist Klassenhaß unvereinbar mit der natürlichen Liebespflicht, die der Mensch dem Menschen schuldet. Der Klassenkampf

in der industriellen

Gesellschaft

Der moderne Klassenkampf wurde nicht vom modernen Sozialismus erfunden. In der individualistisch-kapitalistischen Gesellschaft bestand er in furchtbaren Formen als Klassenkampf y ivon oben", bevor Marx seine Klassenidee gefaßt hatte. Das Hauptmittel dieses Klassenkampfes war die gesellschaftliche Macht, die das Eigentum an den Produktionsmitteln in die Hände des Kapitalisten legte. Es wurde zuerst von Marx mit voller Klarheit gesehen, daß der Kapitalist in dieser Form des Kapitalismus eine „gesellschaftliche Stellung" (Kommunistisches Manifest) innehatte, die ihn als Eigentümer an den Produktionsmitteln mit „gesellschaftlicher Macht" ausstattete; denn vom Kapital und Kapitalsinteresse hing es nicht nur ab, ob der Arbeiter beschäftigt war, sondern audi,

618

Die kleineren gesellschaftlichen Einheiten

zu welchen Bedingungen er beschäftigt wurde. Der Arbeiter war demnach sozial abhängig und der Ausbeutung unterworfen. Die Kapitalistenklasse war lange Zeit in der Lage, Staat und Recht weitgehend dem Schutze ihrer Klasseninteressen dienstbar zu machen, da sie auch in der liberalen Demokratie einen bestimmenden Einfluß auf die Politik auszuüben vermochte. Dies geschah anfangs mehr direkt durch den Regierungsapparat, später mehr indirekt durch die Bearbeitung der öffentlichen Meinung mittels machtvoller Presseorgane und dergleichen. Die herrschende Klasse besaß auch ihre Klassentheorie als ideologische Grundlage ihres Klassenkampfes. Dies war die liberalistische Wirtschaftstheorie, derzufolge das „eherne Lohngesetz" (daß der Lohn sich wegen der Konkurrenz der Arbeiter nicht über das physische Existenzminimum erheben könne) und das Elend der Arbeiterklasse als Mittel gegen Übervölkerung (Malthus!) zur „natürlichen Ordnung" der Dinge gehörte. Diese Klassentheorie ermöglichte der Bourgeoisie ein „gutes Gewissen", da die Verantwortung für die Lage der arbeitenden Klassen auf die Vorsehung abgeschoben war. Zur „Bourgeoisie" als Klasse gehören im soziologischen Sinn die Klassen, die ihre Interessen an die des Kapitals im Sozialsystem des Kapitalismus gebunden sehen und, zum Teil wenigstens, an dem ihm eigenen Wertschema, d. h. der Betonung der Besitzwerte und der wirtschaftlichen und technischen Nutzwerte festhalten. Es gehören also dazu nicht nur die „Kapitalisten" im engeren Sinn, sondern auch die im Auftrage des Kapitals tätigen Manager in Industrie und Hochfinanz, ein beträchtlicher Teil des besitzenden Mittelstandes und der Angestellten, was zugleich die weite Verschiedenheit der Interessen innerhalb der „Kapitalistenklasse" erkennen läßt. Das „Proletariat" als Klasse und sein Klassenkampf von unten wurde zur geschichtlichen Macht durch den Marxismus. Was Marx mit seiner Klassentheorie gelang, war ein ungeahntes Wirksamwerden des Klassenbewußtseins der Arbeiterschaft auf dem europäischen Kontinent als politischer Faktor ersten Ranges. Marx gab dem kämpferischen Proletariat außerdem das Bewußtsein einer geschichtlichen Sendung in der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft. Und mit seinem Geschichtsdeterminismus und Materialismus beseitigte er in weitem Ausmaß außerdem die Hemmungen der Arbeiterschaft gegenüber dem fessellosen Klassenkampf, die im christlichen Wertbestand der Volksgemeinschaft und in der Rücksicht auf das Allgemeininteresse wirksam werden. Verschiedentlich wurde die Frage gestellt, ob man in der heutigen Wohlstandsgesellschaft noch von Klassenkampf sprechen könne. In Kreisen des europäischen kontinentalen Sozialismus, der nodi glaubt, an der Marxschen Klassentheorie festhalten zu können, wird die Frage entschieden bejaht. Tatsächlich hat sich der Kapitalismus seit der Zeit von Marx so grundlegend gewandelt, daß heute mehr soziologisch als ideologisch denkende Sozialwissenschaftler lieber überhaupt von „industrieller Gesellschaft" als von „kapitalistischer Wirtschaft" sprechen. Die Wandlungen gingen aus von Entwicklungen, die Marx nicht vorausgesehen hat, die auch nicht im Rahmen seiner „Entwicklungsgesetze" des Kapitalismus unterzubringen sind. Dazu gehören die Sozialpolitik, die Vollbeschäftigung, die Konjunkturstabilisierung, die wirtschaftliche Wachstumspolitik, die Genossenschaftsbewegung und die kollektivvertraglichcn Regelungen des Arbeitsverhältnisses. Wer wie wir nicht im Sinne des Marxschen Klassen- und Klassenkampfbegriffes denkt, kann, wie wir es im vorangehenden getan haben, von Klassenschichtung und Klassenkampf auch in der industriellen Gesellschaft von heute sprechen.

86. Die Klasse

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Mit der Marxsdien Klassentheorie vermag man jedoch den Tatsachen nicht gerecht zu werden. Wie sehr man ihnen damit Gewalt anzutun gezwungen ist, kann daraus ersehen werden, daß in England, dem Ausgangsland der industriellen Entwicklung, die Marxsche Klassenkampftheorie der Arbeiterschaft immer fremd geblieben ist und daß sie noch viel weniger in der hochindustrialisierten Gesellschaft der Vereinigten Staaten Fuß zu fassen vermocht hat. In beiden Ländern lehnt die Arbeiterschaft den Ausdruck „Proletariat" für sich ab. Seit dem zweiten Weltkrieg wird er auch der europäisch-kontinentalen Arbeiterschaft fremd, außer der kommunistischen. Die Marxsche Klassentheorie Der tatsächliche Klassencharakter einer jeden Gesellschaft und die Klassendynamik als Faktor der Sozialgeschichte sind in ihrer vollen Tragweite erst seit den Marxschen Untersuchungen bekannt. In seiner Umschreibung der Wurzeln der Klassengegensätze und ihrer Funktion wurde Marx jedoch durch seine materialistisch-dialektisdie Fehlauslegung der Geschichte irregeleitet; auf sie ist die berühmte Ausgangsthese des Kommunistischen Manifestes begründet: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." Die Klassentheorie bildet den Kernpunkt des Marxschen sozialen und historischen Determinismus. Die letzte Ursache der Klassenspaltungen liege in den „Produktionsverhältnissen" und „Ausbeutungsverhältnissen"; diese selbst seien auf „Eigentumsverhältnisse" und diese wieder auf „die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft" zurückzuführen. Der Mensch könne den davon bestimmten geschichtlichen Prozeß nur beschleunigen oder hemmen, eine sittliche Frage oder Aufgabe gibt es in diesem Prozeß nach Marx nicht; im Gegenteil: alle sittlichen und rechtlichen Ideen und Einrichtungen seien nur Teil des „Überbaues" der Produktionsverhältnisse. Wäre ein Erfahrungsbeweis für die Verfehltheit der Marxschen Theorie nötig gewesen, die jüngsten auf sie begründeten politischen Experimente hätten ihn ausgiebig erbracht; denn die dabei gemachten Erfahrungen zeigen, daß das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln keineswegs das Entstehen einer Klassenstruktur verhindert. Im Gegenteil, sie begünstigt geradezu eine bisher unerhörte Konzentration politischer Macht in den Händen der „herrschenden Klasse", d. h. der Monopolpartei, und verhindert außerdem nicht einmal das Entstehen einer neuen Klassenhierarchie mit privilegierten Gruppen im politischen, betrieblichen und technischen Bereich im Vergleich zum übrigen Proletariat. All das weist auf ein ursprüngliches Element in der Menschennatur selbst hin, das auf Klassenunterschiede hinwirkt. Ausgehend von dem Begriff des Kapitals als „gesellschaftlicher Macht", betrachtet Marx folgerichtig die Ausschaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln als eine Voraussetzung der klassenlosen Gesellschaft. Sein Irrtum besteht darin, daß er das gesellschaftliche Verhältnis, das er im individualistisch-kapitalistischen Eigentum vorfindet, zum allgemeinen Wesen des im sozialwirtschaftlidien Prozeß eingesetzten Privateigentums macht. Er sieht nicht, daß das Privateigentum selbst eine grundlegende gesellschaftliche Ordnungsfunktion besitzt und daß das wirkliche Problem darin besteht, zu verhindern, daß es zu einem gesellschaftlichen Machtverhältnis werde. Marx fand die einzelnen Elemente seiner Klassentheorie bereits bei den französischen Sozialisten St. Simon, Fourier, Proudhon vor. Die Form, die er ihr gab, enthält drei Kernstücke: 1. Er hat das kapitali-

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stisdie Klassenverhältnis geschichtlich als Stufe der sozialen Entwicklung im Sinne seiner Geschichtstheorie zu erklären versucht. Als frühere Stufen sah er das Verhältnis von Herren und Abhängigen im Feudalsystem an. 2. Er hat seiner Klassenkampftheorie durch die Wert- und Mehrwerttheorie (vgl. Kap. 160 und 170) eine Begründung zu geben versucht, die zeigen sollte, daß der Klassenkampf bis zum äußersten eine innere Notwendigkeit der kapitalistischen Wirtschaft darstelle. 3. Er hat in der kapitalistischen Gesellschaft den Höhepunkt der Entwicklung der Klassengesellschaft gesehen: Die kapitalistische Epoche „zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat: Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat" (Kommunistisches Manifest). Auf den Zusammenprall der Klassengegensätze in der kapitalistischen Gesellsdiaft würde die Diktatur des Proletariats folgen und dann die klassenlose Gesellschaft. Mit den Tatsachen unvereinbar ist gerade die letztgenannte Annahme der Theorie von Marx. Weder die „Bourgeoisie" noch das Proletariat wurde in der kapitalistischen Gesellschaft zu einer einzigen, einheitlichen Klasse. Auf der Seite des Proletariats im Marxschen Sinn finden wir die große Gruppe der Arbeiter, die in Gewerkschaften organisiert ist und teilweise in der Wahrung ihrer Sonderinteressen gegenüber anderen Arbeiterklassen bis zum Monopolanspruch auf den Arbeitsplatz geht. Eine große Gruppe bilden die „ungelernten", großenteils unorganisierten Arbeiter mit eigenem sozialen Status innerhalb des Proletariats. Dazu kam die getrennte Gruppierung der ideologisch sich scheidenden Teile des „Proletariats" in die sozialistische, christliche und kommunistische Arbeiterbewegung. Außerdem ging aus dem Proletariat selbst ein „neuer Mittelstand" hervor, dieser wiederum in eine Anzahl von Untergruppen gespalten, wie Handlungsgehilfen, Buchhalter, die „besseren" Angestellten und die hochbezahlten, aber abhängigen Ingenieure usw.; alle diese Untergruppen haben wieder ihr eigenes soziales Standes- und Klassenbewußtsein. Wir schließen diese Hinweise auf die Tatsachen am besten ab mit einer Feststellung, die das Ergebnis einer umfassenden Untersuchung der Klassenstruktur eines so hoch industrialisierten Landes wie England darstellt: „Der Glaube an die Existenz sozialer Klassen oder gar einer Klasse mit identischen oder annähernd identischen Interessen ihrer Glieder und einerti Gegensatz dieser Interessen zu denen der übrigen Gesellschaft ist das Ergebnis der Beschäftigung mit Sozialtheorien von zweifelhaftem Wert und der Vernachlässigung sozialer Tatsachen 2 ."

87. Die politische Partei Ein Kritiker hat gemeint, es sei verwunderlich, in unserem „Naturrecht" unter die kleineren Gruppen mit Eigenrechten auch die Parteien gereiht zu finden. Gewiß, die Parteien müssen auch im Zusammenhang mit dem Staate erörtert werden, und wir werden uns dort an verschie8 Α. M. Carr-Saunders u. D. C. Jones, The Social Structure of England and Wales, 1927, 72: „The belief in the existence of social classes, or even of one social class, the interests of the members of which are identical, or nearly so, and opposed to the interests of the rest of the community, is the result of studying social theory of doubtful value and of neglecting social facts."

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denen Stellen mit den Parteien zu befassen haben, aber sie sind nicht der Staat. Der Schwerpunkt unserer Überlegungen in diesem Zusammenhang liegt auf dem natürlichen Recht zur Parteibildung und dem der Parteien. Besäßen diese nicht natürliche Rechte, könnten sie Berechtigung und Rechte nur auf Grund staatlicher Gesetzgebung besitzen. Damit wird sofort eindeutig klar, daß die Parteien, auch in ihrer Gesamtheit, nicht mit dem Staat identifiziert werden dürfen. Käme es auf gesetzesrechtliche Grundlagen an, hätten die Parteien in der ältesten parlamentarischen Demokratie noch immer keinen rechtlichen Daseinsgrund. Sie besitzen diesen aber kraft natürlichen Rechts als Art der freien Vereinigung im vorstaatlichen Bereich, dem der „Gesellschaft", mit dem besonderen Zweck der Einflußnahme auf die staatliche Gemeinwohlordnung und Gemeinwohlpolitik. Ihre soziologisch zutreffendste Definition dürfte die sein, daß es „freie Vereinigungen von Individuen zum Zwecke der Erlangung von politischer Macht" sind; G. C. Field glaubt dieser Definition hinzufügen zu sollen „auf verfassungsmäßigem Wege", um Gruppen, die mit der Parteiorganisation auf die gewaltsame Unterdrückung aller anderen Parteien abzielen, aus seiner Begriffsbestimmung auszuschließen. Andererseits weist er hin auf die „merkwürdige Tatsache, daß in Großbritannien, wo das, was ein Parteiensystem genannt werden kann, seinen Anfang nahm, politische Parteien noch immer nicht rechtlich anerkannt sind. Es gibt keinen Parlamentsakt (Gesetzgebungsakt — / . M.) und keine gerichtliche Entscheidung, worin irgendeine politische Partei erwähnt wäre, und die Parteien als solche haben keine gesetzlichen Rechte und keine gesetzlichen Verpflichtungen V e Die Parteien sind niât der Staat. Entwicklungen der jüngsten Zeit, in denen die Parteien in freiheitlichen Demokratien tatsächlich beanspruchen, der Staat zu sein, nämlich mit der Art und Weise, wie sie die Regelung von Angelegenheiten des öffentlichen Lebens als in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallend ansehen, zeigen, daß Grund besteht, auf genaue Grenzziehung zu achten. Bis zur Ausschaltung des vom Volk gewählten Parlaments geht der Herrschaftsanspruch der Parteien im Falle von Koalitionspakten, wenn der Volksvertretung nur die Legalisierung koalitionsintern fertiggestellter Gesetzesentwürfe verbleibt. Daß in Fragen des geistig-kulturellen Lebens die Parteien sich mit Staat und Volk identifizieren zu können glauben, ist in besonderem Maße dem Geist des demokratischen Gemeinwesens zuwider. Die Parteien, auch die Regierungsparteien, repräsentieren nicht den tatsächlichen Volkswillen in den Einzel1

G. C. Field , Political Theory, 1956, 165, 168.

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fragen des öffentlichen Lebens, besonders nicht in den geistig-kulturellen Fragen und in denen, die das religiös-sittliche Gewissen bewegen. Die Parteien sind nicht das Volk. Wenn sich die Parteien in solchen Fragen ausschließliche Entscheidungsgewalt anmaßen, wir denken an Erziehungs- und Schulfragen, an Regelungen des Rundfunkwesens, an Fragen der öffentlichen Sittlichkeit auf dem Gebiete des Films, des Fernsehens, des Jugendschutzes, der Schmutzliteratur, dann handeln sie wider den Volkswillen, der sich in solchen Fragen keineswegs mit Parteiideologien und Parteiinteressen zu identifizieren bereit ist. Das Volk besitzt vielmehr seine eigenen Verbände und Gemeinschaften im Dienste dieser seiner wesentlichsten Überzeugungen, es sei auf die Elternverbände und die kirchlichen Gemeinschaften hingewiesen, nicht minder auf die zahlreichen Vereinigungen im Dienste kultureller Interessen. Wir sind mit und ihrer Rechte, die diesen Hinweisen im Bereich der „Gesellschaft" schon für den Staat als unantastbar gelten müssen, noch viel mehr für den Willen der Parteien. Die Erfahrung müßte als Warnung gelten: In einem Teil moderner Demokratien ist durch den Parteibeschluß einer Mehrheitspartei das Recht der Parteibildung beseitigt und sind diese damit zu totalitären Staaten geworden. Wie weitgehend überhaupt die formale Demokratie hinsichtlich der Stellung der Parteien auf Fiktionen beruht, wird in der Staatsethik (Kap. 134) Gegenstand der Erörterung sein. Kein Kenner der Soziologie der modernen Demokratie dürfte bestreiten, daß die Parteien nicht das Volk sind, genauso wenig, wie sie der Staat sind 2 . Die Parteien sind nicht Organe der staatlichen Willensausübung, Regierung, sondern Mittel der staatlichen Willensbildung und der Bestellung dieser Organe. Nur in den totalitären Staaten sind die Parteien Organe der staatlichen Willensausübung selbst und der Durchsetzung des staatlichen Willens im Volke. Einer Monopolpartei diese und nur diese Funktion zuzuerkennen und diese Partei mit dem Staate zu identifizieren steht im Gegensatz zur Idee der Partei, wie sie in der ganzen Geschichte 2 G. C. Field, a. a. Ο. 177 ü > weist mit Nachdruck auf die bekannte Tatsache hin, daß die Parteien, für sich betrachtet, *Oligarchien" darstellen, d. h. Organisationen, in denen eine sehr kleine Minderheit den beherrschenden Einfluß ausübt. Er kann hinweisen auf die sehr aufschlußreiche Arbeit des Professors im Institut d'Etudes Politiques de l'Université de Paris, Maurice Duverger, Les Parties politiques (Paris), 1951, engl. Political Parties, 1954, worin dieser feststellt, daß die eingeschriebenen Parteimitglieder nur einen Bruchteil der Wähler ausmachen (ζ. B. die eingeschriebenen Mitglieder der sozialistischen Parteien in Europa im Durchschnitt nur 20 Prozent) und daß außerdem die aktiven, an Leben und Tätigkeit der Partei sich Beteiligenden wieder nur einen Bruchteil der Parteimitglieder darstellen, vor allem aber, daß audi unter den einer Partei angehörenden gewählten Volksvertretern nur eine sehr geringe Zahl, die Führergruppe, alle wesentlichen Entscheidungen trifft. Bekannt ist das ähnliche Ergebnis von Robert Micfce/s. Zur Soziologie des Parteiwesens, 1910, 2. Aufl., 1924, Neudruck mit Nachw. von Werner Come, 1957 (Lit. ergänzt).

der

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der Demokratie verstanden wurde. Tatsächlich ist das Einparteiensystem der totalitären Staaten eine contradictio in terminis, d. h. ein schon im Wort enthaltener Selbstwiderspruch. Denn „Partei" bezeichnet seiner Wortbedeutung nach einen „Teil" des Volks, setzt daher die Möglichkeit seiner Teilung innerhalb seiner Einheit voraus. Die Möglichkeit einer solchen Teilung und der Bildung von Parteien ist einer der entscheidenden Wesenslüge des gesellschaftlichen Pluralismus. Nichts zeigt so klar wie der totalitäre Einparteienstaat, daß die Partei unter den gesellschaftlichen Gruppen mit eigenen Rechten behandelt werden muß. Als Teil des Volkes versucht die Partei die Meinungen, die Interessen und den Willen einer Gruppe von Bürgern bei der Gestaltung des Gemeinwesens und des Gemeinwohls zur Geltung zu bringen. Ihre Funktion ist es daher, Wertungen und Interessen (einschließlich der Klasseninteressen) eines solchen Teiles des Volkes in der staatlichen Politik wirksam zu machen. In den Parteien organisiert sich die „Gesellschaft" zur Gestaltung ihrer „staatlichen" Gemeinschaft durch die Formung ihrer Regierung und die Festlegung der Richtlinien ihrer Politik. Das Recht der Parteibildung und der Parteien ist somit das Recht der „Gesellschaft" im Staate und gegenüber dem Staate. Gewiß, Parteibildung setzt eine bestimmte Form der staatlichen Willensbildung, also eine bestimmte historisch bedingte Staatsform voraus, die der freiheitlichen parlamentarischen Demokratie. Sobald aber die geschichtliche Entwicklung in den Völkern den Willen zur Selbstregierung reifen läßt und sie sich dabei für die parlamentarische Demokratie als Staatsform entscheiden, erwachsen die Voraussetzungen für die Entstehung des natürlichen Rechts der Parteibildung und Parteitätigkeit. Die Wurzel des fraglichen Rechts besteht in der dann bestehenden Verantwortung des Menschen für die Gestaltung und Führung seines staatlichen Gemeinwesens; ihr können die Bürger nur entsprechen, indem sie sich um die Werte und Interessen gruppieren, die nach ihrem Willen für die Regierung ihres Gemeinwesens bestimmend sein sollen. In den Parteien repräsentiert sich dieser Wille der verschiedenen Gruppen. Gegen unsere Darstellung der Funktion der Parteien kann nicht eingewendet werden, daß für die christliche Ethik die staatliche Ordnung durch das Naturrecht im Grundriß festgelegt sei. Vielmehr ist erneut zu fragen, was auf solche Weise festgelegt ist. Daß in der Beantwortung der Frage Vorsicht geboten ist, zeigen die seinerzeitigen Bestrebungen, das absolute Königtum auf das Naturrecht zu begründen. Tatsächlich ist im Naturrecht nur ein Grundriß der staatlichen Rechtsordnung gegeben, alles übrige ist dem Willen der Gesellschaftsglieder überlassen, sobald die Demokratie

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rechtmäßige Staatsform geworden ist 8 . Der Allgemeinnutzen ist der Zweck der staatlichen Gemeinschaftsordnung wie der des Rechtes. Es ist daher Sache der Bürger, zu sagen, was ihre Interessen dabei sind. Außerdem ist die Verwirklichung des Allgemeinnutzens größtenteils eine Frage der zweckdienlichen Mittel, daher sind Meinungsaustausch und Diskussion darüber unerläßlich. Diese Diskussion zu ermöglichen, in Gang zu halten und zum allgemeinen Besten zu lenken ist die Funktion des Parteiwesens. Daher gehört das Recht der Parteibildung und der Parteitätigkeit im modernen Staat zu den natürlichen Rechten. Es ist ein durch geschichtliche Umstände bedingtes Recht, nämlich dadurch bedingt, daß ein Volk politisch „mündig" und sich bewußt geworden ist, daß der Staat seine eigene Sache ist und seine Verantwortung bildet. Die gesellschaftliche Funktion der Parteien gibt diesen jedoch nicht nur Rechte, sondern legt ihnen auch Pflichten auf. Die erste und grundlegende Verpflichtung der Parteien ist, sich in all ihrem Tun an das Gemeinwohl der Staatsgemeinschaft gebunden zu wissen. Daher müssen die zu seinem Grundbestand gehörenden naturrechtlich garantierten Rechte des Menschen, der Gesellschaft und des Staates außer Diskussion gestellt bleiben. Keine Partei dürfte sich dazu hergeben, auch nur den geringsten Eingriff des Staates in existentiellen Zwecken begründeten Rechte zu fördern, wie in das Erziehungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern. Sie vergibt damit ein Stück vom Recht der „Gesellschaft" gegenüber dem Staate, das ihr eigener Lebensgrund ist. Konzessionen von Parteien gegenüber der staatlichen Usurpation von Rechten werden sich letztlich immer als Gefährdung des demokratischen Parteiensystems selbst und damit der freien Gesellschaft erweisen. Ebensowenig ist es mit den tatsächlichen Rechten der Parteien vereinbar, daß sie ihren Einfluß und ihre Macht zum Selbstzweck machen. Parteien, die so ihre Sonderinteressen den Interessen der staatlichen Gemeinschaft voranstellen, sind Totengräber der Demokratie. Es lag in der liberalistischen Auffassung der Freiheit, des Selbstinteresses und des Majoritätsprinzips begründet, daß das staatliche Gemeinwohl in die bloße Resultante der Machtverhältnisse als Folge der sich in den 8 Es sei daran erinnert, daß sogar angesichts der ihm bekannten Formen der Demokratie Augustin (vgl. die berühmte, in Kap. 45, Anm. 5, erwähnte Stelle) mit Betonung erklärt, der Staat sei Sache des Volkes, und dies gerade im Zusammenhang mit der Erörterung von Naturgesetz und Naturrecht als einem Inbegriff allgemeiner Prinzipien. Diese allgemeinen Prinzipien ergeben jedoch nur einen Grundriß der staatlichen Rechtsordnung, keine solche im Sinne des positiven Rechts. Die Schlußfolgerung daraus, daß der so verstandene Grundriß von Rechtsbeziehungen nur die allergröbsten Auswüchse gesetzlichen Unrechts aus dem Reich des rechtlich Verbindlichen ausschließe, ist schon deswegen unbegründet, weil gerade in der modernen freiheitlichen Demokratie, von der wir sprechen, die „Geschichtlichkeit des Rechts" (vgl. Kap. 40) auf Grund der Entwicklung des Rechtsbewußtseins durch eine allseitige Konkretisierung „der naturrechtlich garantierten Rechte des Menschen, der Gesellschaft und des Staates", die wir im nächsten Absatz erwähnen, ihren eindeutigen Ausdruck findet.

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politischen Parteien sammelnden Gruppeninteressen umgedeutet wurde. Damit war der Weg zum Parteienstaat eröffnet. Der Staat wird ein Apparat in der Hand der Parteien zur Sicherung von Gruppeninteressen. Das Entstehen des Einparteienstaates in den totalitären Systemen („der Staat ist die Partei") ist im Grunde nur die ins Extrem gewendete logische Konsequenz dieses Prinzips. Zur Kritik des Parteiwesens, seiner inneren Erstarrung und seiner Verflechtung mit den Interessenverbänden wird bei der Behandlung der modernen Demokratie in der Staatsethik (Kap. 134) weiter Gelegenheit sein. Nach der Theorie der Demokratie käme den Parteien eine Hauptaufgabe in der Erziehung des Volkes zu verantwortungsbewußter aktiver Anteilnahme am Leben der staatlichen Gemeinschaft zu. Das Festhalten an zwei Prinzipien durch die Parteien wäre dafür Voraussetzung: erstens, daß sich die Parteien zuerst und vor allem durch das Bewußtsein der Verantwortung für das Wohl der Gemeinschaft als Ganzes leiten lassen und ihren Blick freihalten für das in seinem Interesse Gebotene; zweitens, daß die Parteien im Einklang mit solchem Verantwortungsbewußtsein ihre wichtigste Waffe in Wahrheit und Wahrhaftigkeit sehen und die davon bestimmte Diskussion als den besten Weg zur Lösung der öffentlichen Probleme betrachten. So heißt es in der Theorie der Demokratie, jedermann weiß jedoch, daß das Leben in den verschiedenen Demokratien mehr oder weniger weit davon ab liegt. Dazu weiß die in allen Ländern anwachsende Literatur zur Soziologie der Parteien Aufschlußreiches zu sagen. Im gegenwärtigen Zusammenhang bleibt nur festzustellen, daß die Parteien, soweit sie von den erwähnten beiden naturrechtlichen Prinzipien abgehen, sich auch schon in der Richtung zur Demagogie bewegen. Demagogie ist die Beeinflussung des Volkswillens durch Parteien im Widerspruch zum dauernden Allgemeininteresse mit Hilfe der Verkoppelung ihrer Sonderinteressen mit Scheininteressen des Gemeinwesens. Demagogie ist daher immer Spekulation auf die Kurzsichtigkeit der Bürger und führt, wenn sie Erfolg hat, zu schwerem Schaden des wirklichen Gemeinwohls. Nur die Nation als Ganzes vermag sich gegen Parteidemagogie zu schützen. Individuen sind, besonders in der Massengesellschaft, zu leicht ihr Opfer. Die Nation als Ganzes kann verfassungsmäßig Vorsichtsmaßnahmen gegen solche Gefahren treffen durch Institutionen, die die Ausbeutung vorübergehenden Machtbesitzes durch Parteien verhindern und der Nation die neuerliche Möglichkeit der Bekundung ihres tatsächlichen politischen Willens sichern: eine der Grundfragen der Zukunft der freiheitlichen Demokratie (vgl. Kap. 134). 40

Messner, Naturrecht

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88« Die Gewerkschaft Die Gewerkschaft ist eine Art der sozialen Selbsthilfeorganisationen, die dem Schutz und der Förderung der wirtschaftlichen Interessen von Gruppen in der Marktwirtschaft dienen. Durch Selbsthilfeorganisationen schützen sich die Konsumenten, die Arbeiter und die Produzenten, nämlich in den Konsumvereinen, Arbeitergewerkschaften, Arbeitgebervereinigungen, Kartellen. In den Konsumvereinen schützen sich die Konsumenten gegenüber den Produzenten, in den anderen schützen sich die Arbeiter und Arbeitgeber gegenüber der „anderen Seite" der Wirtschaft; in den Kartellen schützen sich die Produzenten gegenüber Auswirkungen der Konkurrenz innerhalb ihrer eigenen Reihen. Alle genannten Gruppen zielen auf Selbstschutz gegenüber Auswirkungen der Marktwirtschaft ab. Die Konsumvereine und Kartelle sind Selbsthilfeorganisationen auf dem Warenmarkt, fast ausschließlich bedacht auf ihr Gruppeninteresse; sie sind in der Wirtschaftsethik (Buch I V ) zu behandeln. Im Vergleich zu ihnen üben die Arbeitergewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen eine über den Schutz ihrer Gruppeninteressen hinausgehende Funktion im Allgemeininteresse, somit eine gesellschaftliche Ordnungsfunktion aus. Diese Funktion besteht in der Begründung des sozialen Friedens durch den von ihnen für ihren Berufszweig abgeschlossenen Kollektivvertrag. Wir braudien uns nur mit den Gewerkschaften zu befassen, weil für die Arbeitgebervereinigungen mutatis mutandis die gleichen naturrechtlichen Prinzipien wie für die ersteren gelten. In den Gewerkschaften schließen sich Arbeiter einzelner Wirtschaftszweige zusammen, um in den Arbeitsvertragsverhandlungen geeint den Arbeitgebern gegenüberzutreten und damit sich gegen die Vormachtstellung des „Kapitals" auf dem Arbeitsmarkt zu schützen. Da der Arbeitsmarkt sich nach einzelnen Industriezweigen gliedert, organisieren sich die Gewerkschaften soweit als möglich „fachlich", d. h. nach einzelnen Wirtschaftszweigen. Das schließt jedoch Organisationen der ungelernten oder angelernten Arbeiter nicht aus, obwohl der öftere BeschäftigungsWechsel ihrer Mitglieder für sie eine bedeutende Schwierigkeit bildet. Außer ihrer Ordnungsfunktion auf dem Arbeitsmarkt sehen die Gewerkschaften einen Hauptzweck in der gegenseitigen (genossenschaftlichen) Hilfe in Fällen von Krankheit oder Beschäftigungslosigkeit. Die Entfaltung der modernen Gewerkschaftsbewegung und ihrer Ordnungsfunktion auf dem Arbeitsmarkt bedeutet die weitreichendste Ursache in der Umbildung des Kapitalismus und seines Sozialsystems. Sie schaltete den Konkurrenzmechanismus der individualistischen Wirtschaft an einem entscheidenden Punkt um. In dieser waren immer, wie Marx sich

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anschaulich ausdrückte, zwanzig Arbeiter gezwungen, einem Unternehmer nachzulaufen und dadurch sich in den Arbeitsbedingungen zu unterbieten; so konnten sich die Löhne nicht über das Existenzminimum erheben, wie die Theorie vom „ehernen Lohngesetz" dartun zu können glaubte. Mit dem Vordringen der Gewerkschaftsbewegung wurde diese innerkapitalistische Mechanik außer Wirksamkeit gesetzt. Kein Wunder, daß die kapitalistische Gesellschaft mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln der Arbeiterschaft das Recht der freien Vereinigungen („Koalitionsfreiheit") zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen streitig zu machen versuchte. Andererseits aber erschütterte die Gewerkschaftsbewegung die Marxsche Theorie in ihren Grundlagen. Dies nach zwei Richtungen: Marx hatte richtig gesehen, daß im Laissez-fäire-Kapitalismus Macht" darstelle, nämlich wirtschaftliche das Kapital „gesellschaftliche und soziale Macht über den Arbeiter mit einer Art von Monopolstellung. In den Gewerkschaften wurden die Arbeiter selbst zur „gesellschaftlichen Macht", womit wirtschaftlich und sozial die Monopolstellung der Kapitalmacht gebrochen wurde. Von entscheidender Bedeutung für den Wandel des Sozialsystems wurde es, daß nun die „Arbeit" gleichgestellt und damit erst in Freiheit dem „Kapital" bei der Vereinbarung der Bedingungen des Arbeitsvertrages gegenüberstand. Die Gewerkschaftsbewegung hat außerdem Marx* Behauptung von der unaufhaltsamen Verelendung des Proletariats als falsch erwiesen: Mit der Gewerkschaftsbewegung hatte die Arbeiterschaft ihr soziales Schicksal in die eigene Hand genommen, statt auf die ständig weitere Verelendung und die daraufhin verheißene „Diktatur des Proletariats" zu warten. Die Gewerkschaften wurden damit Hauptvorkämpfer des „Revisionismus". In der westlichen industriellen Gesellschaft steht heute die organisierte Arbeiterschaft als gesellschaftliche Macht ebenbürtig neben den übrigen großen gesellschaftlichen Mächten, der Arbeitgeberschaft, der Landwirtschaft, dem Gewerbe, dem Handel, dem Finanzkapital. Als sozialer Ordnungsmacht ist den Gewerkschaften nicht nur die ungeschmälerte Wahrung der Rechte der Arbeiterschaft möglich, es ist ihnen eine Verantwortung zugefallen, die sich auf die Entwicklung der Volkswirtschaft im ganzen und darüber hinaus auch auf die Entwicklung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung selbst erstreckt. Die Gewerkschaften sind sich dieser Verantwortung mehr und mehr bewußt geworden. So ergeben sich für die Gewerkschaftstheorie (philosophy of trade unionism) bezüglich Status und Funktion der Gewerkschaften neue Aspekte, in denen Neuansätze für die Entwicklung zur volleren Verwirklichung demokratischer Prinzipien in der pluralistischen Gesellschaft sichtbar wer40·

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den (vgl dazu Kap. 181). Die für die Gewerkschaften bei Ausübung ihrer Ordnungsfunktion notwendige Anpassung an die Marktmechanik der kapitalistischen Wirtschaft blieb nicht ohne Rückwirkung auf die Gewerkschaften. Sie wurden, wie ihre Kritiker sagen, selbst kapitalistisch gesinnt. Die weitgehende Berechtigung dieser Kritik dürfte, ohne der Wirklichkeit Gewalt anzutun, schwer zu bestreiten sein. Die Kritik weist erstens darauf hin, daß die Gewerkschaft eine Selbstschutzorganisation auf dem Arbeitsmarkt ist nach den gleichen Prinzipien wie das Kartell auf dem Warenmarkt; sie ist abgestellt auf die Ausnutzung der Marktmechanik zur Erzielung höherer Lohnpreise mit Hilfe der Kontrolle des Arbeitsangebots. Zweitens, die Gewerkschaften handeln dabei auch nach dem kapitalistischen Profitprinzip: Sie suchen sich so viele Vorteile zu sichern, als ihre Stärke ihnen ermöglicht. Die Lohnpolitik der Gewerkschaften geht dabei nicht in allen Ländern gleich weit. Überall wird theoretisch anerkannt, daß Lohnforderungen die Grenzen der volkswirtschaftlichen Produktivitätssteigerung nicht überschreiten dürfen, praktisch wird diese Grenze, namentlich seit Ende des zweiten Weltkrieges, in sehr vielen Ländern überschritten, wie die fortschreitend inflatorische Entwicklung zeigt, zu deren Ursachen unzweifelhaft auch die gewerkschaftliche Lohnpolitik gehört. Als drittes hebt die Kritik an den Gewerkschaften hervor, daß diese Monpolorganisationen zum Nachteil von Arbeitergruppen bilden. Durch das Arbeitsmonopol der Angehörigen einer Gewerkschaft in einem Betrieb („closed shop") zwingt eine Gewerkschaft die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, die Arbeitgeber, Arbeit nur von dem in ihr organisierten Angebot anzunehmen, d. h. nur ihre Mitglieder zu beschäftigen. Sie nimmt also Nichtmitgliedern die Möglichkeit, in solchen Betrieben zu arbeiten, ähnlich wie die Kartelle oft versuchten, in ihrem Wirtschaftszweig „Außenseitern" die wirtschaftliche Tätigkeit unmöglich zu machen. Gewerkschaftszwang und Gewerkschaftsmonopol werden gleich im folgenden ausführlich zu behandeln sein. Will man naturrecktlich Rechte und Pflichten der Gewerkschaft erörtern, so ist offenbar von der ihnen durch die freie Marktwirtschaft gestellten Grundfunktion auszugehen. Es ist eine Funktion auf dem Arbeitsmarkt, bestehend in der Selbsthilfeorganisation zur Wahrung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Arbeiter vermittels der Regelung der Arbeitsbedingungen durch den Kollektivvertrag. Die Vertragsparteien sind dabei die Gewerkschaften und die Arbeitgebervereinigungen. Der „kollektive" Arbeitsvertrag legt Mindestarbeitsbedingungen (Löhne, Arbeitspausen, Urlaube, Kündigungsfrist) fest, die dann die Grundlage des „individuellen" Arbeitsvertrages zwischen Arbeiter und Arbeitgeber bilden (vgl. Kap. 142).

. Die G e e s c h a f t

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In engstem Zusammenhang mit dieser wirtschaftlich-sozialen Funktion der Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt steht die Einwirkung auf das Arbeitsangebot durch Festhalten an einem Mindestmaß von Berufsausbildung für ihre Mitglieder und durch Einrichtungen für die durch die technische Entwicklung geforderte fachliche Fortbildung. Dazu kommen Einrichtungen zur Erforschung der Entwicklungstendenzen des Arbeitsmarktes im Zusammenhang mit der allgemeinen Konjunkturentwicklung. Das kann nur von den vereinigten Gewerkschaften eines Landes unternommen werden: Die nationalen Organisationen der Gewerkschaften (zum Unterschied von anderen Ländern in Österreich die „Arbeiterkammern") besitzen Einrichtungen für wirtschaftliche, soziale und statistische Forschungen, für die Veröffentlichung von Zeitungen und Zeitschriften zum Zwecke der Information ihrer Mitglieder und der öffentlichen Meinung, für die Ausbildung von Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsratsobmännern, für die allgemeine Fortbildung der Arbeiter. In ihren sozialwissenschaftlichen Forschungsstätten werden die Wirtschaftsentwicklungen im In- und Ausland, die Entwicklung des Arbeitsmarktes, des Kapitalmarktes, der Produktionstechnik, der Rationalisierung, der Bevölkerungsbewegung studiert und damit wissenschaftliche Waffen für den Kampf um den sozialen Fortschritt bereitgestellt. Alle diese Bemühungen finden außerdem eine mächtige Unterstützung durch die internationale Zusammenarbeit der nationalen Gewerkschaften (über Internationales Arbeitsamt vgl. Kap. 111). Unter den für die Rechte der Gewerkschaft geltenden naturrechtlichen Prinzipien 1 sind vor allem die folgenden hervorzuheben: 1. An erster Stelle steht das Grundrecht ihres Bestandes und ihrer Tätigkeit: das Recht der freien Vereinigung. In nicht wenigen Ländern mußte die Arbeiterschaft dieses Recht (positive Koalitionsfreiheit) unter schweren Opfern erkämpfen. Jedoch schon nach dem ersten Weltkrieg stellte sich in Kontinentaleuropa die Frage, ob der Arbeiter einer bestimmten Gewerkschaft anzugehören gezwungen werden darf bei sonstiger Bestrafung durch Entfernung von seinem Arbeitsplatz, ob also die 1 Weil manchem Leser im folgenden auf den ersten Blick einzelne Vorbehalte zu sehr betont erscheinen mögen, darf idi vielleicht erwähnen, daß mich kaum jemand in der Einschätzung der entscheidenden Bedeutung der Gewerkschaften für die Umbildung des gerechtigkeitswidrigen Kapitalismus und für die Zukunft einer gerechten Sozialordnung übertreffen dürfte, für mich vielmehr die Organisation der Arbeiterschaft in den Gewerkschaften zur Durchsetzung ihrer Rechte geradezu zum Ausgangspunkt des Studiums der modernen sozialen Fragen wurde: Als sich mir schon in frühester Jugend die Frage aufdrängte, warum meine Mutter einen beträchtlich höheren Lohn hatte als mein yater; der Grund lag darin, daß in dem Betrieb, in dem sie arbeitete, eine kräftige gewerkschaftliche Organisation bestand, nicht aber in dem Betrieb, in dem der Vater arbeitete. Im gegenwärtigen Zusammenhang handelt es sich um die gewissenhafte allseitige wissenschaftliche Untersuchung der für das Bestehen von Rechten und Pflichten maßgebenden naturrechtlichen Prinzipien und soziologischen Tatbestände.

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Vereinigungsfreiheit auch die Freiheit bedeutet, der Gewerkschaft nicht beizutreten (negative Koalitionsfreiheit). Es wurde für nicht wenige Arbeiter zu einer Gewissensfrage. Denn Gewerkschaften mit Verbindungen zu Parteien, die den materialistisch-atheistischen Sozialismus vertraten, duldeten oft in Betrieben, wo sie die Mehrheit hatten, keine Arbeiter, die einer Gewerkschaft mit anderen religiös-sittlichen Grundüberzeugungen angehörten. Daß damit jene Gewerkschaften ihr Recht überschritten hatten, dürfte kaum jemand, der sich nicht zu ihrer Ideologie bekennt, bestreiten. In Österreich wurde schon 1930 ein „Gesetz zum Schutze der Arbeitsfreiheit" geschaffen. Durch das Vorgehen solcher Gewerkschaften wurde jedenfalls eines eindringlich klargemacht: daß auch das Recht der freien Vereinigung der Arbeiter zur Interessenwahrung kein absolutes Recht ist, genauso wenig wie irgendein anderes natürliches Recht ein absolutes Recht ist noch irgendeine absolute Rechtsbefugnis zu begründen vermag (vgl. Kap. 36). 2. Nicht anders steht es mit dem zweiten Recht der Gewerkschaften, dem Recht auf den Gebrauch zweckdienlicher Mittel im Arbeitskampf, nämlich zur Durchsetzung gerechter Ansprüche der Arbeiter in Wirtschaftszweig oder Betrieb. Besondere Fragen sind gestellt durch den Streik als äußerstes Mittel in der Hand der Gewerkschaften; dieser wird daher gesondert zu behandeln sein. 3. Ein weiteres Recht der Gewerkschaft, das diese heute in einer wachsenden Anzahl von Ländern in Anspruch nimmt, besteht im Streben nach einer Sozialreform, wonach die Arbeit gleichberechtigt mit dem Eigentum an der Steuerung der Sozialwirtschaft und der Einkommensgestaltung beteiligt wäre (vgl. Kap. 181). Grundfragen der Wirtschafts- und Sozialordnung als solcher, wie die der Gesellschafts- und Staatsordnung überhaupt, sind dabei in vielfacher Weise berührt. Soweit natürliche Rechte von Einzelgliedern oder Gruppengliedern der Gesellschaft beeinträchtigt würden, sind solchen Bestrebungen Grenzen gezogen, besonders auch, soweit Einzelziele in Frage stehen, zu denen sich nicht alle Gewerkschaftsglieder selbst bekennen können. Sicher bestehen aber Möglichkeiten eines allmählichen Vordringens sozialreformerischer Bestrebungen in einer Richtung, die zu einem Zusammenwirken von Gewerkschafts- und Arbeitgeberseite, nicht minder zur nachhaltigen Förderung des Gesamtinteresses von Gesellschaft und Wirtschaft führen könnten, dabei zu einer anhaltend fortschreitenden Produktivitätssteigerung und so zu einer fortschreitenden Steigerung des Lebensstandards. (Über die Frage des Einbaus der Gewerkschaften in die Verfassung oder wenigstens ihre Verankerung in dieser wie auch der anderen Interessenverbände vgl. Kap. 113 und 134.)

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4. Daß die Gewerkschaften auch ein Recht zur Betätigung im Bereich der Politik selbst haben, kann nicht zweifelhaft sein, sobald zugegeben ist, daß sie in der industriellen Gesellschaft in eine Verantwortung hineingewachsen sind, die über den von Einzelfall zu Einzelfall gehenden Kollektivvertragsabschluß hinausgeht. Bei ihrer heutigen Machtstellung sind sie wesentlich mitverantwortlich für das Funktionieren der Wirtschaftsordnung wie auch der Staatsordnung; außerdem kann eine tief ergreifende Sozialreform im vorhin erwähnten Sinn nur über den Weg der Politik zustande kommen. Die Frage politischer Haltungen und Zielsetzungen der Gewerkschaften ist kein Problem, wenn in einer Gesellschaft Einigkeit in den Grundüberzeugungen hinsichtlich der Gesellschaft besteht und sich die Auseinandersetzungen der Parteien mehr um Einzelheiten im Rahmen dieser Einheit bewegen. Dann sind, was von größter Bedeutung ist, nicht parteipolitisch-ideologische Gesichtspunkte für diese Auseinandersetzung bestimmend, sondern tritt notwendigerweise das sachliche Argument in den Vordergrund. Nach naturrechtlichen Prinzipien besteht auch gegen parteipolitische Bindungen auf Gewerkschaftsseite kein Einwand, solange völlige Freiheit der Vereinigung (Gewerkschaftszugehörigkeit) und ein weites Maß von innerer Gewerkschaftsdemokratie gesichert ist, so besonders in Ländern, in denen einheitlich an Grundwerten der freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung festgehalten wird. Anders in Ländern, in denen die Einheit solcher Uberzeugungen hinsichtlich der Grundwerte des öffentlichen Lebens fehlt und die Parteien selbst weltanschaulich (über Grund und Sinn der Freiheitsrechte) gegensätzliche Standpunkte einnehmen. Gewerkschaften, die in einem solchen Lande in der Form der Einheitsgewerkschaft eine Monopolstellung innehaben und sich in ihrer Haltung und Tätigkeit parteipolitisch beeinflussen lassen, können offenbar einen Teil ihrer Mitglieder in große Gewissensschwierigkeiten bringen. Dies entscheidet nach naturrechtlichen Prinzipien eindeutig gegen das Recht der Gewerkschaft zu politischen Zielsetzungen und Bestrebungen, soweit solche die erwähnten Grundüberzeugungen berühren. stehen an oberster Stelle die Unter den Pflichten der Gewerkschaften der sozialen Gerechtigkeit. Das Grundrecht der Gewerkschaften, nämlich das der Selbsthilfe vermittels der freien Vereinigung, ist ein Recht im Dienst der sozialen Gerechtigkeit und der Sicherung von Arbeitsbedingungen nach deren Forderungen. Diese gibt ihnen aber nicht nur Berechtigungen, wie vielfach einseitig angenommen wird, sondern legt ihnen auch Verpflichtungen auf. 1. Vor allem sind sie verpflichtet, bei ihren Lohnforderungen das volkswirtschaftliche Gesamtinteresse zu wahren, außerdem auf die Lage

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ihres Wirtschaftszweiges zu achten. Wenn sie ein fortschreitend steigendes Einkommen zu einem Grundprinzip ihrer Lohnpolitik machen, sind sie außerdem mitverantwortlich auch für eine im gleichen Ausmaß steigende Produktivität von Volkswirtschaft, Wirtschaftszweig und Betrieb (Methoden der „stillen Arbeitszurückhaltung", go slow tactics, verletzen auch die strenge an sich zur Wiedergutmachung verpflichtende Gerechtigkeit, wonach das Prinzip „Leistung gleich Gegenleistung" gilt.) In Widerstreit zur sozialen Gerechtigkeit stehen in besonderem Lohnforderungen, die über die Produktivitätssteigerungen hinausgehen, soweit die Währungsstabilität (eine Grundforderung der sozialen Gerechtigkeit!) gefährdet ist und eine schleichende Inflation die Gruppen schädigt, die nicht die Möglichkeit besitzen, durch kollektive Aktion Einkommensforderungen im Ausmaß der Währungsentwertung durchzusetzen. 2. Das Grundrecht der freien Vereinigung verpflichtet zur Achtung der Freiheit der Zugehörigkeit zur Gewerkschaft (negative Koalitionsfreiheit). Dieses Freiheitsrecht kommt dem Arbeiter zu, außer in Fällen, in denen im Widerstreit von Rechten nach den für einen solchen Widerstreit geltenden naturrechtlichen Prinzipien ein gegenteiliges Recht der Gewerkschaft eindeutig feststeht. Ein solches Recht muß eindeutig feststehen, weil im Zweifelsfall das einzelmenschliche Freiheitsrecht den Vorrang hat. Dieses Vorrangsprinzip gilt an sich, ist aber außerdem als Grundprinzip der demokratisch-freiheitlichen Gesellschaft anzusprechen. Denn sobald dieses Prinzip nicht mehr anerkannt ist, fehlt das gesicherte Kriterium für den Übergriff kollektiver Mächte in den individuellen Freiheitsbereich, seien diese Mächte der Staat, das Kartell (Trust), die Gewerkschaft, die Genossenschaft, die Unternehmerorganisation. 3. Das Recht der Vereinigungsfreiheit verpflichtet die Gewerkschaft weiDemokratie: Die Gewerkschaft beruht ters zur innergewerkschaftlichen auf freier Vereinigung, daher ist die Gewerkschaftsleitung in allen Grundfragen an den Willen ihrer Mitglieder gebunden. Gewiß mag eine nach demokratischen Prinzipien handelnde Führung ihrerseits darnach streben, den Willen der Gewerkschaftsmehrheit zu formen, sie wird sich aber ebenso verpflichtet wissen müssen, für die Möglichkeit der Willensäußerung durch die Gewerkschaftsglieder vorzusorgen und die Grundsätze der Gewerkschaftspolitik nicht zur Sache einer Oligarchie innerhalb der Gewerkschaft werden zu lassen. 4. Zu den Verpflichtungen der Gewerkschaft und zu ihrer Führung gehören schließlich Bildungsaufgaben, die die Gewerkschaftsmitglieder die unlösliche Verknüpfung ihres Gruppeninteresses mit dem allgemeinen Interesse von Volkswirtschaft und Staatsgemeinschaft sehen und beachten lehrt.

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Tatsächlich haben gerade die besten unter den Gewerkschaftsführern diese Aufgaben im Verlaufe ihrer Tätigkeit und der damit verbundenen Erfahrung verstehen und erfüllen gelernt: daß ihr Erfolg und der Erfolg der Gewerkschaftspolitik vom Schicksal und Gedeihen der Volkswirtschaft im ganzen abhängig ist 2 . Der Streik Der Streik ist die Arbeitsverweigerung durch die organisierte Arbeiterschaft zur Erreichung wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Ziele. Die Aussperrung ist die Verweigerung der Beschäftigung der Arbeiter durch Arbeitgeber zur Durchsetzung von Interessen ihrerseits. Beide kommen vor allem im Zuge von Kollektivvertragsverhandlungen zur Anwendung, wenn die eine oder andere Seite sonst nicht zu den von ihr gewünschten Vertragsbedingungen gelangen kann. Für beide gelten die gleichen naturrechtlichen Prinzipien. Die Aussperrung ist ein heute verhältnismäßig selten gebrauchtes Mittel. Es ist daher angezeigt, die naturrechtlichen Prinzipien in Anwendung auf den Streik darzulegen. Nach diesen Prinzipien steht zuallererst das Recht zum Streik fest. Es ist begründet in zwei natürlichen Freiheitsrechten: erstens in der Freiheit des Menschen zur Leistung oder Nichtleistung von Arbeit je nach der Einigung bzw. Nichteinigung über die dafür maßgebenden Bedingungen und zweitens in der Freiheit der Vereinigung (Koalitionsfreiheit) zu allen nicht gemeinwohlwidrigen Zwecken. Der Streik kann ein unerläßliches Mittel in der Hand der organisierten Arbeiterschaft bilden, berechtigte Ansprüche durchzusetzen. Er ist aber immer mit Schädigung eines oder mehrerer Betriebe, zumeist audi eines größeren Teiles oder auch der Gesamtheit des Staatsvolkes verbunden, außerdem immer infolge der aufkommenden Verbitterung mit nachteiligen Wirkungen auf den sozialen, oft auch den politischen Frieden. Daher sind der Anwendung des Streiks als Kampfmittel durch naturrechtliche Prinzipien Schranken gezogen. Seine Rechtfertigung hängt von der Natur und dem Rang der Rechtsgüter ab, deren Verletzung verhindert werden soll, und den Rechtsgütern, deren Verletzung mit dem Streik verbunden ist. In allen solchen Fällen handelt es sich daher um die Anwendung der für den Widerstreit (Kollision) von Rechten und Pflichten geltenden Prinzipien (vgl. Kap. 8 und 43). Unter den allgemeinen Prinzipien der Streikethik hat daher als erstes zu gelten, daß der Streik als Kampfmittel, weil verbunden mit den erwähnten mehr oder weniger weitreichenden Schädigungen, nur als letztes Mittel berechtigt ist, wenn alle friedlichen Mittel zur Beilegung der Gegensätzlichkeiten ernstlich versucht worden sind 8 . Damit verbindet sich das allgemeine Prinzip, daß Methoden der Beilegung von Arbeitskonflikten auszubilden sind, die die Berech2 Die im vorangehenden und folgenden behandelten Fragen sind Gegenstand der Gewerksdiaftsethik; die soziologische Seite bildet den Gegenstand der (zuerst in Deutschland) entwickelten Gewerkschaftstheorie; vgl. Goetz Briefs, Gewerkschaftstheorie, in: Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, hrsg. v. L. Heyde, 1931, Bd. I., 694—700. • Daß der Streik nur als letztes Mittel im äußersten Fall in Frage kommt, ist ein Prinzip, das, wie Günter Triesdi, Die Macht der Funktionäre: Macht und Verantwortung der Gewerkschaften, 1956, 284, hervorhebt, in der Gewerkschaftspolitik selbst beherrschend geworden 13t, vor allem auf Grund der Erfahrung, daß eine Oberspannung im Gebrauch der Streikwaffe mit schweren Risiken für die Gewerkschaftsbewegung und noch mehr für die Gewerkschaftsführung verbunden ist. Uber das Streikrecht selbst vgl. Goetz Briefs, Das Gewerkschaftsproblem gestern und heute, 1955, 60—68.

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tigung des Streiks als Kampfwaffe aufs äußerste beschränken; es sind Methoden, die für Kollektivvertragsverhandlung und Schlichtungsverfahren Sachlichkeit und Berücksichtigung aller in Frage stehenden Interessen der Streitparteien wie der Allgemeinheit gewährleisten; diese Methoden müßten dazu angetan sein, ebenso das Vertrauen der Streitparteien zu gewinnen wie auch der öffentlichen Meinung ein begründetes Urteil zu ermöglichen. Als allgemeines Prinzip ist es außerdem zu bezeichnen, daß während der Laufzeit eines Kollektivvertrages ein Streik nur gerechtfertigt sein kann, wenn der Vertrag vom anderen Vertragspartner nicht eingehalten wird. Ein allgemeines Prinzip betrifft schließlich den Streik der im staatsrechtlichen Beamtenverhältnis stehenden Gruppen; wegen ihrer auf den Diensteid begründeten Pflicht zu Treue und Gehorsam, ihrer verbürgten Beschäftigung und ihrer für die Zukunft gesicherten wirtschaftlichen Lebensgrundlagen sowie ihrer für die öffentliche Ordnung unerläßlichen Dienste dürfte ein Streik nur im Falle schwersten Unrechts gegen sie zu rechtfertigen sein 4 . Der Generalstreik kann wegen seiner schweren Auswirkungen für das Wohl und die Ordnung der Gesamtgesellschaft Berechtigung nur haben als Mittel im Kampf um wichtigste Rechte, so wenn die höchsten Güter der Gemeinschaft, die verfassungsmäßige Ordnung überhaupt oder grundlegende Freiheitsrechte oder die gewerkschaftliche Vereinigungsfreiheit selbst unmittelbar bedroht oder schon verletzt sind durch eine unrechtmäßige oder auch rechtmäßige Regierung. Der Generalstreik ist das Hauptmittel des gewaltlosen (unbewaffneten) Widerstandes; es gelten die für diesen (Kap. 132) zu erörternden Prinzipien. Im besonderen Sinne wird von „politischem Streik" gesprochen als von einem Streik zur Durchsetzung wirtsdiafts- oder sozialpolitischer Ziele, die auf verfassungsmäßigem Wege der Gesetzgebung nicht erreicht werden können; wir haben oben bei der Erörterung der Rechte der Gewerkschaften auch von den Möglichkeiten berechtigter sozialreformerischer und auch politischer Zielsetzungen gesprochen; die Mittel dafür dürfen die bestehende Verfassung und die der Demokratie eigene sittlich-rechtliche Grundordnung nicht verletzen; der politische Streik im 4 Was die verschiedenen Arten von Streiks angeht, so besitzt der „Demonstrationsstreik" (token strike), der Machtverhältnisse demonstrieren oder vorweg auf die Willigkeit der Unternehmerseite zu Zugeständnissen in einem neuen Kollektivvertrag einwirken will, an sich nie eine Berechtigung, weil ihm überhaupt kein bestehender Arbeitskonflikt zugrunde liegt. Ausnahmsweise kann der „Blitzstreik" (lightning strike), in dem eine Arbeitsniederlegung in völlig unvermittelter Weise erfolgt, mit der Gerechtigkeit vereinbar sein, nämlich angesichts eines bei Streikaufschub nicht wiedcrgutzumachenden schweren Unrechts, wie bei einer in Gang befindlichen Lieferung von Materialien, die der Regierung eines anderen Landes dienlich sein könnten, eine gerechte Volkserhebung zu unterdrücken, oder von Materialien, die einem gerechtigkeitswidrigen Unterfangen einer revolutionären Gruppe dienen sollen. Der „Sympathiestreik (sympathetic strike), nämlich der Streik einer Gewerkschaft zur Unterstützung der Forderungen einer anderen im Streik befindlichen Gewerkschaft, kann kaum mit den Prinzipien der Gerechtigkeit in Einklang gebracht werden, außer es handelt sich um Streiks in Unternehmungen, die einem Konzern angehören; denn sonst werden Unternehmungen geschädigt, die mit dem zum Streik führenden Arbeitskonflikt gar nidits zu tun haben. Der „wilde Streik" (nicht von der Gewerkschaft erklärt oder gutgeheißen, unofficial strike, manchmal auch mit lightning strike gleichgesetzt) braucht nicht unter allen Umständen der Rechtfertigung zu entbehren, ζ. B. kann er gerechtfertigt sein, wenn schwere Mängel der innergewerkschaftlichen Demokratie die gerechte Beurteilung eines großbetrieblichen Arbeitskonflikts auf Seiten der Gewerksdiaftsführung verhindern (auf diesbezügliche Diskussionen in England wird oben im Text Bezug genommen); im allgemeinen ist aber der wilde Streik schon wegen der damit verbundenen schweren Schädigung der Gewerkschaftsbewegung unstatthaft. Keine Rechtfertigung besitzt der „Proteststreikdessen Anlaß kein wirklicher Arbeitskonflikt bildet, vielmehr betriebsnotwendige Maßnahmen, wie Rationalisierung und Technisierung (Automatisierung), wobei Entlassungen von Arbeitern notwendig sind; anders, wenn solche Maßnahmen von der Betriebsleitung als Kampfmaßnahmen gedacht sind zur Untergrabung der Kampfbereitschaft der Gewerkschaften oder der Betriebsbelegschaft.

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fraglichen Sinn kann daher gerechterweise nicht in Anwendung kommen, solange nicht eine Regierung sich außerverfassungsmäßiger Mittel bedient, die zum politischen Widerstand berechtigen. In verschiedenen Staaten sind seit einigen Jahren Diskussionen über die Möglichkeit einer Streikgesetzgebung im Gange. Unter naturrechtlichen Gesichtspunkten könnte gegen eine das Gemeinwohl schützende Gesetzgebung gegen den Mißbrauch der Streikwaffe so lange nichts eingewendet werden, als nicht das Streikrecht selbst in seiner wesenhaften Funktion im Dienste der Durchsetzung gerechtfertigter Ansprüche der Arbeiterschaft beeinträchtigt würde. Im Gegenteil: An sich würde dem Gesetzgeber die Verpflichtung obliegen, Streikmethoden, die sich gemeinwohlschädigend auswirken, zu unterbinden. Für das tatsächliche Ausmaß seiner Verpflichtungen sind jedoch die Prinzipien maßgebend, die ihm die bestmögliche Wahrung der Gemeinwohlinteressen vorschreiben in dem Sinn, daß er in nicht wenigen Fällen Gemeinwohlwidrigkeiten zuzulassen gezwungen ist, um größere Obel zu verhüten (vgl. Kap. 49). Mit den fast unüberwindlichen Schwierigkeiten einer Streikgesetzgebung ist denn auch die erwähnte Diskussion hauptsächlich beschäftigt. Vorschläge gehen dahin, durch Gesetz die Streikerklärung einer Gewerkschaft strafbar zu machen, wenn nicht alle bestehenden Verhandlungsmöglichkeiten zuerst in Anwendung gebracht wurden; oder wenn ein Streik gegen den Spruch eines obligatorischen Schlichtungsverfahrens unternommen wird; oder wenn der Streik nicht von einer durch Urabstimmung ermittelten Mehrheit der Arbeiterschaft der Betriebe, die vom Streik betroffen wären, gutgeheißen ist. Unter den sich hinsichtlich des zuletzt genannten Vorschlages ergebenden Fragen werden besonders folgende erörtert: Wer ist zur Abstimmung berechtigt? Nur die Gewerkschaftsmitglieder? Warum nicht auch die Nichtmitglieder? Die Gewerkschaftsmitglieder können möglicherweise nur einen Teil der Belegschaft ausmachen. Von den Gewerkschaftsführern wird der Vorschlag mit dem Hinweis abgelehnt, daß eine Abstimmung bei einer Mehrheit von Streikwilligen sie gegen ihr besseres Urteil zum Ausrufen eines Streiks zwingen kann. Außerdem und nicht zuletzt erhebt sich die Frage, wieweit eine Abstimmung, um unbeeinflußt zu sein, unter Aufsicht staatlicher Organe erfolgen müßte und damit für den Staat die Gefahr des Eingriffes in die Vereinigungs- und Handlungsfreiheit der Arbeiterschaft bestehen würde. Das Zwangsschlichtungsverfahren wird fast einmütig von allen Seiten abgelehnt, weil damit die Handlungsfreiheit der Gewerkschaften und das Streikrecht selbst angegriffen erscheinen, außerdem dem Staat in jedem einzelnen Fall schließlich die Verantwortung für die getroffene Entscheidung zufallen würde. Dagegen bestehen günstige Erfahrungen (so in den .Vereinigten Staaten) mit dem freiwilligen Schlichtungsverfahren, dessen Schiedsspruch durch Ablehnung von der einen oder anderen Seite innerhalb einer bestimmten Frist unverbindlich gemacht werden kann. Dem gegen eine darauf abzielende gesetzliche Regelung erhobenen Einwand, daß von Arbeitgeberseite das Schlichtungsverfahren hinausgezogen werden könnte zum Zwecke der Ersparnis von Lohnerhöhungen, könnte begegnet werden durch eine Regelung, wonach die im Schlichtungsverfahren zugestandenen Lohnerhöhungen rückwirkend bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Einsetzen der Schlichtungsverhandlungen zu bezahlen wären. Gegenüber dem Einwand, daß auf Arbeitnehmerseite möglicherweise gegen den Willen der Gewerkschaftsführung auf dem Streik bestanden würde, denken nur vereinzelte an Mittel (wie die im Beveridge Report bei Arbeitsverweigerung

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in Einzelfällen vorgesehene Einstellung der Sozialleistungen) zur Durchführung des Schlichtungsspruches, schon deswegen, weil es eine Stärkung der ohnedies beherrschenden Stellung der Gewerkschaftsfunktionäre bedeuten würde; vielmehr wäre zu vertrauen, daß dem mit seiner Begründung bekanntgemachten Spruch wegen seiner Wirkung auf die öffentliche Meinung nicht ohne sehr gute Gründe zuwidergehandelt werden könnte. In jeder gesetzlichen Regelung der besprochenen Art müßte vorgesehen sein, daß, wenn dem Prinzip der Demokratie innerhalb der Gewerkschaft voll Rechnung getragen ist, Streiks in Ausnahmefällen ohne Straffälligkeit möglich wären, also solche, die ohne das an die gewerkschaftliche Mitwirkung gebundene Schlichtungsverfahren zustande kamen. Eine gesetzliche Regelung müßte demnach schützen einerseits das Gemeinwohl, daher Streiks (sowie Aussperrungen) verbieten, die mit den Verpflichtungen des Staates (Selbstverteidigung, Gesundheitsschutz, öffentliche Versorgungsbetriebe) unvereinbar sind (in den USA Möglichkeit der Untersagung dieser drei Arten von Streiks auf die Dauer von 80 Tagen; Taft-Hartley, Act, 1947); andererseits müßte durch Gesetz die Freiheit des Arbeiters und der Betriebsführung geschützt werden durch Unterbindung von Gewalt- oder Einschüchterungshandlungen gegenüber Arbeitswilligen (nichts ist einzuwenden gegen Streikposten, die nur mit den Mitteln sachlicher Aufklärung zu überreden suchen). Entwicklungstendenzen in der freien Gesellschaft und der ihr eigenen Marktund Wettbewerbswirtschaft scheinen auf eine allgemeine gesetzliche Regelung hinzudrängen, durch die gleicherweise alle von Monopolmächten ausgehenden Übergriffe in die für diese Gesellschaft grundlegenden Freiheitsbereiche ausgeschaltet werden. Daß die Gewerkschaft mit dem Streben nach dem Angebotsmonopol auf dem Arbeitsmarkt und das Kartell mit seinem Streben nach dem Angebotsmonopol auf dem Warenmarkt Organisationen nach dem gleichen Prinzip bilden, wurde oben hervorgehoben. Gewiß bestehen auf Seite der Arbeit in der Wettbewerbswirtschaft allgemeine Gründe für ihre Organisation: zum Zwecke der Verhütung der Gleichstellung der Arbeit mit der Ware und ihrer schwächeren Stellung beim Arbeitsvertragsabschluß. Aber der Selbsthilfe im Interesse des Wohls der Gruppe sind auf dem Arbeitsmarkt wie auf dem Warenwie markt Schranken gezogen sowohl durò einzelmenschliche Freiheitsrechte durch die gesamtgesellschaftliche Gemeinwohlordnung. Gegenüber Übergriffen der Monopolmächte nach der einen wie nach der anderen Seite einzuschreiten gehört zweifellos zu den Aufgaben des Gesetzgebers. Der Gewerkschaftszwang

(closed

shop)

Der Gewerkschaftszwang oder das gewerkschaftliche Arbeitsmonopol besteht darin, daß eine Gewerkschaft Arbeiter, die nicht ihre Mitglieder sind, von der Arbeit in den von ihr beherrschten Betrieben ausschließt. Der Arbeiter ist daher bei sonstigem Verlust des Arbeitsplatzes gezwungen, der Gewerkschaft beizutreten. Das Monopol kann durchgesetzt werden durch Streikdrohung gegenüber widerstrebenden Arbeitgebern oder auch durch Mitwirkung der Arbeitgeber, die sich von einem guten Verhältnis zur Gewerkschaft eine bessere Atmosphäre im Betrieb, namentlich eine ruhigere Entwicklung der Kollektiwertragsverhältnisse, versprechen. Auf Seite der Gewerkschaften werden vornehmlich zwei Gründe für das Recht auf das gewerkschaftliche Arbeitsmonopol angeführt: daß dieses notwendig sei zur Durchsetzung der für die Arbeiterschaft in der sozialen Gerechtigkeit begründeten Ansprüche, außerdem, daß alle Arbei-

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ter des Betriebes kraft des Kollektivvertrages in den Genuß der von den Gewerkschaften erzielten Vorteile kommen, daher auch zur finanziellen Beitragsleistung verpflichtet seien. In den Vereinigten Staaten war die Frage des gewerkschaftlichen Arbeitsmonopols Gegenstand teilweise erregter Auseinandersetzungen; dem englischen Denken widerstrebt der Gedanke einer ΖwangsVereinigung; auf dem europäischen Kontinent war das von Gewerkschaften auf Grund ideologisch-weltanschaulicher Gesichtspunkte beanspruchte Arbeitsmonopol Gegenstand heftiger Auseinandersetzung und staatlicher Gesetzgebung in der Zwischenkriegszeit. Überblickt man das Für und Wider, das in der Diskussion, besonders in den Vereinigten Staaten, geltend gemacht wurde, so scheint kein Argument sichtbar geworden zu sein, das eine Änderung dessen notwendig machen würde, was wir in der ersten Auflage des vorliegenden Buches als die für die Frage entscheidenden Prinzipien der Naturrechtsethik darlegten. Dem Recht auf das Arbeitsmonpol der Gewerkschaft steht, so sagten wir, das natürliche Recht des Einzelmenschen zur Arbeit, nämlich zum Erwerb des Lebensunterhaltes durch Arbeit gegenüber; das Arbeitsmonopol könnte daher nur gerechtfertigt sein unter ganz besonderen Umständen, nämlich zur Abwehr einer schweren Beeinträchtigung von Rechten der Gruppe; die Entscheidung über die Berechtigung des Arbeitsmonopols müsse daher in jedem Einzelfall nach den Prinzipien erfolgen, die für die Lösung von Rechtskonflikten und Pflichtenkollisionen gelten. Ein Recht auf das Arbeitsmonopol besteht sicherlich nicht, wenn der Gewerkschaftszwang, ausgeübt im Dienste parteiideologischer Überzeugungen oder parteipolitischer Ziele, Übergriffe in das Unrecht des Menschen auf die Freiheit des religiösen und sittlichen Gewissens bedeuten würde. Abgesehen von diesem Fall können sich Verhältnisse ergeben, in denen die Anerkennung der in der sozialen Gerechtigkeit begründeten Forderungen der Arbeiterschaft nur durch das geeinte Vorgehen der Arbeiterschaft erreichbar ist; dann gehen die Rechte der Gruppe dem natürlichen Recht des einzelnen zur Arbeit vor; ob das geeinte Vorgehen notwendig ist, bildet eine Tatsachenfrage. Aus diesen schon seinerzeit dargelegten Naturrechtsprinzipien, die als solche wohl unbestritten sein dürften, folgt erstens, daß es ein schlechthin und allgemein bestehendes Recht auf das Arbeitsmonopol nicht gibt, zweitens, daß im Zweifelsfall das natürliche Recht auf Arbeit in Geltung steht. Das bedeutet, daß in jedem einzelnen Fall, in dem eine Gewerkschaft ein Recht auf die Ausübung des Gewerkschaftszwanges und auf das Arbeitsmonopol beansprucht, von ihr der Beweis erbracht werden muß, daß es zur Durchsetzung der in der sozialen Gerechtigkeit begründeten wirtschaftlichen und sozialen Forderungen im Wirkbereich der Gewerkschaft unerläßlich ist. Für die dargelegte Beantwortung der Frage des Gewerkschaftszwanges sprechen noch folgende weitere Überlegungen. Das natürliche Recht der freien Vereinigung besteht nur für Zwecke, die nicht unvereinbar sind mit der natürlichen Ordnung der Rechte, was bedeutet, daß die Tätigkeit freier Vereinigungen und die dabei verwendeten Mittel nicht in Widerspruch stehen dürfen zu dieser Ordnung. In diese Ordnung fällt das natürliche Recht zur Arbeit, das einem anderen Recht wie dem zum Arbeitsmonopol nur weicht, wenn ein solches klarerweise aus den Umständen nachweisbar ist. Dazu kommt, daß nicht nur das Recht zur Arbeit in Frage steht, sondern auch das Recht der Vereinigungsfreiheit selbst. Dies ist das Recht eines jeden Menschen, eine Vereinigung mit ande-

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ren einzugehen, aber auch das negative, keine Vereinigung einzugehen, solange nicht höhere Güter einer Gemeinschaft oder Gruppe in Frage stehen, als durch Einschränkungen der persönlichen Freiheit des einzelnen betroffen sind. Eine einer Ortsgemeinde oder einem Gebiet drohende Gefahr kann die Zugehörigkeit zu einer sich bildenden Organisation zwecks Abwehr der Gefahr für den einzelnen zur Pflicht machen, auch für die zuständige Autorität das Recht auf Einführung der Zwangszugehörigkeit begründen, aber nur soweit und solange dies angesichts der Umstände notwendig ist. Die eben erörterten naturrechtlichen Prinzipien gelten auch hinsichtlich der Frage des Rechtes auf Gewerkschaftsbeiträge von Νich tm it gliedern („Solidaritätsbeitrag"). Diesen kommt ausschließlich die Stellung eines Mittels für die Erreichung der durch Ausübung des natürlichen Vereinigungsrechtes gesteckten Ziele zu. Es entscheidet also wieder die Tatsachenfrage, ob für die Erreichung der in der sozialen Gerechtigkeit begründeten Ziele einer Gewerkschaft die Einforderung eines Zwangsbeitrages unerläßlich ist. Wieder sind Rechte gegeneinander abzuwägen, nämlich das Recht des einzelnen auf sein Eigentum sowie auf die Verfügung darüber und das Recht einer Gewerkschaft auf eine Zwangsabgabe für die Ausübung des Rechtes zur Arbeit zum Zweck des Einkommenerwerbs. Und wieder gilt das Prinzip, daß, wenn nicht die Umstände (Situation) ein klares Recht der Gewerkschaft begründen, dem ursprünglichen Recht zur Arbeit und auf das aus dem Arbeitseinkommen erwachsende Eigentum der Vorrang zukommt. Dies besonders, wenn auf dem Arbeitseinkommen erhöhte Verpflichtungen ruhen, wie die des Erhalters einer Großfamilie. Daß eine eigentliche Gerechtigkeitspflicht für Nichtmitglieder bestehe, Gewerkschaftsbeiträge zu zahlen nach dem Prinzip der Gegenleistung für die mit dem Kollektivvertrag dem einzelnen zugute kommende Leistung, ist schon deshalb unbegründet, weil heute für die Arbeitgeberseite der Kollektivvertrag zumeist zur Selbstverständlichkeit, ja zum Requisit geordneter Betriebsführung geworden ist, das sich allein schon durch die Herstellung verläßlidi kalkulationsfähiger Arbeitsverhältnisse „bezahlt macht"; es sei gar nicht gesprochen von den enormen Fonds, über die die Gewerkschaften verfügen, deren Verwendung nicht immer nach dem Wissen (auf Grund einer vollen Einblick ermöglichenden Rechnungslegung) und Willen der Gewerkschaftsmitglieder erfolgt, aus deren Beiträgen sie gebildet sind. Obwohl demnach nur unter besonderen Umständen die Gewerkschaftszugehörigkeit eine Gerechtigkeitspflicht ist, bestehen doch vielfache Möglichkeiten andersartiger Verpflichtungen. Damit ist eine nicht minder wichtige Seite der Gewerkschaftsethik zur Erörterung gestellt. Die vorangehende, sich durch so viele Unterscheidungen und Vorbehalte den Weg bahnende Untersuchung war deshalb notwendig, weil Rechte, also Forderungen und Verpflichtungen der Gerechtigkeit, in Frage stehen. Für die Ethik des Gewerkschaftswesens kann jedoch kein Zweifel bestehen, daß die Zugehörigkeit zu den Gewerkschaften, die Beitragsleistung und die Mitarbeit sehr wohl in den Bereich der Forderungen anderer Tugenden oder Pflichten fallen können. Darunter ist zuallererst zu erwähnen die Tugend der Solidarität (vgl. Kap. 86), deren Übung je nach den Umständen wieder eine Anzahl verschiedener Haltungen und Verhaltensweisen des Einzelarbeiters gegenüber einer für ihn in Frage kommenden Gewerkschaft bedeuten kann: bloße Beitragsleistung, Mitgliedschaft, Mitarbeit durchschnittlicher Art, Mitarbeit mit gesteigertem Interesse, Mitarbeit in verantwortlicher Stellung, sogar ein Streben nach nachhaltigem Einfluß auf die Gewerkschaftsführung.

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Dabei ist zu beachten, daß, während die Gerechtigkeitspflichten ein Maß in sich tragen, eben bestimmt durch die Rechte, die ihren Gegenstand bilden, für die anderen Tugenden ein solches Maß nicht besteht. Dies ist der tiefere Grund dafür, warum die NichtÜbung sittlicher Tugenden, unter die die Tugend der Solidarität fällt, keineswegs immer mit der Schuld einer Pflichtverletzung (Sünde) verbunden sein muß, zumal es Vollkommenheitsgrade der Tugendübung gibt. In der Tat, manche Meinungsverschiedenheiten in der gegenwärtigen Frage würden sich leichter klären, wenn die in der Entwicklung der neueren Moral und Ethik bestehende Unterscheidung zwischen Tugendlehre, Pflichtenlehre und Sündenlehre stärkere Beachtung fände. Abgesehen von den Möglichkeiten einer Gerechtigkeitsverpflichtung kann eine höhere Solidaritätsverpflichtung, die nur gewichtigeren Entschuldigungsgründen weichen würde, vorliegen, so im oben erwähnten Zweifelsfall, wenn eine eigentliche Gerechtigkeitsverpflichtung nicht nachweisbar ist, aber infolge von Umständen die Tätigkeit der Gewerkschaften schwieriger und ihr voller Erfolg nicht gesichert ist. Eine sehr ernste Verpflichtung zur Mitarbeit in den Gewerkschaften würde bestehen, wenn ihre innere Entwicklung eine für sie selbst oder für das Gemeinwesen schwer bedenkliche Richtung nehmen würde, wobei wir wieder vor allem an Gruppen innerhalb von Gewerkschaften denken, die ζ. B. parteipolitisch kommunistische Ziele vertreten und die Gewerkschaftsbewegung in ihren Dienst zu stellen versuchen. Gar im Fall, daß eine Gewerkschaft unter der Führung einer kommunistischen Gruppe stünde, kann, wenn begründete Aussicht auf Erfolg besteht, eine sehr ernste Verpflichtung zur Gewerkschaftsmitgliedschaft zwecks Einsatz aller Mittel innergewerkschaftlicher Demokratie bestehen, um eine Änderung in der Führung herbeizuführen; es kann aber auch, wenn eine Aussicht auf Erfolg von vornherein nicht besteht oder die Aussichtslosigkeit sich später erweist, die Verpflichtung bestehen, durch Austritt aus einer solchen Gewerkschaft und eventueller Neugründung einer parteiideologisch neutralen Gewerkschaft für die Geltung der Grundwerte des demokratischen Gemeinwesens zu wirken. Von den erwähnten Fällen ist wieder zu unterscheiden der Fall einer Gewerkschaft, deren erster Funktionär zwar Kommunist ist, der sie aber in parteipolitisch neutraler Weise führt; dann gelten alle oben erörterten Regeln für die Anwendung der allgemeinen Prinzipien, einschließlich der für die Pflicht der Zugehörigkeit zur Gewerkschaft als einer Gerechtigkeitspflicht oder einer sonstigen Pflicht. Alle diese Fragen waren zu berühren, weil sie in verschiedenen Ländern Gegenstand teils sehr heftiger Auseinandersetzungen sind. Im Falle von Einheitsgewerkschaften, wie sie sich auf dem europäischen Kontinent finden, die, gestützt auf die parteiideologische Einstellung des überwiegenden Teiles der Mitglieder, parteipolitische Ziele vertreten, denen sich die Minderheit aus Gewissensgründen widersetzen muß, sind ähnliche Entscheidungen erforderlich: vor allem möglichst nachhaltiges Streben nach Durchsetzung einer ideologisch-neutralen Haltung der einzelnen Gewerkschaft mit Mitteln der innergewerkschaftlichen Demokratie, im Falle eines unbehebbaren Gewissensnotstandes kann aber der individuelle oder kollektive Austritt der Betroffenen geboten sein. Die Verantwortung für die möglicherweise eintretende Schwächung der Gewerkschaftsbewegung liegt dann bei jenen, die sich über die Verpflichtung der Gewerkschaftspolitik zur ideologischen Neutralität hinwegsetzen. Wir haben im Verlauf der vorausgehenden Erörterung immer wieder gefunden, daß es sich um Prinzipienfragen handelt, aber für die Anwendung der

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Prinzipien Tatsacbenfragen entscheidend sind wie hinsichtlich aller naturrechtlichen Prinzipien. Auf solche Tatsachen ist noch einzugehen. Um allgemein ein Recht der Gewerkschaften auf das Arbeitsmonopol im Betrieb zu begründen, müßte feststehen, daß die Gewerkschaftsbewegung heute ihre durch die soziale Gerechtigkeit legitimierten Ziele ohne das Arbeitsmonopol nicht zu erreichen vermag. Für die vorurteilsfreie Beurteilung der Tatsachen ist auf die entscheidende Bedeutung der Gewerkschaften für die bisherige Umbildung des Kapitalismus, aber auch auf die Stellung zu sehen, die den Gewerkschaften in der industriellen Gesellschaft heute gesichert ist, nämlich daß die „Arbeit" heute dem „Eigentum" (Kapital) an „gesellschaftlicher Macht" (vgl. Kap. 86) nicht mehr nachsteht. Selbst in einer Zeit, wo von einer solchen Stellung noch keine Rede sein konnte, schrieb Goetz Briefs in seinem bekannten, hinsichtlich der Grundfragen zum klassischen Schrifttum über das Gewerkschaftswesen gezählten Artikel: „Der freie genossenschaftliche Charakter der Gewerkschaft bringt es mit sich, daß die Gewerkschaft nicht alle Arbeiter erfaßt. Der genossenschaftliche Zweck erfordert auch nicht den Zusammenschluß aller. Aber nicht einmal der ,kartellarische Zweck4 der Interessenvertretung erfordert ihn. Er läßt sich verfolgen und verwirklichen mit einer wechselnden Quote der für die Zwecke der Gewerkschaft in Betracht kommenden Arbeiterschaft. Oft genügt dazu eine Minderheit, umso eher, als sie erfahrungsgemäß in kritischen Momenten sich als faktische oder anerkannte Führung des größeren Teiles oder gar der Gesamtheit der Arbeiter herausstellt 5." Daß damit Wesen und Möglichkeiten der Gewerkschaften richtig gesehen waren, beweist allein schon der seitherige unvorstellbare Aufstieg der Gewerkschaften zu „gesellschaftlicher Macht"; Briefs' Feststellung hinsichtlich der allgemeinen Tatsachenlage darf daher heute uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen. Auch was die finanzielle Seite der Gewerkschaften angeht, kann angesichts der den Gewerkschaften zur Verfügung stehenden Fonds kein Zweifel bestehen, daß, als Regel, die Tätigkeit für ihre in der sozialen Gerechtigkeit begründeten Ziele nicht durch Mangel an finanziellen Mitteln beeinträchtigt ist. Die Tatsachenlage spricht dahér weder für ein Recht auf das Arbeitsmonopol der Gewerkschaften noch für eine Gerechtigkeitsverpflichtung zur Gewerkschaftsmitgliedschaft. Dagegen besteht ein Grund von allgemeinster Bedeutung, der in der heutigen Gesellschaft zu größter Gewissenhaftigkeit in der Absteckung der Rechte von freien Vereinigungen und der Gerechtigkeitsverpflichtungen ihnen gegenüber mahnt: das ständige Vordringen von Kollektivmächten, die Gruppeninteressen den unbedingten Vorrang vor Freiheitsrechten zuzubilligen geneigt sind und durch Machtanhäufung Interessengegensätze zu ihren Gunsten zu entscheiden hoffen. Dabei ist der „Funktionär" nicht zu vergessen, dessen Gesetz des Handelns der Erfolg für seine Organisation ist®, außerdem, daß heute schon in den meisten Ländern des Westens vom Mangel an innergewerkschaftlicher Demokratie mit der Folge einer Herrschaftsstellung der Gewerkschaftsleitung gegenüber der Masse der Gewerkschaftsmitglieder, auch von einem ständig stärkeren Hervortreten politischer Zielsetzungen gesprochen wird. 5 G. Briefs, Gewerkschaftswesen und Gewerkschaftspolitik, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Band, 4. Auflage, Jena 1927, S. 1118; vgl. auch drs., Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus, 1952, worin Briefs' höchst beachtenswerte soziologische Hinweise auf heutige Entwicklungstendenzen im Gewerkschaftswesen bietet. β Vgl. /. Messner, Der Funktionär. Seine Schlüsselstellung in der heutigen Gesellschaft, 1961; engl, in USA: The Executive, 1965.

89. Die freien Vereinigungen

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Es wurde im vorangehenden zu zeigen versucht, wann und wieweit nach den naturrechtlichen Prinzipien den ursprünglichen Rechten des Einzelmenschen der Vorrang vor Rechtsansprüchen der Gruppe zukommt. Diese Rechte zu schützen ist eine der Grundaufgaben des Staates. Denn die Ordnung des Gemeinwohls, in deren Begründung und Sicherung er seine Wesensfunktion zu sehen hat, ist im entscheidenden Teil Ordnung der Freiheit. Zu den ursprünglichen Rechten des Menschen gehört das zur Arbeit und zum Erwerb des Lebensunterhalts. Weil es zum Grundbestand der Ordnung der Freiheit gehört, hat es der Staat zu schützen in dem Umfang, als nicht anderen Rechten ein Vorrang zukommt, nämlich Rechten einer Gruppe oder der Gemeinschaft im ganzen. Die dargelegten Prinzipien sprechen daher für die Berechtigung einer Gesetzgebung gegen den Gewerkschaftszwang, mit dem die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gewerkschaft zur Voraussetzung der Ausübung des Rechts zur Arbeit gemacht wird (in den Vereinigten Staaten die Right-to-Work Laws genannt), unter zwei Bedingungen: erstens, daß die Freiheit der Vereinigung als Grundrecht voll gewahrt bleibt, mit allen Möglichkeiten freier Betätigung, darunter besonders jener, die dem Hauptzweck der Vereinigung, dem Abschluß des die Arbeitsbedingungen regelnden Kollektivvertrages, dienen, zweitens, daß Vorsorge für Ausnahmefälle getroffen ist, in denen die Gewerkschaft die Notwendigkeit des betrieblichen Arbeitsmonopols im Kampf der Arbeiterschaft um die ihr kraft der sozialen Gerechtigkeit zustehenden Ansprüche nachzuweisen vermag 7 .

89. Die freien Vereinigungen D i e Gruppen mit eigenen Rechten, die in den letzten Kapiteln behandelt wurden, gehören teilweise schon in den Bereich der freien Vereinigungen. Dieser Bereich ist sehr umfassend, da jedes Ziel, das Gegenstand menschlicher Tätigkeiten und Bestrebungen ist, auch die Grundlage

für

eine Vereinigung sein kann. D i e literarische Gesellschaft, der Sportklub, die Aktiengesellschaft, der Tierschutzverein lassen das Ausmaß der Möglichkeiten in dieser Hinsicht erkennen. Solche Vereinigungen sind „freie" Vereinigungen in dem dreifachen Sinn: 1. daß sie nicht

„notwendige",

nämlich durch die N a t u r des Menschen für seine Vollentfaltung geforderte gesellschaftliche Einheiten sind; 2. daß ihre Bildung und die Zugehörigkeit zu ihnen auf dem freien Entschluß ihrer Mitglieder beruhen; 3. daß sie auf das ursprüngliche Freiheitsrecht, sich zu vereinigen, also auf ein Menschenrecht, begründet sind. D i e Familie, die Ortsgemeinde, der Staat sind „naturnotwendige"

Ge-

meinschaften, ihr Bestand und die ihnen eigenen gesellschaftlichen Funktionen sind für das vollmenschliche Sein, das Sein des Menschen als K u l 7 Solche Gesetze sind in den USA zwischen 1947 und 1954 in 18 Staaten geschaffen worden; so Edward A. Keller, C. S. C., The Case for Right-to-Work Laws: A Defense of Voluntary Unionism, 1956, 11 f.; 95 f. wird als Beispiel der Text des North Carolina Right-to-Work Law wiedergegeben; das Budi vermittelt einen lebhaften Eindruck der innerkatholischen Auseinandersetzungen in den USA über den Gewerkschaftszwang und über das betriebliche Arbeitsmonopol der Gewerkschaften.

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Messner, Naturrecht

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turwesen, unerläßlich, und die Verpflichtung des Menschen ihnen gegenüber ist seiner Willkür entzogen. Gewiß ist es nicht notwendig, in einer bestimmten Ortsgemeinde oder einem bestimmten Staat zu leben. Wo immer aber jemand zu leben sich entschließt, muß er die geltenden Gemeindegesetze oder Staatsgesetze beobachten. Da Gemeinschaften wie die Familie und der Staat für die Vollentfaltung des Menschen notwendig sind, kehren ihre Grundfunktionen in einer im Grunde gleichen Weise auf jeder Stufe der geschichtlichen Entwicklung des Gesellschaftslebens wieder. Anders verhält es sich mit den „freien" Vereinigungen. Ihre Gestalt und ihre Funktionen sind in viel höherem Maße durch geschichtliche Faktoren bestimmt, nämlich durch die besonderen Formen des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Lebens einer Gesellschaft. Die freien Vereinigungen scheiden sich in der modernen Gesellschaft in zwei große Gruppen. Die einen, wie die beruflichen Verbände, die politischen Parteien, die sozialen Selbsthilfeorganisationen, darunter Genossenschaften und Gewerkschaften, erfüllen gesellschaftliche Funktionen im öffentlichen Bereich, da ihre Ziele mit dem Leben und der Ordnung der Gemeinschaft sowie mit der Gestaltung des Gemeinwohls zusammenhängen. Der weitaus größte Teil der freien Vereinigungen erfüllt eine gesellschaftliche Funktion in einem anderen Sinne. Sie sind auch in der gesellschaftlichen Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen begründet, ihre Aufgabe ist aber auf die private Sphäre beschränkt. Die Bildung von freien Vereinigungen ist ein natürliches Recht, weil sie für den einzelnen zur Entfaltung seines Wesens von wesentlicher Bedeutung sein können. Diese Bedeutung ist in der Tat so groß, daß sehr vielen Menschen ihrem unmittelbaren Gefühl nach ihr Klub oder Verein unvergleichlich wichtiger erscheint für ihr Leben als die Gemeinde oder der Staat. Es wäre allerdings falsch, zu sagen, daß sie im Leben des einzelnen eine wirklich größere Rolle spielen; nur ist den einzelnen meist nicht bewußt, wie weit ihr ganzes Leben von Gemeinde und Staat abhängt, abgesehen davon, daß der Klub oder Verein selbst, würde der Staat seine Ordnungsfunktion nicht erfüllen, gar nicht bestehen könnte. Diese Vereinigungen stehen daher nicht auf gleicher Stufe mit Familie und Staat, wie der Individualismus annimmt. Noch weniger ist das freie Vereinigungsrecht auf eine ursprünglich unbeschränkte Freiheit des Individuums begründet, wie die individualistische Gesellschaftslehre behauptet. Kein Recht ist in sich unbeschränkt, auch das der Vereinigung erstreckt sich nicht auf Zwecke, die mit den existentiellen Zwecken des Menschen unvereinbar sind. Der Anspruch des Menschen, im Zusammenschluß mit anderen die Entfaltung seiner Persönlichkeit zu suchen, findet seine Be-

89. Die freien Vereinigungen

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gründun% in der Vielseitigkeit der menschlichen Einzelnatur und in der Ergänzungsbedürftigkeit der Individuen. Daher geht das Redit der freien Vereinigung letztlich auf die existentiellen menschlichen Zwecke zurück, muß aber zugleich im Einklang damit bleiben. Der Staat hat daher einerseits als Hüter des Gemeinwohls die Pflicht und die Aufgabe, das Recht der freien Vereinigung anzuerkennen und zu schützen, hat aber andererseits das Recht und die Pflicht, rechtliche Vorkehrungen zu treffen zur Überwachung der Ziele der freien Vereinigungen. Im Sinne dieser Prinzipien und Eingrenzungen hat der neuzeitliche Staat das freie Vereinigungsrecht unter die durch die Verfassung garantierten Grundrechte der Bürger aufgenommen und gesucht, durch Festlegung einer Anmeldepflicht („Vereinsrecht") die Voraussetzungen für die Wahrung der Gemeinwohlinteressen zu schaffen. Das freie Vereinigungsrecht gehört so sehr zu den Grundlagen der „freien" Gesellschaft, daß ihr pluralistisches Wesen weitgehendst davon bestimmt ist. Der Bereich des freien Vereinigungsrechts erstreckt si die den Prozeß der menschlichen Bedürfnisbefriedigung bestimmt, besteht darin, daß für diese die Mittel knapp sind. Der Vernunft („Vernunftrichtigkeit" vgl. Kap. 3, I V , V I ) ist damit die Aufgabe gestellt, mit den vorhandenen Mitteln das Beste nach den durch die personalen und sozialen existentiellen Zwecke des Menschen bestimmten Forderungen zu erreichen. Der in der Nationalökonomie gebräuchliche Ausdruck „Vernunftprinzip" (Rationalprinzip) erhält daher für die Wirtschaftsethik eine ethische Sinngebung, ja kann im Grunde, wenn an wahrhaft menschliches Handeln gedacht ist, überhaupt keinen anderen Sinn haben. Wir können dann definieren: Wirtschaften besteht in der bestmög1

Man

nicht

zu

logie

und

hat gemeint, sehen,

welche

ich h ä t t e andere

Sozialmetaphysik,

schaft u n d des G e m e i n w o h l s

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der

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Denn

schaftlichen V e r b u n d e n h e i t der M e n s c h e n b e i der E r f ü l l u n g gestellten

der Wirtschaft

Metaphysik

Wirtschaft,

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der

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Erörterung

der

die Sozialwirtschaft

als

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die

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Es i s t

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Gesell-

ist T e i l der

gesell-

der i h n e n durch d i e e x i s t e n t i e l l e n

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Wirtschaftsethik

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Metaphysik

d e r W i r t s c h a f t d a r a n gedacht w a r , d a ß sie i n e i n e r M e t a p h y s i k der W e r t e z u suchen sei, so g l a u b e n w i r auch i n dieser H i n s i c h t das W e s e n t l i c h e e r ö r t e r t z u h a b e n b e i der B e h a n d l u n g der Z w e c k e , der B e z o g e n h e i t der W e r t e

a u f sie, u n d der o n t o l o g i s c h e n u n d m e t a p h y s i s c h e n

b e i d e r i n d i e N a t u r des M e n s c h e n ( K a p . 3 f f . ) . V g l . auch J. Messner,

existentiellen Einordnung

K u l t u r e t h i k , K a p . 1 4 , 3 1 , 73—76.

jedoch

160. Die Sozialwirtsdiaft

983

liehen Verwendung der knappen Mittel im Dienste der mit den existentiellen Zwecken gestellten Aufgaben. „Bestmöglich" besagt Verwendung nach dem Vernunftprinzip 2 . Aus unseren Überlegungen ist gleich ersichtlich, daß nicht der Gelderfolg (Rentabilität) eines Unternehmens als solcher schon Beweis wirtschaftlich richtigen Handelns ist; denn er besagt an sich nichts über ein nach dem Vernunftprinzip geordnetes Wirtschaften und über die damit geforderte Achtung der eben erwähnten menschlichen und sozialen Seite alles wirtschaftlichen Handelns. Weil im Dienste der existentiellen Zwecke des Menschen stehend, ist die Wirtschaft an die Ordnung der Zwecke gebunden, wie sie in der Natur des Menschen vorgezeichnet sind (vgl. Kap. 3). Damit ergibt sich uns der Weg zu einer befriedigenden Einweisung eines Problems in die Gesamtproblematik des sozialwirtschaftlichen Prozesses, dem die ökonomische Theorie nie völlig gerecht zu werden vermochte. Dies ist das Wertproblem. Sie hat wohl einzelne Seiten des wirtschaftlichen Wertes unterschieden und danach Wertkategorien aufgestellt, die wir gleich erwähnen werden, aber eine Synthese ist ihr nicht gelungen. Wohl aus diesem Grunde ist ein Gutteil der heutigen Nationalökonomie überhaupt dazu übergegangen, nach einer kurzen Erwähnung des Wertbegriffes und seiner Unterarten zu erklären, daß Wert und Preis für die sozialwirtschaftliche Theorie identisch seien. Tatsächlich bildet in dieser, ausgenommen die Theorie von Marx und der Grenznutzenschule, der Wertbegriff ein erratisches Element, das ohne wirklichen logischen Zusammenhang mit ihrem übrigen System bleibt und von dem man nicht verstehen kann, warum es überhaupt berührt wird. Wie jedes Wertphänomen, so hat der ökonomische Wert seine subjektive und seine objektive Seite. Die subjektive wird bestimmend im Begriff des „Nutzenwertes" oder des „Gebrauchswertes": das ist die Eignung von Gütern und Leistungen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Die ® Immer verweisen.

Wirtschaft /Staat'

wieder

Das

Gesellschaft,

wird

versucht,

ist e i n I r r t u m

1921, 32, h e r v o r :

in

die

schon d a r a u s ,

praktisch

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Den

es f r e i l i c h gerade

nur

vorsorgliche

nur

der Mittel

den

für

Mittel"

den Staat

(Gewaltsamkeit)

Wirtschaft

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in

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ist, gerade

d a ß sie b e g r i f f l i c h

daß m a n

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ausschließlich

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usw. — erhellt

Wirtschaft

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Wirtschaft

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a n der K n a p p h e i t der M i t t e l , w e l c h e f ü r diese m e h r e r e Z w e c k e v e r f ü g b a r

zu und

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erscheinen". N o c h b e d e n k l i c h e r ist der z w e i t e I r r t u m i n der V e r w e i s u n g der W i r t s c h a f t i n d e n Bereich der M i t t e l ; gar

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denn

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der

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im

Zwecken

entsprechen als durch K o o p e r a t i o n

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schaftslehre, 4 . A u f l . „Fundament

der

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bildet

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dieses W o r t e s :

begründeten

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Verbundenheit.

Lehre

von

O.

Spann

1 9 2 9 , 25) u n d seiner S c h u l e ; v g l . d a z u / . Messner,

Volkswirtschaftslehre",

schaft u n d K u l t u r v g l . / . Messner,

Tijdschrift

Kulturethik,

voor

3 3 6 ff.

Philosophie,

und

Daß

die

Menschen

können

Kulturerfordernissen

„Wirtschaft

(Fundament

ein der

Inbegriff Volkswirt-

D i e Teleologie i n O . Spanns 9.

Jg.

Mai

zum

ihm

1947;

über

Wirt-

984

Der

e

der Sozialirtschaft

objektive Seite wird bestimmend im Begriff des „Kostenwertes": es ist der Arbeits- und Materialaufwand, der bei Erstellung von Gütern und Leistungen zur menschlichen Bedürfnisbefriedigung erforderlich ist. In der Sozialwirtschaft sind beide Seiten des Wertes kraft ihres gesellschaftlichen Wesens verbunden. Der Nutzen- oder Gebrauchswert der Güter und Dienste findet seinen Ausdruck in der „allgemeinen Schätzung", wie die mittelalterliche Natur rechtslehre gesehen hat; sie ist Ergebnis der Gleichartigkeit der Bedürfnisse in einer Gesellschaft; sie ist daher schon aus diesem Grunde gesellschaftlidi bedingt, außerdem aber aus dem Grunde, weil die Schätzung des Gebrauchswertes von Gütern und Dienstleistungen durdi die ihnen eigene Knappheit bedingt ist, weshalb alle Glieder der Volkswirtschaft zu einer Auswahl bei der ihnen (auf Grund ihres Einkommens) möglichen Bedürfnisbefriedigung genötigt sind. Das nötigt andererseits die Anbieter von Gebrauchswerten, auf möglichst niedrige Kosten bei deren Herstellung bedacht zu sein, um bei jener Auswahl zum Zug zu kommen. In der gesellschaftlichen Wirtschaft enthält daher der Gebrauchswert eine innere Beziehung zum Kostenwert. Nicht minder enthält umgekehrt der Kostenwert eine innere Beziehung zum Gebrauchswert. Denn die Naturgüter und Arbeitskräfte, die in einer Gesellschaft für die Befriedigung der bestehenden und steigenden Bedürfnisse zur Verfügung stehen, sind immer knapp. Der „Seltenheitswert", den sie besitzen, ist daher wesentlich gesellschaftlich bedingt; dies außerdem aus dem Grunde, weil die Glieder der Gesellschaft für die Kosten der von ihnen gewünschten Güter und Dienste aufkommen müssen, was, wie dargelegt, auf eine Senkung der Kosten hinwirkt. Nach beiden Seiten, der Nutzen- wie Kostenseite, erweist sich damit der Wert als gesellschaftlichen Wesens. In seinem gesellschaftlichen Wesen ist die Synthese der beiden Seiten des wirtschaftlichen Wertes zu suchen, die der Nationalökonomie solche Schwierigkeiten bereitete. Im Tauschwert, der in der Gütermenge besteht, die für ein Gut im Austausch gegen ein anderes erzielt wird, treten die subjektiven und objektiven Bestimmungsgründe des wirtschaftlichen Wertes in Wechselwirkung. Soweit dies der Fall ist, bildet der Tauschwert eines Gutes seinen „natürlichen Wert". Damit wird das sozialwirtschaftliche Wertprinzip zu einem allgemeinsten ethischen Ordnungsprinzip der Sozialwirtschaft: In der recht geordneten Sozialwirtschaft verwirklicht sich im Tauschwert die Bedeutung eines Gutes in der an die existentiellen Zwecke gebundenen, durch die gesellschaftliche Kooperation erfolgenden Bedarfsdeckung des Gesamtvolkes. Dieses vom wirtschaftlichen Wert her erarbeitete Ordnungsprinzip konnte nur ein sehr allgemeines sein, läßt aber klar genug erkennen, daß sein Wesen das der sozialen Gerechtigkeit ist.

160. Die Sozialwirtsdiaft

985

Die Arbeitswerttheorie Es hätte nicht der ausdrücklichen Versicherung durch / . St. Mill bedurft, um klarzumachen, daß die individualistische Theorie der Sozialwirtschaft eine sittliche Wertqualität im wirtschaftlichen Wert nicht zu sehen vermochte«. Dagegen geht aller Sozialismus in seinem Denken von der stillschweigenden Annahme einer ethischen Qualität des wirtschaftlichen Wertes aus. Nur deshalb konnte die Idee des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag so sehr sein Denken bestimmen. Die Arbeitswerttheorie ist vor allem durch Marx ausgebildet worden. Das alleinige konstitutive Element des wirtschaftlichen Wertes, sagt Marx, besteht in der darin „kristallisierten" Arbeit. Neben seiner Geschichtstheorie ist es die Werttheorie von Marx, die nach dem Urteil von Engels seinem Sozialismus zum „wissenschaftlichen" mache. Der Tauschwert der Waren, sagt Marx, ist zwar durch ihren Gebrauchswert bedingt, enthält aber selbst „kein Atom Gebrauchswert", denn es muß etwas Gemeinsames sein, das die Waren tauschfähig macht; ihr Gebrauchswert beruht aber auf ihrer Verschiedenheit, den verschiedenen geometrischen, physikalischen, diemischen und sonstigen Eigenschaften der Waren; man muß daher vom Gebrauchswert absehen, um den Tauschwert zu ergründen; dann bleibt den Waren nur die eine Eigenschaft, Produkte menschlicher Arbeit zu sein; daher besteht der Wert der Waren in „kristallisierter", „abstrakter" Arbeit; das Maß des Wertes der einzelnen Güter ist die beim jeweiligen Stand der Produktionstechnik zu ihrer Produktion „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit". Wie Marx von seiner Wertlehre aus zur Mehrwertlehre fortschreitet, ist bei der Behandlung des Zinses (Kap. 170) zu besprechen, hier ist zunächst die erstere zu würdigen. Eines hebt Marx zum Unterschied von den englischen Nationalökonomen im Wesen des wirtschaftlichen Wertes mit besonderer Betonung hervor; sein gesellschaftliches Wesen. Jedoch macht Marx schon bei seinem ersten Schritt in der Begründung seiner Wertlehre einen Verstoß gegen die Logik, ein Fehler, der in der Marxkritik nie hervorgehoben wurde. Er vergleicht konkrete mit abstrakten Eigenschaften, nämlich die durch konkrete Eigenschaften bedingte Nützlichkeit mit der abstrakten „Eigenschaft, Produkte menschlicher Arbeit zu sein". Vergleicht man dagegen die konkrete Arbeit, die die Waren enthalten, dann sind sie darin genauso verschieden wie in ihrem Gebrauchswert; und umschreibt man auch den Gebrauchswert abstrakt als die Eigenschaft, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, dann sind die Waren offensichtlich genauso in ihrem Gebrauchswert vergleichbar wie in dem von Marx konstruierten abstrakten Arbeitswert. Ein zweiter logischer Fehlsdiritt besteht darin, daß Marx mit seinem Begriff der „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit" den Gebrauchswert, den er aus dem Wertbegriff ausscheiden wollte, unbewußt wieder hineinnimmt. Denn das „gesellschaftlich notwendig" besagt, daß nicht jede, sondern nur eine gewisse Arbeitszeit von der Gesellschaft als „nützlich" beurteilt wird. Ein von der Kritik allgemein hervorgehobener dritter Widerspruch zu den Tatsachen in der Marxschen Werttheorie besteht darin, daß es eine beträchtliche Anzahl von Waren gibt, deren Wert offensichtlich nicht durch die darin kristallisierte Arbeit, sondern fast ausschließlich durch ihre Seltenheit bestimmt ist. Man denke an den Wert von Kunstwerken, Altertümern, Weinen bestimmter Gegenden oder längerer Lagerzeit, vor allem aber den Wert von Grund und Boden. Angesichts solcher Tatsachen nimmt Marx selbst die nicht beliebig reproduzierbaren Güter von seiner Wertlehre aus, ausdrücklich auch * J. St. Mill,

Principles of Political Economy, Β. I I I . Kap.

2.

986

Der

e

der Sozialirtschaft

Grund und Boden, ohne zu sagen, wie er dann seinen Anspruch, daß er mit seiner Wertlehre die Bewegungsgesetze der Sozialwirtschaft zu erklären imstande sei, aufrechtzuerhalten vermag. Ein Widerspruch zu den Tatsachen liegt, viertens, darin, daß auch die Waren, die im Arbeitsprozeß hergestellt werden, keineswegs in ihrem Werte seinem Wertgesetz folgen. Schon seine Behauptung, daß die „komplizierte Arbeit" nur ein Vielfaches der „einfachen Arbeit" darstelle, ermangelt einer näheren Qualifizierung des Vervielfachungsquotienten. Tatsächlich werden die durch höher qualifizierte Arbeit hergestellten Waren erfahrungsgemäß keineswegs nach einem Arbeitszeitschlüssel getauscht, sondern nach dem höheren „Gebrauchswerte", den man von ihnen erwartet, und nach der Knappheit der in sie eingehenden Arbeit. „Wissenschaftlich" ist daher die Marxsche Arbeitswerttheorie unhaltbar und wird tatsächlich nur vom doktrinären Marxismus, hauptsächlich in der kommunistischen Welt, vertreten. Wie sehr aber Marx' Theorie damit, daß sie auf die Beziehung des wirtschaftlichen Wertes zu den „gesellschaftlich notwendigen" Kosten hinweist, etwas Wesentliches hervorhebt, wird später (Kap. 164, bes. auch Anm. 1) ersichtlich werden. Die Methode der Wirt schaftsethik Sie ist die Methode der Ethik überhaupt, wie wir sie im ersten Buche entwikkelt haben. Das Naturgesetz, so haben wir gesagt, ist Natur, es muß daher aus der Natur des Menschen und seiner Beziehungen zur Wirklichkeit erhoben werden. Die „Naturrichtigkeit" oder „Sachrichtigkeit" ergab sich uns dabei als Kriterium des Sittlichen, des naturrechtlich Geforderten. Das Sittliche im Bereich der Wirtschaft ist demnach das durch die Natur der Sozialwirtschaft Geforderte, anRidotige. Die Sozialethik kann daher ders ausgedrückt: das sozialwirtschaftlich nur auf Grund einer Analyse der Sozialwirtschaft, ihrer Funktionen und Institutionen, zu einer ethischen Bewertung derselben gelangen. Dabei muß sie sich der Forschungsergebnisse der Erfahrungswissenschaft bedienen, deren Forschungsgebiet die Sozialwirtschaft bildet: der Volkswirtschaftslehre. Diese besitzt einen Bestand von allgemein anerkannten Lehren, der für die ethische Erörterung der Wirtschaft ausreicht. Theorien, die außerhalb dieses Bereichs allgemein anerkannter Lehren fallen, müssen in der wirtschaftsethischen Untersuchung außer acht bleiben, außer wenn zweifelhafte wirtschaftsethische oder wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen aus solchen Theorien gezogen werden; wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen sind nämlich, weil ziel- und wertbedingt, auch fast ausnahmslos zugleich ethischer Natur. So verlockend oft eine Diskussion der verschiedenen strittigen ökonomischen Theorien sein mag, die Sozialethik muß sich eine doppelte Beschränkung auferlegen: 1. Sie muß Fragen, die ausschließlich solche der ökonomischen Theorie sind, ausschalten; 2. ebenso Fragen, die ausschließlich die technisch-organisatorische Seite des sozialwirtschaftlichen Prozesses betreffen. Denn mit den Prinzipien und ihrer durch die heutigen Verhältnisse bedingten Geltungsweise allein ist die Ethik befaßt. (Eine weitere Beschränkung ist für die Sozialethik geboten in der Verwendung ökonomischer Fachausdrücke: Sie wird diese soweit als möglich vermeiden, ist sie doch in besonderer Weise eine Wissenschaft vom Leben, die dem Leben zu dienen hat und darum möglichst die Sprache des Lebens zu gebrauchen suchen muß.)

161. Der Zweck der S o z i a l i r t s a f t

987

161. Der Zweck der Sozialwirtschaft Wurde lange Zeit bestritten, daß die Volkswirtschaftslehre oder Nationalökonomie einen der Sozialwirtschaft wesenseigenen (immanenten) Zweck festzustellen vermag, so ist seit dem Ende des zweiten Weltkrieges eine völlige Änderung eingetreten. Allein schon die Ausdrücke „Wohlfahrtszeigen, daß der Wirtschaftsökonomik" und „soziale Marktwirtschaft" theorie und noch weniger der Wirtschaftspolitik der Begriff des Zweckes der Sozialwirtschaft wie auch der eines Sozialzweckes fremd ist. Als solcher wird heute fast allgemein genannt: Vollbeschäftigung bei Einkommenswachstum und Geldwertbeständigkeit, so sehr es auch allgemeine Überzeugung ist, daß alle drei Ziele gleichzeitig (hauptsächlich aus politischen Gründen) nicht erreichbar sind. Hier muß uns zunächst der Zweck der Sozialwirtschaft im allgemeinen beschäftigen, wie er aus ihrer in der Natur der Sache gelegenen Grundordnung erkennbar ist. Durch die sozialwirtschaftliche Kooperation decken, wie wir in unserer Begriffsbestimmung sagten, die Glieder der staatlichen Gemeinschaft ihren Lebens- und Kulturbedarf. Nur durch die gesellschaftliche Kooperation erreichen die Menschen eine Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse, die wesentlich über die des Tieres hinausgeht. Diese Kooperation vollzieht sich in der Frühzeit der Menschheit in der Familiengemeinschaft. Wollte aber jede Familie alle ihre Bedürfnisse allein befriedigen und ihr eigener Bauer, Bäcker, Schmied, Schuster, Schneider, Maurer sein, würden die Menschen nie eine primitive Kulturstufe überschreiten können. Erst wenn die Glieder einer größeren Gemeinschaft sich in die Befriedigung aller ihrer Bedürfnisse teilen, also zu deren Befriedigung zusammenarbeiten, vermögen sie einen höheren Lebensstandard zu erreichen. Demnach ist die Sozialauf Grund von Arbeitsteilung: dawirtschaft immer Arbeitskooperation durch, daß die einzelnen sich beruflich spezialisieren, werden die Bedürfnisse aller besser und reichlicher befriedigt. Was von der materiellen Sphäre gilt, gilt noch mehr von der geistigen. Ohne wirtschaftliche Kooperation würden die Menschen sich nie in den Bereich der höheren geistigen Kultur zu erheben vermögen, sie würden schon der Muße dazu ermangeln, noch mehr würden die Mittel fehlen; man denke an den Aufwand der heutigen Gesellschaft allein für das niedere und höhere Schulwesen. Die allseitig reichere und bessere Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist der Zweck der Sozialwirtschaft. Das illustriert jedoch nur eine Seite der an die Erfüllung der existentiellen Zwecke gebundenen Befriedigung der Bedürfnisse. Alle diese Bedürfnisse könnten so befriedigt werden, daß, wie für die Tiere, der Fut-

988

Der

e

der Sozialirtschaft

tertrog bereitgestellt wird, den durch Arbeit zu füllen sie angehalten würden. Es ist aber sofort klar, daß für die Menschen ein solches Verfahren alles andere als das seiner Natur entsprechende wäre. Denn kraft seines Geistes ist der Mensch ein schöpferisches Wesen. Der Mensch will selbst sein Leben und seine Lebenserfüllung gestalten, will daher in der Weise der Bedarfsgestaltung und der Bedarfsdeckung schöpferisch tätig sein. Mehr: Seine ihm in seiner Natur vorgezeichneten existentiellen Zwecke können als solche, weil sie Verantwortung für den Menschen bedeuten, gar nicht anders als in Eigenentscheidung verwirklicht werden. Dazu kommt: Werden und Reifen der menschlichen Persönlichkeit knüpft sich an die eigenverantwortliche Erfüllung der ihr in den existentiellen Zwecken vorgezeichneten Aufgaben, auch der wirtschaftlichen Lebensaufgaben (vgl. Kap. 24 ff.). Aus allen diesen Gründen haben wir in unserer einleitenden Definition der Sozialwirtschaft (Kap. 160) mit solchem Nachdruck die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen innerhalb der sozialwirtsdoaftlichen Kooperation hervorgehoben. Zwei Ordnungsprinzipien ergeben sich daher aus dem Zweck der Sozialwirtschaft. Denn die in Frage stehende Eigenentscheidung und Eigenwirksamkeit geht in doppelter Weise vor sich. Sie geschieht erstens dadurch, daß es dem Einzelmenschen zusteht zu wählen, welche Bedürfnisse er vorzugsweise befriedigen will und mit welcher Art von Gütern er sie befriedigen will. Das bedeutet Recht und Freiheit der Konsumwahl. Der eine lebt lieber in der Stadt, der andere auf dem Land; der eine verwendet mehr auf das Essen, der andere mehr auf die Kleider; der eine macht sich einen schönen Tag durch ein Glas Wein, der andere durch den Kauf eines Buches oder Besuch eines Konzertes. Noch wichtiger ist, zweitens, die Eigenentscheidung und Eigenwirksamkeit des Menschen in Verbindung mit seinem Trieb, qualitativ und quantitativ seine Bedürfnisbefriedigung zu verbessern. Der Mensch will schöpferisch seine Lebenserfüllung erweitern; er will Wirkraum haben, um durch seine Arbeit Möglichkeiten der Lebensentfaltung für sich und seine Familie zu sichern; er will den sozial wirtschaftlichen Prozeß bereichern, um dadurch einen größeren Anteil an dessen Ertrag zu erhalten. Das bedeutet Recht und Freiheit des Erwerbsstrebens, also das Recht zum Erwerb und zur Ausweitung des Lebensunterhalts durch Arbeit und durch die Privatinitiative. Beide Freiheitsrechte sind nur beschränkt durch die Rechte anderer und der Gesellschaft im ganzen; da die Freiheit der Konsumwahl ohne die des Erwerbsstrebens nicht möglich ist, kann auch der Hauptakzent auf diese als Ordnungsprinzip der Wirtschaft in der freien Gesellschaft verlegt werden.

989

161. Der Zweck der SozialWirtschaft

Der Zweck der sozialwirtschaftlichen Arbeitskooperation ist, so sagten wir, ganz und gar Teil des Zweckes der allgemeinen, dem Menschen durch seine Natur vorgezeichneten gesellschaftlichen Verbundenheit bei der Verwirklichung der existentiellen Zwecke. Für den wirtschaftlichen Bereich dieser Verbundenheit gelten daher alle Prinzipien, die wir in der Sozialphilosophie und Rechtsethik für die Konstitution und Funktion der Gesellschaft entwickelt und die wir im Gemeinwohlprinzip und Subsidiaritätsprinzip (Kap. 44 u. 45) zusammengefaßt haben. Das erstere bedeutet für die Sozialwirtschaft, daß ihr Zweck nur erfüllt ist, wenn alle Glieder der wirtschaftlichen Kooperation verhältnismäßig Anteil an ihrem Ergebnis erhalten; mit anderen Worten: Der Zweck der Sozial Wirtschaft ist das allseitige, nämlich das materielle und kulturelle Gemeinwohl, daher ihr regulatives Prinzip die soziale Gerechtigkeit. Das Prinzip der Subsidiarität bedeutet für die Wirtschaftsgesellschaft gleicherweise alles, was es für die Gesellschaft überhaupt besagt, nämlich, wie wir in unserer Grundlegung der Sozialethik gezeigt haben: so viel Freiheit als möglich, so viel Regelung als notwendig, nämlich im Interesse des Gemeinwohls; mit anderen Worten: Der Zweck der Sozialwirtschaft fordert das Höchstmaß von Freiheit der Konsumwahl und des Erwerbsstrebens, das mit dem Gemeinwohl vereinbar ist. Dabei ist im Auge zu behalten, daß die Begründung und Wahrung der Freiheitsrechte zum Grundbestand des Gemeinwohls gehören und außerdem ein Höchstmaß von freier Eigeninitiative der Gesellschaftsglieder die Voraussetzung für ein Höchstmaß von Gemeinwohl ist (vgl. Kap. 24 u. 25). Wir können dieses Gesetz auch so ausdrücken: Der Spielraum für die Entfaltung der freien schöpferischen Tätigkeit der einzelnen in der Konsumwahl und in der Produktionstätigkeit soll nur beschränkt sein, soweit es im allgemeinen Interesse erforderlich ist. Zusammenfassend können wir demnach definieren: Der Sozialzweck der Wirtschaft besteht in dem Vollmaß von allseitigem, allgemeinem Wohl, das bei einem damit vereinbaren Höchstmaß von Freiheit des Erwerbsstrebens mit den einer Volkswirtschaft verfügbaren Naturgütern und Arbeitskräften erreichbar ist 1 . Die Anwendung der behandelten Prinzipien auf den sozialwirtschaftlichen Prozeß, den Marktmechanismus, die Preis-, Lohn- und Zinsbildung sowie auf die Tätigkeit der wirtschaftlichen Organisationsformen, auf die Integration der Sozialwirtschaft muß uns im folgenden beschäftigen. Eines 1

Dei

Allgemeine 6. Aufl.

Nationalökonom

und

Sozialpolitiker

Volkswirtschaftslehre,

1954, V I ,

6.

Aufl.

definiert

1953,

u n £

7>

s a g t : „ D a s Z i e l der V o l k s w i r t s c h a f t

des r e a l e n A r b e i t s e i n k o m m e n s

unter W a h r u n g

der

im *

Grunde

D e r

nicht

Kampf

anders,

zwischen

da

Adolf

Kapital

und

Weber, Arbeit,

s o l l sein n a c h h a l t i g e S i c h e r u n g u n d S t e i g e r u n g

Freiheit

und Würde

des schaffenden

Menschen.*

Der Prozeß der Sozialwirtschaft

990

ist schon jetzt klar: Diese Prinzipien beinhalten den Grundriß rechtlich vorgezeichneten Ordnung der Sozialwirtschaft: Freiheit 2 .

einer naturdie der geordneten

162. Der Markt: Organ des sozialwirtschaftlichen Prozesses Da die Sozialwirtschaft wirtschaftliche Kooperation durch Arbeitsteilung ist, gehört der Austausch der Güter durch die Glieder der Gesellschaft zur naturgemäßen Struktur der Sozialwirtschaft. Die Wirtschaftsgesellschaft ist Tauschgemeinschaft. Der Tauschverkehr als Teil des sozial wirtschaftlichen Prozesses bildet den Markt; dieser ist daher wesentliches Organ der Sozialwirtschaft. Da sich unter natürlichen Bedingungen die Güter im ganzen Bereich der Volkswirtschaft zu dem Orte der besten Tauschmöglichkeiten bewegen, bildet der Markt eine Einheit. Das hindert nicht, daß er territorial (örtliche Märkte, Börsen der Provinzstädte und der Hauptstädte) und branchenmäßig (Baumwollmarkt, Kupfermarkt usw.) gegliedert ist: Alle Teilmärkte sind aber miteinander verbunden („kommunizierend") und voneinander abhängig. Der Markt erfüllt eine dreifache

Sozialfunktion:

1. Der Markt gehört zu den stärksten gesellschaftsbildenden Kräften. Diese Feststellung mag viele überraschen, wahrscheinlich nicht minder die Tatsache, daß dies auch die Anschauung des realistisch denkenden Thomas von Aquin ist (vgl. Kap. 171). Es ist einer der erstaunlichsten Züge der heutigen Literatur zur Soziologie, Gesellschaftslehre und Sozialethik, daß von dieser Urkraft gesellschaftlichen Verbundenseins kaum gesprochen wird außer im Sinne des vereinseitigten Toennieschen Begriffes der Gesellschaft (vgl. Kap. 16), worin von der in der Volkswirtschaft sich verwirklichenden Tauschgemeinschaft nichts mehr enthalten ist. Die gegenseitige Abhängigkeit der Einzelmenschen bei der Erfüllung der ihnen mit den existentiellen Zwecken gestellten Lebens- und Kulturaufgaben ist der Wesensgrund der Gesellschaft. Weil mit dem Eigeninteresse verknüpft, kommt diesen Kräften in der Sozialwirtschaft eine besondere Wirksamkeit zu. Gewiß geht damit die Gefahr der „Kommerzialisierung" der a

Man

hat

darauf

hingewiesen,

daß

in

unserer

Wirtschaftsethik

nicht

so oft

von

t i e l l e n Z w e c k e n d i e Rede s e i ;

tatsächlich s i n d sie g a n z u n d g a r z u m B e s t i m m u n g s g r u n d

der

der

„naturrichtigen"

begriff

des

Ordnung

„Sozialzweckes

scheidendes O r d n u n g s p r i n z i p duellen

und

sozialen

der

Sozialwirtschaft

Wirtschaft";

gemacht,

dieser

Begriff

allerdings hebt

die

vorwiegend soziale

den

existen-

(Kriterium)

unter

Gerechtigkeit

dem als

h e r v o r , u m f a ß t a b e r , w i e aus d e m T e x t o b e n ersichtlich ist, d i e

existentiellen

Zwecke,

die

Persönlichkeitswerte

wie

die

Leitent-

indivi-

Gemeinschaftswerte.

162. Der Markt: Organ des sozialwirtsdiaftlidien Prozesses

991

Gesellschaft einher, jedoch in Wirtschaft, Tauschverbundenheit und M a r k t nur Kommerzialisierung zu sehen wäre so falsch, wie im Menschen nur ein biologisches Wesen sehen zu wollen, weil er Nahrung zu sich nehmen muß. 2. Der M a r k t übt die weitere Sozialfunktion der Wirtschaftslenkung aus. Er übermittelt in der Nachfrage den Produzenten die Aufträge der Konsumenten, und er zeigt den Produzenten, welche Güter sie bei den für die Produktion notwendigen Kosten absetzen können. Der tiefere Grund für die fragliche Sozialfunktion des Marktes liegt in der ganz an ihn gebundenen Wertbildung, handle es sich um Güter oder Dienste. Durch den Markt wirken sich die beiden wertbildenden Faktoren aus: die allgemeine Schätzung der Güter durch die Wirtschaftsgesellschaft („Gebrauchswert") und der gesellschaftlich notwendige Aufwand für ihre Produktion („Kostenwert"). Damit verwirklicht der nach dem Wertgesetz (vgl. Kap. 160) funktionierende M a r k t das Gravitationsgesetz der Sozialwirtschaft:

die Bewegung des Tauschwertes

der Güter zu den geringsten

Kosten,

d . h. zum „natürlichen WertEr wirkt so darauf hin, daß mit den gegebenen Gütern und Arbeitskräften die bestmögliche Deckung des Lebensund Kulturbedarfes der Wirtschaftsgesellschaft erzielt wird. 3. Engstens damit verbunden ist die Sozialfunktion des Marktes im Dienste des wirtschaftlichen Fortschritts, der wirtschaftlichen Entwicklung oder, wie man heute auch sagt, des wirtschaftlichen Wachstums: Er mobili-

siert ein Höchstmaß von Kräften

der Wirtschaftsgesellschaft

zur Erzielung

einer reicheren und besseren Deckung ihres Lebens- und Kulturbedarfs, mit anderen Worten, eines progressiven Lebensstandards. Die Anbieter von Waren und Diensten können im Tauschverkehr bestehen, wenn ihnen im Tauschwert ihre Güter und Leistungen Material- und Arbeitsaufwand ersetzt werden, die in diese Güter und Leistungen eingegangen sind. Sie erzielen einen Überschuß darüber, einen Gewinn, wenn sie vermögen, Güter von gleicher Qualität zu geringeren Kosten oder von besserer Qualität zu gleichen Kosten herzustellen, als sie zum durchschnittlichen Tauschwert angeboten werden. Daraus ergibt sich, wie wir später noch eingehend zeigen werden, daß der Wettbewerb wesentlicher Teil der Ordnung der Sozial Wirtschaft ist: Die Kooperation erfolgt durch die Konkurrenz. Wie alle gesellschaftlichen Einrichtungen ihren Zweck und ihre Funktion nur unzulänglich erfüllen, so entspricht auch der Markt seinem Sozialzweck und seiner Sozialfunktion nur mehr oder weniger unvollkommen. Die Naturrechtsethik muß aber zunächst von der Naturordnung her denken, um nach dem Prinzip der Sachrichtigkeit zu urteilen, Fehlentwicklungen festzustellen und Forderungen zu umschreiben.

Der Prozeß der Sozialwirtschaft

992

Die „Anarchie" der Konkurrenz Daß in der Zeit des individualistischen Laissez-faire-Kapitalismus die Erfüllung der Sozialfunktion des Marktes sdiwerstens beeinträchtigt war, wird heute kaum von jemand bestritten. Die Folge waren die periodischen Wirtschaftskrisen mit der damit einhergehenden Arbeitslosigkeit und Kapitalvernichtung. Der Sozialismus begründete auf diese Tatsachen seine „allgemeine Theorie", daß Marktwirtschaft und Konkurrenz schlechthin Anarchie bedeuten müsse. Dies ist vor allem die Theorie von Marx, die er mit seinen Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Wirtschaft zu erhärten suchte. Nach dem Arbeitswertgesetz (vgl. Kap. 160) entstehe Profit nur aus dem auf Löhne aufgewandten „variablen Kapital" und nicht aus einem in Maschinen investierten „konstanten Kapital". Un in der Konkurrenz bestehen zu können, müssen die Kapitalisten zu immer neuen technischen Produktionsmethoden greifen, also zur Vergrößerung des konstanten Kapitals. Das „Zwangsgesetz der Konkurrenz" treibe so zur Vergrößerung des „konstanten" Kapitals und zur Ausweitung der Produktion, zugleich zur Verringerung des „variablen" Kapitals, der Löhne, und daher der Kaufkraft zum Aufkauf der produzierten Güter. Die Folgen müssen periodische, sich ständig verschärfende Krisen sein. Die Erfahrungswirklichkeit hat Marx' Analyse der Marktmechanik nicht bestätigt. Marx übersieht vor allem, daß die Vergrößerung des konstanten Kapitals nicht aus sich selbst erfolgt, sondern daß dazu Arbeitskräfte notwendig sind. Der Kapitalverwertungsprozeß zeigt auch durchaus nicht die einseitige Bewegung vom variablen zum konstanten Kapital. Vielmehr geht mit der Entwicklung der Produktionstechnik ein wachsender Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften einher; tatsächlich ist mit der fortschreitenden Vergrößerung des „konstanten" Kapitals in der Technisierung eine fortschreitende Erhöhung der Lohneinkommen, des „variablen" Kapitals, erfolgt. Außerdem spricht gegen die Marxsche Theorie die Tatsache, daß die Unternehmer genausowenig Neigung zeigten, sich dem kapitalistischen Marktmechanismus auszuliefern wie die Arbeiter; genau wie die letzteren zur Selbsthilfe schritten durch Bildung der Gewerkschaften, verständigten sich die Unternehmer zum Zwecke der Verhinderung ruinöser Konkurrenz durch Bildung von Kartellen. Außerdem vermochten sich entgegen der Marxschen Prognose durchaus die kleineren selbständigen Unternehmer im Gewerbe zu halten. All dies zeigt, daß Marx' „Zwangsgesetz" der Konkurrenz ebensowenig in der Wirklichkeit eine Bestätigung findet wie die deterministische Formel von der „Anarchie" der Konkurrenz. Etwas anderes sind die tiefgehenden Friktionen des Marktes; dies führt zur Frage, wie dem Markte eine Ordnung gegeben werden kann (vgl. Kap. 181).

Die „Gesetze" der Volkswirtschaftslehre Den Markt als Organ der gesellschaftlichen Kooperation erforscht die Volkswirtschaftslehre. Ihre Gesetze sind mit wenigen Ausnahmen Marktgesetze: Gesetze

der Wechselwirkung

von Angebot und Nachfrage

und der damit verbundenen

Bewegung der Preise, Lohne, Zinsraten, Renten. Dabei muß die Volkswirtschaftsichre, wie jede mit menschlichem und gesellschaftlichem Handeln befaßte Theorie, um überhaupt möglich zu sein, von begrifflichen Voraussetzungen ausgehen, die dem „reinen Typus" des Sinnes einer gesellschaftlichen Erscheinung entsprechen, von „Idealtypen", wie Max Weber in seinen bekannten methodologischen Untersuchungen solche Begriffe bezeichnet1. Der heute vielfach verwendete 1

Max Weber,

Wlrtsdiaft u n d Geaelltdiaft, 1922, 1 - 3 1 : Methodische

Grundlagen.

993

162. Der Markt: Organ des sozialwirtschaftlichen Prozesses

Begriff „Modell" beruht dagegen auf mehr oder weniger willkürlicher Annahme bestimmter Voraussetzungen des Ablaufs bestimmter volkswirtschaftlicher („makroökonomischer") Zusammenhänge zum Zwecke ihres Durchdenkens (dem „Modelldenken" ähnlich ist die in der Wirtschaftswissenschaft der USA als economic analysis bezeichnete Methode); wenn dabei allzu oft Modell und Wirklichkeit gleichgesetzt wird, so nicht zuletzt deshalb, weil noch keine den Weberschen Bemühungen nur entfernt nahekommende erkenntnistheoretische oder methodologische Klärung der Voraussetzungen und der Geltungsweise des „Modelldenkens" bisher versucht worden ist. Weil die Theorie von idealtypischen Voraussetzungen ausgehen muß, besitzen ihre Verallgemeinerungen der Wechselwirkungszusammenhänge („Gesetze"), in denen sie den sozialwirtschaftlichen Prozeß erfaßt, nur einen Näherungswert: Dieser Prozeß wird nie genauso verlaufen, wie ihn die Gesetze beschreiben2. Diese Gesetze sind jedoch, soweit ihre „idealtypischen" Annahmen der wesenhaften menschlichen Natur entsprechen, Naturgesetze der Sozialwirtschaft. Gewiß, eine Gesellschaft kann sich eine Wirtschaftsordnung konstruieren, die sich dieser Gesetze ganz oder teilweise entschlägt, sie wird es aber mit einer größeren oder geringeren Einbuße an allgemeiner wirtschaftlicher Wohlfahrt zu bezahlen haben.

Die Nationalökonomie

selbst hat ihre grundlegenden

idealtypischen

Voraus

setzungen teilweise mißverstanden und mußte daher zu falschen Schlußfolgerungen kommen, Schlußfolgerungen, die die Anschauungen über die Ordnungsprinzipien der Wirtschaft durch mehrere Generationen irreleiteten. Ein solcher Idealtypus ist der homo oeconomicus. Er bedeutet an sich den Menschen, der bei seinem Handeln der wirtschaftlichen Vernunft folgt; dieser Idealtypus ist für die Wirtschaftstheorie unentbehrlich. Vom Manchesterliberalismus wurde wirtschaftliche Vernunft mit wirtschaftlichem Interesse verwechselt und der homo oeconomicus als der reine Wirtschaftsmensch interpretiert, der ausschließlich nach seinem wirtschaftlichen Eigeninteresse handelt, so handeln soll und ein Recht zu solchem Handeln hat. Außerdem wurde darauf das wirtschaftspolitische Prinzip des Laissez-faire begründet, das die Freiheit zum alleinigen fundamentalen Ordnungsprinzip der Sozialwirtschaft macht (in Verbindung mit der Idee der „Harmonie der Interessen"; vgl. Kap. 22). Die Folgen waren die mit dem liberalistisdien Wirtschafts- und Sozialsystem ein hergehenden Krisen, die Arbeitslosigkeit, der Klassenkampf. Der homo oeconomicus muß aus seiner auch die Personwürde umfassenden ganzen Vernunftnatur verstanden werden 8 und * Vgl. und

dazu /.

Messner,

Naturreditsgesetz,

h r s g . v . A. waukee,

Kruse,

USA,

in:

Sozialökonomie

1952; drs., L a w

Sept.

1955;

fortbildete,

sieht k l a r

Attempts

i n E c o n o m i c s a n d Ethics, i n :

Festsdir. für

und

have

e t h i c a l forces

indeed

been

Wohlfahrtstheorie,

to

drs.,

Wirtschaftsgesetz

für

Adolf

Weber,

in:

(Principles

of

an

Economics, 5.

abstract

Ent-

Lagler-Messner,

hrsg. von

science

1952.

England

e d 1 9 0 7 , Preface

those o f w h i c h the e c o n o m i s t

construct

Mil-

Wirtschaftliche

d e r das E r b e der klassischen Schule i n

are a m o n g

made

1929;

Festschrift

Review of Social Economy,

Degenfeld-Schonburg,

die unzulässige Einengung "But

2. A u f l .

Wirtschaftspolitik,

der b e d e u t e n d e N a t i o n a l ö k o n o m ,

t h e First E d i t i o n 1 8 9 0 ) : àccount.

und

drs., Wirtschaftstheorie

wicklung u n d Soziale O r d n u n g ,

• A. Marshall,

und Sozialethik,

Wirtschaftstheorie

with

has

to

regard

to

the

a c t i o n s o f a n ' e c o n o m i c m a n ' , w h o is u n d e r n o e t h i c a l influences a n d w h o p u r s u e s p e c u n i a r y warily

and

energetically,

but

mechanically

and

selfishly.

But

they

have

not

been

to

take gain

successful,

nor

e v e n t h o r o u g h l y c a r r i e d o u t ; f o t h e y h a v e n e v e r r e a l l y t r e a t e d t h e e c o n o m i c m a n as p e r f e c t l y selfish. No

one

could be relied

o n better

than

the

economic

unselfish desire to m a k e provision for his f a m i l y ; a s s u m e d t o i n c l u d e t h e f a m i l y affections.

man

to

endure

toil

and

sacrifice

a l t r u i s t i c m o t i v e s , t h e a c t i o n o f w h i c h is so f a r u n i f o r m

i n a n y class a t a n y

Messner, Naturrecht

the

other

t i m e a n d place,

i t c a n b e r e d u c e d t o g e n e r a l rule? T h e r e eeems t o b e n o g o o d r e a s o n a g a i n s t i n c l u d i n g

63

with

a n d h i s n o r m a l m o t i v e s h a v e a l w a y s been t a c i t l y

B u t i f these m o t i v e s a r e i n c l u d e d , w h y n o t a l s o a l l

them.4'

that

994

Der Prozeß der Sozialwirtschaft

nicht bloß als wirtschaftlicher Kalkulationsmechanismus. Und in der Wirtschaftsordnung selbst muß die Einhaltung der im Gemeinwohl gelegenen Institutionen gesichert werden; nur dann kann der Markt seine Sozialfunktion in einem Höchstmaß erfüllen.

Die wertfreie

Theorie in der Volkswirtschaftslehre

Der Teil der Volkswirtschaftslehre, der sich ausschließlich mit den Wechsel-

wirkungszusammenhängen

im Ablauf des sozialwirtsdiaftlid)en

Prozesses

faßt, wird als theoretische Volkswirtschaftslehre, Sozialökonomik oder auch als „reine Theorie" der Volkswirtschaft bezeichnet. Diese reine Theorie schließt jede Einbeziehung von Zwecken und daher auch von menschlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und sittlichen Werten aus. Sie will nur die kausalen Zusammenhänge oder besser, weil es sich um Wechselwirkungen handelt, die funktionalen Zusammenhänge im sozialwirtschaftlichen Prozeß untersuchen; das Urteil über die Zwecke, die in diesem Prozeß angestrebt werden sollen, will sie, weil durch Werturteile bedingt, der Ethik überlassen oder erklärt ihre Auswahl für die tatsächliche Gestaltung einer Sozialwirtschaft als Sache der Politik. Es ist kein wirklicher Grund zu ersehen, warum eine solche reine Theorie unter ethischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen wäre, wenn sie sich der Grenzen ihrer Methode bewußt bleibt. Niemand denkt daran, der medizinischen Wissenschaft die Berechtigung abzusprechen, weil sie zur Grundlegung der Medizin als Heilkunst sich auf die Erforschung und Darstellung der Funktionszusammenhänge im menschlichen Körper beschränkt, also auf die biologische Seite der menschlichen Natur ohne Rücksicht auf den Menschen als Person. Gleicherweise ist es berechtigt, die wirtschaftlichen Funktionszusammenhänge im Sozialkörper zu erforschen und darzustellen, unabhängig von dem ihm eigenen Wesen als Gemeinschaft. Der Gemeinschaftszweck, das Gemeinwohl, kann nur sachrichtig erstrebt werden auf Grund der Erkenntnis der kausalen Zusammenhänge im sozialwirtschaftlichen Prozeß. Diese reine Theorie hat einen werkzeuglichen Charakter, sie ist unentbehrlich für jeden, der der Volkswirtschaft Wertziele steckt, sei es als Volkswirt (Nationalökonom), Ethiker oder Politiker. Wir haben in den vorangehenden Kapiteln keinen Zweifel gelassen, daß die Volkswirtschaft ganz und gar mehr ist als nur ein wirtschaftlicher Wechselwirkungszusammenhang. Ihr Wesen ist das der gesellschaftlichen Verbundenheit der Menschen bei der Erfüllung der ihnen mit den existentiellen Zwecken gestellten Aufgaben, ihr wesenseigener Zweck ist das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gemeinwohl, die Volkswohlfahrt. Zum Unterschied von der „reinen" Theorie wird eine Volkswirtschaftslehre als „allgemeine" Theorie an diesem Zweck orientiert sein müssen. Dabei besteht die Möglichkeit, daß Nationalökonom und Ethiker sich treffen, wenn sie sich im Aufsuchen dieses Zweckes und damit des volkswirtschaftlichen Grundzieles und Grundwertes streng an die „Natur der Sache", nämlich an die Natur der Volkswirtschaft als Verbundenheit von Gliedern einer staatlichen Gemeinschaft im Streben nach Einkommen zur Deckung ihres Lebens- und Kulturbedarfes halten (vgl. Kap. 161, Anm. 1). Die wissenschaftliche Berechtigung, aber auch die Grenzen einer „reinen" Theorie lassen sich an der Hand der Unterscheidungen, mit denen Max Weber die viele Geister in Bewegung setzende Diskussion über „Wertfreiheit" der Volkswirtschaftslehre einleitete, umschreiben: Sie bietet die Handhaben zur sachlichen Überlegung und sachlichen Erörterung der Mittel im Dienste volkswirtschaftsund sozialpolitischer Zielsetzungen, und sie vermag zu sagen, welche Wirtschaft-

b

162. Der Markt: Organ des s o z i a l w i r t s a f t l i e n Prozesses

995

liehen Auswirkungen, besonders audi unerwünschte Nebenwirkungen, mit der Verwendung bestimmter Mittel für bestimmte Ziele verbunden sein werden, ζ. B. mit Maßnahmen des Staates bei wirtschaftspolitischen Zielsetzungen. Dagegen hat die „reine" Theorie, wie ihre Hauptvertreter selbst betonen, keine Berechtigung von sich aus, im Namen der Wissenschaft etwas über Zielsetzungen selbst auszusagen. Soweit Vertreter dieser Art von Theorie solche Aussagen machen, sprechen sie als Politiker oder Sozialreformer, die von Wertannahmen geleitet sind 4 . Eine solche Beschränkung auf die Sozialökonomik als reine Wissenschaft ist, wenn konsequent eingehalten, ein großer Fortschritt gegenüber jener liberalistischen Ökonomik, die, wie oben erörtert, ihre methodologischen Voraussetzungen in ethische und politische Postulate umdeutete. Daß in der weitreichenden Diskussion über die Wertfreiheit der Volkswirtschaftslehre eine Einigung nicht erzielt wird, liegt an der Unschärfe der verwendeten Begriffe, namentlich auch des Begriffes Volkswirtschaftslehre. Eine Verständigung ist nicht erzielbar, wenn man auf der einen Seite, wie Francesco Vito , die Wirtschaftswissenschaft einfach mit „politischer Ökonomie" gleichsetzt, also ohne Unterscheidung von „reiner" und „allgemeiner" Theorie, und auf der anderen Seite die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Werterkenntnis überhaupt leugnet, wie W. Weber — E. Topitsch. Beide, Vito und Weber-Topitsch, wenden sich gleicherweise gegen meine Darlegungen zur Frage des Werturteils in der Volkswirtschaftslehre, der erstere, weil er mich zu den Vertretern der Wertfreiheit rechnet, die letzteren, weil sie mich zu den Vertretern des Wertgedankens zählen; diese gegensätzliche Beurteilung allein scheint mir ein nicht zu unterschätzendes Zeugnis für die Richtigkeit meiner Stellungnahme zu sein, die auf dem distinguo aufgebaut ist, ohne das man in einer so komplizierten menschlichen Wirklichkeit wie der Volkswirtschaft leicht zu Theorien ohne wirkliche Wahrheitserkenntnis kommt 5 . Wissenschaftstheoretisch geht die Diskussion weiter, wirtschaftstheoretisch erfolgte seit Ende des zweiten Weltkrieges ein vielfach unkritischer Übergang von der wertfreien zur wertgerichteten Volkswirtschaftslehre durch die heute so weithin beherrschende „Wohlfahrtstheorie", die sich jedoch bei ihren Zielsetzungen sehr oft weniger von der „Natur der Sache" als von politisch und ideologisch vorgefaßten Ideen leiten läßt. 4

Max Weber,

Die Objektivität

der s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i d i e n

G e s a m m e l t e A u f s ä t z e zur Wissenschaftslehre, gen

und

die in

Wertüberzeugungen

d e n angelsächsischen

e i n bedeutendes der heutigen I.

M.

echen

D.

von

A

General Theory anschaulichen

wie

Voraussetzungen



Fr.

von

Vito,

Introduzione

freiheitsproblem lung

der

dell'Uomo:

Solterer,

es·

seit M .

Wertfrage I

A. Smith

der

der

klassischen

nuovi

economia

Fr.

klassischen

Vito

orientamenti

Sozialwissenschaften (logischer

b e i der

sein k a n n , für

Erörterung

die K r i t i k

1946,

4—34, e r w ä h n t ; vgl.

G.

zur

vgl.

della

und

die

Ökonoml-

Analyse

The

der

welt-

Untersuchungen der

Volks-

bei A .

e i n d a n k b a r e s F e l d f ü r solche A n a l y s e n b i e t e t ,

II.

Aufl.

1952;

Besprechung economia

i n : Review of Social Economy, M i l w a u k e e ,

e

seines

1955, 160 f.

Weber-TopitsA,

1952; zur K r i t i k Buches

sociale,

4.

1954,

Smith, zeigte

Das

der

L'Economia

Aufl.

in aus

Keynes,

Weltanschauung

für N a t i o n a l ö k o n o m i e ,

politica

der

ersehen

der

sei

Briefs,

hat

Positivismus)

ist z u

Nationalökonomie

Wirtschaftslehre

politica,

W e b e r , i n : Zeitschrift

durch

seine V e r w e n d u n g

Nationalökonomie

vgl.

alla

der

Philosophie

in:

Denkvoraussetzun-

1915; über die weltanschaulichen Voraussetzungen

Th. Pütz, 1 9 3 2 ; d a ß d i e S o z i o l o g i e v o n M . Weber selbst Leo Strauß (vgl. Kap. 40, Anm. 8).

wirtschaftslehre

Bereich

Wertüberzeugungen

Interest and M o n e y ,

ü b e r d i e klassische N a t i o n a l ö k o n o m i e ,

im

analytische

Economics, 1 9 5 0 ; als Beispiel

("postulates")

of Employment,

Forschern

ertragreich

vorherrschenden

Critique of Welfare

Denkvoraussetzungen

und

beherrschende

R ü s t z e u g geschaffen;

Wohlfahrtstheorie

Little,

Denkern

Ländern

u n d sozialpolitischen Erkenntnis,

1 9 2 2 . Z u der logischen A n a l y s e der

Wert-

Behanda

servizio

durch

Josef

Der Prozeß der Sozialwirtschaft

996

163. Der Bedarf: Die Nachfrage Als bewegende K r a f t im Prozeß der Sozialwirtschaft ist unter Bedarf nur der kaufkräftige

Bedarf zu verstehen. Denn die Sozialwirtschaft be-

steht ja in der gesellschaftlichen Kooperation, der zufolge die Glieder der Wirtschaftsgesellschaft Güter und Dienstleistungen von andern durch ihre Güter und Dienstleistungen im Austausch erwerben. Dieser Bedarf ist somit nicht die Summe der Bedürfnisse einer Wirtschaftsgesellschaft,

deren

Befriedigung gewünscht wird, sondern er umfaßt nur jene Bedürfnisse, deren Befriedigung durch Angebot von Gütern und Dienstleistungen von gleichem Tauschwert

ermöglicht

wird.

Im

sozialwirtschaftlichen

Prozeß

stellt die effektive Nachfrage also nur einen Teil des gesamten Bedarfs dar. Das ist eine harte Tatsache. Denn eine unvermeidliche Wirkung auch der idealsten Form der Sozialwirtschaft ist, daß aus Einkommensmitteln elementare Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, während Luxusbedürfnisse befriedigt werden. Der Vater einer vielköpfigen Familie kann vielleicht nicht aus seinem Arbeitsverdienst allein für die Lebensnotwendigkeiten seiner Kinder aufkommen, während der kinderlose, vielgesuchte Operateur sich eine Sammlung kostbarer Gemälde anzulegen vermag. Solche Auswirkungen der sozialwirtschaftlichen Kooperation können, wie unser Beispiel zeigt, ohne jegliches Unrecht erfolgen und ohne durch eine wesentliche Ungeordnetheit der Volkswirtschaft und des Sozialsystems verursacht zu sein. Sie haben ihren Grund in dem verschiedenen Wert der fraglichen Leistungen, durch die die kaufkräftige Nachfrage in den einzelnen Fällen bedingt ist. I n solchen Fällen können dann Aufgaben sozialpolitischer oder sozialkaritativer A r t entstehen. Sobald jedoch lebenswichtiger Bedarf ganzer Schichten der Wirtschaftsgesellschaft dauernd nicht aus ihrem wirtschaftlichen Einkommen befriedigt werden kann oder ihr Lebensstandard unverhältnismäßig weit hinter dem anderer Schichten zurückbleibt, liegen innere Mängel der Wirtschaftsordnung vor und wird offensichtlich der Sozialzweck der gesellschaftswirtschaftlichen Kooperation nicht erreicht. Die Blickrichtung auf den Zweck der Sozialwirtschaft läßt noch eine weitere Seite der effektiven Nachfrage im sozialwirtschaftlichen

Prozeß

hervortreten. Dieser Zweck besteht darin, daß alle Glieder der Gemeinschaft in der sozialwirtschaftlichen Kooperation Arbeit und Einkommen finden.

M i t anderen Worten: Er besteht in der Vollbeschäftigung.

Die

Sozialwirtschaft ist ein Prozeß des Güteraustausches, der Einkommensmöglichkeiten für möglichst alle Glieder der Gemeinschaft zu bieten bestimmt ist. Einer der Gründe, darin einen Hauptzweck der Volkswirtschaft

zu

sehen, besteht nach naturrechtlichen Prinzipien im Recht des Menschen zum

163. Der Bedarf: Die Nachfrage

997

Unterhaltserwerb durch Arbeit. Außerdem ist nur im Fall der Vollbeschäftigung das Ausmaß kaufkräftiger Nachfrage zu erwarten, das die Voraussetzung des Absatzes der Erzeugnisse der voll ausgenützten Produktivkräfte bilder Volkswirtschaft, also der sozialwirtschaftlichen Vollproduktivität det: Die effektive Nachfrage erweist sich als die bewegende Grundkraft des sozialwirtschaftlichen Prozesses. Nach dem Gesagten scheint das eine solche Selbstverständlichkeit zu sein, daß man sich wundert, daß sie zwischen den beiden Weltkriegen von der Nationalökonomie wiederentdeckt werden muß te 1 . Naturrechtliche Prinzipien fordern demnach eine Wirtschaftspolitik der Herbeiführung eines Vollmaßes effektiver Kaufkraft, wobei Nachfrageausweitung und Produktivitätssteigerung in wechselseitiger Bedingtheit und Auswirkung zu sehen sind. Unter den Mitteln zu diesem Zwecke ist die Herbeiführung einer Einkommensverteilung zu nennen, die ein mit den Gegenwarts- und Zukunftszielen der sozialwirtschaftlichen Produktivität zu vereinbarendes Ausmaß der Gesamtausgaben für Güter des unmittelbaren Bedarfes anstrebt. Die Ausgaben, die mit der Nachfrage nach Gütern solchen Konsums zusammenhängen, sind durch relative Stabilität gekennzeichnet. Diese Nachfrage hängt größtenteils ab von dem auf die Löhne entfallenden Teil des Nationaleinkommens. Eine dementsprechende Einkommensverteilung wirkt sich daher wesentlich stabilisierend auf die effektive Kaufkraft aus, daher auf den sozialwirtschaftlichen Prozeß und das Beschäftigungsausmaß. So erfährt das von der naturrechtlichen Wirtschaftstheorie immer vertretene Prinzip einer verhältnismäßigen Einkommensverteilung nach den Maßstäben der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls eine Bekräftigung durch die neueren Entwicklungstendenzen der ökonomischen Theorie. An das erwähnte Ziel der Einkommensverteilung schließt sich das weitere es ist ein Ziel, für das sich heute auch einer besseren Eigentumsverteilung; der Blick der ökonomischen Theorie öffnet, wieder eines, das immer von der naturrechtlichen Wirtschaftslehre unnachgiebig als Forderung der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls vertreten wurde. Maßgebend war der 1 Die klassische Theorie, mit ihrer einseitigen Orientierung am Kostenwert, verstand den sozial* wirtschaftlichen Prozeß hauptsächlich vom Produzenten her. Daher kam sie zur Anschauung, daß das Angebot die Nachfrage schaffe und daß „alle Verkäufer unvermeidlich und auf Grund der Bedeutung des Wortes Käufer sind", wie sich /. St. Mill, Principles of Political Economy, Br. III. Kap. 14, § 2, ausdrückt; dabei bleibt zunächst schon die Frage offen, ob sie auch immer zu verkaufen gewillt sind; man denke an eine Zeit fortschreitender Geldentwertung. In der erwähnten Weise kam Say und mit ihm ein Großteil der späteren Nationalökonomie zur Anschauung, daß es sich nur um eine „Verstopfung der Absatzwege" handle, wenn das Angebot sich nicht die entsprechende Nachfrage zu schaffen vermöge. Hätten sie gesagt „Verstopfung der Zirkulationswege" unter Einschluß des Geldes, dann wären sie der Wahrheit viel nähergekommen. Die Folge dieses Irrtums der Theorie für die praktische Wirtschaftspolitik war, daß diese lange Zeit glaubte, unter Vernachlässigung der Nachfrageseite den sozial wirtschaftlichen Prozeß von der Produktionsseite aus in Gang halten zu müssen durch Sicherung der Gewinnchancen für das Kapital.

998

Der Prozeß der Sozialwirtschaft

Gedanke, daß die wirtschaftliche Existenzsicherung des einzelnen, besonders des Familienerhalters, durch eigenes Eigentum gewährleistet sein sollte. Weit über den Bereich der naturrechtlichen Wirtschaftsethik hinaus wird heute von der Nationalökonomie der Eigentumsbildung auf Seite der Arbeiterschaft in verschiedenen Formen des Sparens und des Miteigentums an Industriekapital eine wesentliche Bedeutung für den geordneten Verlauf des sozialwirtschaftlichen Prozesses beigemessen2. (Wir haben damit die eine Hauptgruppe von Mitteln zur Stabilisierung der effektiven Nachfrage besprochen; die zweite Hauptgruppe: die Stabilisierung mit den Mitteln der Geld- und Kreditpolitik, werden wir bei der Erörterung von Geld, Kredit, Konjunktur- und Vollbeschäftigungspolitik besprechen.) Konsumentenethik Wenn die effektive Nachfrage von solcher Bedeutung ist, dann ist es der Konsument, in dem wir den Oberherrn der Sozialwirtschaft zu suchen haben. Infolgedessen ist die Frage der rechten Wirtschaftsordnung wesentlich auch eine Frage der rechten Ausübung der Funktion der Nachfrage. Mit anderen Worten, die Frage der Wirtschaftsethik ist grundlegend auch eine solche der Konsumethik. Wenn die Konsumenten in ihrer größeren Zahl sich klar sind über ihre Wünsche und sie entschieden vertreten, müssen die Produzenten, wenn sie verdienen wollen, sich ihnen unterwerfen. Anstatt dessen lassen sich jedoch die Konsumenten weitgehend von den Produzenten diktieren oder von ihrer Reklame leiten; oder sie folgen nur der Gewohnheit, statt durch Bevorzugung der zweckdienlichsten und preiswertesten Waren aktiv im sozialwirtschaftlichen Prozeß mitzuwirken. Sie nähren den Kapitalismus, den sie zugleich anklagen. Tatsächlich ist für den Aufbau einer Wirtschaftsordnung, die dem Sozialzweck der Wirtschaft entspricht, nicht weniger ein neuer Typus des Konsumenten notwendig wie des Unternehmers, von welch letzterem heute so oft die Rede ist. Die Konsumentenethik und die Haltung der Konsumenten erreichen eine erhöhte Bedeutung in der Zeit der Vollbeschäftigung und des steigenden Lebensstandards, namentlich bei weitgehender Sicherung des Einzelmenschen gegenüber den Wechselfällen des Lebens vermittels der Sozialversicherung. Konnte der Sparsinn bisher hauptsächlich als eine individuelle 8 Der von ersten internationalen Fachökonomen (unter ihnen die Professoren Carter Goodrich [IAA], F. L. McDougall, Oskar Morgenstern, Gottfried Haberler) ausgearbeitete Report on Economic Depressions: Economic Stability in the Post-War World, League of Nations, Genf, II. Teil, 1945, sagt (§ 294): "There would be a still greater assurance of stability of demand were the distribution not only of income but of capital more evenly spread than is characteristic of most modern industrial economies today"; als Begründung wird angeführt (§ 132): "for in such circumstances the demand of the great mass of the population will be kept up to some extent by drawing on its reserve of savings."

163. Der Bedarf: Die Nachfrage

999

Grundtugend der Konsumethik gelten, so ist sie unter erwähnten Umständen eine soziale Tugend von großer Tragweite. Jeder sozialwirtschaftlich nicht verantwortbare Luxuskonsum bildet einen Verstoß gegen den sozialethisch gebotenen Sparsinn, gegen die Konsumethik. Sozialwirtschaftlich nicht verantwortbar ist der Luxuskonsum, der auf Kosten der volkswirtschaftlich notwendigen Kapitalbildung erfolgt, von der die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft und die Erfüllung ihres Sozialzweckes in der Zukunft abhängig sind. Dabei handelt es sich gleicherweise um sozialwirtschaftlich nicht verantwortbaren Luxuskonsum auf Seite der Großeinkommen wie der Masseneinkommen. Konsumordnung und Konsumkultur werden bei allgemein steigendem Einkommen zu Hauptfragen der SozialPädagogik y nämlich der Erziehung zu der dann persönlichkeitsethisch und sozialethisch mit neuen Verpflichtungen verbundenen Konsumentenmoral. Nur wenn der Konsument selbst entscheidend mitwirkt, wird auch eine Grundaufgabe der Sozialreform gelingen: die Wiedereinsetzung des Konsumenten in seine beherrschende Rolle in der Volkswirtschaft. Das Ausmaß, in dem heute die Produzenten die Wirtschaft beherrschen und ihre Herrschaft durch gewaltige Organisationen zu schützen vermögen, läßt freilich keinen Zweifel, wie schwierig diese Aufgabe sein wird. Die Marktleitung steht dem Konsumenten in Ausübung seiner Nachfragefunktion zu. Den Grund bildet das Eigentumsrecht an seinem Einkommen und das Freiheitsrecht der Konsumwahl: Es ist sein Recht, zu sagen, was er wünscht und wie er bedient sein will. Er wird dieses Recht nur besitzen, wenn er es kräftig zu gebrauchen weiß. Sich dieses Rechtes und der damit verbundenen schon erwähnten Pflichten bewußt zu sein, ist ein wesentlicher Teil der Konsumentenethik. Konsumentenmoral bedeutet Orientierung der Konsumwahl und der Nachfrage an den durch die existentiellen Zwecke vorgezeichneten Lebens- und Kulturaufgaben und an der sich daran knüpfenden Rangordnung der Bedürfnisse und Werte. Zu solcher Orientierung bedarf es Konsumenten, die von dieser Rangordnung wie von ihrer verpflichtenden Geltung wissen, außerdem die notwendige Einsicht in die Qualität der Waren sowie den Willen besitzen, die dementsprechenden Ansprüche beim Einkauf, also in der Nachfrage, durchzusetzen. Aufgaben der Erziehung der Konsumenten zur rechten Ausübung der Nachfragefunktion fallen der Familie, der Schule, der Presse, den Konsumvereinen, den Institutionen für Erwachsenenbildung, den kirchlichen Bildungswerken sowie Einrichtungen zur Konsumentenberatung zu. Zu denken ist dabei nicht zuletzt an die Stellung der Hausfrau in der Sozialwirtschaft. Die Volkswirtschaftslehre bezeichnet zwar gerne den Konsumenten als Souverän der Wirtschaft, beeilt sich aber meist im glei-

1000

Der Prozeß der Sozialwirtschaft

dien Atemzuge festzustellen, daß ihr Interesse beim Haushalt aufhöre. Das ist einer ihrer Widersprüche. Wieviel von der richtigen Erfüllung der Nachfragefunktion durch die Hausfrauen abhängt, ist daraus zu ersehen, daß in den heutigen Sozialwirtschaften mehr als die Hälfte des Nationaleinkommens durch ihre Hand geht 8 . In der Tat, wenn man vom homo oeconomicus spricht, darf man dabei nicht nur an die Produktion und Investition denken; die Nachfrage- und Ausgabenfunktion ist, wie wir gezeigt haben, von nicht geringerer Bedeutung für die Entfaltung eines wohlbegründeten und dauernden Volkswohlstandes. Die über den Familienhaushalt und das Familieneinkommen (Kap. 72) erörterten Prinzipien und Forderungen erhalten von der hier behandelten Frage der Ordnung der Sozialwirtschaft her eine weitere Bekräftigung. Denn ein Dreifaches dürfte unbestreitbar sein: erstens, daß die Nachfragefunktion der Familienmutter, wenigstens in der größeren Zahl der Fälle, zumeist nach den Forderungen der Rangordnung der Bedürfnisse ausgeübt wird; zweitens, daß der so bedingte wertorientierte Bedarf, wenn Normalfamilien mit drei bis vier Kindern in der für die Erhaltung eines Volkes notwendigen Zahl gegeben sind, eine gesicherte und sich gesichert ausweitende Nachfrage verbürgt, die festigend auf die Grundlagen der Volkswirtschaft wie auf die Stetigkeit ihrer Entwicklung wirken muß; außerdem, drittens, daß die Sozialtugend des Sparsinns nirgends so zuverlässig gelernt wird wie im geordneten Familienhaushalt. Wie überall im gesellschaftlichen Leben, so treffen wir damit die Familie audi im Lebenszentrum der Volkswirtschaft an 4 .

8 P. Jostock, Die Berechnung des Volkseinkommens und ihr Erkenntniswert, 1941, 125 f: „Rechnet man die Wohnungsmiete mit hinzu (ohne den Mietwert der Eigenwohnungen), so dürften gut zwei Drittel des Volkseinkommens unter der Verfügung der Hausfrau stehen, ohne die Wohnungsmiete etwa drei Fünftel/ * Demnach beinhaltet das Familieneinkommen ganz wesentlich auch eine „wirtschaftstheoretische Fragestellung"; man vergleiche außerdem (Kap. 151), was Nationalökonomen und BevölkerungsPolitiker des Ranges von H. D. Henderson , /. M. Keynes, G. Myrdal, R. R. Kuczynski, D. V. Glass zu sagen haben über die volkswirtschaftliche Tragweite des Bevölkerungsrückganges, wobei an die vom Einkommen der Normalfamilie ausgehende Nachfragefunktion gedacht ist; zu beachten audi die Schlüsse, die Erich Egner, Der Haushalt, 1952, für die Stellung des Haushalts in der Volkswirtschaft neben dem Tauschverkehr nahelegt. Das alles spricht gegen eine verallgemeinernde Feststellung wie die von Bernhard Stein, Der Familienlohn, 1956, 144, bezüglich des familienpolitisdi zu sichernden Einkommens: „Es handelt sich letztlich nicht um eine wirtschaftstheoretische Fragestellung." Zweifelsohne ist aber Stein im Recht mit seiner Ablehnung einer „wirtschaftstheoretischen" Begründung der familienpolitischen Einkommensforderungen, wenn dabei an volkswirtschaftliche „Leistungen" der Familie gedacht wird, nämlich an eine Investitionsleistung der Eltern in den Aufwendungen der Familie für die heranwachsende Generation und für die Erstellung der volkswirtschaftlich notwendigen Arbeitskräfte; in diesem Sinne ist in der Tat mit Stein scharf zu unterscheiden zwischen dem, was wirtschaftstheoretische und was sozialpolitische Begründung in der Frage des Familieneirikommens ist; Eridi Egner, Ökonomische Probleme der Familienpolitik, in: Schmollers Jahrbuch, 75. Jg., 1955, 89, warnt mit Recht vor solchen wirtschaftstheoretischen Argumenten für das gerechte Familieneinkommen mit dem Hinweis auf die ihnen anhaftende „Okonomisierung des Menschen".

164. Das Erwerbsstreben: Das Angebot

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164. Das Erwerbsstreben: Das Angebot Das Angebot erfolgt durch die Bereitstellung von Gütern (für Verbrauch und Produktion) und Dienstleistungen (Bank-, Transport-, Versicherungswesen, Handel, Kulturleistungen). Für die Erfüllung des Zweckes der Volkswirtschaft hängt offensichtlich alles vom Angebot ab. Wenn, wie wir zeigten, nach naturrechtlichen Prinzipien das mit den verfügbaren Naturgütern und Arbeitskräften erzielbare Vollmaß von materiellem und kulturellem Gemeinwohl der Zweck der Volkswirtschaft ist, dann hängt alles vom Verhältnis des Aufwandes dieser Mittel für den fraglichen Zweck ab. Dieses Verhältnis bezeichnen wir als sozialwirtschaftliche Produktivität: der dritte fundamentale Begriff der naturrechtlichen Wirtschaftsethik neben „sozialwirtschaftlicher Kooperation" und „sozialwirtschaftliches Wertprinzip". Um Mißdeutungen vorzubeugen, sei bemerkt, daß unser Begriff nicht nur nicht vom Menschen abstrahiert, sondern, weil auf das Gemeinwohl bezogen, den Menschen in den Mittelpunkt der Sozialwirtschaft stellt als der durch den Tauschverkehr erfolgenden gesellschaftlichen Verbundenheit bei der Erfüllung der in den existentiellen Zwecken vorgezeichneten Lebens- und Kulturaufgaben. Weil die sozialwirtschaftliche Kooperation bei freier Konsumwahl und bei freiem Erwerbsstreben (Privateigentum an den Produktionsmitteln) sich im Tauschverkehr vollzieht, führt dieser, wenn in seinen Wirkungen nicht gehemmt, eine Bewegung des Tauschwertes der Güter zu den niedrigsten Kosten ihrer Produktion herbei. Ihr Tauschwert bewegt sich zum natürlichen Wert (vgl. Kap. 162). Mit anderen Worten, bei gleicher Qualität werden die billigsten Güter die meisten Käufer finden, desgleichen bei gleichen Preisen die Güter bester Qualität. Diese Bewegung des Tauschnotwendigen" Kosten: Höherer wertes ist die zu den „gesellschaftlich Kostenaufwand würde den Produzenten ohne Einkommen lassen, denn dieser Aufwand würde im Tauschprozeß nicht ersetzt werden. Der Tauschverkehr der Marktwirtschaft ermöglicht den Konsumenten, vermittels der Nachfrage zu bestimmen, welche Güter mit den verfügbaren Produktionsfaktoren hergestellt und wieviel von diesen als Kosten für einzelne Güterarten aufgewandt werden soll 1 . Mit dem Begriff der „gesellschaftlich notwendigen" Kosten ist unlöslich verbunden der des „gesellschaftlich not1 Es ist kaum notwendig, darauf hinzuweisen, daß in unserem Begriff der „gesellschaftlich notwendigen Kosten" das Wahrheitselement der Arbeitswerttheorie von Marx aufgenommen ist. Marx sieht die beim gegebenen Stand der Produktionstechnik „gesellschaftlich notwendige" Arbeitszeit als allein wertbildenden Faktor und denkt dabei an eine durch die Technik bestimmte Produktivität. In unserem Begriff der sozialwirtschaftlichen Produktivität ist die Einengung des wirtschaftlichen Wertes auf den Arbeitswert wie auf den Kostenwert überhaupt vermieden, da auch der Nutzenwert, die „allgemeine Schätzung", in seiner gleichgeordneten Bedeutung einbezogen ist auf Grund der Nachfragefunktion (freie Konsumwahl) der Gesellschaftsglieder mit ihrem sozialwirtschaftlich erarbeiteten Einkommen.

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wendigen" Einkommens. Unter letzterem verstehen wir das in einer Sozialwirtschaft notwendige Einkommen, um die volle Ausnützung ihrer Produktivkräfte zu gewährleisten. Die wirtschaftstheoretische Grundlage des Begriffes des sozialwirtschaftlich notwendigen Einkommens kann heute nicht mehr zweifelhaft sein angesichts der von der Volkswirtschaftslehre der kaufkräftigen Nachfrage für die Vollentfaltung der Produktivität zugemessenen Bedeutung (vgl. vor. Kap.). Im Begriff des sozialwirtschaftlicb notwendigen Einkommens als einem Bestandteil des Begriffes der sozialwirtschaftlichen Produktivität sind drei Seiten zu beachten. Er bedeutet das Gesamteinkommen (Kaufkraftvolumen), das eine Aufnahme des Produktionsertrages verbürgt, die produktivitätswidrige Lücken im Produktionsprozeß ausschließt; weiters bedeutet er eine Einkommensverteilung, die sich in der Nachfrage nach Gütern und Diensten auswirkt unter produktiver Auswertung aller verfügbaren Arbeitskräfte (Vollbeschäftigung); drittens bedeutet er die Aufbringung der notwendigen Mittel (Kapitalbildung) für den volkswirtschaftlichen Fortschritt, das Wirtschaftswachstum, unerläßlich für die Erfüllung der Aufgaben, die sich der Gesellschaft aus dem Bevölkerungswachstum, den steigenden Lebensansprüchen und den zunehmenden Kulturverpflichtungen stellen. Der Begriff der sozialwirtschaftlichen Produktivität ist, wie erwähnt, einer der Grundbegriffe der Sozialethik für die Beantwortung der Frage nach der Ordnung der Sozialwirtschaft 2. Die Folgerungen aus unserem Begriff und Prinzip der sozialwirtschaftlichen Produktivität für diese Ordnung im ganzen wie im einzelnen werden im folgenden immer wieder zur Erörterung stehen. Der Begriff

der „volkswirtschaftlichen

Produktivität"

Dieser Begriff ist Gegenstand ausgreifender Auseinandersetzungen unter Nationalökonomen gewesen. Für die Naturrechtsethik hat er einen eindeutigen Sinn, bestimmt durch den Sozialzweck der Wirtschaft (vgl. Kap. 160). Nur wenn man einen Wirtschafts- oder Produktivitätsbegriff im Auge hat, der diesen nicht ganz und gar auf den Menschen bezieht, sind Einwände wie diese möglich: daß dem Begriff nach die sozialwirtschafdiche 2 Unser Begriff der eozialwirtschaftlichen Produktivität läßt klar den Unterschied von bloß „tedinisdier" Produktivität erkennen, nämlich der Gütermenge, die mit einem technischen Produktionsapparat erzeugt werden kann; diese Gütermenge kann Überproduktion bedeuten, so daß, wenn sie unabsetzbar, der Markt den Produktionsapparat sozial wirtschaftlich ganz oder teilweise als Fehlinvestition erweist. In unserem Begriff ist auch ersichtlich der Unterschied von bloß einzelwirtsdiaftlidi „rechenhafter" Produktivität, nämlich vom Geldertrag eines Unternehmens, der ganz oder teilweise nicht auf einer im Sozialzweck der Wirtschaft gelegenen Leistung beruht; dies ist die einzelwirtschaftliche Rentabilität, die daher wohl zu unterscheiden ist von leistungebedingter Produktivität.

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Produktivität fordere, daß jedes verwendbare Material, ζ. B. jeder Baum in der Stadt, jedes Stücklein Erde und jede verfügbare Kraft des Menschen zur Produktion von Gütern verwendet werde. Der Mensch lebt indessen nicht vom Brot allein, noch viel weniger allein von Industriegütern, noch weniger ist er bloßer Roboter im Dienst der Produktion von Gütern. Keineswegs besteht nämlich der Sozialzweck der Wirtschaft ausschließlich oder auch nur in erster Linie in der Erzeugung von wägbaren und meßbaren Gütern und Leistungen. Der Mensch ist Kulturwesen mit einer Fülle von Bedürfnissen nichtquantitativer Art: Die Stadt braucht Baum- und Gartenanlagen schon zur Wahrung der biologischen Voraussetzungen des Lebens in ihr, nicht minder zur Befriedigung seelischer Bedürfnisse, sie gehören also zu der für den Menschen unerläßlichen Natur- und Kulturumwelt, die zu schaffen im Sozialzweck der Wirtschaft gelegen ist. Und weil mit dem Boden und dem Bodeneigentum grundlegend menschliche und kulturelle Werte verbunden sind, ist er ja ein so kostbares Gut, das vor Raubbau (gegenüber nur technisch verstandenen Rentabilitätszielen) und Verschwendung (gegenüber Ansprüchen des motorisierten Verkehrs) zu schützen ist. Ähnliches gilt vom Wald, dem Lebensgrund der Volkswirtschaften, da nur seine Erhaltung der Verkarstung des Bodens vorbeugt und verhindert, daß das Wasser zur Mangelware wird. Diese kurzen Hinweise zu ergänzen durch die Erwähnung der Stellung des Menschen in der Wirtschaft scheint nicht unangebracht heute im Zeitalter der Automatisierung mit ihren Möglichkeiten der Anspannung und Überspannung des Arbeitsrhythmus. Der so bestimmte Arbeitsrhythmus dient hauptsächlich der Produktion der Güter eines materiellen Lebensstandards und kommt zustande durch Unterstellung des Menschen unter Forderungen der Technik, was beides auf Kosten seiner Verantwortung gegenüber den Aufgaben im Bereich der für den Menschen als Kulturwesen entscheidenden Werte erfolgen kann. Der ganze Mensch mit allen ihm in seiner menschlichen und gesellschaftlichen Natur vorgezeichneten existentiellen Zwecken ist für den Begriff des Sozialzweckes der Wirtschaft und der sozialwirtschaftlichen Produktivität bestimmend; alle jene Zwecke in der Rangordnung und Reichweite, die für den Einzelmenschen die materiellen Werte an die Persönlichkeitswerte und für die Gesellschaft die Sozialwirtschaft an die Gemeinwohlwerte binden. Weil ihn an die Gemein wohlwerte bindend, sind die Begriffe des Sozialzweckes der Wirtschaft wie der sozialwirtschaftlichen Produktivität ganz und gar auch auf die Zukunft der Gesellschaft und ihres Gemeinwohls hin zu sehen, also keineswegs nur auf ein kurzfristiges Rentabilitätskalkül, also nicht auf die Größen einer volkswirtschaftlichen Ge-

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samtrechnung und einer volkswirtschaftlichen Buchführung im Sinne anfallender und verteilbarer Wirtschaftserträge hin. Die voraussichtlichen Möglichkeiten der Deckung des künftigen Kapital- und Kulturbedarfs einer Gesellschaft gehören zu den wesentlichen Bestimmungsgründen der sozial wirtschaftlichen Produktivität: zwei Seiten des Sozialzweckes der Wirtschaft, die gegenüber den heutigen Konsumneigungen, wie kein Einsichtiger bestreiten dürfte, nachhaltiger Betonung bedürfen. Die Unternehmerfunktion Die Angebotsfunktion, die uns beschäftigt, ist in der Marktwirtschaft geleitet vom Erwerbsstreben: Die am Tauschverkehr durch Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen Beteiligten wollen damit Einkommen erzielen. Dies gelingt ihnen in dem Ausmaß, als sie durch Angebot von Gütern und Leistungen kaufkräftige Nachfrage befriedigen und damit zur Erfüllung des Sozialzwecks der Wirtschaft beitragen. Solches Angebot bereitzustellen bildet das Wesen der Unternehmer funktion. Nach dem Gesagten ist ihr Grundgesetz das der sozialwirtschaftlichen Produktivität. Ein Höchstmaß privater Unternehmertätigkeit ist wesentlicher Ordnungsbestandteil der Sozialwirtschaft, weil erforderlich für die Erreichung ihres Zweckes. Im einzelnen läßt sich dies von naturrechtlichen Prinzipien her folgendermaßen zeigen: 1. Vom Einzelmenschen her gesehen: der Mensch folgt einem natürlichen Trieb, wenn er Einkommen oder Mehreinkommen zu erwerben sucht durch Angebot von Gütern und Dienstleistungen her im sozialwirtschaftlichen Tauschverkehr. 2. Vom Subsidiäritätsprinzip gesehen: das allgemeine Gesetz des größten Ausmaßes individueller Eigentätigkeit und Eigenverantwortung, das mit dem gesellschaftlichen Interesse vereinbar ist, gilt auch bei der Deckung des Lebens- und Kulturbedarfes; das bedeutet, so viel private Unternehmertätigkeit als möglich. 3. Vom Gemeinwohlprinzip her gesehen: die sozialwirtschaftliche Produktivität wird umso vollkommener verwirklicht, je mehr planender Geist in der geordneten sozialwirtschaftlichen Kooperation tätig ist; dies ist der Fall, wenn ein Höchstmaß von privater Unternehmertätigkeit besteht. Wenn bei einer Bevölkerung von vierzig Millionen ζ. B. zwei Millionen größere, mittlere und kleinere Unternehmer in Landwirtschaft, Industrie, Handwerk und Handel sich unter Wettbewerbsdruck um die Deckung des Bedarfs bemühen, dann ist sozialwirtschaftliche Produktivität und damit steigender Lebensstandard besser gesichert, als wenn, wie in der sozialistischen Planwirtschaft, zwanzig oder zweihundert Wirtschaftsbeamte ein Planungsmonopol besitzen. 4. Von der Sozialordnung her gesehen: das Höchstmaß von privater Unternehmertätigkeit bedeutet die breiteste Ver-

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teilung wirtschaftlicher Macht und daher das zweckdienlichste Mittel zur Verhinderung der sozial und politisch so gefährlichen Konzentration wirtschaftlicher Macht in der Hand von Finanz- oder Industriemagnaten und nicht minder von Staat und Regierung. Die Ausübung der Unternehmerfunktion kann in zweifacher Weise erfolgen: durch Benützung eingelebter, bewährter Methoden für den Dienst am Kunden oder durch das Streben nach besserer und reicherer Bedarfsdeckung. Die letztere ist die für die moderne dynamische, zum Unterschied von der mittelalterlichen statischen Sozialwirtschaft entscheidende Unternehmerfunktion, nämlich entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung, den wirtschaftlichen Fortschritt, das volkswirtschaftliche Wachstum. Sie erstreckt sich auf den Bereich der Produktion wie des Marktes. Diese Unternehmerfunktion besteht im einzelnen: 1. in der Steigerung der sozialwirtschaftlichen Produktivität durch die ständig neue Kombination der Produktionsfaktoren. Alle Produktionsfaktoren lassen sich zuletzt auf Arbeitskräfte und Naturgüter zurückführen. Durch ihre Kombination können Bedarfsgüter oder aber Produktionsgüter erzeugt werden. Jede Unternehmertätigkeit, auch die des Handwerkers, bedeutet Kombination dieser Produktionsfaktoren. Die dem modernen Wirtschaftsprozeß eigene Unternehmerfunktion beruht auf einer weitreichenden Vorausplanung: der Unternehmer muß wegen der notwendigen mehr oder weniger umfangreichen technischen Produktionsmittel „Produktionsumwege" einschlagen, welche langfristige Kapitalinvestitionen erfordern und erst nach längerer Zeit ein Angebot von Verbrauchsgütern ermöglichen. Wer eine Maschine zur Produktion von Nadeln herstellt und verwendet, muß die Kombination der verwendeten Produktionsfaktoren und zugleich die Absatzmöglichkeiten der Mehrproduktion vorauskalkulieren. Denn das Ergebnis dieser neuen Kombination von Produktionsfaktoren ist, daß nach dem bekannten Beispiel von A. Smith in einem Tage viele Tausende von Nadeln produziert werden können, während von den einzelnen Arbeitern ohne maschinelle Ausstattung „gewiß nicht jeder hätte zwanzig machen können, vielleicht nicht eine Nadel am Tage". 2. Die andere Seite der spezifischen Unternehmerfunktion liegt in der Ausweitung des Marktes und damit der Erschließung neuer Absatzmöglichkeiten. Dies geschieht durch Ausforschung latenter Bedürfnisse und durch Weckung neuer Bedürfnisse vermittels der Produktion neuer Waren oder neuer Warenqualitäten. Zur Ausweitung des Marktes gehört wesentlich auch die Erschließung neuer Rohstoffquellen, sei es durch Erarbeitung neuer heimischer Materialien, sei es durch Einfuhr im Tauschverkehr mit den Weltmärkten. Zusammenfassend können wir sagen: Für die moderne Sozialwirtschaft

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besteht die spezifische Unternehmerfunktion in der Eröffnung neuer Möglichkeiten volkswirtschaftlichen Fortschritts und Wachstums mit der Folge der Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards; in den Worten von W. Sombart: „Der vollkommene Unternehmer ist Erfinder, Entdecker, Eroberer und Organisator." Unter den Triebkräften, die in dieser Unternehmerfunktion zusammenwirken, sind unter anderem besonders hervorzuheben das Einkommensinteresse, das Gewinnstreben, der Trieb zu schöpferischer Entfaltung, die Freude am Wagnis, das Machtstreben. Sie wird ausgeübt durch den selbständigen Unternehmer und durch die Leiter (Manager) von Gesellschaftsunternehmungen. Das Gewinnstreben Die Angebotsfunktion ist geleitet vom Erwerbsstreben. Das Erwerbsstreben ist in der Marktwirtschaft wesentlich auch Gewinnstreben, ganz besonders aber bei Ausübung der Unternehmerfunktion in der modernen Sozialwirtschaft. Was ist die sittliche Natur des Unternehmergewinnes? Zunächst: Unternehmergewinn ist ökonomisch etwas völlig anderes als Kapitalgewinn. Es ist einer der erstaunlichsten Irrtümer von Marx, daß er Kapitalprofit und Unternehmergewinn einfach gleichsetzte. Der Unternehmerprofit ist der Preis für die Unternehmerleistung im dargelegten Sinne, der Kapitalprofit ist der Preis für Kapitalnutzung. Marx' Irrtum in der Nichtunterscheidung der beiden ist umso erstaunlicher, als die naturrechtliche Wirtschaftslehre schon im 14. Jahrhundert den Unternehmergewinn vom Zins als Kapitalgewinn wohl zu unterscheiden wußte. Grundlegend dafür waren Gedanken von Duns Scotus 8 (gest. 1308), dem sein Schüler und Franziskanerordensgenosse Bernardin ν. Siena folgte und denen sich später Theologen wie Antonin v. Florenz, Dominicus Soto, Gregor v. Valencia, Ludwig Molina (gest. 1600) anschlossen. Ihr Grundgedanke ist, daß der Unternehmer eine für die Gemeinschaft nützliche Leistung vollbringt und insoweit zu Gewinn berechtigt ist 4. Dies ist in der Tat das maßgebende Prinzip für die ethische Beurteilung des Unternehmergewinns: Er ist gerechtfertigt, soweit ihm eine sozialwirtschaftlich produktive Leistung entspricht; soweit nicht durch eine solche Leistung im Dienst der sozialwirtschaftlichen Produktivität begründet, ist Profit sittlich fragwürdig und meist gleichbedeutend mit Wucher in irgendeiner Form, worüber wir im Verlaufe unserer weiteren Erörterungen immer wieder zu sprechen Gelegenheit haben werden. • Duns Scotus, IV. Sent. dist. 15. qu. 2. 4 Über die Stellung dieser hoch- und spätmittelalterlichen Theologen vgl. besonders die Studie von Franz Keller, Unternehmung und Mehrwert, 1912.

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Wenn uns Wirtschaftshistoriker, wie Max Weber, Werner Sombart, Jakob Strieder und andere, sagen, daß der neuzeitliche Unternehmertyp erst seit der Renaissance das Bild der europäischen Sozialwirtschaften wesentlich zu bestimmen beginnt, so vergessen sie nicht zu betonen, daß vereinzelte Erscheinungen fortgeschrittener wirtschaftlicher Unternehmertätigkeit schon sehr lange vorher zu finden sind. Die antike Kolonialtätigkeit wäre ohne den wagemutigen Unternehmer nicht verständlich. Das Auftreten des für die moderne Sozialwirtschaft typischen Unternehmers verlegen die genannten Historiker jedoch in die Renaissance. Diese hat mit der Entwicklung der kraftvollen Einzelpersönlichkeit und der gleichzeitigen Sprengung der mittelalterlichen gesellschaftlichen Bindungen, wie auf dem Gebiete der Kunst, der Literatur, der Wissenschaft, der Politik, so auch auf dem wirtschaftlichen einen neuen Typ des schöpferischen Menschen hervorgebracht. Die gewohnte Einengung des Begriffs der Renaissance auf das künstlerische und literarische Gebiet wird daher den Tatsachen nicht gerecht. Der mittelalterliche Meister war in seiner Unternehmertätigkeit geleitet und beschränkt durch das das statische Wesen der Stadtwirtschaft bestimmende Prinzip der Bedarfsdeckung. Der sich neu entwickelnde Unternehmertyp dachte an Gewinn, wirtschaftlichen Aufstieg, gesellschaftliche Geltung, politischen Einfiuß, Förderung der materiellen und geistigen Kultur. Nicht ohne gewaltigen Widerstand räumte der alte Wirtschaftsgeist das Feld: In heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen und Debatten wurde bis weit ins 16. Jahrhundert hinein gegen den neuen Geist angekämpft. Jedoch schon im 14. Jahrhundert treten, wie erwähnt, führende Theologen für die Berechtigung des neuen Unternehmertyps und des Unternehmergewinns ein, soweit dieser auf einer wirklich sozialwirtschaftlichen Leistung beruht. Produzentenethik Das Grundprinzip der Produzentenethik bildet das eben dargelegte der sozialwirtschaftlichen Produktivität. Daraus ergibt sich eine Reihe von Folgerungen. 1. Die Rentabilität eines Unternehmens als Ziel des Erwerbsstrebens ist in ihrer sittlichen Rechtfertigung nach dem Maß der darin sich verwirklichenden sozialwirtschaftlichen Produktivität zu beurteilen. Soweit sie in Widerspruch zur letzteren steht, ist sie sittlich fragwürdig. Das bedeutet keineswegs eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Rentabilitätsprinzip, im Gegenteil, Rentabilität eines Unternehmens ist nach dem Gesagten die Voraussetzung für die sozialwirtschaftliche Produktivität. Sie wird daher zu einer sozialethischen Verpflichtung, weil unrentable Unterneh-

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men eine Schädigung oder Belastung für die Volkswirtschaft sowie den Verlust der Arbeitsplätze für die Beschäftigten verursachen; außerdem aber zu einer individualethischen Verpflichtung, weil ein Unternehmen nur nach dem Prinzip der Rentabilität bestehen und für sich Einkommen zu schaffen vermag. Immer aber bleibt die Rentabilität an das Prinzip der sozialwirtschaftlichen Produktivität gebunden. 2. Unser Prinzip betrifft auch die Güter art , die den Gegenstand der Produktion und des Angebots bildet. Produktion von Gütern wertminderer Art, die wegen ihrer Beschaffenheit mehr Scheinwert als wirklichen Wert für die Befriedigung eines Bedürfnisses bedeuten („Schund"), widerstreiten der Berufsethik des Produzenten, desgleichen Aufwand von Kapital und Arbeit zur Herstellung von Waren wertwidriger Art, besonders wenn deren Absatz nur unter Schädigung anderer erfolgen kann („Schmutzliteratur"); bei den ersteren ist an Güter zu sittlich indifferenten, bei den letzteren an solche zu sittlich verwerflichen Zwecken zu denken. Die Grenzziehung ist nicht immer leicht; zu berücksichtigen ist in besonders kritischen Fällen vor allem das Gewissen der Käufer. Das gilt auch in der oft aufgeworfenen Frage der Herstellung von Mitteln zur künstlichen Geburtenbeschränkung; in Ländern, wo, wie in England, die anglikanische Kirche in bestimmten Fällen die Geburtenbeschränkung als sittlich zulässig erklärt (vgl. Kap. 147), kann diese dem subjektiven Gewissen vieler als gerechtfertigte, möglicherweise gebotene Verhaltensweise erscheinen. Einer so begründeten Nachfrage durch Produktion zu entsprechen kann sittlich erlaubt sein; etwas anderes ist das Angebot solcher Mittel durch öffentliche Automaten oder durch Reklame (in England ist die anglikanische Kirche sofort gegen den Versuch der Anbringung von Automaten zum Verkauf von empfängnisverhütenden Mitteln eingeschritten). 3. Eine Frage der Produzentenethik, der heute größte Bedeutung zukommt, bildet das Streben der Produzentenverbände, die Preise verbandsmäßig festzusetzen und machtmäßig durchzusetzen. Die Kartelle sind nur eines der Beispiele dafür, denn auch im Handwerk, in der Landwirtschaft, durch die Gewerkschaft erfolgen ähnliche Bindungen. Diese Bindungen dienen dem Gruppeninteresse. Dabei wird die Gruppe als solche verantwortlich. Zu Unrecht hält sich das einzelne Verbandsmitglied in seinem Gewissen entlastet, wenn es die Vorteile genießt, die die Verbandsfunktionäre im Interesse der Gruppe durchsetzen. Gewiß kann dabei nicht nur nach Willkür verfahren werden, weil ein Handeln gegen das Prinzip sozialwirtschaftlicher Produktivität schließlich zum eigenen Schaden der Gruppe ausschlagen muß; der auf wirtschaftliche und soziale Macht begründete gegenseitige Druck der Interessengruppen kann sich sogar in der

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Steigerung der sozialwirtschaftlichen Produktivität auswirken 5. Überwiegend ist jedoch die Preis- und Lohnpolitik der Produzentenverbände vom Rentabilitätsprinzip ohne genügende Rücksicht auf die sozialwirtschaftliche Produktivität beherrscht. Nach der bisherigen Erfahrung besteht allerdings wenig Hoffnung, daß vom Einzelgewissen der Verbandsmitglieder oder der Funktionäre her eine wesentliche Änderung in der Haltung der Verbände zu erwarten ist. Sie ist nur von einer Ordnung der Sozialwirtschaft zu erwarten, die die Verbände zur Unterwerfung ihrer Entscheidungen unter das Prinzip der sozialwirtschaftlichen Produktivität nötigt. Eine solche Ordnung mit dem Wettbewerb als Grundlage zu zeigen wird einen Hauptgegenstand unserer Wirtschaftsethik (Kap. 181) bilden. Reklameethik Hier ist no