In diesem Band zeigt Stefan Morent den Einfluss der Rezeption mittelalterlicher Musik auf das kompositorische Schaffen i
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German Pages 200 [206] Year 2013
Table of contents :
INHALTSÜBERSICHT
VORWORT
1. EINLEITUNG
2. ZUR REZEPTION ÄLTERER MUSIK IM ALLGEMEINEN
2. 1 EXKURS: MARTIN GERBERT, JOHN HAWKINS, CHARLES BURNEY, JOHANN NIKOLAUS FORKEL
2.2 REZEPTION ÄLTERER MUSIK IM 19. JAHRHUNDERT IN DEUTSCHLAND
2.3 REZEPTION ÄLTERER MUSIK IM 19. JAHRHUNDERT IN FRANKREICH
2.4 KIRCHENMUSIKSCHULEN IN PARIS
3. GABRIEL FAURÉ – « MUSICIEN FRANÇAIS »
3.1 DIE ÉCOLE NIEDERMEYER
3.2 DER TRAITÉ THEORIQUE ET PRATIQUE DE L’ACCOMPAGNEMENT DU PLAIN-CHANT
3.3 GABRIEL FAURE: REQUIEM OP. 48
3.4 EXKURS: FRANZ LISZT, ANTON BRUCKNER, GUISEPPE VERDI
4. « CLAUDE DE FRANCE »
4.1 PELLÉAS ET MÉLISANDE
4.2 CHARLES BORDES UND DIE SCHOLA CANTORUM
4.3 SOLESMES
4.4 EINFLÜSSE AUF DEBUSSY
5. ERIK SATIE: « MUSICIEN MÉDIÉVAL»
6. SCHLUSSBEMERKUNG
7. ABKÜRZUNGVERZEICHNIS
8. LITERATURVERZEICHNIS
9. REGISTER
Stefan Morent Das Mittelalter im 19. Jahrhundert
Bei hef te zu m A rc h iv f ü r Mu si k w i s sen sc ha f t herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck Band 72
Stefan Morent
Das Mittelalter im 19. Jahrhundert Ein Beitrag zur Kompositionsgeschichte in Frankreich
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10294-0
INHALTSÜBERSICHT
Vorwort …………………………………………………………...……..
7
1. Einleitung ………………………………………………………………..
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2. Zur Rezeption älterer Musik im Allgemeinen …………………………..
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2.1 Exkurs: Martin Gerbert, John Hawkins, Charles Burney, Johann Nikolaus Forkel ………………………………..………….... 2.2 Rezeption älterer Musik im 19. Jahrhundert in Deutschland …………………………………………………….... 2.3 Rezeption älterer Musik im 19. Jahrhundert in Frankreich ………………………………………………………... 2.4 Kirchenmusikschulen in Paris ……………………………………….
20 28 37 43
3. Gabriel Fauré – « Musicien français » …………………………………..
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3.1 Die École Niedermeyer ……………………………………………... 3.2 Der Traité théorique et pratique de l’accompagnement du plain-chant ………………………………...... 3.3 Gabriel Fauré: Requiem op. 48 ……………………………………... 3.4 Exkurs: Franz Liszt, Anton Bruckner, Guiseppe Verdi ……………..
50 51 63 89
4. « Claude de France » …………………………………………….……… 104 4.1 Pelléas et Mélisande ...……………………………………………… 4.2 Charles Bordes und die Schola Cantorum ………………………….. 4.3 Solesmes …………………………………………………………..... 4.4 Einflüsse auf Debussy ……………………………………………….
104 108 113 119
6
Inhaltsübersicht
5. Erik Satie: « Musicien médiéval » ………………………………………
156
6. Schlussbemerkung ………………………………………………………
177
7. Abkürzungsverzeichnis …………………………………………………. 179 8. Literaturverzeichnis ……………………………………………………..
180
9. Register ………………………………………………………………….
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VORWORT
Die vorliegende Studie begann mit ersten Vorüberlegungen zum Thema im Jahr 1997 und wurde 2004 von der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommen. Dass sie über die Jahre hinweg die heutige Gestalt annehmen konnte, verdanke ich einer ganzen Reihe von Personen und Institutionen. An erster Stelle gilt mein Dank dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Tübingen, seinen Professoren, Mitarbeitern und Studierenden, die mir durch zahlreiche Gespräche und Fragen ein tieferes Verständnis der Thematik ermöglicht haben. Ebenso bin ich meinen Mitkollegiaten sowie den Hochschullehrern des DFGGraduiertenkollegs „Ars und Scientia im Mittelalter und der frühen Neuzeit“ an der Universität Tübingen für zahlreiche Anregungen über die Fächergrenzen hinweg zu Dank verpflichtet. Der Universitätsbibliothek Tübingen, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, der Sächsischen Landesbibliothek Dresden sowie besonders der Bibliothèque nationale de France in Paris und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gilt mein Dank für die Unterstützung bei der Beschaffung von Literatur. Herrn Prof. Dr. Albrecht Riethmüller danke ich für die Aufnahme der Arbeit zur Publikation innerhalb der Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft und dem Franz Steiner Verlag für die Unterstützung bei der Vorbereitung des Druckmanuskripts. Der Geschwister Boehringer-Ingelheim-Stiftung danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Zuletzt danke ich all jenen, die mich im Prozess des Schreibens auch in schwierigen Phasen immer wieder ermuntert und ermutigt haben. Tübingen, im September 2012
1. EINLEITUNG „Die heutige Lage charakterisiert sich durch die Allgegenwart der Geschichte. Von der Gregorianik ... bis ins 19. Jahrhundert hinein wirkt Vergangenes auf Komponisten und Hörer ... erscheint heute den Komponisten und Hörern die Vergangenheit latent vorhanden, an jeder Stelle für das Musikleben aktualisierbar.“1
Heinrich Besselers Charakterisierung der musikgeschichtlichen Situation in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts lässt sich ohne Abstriche auch auf die Gegenwart übertragen; die angesprochene Tendenz zur Omnipräsenz und Verfügbarkeit der musikalischen Vergangenheit hat sich sogar noch verstärkt und ist zu einem bestimmenden Faktor für die kompositorische Orientierung geworden. Nach der Entdeckung und Aneignung der abendländisch-europäischen Geschichte erfolgte derselbe Prozess für außereuropäische und sogenannte primitive Musik, für Volkmusik, Naturlaute und Geräusche. Man spricht deshalb heute vom „Pluralismus, der Polyversionalität der musikalischen Vorstellung ... sowohl in der Zeit als auch im Raum“ oder von einem „Vorrat ... an Musik verschiedener Perioden, ethnischer Kreise, Völker, Zivilisationen, [und] Gattungen.“2 Eine besonders gewichtige Rolle spielt hierbei, wie zuletzt etwa die Werke des estnischen Komponisten Arvo Pärt deutlich machten, die Hinwendung zu mittelalterlicher Musik bzw. zu deren Struktur- und Kompositionsprinzipien. Als charakteristisches Kennzeichen der Musikgeschichte in der Übergangszeit zwischen der 2. Hälfte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts, das sich gleichsam wie ein roter Faden bis zur Gegenwart hindurch zieht, ließe sich die Spannung zwischen der mit dem Fortschrittsgedanken verbundenen Suche nach dem Neuen in der Musik und der nach rückwärts, in die Geschichte hinein gewandten Beschäftigung mit den überkommenen Ausdrucksformen benennen. Die Frage, wo die Ursprünge für diese Bewegung zu suchen sind, welche Parameter der musikästhetischen Diskussion sie flankieren, in welchem institutionellen Rahmen sie sich abspielt und schließlich, wie sie sich im Schaffen der Komponisten des angesprochenen Zeitraums niederschlägt, ist in der musikwissenschaftlichen Forschung bisher kaum in einem übergreifenden Zusammenhang untersucht worden. Die Wurzeln für die kompositorische Rückwendung zu älterer Musik im Allgemeinen und zur Musik des Mittelalters im Besonderen sind in der speziellen musikgeschichtlichen Situation an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu 1 2
Heinrich Besseler: „Umgangsmusik und Darbietungsmusik im 16. Jahrhundert,“ in: AMw 16 (1959), S. 21. Zofia Lissa: „Musikalisches Geschichtsbewußtsein – Segen oder Fluch?“, in: Dies.: Neue Aufsätze zur Musikästhetik, Wilhelmshaven 1975, S. 140, 136.
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1. Einleitung
finden: Sie ist, nach dem Ende der romantischen Epoche, beherrscht vom starken Empfinden des Verlusts einer gemeinsamen, verbindenden musikalischen Sprache und, hieraus resultierend, von Orientierungslosigkeit und der drängenden Suche nach neuen Wegen. Die Ergebnisse dieser Suche lassen sich grundsätzlich in zwei diametral entgegengesetzten Haltungen zusammenfassen, die beide als Reaktion auf die Krise bzw. das Ende der romantischen Harmonik zu verstehen sind: Zum einen Schönbergs „Flucht nach vorne“, die von starkem Fortschrittsdenken geprägt ist. So sehr auch der Schönbergkreis um eine naturgesetzliche und historische Legitimierung seines Tuns bemüht ist3, so bleibt doch die Grundauffassung beherrschend, dass nur im Überwinden des Bisherigen das Neue und Bessere entstehen kann; ein Ansatz, dem eine deutlich evolutionistische Betrachtung der Musikgeschichte zu Grunde liegt. Zum anderen die Rückwendung zu früherer, d. h. vor allem vorromantischer Musik. Hier soll die Erneuerung durch Ausschöpfen des reichen Reservoirs vergangener Musikstile erfolgen. Dies setzt freilich voraus, dass mit Ranke „jede Epoche unmittelbar zu Gott“ sei, d. h., die Musik früherer Jahrhunderte in ihrem Eigenwert und ihre Gleichberechtigung oder sogar Vorbildfunktion für das zeitgenössische Schaffen erkannt wurde. In diesem Licht ist auch die Einbeziehung verschiedener Arten von Volksmusik, Jazz und außereuropäischer Musik zu sehen. Ansätze zu solchen historistischen Interessen lassen sich schon Ende des 18. Jahrhunderts finden, entfalten sich aber wirkmächtig erst im 19. Jahrhundert. Zwar spielt auch in früheren Epochen das Verhältnis zur musikalischen Vergangenheit eine gewisse Rolle, aber doch immer als bewusst erlebte Andersartigkeit gegenüber der Gegenwart4 oder als eher unbewusst rezipierter kontinuierlicher Strom in Form der traditionellen Handwerkslehre. Erst das 19. Jahrhundert, das Zeitalter des Historismus, wendet sich der Vergangenheit dezidiert als Gegenstand und Ziel romantischen Sehnens einerseits, aber auch eines neuen Erkenntnisdrangs andererseits zu. An der Ausdruckskunst Richard Wagners entzündet sich besonders in Frankreich eine Gegenbewegung, die Musik nicht primär als Ausdruck subjektiver Gefühle versteht, sondern vielmehr als gegebenes, architektonisches Gefüge. Diese Neubewertung der Musik gibt sich in vielen Fällen als Rückbesinnung auf die Grundlagen mittelalterlicher Musikanschauung zu erkennen und verbindet sich in Frankreich auch mit dem Gedanken einer Rückbesinnung auf das im Mittelalter erwachsene nationale Erbe, das neue Wege in der Gegenwart eröffnen soll. Diese Auseinandersetzung mit der Musik des Mittelalters unterscheidet sich deutlich von verwandten Erscheinungen im 19. Jahrhundert: Steht dort vor allem die Bereicherung der Tonsprache durch eher pittoreske Kolorierungen im Vordergrund, so hier das Interesse an den Konstruktionsprinzipien und den diesen zu Grunde liegenden Denkstrukturen der mittelalterlichen Musik sowie die Suche nach einer echten Alternative zur romantischen Ausdrucksästhetik. 3 4
Programmatisch hierzu Anton Webern: Der Weg zur Neuen Musik, Willi Reich (Hg.), Wien 1960, bes. S. 16, 58. Man denke hier etwa an Begriffe wie Ars Nova, Nuove musiche oder Seconda prattica.
1. Einleitung
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Programmatisch spricht in diesem Sinne Vincent d'Indy von der älteren Musik als einer Inspirationsquelle für neue Formen: « Où donc irons-nous puiser la sève vivifiante qui nous donnera des formes et des formules vraiment nouvelles ? … dans l’art décoratif des plain-chantistes, dans l’art architectural de l’époque palestrinienne, dans l’art expressif des grands Italiens du XVIIe siècle. C’est là, et là seulement que nous pourrons trouver des tours mélodiques, des cadences rythmiques, des appareils harmoniques véritablement neufs, si nous savons appliquer ces sucs nourriciers à notre esprit moderne »;5
Eine Empfehlung, wie sie bereits Giuseppe Verdis Bonmot von 1871, ebenfalls im Kontext von Musikerausbildung, enthält.6 Ganz ähnlich sieht Guillaume Apollinaire in der Vergangenheit einen Unterbau für die Gegenwart, mit dem Ziel der Synthese alter Stilmittel und neuer Gedanken, die zu einem « esprit nouveau » führt.7 Wenn die Rückbesinnung auf die Vergangenheit und auf ältere Musik auch ein gesamteuropäisches Phänomen darstellt, so wirkt doch Frankreich unter verschiedenen Gesichtspunkten als Motor dieser Bewegung. Hier erscheint als erstes ein besonderer Akzent auf der Musik des Mittelalters, wobei sich die Hauptaufmerksamkeit dem Gregorianischen Choral zuwendet. Hierbei spielen die Verbindungen zur liturgischen Restaurationsbewegung in Frankreich, die in besonderem Maße vom Benediktinerkloster in Solesmes aus betrieben wird, eine entscheidende Rolle. Gleichzeitig werden mit dem Choral und der Musik des Mittelalters, die nun als Vorbild und Inspirationsquelle für neue Kompositionen gelten, die mittelalterlichen Institutionen der Vermittlung der musica im Weltlichen kopiert. So entstehen als Gegenpol zum Conservatoire in Paris die von Choron und Niedermeyer gegründeten Kirchenmusikschulen und schließlich auf Initiative von d'Indy, Bordes und Guilmant die Schola Cantorum. Diese sehen sich in der Tradition der maîtrises und damit der mittelalterlichen Kathedralschulen, in denen das theoretische Wissen und die Praxis in Bezug auf die Musik des Mittelalters bis ins 16. Jahrhundert im Allgemeinen und in Bezug auf den Gregorianischen Choral im Besonderen vermittelt wird. Entscheidend ist hierbei aber, dass diese Schulen nicht mehr in kirchlicher Trägerschaft stehen, sondern bürgerliche Institutionen darstellen, die sich nicht auf die Ausbildung von Kirchenmusikern beschränken, sondern eine allgemeine Musikausbildung vermitteln wollen. Mit der damit verbundenen und für Frankreich gegenüber Deutschland viel stärkeren Außenwirkung üben sie einen entscheidenden Einfluss auf die heranwachsende Komponistengeneration seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aus. Diese greift die Musik des Mittelalters nicht als reines Zitat auf, sondern interessiert sich für die internen Bauprinzipien mittelalterlicher Musik – wie z. B. Modalität – und versucht, sie in die eigene Musiksprache zu integrieren. 5 6 7
Vincent d’Indy: „Une École d’art répondant aux besoins modernes: Discours d’inauguration des cours de l’École“, in: La Tribune de St. Gervais VI (1900), S. 311. „Torniamo all’antico: sarà un progresso“; Brief Guiseppe Verdis vom 04. 01. 1871 an Francesco Florimo, zitiert nach: Franco Abbiati: Guiseppe Verdi. “Le Vite”, 4 Bde., Bd. 3, Mailand 1959, S. 356. Guillaume Apollinaire: L’Esprit nouveau et les poètes, Paris 1917.
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1. Einleitung
In letzterem ist das gegenüber der reinen kirchenmusikalischen Erneuerung für die weitere musikgeschichtliche Entwicklung interessantere und folgenreichere Phänomen zu sehen. So wichtig auch die von der kirchenmusikalischen Reformbewegung ausgehenden Impulse für Komponisten wie Fauré, Satie oder Debussy sein mögen, letztlich offenbart sich in ihrer Rückwendung zur Musik des Mittelalters nicht der dezidierte Wunsch, ältere geistliche Musik zu finden, sondern generell alte Musik, im Sinne von ursprünglicher Musik. Die Musik des Mittelalters erscheint fern, unbekannt und emotional unbefrachtet und ist insofern dem zeitgleichen Exotismus an die Seite zu stellen, nur dass hier die Faszination nicht aus der geographischen sondern aus der zeitlichen Distanz herrührt. Dass dieses Zurücksehnen nach dem Ursprünglichen fast ausschließlich und automatisch auf geistliche Musik, genauer auf den Gregorianischen Choral trifft, hängt primär mit der speziellen Überlieferungslage abendländischer Musik zusammen. Der Grund für die Rückbesinnung ist hier aber – und dies ist festzuhalten – im Gegensatz zu den liturgisch motivierten Reformerkreisen ein ästhetischer. Da diesem das Emotional-Bekenntnishafte und damit auch das Dogmatische fehlen, ist es auch möglich, die musikalischen Gestaltungsmittel aus dem unmittelbaren liturgischen Umfeld herauszulösen und in anderen kompositorischen Kontexten fruchtbar werden zu lassen. So führt die Begegnung mit dem historischen Vorbild zu einem schöpferischen Impuls, der in eine eigene und eigenständige Verarbeitung mündet. Freilich gleichen sich die Ausgangspositionen: Dem spirituellen Notstand nach den Verheerungen der Französischen Revolution, dem Prosper Guéranger mit der Gründung von Solesmes zu begegnen sucht, entspricht ein künstlerischer Notstand, wie er von der französischen Komponistengeneration seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck Wagners empfunden wird. Da der Weg Wagners hinein in die exzessive Chromatik in Frankreich nicht gangbar scheint, eröffnet sich in der entgegengesetzten Bewegung, rückwärts in die Geschichte, eine Lösung, die die sich in einer Krise befindliche Tonalität erneuert, ohne sich der gesteigerten Emotionalität Wagners bedienen zu müssen. Der instinktiven Scheu französischer Komponisten vor dem übertrieben Subjektiven kommt die wiederzuentdeckende alte Musik insofern entgegen, als sie eben noch neu, unberührt und damit auch emotional weit entfernt scheint und doch auf geheimnisvolle Weise durch musikgeschichtliche Traditionen mit der Gegenwart verbunden ist. Letztlich bricht sich hier die alte mittelalterliche Vorstellung von Musik als „numerus“, als Konstruktion erneut die Bahn, die sich dem spätromantischen Ideal von Musik als „Mimesis“ entgegenstellt.8 Paris wird so in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem ersten, entschiedenen Bollwerk gegen die Roman8
Dass hierbei, wie auch noch in der Musikgeschichtsschreibung neueren und neusten Datums, eine falsche Dichotomie aufgestellt wird, die der mittelalterlichen Musik und Musiktheorie Konzepte zur „Rhetorisierung“ abspricht und als Kennzeichen einer Epochengrenze zur Neuzeit stilisiert, hat Fritz Reckow: „Zwischen Ontologie und Rhetorik. Die Idee des movere animos und der Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit in der Musikgeschichte“, in: Traditionswandel und Traditionsverhalten, Walter Haug, Burghart Wachinger (Hgg.), Tübingen 1991 (Fortune vitrea, Bd. 5), S. 145–178, aufgezeigt.
1. Einleitung
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tik deutscher Prägung mit weitreichenden Folgen für die Zukunft. Sicherlich sind die französischen Komponisten nicht die einzigen, die sich mittelalterlicher Musik, modal gefärbter Harmonik und dem Choral zuwenden. Die Bewegung ist wie bereits erwähnt eine gesamteuropäische. Der frühe Zeitpunkt und die Vehemenz jedoch mit der diese Fragen in Frankreich aufgegriffen werden, lassen keinen Zweifel an seiner Vorreiterrolle. In diesem ästhetischen Klima wird Strawinsky mit seiner Grundüberzeugung, dass Musik sich jeder Subjektivität und jedem Individualismus zu entziehen habe9, in scharfer Opposition zu Schönbergs Credo, dass Musik nichts als Ausdruck sei10, eine geistige Heimat finden.11 Ebenso lassen sich Verbindungen zu den deutschen Komponisten, die Schönbergs Weg nicht mitgehen, wie Orff und Hindemith12, und zur Bewegung der „Neuen Sachlichkeit“ ziehen und auch Busonis Gedanken über eine neue Kunst nähren sich von der Vorstellung, das „Sinnliche“ abzustreifen.13 Diese Folgeerscheinungen gehören aber einer späteren Zeit an und wären aus den jeweiligen kulturellen, politischen und ästhetischen Rahmenbedingungen heraus zu diskutieren14. Dies rechtfertigt die Einschränkung der vorliegenden Arbeit auf Frankreich und das 19. 9 10
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Vgl. exemplarisch Igor Strawinsky: Erinnerungen (Chroniques de ma vie 1936), S. 119, 122, in: Igor Strawinsky. Leben und Werk – von ihm selbst. Erinnerungen, Musikalische Poetik, Antworten auf 35 Fragen, Mainz 1957, aus dem Französischen übersetzt von Richard Tüngel. Vgl. Schönbergs Ausruf in seinem unveröffentlichten Manuskript „Das Komponieren mit selbständigen Stimmen“: „Einziger Zweck der Kunst … Ausdruck der Persönlichkeit, dann weiter Ausdruck der Menschlichkeit.“; zitiert nach Rudolf Stephan: „Schönbergs Entwurf über ‚Das Komponieren mit selbständigen Stimmen‘“, in: AMw 29 (1972), S. 246. Für diese Kontinuität zwischen der französischen Musik und Strawinsky sei an zwei Belege erinnert: Jacques Rivière macht in seiner Besprechung des Sacre von 1913 « le renoncement à la sauce » und eine « [musique] dépouillée » als Charakteristika von Strawinskys Musik aus, Begriffe, die so zur Beschreibung der Musik Erik Saties von diesem selbst und seinen Zeitgenossen geprägt wurden; Roland Manuel spricht 1920 in seiner Rezension des Sacre von dem Band, das Ravel und Strawinsky durch ihre gemeinsame « horreur de l’expression facile » verbinde; Abdruck dieser Besprechungen bei François Lesure (Hg.): Igor Stravinsky. Le Sacre du printemps. Dossier de presse, Genf 1980, S. 38–48, 54–55. Einige Überlegungen hierzu bei Stefan Morent: „The music of Hildegard von Bingen in its authenticity?“ – Mittelalter-Rezeption im Spiegel der Aufführungspraxis, in: MittelalterSehnsucht? Texte des interdisziplinären Symposions zur musikalischen Mittelalterrezeption an der Universität Heidelberg April 1998, Annette Kreutziger-Herr, Dorothea Redepenning (Hgg.), Kiel 2000, S. 243–261. „Ein Drittes – nicht minder Wichtiges – ist die Abstreifung des „Sinnlichen“ und die Entsagung gegenüber dem Subjektiven, (der Weg zur Objektivität – das Zurücktreten des Autors gegenüber dem Werke – eine reinigender Weg, ein harter Gang, eine Feuer- und Wasserprobe), die Wiedereroberung der Heiterkeit (Serenitas): nicht die Mundwinkel Beethovens, und auch nicht das „befreiende Lachen“ Zarathustras, sondern das Lächeln des Weisen, der Gottheit und – absolute Musik. Nicht Tiefsinn und Gesinnung und Metaphysik; sondern: – Musik durchaus, destilliert, niemals unter der Maske von Figuren und Begriffen, die anderen Bezirken entlehnt sind.“; Ferruccio Busoni: „Junge Klassizität“; Brief an Paul Bekker vom Januar 1920, mitgeteilt in: Ferruccio Busoni: Wesen und Einheit der Musik. Neuausgabe der Schriften und Aufzeichnungen Busonis, revidiert und ergänzt von Joachim Herrmann (= Max Hesses Handbücher der Musik Bd. 76), Berlin 1956, S. 34–38, hier: S. 37. Ein Ansatz hierzu bei John Willett: The new sobriety. 1917–1933. Arts and politics in the Weimar period, Hampshire 1978.
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1. Einleitung
Jahrhundert, wobei hier im Sinne einer geistigen Einheit die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg mit hinzuzurechnen ist. Die Untersuchung versteht sich nicht als Geschichte des musikalischen Historismus in Frankreich in einem allgemeinen Sinne. Vielmehr soll es um die Erhellung der Frage nach den Voraussetzungen, den Gründen und den Zielen der Auseinandersetzung mit älterer Musik gehen. Da in Frankreich im 19. Jahrhundert keine einzelne zentrale Komponistenpersönlichkeit auszumachen ist, die etwa Wagner in Deutschland oder Verdi in Italien entgegenzustellen wäre, erschien es sinnvoll, einzelne Komponisten herauszugreifen, denen bereits von den Zeitgenossen das Privileg zugesprochen wurde, die als spezifisch französisch proklamierten Qualitäten in der Musik in besonderem Maße zum Ausdruck gebracht zu haben. Mag es sich bei diesen « qualités françaises » auch teilweise um Stereotypen handeln, so spielen sie doch im zeitgenössischen Diskurs eine Identität stiftende Rolle. Gabriel Fauré, Claude Debussy und Erik Satie sind so alle in der Begegnung mit alter Musik in je individueller Weise zu « musiciens français » geworden. Welche Aspekte der Mittelalter-Rezeption hier jeweils wirksam geworden sind und wie sie sich im kompositorischen Schaffen jeweils ausgeprägt haben, versucht die Arbeit, zur Darstellung zu bringen. Um die geistigen, ästhetischen und institutionellen Voraussetzungen für das Wirken der genannten Komponisten besser einordnen zu können, ist den eigentlichen Analysen ein einleitendes Kapitel zur musikalischen Rezeptionsgeschichte vorangestellt, in dem auch durch einen Seitenblick auf die gleichzeitige Entwicklung in Deutschland die Spezifik der französischen Situation profiliert werden soll. Bei den einzelnen Komponisten beschränkt sich die Untersuchung wiederum auf einzelne repräsentative Werke, da es ihr nicht um eine Materialsammlung, sondern um die Darstellung der verbindenden geistigen Strukturen zu tun ist. Damit unterscheidet sich die Arbeit auch von anderen Darstellungen, die sich entweder verallgemeinernd der Frage der Mittelalter-Rezeption im 19. Jahrhundert zuwenden15 oder sich spezialisierten Fragen widmen16, ohne jeweils der besonderen Situation in Frankreich gerecht werden zu können.17 Des weiteren sieht die Arbeit ihren speziellen Schwerpunkt im Aufweis des Rezeptionsphänomens innerhalb der Kompositionen, strebt also eine Verankerung ihrer Aussagen in der Musik selbst an, im Gegensatz zu Ansätzen, die die Rezeptionsgeschichte aus vorwiegend kulturgeschichtlicher Perspektive heraus betrachten und eine Geschichte der 15 Walter Wiora (Hg.): Die Ausbreitung des Historismus über die Musik. Aufsätze und Diskussionen (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 14), Regensburg 1969, S. 324. 16 Vgl. hierzu beispielsweise die Dissertation von Georg von Dadelsen: Alter Stil und alte Techniken in der Musik des 19. Jahrhunderts, Msch. Diss. Berlin 1951, die sich ausschließlich mit deutscher Musik beschäftigt. 17 Renate Groths Darstellung „Debussy und das „Französische“ in der Musik“, in: Europäische Musikgeschichte, Sabine Ehrmann-Herfort, Ludwig Finscher, Giselher Schubert (Hgg.), Bd. 2, Kassel etc. 2002, S. 943–982, bezieht in ihre Diskussion historischer Vorbilder für Debussys Musik nur die französische Barockmusik ein.
1. Einleitung
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Wiederbelebung und „Erfindung“ mittelalterlicher Musik in der Neuzeit zu schreiben versuchen.18 Sie fragt also danach, wie sich Prozesse der Kulturgeschichte in der Kompositionsgeschichte ablesen lassen. Dem forschungsgeschichtlichen Desiderat nach einer Aufarbeitung der kompositorischen Mittelalter-Rezeption in Frankreich im 19. Jahrhundert soll mit dieser Untersuchung entsprochen und gleichzeitig der Weg eröffnet werden für anschließende Untersuchungen des Rezeptionsphänomens im 20. und 21. Jahrhundert.19
18 Vgl. Annette Kreutziger-Herr: Ein Traum von Mittelalter. Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit, Köln/Weimar 2003, besonders S. 12 und Daniel LeechWilkinson: The modern invention of medieval music: scholarship, ideology, performance, Cambridge 2002. 19 Erst Ansätze hierzu sind formuliert in Mittelalter-Sehnsucht?, Kiel 2000 und Wolfgang Gratzer, Hartmut Möller (Hgg.): Übersetzte Zeit. Das Mittelalter und die Musik der Gegenwart, Hofheim 2001, jedoch ohne weitergehende kompositorische Analysen.
2. ZUR REZEPTION ÄLTERER MUSIK IM ALLGEMEINEN Das 19. Jahrhundert gilt mit dem Ineinandergreifen von romantischer Bewegung und Historismus als der Beginn einer Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne. Im Verbund mit einzelnen vorbereitenden Strömungen im 18. Jahrhundert gelingt es hier zum ersten Mal, geschichtliche und künstlerische Prozesse in ihrem Eigenwert zu begreifen und zu gewichten. Frühere Epochen kennen diese Loslösung der Beurteilungskriterien von der eigenen Gegenwart, die eine Objektivierung des geschichtlichen Gegenstands voraussetzt, nicht. In besonderem Maße gilt dies insofern für die Musikgeschichte, weil sich ihr Gegenstand, die Musik, gegenüber den bildenden Künsten der Objekthaftigkeit entzieht. Musik ist eine Zeitkunst, die in der Zeit erklingt und verklingt. Da die Musik in diesem Sinne also nicht dinglich ist, haftet ihr eine inhärente Ungeschichtlichkeit an. Dass sie in der abendländischen Kultur dennoch eine geschichtliche Dimension gewonnen hat, die schließlich zu einer Musikgeschichtsschreibung in Anlehnung an die historischen und philologischen Disziplinen geführt hat, ist darin zu suchen, dass die fehlende Greifbarkeit des erklingenden Phänomens durch umso stärkere Traditionszusammenhänge kompensiert wurde. Diese Traditionszusammenhänge manifestieren sich in den musiktheoretischen Traktaten, in denen die Musik durch das reflektierte Sprechen über sie in die Geschichtlichkeit erhoben wird, in der Überlieferung der Quellen, im LehrerSchüler-Verhältnis und in der Rezeption und Verarbeitung älterer Musik im kompositorischen Vollzug. Hier zeigt sich, dass auch älterer Epochen einen – jeweils eigen gestalteten – Begriff von vergangener Musik ausprägen.1 Einer der gängigsten Topoi ist die Vorstellung vom ständigen Fortschritt der Musik. Musik entwickelt sich aus ihrer Vergangenheit heraus durch einen ständigen Prozess der Verbesserung zu einem Hochpunkt an Perfektion, der in der zeitgenössischen Gegenwart erreicht ist. Das Verhältnis zu den älteren, vorbereitenden Stufen von Musik kann hierbei wiederum verschieden sein. Zum einen wird das Vergangene als Fundament gesehen, auf dem das Neue entsteht; ältere Musik stirbt ab und geht in der neuen Musik auf, die jene ältere verbessert. Das zeigt sich zunächst exemplarisch am Gregorianischen Choral, an dem, mit dem und gegen den sich die wesentlichsten Strömungen der abendländischen Musikgeschichte entwickeln. Eingebunden in den liturgischen Vollzug bleibt das Kernrepertoire des Chorals in Messe und Stundengebet seit seiner greifbaren schriftlichen Kodifizierung im 10. Jahrhundert praktisch konstant, sein Vortragsstil verändert sich 1
Vgl. Wilhelm Seidel: „Über den musikalischen Kanon“, in: Il Saggiatore Musicale VIII (2001), n. 1, S. 89.
2. Zur Rezeption älterer Musik im Allgemeinen
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aber bereits durch den Wechsel beispielsweise des räumlichen Aufführungskontextes und durch das Einwirken der musikalischen Erweiterungen des Stammrepertoires. Diese Erweiterungen, die sich unter dem gemeinsamen Begriff des Tropierens zusammenfassen ließen, rücken den Choral in neue textliche und/oder klangliche Perspektiven und modifizieren mit Beginn der frühen Mehrstimmigkeit vor allem seine rhythmische Struktur. In der Verfeinerung und Entwicklung der kompositorischen Methoden wird der Choral auch zunehmend aus seinem liturgischen Kontext gerissen und dient als musikalisches Material aus dem neue kompositorische Strukturen entstehen. Bis zum Einsetzen der Restaurationsbewegungen im 19. Jahrhundert ist der Choral damit nicht Gegenstand historischen Interesses, sondern er wird ganz selbstverständlich der jeweiligen zeitgenössischen Musiksprache einverleibt und verändert sich mit ihr. Auch die aus den polyphonen Fassungen des Chorals entstehenden musikalischen Formen lassen das Denkmodell des zunehmenden Fortschritts erkennen. So berichtet der englische Anonymus 4 an prominenter Stelle, dass der Magnus liber Leonins bis zur Zeit Perotins in Gebrauch gewesen sei und dieser das Werk Leonins verbessert und durch neue musikalische Verfahren ergänzt habe.2 Diese erneuerte Version sei wiederum noch zur Zeit der Abfassung des Berichtes Ende des 13. Jahrhunderts in Gebrauch.3 Die Spuren der Verwendung des von Leonin und Perotin geschaffenen Repertoires lassen sich sogar bis ins 14. Jahrhundert hinein und in ganz Europa verfolgen.4 Der hier beschriebene Prozess scheint paradigmatisch für die weitere Musikgeschichte: Das Bewusstsein von und die Verehrung für eine ältere Komposition, einen älteren Komponisten drückt sich in der kompositorischen Anverwandlung durch einen Nachfolger aus. Tradieren und Verändern geschehen gleichzeitig. Die niederländischen Komponistengenerationen, die von einem starken Traditionsbewusstsein geprägt sind, entwickeln auf diesem Hintergrund das Parodieverfahren. Die Kunst der Niederländer entwickelt sich im weiteren Verlauf eben wegen dieses verbindenden Traditionszusammenhangs zur Grundlage, von der sich der neue musikalische Stil nach 1600 kontrastierend abhebt, die er aber gleichzeitig als unverzichtbare Basis für die Komposition begreift. Dies zeigt sich im berühmten Vorwort von Schütz zur Geistlichen Chormusik von 1648 ebenso wie in der Missa „in illo tempore“ des herausragendsten Vertreters des neuen Stils, Claudio Monteverdi, wie allgemein im Weiterleben des stile antico in der kompositorischen Praxis. Die Handwerkslehre, kodifiziert in der aus Palestrinas Werken abgeleiteten Kontrapunktlehre, die sich wie kaum ein anderer musikalischer Stil für die regelhafte Erfassung eignet, wird zum Träger und Vermittler von Tradition.
2 3 4
Fritz Reckow (Hg.): Der Musiktraktat des Anonymus 4, Teil I: Edition, Wiesbaden 1967 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft Bd. 4), S. 46. Ebda. Fritz Reckow (Hg.): Der Musiktraktat des Anonymus 4, Teil II: Edition, Wiesbaden 1967 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft Bd. 5), 3/4.
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2. Zur Rezeption älterer Musik im Allgemeinen
Freilich ist es möglich, dass das Bewusstsein einer „Ars Nova“ auch zu einer stärkeren Abgrenzung gegenüber älterer Musik führt, die bis zur Ablehnung gehen kann, wie sie beispielsweise im bekannten Verdikt von Tinctoris aufscheint.5 Das Modell der unaufhörlich fortschreitenden, in einem gegenwärtigen Höhepunkt kulminierenden Musik lässt sich ungebrochen vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verfolgen. So äußert Praetorius, die Musik seiner Zeit sei „so hoch gestiegen, das fast nicht zu gleuben, dieselbe numehr hoeher werde kommen koennen“6, ganz ähnlich wie Johann Sebastian Bach 1730 „die Kunst üm sehr viel gestiegen“ sieht7 und Robert Schumann feststellt: „Der Sonatenstil von 1790 ist nicht der von 1840: die Ansprüche an Form und Inhalt sind überall gestiegen“.8 Verlagert sich dieser ideale Höhepunkt zurück in die Vergangenheit, so wird aus dem Fortschritts-Modell ein dreistufiges Verfalls-Modell. Nach dieser Vorstellung befindet sich die Musik nach dem bereits überschrittenen Hochpunkt, zu dem sie sich hin entwickelt hat, nur noch in einem stetigen Niedergang, dessen Tiefpunkt die Gegenwart kennzeichnet. Exemplarisch äußert sich hierzu Glarean im dritten Buch seines Dodekachordon: Die Musik Josquins erscheint ihm als Modell einer „ars perfecta“, der gegenüber die zeitgenössische Musik als inferior und defizitär wirkt9. Im Hintergrund steht hierbei die Gliederung der Musik nach den menschlichen Lebensaltern Kindheit, Jugend, Reife und Greisenalter, wie sie von Lucius Annaeus Florus zur Einteilung seiner römischen Geschichte eingeführt wurde.10 Ähnlich pessimistisch hinsichtlich der Kunst der Gegenwart äußert
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Johannes Tinctoris: Liber de arte contrapuncti, Prologus, 15 (= CSM 22, Albert Seay (Hg.): Johannes Tinctoris. Theoretical Works, Bd. II, American Institute of Musicology 1975, S. 12). 6 Michael Praetorius: Syntagma musicum, Bd. III: Termini musici, Wolfenbüttel 1619 (= Documenta Musicologica XV, Wilibald Gurlitt (Hg.), Kassel etc. 1958), Widmung. 7 Eingabe Johann Sebastian Bachs an den Rat der Stadt Leipzig vom 23. 8. 1730, zitiert nach: Schriftstücke aus der Hand Johann Sebastian Bachs, vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze (= Bach-Dokumente Bd. I), Kassel etc. 1963, S. 63. 8 Robert Schumann: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Fünfte Auflage, Martin Kreisig (Hg.), Bd. II, Leipzig 1914, S. 11. 9 Hierzu Ernst Lichtenhahn: „‚Ars perfecta‘ – zu Glareans Auffassung der Musikgeschichte“, in: Festschrift Arnold Geering zum 70. Geburtstag. Beiträge zur Zeit und zum Begriff des Humanismus vorwiegend aus dem Bereich der Musik, Victor Ravizza (Hg.), Bern/Stuttgart 1972, S. 129–138. Freilich gibt Glarean zu bedenken, dass Josquin zur vollkommenen Perfektion die Kenntnis der 12 Modi gefehlt habe: „Cui viro, si de duodecim Modis vera ratione musica, noticia contigisset ad nativam illam indolem, & ingenii, qua viguit, acrimoniam, nihil natura augustius in hac arte, nihil magnificentius producere potuisset.“; Henricus Glareanus: Dodecachordon (= A Facsimile of the 1547 Basel Edition, Monuments of Music and Music Literature in Facsimile. Second Series – Music Literature, LXV, New York 1967), S. 362. 10 „Si quis ergo popoulum Romanum quasi unum hominem consideret totamque eius aetatem percenseat, ut coeperit utque adoleverit, ut quasi ad quondam iuventae frugem pervenerit, ut postea velut consenuerit, quattuor gradus processusque eius inveniet“; L. Annaei Flori Epitomae de Tito Livio bellorum omnium annorum DCC libri II, Edition Cambridge/London 1929, Reprint 1995, S. 6.
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sich Johann Samuel Petri Ende des 18. Jahrhunderts, wenn er erklärt, dass die Absicht seiner Anleitung zur praktischen Musik sei, „den Ursprung der Musik wahrscheinlich zu zeigen, und etwas zu ihrer Geschichte beizutragen bis zur Zeit ihrer großen Katastrophe, welche ums Jahr 1740 anfing und noch fortdauret“.11
Erkennt Glarean in der Vergangenheit einen Höhepunkt der musikalischen Entwicklung, so führt dies dennoch nicht zu der Vorstellung, dass eine Erneuerung der gegenwärtigen Musik durch Rückwendung zu jenen vergangenen Ausdrucksformen erreicht werden könnte.12 In der Überwindung dieses pessimistischen Ansatzes entsteht im 18. Jahrhundert ein drittes Grundmodell des Verhältnisses zur Musik der Vergangenheit, das als Vorstufe zu den Restaurationsbewegungen des 19. Jahrhunderts gelten kann. Wiewohl ältere Musik auch hier mehrheitlich als Vorstufe einer durchgängigen Entwicklung zum Besseren gilt, wird sie dennoch als eigene Größe wahrgenommen, die einen bedeutenden Informationswert für das Verständnis zeitgenössischer Musik besitzt. Teilweise taucht bereits die Idee vom Vorbildcharakter älterer Musik auf, die einer Neuorientierung der Musik der Gegenwart zugute kommen könnte. Frühestes Beispiel hierfür ist wohl Johann Josef Fux, der in der Widmung seiner 1718 komponierten Missa canonica an Kaiser Karl VI. darauf hinweist, dass die Musik der Vergangenheit nicht nur nicht völlig verschwunden sei, sondern die Beschäftigung mit ihr in späteren Zeiten sogar Gewinn verspräche.13 Ähnlich argumentiert Martin Gerbert, wenn er in seiner Abhandlung De cantu et musica sacra von 1774 auf die in seinen Augen schlichte Form älterer Kirchenmusik als Vorbild für die dekadente und degenerierte Kirchenmusik seiner Zeit hinweist. Weiter verbreitet ist in den ersten größeren musikgeschichtlichen Abrissen des späteren 18. Jahrhunderts von Hawkins, Burney und Forkel freilich die vom Gedankengut der Aufklärung erneut intensivierte Fortschritts-Idee, in deren Kontext die Musik der Vergangenheit als erste Entwicklungsstufe einer folgerichtig sich entfaltenden „Science of music“ und der melodischen und harmonischen Gesetze der Musik der Gegenwart fungiert.
11 Johann Samuel Petri: Anleitung zur praktischen Musik, Leipzig 1782, S. 104. 12 Lichtenhahn 1972, S. 135. 13 „Ed insieme ho creduto mio impegno di redimere questa illustra professione dall’ indiscreta opinione di alcuni, li quali vogliono, che nel progresso de’ tempi siasi cotanto diminuita la sostanza della Musica antica, che perdutasi poscia a poco a poco anche l’idea di quella, a noi non ne sia rimasta che l’ombra sola del suo Nome occupato della moderna. … mi lusingo, che conoscerà non esser affatto smarrita l’antica Musica e che a noi ne rimane qualche avvanzo, il quale coltivato dalla meditazione, e dallo studio può far comparire ancor vivente il gusto e la dignità della medesima“; Johann Josef Fux: Messen (= DTÖ Jahrg. I/1, Bd. 1, Johannes Evangelist Habert, Gustav Adolf Glossner (Hgg.)), Missa S. Caroli (Canonica), Wien 1894, unveränderter Abdruck Graz 1959, Widmung. Vgl. auch Herbert Birtner: „Johann Joseph Fux und der musikalische Historismus“, in: Deutsche Musikkultur 7 (1942/1943), S. 1–14.
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Zwar wird vor allem die Musik des Mittelalters als durchaus defizitär beschrieben14, aber die – wenn auch negative – Abgrenzung früherer musikgeschichtlicher Epochen setzt eben einen die Musikgeschichte gliedernden Epochenbegriff voraus, eine Leistung, die von der humanistischen Geschichtsschreibung bereits im 15. Jahrhundert mit dem negativen Begriff vom „medium aevum“ erbracht wurde.
2. 1 EXKURS: MARTIN GERBERT, JOHN HAWKINS, CHARLES BURNEY, JOHANN NIKOLAUS FORKEL Martin Gerberts Abhandlung De cantu et musica sacra a prima ecclesiae aetate usque ad praesens tempus, St. Blasien 177415, ist auf engste mit seiner Intention einer kirchenmusikalischen Reform verbunden.16 Die Darstellung der Kirchenmusikgeschichte dient zunächst und vor allem dem Ziel, die ursprüngliche liturgische Einbindung gottesdienstlicher Musik neu ins Bewusstsein zu rufen und damit die Abirrungen, die Gerbert im zeitgenössischen kirchenmusikalischen Schaffen sieht, aufzuzeigen. Seine Reformbestrebungen sind im Lichte der Enzyklika Annus qui Benedikts XIV von 1749 und der Josephinischen Reformen zu sehen.17 In diesem Kontext wird das Verlangen nach einer möglichst einfachen, von Elementen der musica theatralis freien Kirchenmusik artikuliert, in der auch der Choral wieder eine größere Rolle einnehmen soll. Gerberts Motivation für die Beschäftigung mit Geschichte und Entwicklung des Chorals und allgemeiner der sakralen Musik früherer Jahrhunderte ist also primär nicht in einem historischen Interesse per se begründet, sondern entspringt einem apologetischen Anliegen: Die wahre musica sacra weiß sich von ihren Anfängen an prinzipiell dem Lobe Gottes verpflichtet. Programmatisch stellt Gerbert diese Devise an den Beginn seines Werkes: „Cantus musicaeque primarius finis est, et esse debet Dei gloria, ac laus“.18 Versinnbildlicht wird dieses Programm durch die beiden dem ersten Band vorangestellten Kupfertafeln: Eine Kopie der bekannten Darstellung Gregors des 14 Johann Adolf Scheibe charakterisiert in seinem Critischen Musikus, Leipzig 1745 (Nachdruck Hildesheim 1970), S. 753 die Musik des 16. Jahrhunderts als „verwirrtes Tongewebe, welches mehr ein Kennzeichen der Barbarey, oder vielmehr einer gothischen Nachkommenschaft war“. 15 Martin Gerbert: De cantu et musica sacra a prima ecclesiae aetate usque ad praesens tempus, 2 Bde., St. Blasien 1774 (= Nachdruck Graz 1968, hg. und mit Registern versehen von Othmar Wessely (= Die großen Darstellungen der Musikgeschichte in Barock und Aufklärung, Bd. 4)). 16 Hieraus ist auch zu erklären, dass bis auf eine französische Chanson im Anhang weltliche Musik in Gerberts Werk nicht vorkommt. Die Beschreibung von Instrumenten im zweiten Band beschäftigt sich fast ausschließlich mit den phantasiegezeugten Instrumenta Hieronymi. 17 Vgl. hierzu die Praefatio zu Gerberts Werk, Bd. I. 18 Gerbert 1774 Bd. I, S. 1.
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Großen mit der Taube aus dem Codex Hartker sowie der Gregor-Tropus „Sanctissimus namque” zum Ersten Adventssonntag. Beide Darstellungen wie auch der Rekurs auf den Gregorius praesul-Prolog19 verdeutlichen die direkte göttliche Inspiration des Chorals und bilden einen Traditionsrahmen, in den Gerbert sich und sein Werk bewusst stellt. Freilich sieht Gerbert die Notwendigkeit, sein Anliegen durch historische Fakten zu untermauern. Durch seine umfangreiche Kenntnis der handschriftlichen Überlieferung ist ihm ein staunenswerter Überblick zu Gattungsgeschichte und Notationsformen möglich. Als ehemaliger Bibliothekar seines Klosters und durch seine zahlreichen Reisen zu bedeutenden Bibliotheken im In- und Ausland und seine guten Kontakte zu anderen Gelehrten stand ihm ein immenses Reservoir an mittelalterlichen Handschriften zur Verfügung.20 Die detaillierten Beschreibungen von St. Galler Handschriften und die beigegebenen Beispieltafeln legen hiervon Zeugnis ab: So vermittelt Gerbert z. B. einen guten Eindruck vom Aufbau alter Sequentiare mit ihrer typischen Interlinear- und Marginalneumierung.21 Die diplomatischen Abschriften beider Bände sind, wie ein Vergleich des bereits erwähnten Gregor-Tropus mit der Vorlage Verona Bibl. Cap. CVII (I-VEcap 107), f. 2v zeigt, bis in die Neumenschrift hinein sehr detailgetreu ausgeführt. Trotz dieser reichen Quellenkenntnis und Sicherheit im Umgang mit ihr22, lässt Gerbert jedoch kein tieferes Verständnis für die Neumenschrift erkennen. Zwar teilt er ein neumiertes Lehrgedicht mit den alten Neumennamen in Abschrift mit23, spricht aber selbst eher undifferenziert bei den meisten Beschreibungen von notae musicae.24 Neumen erscheinen ihm als unsicheres Terrain auf dem eher Zufall und Willkür regieren, weshalb er sich bei diesem Gegenstand nur kurz aufhält und den Interessierten auf Johann Ludolf Walthers Lexicon diplomaticum25 verweist.26 Hinter dieser Haltung wird die Auffassung von Notations- und Musikgeschichte als einer Fortschrittsgeschichte sichtbar: Das Defizitäre der Neumenschrift wird durch Guido überwunden und erst ab hier entwickelt sich die Musik
19 Gerbert 1774, I, S. 250. 20 P. Chrysostomus Großmann OSB: „Fürstabt Martin Gerbert als Musikhistoriker“, in: KmJb 27 (1932), S. 123–134. 21 Gerbert 1774, I, S. 409, 413. 22 Nur der auf Tafel XIV Nr. 2 des zweiten Bandes widergegebene Advents-Introitus Ad te levavi kann zumindest nicht aus CH– E 121 stammen, da dieses Blatt der Handschrift fehlt; Gerbert ist sich über die genaue Herkunft selbst nicht mehr sicher; Gerbert 1774, II, S. 62. 23 Gerbert 1774, II, Tafel X Nr. 2. 24 Vgl. z. B. Gerbert 1774, I, S. 345, 409. 25 Johann Ludolf Walther: Lexicon Diplomaticum, abbreviationes syllabarum et vocum in diplomatibus et codicibus a saeculo viii. ad xvi. usque occurentes exponens, iunctis alphabetis et scripturae speciminibus integris, Göttingen, 1747/Ulm 1756. 26 „Hae vero variis arbitrariis, ex lineis, punctis, ductibus et flexionibus ...“; Gerbert 1774, II, S. 59, 60.
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zum immer Besseren. Hucbalds Überlegungen zur Neumenschrift zieht Gerbert als Untermauerung dieser Meinung heran.27 Die zentrale Stellung, die Guido zugewiesen wird, weist die Richtung, in der Gerbert mit seiner Kirchenmusikgeschichte fortfährt: Zwar liefert Guido einen Beitrag zur Verbesserung der Notenschrift und damit der Praxis, aber er äußert sich in einem Traktat, als Theoretiker.28 Die eigentliche Linie, der Gerbert zur Stützung seines Anliegens folgt, besteht denn auch nicht aus praktischen Quellen oder Kompositionen, sondern aus den Schriften der Theoretiker über das Wesen der Musik. Insofern ist für Gerbert Musikgeschichte zunächst Theoriegeschichte und hieraus erklärt sich auch sein geringes Interesses an der Funktion früherer Schriftformen. Deutlich wird dies auch darin, dass sein zweites großes Werk, die Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum, St. Blasien 1784, ursprünglich als Begleitwerk zu De cantu gedacht waren.29 Gerbert spricht zwar dem Choral einen Vorbildcharakter auf dem Gebiet der Kirchenmusik zu und reiht sich damit in eine Strömung ein, die zum Ende des 18. Jahrhunderts dem Choral wieder eine stärkere Position verschaffen will30. Im Mittelpunkt seines Interesses an ihm steht aber nicht eine Wiederherstellung seiner ursprünglichen Aufführungsform, sondern seine postulierte Funktion einer einfachen, dem Gottesdienst gemäßen Kirchenmusik. Die Aufführung des Chorals, wie sie Gerbert in seinem eigenen Kloster durchsetzte, bildet zwar einen starken Gegensatz zum konzertanten Kirchenstil, steht aber in der Tradition des Choralvortrags im 18. Jahrhundert. Franz Friedrich Siegmund August von Böcklin berichtet: „In dem Benediktinerstift St. Blasien hört man einen besonders guten und schönen Choral. Bei der Einweihung der jetzigen neuen Kirche daselbst, ward bloss eine Choralmusik mit abwechselnden Posaunen, Zinken, Trompeten und Pauken intonieret.“31
Damit dürfte ein aus der Praxis der Orgelbegleitung erwachsener schlichter Choralvortrag im vierstimmigen Satz gemeint sein, wie er im späten 18. Jahrhundert in Deutschland verschiedentlich praktiziert wurde und exemplarisch in Michael 27 Gerbert 1774, II, S. 43–47, 53–59. Zu Hucbald: Andreas Traub: „Hucbald von Saint-Amand. De harmonica institutione“, in: Beiträge zur Gregorianik 7, Regensburg 1989. 28 Vgl. hierzu die Praefatio zum zweiten Band von Gerberts Scriptores, St. Blasien 1784: „Dignus omnino est, a quo novam epocham scriptorum de re musica auspicemus, Guido Aretinus, qui sublata veterum notarum indigesta serie ac confusione, per lineas et claves, quas vocamus in scala musica discendi exequendique musicam disciplinam mirum in modum eamdem facilitavit.“ 29 Othmar Wessely: Einleitung zu Gerbert 1774, I, Graz 1968, S. XLVII*. 30 Exemplarisch hierzu das Erscheinen von Reiner Kirchraths Theatrum Musicae Choralis das ist Kurze und gründlich erklärte Verfassung der Aretinischer und Gregorianischer Singkunst, Köln 1782 (Faksimile-Ausgabe mit Kommentar von Karl Gustav Fellerer, Beiträge zur Rheinischen Musikgeschichte Heft 46, Köln 1961). 31 Franz Friedrich Siegmund August von Böcklin: Beiträge zur Geschichte der Musik, besonders in Deutschland, nebst freimütigen Anmerkungen über die Kunst, Freiburg 1790, S. 115, zitiert nach Elisabeth Hegar: Die Anfänge der neueren Musikgeschichtsschreibung um 1770 bei Gerbert, Burney und Hawkins, Straßburg etc. 1932 (= Sammlung musikwissenschaftlicher Abhandlungen, Karl Nef (Hg.), Bd. 7), S. 13, Anm. 15.
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Haydns Missa pro Quadragesima secundum cantum choralem von 1794 sichtbar wird.32 Der Rekurs auf Choral und frühere Kirchenmusik dient Gerbert also in erster Linie dazu, seine Forderung nach einer einfachen und angemessenen musica sacra in seiner Zeit durch historischen Vergleich zu untermauern. Der Gedanke, diese Musik auch von ihren aufführungspraktischen Voraussetzungen her zu verstehen oder gar zu rekonstruieren, ist ihm, wie den anderen Musikschriftstellern des späteren 18. Jahrhunderts mit ihrem dem Fortschrittsgedanken verpflichteten Geschichtsbild, fremd. Da die durch die Tradition herausgebildete Aufführungsform als selbstverständlich und angemessen erachtet wird, besteht keine Notwendigkeit, nach früheren Aufführungsmodi zu fragen. Der Akzent, den Gerbert trotz seiner guten Kenntnis praktischer Quellen vor allem mit seinen Scriptores auf die Theoretiker-Seite legt, wird die Vorstellung der mittelalterlichen Musikepoche als einer Zeit, in der vorwiegend Traktate über notationsgeschichtliche Fragen entstanden, lange und nachhaltig – besonders in der Forschungsgeschichte – beeinflussen.33 Bereits der Titel von John Hawkins General History of the Science and Practice of Music von 177634 zeigt seine Zielsetzung einer Musikgeschichte auf: Die ewige Gültigkeit der göttlichen Gesetze, denen Musik klingend Ausdruck gibt, soll über den Lauf musikgeschichtlicher Entwicklung hinweg aufgezeigt werden, was Hawkins Musikgeschichte nach eigener Einschätzung von ähnlichen Bemühungen seiner Vorgänger grundsätzlich unterscheidet.35 Da Musik nicht willkürlichen, subjektiven Regeln unterworfen sein kann, sondern dem Gesetz der Natur folgt, ist es möglich, eine Wissenschaft von der Musik zu entwerfen.36 Diese Idee einer „Science of music“ führt auf der einen Seite dazu, dass auch Hawkins die musikgeschichtliche Entwicklung mit einem ständig anwachsenden Fortschritt gleichsetzt. Wie die „Conclusion“ am Ende des zweiten Bandes ausführt, baut jede Generation auf dem Wissen der vorhergehenden auf, so dass gleichsam naturgesetzlich eine Verbesserung eintreten muss – wobei freilich Hawkins ganz im Einklang mit Gerbert auch den Topos der Dekadenz der zeitgenössischen Musik bedient.37 Auf der anderen Seite weckt die wissenschaftliche 32 Karl Gustav Fellerer: Der Palestrinastil und seine Bedeutung in der vokalen Kirchenmusik des achtzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenmusik in Italien und Deutschland, Augsburg 1929, S. 282–335, bes. S. 322–325, 334. 33 So ist noch August Wilhelm Ambros der Meinung: „Etwas Bleibendes konnte der Welt eigentlich nur der traktatenschreibende Musikgelehrte ... hinterlassen ... Wir besitzen aus dieser so langen Zeit eigentlich gar keine musikalischen Kunstdenkmale, weil in der That keine existirten …“; August Wilhelm Ambros: Geschichte der Musik, Bd. 2, dritte vermehrte und verbesserte Auflage von Heinrich Reimann, Leipzig 1891, S. 449. 34 Sir John Hawkins: A general history of the science and practice of music, London 1776/ A new edition with the author’s posthumous notes, 2 Bde., London 1875, Neudruck Graz 1969 (Ottmar Wessely (Hg.)). 35 Hawkins 1776/1875 I, S. XVIII/XIX. 36 Hegar 1932, S. 56/57. 37 Hawkins 1776/1875 II, S. 917–919.
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Haltung das Interesse an vergangenen Epochen und das Bedürfnis, diese möglichst aus ihrer Zeit heraus zu verstehen. Dies gelingt Hawkins punktuell, bleibt aber im Ganzen doch dem Fortschrittsgedanken untergeordnet. Da die Gesetzmäßigkeiten der Musik sich am Deutlichsten in den Schriften über Musik auch der vorhergehenden Jahrhunderte niederschlagen, schreibt Hawkins hauptsächlich eine Theoriegeschichte. Antikes Tonsystem, Guido von Arezzo, Entwicklung der Mensuralnotation sind Themen, die einen breiten Raum einnehmen, weil an ihnen die Verbesserung der musikalischen Wissenschaft ablesbar wird. Neumen spielen in diesem System die Rolle eines defizitären Notationsverfahrens, dem die notwendigen Voraussetzungen für die korrekte Wiedergabe von Musik, wie Tonhöhen und Rhythmus, fehlen.38 Wie sehr der Fortschrittsgedanke in Hawkins Denken verankert ist und wie wenig er schon deshalb den Wert von Neumen erkennen kann, zeigt die Kritik an Guido von Arezzo, der trotz aller Verdienste in seinem System nicht die Messung rhythmischer Werte vorsah, die doch zur Natur der Musik gehören.39 Seine geringe Vertrautheit mit älteren Notationsformen offenbart sich darin, dass er – im Gegensatz zu Gerbert, den er im Übrigen als Vorbild sehr schätzt – für die Notenbeispiele im Anhang des zweiten Bandes die Hilfe von Spezialisten in Anspruch nehmen musste.40 Bei der Besprechung einzelner Neumenformen greift er auf Martini und Johannes Ludolf Walther zurück, für die Wiedergabe der Chanson Je me cuidoie partir von Thibaut de Champagne bedient er sich Giovanni Mario de Crescimbenis Commentari intorno alla storia della volgar poesia von 1702. Die übergeordnete Fortschritts-Idee hindert Hawkins aber nicht daran, die einzelnen Entwicklungsstufen der Musikgeschichte näher zu untersuchen. Insgesamt fällt dabei sein Urteil über ältere Musik bemerkenswert positiv aus: Im Gregorianischen Choral erkennt er eine Musikform, die große Erfahrung und Fertigkeit im Vortrag erforderte und im Verlauf ihrer Entwicklung Veränderungen bis hin zur Verunstaltung durchmachte.41 Er sieht hierbei die Notwendigkeit und Möglichkeit, einen originaleren Zustand wiederherzustellen, wie es in Gabriel Guillaume Nivers Dissertation sur le chant gregorien von 1683 vorgezeichnet war, was aber eher einem historisch-wissenschaftlichen Interesse entspringt und keine konkreten Auswirkungen für die zeitgenössische Praxis erkennen lässt. Als wesentliche Ergänzung gegenüber Gerbert widmet sich Hawkins auch der weltlichen Musik des Mittelalters. Er bemüht sich, das kulturelle Umfeld der Troubadours und Spielleute durch Auswertung von literarischen und historischen Quellen zu erfassen, er beschreibt Instrumente und gibt Abbildungen. Auch hier
38 „The whole contrivance was inartificial, productive of error, and of very little worth“; Hawkins 1776/1875 I, S. 169. 39 „We nowhere in his writings meet with any thing that indicates a necessary diversity in the lenght or duration of the sounds ... to express that difference of times or measures which is founded in nature, and is obvious to sense“; Hawkins 1776/1875 I, S. 174. 40 Othmar Wessely: Einleitung zu Hawkins 1776 I, Graz 1969, S. XIII*. 41 Hawkins 1776/1875 I, XXVII, S. 136/137.
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findet er zu einer zumindest anerkennenden Beurteilung.42 Was die englische Musikgeschichte betrifft, kennt Hawkins das Winchester-Tropar Oxford Bodleian Library 775 (2558), das er ins 12. Jahrhundert datiert und von dem er eine Abschrift im Anhang gibt.43 Für den weltlichen Bereich bedauert er, dass keine Tanzmelodien oder volkssprachliche Gesänge vor 1400 erhalten seien. Als ältestes Beispiel gilt ihm hier Sumer is icumen in, das er für die Mitte des 15. Jahrhunderts ansetzt.44 Von besonderer Bedeutung ist Hawkins erstmaliger Hinweis auf Leonin und Perotin im Zusammenhang mit dem Traktat des Anonymus IV. Hawkins bedient sich hierbei einer Abschrift der durch Feuer beschädigten Handschrift London Brit. Museum Ms. Cotton Tiberius B. IX, die im Auftrag Christopher Pepuschs erstellt wurde.45 Hier waren Hawkins sicherlich seine Kontakte als Mitglied der „Academy of ancient music“ von Nutzen. Der Hinweis auf die Bedeutung des Schaffens der beiden Exponenten der Notre-Dame-Epoche dürfte hierbei ebenso einflussreich für die spätere mediävistische Forschung und Aufführungspraxis sein, wie Perotins Klassifikation als Organist.46 Auch Charles Burney legt seiner Darstellung der Musikgeschichte die Auffassung vom dauernden Fortschritt bis hin zur Gegenwart zu Grunde. Seine General History of Music47 zeigt demnach auf, wie sich die Musik von ihren ersten Anfängen in der Antike bis zu ihrem perfekten Zustand Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hat. Im Gegensatz zu Hawkins, den Burney für seine Kritik an der zeitgenössischen Musik mit Spott überzog, stellt die Musik der Gegenwart für ihn den absoluten Höhepunkt dar.48 Da bei ihm die Zweckbestimmung einer Kirchenmusikgeschichte wie bei Gerbert fehlt, dienen als Wertungskriterium für die „good music“ ästhetische Kategorien, die zum größten Teil vom „sense of hearing“49 mitbestimmt werden: „Melody, harmony, modulation“ und „expression“50 sind die Ingredienzien vollkommener Musik, und an ihnen wird Musik der Vergangenheit unterschiedslos gemessen. Innerhalb der verschiedenen Lebensalter musikgeschichtlicher Entwicklung kommt dem Choral wie überhaupt mittelalterlicher Musik die Kindheit zu. Burney 42 43 44 45 46 47 48 49 50
Ebda., S. 197/198. Ebda., S. 181; II, S. 948. Ebda., S. 201–204. Ebda., S. 230; vgl. Fritz Reckow: Der Musiktraktat des Anonymus 4, Teil I, Wiesbaden 1967, S. 7–16. Hawkins identifiziert Perotin mit einem englischen Organisten und Komponisten namens Robert Perrot, gestorben um 1550; Hawkins 1776/1875 I, S. 238. Charles Burney: A General History of Music from the earliest ages to 1789, London 1/1776, 3/1789, 4 Bde., Reprint Baden Baden 1958. Vgl. Artikel „Hawkins, John“, in: NG2 8, S. 324/325. Fast jedes Kapitel im dritten Band der General History ist mit „Of the Progress of Music …“ überschrieben. Burney 1789 I, S. 21. Burney 1789 III, S. 8. Vgl. Hegar 1932, S. 32–49.
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beschäftigt sich zwar mit der Geschichte des Chorals und erörtert z. B. Unterschiede zwischen Ambrosianischem und Gregorianischem Gesang, allerdings nur in dem Umfang, wie es dem interessierten Leser seines Werkes für ein generelles Wissen zu diesem Thema nützlich und zumutbar sein konnte. Im Ganzen steht sein Urteil fest: Die langweilige, aus lauter gleich langen Noten bestehende Vortragsweise des Chorals, die Burney aus seiner Zeit rückprojizierend auch für das Mittelalter annimmt, sowie die tonale Beschränkung deuten auf ein unterentwickeltes Stadium der Musikgeschichte.51 Die beiden einzelnen Beispiele für Neumenschrift, die Burney im zweiten Band einfügt, sind mehr als Kuriositäten zu verstehen, der Vollständigkeit halber für den Leser „curious in Gothic antiquities“ abgedruckt.52 Neumen sind unvollkommene und weitaus unverstandene Notationsformen, die keinen großen Wert besitzen. Obwohl er durch seine weitreichenden Kontakte Kenntnis von zahlreichen Quellen besitzt, interessieren ihn im Gegensatz zu Gerbert alte Handschriften und Notationen nicht besonders und er verweist in diesem Kontext auf Walthers Lexicon Diplomaticum und auf Gerberts Werk selbst.53 Von Hawkins zumindest inspiriert dürften seine ausführlichen Beschreibungen weltlicher Musik des Mittelalters sein. Seine Informationen über das Leben und Wirken der Troubadours und Trouvères, der Spielleute sowie über Instrumente und deren Verwendung bezieht er aus zeitgenössischen Berichten und literarischen Quellen wie Chaucer, Boccaccio und Dante.54 Zu einigen Dichterkomponisten gibt er diplomatische Umschriften und Übertragungen, so zu Gaucelm Faidits Fost chausa es, dessen Melodie ihm als die älteste innerhalb der provenzalischen Tradition gilt, zu Chastelain de Coucy und – wie Hawkins – zu Thibaut de Navarre.55 Er erwähnt Landini und Machaut, für dessen musikalisches Schaffen er zwar Quellen kennt, sich aber wegen notationstechnischer Schwierigkeiten keine Übertragung zutraut.56 Neben den gewissermaßen „archäologischen“ Umschriften, die durchweg auf eigener Autopsie der Quellen beruhen, bieten die Übertragungen eine Aufbereitung für den zeitgenössischen Leser und sollen darüber hinaus die Entwicklungslinien vom Unvollkommenen zum Vollkommenen deutlich machen: So erweisen sich die Trouvère-Chansons, erst einmal in moderne Notation mit Taktstrichen gebracht und mit einem begleitenden Bass versehen, als Vorläufer der airs tendres des 18. Jahrhunderts.57 51 52 53 54 55
Burney 1789 II, S. 423–425. Ebda., S. 436. Ebda., S. 438. Ebda., S. 559–666. Burney kritisiert hierbei heftig die von Hawkins verwendete Ausgabe von Crescimbeni und verweist damit implizit auf seine besseren Kenntnisse in Notationsfragen; Burney 1789 II, S. 610. 56 Ebda., S. 614–616. 57 „And, indeed, when they are written in modern characters, accompanied by a base, and the measure is regulated by bars, they remind us of many French airs of the present century ... the tune may serve as a specimen of the airs tendres of that period“; ebda., S. 609.
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Ebenso wie Hawkins ist es Burney nach eigenem Bekunden nicht gelungen, Melodien zu englischen Liedern oder Tänzen vor 1400 zu finden. Obwohl er eine Übertragung des „Sommerkanons“ aus Ms. Harley 978 des British Museums gibt, kennt er die zweistimmigen Stücke der Estampiegattung in derselben Handschrift offensichtlich nicht, ebensowenig den „Robertsbridge-Codex“ oder die Aufzeichnung in Oxford, Bodleian Library, Ms. Douce 139, f. 5v.58 Weniger erstaunlich ist seine Feststellung, zum weltlichen deutschen Lied vor der Reformationszeit keine Quellen gefunden zu haben. So ausführlich Burney sich auch mit weltlicher Musik beschäftigt, letztlich stellt sie – wie die gesamte Musik des Mittelalters – für ihn eine staunenswerte Kuriosität dar, deren weitestgehender Verlust nicht besonders schwer wiegt und als Schreckgespenst der „Gothic times“ glücklich überwunden ist.59 Für den Göttinger Musikforscher Johann Nicolaus Forkel schließlich besteht das Hauptanliegen seiner Allgemeinen Geschichte der Musik nicht in der Darstellung der geschichtlich aufeinander folgenden Epochen, Komponisten und Kompositionen an sich, sondern im Aufzeigen einer folgerichtigen Entwicklungslinie, die die Musikgeschichte von ihren einfachen Anfängen zur vollkommenen Entfaltung aller Kräfte in der Musik der Gegenwart führt. Hinter diesem Ansatz ist die allgemeine Geschichtskonzeption Göttinger Gelehrter des späteren 18. Jahrhunderts zu erkennen, der zufolge Geschichte nicht als Abfolge von Fakten, sondern als Entfaltung von Ideenkonzepten zu verstehen ist, die die Menschheit von einem naturhaft primitiven Zustand zu einem kulturell hoch stehenden Stadium der Perfektion geleiten. Dieser Höhepunkt wird durch einen Prozess ständigen Lernens und Verbesserns erreicht und entspricht damit dem Erwerb und dem Heranreifen geistiger und ethischer Kompetenz während der Entwicklung des Menschen vom Kind zum Erwachsenen.60 Damit steht außer Frage, dass die Menschheitsgeschichte als Ganzes als Fortschritt zu verstehen ist und das Maß, mit dem dieser Fortschritt gemessen wird, die Gegenwart bildet. Die älteren Epochen und Stadien der Geschichte sind in dieser Konzeption deshalb interessant, weil sie die fortschreitende Entwicklung illustrieren und verständlich machen.61 Wie Forkel im ersten Band seiner Musikgeschichte ausführt, möchte er also ein Gemälde entwerfen, „welches die stuffenweise Ausbildung der Musik vom ersten Anfang bis zu ihrer hoechsten Vervollkommnung in sich faßt, welches getreu den Weg zeichnet, den der Geist des Menschen bey der Entwicklung seiner Faehigkeiten ueberhaupt, insbesondere aber unserer Kunst nimmt“.62 Die Prämisse eines unveränderlichen Schönheits- und Vollkommenheitsbegriffs, zu dem hin 58 Burney 1789 II, S. 666. 59 „The loss of our musical compositions of this period may be supported without much affliction“; ebda.; vgl. Burney 1789 IV, S. 987. 60 George B. Stauffer: Artikel „Forkel, Johann Nicolaus“, in: NG2 9, S. 90. 61 Hierzu Wulf Arlt: „Natur und Geschichte der Musik in der Anschauung des 18. Jahrhunderts. J.-J. Rousseau und J. N. Forkel“, in: Melos 1976, S. 351–356. 62 Johann Nicolaus Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik, Erster Band, Leipzig 1788, Einleitung.
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sich die Musik von Anfang an zu entwickeln hat, bestimmt Forkels Urteil über die Musik vergangener Epochen. Wie das Inhaltsverzeichnis des zweiten Bandes ausweist, beschäftigt sich Forkel mit den Spielleuten des Mittelalters, den Troubadours, Minne- und Meistersängern sowie mit mittelalterlichen Instrumenten und auch die Vertreter der niederländischen Schule sind ihm weitestgehend bekannt.63 Von mittelalterlichen Quellen teilt er auch eigene diplomatische Abschriften mit.64 Da für ihn aber die Entwicklung der harmonischen Gesetze der zeitgenössischen Musik das Beurteilungskriterium bildet, kommt er zu dem Schluss, dass im Mittelalter nur „steife, saft- und kraftlose Melodien“ zu finden seien, alle „holpericht, unnatuerlich, und ohne Verschiedenheit des Charakters“. Das größte Defizit bestehe jedoch in der Harmonie „oder gleichzeitigen Fortschreitung mehrerer Toene, so wie man sie in dieser Zeit kannte und ausuebte“, die „die melodische Verbindung der Toene noch nicht geschmeidig machen“ konnte.65 Ähnlich wie Gerbert sieht Forkel auf dem Gebiet der zeitgenössischen Kirchenmusik jedoch einen rapiden Verfall der Qualität, über deren Ursachen und Möglichkeiten zur Verbesserung er im groß angelegten Einleitungsteil des zweiten Bandes reflektiert. Wie vielen kirchenmusikalischen Reformern jener Zeit scheint ihm der Hauptgrund für den diagnostizierten Niedergang in einer allgemeinen Verflachung des Geschmacks zu liegen, die alles „wahre Schoene, Ernsthafte, Feyerliche, Große und Erhabene“ verachtet und resigniert stellt er fest: „Der Geschmack der komischen Operette ist der Maßstab geworden, mit welchem man ganz allein den Werth eines Kunstwerks bestimmen will.“66 Exemplarisch stellt er dieser Dekadenz das Werk Johann Sebastian Bachs entgegen67, womit er die Stringenz seines fortschrittsgeschichtlichen Ansatzes durchbricht und auf die folgende Zeit vorausweist.
2.2 REZEPTION ÄLTERER MUSIK IM 19. JAHRHUNDERT IN DEUTSCHLAND Die entscheidende Veränderung, die mit Beginn des 19. Jahrhunderts in den musikgeschichtlichen Entwürfen eintritt, ist der Bruch mit der Fortschrittsidee. Die von Aufklärung und Rationalismus gespeiste Vorstellung, dass die Gegenwart einen idealen Hochpunkt der künstlerischen und allgemein der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung darstelle, weicht tiefen Zweifeln an der herausragenden Stellung der eigenen Zeit. Eine pessimistische Grundhaltung macht sich breit, die den entwicklungsgeschichtlichen Höhepunkt bereits überschritten sieht und in eine ideale Vergangenheit versetzt. Damit ergibt sich ein dreistufiges Geschichts63 Johann Nicolaus Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik, Zweiter Band, Leipzig 1801, S. XVII/XVIII. 64 Ebda., S. 733. 65 Ebda., S. 379. 66 Ebda., S. 50. 67 Ebda., S. 64.
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konzept, das die Gegenwart als dekadente Phase begreift, jedoch an eine wieder zu erweckende Vergangenheit als Heilmittel zur Verbesserung der Situation glaubt. Diese Rückbesinnung auf die positiven Werte einer vergangenen Zeit stellt sich als gesamteuropäisches Phänomen der Zeit um 1800 dar und greift über den speziellen musikgeschichtlichen Kontext und den des Kunstschaffens im Allgemeinen weit hinaus bis in das gesellschaftliche und politische Gefüge. In Deutschland kommt jedoch als besonders charakterisierendes Moment die literarische Romantik hinzu, die das Phänomen des Historismus und der Restauration gleichermaßen vorbereitet wie verstärkt. Das Zusammenspiel dieser Kräfte ist äußerst vielfältig und von gegenseitigen Bedingtheiten gekennzeichnet, die von der Forschung ausführlich dargestellt wurden.68 Die Restaurationsbewegung ist demzufolge als Reaktion auf die vorangegangenen Erschütterungen politischen und kirchlichen Lebens durch Aufklärung, Rationalismus, die Revolution von 1789, die napoleonischen Kriege und die nachfolgende Säkularisierung zu verstehen. Die Verbindung zum politischen Bereich zeigt sich schon darin, dass der Begriff der „Restauration“ zunächst im Kontext des Wiener Kongresses als Neuordnung der territorialen Verhältnisse in Mitteleuropa zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftaucht.69 Hierbei wird „Restauration“ in positiver Konnotation als „Wiederherstellung“ bzw. „Wiederbelebung“ eines vergangenen Zustandes verstanden, der einer aus den Fugen geratenen Gegenwart neuen Halt und Orientierung verleihen soll. Auf dem Gebiet der Geistesgeschichte erscheint zum ersten Mal das Mittelalter in mythischer Verklärung als jene ordnende und heilende Größe, an der die eigene Zeit genesen soll. Neu ist nicht diese antithetische Haltung des 19. Jahrhunderts dem Mittelalter gegenüber; die Humanisten sahen das Mittelalter ebenfalls als – allerdings negativ – abzugrenzende Epoche. Neu ist die positive Bewertung des Mittelalters, weil es vermeintlich das in idealer Weise einlöst, nach dem sich die romantische Bewegung sehnt. Das Mittelalter tritt daher als „antirationales, antiabsolutistisches und antirevolutionäres Reflexbild in das europäische Geschichtsbewusstsein“ ein.70 Im musikgeschichtlichen Denken bedeutet die Rückbesinnung auf das Mittelalter und auf ältere Musik im allgemeinen einen Bruch mit der Tradition. Die altüberlieferte Vorstellung vom Aufgehen älterer Musik in der nachfolgend neueren mit parallel einhergehender ständiger qualitativer Verbesserung verhinderte ein 68 Vgl. z. B. Walter Wiora: „Restauration und Historismus“, in: Karl Gustav Fellerer (Hg.): Geschichte der katholischen Kirchenmusik, Bd. II: Vom Tridentinum bis zur Gegenwart, Kassel etc. 1976, S. 219ff. und Karl Gustav Fellerer: „Zur Choralbewegung im 19. Jahrhundert“, in: KmJb 41 (1957), S. 136–146. 69 Walter Blankenburg: „Entstehung, Wesen und Ausprägung der Restauration im 19. Jahrhundert“, in: Traditionen und Reformen in der Kirchenmusik, Festschrift Konrad Ameln zum 75. Geburtstag, Gerhard Schuhmacher (Hg.), Kassel etc. 1974, S. 25. 70 Rudolf Stadelmann: „Grundformen der Mittelalterauffassung von Herder bis Ranke“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte IX (1931), S. 51.
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eigenständiges Interesse an Epochen der Vergangenheit. Der durch die Jahrhunderte führende starke Strom aufeinander aufbauender Traditionen ebnete auch die individuelle Physiognomie der Zeitalter ein. Erst die Zäsur des 19. Jahrhunderts lässt den Menschen aus dem historischen Kontinuum aus- und ihm vergangene Epochen als eigenständig vorstellbare Größen gegenübertreten. Friedrich Meinecke erkennt als Kern des Historismus die „Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung.“71 Wenn auch bereits im 18. Jahrhundert vereinzelt Beispiele besonders auf dem Gebiet der Architektur für die Anerkennung des Eigenwerts vergangener Zeiten zu finden sind72, so bildet sich doch erst im 19. Jahrhundert diese Neuorientierung paradigmatisch heraus. Vor allem in der Konstituierung der modernen Geschichtswissenschaft zeigt sich dies und kristallisiert in den berühmten Worten Leopold von Rankes, dass „jede Epoche unmittelbar zu Gott sei“ und der Historiker nur zu sagen habe, „wie es eigentlich gewesen sei“.73 Ganz in diesem Sinne benennt bereits 1821 Wilhelm von Humboldt als eine der Hauptaufgaben des Historikers „die genaue, partheilose, kritische Ergründung des Geschehenen“.74 Obwohl die Musikgeschichtsschreibung den historischen und philologischen Disziplinen in der Umsetzung dieses grundlegend neuen Ansatzes lange hinterherhinkt, bekennt sich aber beispielsweise der Mozartbiograph Otto Jahn in seinen Schriften bereits zu ihm.75 Und Raphael Georg Kiesewetter setzt mit seinen Wiener Historischen Hauskonzerten die aktive praktischen Auseinandersetzung mit älterer Musik in Gang76, bleibt aber als Musikhistoriker noch dem überkommenen aufklärerischen Gedankengut verhaftet, wie der Titel seiner Geschichte der europäisch-abendländischen oder unsrer heutigen Musik. Darstellung ihres Ursprungs, ihres Wachsthumes und ihrer stufenweisen Entwicklung von dem ersten Jahrhundert des Christentums bis auf unsre Zeit von 1834 verrät. Zunächst wird die Rückbesinnung auf die Vergangenheit jedoch im Wesentlichen von den Wortführern der deutschen Romantik genährt. Programmatisch 71 Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, München 1936, 19462, S. 2. 72 Ebda., S. 262. 73 Leopold Ranke: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Band I, Leipzig/Berlin 1824, S. VI. Zum Geschichtsverständnis von Rankes vgl. Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988. 74 Wilhelm von Humboldt: „Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers, Vorlesung vom 12. April 1821“, in: Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, Bd. I (hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel), Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 19803, S. 587. 75 Gerrit Walther: „Mozart und Methode. Otto Jahns Beitrag zur Begründung der modernen Musikgeschichtsschreibung“, in: Anselm Gerhard (Hg.): Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglaube und Modernitätsverweigerung, Stuttgart etc. 2000, S. 31–54. 76 Hierzu Herfrid Kier: Raphael Georg Kiesewetter (1733–1850). Wegbereiter des musikalischen Historismus (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 13), Regensburg 1968 und Hartmut Krones: „Kiesewetter und die Folgen. Zur Frühzeit der historischen Aufführungspraxis in Wien“, in: Barbara Boisits, Ingeborg Harer (Hgg.): Alte Musik in Österreich. Forschung und Praxis seit 1800, Bd. VII, Wien 2009, S. 9-32.
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sehnt sich Novalis nach den „schöne[n] glänzende[n] Zeiten“ eines im Zeichen des Christentums geeinten mittelalterlichen Europa zurück, preist die „schönen Versammlungen in den geheimnißvollen Kirchen“, die von „heiliger erhebender Musik belebt waren“ und erwartet die heilende Wiederkehr der „heilige[n] Zeit des ewigen Friedens“.77 Das Gefühl des Vertrauensverlustes in die eigene Zeit lässt die Romantiker das Mittelalter entdecken, als eine Zeit, die ihren Sinn für das Verborgene, Symbolische und Mythische befriedigt. Auf musikalischem Gebiet lassen die in die Vergangenheit projizierten Erwartungshaltungen das Bild einer idealen Kirchenmusik entstehen, deren Charakteristika von den romantischen Schriftstellern vorwiegend aus der Negation der kritisierten Eigenschaften der zeitgenössischen Kirchenmusik gewonnen werden. Die übereinstimmenden Lamenti über die Verweltlichung und das opernhafttheatralische Gebaren der Musik in den Kirchen führen zu der Forderung, dass der Kirchenmusik wieder der ursprüngliche Geist des Numinosen, Verbindenden und Ordnenden zurückgegeben werden müsse. Da sich diese Vorstellungen mit dem Grundanliegen der romantisch-historistischen Bewegung treffen, ist es verständlich, dass sich die musikalische Diskussion zunächst auf dem Gebiet der Kirchenmusik abspielt. Herder definiert in seinem Aufsatz Cäcilia, dass „Kirchenmusik auf keine Weise dramatisch seyn könne“ und betont ihre Überindividualität, wenn er von ihren „reine[n], unsichtbare[n] Stimmen“ spricht und festhält, dass es sich bei ihr um „Gottes Stimme und nicht [die] der Menschen“ handle. Die Wiederkunft Cäcilias wird diese wahrhafte Kirchenmusik wieder in ihre Rechte einsetzen.78 Wilhelm Heinrich Wackenroder weiß über „jene alte, choralmäßige Kirchenmusik“ zu berichten, dass sie als Ausdruck ihrer Würde und hohen Gesinnung nur sehr langsame Tempi gebrauche und bedächtig von einem Akkord zum anderen fortschreite.79 E. T. A. Hoffmann schließlich vervollständigt das Bild, indem er bekennt, dass „am reinsten, heiligsten, kirchlichsten“ jene Musik sei, die alles Weltliche verachte, aus einer „Folge konsonierender, vollkommener Dreiklänge“ bestehe und „in frommer Einfalt wahrhaftig“ sei.80 Hoffmann entfaltet auch in aller Klarheit das typische 3-Stufen-Modell der romantischen Restaurationsbewegung: Nach den gewaltigen Umwälzungen der jüngsten Vergangenheit, die als negativer Hochpunkt eines allgemeinen Verfalls auf allen Gebieten menschlichen Lebens besonders aber in der Kunst zu deuten sind, erscheint jetzt wie ein hoffnungsvol77 Novalis: Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment [1799], in: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2, Das philosophisch-theoretische Werk, (hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel), Darmstadt 1978, S. 732 ,733, 750. 78 Johann Gottfried Herder: Cäcilia, in: Zerstreute Blätter, Gotha 1793, in: Herders Sämtliche Werke, Bernhard Suphan (Hg.), Bd. 16, Berlin 1887, S. 265, 267. 79 Wilhelm Heinrich Wackenroder: Von den verschiedenen Gattungen in jeder Kunst, und insbesondere von verschiedenen Arten der Kirchenmusik, in: Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst, hg. v. Ludwig Tieck, Hamburg 1799, zitiert nach Wackenroder: Musikalische Schriften, Vorwort von Richard Benz, Bielefeld 1948, S. 57. 80 E.T.A. Hoffmann: Alte und neue Kirchenmusik [Juli 1814], in: E.T.A. Hoffmann: Schriften zur Musik. Nachlese, Friedrich Schnapp (Hg.), München 1963, S. 215, 217.
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ler Lichtstreif am Horizont die Wiedererweckung jener alten, vollkommenen Tonkunst. Sie wird personifiziert mit Palestrina, der „unstreitig die herrlichste Periode der Kirchenmusik (und also der Musik überhaupt)“ einleitete. Seine Musik ist alles, was die gegenwärtige nicht ist, nämlich „einfach, wahrhaft, kindlich, fromm, stark und mächtig“. Diese hohe Kunst ist zwar im „tobenden Geräusch des ausgelassenen, wilden Treibens“ der Gegenwart kaum mehr zu vernehmen, aber die neue Besinnung auf sie wird heilsam wirken.81 Palestrina wird zum Inbegriff wahrer, idealer Kirchenmusik stilisiert; bereits Herder rechnet ihn zu den „unerreichbaren Mustern“82 für jeden Komponisten und Wilhelm Heinse nennt ihn den „Patriarchen der Kirchenmusik“.83 Dass gerade Palestrina zum vorbildhaften Vertreter älterer Kirchenmusik wurde, liegt darin begründet, dass die Rezeption seiner Musik im Gegensatz zu der seiner Zeitgenossen seit dem 17. Jahrhundert kontinuierlich fortdauerte.84 Die ideale Ausgewogenheit zwischen objektivem satztechnischem Regelwerk und subjektiver Ausgestaltung des vorgegebenen Rahmens führte dazu, dass sich die Musik Palestrinas hervorragend als Lehrbeispiel zur Vermittlung von Satztechnik eignete. Im Gradus ad Parnassum von Fux wird der Palestrinasatz endgültig zum mustergültigen Vertreter des stile antico kodifiziert und bleibt als unverzichtbare Grundlage der kompositorischen Ausbildung in der weiteren musikalischen Entwicklung wirksam. Die im 19. Jahrhundert einsetzende Palestrina-Renaissance baut also auf der Palestrina-Renaissance des 17. Jahrhunderts auf, verstärkt durch Guiseppe Bainis biographische Würdigung in seinen Memorie storico-critiche (1828) und die frühen Palestrina-Ausgaben von Baini und Pietro Alfieri. Da die schwärmerische Sehnsucht der Romantiker nach einer idealen Kirchenmusik sich in einer nicht näher definierten, diffusen Vergangenheit verlor, in der sich Mittelalter und 16. Jahrhundert vermischten85, war Palestrina einfach der älteste bekannte Musiker, der aus jener fernen Zeit greifbar schien. Dabei ging die Palestrina-Renaissance in Deutschland zunächst vom evangelisch geprägten Nor-
81 Ebda., S. 214, 216, 235. Vgl. auch Martin Geck: „E.T.A. Hoffmanns Anschauungen über Kirchenmusik“, in: Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhundert, Walter Salmen (Hg.) (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 1), Regensburg 1965, S. 61–71. 82 Herder 1887, S. 260. 83 Wilhelm Heinse: Hildegard von Hohenthal, Erster Theil, Berlin 1838, S. 70. Vgl. auch Hans Müller: „Wilhelm Heinse als Musikschriftsteller“, in: VjMw 3 (1887), S. 561–605, bes. S. 583ff. 84 Zum Folgenden vgl. Otto Ursprung: „Palestrina und Palestrina-Renaissance“, in: ZMw 7 (1925), S. 513–529. Zur Editionsgeschichte von Palestrinas Werken seit dem 18. Jahrhundert s. Martina Janitzek: Studien zur Editionsgeschichte der Palestrina-Werke vom späten 18. Jahrhundert bis um 1900 (= Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft Bd. 29), Tutzing 2001. 85 Friedrich Rochlitz spricht in Hinblick auf die Kunst des 16. Jahrhunderts im Allgemeinen vom „glänzende[n ] Hervorheben des Mittelalters, mit dem Großen und Herrlichen, was es gebracht“, in: Fuer Freunde der Tonkunst, Dritter Band, Leipzig 1830, S. 351.
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den aus und machte sich an einer musikästhetischen Diskussion fest.86 Die (Wieder)-Verankerung im liturgischen Vollzug stand also am Anfang gar nicht im Mittelpunkt der Bestrebungen.87 So kritisiert Johann Friedrich Reichardt in seinem Musikalischen Kunstmagazin, dass die neuere Kirchenmusik stilistisch nur noch von der Opera buffa geprägt sei und ihr die Würde und Kraft der „wahrhafteste[n] Kirchenmusik“ eines Palestrinas fehle.88 Das was die Musik Palestrinas und damit sein dem Kunstmagazin beigelegtes Gloria Patri auszeichne, sei die große Zahl konsonierender, vollkommener Akkorde, die in wohltuendem Gegensatz zur Überreiztheit des mit Dissonanzen angereicherten Satzes der neueren Kirchenmusik stehe.89 Die Berliner Singakademie beschäftigte sich unter Fasch und Zelter bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Kompositionen Palestrinas und in den 20er und 30er Jahren erfolgte eine ganze Reihe von Editionen einzelner seiner Werke, die wiederum Carl von Winterfeld zu seinen grundlegenden Forschungen anregten.90 Der Heidelberger Singkreis des evangelischen Juristen Thibaut schließlich, der wesentlich zur weiten Verbreitung der Musik Palestrinas und anderer Meister des 16. Jahrhunderts beitrug, hatte ebenfalls primär nicht das Ziel einer liturgischen Verwendung älterer Musik. Erklärte Absicht war es, in einem privaten, geschlossenen Zirkel Widerstand zu leisten gegen den zunehmenden Verfall der zeitgenössischen Kirchenmusik. In seiner programmatischen Schrift Ueber Reinheit der Tonkunst bekennt sich Thibaut zunächst zum Fortschritts-Pessimismus, um dann die durch „opernartige Rasereyen“ verdorbene kirchenmusikalische Praxis zu geißeln und eine völlige Trennung des Kirchenstils von Theater und Konzertsaal zu fordern, wie es exemplarisch in der Musik Palestrinas geschehen sei.91 86 Zusammenfassende Darstellungen bei Winfried Kirsch (Hg.): Palestrina und die Kirchenmusik im 19. Jahrhundert, 3 Bde., Bd. 1: Palestrina und die Idee der Klassischen Vokalpolyphonie im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte eines kirchenmusikalischen Stilideals, Regensburg 1989, Bd. 2: Das Palestrina-Bild und die Idee der „Wahren Kirchenmusik“ im Schrifttum von ca. 1750 bis um 1900, Kassel 1999, Bd. 3: Palestrina und die Klassische Vokalpolyphonie als Vorbild kirchenmusikalischer Kompositionen im 19. Jahrhundert, Kassel 1995 und James Garratt: Palestrina and the German Romantic Imagination. Interpreting Historicism in Nineteenth–Century Music, Cambridge 2002. 87 Hierzu Philipp Spitta: „Palestrina im sechzehnten und neunzehnten Jahrhundert“, in: Deutsche Rundschau LXXIX (April 1894), S. 89ff. 88 Johann Friedrich Reichardt: Musikalisches Kunstmagazin, Zweiter Band, Berlin 1791, Reprint Hildesheim 1969, S. 18, 56. 89 „Bey uns ist fast jeder consonirende Accord nur die Aufloesung des auch schon vorher vorbereiteten dißonirenden Accords, und so genießen wir fast immer nur die angenehme Befriedigung der behutsam gespannten Erwartung also im eigentlichsten Verstande nur Vergnügen“; ebda., S. 55. 90 Spitta 1894, S. 88, 89; Carl von Winterfeld: Johannes Pierluigi von Palestrina, seine Werke und deren Bedeutung für die Geschichte der Tonkunst, Breslau 1832. 91 „Der Unwissenheit wegen werden denn auch die großen alten Sachen von vielen Schwaetzern als altes Zeug verworfen, und sie koennen nicht muede werden, dem Fortschreiten mit dem Geist der Zeit das Wort zu reden, grade als ob dieß sogenannte Fortschreiten nicht auch ein Fortschreiten zum Schlechten seyn koennte“; Anton Friedrich Justus Thibaut: Ueber Reinheit der Tonkunst, Heidelberg 1825, S. 13, 16, 19, 22.
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Das Bewusstsein für Palestrina wurde also ganz entschieden durch den musikästhetischen Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts und die literarische Romantik, durch die „Träume der Dichter“92 geweckt. Hinzu trat die musikgeschichtliche Forschung, die seit den beiden 1829 preisgekrönten Arbeiten von Kiesewetter und Fétis zur Schule der Niederländer ein zunehmendes Interesse für die Musik des 16. Jahrhunderts im Allgemeinen hervorrief.93 Die Palestrina-Rezeption im katholischen Bereich setzt etwas später ein und hat von Anfang an einen dezidiert liturgieorientierten Ansatz. Vorbereitend wirkte der Münchner Kreis um Johann Michael Sailer, Caspar Ett und Johann Kaspar Aiblinger, der Werke vorwiegend des 16. Jahrhundert für eine kirchenmusikalische Reform erschließen wollte.94 Im Hintergrund dieser Bestrebungen steht eine umfassende Neuinterpretation des Verhältnisses von der Kunst im Dienste von Religion und Kirche. Nach der Dekadenz der vergangenen Zeiten, in denen sich die Kunst und vor allem die Musik von den eigentlichen Aufgaben einer kirchlichen Verkündigung weit entfernt hat, soll jetzt in einem durchaus schwärmerischenthusiastischen Aufbruch ein neuer Zusammenschluss von Kunst und Religion erfolgen, wie es programmatisch in Johann Sailers Rede „Von dem Bunde der Religion mit der Kunst“ von 1808 anklingt. In diesem Sinne spricht auch August Wilhelm von Schlegel in seinem Gedicht „Der Bund der Kirche mit den Künsten“ davon, dass nun am Beginn eines neues Zeitalters die Musen des Altertums in christlicher Umformung neu mit dem Gotteslob beauftragt werden und die Tonkunst als Anführerin Cäcilia persönlich erhält, um die Kirchen mit würdiger Musik zu erfüllen.95 Zu beachten und für die weitere Entwicklung wirksam ist hierbei, dass die Künste durchaus als Diener der Kirche verstanden werden und sich ihr unterzuordnen haben. Aus diesen Vorgaben erhellt, dass die hieraus erwachsende Bewegung des Caecilianismus sich zum einen als betont liturgische Bewegung versteht, zum anderen den Hang zum Reglement und zur Dogmatisierung mit einschließt. Beide Charakteristika wurzeln in der Überzeugung der Reformkreise, dass die Kirchenmusik unauflösbar mit der Liturgie verbunden sei und ihr zu entsprechen habe.96
92 Spitta 1894, S. 93. 93 Hierzu Richard Hohenemser: Welche Einflüsse hatte die Wiederbelebung der älteren Musik im 19. Jahrhundert auf die deutschen Komponisten?, Diss. München 1899, Leipzig 1900, S. 17. 94 Hierzu Otto Ursprung: Die Katholische Kirchenmusik, Potsdam 1931, S. 264ff. und Johannes Schwermer: „Der Cäcilianismus“, in: Fellerer 1976, S. 226–229. 95 „Der Himmel wird dir eine Heil’ge leihn/Zur Führerin von deinen vollen Chören:/Es wird der Lieder vielverschlungnen Reihn/Durch neue Kunst Caecilia hold beschwören“; August Wilhelm Schlegel: „Der Bund der Kirche mit den Künsten“, in: Ders.: Gedichte, Tübingen 1800, S. 152. Vgl. auch Sigmund Josef Zimmern: „Das Verhältnis der Musik zu den anderen schönen Künsten in der Kirche“, in: KmJb 7 (1892), S. 58–65. 96 Philipp Harnoncourt: „Der Liturgiebegriff bei den Frühcaecilianern und seine Anwendung auf die Kirchenmusik“, in: Hubert Unverricht (Hg.): Der Caecilianismus. Anfänge – Grundlagen – Wirkungen. Internationales Symposion zur Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts, Tutzing 1988, S. 75–108.
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Mit der Berufung Sailers nach Regensburg entsteht hier das eigentliche Zentrum zur Umsetzung der Reformideen in Deutschland. Sailers Leibarzt Carl Proske veröffentlicht seine umfangreiche Sammeltätigkeit älterer Kirchenmusik in seiner Musica Divina (1853-1863), Franz Xaver Witt gründet 1868 mit dem Allgemeinen Caecilienverein eine Institution, die zum weitreichenden und folgenreichen Sprachrohr der Reformkonzepte werden sollte und Franz Xaver Haberl setzt mit der Palestrina-Gesamtausgabe dem idealen Vertreter alter Kirchenmusik ein Denkmal. Alle diese Unternehmungen, wie auch schließlich die Gründung der Kirchenmusikschule 1874 in Regensburg, sind von den Ideen Sailers und seiner Mitarbeiter angeregt und getragen. Da dieses Reformkonzept auf der untrennbaren Verbindung von Kirchenmusik und Liturgie fußt, muss in ihr unweigerlich der beinahe als naturgegeben zu bezeichnende uralte Konflikt zwischen künstlerischer Autonomie kirchlicher Musik und ihrer von der Kirche geforderten dienenden Rolle aufbrechen. Diese Reibepunkte, die sich wie ein roter Faden durch die Musikgeschichte ziehen, erfahren um 1600 eine neue Brisanz insofern, als mit dem neu entstehenden stile nuovo gegenüber dem stile antico erstmals eine stilistische Zweigleisigkeit entsteht.97 Mit der Gleichsetzung des stile antico mit dem Kirchenstil wird der historische Konflikt musikalisch in der Gleichzeitigkeit hör- und erfahrbar. Im 17. und 18. Jahrhundert kommt dieses Konfliktpotenzial nicht zum Ausbruch, da zum einen der stile antico als kompositorisch-handwerkliche Grundlage für den stile nouvo verstanden wird, zum anderen die Gegenwart als selbstverständliche und folgerichtige Entwicklung aus der musikgeschichtlichen Vergangenheit heraus gilt. Erst mit dem Vertrauensverlust in diese Folgerichtigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann die seit dem 17. Jahrhundert angelegte Polarität gegeneinander ausgespielt werden durch die „Sanktionierung des stile antico und die gleichzeitige Ächtung des stile nuovo“.98 Die dogmatische Haltung der reformerischen Kreise verrät sich bereits in den zahlreichen Schriften, die über „wahre Kirchenmusik“ handeln.99 Ihnen ist gemeinsam, dass sie vorzuschreiben versuchen, wie Kirchenmusik zu sein habe und dazu übereinstimmend ihre Abgrenzung von der zeitgenössischen musikalischen Entwicklung fordern.100 In dieser radikalen Abschottung, die letztlich zu musealer Erstarrung führen musste, offenbart sich die Angst vor der Unberechenbarkeit des Neuen. Der ex97 Hierzu August Gerstmeier: „Das Geschichtsbewusstsein in den musiktheoretischen Schriften des frühen 19. Jahrhunderts als Wurzel des Caecilianismus“, in: Unverricht (Hg.) 1988, S. 17–33. 98 Ebda., S. 32. 99 Vgl. z. B. Raymund Schlecht: Geschichte der Kirchenmusik. Zugleich Grundlage zur vorurtheilslosen Beantwortung der Frage: „Was ist echte Kirchenmusik“, Regensburg 1871. 100 Carl Emil von Schafhäutl wettert in seiner Schrift Der aechte Gregorianische Choral in seiner Entwicklung bis zur Kirchenmusik unserer Zeit. Ein Versuch zur Vermittlung in der Streitfrage: Welche ist die wahre katholische Kirchenmusik, München 1869, S. 162 gegen Wagner gewandt: „Von diesem Aufflammen [i.e. für die heilige Kirche und ihre Interessen] kann gegenwärtig gar nicht einmal die Rede sein, wo Richard Wagner, ohne zu riskieren, in’s Irrenhaus gesperrt zu werden, offen aussprechen darf: seine liederliche Zukunftsmusik müsse alle Religion verdrängen und werde dieselbe reichlich ersetzen, ja das Heil der Menschheit werde einstens aus seiner Zukunftsmusik erblühen“.
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treme subjektive Ausdruckswille der romantischen Musiksprache war den caecilianischen Kreisen zutiefst suspekt, weil er sich nicht mit einer Kirchenmusik in Einklang bringen ließ, in der sich Gott und nicht der Mensch ausdrücken sollte. Von hier aus erklärt sich auch, warum selbst die Messen Haydns und Mozarts Ablehnung erfuhren: Die instrumentale Faktur dieser Werke, ihre tiefe Prägung durch Sprachrhythmus und Deklamation bringen sie in viel zu großem Maße in die Nähe des Kraftfeldes menschlicher Subjektivität. Demgegenüber erscheint die Polyphonie des 16. Jahrhunderts mit ihrer vermeintlichen Affektlosigkeit und Ruhe als überirdisch entrückt und damit einer von überzeitlichen Gesetzen durchwalteten Schöpfung adäquat.101 Für August Wilhelm von Schlegel drückt der „feyerliche Kirchengesang dieß Streben nach dem Unsinnlichen in einer geistlichen Vereinigung aus“ und in seinen „ernsten gleichförmigen Successionen … liegt in jedem Moment eine Ahndung der harmonischen Vollendung“.102 In solchen Überlegungen bricht sich die mittelalterliche Vorstellung von der Sphärenharmonie erneut Bahn, was wiederum Zeugnis ablegt für den hohen Stellenwert des Mittelalters und seiner mystischen Seiten unter den Reformern und Romantikern. Nicht zu vernachlässigen ist hierbei auch der Einfluss, den die Neubewertung des Mittelalters in der Theologie jener Zeit ausübte. Vor allem Vertreter der Tübinger Schule, wie Johann Sebastian Drey und Johann Adam Möhler, wenden sich gegen die bisherige Verurteilung des Mittelalters und entwickeln einen neuen Traditionsbegriff, der die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Vergangenheit und Gegenwart auch für die Theologie betont. So erscheint die Scholastik nun ganz unter dem Eindruck romantischer Verklärung als erste Hochblüte des Christentums.103
101 Vgl. Gerstmeier 1988, S. 22, 23. 102 August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik I [1798–1803]: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Berlin [1801–1804], Erster Teil. Die Kunstlehre [1801–1802], Ernst Behler (Hg.), Paderborn etc. 1989, S. 381. Schlegel äußert sich zunächst über die beiden grundlegenden Musikauffassungen: „Die erste: die Musik könne und solle nichts als Empfindungen … darstellen; die zweyte: das Wohlgefallen an der Musik beruhe auf den harmonischen Verhältnissen der Töne“ und gibt dann letzterer den Vorrang, was er damit begründet, dass die Musik nicht wirklich das Böse ausdrücken könne, da sie immer nach Harmonie strebe: „Der absolute Zwist, die bloße Widerwärtigkeit muß von ihr ausgeschlossen bleiben. Freylich sehen wir, dass bey wilden Nationen sich auch die wahre und äußerst heftige Trauer in Gesang äußert. Aber dann ist doch schon die größte Gewalt des Schmerzes gebrochen … So darf in der künstlichen Composition selbst die Verzweiflung nicht mit vollständiger Dissonanz endigen, sondern muß gewissermaßen harmonisch gelöst werden. Das Verworfne und Schlechte kann die Musik gar nicht ausdrücken, wenn sie auch wollte; … so muß man der Musik den Vorzug zugestehen, ihrem ganzen Wesen nach idealisch zu seyn“; ebda., S. 366, 374/375. 103 D. Joseph Rupert Geiselmann (Hg.): Geist des Christentums und des Katholizismus. Ausgewählte Schriften katholischer Theologie im Zeitalter des Deutschen Idealismus und der Romantik (= Deutsche Klassiker der katholischen Theologie aus neuerer Zeit, Heinrich Getzeny (Hg.), Bd. V), Mainz 1940, S. XIV/XV; Johann Sebastian Drey: Revision des gegenwärtigen Zustandes der Theologie, ebda., S. 87; Johann Adam Möhler: Lebendige Tradition. Die innere und äußere Tradition, ebda., S. 402.
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Trotz dieser Wertschätzung des Mittelalters steht die repräsentativste Gattung mittelalterlicher liturgischer Musik, der Gregorianische Choral, nicht im Zentrum der musikalischen Reformbemühungen der Caecilianer. Der Grund hierfür ist vor allem in dem folgenreichen Irrtum zu suchen, Palestrina sei auch der Urheber des in der Medicea tradierten Reformchorals. Die stark beschnittenen Melodieversionen dieser Ausgabe stellten somit kein Problem für die Münchner und Regensburger Reformkreise dar. Bereits Caspar Ett veröffentlichte in seinen Cantica Sacra von 1827 eine gekürzte und bearbeitete Choralausgabe, deren spätere Auflagen von Franz Xaver Witt besorgt wurden.104 Franz Xaver Haberl betrieb die Sanktionierung der Medicea, die er mit dem 30jährigen Privileg für die NeoMedicea des Hauses Pustet 1870 auch erreichte.105 Obwohl in Deutschland Forscher wie Schafhäutl, Schlecht, Schubiger und Ildefons von Arx Einwände gegen die Neo-Medicea erhoben, blieb Haberl bei seiner einmal bezogenen Position.106 Deren wissenschaftliche Unhaltbarkeit wurde letztlich in einem langen Ringen durch die Forschungen der Benediktiner von Solesmes offengelegt.107 Die vermeintliche Autorität Palestrinas ließ die Caecilianer zu dem Glauben kommen, die Gestalt des Chorals seit ca. 1600 sei die vorbildliche und anzustrebende.108 Damit schnitten sie sich selbst von Überlegungen über die Urgestalt des Chorals ab, die in Frankreich umso entschiedener und mit weitreichenden Folgen angestellt wurden.
2.3 REZEPTION ÄLTERER MUSIK IM 19. JAHRHUNDERT IN FRANKREICH Wie in Deutschland so ist die Restaurationsbewegung auch in Frankreich als Reaktion auf Aufklärung, Rationalismus und vor allem auf die Französische Revolution zu verstehen, die alles kirchliche Leben praktisch zum Erliegen brachte. Auch die Kritik an der zeitgenössischen Kirchenmusik macht sich am Vorwurf eines mangelnden spezifischen Kirchenstils fest. Zu enge Orientierung an der Musik vor allem der Opéra comique und Verweltlichung werden immer wieder als zu bemängelnde Punkte vorgebracht. Einen speziellen Akzent erhält die Reformbewegung in Frankreich allerdings von Anfang an dadurch, dass gegenüber Deutschland die Überlieferungsform des Gregorianischen Chorals und speziell seine Begleitung in den Mittelpunkt kritischer Überlegungen gerät, sowie Forderungen nach einer genuin französischen 104 Hubert Unverricht: „Die Choralreformbemühungen unter den Caecilianern“, in: Unverricht (Hg.) 1988, S. 109–123. 105 Jean Pierre Schmit: „Die Choralbewegung im 19. Jahrhundert“, in: Fellerer 1976, S. 258. 106 Ursprung 1931, S. 269. 107 Lucas Kunz: „Die Editio Vaticana“, in: Fellerer 1976, S. 287–289. 108 Zu den Folgen vgl. Philipp Harnoncourt: „Katholische Kirchenmusik vom Cäcilianismus bis zur Gegenwart“, in: Traditionen und Reformen in der Kirchenmusik. Festschrift für Konrad Ameln zum 75. Geburtstag, Gerhard Schuhmacher (Hg.), Kassel etc. 1974, S. 78–133.
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Kirchenmusik laut werden. Als Gegenbewegung zur aufklärerischen Verdrängung alles rational nicht Fassbaren bricht sich mit Chateaubriands Génie du Christianisme eine schwärmerische Rückwendung zum Mittelalter und seiner Mystik die Bahn, die als Initialzündung für alle kommenden reformerischen Bewegungen angesehen werden kann.109 Das Erlebnis der gotischen Kathedralen lässt in Chateaubriand die Sehnsucht nach dem Mittelalter mit seiner religiös-liturgischen Einheit und seinen geheimnisvollen Verbindungen zum Übersinnlichen wach werden. Zwischen den Kirchenmauern ersteht das alte Frankreich mit seiner glorreichen mittelalterlichen Vergangenheit und die Gotik erhält eine positive Neubewertung.110 Musik, allen voran der Gregorianische Choral, vervollständigt im Einklang mit der Architektur das überwältigende Gesamterlebnis.111 Mit zu diesen literarisch-romantischen Anregern der Restaurationsbewegung ist auch Victor Hugo mit seinem Roman Notre Dame zu zählen. Wiewohl bereits im 17. Jahrhundert in Frankreich vereinzelt Stimmen zu finden sind, die sich für den gotischen Stil begeistern112, so galt er doch auch hier – wie im übrigen Europa – mehrheitlich als Ausdruck des Barbarischen und findet erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Wertschätzung. Die Umsetzung dieser vorbereitenden Gedanken in konkrete Restaurationsbestrebungen erfolgt mit den Schriften von Prosper Guéranger, dem Begründer der Solesmer Forschungen. Mit seinem aufrüttelnden Aufsatz „Considérations sur la liturgie catholique“ von 1830 legte er den Grundstein für eine tiefgreifende Reform der gesamten Liturgie. Ausführlich entfaltete er sein Programm dann in den Institutions liturgiques (1840ff.), die bereits in ihrem Titel deutlich machen, dass es zuvorderst um einen Neu-Belebung der liturgischen Formen und Gebräuche geht, die seit der Revolution praktisch ausgestorben waren. Die neue Bewunderung für die gotische Architektur der Kathedralen ist Guéranger nicht genug, er fordert, sie mit der ihnen zustehenden Liturgie und vor allem mit den originalen Gesängen zu erfüllen.113 Neben der Wiederherstellung der ursprünglichen Gestalt
109 Hierzu Hans Eckardt: Die Musikanschauung der französischen Romantik (= Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft, hg. v. Heinrich Besseler, Bd. III), Kassel 1935, S. 9ff, 19. 110 « On ne pouvait entrer dans une église gothique sans éprouver une sorte de frissonement et un sentiment vague de la divinité … L’ancienne France sembloit revivre … L’ordre gothique, au milieu de ses proportions barbares, a toutefois une beauté qui lui est particulière. »; FrançoisRené Chateaubriand: Œuvres complètes, Brüssel 1828, Tome XII: Génie du Christianisme, Seconde partie, S. 335/336. 111 Ebda., Troisième partie, S. 307ff. 112 Abbé Michel de Marolles bemerkt in seinen 1656 in Paris veröffentlichten Memoiren: „Wenn jemand die schöne moderne Baukunst loben will, glaubt er sich berechtigt, alles das zu verwerfen, was zu jenen wundervollen Gebäuden gehört, die man aus Verachtung gotisch nennt, als ob all das, was von den Goten auf uns gelangt ist, völlig barbarisch wäre … Man muß ehrlich anerkennen, daß es herrliche Dinge in dieser Art gibt.“; Werner Weisbach: „Die Memoiren des Abbé de Marolles“, in: Deutsche Rundschau CCXXI (1929), S. 145. 113 « N’est-il pas temps de se souvenir que nos Églises n’ont pas seulement souffert dans leur murailles, leur voûtes et leur mobilier séculaire, mais qu’elles sont veuves surtout de ces anciens et vénérables cantiques dont elles amiaent tant à retentir; … La Liturgie n’est-elle pas
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des Chorals ist ihm die Einheit mit der römischen Liturgie das nachhaltigste Anliegen.114 Deshalb soll die Zersplitterung Frankreichs in viele verschiedene Choraldialekte zugunsten der einheitlichen, ältesten Überlieferung überwunden werden; eine Forderung, aus der letztlich die quellenkritische Methode in die musikalische Forschung Einzug hält und damit die Musikwissenschaft an sich begründet wird. Bezeichnend ist, dass sich der Hang zum Numinosen und Übersinnlichen, der sich in den deutschen Restaurationsbewegungen in der Verehrung der niederländischen Vokalpolyphonie zeigt, in Frankreich in der Liturgieerneuerung zutage tritt. Die Rückkehr zur römischen Tradition, die Vereinheitlichung der Liturgie, die Wiedereinführung des Chorals gehen einher mit einer verstärkten Wertschätzung von Tradition, Kodifizierung und lateinischer Sprache sowie einer Ablehnung von individualistischen Lösungen. Die in der Aufklärung erfolgte Rationalisierung und Öffnung des religiösen Mysteriums hin zu einem besseren Verständnis für das Volk erschien nun als Frevel am geheimnisvollen Wesen der Liturgie.115 Neben den Forschungsaktivitäten in Solesmes wird die Aufdeckung der mittelalterlichen musikalischen Vergangenheit Frankreichs ein gesamt-nationales Anliegen. Zahlreiche Forscher durchforsten die Bibliotheken und entdecken wertvolle Handschriften. Der Hauptakzent liegt hierbei deutlich auf dem Gregorianischen Choral, wie bereits Felix Danjous programmatische Schrift De l’état et de l’avenir du chant ecclésiastique von 1844 deutlich macht. Danjou selbst entdeckt 1847 den Codex Montpellier, der weitreichende Folgen für die Choralforschung haben sollte, ebenso wie die Faksimile-Ausgabe des Codex St. Gallen 359 durch den Jesuiten Lambillotte.116 Es entsteht in Frankreich analog zur Restaurierung mittelalterlicher Architektur eine musikalische « archéologie nationale ».117 Diese Musikarchäologen stehen in enger Verbindung mit der Solesmer Forschung und verfolgen auch die gleichen Absichten. So fordert Alexandre-Etienne Choron in seinem Aufsatz „Considérations sur la nécessité de retablir le chant de l’église de Rome dans toutes les églises de l’empire“ bereits 1811 die Einheit mit der römischen Liturgie. Die größere Rolle, die der Choral in der französischen Reformbewegung gegenüber der Vokalpolyphonie spielt, ist auch in der kirchenmusikalischen Ent-
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l’âme de vos Cathédrales ? »; Prosper Guéranger: Institutions liturgiques, Tome premier, Paris 1840, S. XIX. « Aujourd’hui, cette unité est rompue, cette harmonie est brisée ; si le reste du monde prie encore avec Rome, la France a déchiré cette communion si touchante, si sacrée … Il n’y a guère plus d’un siècle que nous n’avions qu’une prière avec l’Eglise Romaine : pourquoi n’y reviendrions-nous pas ? »; ebda., S. 499/500. Hierzu Josef Andreas Jungmann: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Erster Band, Wien etc. 1962, 19625, S. 207–211. Ursprung 1931, S. 269. « Le triomphe de nos chants liturgiques et populaires du moyen-âge est complet: nous le répétons, c’est presque une ère nouvelle pour l’archéologie nationale », Felix Clément: Les chants de la Sainte Chapelle, Paris 1849, S. 12, zitiert nach: Eckardt 1935, S. 46.
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wicklung Frankreichs begründet. Der Choral bleibt in Frankreich seit dem Mittelalter eine bestimmende Größe über die Jahrhunderte und wird auch nicht im 18. Jahrhundert durch das Aufkommen von Orchestermessen wie im deutschen Raum an den Rand gedrängt.118 Die orchesterbegleiteten großen Messen vom Typ der Wiener Klassiker fehlen in Frankreich praktisch ganz. Statt dessen blüht die Tradition der Alternatim-Orgelmesse119 weiter und damit bleibt auch der Gregorianische Choral bis ins 19. Jahrhundert hinein in der Liturgie präsent, wenn auch in stark entstellter, zeitbedingter Form mit zerdehnten Noten, chromatischen Alterationen und Serpent-Begleitung120. Des weiteren entwickelt sich in Frankreich kein volkssprachliche Kirchenlied im eigentlichen Sinne, weshalb sowohl in der kirchenmusikalischen Praxis wie auch in der Musiktheorie die Bindung an den Choral eine engere bleibt als im deutschen Sprachraum.121 Dort verschwindet der Choral bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast vollständig aus dem kirchlichen Gebrauch, oft wird er sogar durch diözesane Erlasse verboten.122 Da diese Lücke in Deutschland durch die starke Tradition des volkssprachlichen Kirchenliedes ausgefüllt wird, ist das dortige Verhältnis zum Choral im 19. Jahrhundert ein weitaus distanzierteres als in Frankreich. Von hieraus ist auch zu verstehen, dass der Choral in der caecilianischen Bewegung nicht so eine bedeutende Rolle spielt wie die Musik der Niederländer. Auch auf evangelischer Seite tritt der Choral an sich gegenüber der Choralbearbeitung in den Hintergrund, da sich das Interesse bald an den wieder entdeckten „Heroen“ der evangelischen Kirchenmusik Bach und Schütz festmacht. Zusammenfassend zeigen also die Hauptanliegen der Restaurationsbewegung in Frankreich eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber Deutschland. An vorderster Stelle stehen die Bemühungen um die Wiederherstellung der originalen Gestalt des Gregorianischen Chorals, wie sie hauptsächlich und mit größtem Nachdruck in Solesmes unternommen werden. Die von Prosper Guéranger vorgegebenen Leitlinien der kritischen Melodie-Rekonstruktion, der Suche nach einer adäquaten Aufführungsform sowie nach der Einheit mit Rom bleiben dabei für die Solesmer Forschung bestimmend, von den ersten Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur schließlich gegen die Medicea durchgesetzten Editio Vaticana zu Beginn des 20. Jahrhunderts.123 Die von Chateaubriand inspirierte, geradezu schwärmerische Verehrung des Mittelalters tritt aber auch bei den auf Wissen118 Hermann Beck: „Die Musik des liturgischen Gottesdienstes im 18. Jahrhundert (Messe, Offizium)“, in: Fellerer 1976, S. 182 und Elmar Seidel, „Die instrumentalbegleitete Kirchenmusik“, ebda., S. 245. 119 Vgl. Andreas Mielke: Artikel „Orgelmesse“ in: MGG2 7, Sp. 1049–1054. 120 Benjamin van Wye: „Gregorian influences in French organ music before the Motu proprio“, in: JAMS 27 (1974), S. 6 mit Anm. 16. 121 Hierzu Heinz Wagener: Die Begleitung des gregorianischen Chorals im neunzehnten Jahrhundert (= Kölner Beiträge zur Musikforschung, Karl Gustav Fellerer (Hg.), Bd. XXXII), Regensburg 1964, S. 74. 122 Ebda., S. 101. 123 Felice Rainoldi: „Das Graduale Romanum von Dom Prosper Guéranger bis 1974“, in: Beiträge zur Gregorianik 31 (2001), S. 27–51.
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schaftlichkeit bedachten Benediktinern immer wieder zutage, sei es in Guérangers erklärter Absicht, „eine Miniatur unseres lieben Mittelalters wiederherzustellen“124 oder in den Vorworten der von Dom Mocquereau initiierten Paléographie musicale.125 Die sich parallel entwickelnde Archéologie musicale beschäftigt sich ebenfalls mit der Spurensuche nach der ursprünglichen Gestalt des Chorals, weitet aber auch bereits früh den Blick in die gesamte Musikgeschichte des Mittelalters. So setzt sich François-Louis Perne mit dem Werk Machauts auseinander und gibt die Melodien des Trouvères Chastelain de Coucy in Bearbeitung heraus.126 Schon 1810 konstatiert Alexandre Etienne Choron in seinem Dictionnaire historique des Musiciens, dass die große Tradition der französischen Choralpraxis, wie sie in den maîtrises über Jahrhunderte aufrecht erhalten wurde, darniederliege und einer Wiederbelebung bedürfe.127 Die vereinzelten Versuche bereits im 17. und dann vermehrt im 18. Jahrhundert, sich mit der Musik des Mittelalters auseinanderzusetzen, kommen zeittypisch auch Frankreich nicht weit über den Aspekt des Kuriosen und Merkwürdigen hinaus. Die Chansons der Trouvères beispielsweise erscheinen bestenfalls als reizvoller Ohrenkitzel oder werden im Lichte einer verklärenden MittelalterMode gesehen.128 Erst allmählich macht sich deshalb in der französischen Musikgeschichtsschreibung der Wechsel von der älteren aufklärerischen Geisteshaltung zur neueren durch den Historismus genährten Betrachtungsweise bemerkbar. Noch Chorons Einleitung zu seinem Dictionnaire gliedert den Fortgang der Musikgeschichte in « Origine et formation », « Développement » und « Perfectionnement ». Demgegenüber zeigt sich im Werk des belgischen Musikhistorikers François– Joseph Fétis die Abkehr von der rationalistischen Erkenntnishaltung mit ihrem Fortschrittsglauben und Gegenwartsoptimismus. Er spricht sich vehement gegen die Vorstellung von einem ständigen Fortschritt in der Musik aus129 und plädiert
124 Ebda., Anm. 4. 125 « [Le] but principal de la Paléographie musicale … qui est de relever le chant grégorien de l’abjection où il était tombé, de poursuivre l’œuvre de sa restauration jusqu'à ce qu’entière justice lui soit rendue et qu’il ait recouvré cette pleine et antique beauté qui le rendait si propre à la louange divine.»; Paléographie musicale XI, Avant-propos, Tournai 1912. 126 Jean Mongrédien, Katharine Ellis: Artikel „Perne, François-Louis“, NG2 19, S. 444–445. 127 « Aussi, y a-t-il tout lieu de croire que les maîtrises … produiront encore moins que par le passé ; … Autrefois, le plain-chant, du moins, était enseigné dans un grand nombre d’écoles primaires ; aujourd’hui, on n’y enseigne plus ni plain-chant ni musique … En général, le chant est négligé ; et rien n’est plus rare en France que les bons chanteurs»; Alexandre Etienne Choron, François Joseph Fayolle: Dictionnaire historique des Musiciens. Artistes et Amateurs, morts ou vivans. Précedé d’un Sommaire de l’Histoire de la Musique, Tome premier, Paris 1810 (= Nachdruck Hildesheim 1971), S. xc/xci. 128 Jacques Chailley: „Le XVIIIe et le XIXe siècle à la recherche du Moyen Age“, in: Ders.: 40 000 ans de musique. L’homme à la découverte de la musique, Paris 1976, S. 38–50. 129 « Disons-le donc avec assurance: la doctrine du progrès, bonne et vraie pour les sciences comme pour l’industrie, n’a rien à faire dans les arts d’imagination, et moins dans la musique
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dafür, die Musikwerke jeder Epoche aus den Entstehungsbedingungen ihrer eigenen Zeit heraus zu begreifen.130 Als konsequente Fortführung dieses Ansatzes begründet er ab 1832 eine Reihe historischer Konzerte in Paris, die zum ersten Mal ältere Musik bis zurück ins 15. Jahrhundert einem größeren Publikum zugänglich machte.131 Eines seiner Hauptanliegen sollte sich für die nachfolgende Forschergeneration als richtungsweisend herausstellen: Die Überprüfung musikhistorischer Aussagen direkt an den Quellen, ein Postulat, das Fétis in den bisherigen Musikgeschichten zu wenig berücksichtigt fand.132 Letztlich war diese methodische Grundhaltung durch die Solesmer Forschungen angestoßen worden und breitete sich nun von der eigentlichen Choralrestitution auf die Erforschung älterer Musik im Allgemeinen aus.133 In besonderem Maße wird dies deutlich im Schaffen von Edmond de Coussemaker, der dem Vorbild der Choralforschung folgend nun auch die übrige einstimmige und mehrstimmige Musik des Mittelalters zum Untersuchungsgegenstand machte, sowohl auf theoretischer Seite durch die Fortsetzung der Gerbertschen Scriptores als auch durch zahlreiche Abhandlungen über die musikalische Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert und durch Beigabe von Faksimiles.134 Dabei wird erneut deutlich, welch großen Einfluss die mittelalterliche französische Architektur und damit die nationale Identitätssuche in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich für die Erforschung der musikalischen Vergangenheit haben. Coussemaker sieht sogar direkte
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que dans tout autre »; François–Joseph Fétis: Biographie universelle des musiciens et Bibliographie générale de la musique, Deuxième édition, Tome premier, Paris 1860, S. vi. « Un des plus grands obstacles à la justesse des jugements sur la valeur des œuvres musicales se trouve dans la doctrine du progrès appliquée aux arts. J’ai eu longtemps à lutter contre elle, et j’ai dû supporter d’ardentes polémiques lorsque je soutenais que la musqiue se transforme, et qu’elle ne progresse que dans ses éléments matériels. »; zitiert nach Wilibald Gurlitt: „Franz-Josef Fétis und seine Rolle in der Geschichte der Musikwissenschaft“, in: Kongressbericht der Internationalen Gesellschaft für Musikforschung Lüttich 1930, Guildford 1930, S. 46. Ebda., S. 49–52. « Quant à l’histoire de la musique en elle-même, pour laquelle Marpurg, le P. Martini, l’abbé Gerbert, Burney, Hawkins et Forkel ont fait des recherches très-estimables, mais qui n’avait pas été examinée suffisamment à ses sources … on peut dire avec assurance que depuis peu d’années seulement on est entré dans la voie qui seule peut conduire au but, parce qu’on s’est attaché à la recherche des monuments pour les étudier avec soin. »; Fétis 1860, S. xvii. « Une des causes de ces échecs répétés a été l’ignorance ou la négligence des manuscrits. Les sources ! encore les sources ! toujours les sources ! a dit un des maîtres de l’École de Chartes. L’archéologie musicale n’est devenue une science que le jour où elle s’est approprieée cette règle. Cette transformation … a été consommée par les Bénédictins dans leurs Paléographie ; je ne crois pas qu’il soit possible aujourd’hui de méconnaître l’orientation nouvelle et définitive que ce monument a donnée aux études de plain-chant, et, du même coup, à l’histoire de la musique tout entière. »; Jules Combarieu: Théorie du rythme dans la composition moderne d’après la doctrine antique suivie d’un Essai sur l’archéologie musicale au XIXe siècle et le problème de l’origine des neumes, Paris 1897, S. 188/189. « L’archéologie musicale comprend, selon nous, deux branches distinctes: l’une relative au plain-chant, l’autre à la musique proprement dite. »; Edmond de Coussemaker: L’art harmonique aux XIIe et XIIIe siècles, Paris 1865 (= Nachdruck Hildesheim 1964), Préface.
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Bezüge zwischen bestimmten Formen der Mehrstimmigkeit und architektonischen Bauprinzipien des Mittelalters.135
2.4 KIRCHENMUSIKSCHULEN IN PARIS Mit den Anfängen der Restaurationsbewegung in Frankreich setzt sich die Überzeugung durch, dass die Erforschung und Neubewertung der musikalischen Vergangenheit alleine nicht ausreichen wird, um das musikalische Niveau, vor allem das der Kirchenmusik, dauerhaft zu heben. Wenn die vorbildhaften Eigenschaften älterer Musik von bleibender Wirkung auf die kirchenmusikalische Praxis und auf die nachwachsende Komponistengeneration sein sollten, mussten die neu gewonnenen Erkenntnisse von Anfang an als Grundlage für die musikalische Ausbildung dienen. Da sich in Frankreich die musikalische Restauration so sehr mit der Vorstellung der Wiedergewinnung eines nationalen Erbes verband, lag es nur nahe, bei der Suche nach geeigneten Institutionen, die als Vorbilder für die musikalische Ausbildung dienen konnten, auf die Tradition der maîtrises zurückzugreifen. Bereits unter Napoleon gab es erste Versuche, diese Einrichtungen wieder zu beleben, die als « berceau de la musique en France » angesehen wurden.136 Immerhin hatte es zur Zeit des Ancient Régime in Frankreich mehr als 400 maîtrises gegeben, an denen praktisch die gesamte musikalische Ausbildung für den geistlichen Bereich stattfand, bis sie im Zuge der Revolution vollständig verschwanden.137 Alexandre Etienne Choron wurde 1810 mit der Reorganisation der maîtrises betraut, konnte aber auf diesem Gebiet zunächst keinen durchschlagenden Erfolg erzielen. Er war jedoch von dem Gedanken beseelt, die Gesangskultur innerhalb der Kirchenmusik und der Chormusik im Allgemeinen zu verbessern. Das Conservatoire und die Opéra erschienen ihm hierbei als natürliche Hemmnisse, da sie einer vordergründigen Virtuosität huldigten.138 Zur Umsetzung seines Vorhabens gründete Choron daher zunächst 1817 die École primaire de chant, die 1820 in die École royale et spéciale de chant und 1825 schließlich in die Institution royale de musique religieuse überging. Ziel dieser Schule war es, für die Kirchenmusik an den Kathedralen bis hin zu den gewöhnlichen Pfarreien Chorleiter, Sänger, 135 « Car, de même que l’histoire de notre architecture nationale du moyen âge se trouve en quelque sorte écrite sur les cathédrales, les abbayes, les hôtels de villes et autres édifices, tant civils que religieux, de même l’histoire musicale possède ses éléments les plus vrais dans les mélodies, les motets et les chants de tout genre, pour la plupart restés jusqu’ici enfouis dans la poussière des bibliothèques. … Une autre circonstance digne de remarque est l’èspece de corrélation qui existe entre l’origine du système ogival et du déchant. »; Ders.: Histoire de l’harmonie au moyen âge, Paris 1852 (= Nachdruck Hildesheim 1966), S. x, xii. 136 Eckardt 1935, S. 20. 137 Denis Havard de la Montagne: Alexandre Choron (1771–1834) ou Petite histoire de la musique religieuse depuis la Révolution, [http://musicaetmemoria.ovh.org/choron-bio.htm]. 138 Gabriel Vauthier: „L’École de Choron“, in: La Revue musicale 23 (1908), S. 621.
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Chorknaben, Organisten und Lehrer neu heranzubilden. Dabei gehörte von Anfang an neben der Vermittlung musikalischer Grundkenntnisse die Unterweisung im Gregorianischen Choral; außerdem sollte auch die Komposition neuer kirchenmusikalischer Werke angeregt werden.139 Und um die Aktivitäten seiner Einrichtung auch nach außen zu tragen, begann Choron bereits 1822 mit Aufführungen alter Meister in einem kleineren Kreis, die sich ab 1827 zu einer öffentlichen Konzertreihe mit Werken älterer Musik entwickelten und dem Pariser Publikum zum ersten Mal einen engeren Kontakt mit dieser lang vergangenen und vergessenen Musik, vor allem auch zum ersten Mal in ausreichendem Maße mit Bach, Händel und Palestrina ermöglichten und sich daher großer Beliebtheit erfreuten. Eine umfangreiche Reihe mit Ausgaben von Werken älterer Meister und eine eigene Zeitschrift, das Journal de musique religieuse et classique, vervollständigten diese Bemühungen nach Außenwirkung.140 Die Institution, zu deren Absolventen Louis Dietsch, später Lehrer an der École Niedermeyer, und Adrien de la Fage gehörten, hatte damit einen hohen Bekanntheitskreis erreicht und war als Ausbildungsstätte sehr angesehen.141 Als im Zuge der Juli-Revolution 1830 die finanzielle Förderung der Schule eingestellt wurde, verebbten damit auch die Anstrengungen Chorons, obwohl er sich noch bis zu seinem Tode 1834 bemühte, die Einrichtung als Institution royale de musique classique weiterzuführen.142 Auch die kurzzeitige Übernahme der Leitung durch seinen Schwiegersohn Stéphane Nicou-Choron konnte die Schließung nicht verhindern.143 Trotz dieses unglücklichen Endes schuf Choron die Rahmenbedingungen, die vorbildhaft für alle weiteren Versuche, Kirchenmusikschulen in Paris zu etablieren, wurden: Alternative zur Ausbildung am Conservatoire und zur Opéra, Choral und Vokalpolyphonie als Grundlage des Unterrichts, Förderung neuer kirchenmusikalischer Werke, öffentliche Konzerte und Publikation von Werkausgaben. Als Nachfolgeorganisation verstand sich die 1843 von Joseph Napoléon Ney, Prince de la Moskowa gegründete Société de musique vocale, religieuse et classique. Wie bereits der Name zeigt, orientierte sie sich stark am Vorbild Chorons und hatte wie dieser den Anspruch, « le goût de la bonne et sévère harmonie et du style musical véritablement ecclésiastique » zu verbreiten.144 Wie Choron setzte die Société ihre Mission durch Aufführungen ältere Musik und eine Publikations139 Ebda., S. 667. 140 Willi Kahl: „Zur musikalischen Renaissancebewegung in Frankreich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Dagmar Weise (Hg.): Festschrift Joseph Schmidt-Görg zum 60. Geburtstag, Bonn 1957, S. 163. 141 Man vgl. Hierzu den Bericht von Vincent und Mary Novello über den Versuch, ihre Tochter in Chorons Einrichtung unterzubringen: Rosemary Hughes (Hg.): A Mozart pilgrimage. Being the travel diaries of Vincent & Mary Novello in the year 1829, London 1955, S. 239, 241. 142 Gabriel Vauthier: „L’École de Choron“, in: La Revue musicale 24 (1909), S. 54. 143 Havard de la Montagne: Alexandre Choron (1771–1834). 144 Eckardt 1935, S. 40. Zu Moskowas Einrichtung ausführlich die Studie von Rémy Campos: La Renaissance introuvable?: Entre curiosité et militantisme. La société des concerts de musique vocale religieuse et classique du prince de la Moskawa (1843-1846), Paris 2000.
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reihe um. Da der Mitglieder- und Wirkungskreis jedoch eher auf eine begrenzte Zahl aristokratischer Liebhaber beschränkt blieb, war dieser Organisation kein länger andauernder Effekt beschieden, zumal es auch nicht zur Gründung einer eigentlichen Ausbildungsstätte kam; so stellte die Société nach wenigen Jahren ihre Aktivitäten wieder ein.145 Parallel hierzu war Xavier Croizier, ein ehemaliger Schüler Chorons, von dem Gedanken beseelt, der „wahren“ Kirchenmusik ein neues Domizil zu verschaffen. Ihr allgemeiner Niedergang und ihre Verweltlichung empfand er als Schande, und er sah seine Lebensaufgabe darin, die geistliche Musik zu ihrer erhabenen Einfachheit zurückzuführen.146 In einem Entwurf von 1850 legte er seine Pläne dar, ein Conservatoire de musique et de chant religieux zu gründen, dessen Hauptziel die Unterweisung im Choral, im Orgelspiel und einer dem kirchlichen Kontext angepassten Harmonielehre sowie das Studium der großen Meister geistlicher Musik sein sollte. Ein extra Konzertsaal für eine geplante Reihe von Concerts spirituels sollte die Arbeit des Conservatoire auch klingend dokumentieren.147 Doch die anlässlich der Einweihung des Konzertsaals am 30. Dezember 1852 von Maurice Bourges in der Gazette Musicale geäußerte Hoffnung, dass nun die so lang ersehnte Wiederherstellung der maîtrises ihren Anfang gefunden hätte148 und die guten Wünsche, die der Ménestrel dem Unterfangen für die Zukunft aussprach149, sollten nicht in Erfüllung gehen. Offensichtlich hatte Croizier sich zwar genügend Unterstützung im Klerus verschafft, war aber politisch ohne großen Rückhalt, ganz im Gegensatz zu Louis Niedermeyer, der über den Prince de la Moskowa glänzende Kontakte besaß. Die kurz nach der Eröffnung von Croiziers Conservatoire erfolgte Gründung der École Niedermeyer und ihr beinahe identi145 Ebda., S. 41. 146 « Ce langage sublime qui met l’homme en rapport avec Dieu, est tombé dans la barbarisme ; cette sainte traduction poétique des élans du cœur, qui résonnait jadis sous les voûtes sonores du Temple de Jérusalem, se traduit aujourd’hui en accents grossiers et discordants, ou bien s’affuble du manteau profane et licencieux de la musique mondaine, ôtant ainsi aux rythmes sacrés de la religion leurs sublimes traditions. Il importe de rendre aux chants religieux toute leur harmonieuse simplicité … »; Xavier Croizier: Prospectus de la « Fondation d'un Conservatoire de Musique et de chant religieux créé par Croizier, maître de chapelle », Paris um 1850, Arch. Nat. F19-3947, zitiert nach Denis Havard de la Montagne: Xavier Croizier ou l’Histoire malheureuse d’un maître de chapelle spolié, Website von Musica et Memoria [http://musicaetmemoria.ovh.org/croizier-bio.htm]. 147 « Il a, en outre, l’intention d’annexer à cette nouvelle École musicale, qui comprendra des Cours et des Classes de Chant, d’Harmonie et d’instruments affectés spécialement au service du Culte, une Salle de Concerts spirituels, dans laquelle des Artistes de premier ordre exécuteront les productions de Musique religieuse des plus grands maîtres des écoles allemande, italienne et française, dont les sublimes compositions sont presque ignorées de nos jours ou totalement dénaturées par les mutilations des arrangeurs de musique profane. »; ebda. 148 « Ce serait tout simplement la résurrection, tant souhaitée, des anciennes maîtrises, avec un avantage de plus, celui de la centralisation et par conséquent de l’uniformité de doctrine et d’enseignement. »; Maurice Bourges in: La Gazette Musicale 6 (2. Januar 1853), zitiert nach ebda. 149 « Nous ne pouvons mieux faire, pour l’année qui s’ouvre, que de souhaiter un brillant avenir à ce conservatoire »; in: Le Ménestrel 5 (2. Januar 1853), zitiert nach ebda.
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sches Programm legen den Schluss nahe, dass Niedermeyers École zumindest große Teile von Croiziers Plänen einfach übernahm. Dieser Eindruck wird bestätigt durch eine Eingabe Croiziers an den Minister für das Bildungswesen Hippolyte Fortoul vom März 1852, in der er den Protestanten Niedermeyer des Plagiats und der Zerstörung seines Lebenswerkes bezichtigt.150 Wie auch immer: Louis Niedermeyer hatte jedenfalls aus den Schwächen und Fehlern der Société des Prince de la Moskowa und des Conservatoire von Croizier gelernt, als er 1853 seine École de musique religieuse gründete, die bald unter dem Namen École Niedermeyer bekannt wurde.151 Niedermeyer war bereits in jungen Jahren über den päpstlichen Kapellmeister Valentino Fioravanti mit dem Repertoire der päpstlichen Kapelle in Rom in Berührung gekommen und wirkte in der Société des Prince de la Moskowa als Leiter der musikalischen Aufführungen. Von daher war ihm die Musik des 16. und 17. Jahrhunderts bestens vertraut. Obwohl er sich zunächst als Komponist von Romanzen und Opern einen Namen machte, bewahrte er sich das Interesse an älterer Musik und speziell an geistlicher Musik. Wie vielen seiner Zeitgenossen erschien ihm die Kirchenmusik an einer Dekadenz zu kranken, die ihrer eigentlichen Aufgabe unwürdig war. Um diesem Übel Abhilfe zu verschaffen, sah er es als notwendig an, eine ganz eigenständige Ausbildungsgrundlage für die Kirchenmusik zu schaffen, die sich deutlich von der übrigen weltlichen Musik unterschied. Sein Anliegen war also eine eindeutige Trennung von « art sacré » und « art profane ».152 Die schlechten Einflüsse, die vor allem von der theatralischen Musik der Opéra ausgingen, sollten gänzlich ferngehalten werden und so eine neue, reine, kirchliche Musik entstehen.153 Wie bereits Choron erkannte Niedermeyer die Wurzel des allgemeinen Niedergangs in der Kirchenmusik in den schlechten Ausbildungsbedingungen für den 150 « Je viens d’apprendre, aujourd’hui qu’un musicien étranger à nos cérémonies, cherche à m’enlever mon idée pour l’exécuter à son profit. Il me serait pénible, après avoir passé toute ma vie à étudier, à élaborer une œuvre de cette importance, de la voir dénaturer par un plagiaire qui ne peut avoir acquis, en quelques jours, l’expérience qui est le résultat de vingt années de travaux. »; Eingabe Croiziers vom 23. März 1852, Paris Archives Nationales, F193947, zitiert nach ebda. 151 Zum Folgenden zusammenfassend: Louis-Alfred Niedermeyer: Louis Niedermeyer, son œuvre et son école, Paris 1867, H. Kling: „Le centenaire d’un compositeur suisse célèbre: Louis Niedermeyer“, in: Rivista Musicale Italiana IX (1902), S. 830–859 und Maurice Galerne: L'École Niedermeyer. Sa création. Son but. Son développement, Paris, 1928. Die Dissertation von Sako Ikuno: The importance of Louis Niedermeyer in the reform of nineteenthcentury church music in France, University of Melbourne 2007, war mir leider nicht zugänglich. 152 « Il pensa que le moyen le plus efficace de rendre à la musique des sanctuaires le caractère sacré des antiques traditions … serait d’établir une séparation complète entre l’étude de l’art religieux et l’étude de l’art profane ... »; Louis-Alfred Niedermeyer 1867, S. 13. 153 Vielleicht mag Niedermeyers radikale Trennung von weltlicher und geistlicher Musik auch damit zusammenhängen, dass er selbst nach dem politisch motivierten Misserfolg und schließlichen Verbot seiner Oper La Fronde im Jahre 1853 sich endgültig von der Oper abund der geistlichen Musik ganz zuwandte.
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Nachwuchs, weshalb auch für ihn die Wiederbelebung der Tradition der maîtrises das oberste Anliegen bildete. In seiner École sollten die künftigen Sänger, Organisten, Komponisten und Chorleiter herangebildet werden, die die Kirchenmusik wieder in ihrem Eigenwert zu schätzen wussten und als Multiplikatoren für die Hebung des kirchenmusikalischen Niveaus im ganzen Land wirken konnten. Als Basis der Ausbildung verstand Niedermeyer den Gregorianischen Choral und griff damit die hohe Wertschätzung dieser ältesten Kirchenmusik innerhalb der Restaurationsbewegung in Frankreich auf. Die Geschichte, die Ausführung und die Begleitung des Chorals gehörten neben der Vokalpolyphonie Palestrinas und der Orgelmusik Bachs zu den Säulen der Erziehung in der École, wie es die erste Nummer der von Niedermeyer zusammen mit seinem Mitstreiter Joseph d’Ortigue herausgegebenen Zeitschrift La Maîtrise manifestartig verkündet.154 Die Kombination von institutionalisiertem Unterricht, öffentlichen Konzerten der Schüler, Herausgabe älterer Kirchenmusik und begleitendem Publikationsorgan, in dem grundlegende Fragen diskutiert und einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert werden konnten, sowie staatliche finanzielle Unterstützung, sicherten der École Niedermeyer einen nachhaltigen Erfolg, der auch über den Tod Niedermeyers 1861 hinaus anhielt. Neben Niedermeyer, der die Choral- und Kompositionsklasse selbst betreute, wirkten an der École so bedeutende Lehrer wie Eugène Gigout, Gustave Lefèvre und Camille Saint-Saëns, und zu ihren Absolventen zählten u. a. André Messager und Gabriel Fauré. Mit seiner Schule hatte Niedermeyer eine Einrichtung geschaffen, die zum ersten Mal in Frankreich und früher als in Deutschland der restaurativen Bewegung ein dauerhaftes institutionelles Gesicht und damit eine stabile Grundlage gegeben hatte. Weit über Niedermeyers ursprüngliche Intention hinaus sollten die an der École gelehrten Unterrichtsgegenstände, vor allem die Methode der Choralbegleitung, befruchtend nicht nur auf die eigentliche Kirchenmusik, sondern auch auf die kompositorische Orientierung der jüngeren französischen Komponistengeneration im Allgemeinen wirken. Die Institution, die wiederum auf den Konzepten und dem Erfolg von Choron und Niedermeyer aufbaute und zum nachhaltigsten Mittepunkt von Kirchenmusikerziehung und –pflege um die Jahrhundertwende in Frankreich werden sollte, war die 1894 auf Initiative von Charles Bordes zusammen mit Alexandre Guilmant und Vincent d’Indy gegründete Schola Cantorum in Paris. Die Grundstrukturen waren dieselben wie in den Écoles von Choron und Niedermeyer155: Gregorianischer Choral und Vokalpolyphonie als Grundlage des Studiums und der musikalischen Ausbildung, öffentliche Konzerte, um die Zielsetzungen der Schola 154 « Nous nous occuperons d’abord de toutes les questions qui se rattachent au chant grégorien, à sa constitution, à sa tonalité, à son histoire, à ses rapports avec certains usages liturgiques. Nous nous occuperons sourtout de la manière dont on doit le chanter, soit à l’unisson, soit avec accompagnement d’orgue »; zitiert nach Kling 1902, S. 853. 155 Gabriel Fauré, ein Absolvent der École Niedermeyer, bemerkte später im Rückblick, dass er die Schola als Nachfolger von Niedermeyers Schule verstand: « Un chœur d’élèves faisait entendre tout ce que Saint-Gervais chante aujourd’hui. »; Roger Valbelle: „Entretien avec M. Gabriel Fauré“, in: Excelsior (12. Juni 1922).
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nach außen hin zu vertreten und ein breiteres Publikum anzusprechen, Editionsreihen älterer Kirchenmusik sowie eine von der Schola selbst herausgegebene Zeitschrift, die Tribune de St. Gervais, in der musikalische, aufführungspraktische und ästhetische Fragen besprochen wurden. Gegenüber den Schulen von Choron und Niedermeyer war die Schola von Beginn an als Konkurrenz und Alternative zum Conservatoire in größeren Dimensionen konzipiert, was sich schon an den höheren Studentenzahlen ablesen ließ. Außerdem war das Curriculum breiter aufgefächert und räumte der Vermittlung musikgeschichtlichen Wissens einen großen Raum ein. Auf dem Gebiet der Choralforschung existierten enge Kontakte mit den Benediktinern in Solesmes. Der bedeutendste Verdienst der Schola für die musikgeschichtliche Entwicklung Frankreichs sollte jedoch darin liegen, dass sie es verstand, trotz der latenten Gefahr einseitiger Dogmatisierung einer ganzen Komponistengeneration neue Ansätze für die Schaffung einer neuen Kirchenmusik auf der Grundlage der alten Formen zu vermitteln und darüber hinaus für die drängende Suche nach einer genuin französischen Musik unter dem Eindruck eines übermächtigen Wagnerkultes neue Wege aufzuzeigen.156 Von Beginn an wurde also die Restaurationsbewegung in Frankreich von Versuchen begleitet, das von der « archéologie musicale » neu erhobene Wissen um die ältere Musik lehrend und lernend weiter zu vermitteln. Durch den stark nationalen Akzent der Bewegung kamen die maîtrises und damit auch der Choral als Anknüpfungspunkte ins Blickfeld. Gegenüber dem deutschen Caecilianismus trat dessen fast ausschließliche Fokussierung auf die Musik Palestrinas in Frankreich so nicht ein; dies ermöglichte eine größere Bandbreite für Neuschöpfungen geistlicher Musik. Darüber hinaus brach damit aber auch der Kontakt zur musikalischen Welt außerhalb der Kirchenmusik nicht völlig ab, was dazu führte, dass in Frankreich die Orientierung an der Musik des Mittelalters nicht nur für die genuine Kirchenmusik, sondern für die gesamte musikalische Entwicklung im Laufe des 19. Jahrhunderts fruchtbar werden konnte. Ebenso wichtig ist hierbei, dass sich die Kirchenmusikschulen in Frankreich, von den Vorgängern der École Niedermeyer an bis zur Schola Cantorum, zwar explizit als Nachfahren der kirchlichen maîtrises verstanden, ihr Träger aber nicht mehr die Kirche war. Die kirchenmusikalische Restaurationsbewegung in Frankreich selbst war sicherlich von der Erneuerung kirchlichen Lebens inspiriert und mit ihr eng verbunden, sie bildete aber trotz der Anstöße von Guéranger keine genuin innerkirchliche Bewegung. An die Stelle der Institution Kirche, die immer noch stark geschwächt war, trat eine bürgerliche Institution als Substitut, die keine ausschließlich kirchenmusikalische Ausbildung vermittelte, sondern immer wieder ihren Anspruch auf eine allgemein gültige Musikausbildung artikulierte. Durch diese Konstellation war der Weg vorgezeichnet, weg von einem internen,
156 Zur Rolle der Schola Cantorum vgl. ausführlich René de Castéra (Hg.): La Schola cantorum: son histoire depuis sa fondation jusqu’en 1925, Paris 1927 und Catrina Flint de Médicis: The Schola Cantorum, early music and French political culture from 1894 to 1914, Diss. McGill University 2007.
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spezifisch kirchenmusikalischen Diskurs, hin zu einer starken Außenwirkung in die allgemeine Kompositionsgeschichte.
3. GABRIEL FAURÉ – « MUSICIEN FRANÇAIS »1 3.1 DIE ÉCOLE NIEDERMEYER In Rückblick auf seine Ausbildung an der École Niedermeyer, die ihn musikalisch zutiefst prägen sollte, fasst Gabriel Fauré die wichtigsten Impulse, die von Niedermeyers Schule ausgingen, folgendermaßen zusammen: « Niedermeyer, en enseignant l’art d’harmoniser selon leurs vrais caractères, les modes du plain-chant sans les altérations empruntées au mode mineur avec sensible, donna des procédés harmoniques nouveaux, ne songeant pas qu’ils pourraient être utilisés hors de l’accompagnement des chants liturgiques. »2 Fauré benennt damit die bedeutende Neuerung, die Niedermeyer mit seiner École in der kirchenmusikalischen Ausbildung einführte: Eine neue Art der Choralbegleitung, die sich ganz entschieden von der traditionellen Verwendung spätromantischer Harmonik absetzt, indem sie vor allem deren spezifische Charakteristika, Alteration und Leittönigkeit, bewusst vermeidet. Dass dieses neu entwickelte Modell zur Choralbegleitung sich von der eigentlichen Choralbegleitung ablösen und zur Grundlage einer neuen Harmonik in der Kirchenmusik, aber auch im übrigen musikalischen Schaffen werden könnte, war freilich nicht Niedermeyers ursprüngliches Anliegen. Für ihn stand bei der Gründung seiner Schule fest, dass die Kirchenmusik nur durch Rückkehr zu den altehrwürdigen Vorbildern vor ihrem Verfall gerettet werden könnte.3 Den Hintergrund für diesen Entschluss bildete die Beobachtung, die nicht nur Niedermeyer, sondern auch die anderen Wortführer der europäischen Reformbewegungen beunruhigte, dass Elemente einer als verweltlicht und theatralisch empfundenen Musik sich zunehmend auch der geistlichen Musik bemächtigten. In Frankreich stand vor allem die Musik der opéra comique im Mittelpunkt der Kritik. Einige ihrer Melodien waren so bekannt und beliebt, dass sie auch über die Schwelle der Kirchen traten. Dies wurde durchaus goutiert von einem vergnügungssüchtigen Publikum, das die Erfolgsschlager aus der Oper und die gewohnte 1 2 3
So der Titel der Fauré-Biographie von Jean Vuaillat. Fauré in seiner Gigout-Biographie, zitiert nach Galerne 1928, S. 24. Ein Rundschreiben vom 02. August 1853 an das französische Episkopat, das anlässlich der Gründung der École Niedermeyer mit der Bitte um wohlwollende Unterstützung vom französischen Minister für das Bildungswesen Hippolyte Fortoul versandt wurde, bemerkt: « La musique religieuse qui ajoute un si grand éclat aux solennités du culte, a perdu le caractère sacré que lui assignaient ses antiques traditions. Il faut surtout attribuer cette décadence à l’absence d’écoles spéciales et à l’obligation où l’Eglise est aujourd’hui réduite de demander au théâtre ses chanteurs, ses maîtres de chapelle et ses compositeurs ... »; zitiert nach Galerne 1928, S. 31.
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harmonische Sprache auch in der Kirche nicht missen wollte. So war es nicht außergewöhnlich, Messesätze oder Motetten auf Themen aus Thaïs oder aus den Pêcheurs de Perles zu hören.4 Diese Erscheinung verwischte in den Augen kritischer Geister jener Zeit nicht nur die Grenzen zwischen dramatisch-theatralischem und kirchenmusikalischem Stil, sondern gab auch einer an Beliebigkeit grenzenden Massenproduktion solcher Arrangements Raum.5 Die erste Welle einer Gegenbewegung zu dieser Entwicklung erwuchs in der Komponistengeneration um Charles Gounod, César Franck, Camille Saint-Saëns und Théodore Dubois. Ihr Ziel war es, der Kirchenmusik wieder ein eigenes Gesicht zu geben und durch teilweise groß angelegte Werke die im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingetretene einseitige Fokussierung auf das Schaffen weltlicher Musik zugunsten der geistlichen zurechtzurücken. Obwohl sich diese Komponisten dabei bemühten, eigene Charakteristika eines kirchlichen Stils zu entwickeln, indem sie z. B. auf Elemente des Chorals zurückgriffen, unterschied sich die harmonische Sprache ihrer geistlichen Musik nicht wesentlich von der ihrer Bühnenwerke.6 Eben diese Trennung erschien jedoch Niedermeyer als absolut notwendig, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er selbst den größten Teil seines Lebens weltliche Musik im Stil der Zeit komponiert hatte. Der Unterschied sollte vor allem dort zutage treten, wo alle geistliche Musik ihrer Wurzeln hatte: beim Choral und seiner Begleitung. 3.2 DER TRAITÉ THEORIQUE ET PRATIQUE DE L’ACCOMPAGNEMENT DU PLAIN-CHANT Bei der Gründung seiner École sah Niedermeyer als grundlegendes Ausbildungsfach die Lehre vom Choral und vor allem von seiner Begleitung vor.7 Den Unterrichtsstoff und seine methodischen Grundlagen fasste Niedermeyer wenige Jahre nach Gründung der École in seinem 1856 erschienenen Traité théorique et pratique de l’accompagnement du plain-chant zusammen.8 Wie der Titel bereits deutlich macht, handelt es sich hierbei nicht nur um eine praktische Anleitung zur Choralbegleitung, sondern auch um die Darlegung der theoretischen Grundlagen des angewandten Systems. Dieses leitete Niedermeyer nicht aus direkten historischen Vorbildern, sondern aus den dem Choral zugrunde liegenden melodischen Gesetzmäßigkeiten ab. Niedermeyers Methode war also von Anfang an weniger eine historische Rekonstruktion als eine durch die herrschenden Umstände er4 5 6 7 8
André Cœuroy: „Present tendencies of sacred music in France“, in: MQ 13 (1927), S. 597. „There were swarms of Te Deums, motetes, canticles and oratorios, adopting the forms of the dramatic style, and far more suited to the theatre than to the church“; ebda., S. 583. Ebda., S. 583–586. « Le plain-chant, base de la musique religieuse, sera, dans cette Ecole, l’objet d’un soin particulier. »; Brief von Hippolyte Fortoul, zitiert nach Galerne 1928, S. 31. « Ce traité n’était que le résumé du cours professé à l’école par Niedermeyer … »; LouisAlfred Niedermeyer 1867, S. 20.
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zwungene Neukonstruktion. Niedermeyers Co-Autor Joseph d’Ortigue nimmt auf diesen Punkt Bezug, wenn er im Vorwort des Traité erklärt, obwohl er selbst zunächst gegen jede Begleitung des Chorals gewesen sei, hätte ihn das System Niedermeyers letztlich überzeugt, weil es von allen Begleitungsmodellen der Eigengesetzlichkeit des Chorals am wenigsten schade und ganz aus den melodischen Gesetzen des Chorals heraus entwickelt sei.9 Unter den melodischen Gesetzmäßigkeiten des Chorals verstand Niedermeyer vor allem deren modale Natur und hier speziell das Fehlen leiterfremder Alterationen und von Leittönen. Auch hier wird deutlich, dass Niedermeyers Auffassung vom Choral primär als Gegenentwurf zur herrschenden Praxis der Choralbegleitung zu verstehen ist. Obwohl Niedermeyer durchaus ein tiefgehendes Verständnis für den strukturellen Aufbau des Chorals zeigt, indem er z. B. im Gegensatz zu der zeitüblichen Nivellierung von authentischen und plagalen Modi auf dieser Unterscheidung beharrt, ist für ihn doch die fehlende Leittönigkeit und Chromatik das entscheidende Merkmal, aus dem sich auch die Begleitung ableitet. Diese Schwerpunktsetzung ist aus der Erfahrung der gängigen Choralbegleitung heraus zu verstehen, die die Choralmelodien eben gerade mit den Mitteln der romantischen Musiksprache harmonisierte. Niedermeyers System ist damit ein „anti-romantisches“ System, das zum Programm hat, jeden Anklang an die Funktionsharmonik bewusst zu vermeiden. Dies wird besonders deutlich in den sechs Regeln für die Choralbegleitung, die die Grundlage des Traité bilden: 1. « L’emploi exclusif, dans chaque mode, des sons de l’échelle. » 2. « L’emploi fréquent dans chaque mode des accords déterminés par la finale et la dominante. » 3. « L’emploi exclusif des formules harmoniques qui conviennent aux cadences de chaque mode. » 4. « Tout accord, autre que l’accord parfait et son premier renversement dérivé, devra être exclu de l’accompagnement du plain-chant. » 5. « Les lois qui régissent la mélodie du plain-chant doivent être observées dans chacune des parties dont se compose son accompagnement. » 6. « Le plain-chant étant essentiellement une mélodie doit toujours être placé à la partie supérieure. »10
Alle diese Regeln sind gezielt gegen einzelne Merkmale der zeitgenössischen Begleitungspraxis gerichtet, die nach Niedermeyer dem Wesen des Chorals nicht 9
« Quelles que fussent mes répugnances à admettre un système quelconque d’harmonie ou d’accompagnement appliqué au plain-chant, je me dis qu’entre le système qui mettait le moins en péril la tonalité grégorienne et le débordement complet de l’art mondain dans l’église, il n’y avait pas à hésiter ; … Ce fut lorsque M. Niedermeyer m’eut demontré que non seulement le plain-chant était susceptible d’une belle harmonie, mais encore que cette harmonie n’était que le développement naturel des lois mélodiques du plain-chant lui-même »; Louis Niedermeyer, Joseph d’Ortigue: Traité théorique et pratique de l’accompagnement du plain-chant, Paris 1857, S. 7, 9. 10 Ebda., S. 31–34.
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gerecht werden.11 Die erste Regel, aus der sich als Hauptregel das gesamte System ableitet, gebietet die ausschließliche Verwendung der leitereigenen Töne der Modi. Implizit ist damit das Verbot von Leittönen und Alterationen auch in der Begleitung verbunden. Regel 5 ist im Grunde eine weitere Ausfaltung dieses umfassenden Prinzips. Die sechste Regel richtet sich gegen die in Frankreich übliche Praxis, den Choral in den Bass oder in eine der Mittelstimmen zu legen. Dies widerspricht Niedermeyers Grundregel, dass der Choralmelodie der Primat einzuräumen sei und ihr sich die Begleitung dienend unterzuordnen habe. Auch Regel 2 leitet sich aus der wichtigen Rolle, die den melodischen Gesetzmäßigkeiten des Chorals eingeräumt wird, ab: So wie die Choralmelodik von den strukturellen Pfeilern der Finalis und der Repercussa gestützt wird, so sollen auch in der Begleitung die Akkorde dieser Stufen gebührend berücksichtigt werden. Die Regeln 3 und 4 sind nun besonders deutlich gegen die Anwendung funktionaler Harmonik bei der Choralbegleitung gerichtet. Die dritte Regel verlangt Kadenzwendungen, die nur aus dem Tonmaterial der jeweiligen Modi gebildet sind, was konkret wieder die Vermeidung von tonalen Kadenzmodellen mit Leittönen, der tonal festigenden Stufenfolge IV-V-I sowie von Septakkorden, die die tonale Dominant-Tonika-Spannung verstärken, bedeutet. Letztere verbietet nochmals ausdrücklich Regel 4, die das für die Choralbegleitung zur Verfügung stehende Akkordrepertoire auf Dreiklänge in Grundstellung und Sextakkorde beschränkt. Der Grund für diese Beschränkung ist zunächst in dem generellen Gebot zu suchen, dass die Begleitung möglichst einfach und schlicht wirken und vom Choral nicht ablenken soll. Die tiefere Motivation liegt darin, dass vor allem der Septakkord und seine Umkehrungen von der Choralbegleitung ausgeschlossen werden sollen. Die fast allergisch zu nennende Reaktion Niedermeyers auf den Septakkord begründet sich damit, dass dieser mit der stimmführungstechnisch gebundenen Terz und Septime gleich doppelt als der Repräsentant funktionaler Harmonik erscheint. Als klingendes Signum tonaler Kadenzbildung ist er sowohl unauslöschlich mit der als inadäquat empfundenen romantischen Musiksprache verbunden, wie er die Gefahr in sich birgt, die modale Einheit des Chorals durch Modulationen zu sprengen. Der Septakkord – und vor allem der Dominantseptakkord – wird damit zum Anfang vom Ende des Chorals. Dass den Stein des Anstoßes wirklich der Leitton bzw. die Septime bilden, erhellt aus Niedermeyers Diskussion des verminderten Dreiklangs der siebten Stufe: Während dieser wegen seiner verminderten Quinte und wohl auch weil er dem Septakkord nahe steht nicht zulässig ist, kann der Sextakkord der siebten Stufe sehr wohl eingesetzt werden, weil
11 « On semble oublier que c’est à sa tonalité propre que le plain-chant doit ce caractère grave et religieux qu’on lui fait perdre en l’associant à l’harmonie moderne. »; Brief von Hippolyte Fortoul, zitiert nach Galerne 1928, S. 32.
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bei ihm die Stimmführungsregeln und damit die direkten Anklänge an die Funktionsharmonik bei geeignetem Kontext aufgehoben sind.12 Die Abwehrhaltung gegen den Dominantseptakkord leitet sich aber noch aus einem weit tiefer gehenden Misstrauen her, das Niedermeyer in einem Kommentar zu Regel 4 äußert: Der Dominantseptakkord sei der Beginn der dramatischen Musik und des gefühlsmäßigen Ausdrucks in der Musik.13 Damit gibt Niedermeyer einem Unbehagen Ausdruck, das in den französischen Reformerkreisen immer wieder artikuliert wird: Die Weiterentwicklung der romantischen Harmonik mit ihrer zunehmenden Chromatisierung im Dienste gesteigerter Expressivität erscheint dem französischen Musikempfinden suspekt. Wiewohl dieser Vorbehalt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von der Mehrzahl der französischen Musikschaffenden geäußert wird, erscheint er zuerst und in vehementer Form im Umfeld der kirchenmusikalischen Reform. Niedermeyer selbst spricht davon, dass die Tonsprache durch die Chromatisierung verweiblicht worden sei.14 Wie der caecilianischen Bewegung, so erscheint auch ihm dies völlig unpassend für den Charakter wahrer Kirchenmusik, die ihren Ausdruck aus ihrer Aufgabe als dienende, gottesdienstliche Musik und nicht aus sich selbst heraus gewinnen soll. Die ihr stereotyp zugeschriebenen Eigenschaften von Erhabenheit und Größe ließen eine gewisse Ruhe, Ausdrucks- und Leidenschaftslosigkeit als erstrebenswerte Tugenden erscheinen.15 Obwohl Niedermeyer seine Choralharmonik „ex negativo“ exklusiv für die Kirchenmusik verstanden wissen wollte, um sie von der übrigen Musik abzusetzen und abzuschotten, wurden seine Anregungen auch außerhalb des engeren Zirkels geistlicher Musik aufgegriffen. Camille Saint-Saëns betont hierzu, dass Niedermeyer der harmonischen Entwicklung neue Wege eröffnet hätte, indem er die tonale Harmonik in eine modale umformte.16 Auch schreibt er Niedermeyer das Verdienst zu, die zeitgenössischen Komponisten zur Beschäftigung mit den Modi angeregt zu haben und bezeichnet ihn deshalb als Haupt der neueren französischen Schule.17 Saint-Saëns’ Formulierung des « plier l’harmonie moderne » in 12 Ebda., S. 37, 91. 13 « L’accord de septième de dominante, qui appartient exclusivement à l’harmonie moderne, et dont l’introduction dans l’art a signalé la naissance de la musique dramatique et de l’expression passionnée, doit être rigoureusement proscrit, ainsi que ses dérivés. »; ebda., S. 33. 14 « Il importe, … de se tenir en garde contre cette sorte d’amollissement auquel la tonalité moderne n’a que trop disposé notre oreille. Cette tonalité par le mélange du chromatique et du diatonique, a introduit dans la musique, l’élément efféminé »; ebda., S. 65. 15 « La tonalité grégorienne triomphera, nous l’espérons bien ; elle triomphera dans le sanctuaire, son véritable domaine »; ebda., S. 89. 16 « Niedermeyer imagina de faire le contraire, de plier l’Harmonie moderne à la forme des Modes antiques ; conception féconde autant que hardie, conservant au Plain-chant son caractère en ouvrant à l’Harmonie des voies nouvelles. »; Camille Saint-Saëns: « Introduction » zu: [Louis-Alfred Niedermeyer], Vie d’un compositeur moderne (1802–1861), Paris 1893, S. x. 17 « Ce retour contemporain aux modes du plain-chant, tant au Concert qu’à l’Eglise, est dû … à Niedermeyer. C’est à son Ecole, que j’ai appris à écrire entièrement et beaucoup à penser, Saint-Saens, Gabriel Fauré, Boellmann, Messager, etc., dont les œuvres sont pleines de ces
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diesem Zusammenhang verdient nähere Beachtung: Aus ihr erhellt, dass Niedermeyer nicht voraussetzungslos ein neues System entwarf, sondern von der romantischen Harmonik ausgehend zu einem Gegenentwurf gelangte. Nach der Meinung von Niedermeyer und auch von d’Ortigue hat die Entwicklung der tonalen Harmonik die ursprüngliche modale Harmonik schleichend verdorben. In ihrer nun einsetzenden Phase ist sie dabei, durch übertriebene Ausdruckssucht das tonale System schließlich ganz zu zersetzen. Die Gefahr, die in Frankreich in Bezug auf die chromatisierte Harmonik gewittert wurde, bezog sich vor allem auf die Auflösung der Tonalität. Die Unsicherheit und mangelnde Klarheit, die die Mehrdeutigkeit alterierter Akkorde mit sich brachte, bereitete einen schwankenden Boden, der einem instinktiven Bedürfnis nach tonaler Festigkeit in Frankreich widersprach. Roland-Manuel erklärt die harmonische Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich als Gegenreaktion auf diese Bedrohung. Sie manifestiert sich klanglich im Phänomen des verminderten Septakkordes und wird personifiziert mit Richard Wagner, als dem Repräsentanten deutscher Musik schlechthin. Ganz direkt spricht Manuel vom fatalen « rêve germanique », der in seiner Suche nach übersteigerten Ausdrucksmöglichkeiten mit der übertriebenen Anwendung des verminderten Septakkordes ein tödliches Gift für die Tonalität bereitet habe.18 Manuels Wortwahl ist bezeichnend: Das feste Gebäude, das die tonale, in sich geschlossene Musik darstellt, wird durch die Musik Wagners erschüttert und durch die Instabilität, die sie mit sich bringt, schließlich zum Einsturz gebracht.19 Den Zeitpunkt des Todesstoßes sieht Manuel in Wagners Tristan gekommen, mit seiner überreizten Harmonik, dem in alle Richtungen deutbaren Tristanakkord und der Tendenz, aus jeder Note einen Leitton zu machen.20 Die Sprengkraft des verminderten Septakkordes ist freilich keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, sondern lässt sich seit dem frühen 18. Jahrhundert nachweisen. Immer wieder erscheint dieser Akkord programmatisch in der Konnotation von Auflösung, Zerstörung und Unordnung: Sei es im Prolog Le Cahos zu JeanFerry Rebels Suite Les Eléments, in Händels Ode for St. Cecilia’s day, wenn der tournures mélodiques et harmoniques, de ces enchaînements d’accords prohibés par les traités de Reber, Bazin, Durand et tutti quanti. … Niedermeyer, le chef incontesté de toute la musique française moderne. »; zitiert nach Galerne 1928, S. 27. 18 « Dès les premières mesures du fameux prélude de Tristan et Isolde, de Richard Wagner, ce même accord se transporte de tierce en tierce, négligeant, sous la vive pression des appoggiatures, qui l’accablent, son office de gardien de la tonalité. »; Roland-Manuel: „L’Evolution de l’harmonie en France et le renouveau de 1880“, in: Roland-Manuel (Hg.): Histoire de la musique II, [Paris] 1963, S. 869. 19 « De leur côté, les agrégats de septième diminuée et de septième de sensible seront les interprètes désignés de l’éternel devenir – images sonores du rêve germanique. … ils vont concourir ensemble ou séparément à ruiner l’édifice. L’accord de septième diminuée, en particulier, … introduit dans l’harmonie allemande, de Weber à Wagner, ce climat d’instabilité, où s’exaltent et se multiplient les tensions ambiguës, où le sens tonal s’égare et bientôt s’amortit. »; ebda., S. 870. 20 « Alors que le chromatisme exacerbé de Tristan tendait à faire de chaque note une sensible, au péril imminent d’exténuer le sens tonal … »; ebda., S. 876.
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misstönende Klang der ungeordneten Elemente der Natur vor dem von himmlischer Harmonie erfüllten Schöpfungsakt geschildert wird oder in der Einleitung zu Haydns Schöpfung bei der Vorstellung des Chaos. Ebenso bleibt die negative Beurteilung der Wirkung des verminderten Septakkordes nicht auf Frankreich beschränkt. Paul Hindemith schreibt dem TristanAkkord die Beseitigung der Herrschaft der Dur-Moll-Tonalität zu und bezeichnet ihn als giftiges Serum, das Zersetzung, Regellosigkeit und Anarchie bewirke.21 Ganz im Sinne des französischen Empfindens, wenn auch angesichts der potenzierten Gefahr von Schönbergs Atonalität, bekennt er sich als Anwalt der Tonalität.22 Schönberg selbst zählt den verminderten Septakkord zu den von ihm so bezeichneten „vagierenden“ Akkorden, die keiner Tonart ausschließlich angehören und in vielfältige Richtungen deutbar sind.23 An anderer Stelle spricht ihm Schönberg die historische Konnotation zu, der „ausdrucksvolle“ Akkord zu sein. Tiefe, heftige und innere Gefühle würden durch ihn mitgeteilt.24 Diese Fähigkeit des verminderten Septakkords wie sie Schönberg beschreibt, höchste Erregung auszudrücken und in die Musik selbst hineinzutragen sowie die innersten Gefühle nach außen zu kehren, ist es, die bei den französischen Musikern große Bewunderung und tiefsten Schrecken zugleich auslöst. Die janusköpfige Natur dieses Akkords, die die tonale Musik sich zu ihrer höchsten Ausdruckskraft aufbäumen lässt, um sie dabei gleichzeitig zu zerstören, polarisiert auch das musikalische Frankreich im 19. Jahrhundert. Der Eindruck von Wagners Musik ist so groß, dass ihr eine ganze Komponistengeneration bis zur Aufgabe der eigenen Identität verfällt. Andere wiederum werden angesichts dieses Prozesses nicht müde, vor der Überfremdung durch Wagner zu warnen und zu einer neuen nationalen Identitätssuche aufzurufen. Charles Baudelaire, einer derer, die sich dem Sog von Wagners Musik nicht entziehen können, durchschaut aber selbst im Rausch ihre Wirkungsmechanismen: Sie ist derart mit Ausdruckskraft aufgeladen, dass sie dem Hörer auf geradezu aufdringliche und despotische Weise entgegen tritt. Sie duldet keine halbherzige Zuwendung, sondern fordert ein letztendlich willenloses Sich-Hingeben, das an die verführerischen Träume des Opium-Genusses erinnert.25 Die Kraft von 21 „Die Entthronung geschieht im vergangenen Jahrhundert. In Wagners Tristan ist die Herrschaft des Dur und Moll beseitigt. … Die Musik reagiert darauf wie ein Körper, der ein fremdes Serum zuerst als Gift ausscheiden will … Wir erleben … das Eindringen kleiner und kleinster Chromatik in Linie und Zusammenklang, die Zersetzung aller Elemente, Plan- und Regellosigkeit, zuletzt die Anarchie.“; Paul Hindemith: Unterweisung im Tonsatz, Mainz 1937, S. 65. 22 Ebda., S. 175. 23 Arnold Schönberg: Harmonielehre, Wien 1922, 19492, S. 233, 461. 24 „Aber auch noch eine andere Bedeutung wurde in ihm erkannt: er war der „ausdrucksvolle“ Akkord dieser Zeit. Wo es sich um den Ausdruck des Schmerzes, der Erregung, des Zornes oder sonst eines heftigen Gefühls handelt, dort findet man fast ausschließlich ihn. So ist es bei Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Weber usw. Noch in Wagners ersten Werken spielt er diese Rolle.“; ebda., S. 287. 25 « Il semble parfois, en écoutant cette musique ardente et despotique, qu’on retrouve peintes sur le fond des ténèbres, déchiré par la rêverie, les vertigineuses conceptions de l’opium.
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Wagners Musik liegt in ihrer aufs Äußerste gesteigerten Subjektivität, die die innersten Gefühlsregungen ihrer Protagonisten ungeschützt zur Darstellung bringt. Dass die französische Ablehnung dieser Haltung tiefe Wurzeln hat, die bereits im 17. und 18. Jahrhundert greifbar werden, darauf hat Jules Ecorcheville 1906 in seinem Abriss der musikästhetischen Diskussion jener Jahrhunderte in Frankreich hingewiesen.26 Aus den von ihm untersuchten Traktaten und Schriften geht hervor, dass die französische Musikästhetik im speziellen und die französische Kunstästhetik im Allgemeinen von einem „rationalen“ Kunstbegriff ausgeht. Als Imitation der Natur bringt die Kunst ein als objektiv vorgestelltes Abbild der Natur hervor, gleichsam ein abstrahiertes Kondensat, das wegen seiner Objektivität auch allen Menschen vernünftig und zugänglich erscheint, ja erscheinen muss, da die Kunst nur jenes Abbild der Natur erweckt, das jedem Menschen von Anfang an eingesenkt ist.27 Letztlich ist es die Aufgabe des Künstlers, die unveränderbaren Muster der Weltharmonie, die sich hinter der irritierenden Vielzahl der individuellen Erscheinungen wie hinter einem Schleier verbergen, zu entdecken und damit eine überindividuelle Sprache zu finden, die die kosmische verbindende Universalität auch dem Menschen zugänglich macht. Das platonische und, darauf aufbauend, mittelalterliche Ideengut ist in diesen Denkmodellen offensichtlich. Das Individuelle und Subjektive wird darin zu einem eher störenden Faktor, zu einer verdunkelnden Nachwirkung der Erbsünde, die den Menschen von seiner direkten Anschauung der ewigen Wahrheiten ausgeschlossen hat und ihn nun in seiner Sinnenwelt gefangen hält.28 Daher rührt ein tiefes Misstrauen der französischen Künstler vor dem Subjektiven, Unberechenbaren, auch dem Intuitiven her und ihre immer wieder artikulierte und als national empfundene Vorliebe für die Klarheit, die Einfachheit, das Messbare und zeremoniell Regelhafte. Im 19. Jahrhundert und vor allem im Phänomen Wagners kommt es nun zu einer geschichtlich so noch nie da gewesenen Zuspitzung der Konfrontation mit der entgegengesetzten subjektiven Kunstauffassung.29
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…Cette musique-là exprime avec la voix la plus suave ou la plus stridente tout ce qu’il y a de plus caché dans le cœur de l’homme »; Charles Baudelaire: Richard Wagner et Tannhäuser à Paris, Robert Kopp (Hg.), Paris 1994, S. 15, 54. Jules Ecorcheville: De Lulli à Rameau. 1630–1730. L’esthétique musicale, Paris 1906. Ebda., S. 3, 30. Ebda., S. 9. « La conception objective qui brille alors de tout son éclat, n’a point disparu de notre domaine artistique. Bien au contraire. Tous ceux qui ont suivi les luttes du wagnérisme, ou les débats de la critique musicale dans ces dernières années, savent que toutes ces discussions ont eu pour principe un même antagonisme entre l’art subjectif et l’art objectif. A propos de Tristan comme à propos des sonates de Vivaldi, qu’il s’agisse de Rameau ou de Debussy, nous retrouvons toujours en présence les mêmes adversaires, sinon les mêmes raisons : d’un côté les partisans de l’intuition qui se cherche et du rêve imprécis, de l’autre côté les admirateurs de la forme, avides de projeter et le localiser leurs sentiments parmi les représentations extérieurs. … Grâce à l’intrusion violente, irrésistible, de la musique allemande au XIXe siècle, les intuitifs ont conquis le droit de défendre ouvertement leur cause contre l’intransigeance des « scientistes »; ebda., S. 158.
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Diese plakative Emotionalität, die mit einer diffusen und vielfältig deutbaren Musiksprache einhergeht, wird von den Anwälten eines eigenen, spezifischen französischen Weges als Widerspruch zu eben jenen als typisch französisch empfundenen Eigenschaften der Einfachheit und der Klarheit gesehen. Auf dem Hintergrund des deutsch-französischen Krieges von 1871 verschärfen sich diese musikalischen Wesensunterschiede zu einem politisch aufgeladenen Konflikt zwischen angeblich französischen Tugenden und „germanischen“ Untugenden. Ganz unverhohlen ruft F. de Lagenais in einem Resumé über die Entwicklung der französischen Musik dazu auf, sich auf die nationalen Tugenden der Einfachheit und Ernsthaftigkeit neu zu besinnen.30 Nur so könnten neue, genuin französische Werke geschaffen werden und der alles überwuchernde „Germanismus“ überwunden werden. Die Voraussetzung hierfür ist die Rückbesinnung auf die große Tradition französischer Musik, die nicht in der verwässerten und verdorbenen Musik der opéra comique, sondern bei den alten Meistern zu finden ist.31 Dieser reiche Schatz sei unter den gegenwärtigen Umständen völlig in Vergessenheit geraten und müsse jetzt wieder neu entdeckt werden. Es gelte, der Musik wieder die „nationale Physiognomie des Landes“ einzuprägen.32 Auf ganz ähnliche Weise sieht Constant Zakone die französische Musik durch den korrumpierenden Einfluss des italienischen Musiktheaters bedroht. Auch hier ist es wieder die übertriebene Emphase und das tändelnd Triviale, das als „unfranzösisch“ empfunden wird. Die Rückbesinnung auf die vorbildhaften Werke eines Jean-Philippe Rameau beispielsweise und ihre Wiederaufführung in Versailles könnten dort ein französisches „Bayreuth“ entstehen lassen, der jungen Komponistengeneration die wahren Quellen französischer Musik erschließen und den Weg in die Zukunft weisen.33 30 Vgl. hierzu Jürg Stenzl: „ ‚Verspätete’ Musikwissenschaft in Frankreich und Italien? Musikforschung im Spannungsfeld von Nationalismus, Reaktion und Moderne“, in: Anselm Gerhard (Hg.): Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglaube und Modernitätsverweigerung, Stuttgart 2000, S. 302. 31 „Seien wir einfach, seien wir ernst“; „Gegenwärtig ist der Raum frei für Werke der französischen Nationalität. … Stellen wir uns auf den nationalen Standpunkt und fragen wir, was für eine Wirkung die schönen Sachen, welche die Herren Thomas, Gounod, Reber geschrieben haben mögen, jemals auf uns hervorgebracht haben? Häufig angenehme Eindrücke … aber nie solche auf unseren moralischen Zustand“; F. de Lagenais: „Die französische Musik – ein Wort über ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Betrachtungen über das Nationale in der Musik vom französischen Standpunkte aus“, übersetzt von L. v. St., in: AMZ 1872 (42), Sp. 669/679, AMZ 1872 (45), Sp. 713. 32 „Wir sind in der That sehr tief gesunken, indem wir Alles, Gesundheit, Reichthümer, ja selbst die Schätze des Stils, den die früheren Generationen wie ein nationales Gut uns vermacht haben, verschleuderten. … Gerade in diesen kritischen Zeiten ziemt es sich, gewisse Muster aufzusuchen und sie zu studieren. … Uns von dem überwuchernden Germanismus loszumachen, französisch zu fühlen, denken, schreiben, unserem Stile die nationale Physiognomie des Landes einzuprägen, dem wir durch Geburt und Erziehung angehören, ist schon jetzt ein löbliches Ziel … Wir wiederholen es zum letzten Male: möge die Idee von Frankreich in allen unserem Thun vorwalten.“; ebda., 716/717. 33 « Combien cela est plus près de nous que les platitudes emphatiques, les bouffonneries triviales et les pauvres harmonies auxquelles nous condamna plus tard un théâtre corrompu au
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Die barocken Meister wie Rameau sind aber wiederum nur die Hüter jener älteren französischen Tradition modaler Musik, die allen Verfremdungen durch die moderne Harmonik zum Trotz in der Liturgie und in der Volksmusik überdauert haben. Sie beide bilden den wertvollsten Schatz nationalen Eigengutes.34 In der Tat gleichen sich die Bemühungen um die Wiedergewinnung der Volksmusik und der liturgischen Musik in Frankreich im 19. Jahrhundert. Außerhalb der unmittelbar auf den Choral ausgerichteten Forschung in Solesmes dehnt sich die « archéologie musicale » auch auf die Volksmusik Frankreichs aus. Die Beweggründe für die Herausgabe von Sammelwerken mit Volksweisen werden dadurch motiviert, dass in ihnen, wie im Choral, jene älteren, jetzt überdeckten positiven Eigenschaften, wie freie Rhythmik und Abwesenheit von Leittönen, zu finden sind, die der zeitgenössischen Musik neue Impulse geben können.35 Diese Impulse, die dem kollektiven musikalischen Gedächtnis Frankreichs entnommen sind, bereichern und erneuern die überkommene Dur-Moll-Tonalität auf ihre Weise und bilden damit eine Alternative zum deutschen Weg harmonischer Entwicklung im 19. Jahrhundert.36 Wiewohl Niedermeyer auf diesem Hintergrund einer allgemeinen Rückkehr zu den ältesten Wurzeln französischer Musik zu sehen ist, beschränkte er seine Bemühungen – wie bereits erwähnt – ganz auf die Choralbegleitung. Sie wurde erst zum Problem, als, ebenso wie in der allgemeinen musikgeschichtlichen Entwicklung, mit Beginn des 19. Jahrhunderts das Vertrauen in den selbstverständlicontact d’une Italie dégradée! …Ne pourrait-on rêver une sorte de théâtre rétrospectif … au parc de Versailles, par exemple ? Et ne serait-ce pas là, dans la vraie acception du terme, le Bayreuth français … ? … Ainsi la musique française retrouverait ses titres de noblesse ; notre école moderne gagnerait, à se retremper à ses véritables sources, plus de courage et d’énergie pour soutenir sa lutte contre les tentations mauvaises ou l’hostilité des faux amis de la tradition; et le passé, mieux connu, éclairerait la route de l’avenir, en montrant à tous quelle fut toujours la vraie grandeur de notre musique nationale »; Constant Zakone: „J.-Ph. Rameau. Au théâtre (Schola Cantorum)“, in: La Revue Musicale 3 (1903), S. 308/309. 34 « Les Français, toujours épris de voyages immobiles, se rafraîchissent aux sources jumelles de leur terroir et de leur liturgie. … Les modes de notre musique populaire se confondent avec les modes du plain-chant … ils n’en continueront pas moins de vivre dans la mémoire paysanne, et ne cesseront d’alimenter la curiosité des savants. »; Roland-Manuel 1963, S. 871. 35 « Nous nous bornerons à dire que beaucoup d’anciens airs diffèrent des airs modernes, non seulement par l’absence d’une mesure et d’un rythme bien déterminé, mais par deux circonstances caractéristiques: la première, que l’air peut finir autrement que sur la tonique, la deuxième que l’air peut n’avoir point de note sensible ; … Ces deux circonstances … peuvent s’exprimer d’une manière simple et pratique, en disant qu’elles font ressembler la cantilène à un air de plain-chant. »; Aufruf eines 1852 eingesetzten Komitees zur Sammlung von Volksmusik, zitiert nach Henri Gonnard: La musique modale en France de Berlioz à Debussy, Paris 2000, S. 16/17. 36 « La tonalité qui a fondé l’harmonie moderne agonise. C’en est fait de l’exclusivisme des deux modes majeur et mineur. Les modes antiques rentrent en scène … Tout cela fournira de nouveaux éléments à la mélodie epuisée qui recommencera une nouvelle jeunesse, bien autrement féconde ; … De tout cela sortira un art nouveau. »; Camille Saint-Saëns: „Causerie musicale“, in: La nouvelle Revue I (Novembre 1879), S. 643.
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chen Traditionszusammenhang verloren ging. Wie mit dem ersten Eintauchen des Gregorianischen Chorals in die Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert gleichzeitig Zeugnisse für seine klangliche organale Fassung überliefert sind und damit von einer „Choralbearbeitung“ im weitesten Sinne gesprochen werden kann, so bleibt diese Symbiose von Choral und Choralbearbeitung der Katalysator für den größten Teil der abendländischen Musikgeschichte. Ganz selbstverständlich verändert sich dabei die Art der Begleitung mit der Entwicklung des musikalischen Stils über die Jahrhunderte, was wiederum auf den Choralvortrag zurückwirkt. Dies zeigt sich ganz plakativ mit dem Aufkommen des generalbassbegleiteten Choralvortrags im 17. und 18. Jahrhundert.37 Ebenso selbstverständlich und unreflektiert stattet das 19. Jahrhundert die Choralbegleitung mit den Elementen der romantischen Harmonik aus. Alterationen der Choralmelodien an Kadenzstellen und dissonanzenreiche Akkorde sind üblich. In Frankreich ist die unauflösliche Bindung des Chorals an die Orgelbegleitung und damit der Einfluss der Begleitharmonik auf die Gestalt des Chorals durch die jahrhundertelange Tradition der Alternatimpraxis etabliert und sanktioniert. Im deutschen Sprachbereich wirkt nach der im Zuge der Aufklärung erfolgten weitgehenden Verbannung des Chorals aus der Liturgie bei seiner Wiedereinführung die Praxis der Begleitung des volkssprachlichen Kirchenliedes nach. Grundsätzlich stellt sich dabei das Problem, wie die modale Natur der Choralmelodien mit dem Dur-Moll-tonalen System zu vereinbaren ist. Diese Frage wird zeitlich und geographisch je anders beantwortet; mehrheitlich wird jedoch der Choral der tonalen Harmonik für den Preis der Alteration der Choralmelodien selbst untergeordnet. Mit Beginn der restaurativen Bestrebungen im 19. Jahrhundert wird diese selbstverständlich geübte Praxis in Frage gestellt und es entsteht eine heftig geführte und lang andauernde Auseinandersetzung über die richtige Art, den Choral zu begleiten. Dabei ergeben sich verschiedenste Einzellösungen, die die Frage nach der Veränderung der Choralmelodien, vor allem nach der Einführung der Diesis, und nach der Verwendung von nicht leitereigenen Tönen in der Begleitung in je eigenen Schattierungen beantworten. Während so in München und Regensburg mit dem Einsetzen der caecilianischen Bewegung bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wiedereinsetzung des Chorals in die Liturgie und seine adäquate Begleitung gefordert werden, bleibt z. B. die Choralpraxis der Diözese Rottenburg zur gleichen Zeit noch ganz der althergebrachten Praxis verhaftet. Wie das 1855 erschienene Cantionale Chori von Franz Xaver Reihing38, das die Begleitpraxis der süddeutschen Diözese widerspiegelt, deutlich macht, entstammen die Choralmelodien einem stark modifizierten Reformchoral, den Reihing durch Anpassung an die Harmonik des 19. Jahrhunderts selbst noch weiteren Eingriffen unterzieht. Die Adaption an
37 Leo Söhner: Die Geschichte der Begleitung des gregorianischen Chorals in Deutschland vornehmlich im 18. Jahrhundert, Augsburg 1931. 38 Franz Xaver Reihing: Cantionale Chori oder Gregorianische Kirchen-Gesänge zum Amte der heiligen Messe und allen damit in Verbindung stehenden Festlichkeiten des ganzen Kirchenjahres. Harmonisch für die Orgel bearbeitet von Franz Xaver Reihing Pfarrer, Gmünd 1855.
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die tonale Harmonik folgt dem traditionellen Vorgehen, mit den üblich notwendigen Modifikationen beim dritten und vierten Ton.39 Als Gegenposition hierzu erscheint fast zeitgleich das Enchiridion chorale von Johann Georg Mettenleiter.40 Als exponierter Vertreter der Regensburger Reformbewegung entwickelt er als einer der ersten eine ganz neue Haltung zur Choralbegleitung, die die herkömmliche tonale Begleitungspraxis ablehnt und im Zuge der Palestrina-Renaissance nach neuen, dem Wesen des Chorals besser entsprechenden Verfahren sucht. Solche Vorbilder sind in den Werken der alten Meister zu finden, aus deren Studium sich die „Grundtypen kirchlicher Harmonik“ ableiten lassen. Diese bestehen zum einen aus der Verwendung von „nur diatonischen Dreiklängen nach den Gesetzen der alten Tonarten“, zum anderen aus der ausschließlichen Abfolge von „diatonischem Dreiklange und dessen erster Umkehrung“.41 Wie neuartig und umstritten diese Position Mettenleiters um 1850 in Deutschland noch war, zeigen die vehemente Ablehnung durch Reihing sowie ein anonymes Spottgedicht, das Mettenleiter vorwirft, seine Methode zeitige nur ein „Aneinanderstoppeln von Akkorden, denen jeder Zusammenhang, jedes innere Verwandtsein fehlt, die nur in der Sucht existieren, recht absonderlich und ungeheuerlich zu klingen.“42 Die Kritik verweist auf den Kern der neuen Begleitungsmethode: Durch die Beschränkung auf rein diatonische Dreiklänge und den Verzicht auf Spannungsakkorde fehlt der Choralbegleitung Mettenleiters der geschmeidige Übergang von einem Akkord zum nächsten sowie die von der tonalen Syntax her gewohnte und erwartete Folgerichtigkeit. In den Ohren der Anhänger tonaler Begleitharmonik musste dies wirklich „absonderlich“ klingen. Für die Verfechter der diatonischen, modalen Begleitung dagegen wurde gerade diese, wohl auch bewusst gepflegte klangliche Besonderheit zum klingenden Markenzeichen einer sich von der weltlichen Praxis absetzenden kirchlichen Musik, die beide durch eine „unübersteigliche Scheidewand“ getrennt sein sollten.43 Solche Vorstellungen stehen auch im Hintergrund von Niedermeyers und d’Ortigues wenig später erschienenem Traité. Dies zeigt schon die Verwandtschaft der Regeln 1 und 4 in Niedermeyers Schrift mit Mettenleiters Forderun-
39 Hierzu Sabine Weckerle: Franz Xaver Reihings „Cantionale Chori“ – Zur Wiedereinführung des Gregorianischen Chorals in die Kirchenmusikpraxis der Diözese Rottenburg, Magisterarbeit masch. Tübingen 1997. 40 Johann Georg Mettenleiter: Enchiridion chorale, Sectio I–IV, Regensburg 1854–1859. 41 Ebda., Sectio I, XXXXVII, zitiert nach: Wagener 1964, S. 87. 42 Zitiert nach ebda., S. 90. 43 „Zwischen der Musik außer der Kirche und zwischen dem liturgischen Gesange besteht und muß bestehen eine unübersteigliche Scheidewand, wie zwischen Himmel und Erde, wie zwischen einem weltlichen, wenn auch sehr frugalen Gastmahle und dem heiligen Abendmahle. Diese Scheidewand aber fällt, in melodischer Hinsicht, mit der Diesis, in harmonischer Beziehung, mit der nicht streng leitereigenen Orgelbegleitung zusammen.“; Ludwig Schneider: Gregorianische Choralgesänge für die Hauptfeste des Kirchenjahres, Frankfurt/M. 1866, hg. v. F. J. Mayer und E. Schneider, Vorwort, zitiert nach Wagener 1964, S. 97.
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gen.44 Und auch die Kritik ist dieselbe: Hector Berlioz wirft dem 1861 von d’Ortigue verfassten Werk La musique à l’église vor, zu behaupten, „es könne keine wirkliche Kirchenmusik außerhalb der Kirchentonarten geben“. Ebenso bemängelt er „die Einfachheit, das Undeutliche, die unbestimmte Tonart, das Unpersönliche, die Ausdruckslosigkeit“ im System von d’Ortigue und damit von Niedermeyer.45 Die Kritikpunkte von Berlioz sind gerade die neuen Tugenden, die Niedermeyer zur Grundlage seiner École machte: Die Zurücknahme von als unpassend empfundener Expressivität wird durch die Negation der Haupteigenschaften tonaler Harmonik erreicht. Klanglich wird dies an einer Gegenüberstellung eines Beispiels aus Niedermeyers Antiphonaire und aus einem Vesperale von Reihing deutlich:
Louis Niedermeyer: Accompagnement pour Orgue des principaux offices selon le rite Romain, seconde partie: Antiphonaire, Paris 1861, S. 5046
Franz Xaver Reihing: Vesperale, Tübingen 1858
Die Harmonisierung des Vexilla regis bei Niedermeyer setzt exemplarisch die Forderungen des Traité um: In den Begleitakkorden wurden nur die leitereigenen Töne des ersten Modus verwendet47, jede leittönige Wendung oder chromatische Alteration ist vermieden und es kommen ausschließlich Dreiklänge in Grundstel44 Auch von den späteren Verfechtern der diatonischen Begleitharmonik werden diese Punkte übernommen; vgl. Wagener 1964, S. 98/99. 45 Hector Berlioz: „Die Musik in der Kirche“ von Joseph d’Ortigue“, in: Hector Berlioz, Musikalische Streifzüge. Studien, Vergötterungen, Ausfälle und Kritiken, aus dem Französischen übertragen von Elln Ellès, Leipzig 1912, S. 223. 46 Niedermeyers Beispiel steht im auf E transponierten ersten Ton. 47 Die erniedrigte Sext wird im Dorischen bei Niedermeyer traditionell als leitereigen aufgefasst; s. Niedermeyer, d’Ortigue 1857, S. 27.
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lung zur Anwendung. Statt der üblichen Dominant-Tonika-Kadenz steht die in Niedermeyers System für den ersten Ton typische Folge VII-i, die den Leitton demonstrativ meidet.48 Jeder Anklang an die übliche tonale Harmonisierung ist somit bewusst umgangen und durch die blockartige Aneinanderreihung von teilweise ungewohnten Stufenfolgen wird die Hörerwartung gezielt getäuscht.49 Es entsteht damit jener „überweltliche Charakter“, den Ludwig Schneider der Choralbegleitung für angemessen hält.50 Gegenüber dieser Blässe im Ausdruck erscheint Reihings Harmonisierung mit ihrer Schärfung durch Leittöne und Septakkorde und ihrer tonalen Kadenz geradezu expressiv.
3.3 GABRIEL FAURE: REQUIEM OP. 48* Obwohl Niedermeyer seine Methode auf den kirchlichen Bereich eingeschränkt wissen wollte, liegt seine Bedeutung für die musikgeschichtliche Entwicklung in Frankreich gerade darin, mit seinen Überlegungen zur Erweiterung der musikalischen Sprache im Allgemeinen beigetragen zu haben. Dies wird exemplarisch deutlich am Werk Gabriel Faurés. Wiewohl dieser keinen Zweifel daran lässt, dass Niedermeyers intensiver Unterricht, besonders die Praxis der Choralbegleitung, von entscheidendem Einfluss auf ihn und seine Mitstudenten war51, finden sich doch unter den elf während seiner Zeit an der École entstandenen Kompositionen – in der Mehrheit Lieder – nur zwei geistliche Werke.52 Dieses Verhältnis spiegelt sich auch im Gesamtschaffen Faurés wieder: Der Hauptakzent liegt ein48 Vgl. hierzu Niedermeyer, d’Ortigue 1857, S. 40, 44, den Überblick über typische Fortschreitungen im ersten Ton bei James C. Kidd: Louis Niedermeyer’s system for Gregorian chant accompaniment as a compositional source for Gabriel Fauré, Phil. Diss. Chicago 1973, S. 334 und die zahlreichen Beispiele von Eugène Gigout im Anhang von Niedermeyers Traité (Nouvelle édition 1876). 49 « Certaines harmonies non seulement justifiées, mais indispensables dans l’accompagnement du plain-chant, devront d’abord nous choquer … »; Niederemeyer, d’Ortigue 1857, S. 65. « L’homme studieux y trouve souvent des harmonies neuves, hardies, des successions d’accords étranges … »; G. Schmitt über Niedermeyers Graduel und Antiphonaire, zitiert nach Louis-Alfred Niedermeyer 1867, S. 29. 50 Wagener 1964, S. 98. * Eine gekürzte Fassung zum Requiem erschien unter dem Titel „Das Mittelalter im 19. Jahrhundert in Frankreich. Gabriel Fauré und sein Requiem op. 48“, in: Musiktheorie 23 (2008), S. 141–159. 51 « La musique ? Nous en étions imprégnés, nous y vivions comme dans un bain, elle nous pénétrait par tous les pores … L’enseignement théorique et pratique comprenait l’harmonie, le contre-point, la composition, l’orchestration, l’accompagnement – particulièrement l’accompagnement du plain-chant »; Gabriel Fauré: „Souvenirs“, in: La Revue musicale 22 (Octobre 1922, numéro spécial consacré à Gabriel Fauré), S. 6/7. Zur Rolle von Niedermeyers Traité für Fauré vgl. auch Françoise Gervaise: „Etude comparée des langages harmoniques de Fauré et de Debussy“, in: La Revue musicale, no spéciaux 272/273 (1971), S. 24. 52 Klaus Strobel: Das Liedschaffen Gabriel Faurés (= Schriftenreihe zur Kulturwissenschaft Bd. 24), Hamburg 1999, S. 36.
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deutig auf Lied-Kompositionen, während geistliche Werke nur einen verschwindend kleinen Teil ausmachen und eigenständige Orgelwerke, trotz der Tatsache, dass Fauré den größten Teil seines Lebens Organistenstellen inne hatte, völlig fehlen. Fauré konnte sich den Zielen der kirchenmusikalischen Reformer mit ihrer ständigen Tendenz zu dogmatischer Abgrenzung und Verfestigung nicht bedingungslos anschließen. Eine speziell mit „geistlich“ oder „kirchlich“ zu etikettierende musikalische Sprache, die sich von anderer Musik prinzipiell unterschied, war ihm zutiefst suspekt.53 Für ihn bedeutete der Kontakt mit den großen Meistern des 16. und 17. Jahrhunderts und vor allem mit dem Gregorianischen Choral eine Quelle, aus der sich die dringend notwendige Erneuerung der Musik seiner Zeit speisen konnte.54 In dieser Dienstbarmachung der Wiederentdeckung älterer Musik für die zeitgenössische musikalische Sprache über den engeren Kreis geistlicher Komposition hinaus liegt das Spezifikum des französischen Verhältnisses zwischen Reformbewegung und Kompositionsgeschichte, und der Unterschied zur gleichzeitigen Situation in Deutschland. Dort erstarrt auf der einen Seite die caecilianische Bewegung in sklavischer Nachahmung eines idealisierten Palestrinastils, während auf der anderen – hiervon weitgehend unbeeindruckt – die Musiksprache unter dem Einfluss Wagners sich zu ständig gesteigerter Expressivität erweitert. In Frankreich wird diese Modifikation der tonalen Harmonik mit den Mitteln der Chromatisierung, die zu einer latenten Gefährdung der Tonalität und schließlich zu ihrer Aufhebung führen wird55, als nur ein Weg, und zudem als ein spezifisch deutscher, verstanden. Davon unberührt bleibt auch in Frankreich das Bewusstsein, dass die musikalische Sprache in der Mitte des 19. Jahrhunderts einer dringenden Erneuerung bedarf. Nur liegt die französische Alternative zur Chromatisierung in der Erweiterung der Sprachmöglichkeiten mit den Mitteln der Modalität. Die Komponisten, wie Fauré selbst, die sich gegen einen blind verstandenen „Wagnérisme“ wandten56, sahen in der modalen Musik ein reiches Repertoire an Möglichkeiten, um die traditionelle tonale Harmonik zu erweitern und zu bereichern, ohne jedoch dabei das Tonalitätsprinzip aufzugeben.57
53 « Quelle musique est religieuse ? Quelle musique ne l’est pas ? Essayer de résoudre la question est bien hasardeux … »; Fauré 1922, S. 5. 54 « Peut-être étonnerais-je si je disais combien peut s’enrichir une nature musicale au contact fréquent des maîtres des XVIe et XVIIe siècles et quelles ressources peuvent même naître de l’étude et de la pratique du chant grégorien. Oserait-on affirmer que telles lignes mélodiques, telles trouvailles harmoniques d’apparition récente n’ont point leurs racines dans un passé dont nous croyons si éloignés et si dégagés ? »; ebda., S. 7. 55 Vgl. Carl Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen, Velber 1971, S. 66. 56 « Le „wagnérisme“ était en train de produire ses premiers effets … J’avais été, comme tout le monde, vivement impressioné par les ouvrages du compositeur allemand, mais pas au point d’en perdre la tête, et je ne me ralliais pas à la mystique nouvelle! »; Gabriel Fauré: „Fauré et le théâtre“, in: La Revue musicale 18 (Juni 1922), S. 280. 57 Roland-Manuel spricht in diesem Zusammenhang von einer « tonalité savoureusement élargie » und ihrer « aisance nouvelle »; Roland-Manuel 1963, S. 873, 877.
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Dies führt zu einer Tonsprache, die, wie bei Fauré, zwischen Tonalität und Modalität changiert und sich nicht auf die Kategorie „geistlich“ oder „weltlich“ festlegen lässt. Modale Einflüsse lassen sich sowohl in Faurés Liedern wie in seiner Kirchenmusik nachweisen, wobei letztere durchaus keinen spezifisch kirchenmusikalischen Stil für sich reklamiert. So sagt Fauré über sein kirchenmusikalisches Hauptwerk, sein Requiem op. 48, obwohl es am 16. Januar 1888 in seiner Urfassung anlässlich einer Beerdigung in der Madeleine aufgeführt wurde, es sei „ohne Anlass … zum Vergnügen“ komponiert worden58 und in der Absicht entstanden, dem „Konventionellen zu entgehen“ und „etwas anderes“ zu machen.59 Diese Bemerkungen rücken das Requiem aus der ausschließlichen Bindung an die liturgische Tradition heraus und verweisen auf eine gewisse stilistische Freiheit, die Fauré für die Kirchenmusik in Anspruch nehmen wollte, um sie vor der Abschottung von der übrigen Musik zu bewahren. Das Unkonventionelle und Besondere des Requiems zeigt sich zunächst in der Auswahl der vertonten Sätze und deren individueller Gestaltung. Wiewohl eine spezifisch französische Tradition der Requiem-Vertonung auch bei Faurés Werk deutlich durchscheint, ist es doch in seiner Anlage so modifiziert, dass Faurés ganz eigene Auffassung der Totenmesse, die von seinen Zeitgenossen mit der berühmt gewordenen Charakterisierung „Wiegenlied des Todes“ versehen wurde60, zum Tragen kommt. So ist zwar die Auslassung der Sequenz Dies irae eine seit 1600 in Frankreich viel geübte Praxis61, sie muss im Falle Faurés sicher aber auch in beabsichtigter Opposition zu den ausdrucksstarken Vertonungen von Verdi und Berlioz gesehen werden.62 Ebenso in französischer Tradition steht die Ein58 « Cher Monsieur et ami. Mon Requiem a été composé pour rien … pour le plaisir, si j’ose dire! Il a été exécuté pour la première fois à la Madeleine … »; Gabriel Fauré in einem Brief an Maurice Emmanuel, s. Gabriel Fauré: Correspondance, Jean-Michel Nectoux (Hg.), Paris 1980, S. 139. Fauré gibt in diesem Brief die falsche Jahreszahl 1890 als Uraufführungsdatum des Requiems an; aus einem Brief Faurés an Paul Poujaud geht aber der 16. Januar 1888 als richtiges Datum hervor; s. Correspondance, S. 138. 59 « Peut-être ai-je ainsi, d'instinct, cherché à sortir du convenu, voilà si longtemps que j'accompagne à l'orgue des services d'enterrement ! J'en ai par-dessus la tête. J'ai voulu faire autre chose »; Fauré in: Paris Comoedia, 12. Juli 1902. 60 « On a dit que mon Requiem n'exprimait pas l'effroi de la mort, quelqu'un l'a appelé une berceuse de la mort, mais c'est ainsi que je sens la mort : comme une délivrance heureuse, comme une aspiration au bonheur de l'au-delà, plutôt que comme un passage douloureux »; ebda. Ganz ähnlich, wenn auch in einem dezidiert religiösen Kontext, äußert sich Franz Liszt in einem Brief an Carolyne von Sayn-Wittgenstein über sein Requiem: « Dans tout cet ouvrage … j’ai tâché de donner au sentiment de la mort un caractère de douce espérance chrétienne. … En général les grands et les petits compositeurs colorent en noir, du plus impitoyable noir, le Requiem. Dès le commencement, j’ai trouvé une autre lumière … »; zitiert nach Anselm Hartmann: Kunst und Kirche. Studien zum Messenschaffen von Franz Liszt (= Kölner Beiträge zur Musikforschung, Klaus Wolfgang Niemöller (Hg.), Bd. 168), Regensburg 1991, S. 191. 61 Tibor Kneif: Artikel „Requiem“ in: MGG2 8, Sp. 166. 62 « Fauré … a développé avec une préférence évidente les parties de l’office des Morts où se trouve plus particulièrement exprimée l’idée contenue dans la parole initiale : Requiem, le Repos. »; Julien Tiersot: „Gabriel Fauré“, in: ZIMG 7 (1905), S. 51.
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fügung des letzten Versikels Pie Jesu der Totensequenz63 nach dem Sanctus, entweder als Elevationsmusik vor dem Benedictus oder als Ersatz für dieses. Bereits die beiden Totenmessen Marc-Antoine Charpentiers enthalten ein Pie Jesu « à l’élévation »64, ebenso wie in Faurés näherer zeitlicher Umgebung das c-Moll- und das d-Moll-Requiem von Cherubini65 sowie Gounods posthumes Requiem, dessen Pie Jesu als « variante pour l’élévation au lieu du Benedictus » betitelt ist.66 Das abschließende „requiem“ ist hier in Analogie zum Agnus Dei gegenüber dem Sequenztext zum „requiem sempiternam“ erweitert. Bezeichnenderweise vertauscht Fauré dies in seiner Vertonung zu „sempiternam requiem“, wie er das sogar beim Agnus Dei seines Requiems tut. Diese auffällige Akzentuierung des Wortes „requiem“ ist auf dem Hintergrund von Faurés Konzeption der Totenmesse zu verstehen, wie auch die Anfügung des letzten Satzes In Paradisum, der – in der Requiem-Tradition kaum vertont67 – mit seiner tröstlichen Botschaft ebenfalls mit dem Wort „requiem“ endet und damit den Bogen zum Introitus-Beginn rundet. In diesem Lichte ist auch zu sehen, dass im später hinzugefügten Libera me der Abschnitt „tremens, tremens factus sum ego“ ins pp gesetzt ist. Ebenso fordert Fauré zwar für das „Dies illa, dies irae“, aus dem die Sequenz als Tropus entsprungen ist68, ff und markiert die Stelle durch Horn- und Posaunenstöße, die melodische Kontur a’-c’’-f’’ dieser Stelle nimmt jedoch deutlich Bezug auf den IntroitusBeginn, so dass die Stimmung des Schreckens durch die Reminiszenz an das tröstende „Requiem“ abgemildert wird. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, diese und ähnliche Beobachtungen, die eine bewusste Reduzierung der Ausdrucksmittel offenbaren, nur durch Faurés spezielle Auffassung der Totenmesse erklären zu wollen. Übergeordnet bleibt die generelle Absicht, eine neue Tonsprache jenseits der romantischen Übersteigerung zu finden, die sich aus der Verweigerung eines bloßen Ausdruckswillens speist und auf die Traditionen modaler Musik im Sinne Niedermeyers und der anderen Reformer zurückgreift. Diese gewollte Zurückhaltung, die als Stil des Verzichts und der Verleugnung69 und als „Musik in simplicitate“70 beschrieben wurde, kommt be63 Das Verfahren, nur den Schlussvers der Totensequenz mehrstimmig zu vertonen, findet sich aber auch außerhalb von Frankreich, so in Italien und bei Morales; Kneif: MGG2 8, Sp. 162 und Alec Robertson: Requiem. Music of mourning and consolation, London 1967, S. 43. 64 H. Wiley Hitchcock: Artikel „Charpentier“, in: NG2 5, S. 510, 517, 518. 65 Wolfgang Hochstein: Artikel „Cherubini“, in: MGG2 4, Sp. 865/866. 66 Vgl. Carlo Caballero: Fauré and French musical aesthetics, Cambridge 2001, S. 296. 67 Entgegen der Behauptung bei Caballero 2001, S. 296, es gebe vor Fauré nur die Vertonung des In Paradisum von Cherubini (1820), existieren frühere Belege: Vgl. z. B. das 8-st. In Paradisum von Juan Esquivel oder die 5-st. Vertonung von Steffano Bernardi, s. MGG 1, Sp. 1777 und MGG 3, Sp. 1541. 68 Harold T. Luce: The Requiem Mass from its plainsong beginnings to 1600, Phil. Diss. Florida State University 1958, S. 26. 69 « Gabriel Fauré se fit un style d’église sincère, d’une calme noblesse et d’un confiant abandon … »; René Paroissin: „Mystère de l’art sacré – des origines à nos jours“, Paris 1957, S. 151/152. 70 Pierre Guillot: „Gabriel Faurés Kirchenmusik. Vom Requiem „ohne Anlaß“ zur 13. Nocturne“, in: Gabriel Fauré: Werk und Rezeption. Mit Werkverzeichnis und Bibliographie, Peter
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reits in der originalen Instrumentierung von Faurés Requiem zum Ausdruck, die nichts anderes als eine Negation des spätromantischen Orchesterapparats darstellt71. Die ursprüngliche Besetzung ohne Violinen72, mit geteilten Bratschen und Celli, Kontrabässen, Orgel, Harfe und Pauken, weist, wiewohl sie die traditionell tiefe Lage und dunkle Farbe der Requiem-Vertonungen aufgreift, auf jene Haltung der Schlichtheit und Entsagung ebenso hin, wie das Vokalensemble, das sich aus der vorwiegend aus Kinderstimmen bestehenden, klein besetzten maîtrise an der Madeleine73 und einem Knabensopran für das Pie Jesu zusammensetzte. An diesem fast kahl zu nennenden Klangbild in fahlem Licht ändern auch die SoloVioline im Sanctus und die später hinzugefügten Blechbläser kaum etwas, da sie wiederum nur äußerst sparsam eingesetzt wurden.74 Wie sehr die ursprüngliche Instrumentierung der Intention Faurés entsprach, lässt sich daran ablesen, dass die Umorchestrierung für großes Orchester mit zusätzlichen Holz- und Blechbläsern und Violinen offensichtlich erst auf Drängen des Verlegers Hamelle für die Druckfassung von 1901 erfolgte und von Fauré eher widerwillig angegangen wurde.75 In die gleiche Richtung dürfte Faurés Beschwerde anlässlich einer späteren Aufführung des Requiems deuten, in der der Komponist sich über die opernhafte Gesangsmanier des Bassisten empört, die dem schlichten und ernsten Charakter des Werkes unangemessen sei.76 Die Schlichtheit und Zurückhaltung, die die gesamte Komposition durchdringt, erscheint bereits zu Beginn des Introitus wie als Verkündigung eines Programms mit dem einen ganzen Takt ausfüllenden Unisono-D. Im ff vorgetragen,
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Jost (Hg.), Kassel etc. 1996, S. 146. Vgl. auch die zahlreichen Pressestimmen zur ersten Aufführung des Werkes in Brüssel im Oktober 1900, die seine « simplicité » besonders hervorheben; abgedruckt bei Mutien-Omer Houziaux: „À la recherche „des“ Requiem de Fauré ou L’authenticité musicale en questions“, in: Revue de la Société Liégeoise de Musicologie, 15– 16 (2000), S. 151/152. Zu den Details der komplexen Entstehungsgeschichte des Werkes vgl. Correspondance, S. 138–141, 146, 232, 241, Jean-Michel Nectoux, Roger Delage (Hgg.): Gabriel Fauré: Requiem op. 48, version 1893 (Musica Gallica), Paris 1994, III und zusammenfassend JeanMichel Nectoux: „À propos des premières exécutions du Requiem de Gabriel Fauré. Histoire d’une découverte, avec quelques lettres inédites“, Préface zu: Houziaux 2000, S. i–xxiii, bes. S. xiv/xv. Auch hier könnte als Vorbild Cherubini gedient haben, der in seinem c-Moll-Requiem im Introitus, Kyrie, Graduale und Pie Jesu keine Geigen vorsieht, die Bratschen dafür verdoppelt, ebenso die Einfachheit und Schlichtheit des Werkes, die von den Zeitgenossen gerühmt wurde; vgl. Ferdinand Hiller: Musikalisches und Persönliches, Leipzig 1876, S. 27. Die Kantorei umfasste 30 Knabenstimmen, die durch 4 Tenöre und 5 Bässe aus der Oper ergänzt wurden. Angaben nach Nectoux, Delage 1994, S. VII. Zur Genese der Orchestrierung bis zur „Fassung 1893“ vgl. die Übersicht bei Nectoux 2000, S. xiv/xv. Bis heute lässt sich nicht zweifelsfrei klären, ob Fauré die Orchestrierung selbst ausführte oder jemand anderen damit beauftragte; s. Houziaux 2000, S. 58ff. Zu den Details der Umorchestrierung vgl. ebda, S. 82–85. « C’est un vrai chanteur d’opéra qui n’a rien compris au calme et à la gravité de sa partie dans ce Requiem. »; Correspondance, S. 241.
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rammt es wie einen Pfeiler den Grundton des ersten Satzes in den Boden.77 Dieser Grundpfeiler trägt eine Ambivalenz in sich: Er ist sowohl Basis der traditionellen Requiem-Tonart d-Moll78 wie Finalis des Dorischen, das noch dem 19. Jahrhundert in mittelalterlicher Tradition als Quelle der übrigen Modi und damit als Vertreter der modalen Welt schlechthin bekannt ist. Diese Doppelfunktion wird in den folgenden Takten entfaltet: Die Anfangsworte „Requiem aeternam“ werden – der gebührenden Zurückhaltung wegen nun im pp – auf stehenden Klangsäulen eines d-Moll-Akkordes rezitiert, die den blanken Grundton klanglich auffüllen und seine Statik durch die syllabische Deklamation zu rhythmischer Akzentuierung hin auflösen.79 Nun wird durch einen Ganztonschritt nach unten die siebte Stufe, der Ton C erreicht und danach im Instrumentalbass die Abwärtsbewegung zu den Tönen B und A fortgesetzt. Dieses fallende Tetrachord ist sicherlich eine bekannte Struktur innerhalb von d-Moll. Andererseits betont Fauré das C mit ff und damit die Tatsache, dass der Leitton im funktionsharmonischen Sinne zunächst suspendiert ist. Diese Negation der traditionellen harmonischen Syntax wird sogleich verstärkt durch die nachfolgende Rezitation „dona eis“ auf dem Sextakkord der fünften Stufe, die so ohne Leitton nochmals jeder herkömmlichen harmonischen Funktion beraubt erscheint. Die siebte Stufe führt denn auch nach einem zwischengeschalteten Quartsextakkord der dritten Stufe entgegen jeder leittönigen Ambition durch Wiederholung des Ganztonschritts nach unten zur sechsten Stufe80:
77 Symmetrisch hierzu endet das mit dem Introitus zu einem Satz verbundene Kyrie mit der Unisono-Rezitation „eleison“ des Chores auf dem Ton D. 78 Wie Skizzen zeigen, dachte Fauré zunächst auch an die Verwendung der ebenso traditionellen Requiem-Tonart c-Moll; vgl. Jean-Michel Nectoux: Gabriel Fauré. A musical life, Cambridge 1991, S. 116. Ein Überblick über Requiem-Tonarten im 19. Jahrhundert bei Ursula Adamski-Störmer: Requiem aeternam. Tod und Trauer im 19. Jahrhundert im Spiegel einer musikalischen Gattung (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXVI, Musikwissenschaft, Bd. 66), Frankfurt a. M. etc. 1991, S. 146–149. 79 In der deklamatorisch-rhythmischen Gestaltung des „Requiem“-Beginns mag das Vorbild des c-Moll-Requiems von Luigi Cherubini durchscheinen. Vgl. hierzu die Beobachtungen zum Lisztschen Requiem bei Hartmann 1991, S. 272. 80 Die folgenden Notenbeispiele nach Jean-Michel Nectoux und Roger Delage (Hgg.): Requiem, Paris 1994.
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G. Fauré: Requiem op. 48, Introït, T. 1–8 (nur Chor und Orgel)
Wie sehr solche Modelle, in denen Erfahrungen modaler Musik durchscheinen, zum selbstverständlichen und verselbständigten Teil von Faurés Musiksprache geworden sind, zeigt sich gegen Ende des ersten Teils des Introitus. Durch erneute Anwendung des selbst schon zum Modell gewordenen Ganztonschritts nach unten wird der Ton Es erreicht. Dieser zunächst als leiterfremde Ausweichung erscheinende Schritt entpuppt sich schnell als bloße halbtönige Rückung des dorischen Grundtons nach oben, wie die ebenfalls halbtönig von D-EF-G zu Es-F-Ges-As nach oben verschobene Wendung in der Sopranstimme verdeutlicht. Harmonisch wird dies dadurch untermauert, dass die durch den Dominantseptakkord über Des angesteuerte Kadenz nach Ges-Dur unterbleibt und statt dessen durch halbtöniges Wiederabsenken der Ton C erreicht wird, der nun über den Quartsextakkord der dritten Stufe auf die fünfte Stufe als gliedernde Kadenz führt. Obwohl die fünfte Stufe als zwischengliedernder Klang nun mit der großen Terz erscheint, wird sie selbst durch eine plagale Kadenz von D aus erreicht. Fauré vermeidet also erneut eine leittönige Verbindung:
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G. Fauré: Requiem op. 48, Introït, T. 12–17 (nur Chor und Orgel)
Bereits an diesen Beobachtungen wird deutlich, wie Fauré Elemente der tonalen und der modalen Musiksprache miteinander verbindet bzw. sich zwischen beiden hin und her bewegt: So setzt er Mittel wie chromatische Alteration oder tonale Kadenzmuster durchaus ein. Sie führen jedoch nicht zu einer Auflösung der Grundtonalität, sondern verrücken nur feststehende Versatzstücke, heben sie kurzzeitig heraus, um dann wieder zur Ausgangsbasis zurück zu führen. Es ist, als ob Fauré Charakteristika der spätromantischen Musiksprache, wie die chromatische Verschiebung, zitiert, sie aber aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst in ganz anderem Sinne verwendet. Die modale Tonsprache ist dabei nicht exotische Garnierung, sondern ein integriertes Moment der Erweiterung der tonalen Harmonik und Melodik. Ganz selbstverständlich gestaltet Fauré so die Melodik des wiederholten IntroitusTextes, die auch für das anschließende Kyrie übernommen wird, in der Idiomatik des Dorischen mit der Oberquart über der Repercussa:
G. Fauré, Requiem op. 48, Introït, T. 20–23 (nur Tenor)
Die Sphäre des Choralvortrags wird hier durch die Beschränkung auf die Tenorstimmen im unisono zusätzlich evoziert. Vergleichbares findet sich im Libera me. Auch dieser Satz setzt wie der Introitus mit einem lang ausgehaltenen Akkordklang über D ein und der Beginn des Bariton-Solos verwendet typische Bausteine
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des ersten Modus, so den Quintaufschwung vom Grundton, die Konturierung der Oberquint durch die kleine Sext, das Aufspannen des Oktavrahmens und die Zwischengliederung auf der Oberquint:
G. Fauré, Requiem op. 48, Libera me, T. 3–17 (nur Bariton solo)
Auch hier wird das Moment des Choralvortrags durch das Unisono aller Chorstimmen bei der Wiederholung des Responsums, das liturgischem Usus gemäß wörtlich die Solo-Melodie zitiert, und durch das abschließende Bariton-Solo mit seiner demonstrativen Betonung des Oberquintraums nochmals hervorgehoben. Auffällig ist, dass in diesem Satz die Begleitung häufig Stellen aufweist, die im funktionsharmonischen Sinne zu interpretieren sind. Auch bei der Wiederholung des „Requiem aeternam“ kommt die fünfte Stufe immer wieder in dominantischer Funktion vor. Die starke Präsenz des Modalen in der Melodik erzwingt also keinesfalls eine ebenso rein modale Harmonik, sondern erlaubt jenes Miteinander von Modalität und Tonalität, das Faurés Schaffen kennzeichnet.81 Ganz bewusst wird die traditionelle Kadenzbildung zur formalen Gliederung eingesetzt: Den Abschluss der Introitus-Antiphon markiert eine deutliche IV-V-I-Kadenz und der Beginn des Psalmverses wird mit einem Terzquart-Akkord aus der Orgelüberleitung erreicht. Die Schlusskadenz des Libera me enthält einen verminderten Septakkord und vor dem Communio-Vers, der als wörtliche Wiederholung der ersten Takte des Introitus gestaltet ist, erklingt der A-Dur-Dreiklang als Dominantstufe. Da die übrigen Kadenzen die klare tonale Verankerung vermeiden, wirken solche tonalen Kadenzen in ihrer Rolle als Abschnittsgestaltung umso stärker. Der Psalmvers des Introitus ist durch den Tonartwechsel nach B-Dur und den Registerwechsel zum Sopran in den Chorstimmen als eigenständiger Teil ausgezeichnet. Wiederum erweckt der Unisono-Vortrag die Choralsphäre, die noch durch die Kontrastwirkung zur chorischen Fortsetzung der zweiten Vers-Hälfte verstärkt wird.82 In der Gestaltung der ersten Vershälfte wird wieder deutlich, dass Fauré die melodische Sprache des Chorals verinnerlicht hat, ihn aber nicht kopiert. Auffälligstes Merkmal ist die Quartstruktur f’-b’-es’’, die die Quart b-F der 81 Hier zeigt sich der Abstand zu Niedermeyers starrem Regelwerk, das bei Kadenzbildungen im ersten Modus sogar die fünfte Stufe mit kleiner Terz wegen ihrer Nähe zur traditionellen Dominante ablehnt und statt dessen die siebte Stufe fordert; vgl. Niedermeyer, d’Ortigue 1857, S. 43. 82 Durch diese Gestaltung wird der an sich antiphonische Vortrag zu einem responsorialen umgestaltet, ein Verfahren, das sich durch die gesamte Geschichte der Requiem-Vertonung zieht.
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Introituspsalmodie aufgreift und gleichzeitig überbietet. So klingt zwar die Sopran-Melodie in ihrer melodischen Kontur deutlich an die erste Hälfte der Psalmodie des Requiem-Introitus an, es handelt sich aber um kein Choralzitat, wie ein Vergleich zeigt:
G. Fauré : Requiem op. 48, Introït, T. 42–45 (nur Sopran)
Vers des Introitus
Ebenso wenig wie Fauré Choral zitiert ist die Verwendung modaler Melodik oder Harmonik ein exklusives Kennzeichen seiner geistlichen Musik. So zeigt z. B. der Beginn des Liedes Au cimetière mit der Ausgestaltung des Oberquartrahmens über der fünften Stufe des Grundtons die gleiche Anlehnung an das Dorische wie die Melodie der Introitus-Wiederholung, wobei die Tonrepetitionen die Ausprägung des Quartrahmens noch intensivieren83:
83 Notenbeispiel nach Fauré: Ses mélodies. Œuvres complètes, Hidehico Hagiwara (Hg.), Tokyo 1991, Bd. 2, S. 46.
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G. Fauré: Au cimetière, op. 51-2 [1888], T. 1–10
So wenig auch Faurés „Te decet hymnus“ direktes Choralzitat ist, wird es doch selbst wegen seiner markanten Physiognomie mehrfach im weiteren Verlauf des Werkes zitiert. Im Offertoire erscheint seine erste Hälfte eingebettet im Schlussteil des Verses zu den Worten „fac eas Domine“84:
G. Fauré: Requiem op. 48, Offertoire, T. 58–62 (nur Bariton solo)
Der umgebende Offertoriumsvers trägt selbst wiederum durch das Bariton-Solo und seine intervallische Struktur deutliche Züge choralischer Praxis. Wiewohl hier klar in D-Dur gehalten, lassen die passagenweise Rezitation auf A, die prominente Rolle der siebten Stufe Cis/C, die den Tonraum nach oben begrenzende Oberoktav sowie das mehrfache Pendeln zwischen Grundton und Quinte als Zäsurfloskel das Grundmuster des Dorischen unverkennbar durchscheinen. Klar wird auch hier, dass es Fauré nicht um eine Kopie des gregorianischen Offertoriumverses zu tun ist, sondern der Versvortrag in einer allgemeinen Vorstellung von Psalmodie gefasst wird, was wiederum den Grad der Emanzipation gegenüber der liturgischen Vorlage aufzeigt. So ist es auch möglich, dass sich solche tropischen Muster wie das Quintpendel A-D-A zum Zwecke formaler Gestaltung verselbständigen und – auf den Schluss des „Quam olim Abrahae“ übertragen – Vers und Repetenda entgegen liturgischem Usus zu einem großen Vers zusammenfassen. Dies ist umso leichter möglich, als die Repetenda als Bestandteil der dem Vers vorangehenden „Antiphona ad Offertorium“ bei Fauré fehlt, der Komponist also nicht eine bereits vorhandene Melodie zitieren müsste. Solche textlichen Auslassungen von teilweise ganzen Passagen finden sich mehrfach im Einleitungsteil des Offertoire wie auch in anderen Sätzen.85 Fauré steht damit auch nicht allein, wie Berli84 Die Ähnlichkeit ist in der „Fassung 1893“ größer als in der 1901 bei Hamelle veröffentlichten Orchesterfassung mit ihren zahlreichen Punktierungen; vgl. Houziaux 2000, S. 30. 85 Vgl. Nectoux 1991, S. 123.
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oz’ Grande messe des morts zeigt.86 Der Grund für die Abkürzungen und Umstellungen ist sicher in Überlegungen zur formalen Strukturierung und Ausgewogenheit der einzelnen Abschnitte zu suchen. Im einleitenden „O Domine, Jesu Christe“ sind die Textkürzungen durch die Absicht motiviert, die Bitte um Verschonung der Verstorbenen vor den Höllenqualen in drei etwa gleich lange Teile zu fassen. Formal geschieht dies durch das jeweils vorangestellte „O Domine Jesu Christe, libera animas defunctorum“, musikalisch durch die an Vorbilder der klassischen Vokalpolyphonie gemahnende imitative Struktur, die durch Anhebung um jeweils einen Ganzton nach oben den Bitten einen zusätzlich intensivierenden Charakter verleiht. Intensivierend wirkt zudem der einzige Zusatz von Fauré zum Requiem-Text, das „O“, das mit seiner Emphase die Neutralität des Lateinischen durchbricht und den musikalischen Tonfall des Kopfmotivs prägt.87 Zum zweiten Mal wird die Melodie des „Te decet“ im Sanctus zitiert. Effektvoll von der in der originalen Besetzung vorgesehenen Solo-Violine vorgetragen, die hier zum ersten Mal erklingt, unterstützt es als Untermalung der Singstimmen die Vorstellung von der Verherrlichung Gottes durch das unaufhörliche Lob der Engel. Die mit dem „Te decet“ verbundene Aufforderung zum Gotteslob verstärkt die „Sanctus“-Akklamationen der himmlischen Mächte. Fauré fasst das Bild der die göttliche Majestät anbetenden Engel in strahlendes Es-Dur, das in den beiden einleitenden Takten als in sich kreisender Dreiklang symbolträchtig von der Harfe, die hier ebenfalls zum ersten Mal solistisch erklingt, und von den Bratschen vorgestellt wird. Um jede Schwere zu vermeiden, wählt Fauré hierfür den Sextakkord von Es-Dur. Die „Sanctus“-Melodie selbst ist aus einer schlichten Umkreisung des Ausgangstons B durch den oberen und unteren Ganzton gebildet, eine jener stereotypen Formeln wie sie im Mixolydischen häufig vorkommt. Sie bildet bis auf kleine Modifikationen und Ausweitungen abgesehen die Grundlage für den gesamten ersten Teil des Sanctus, der mit seinem oktavversetzten Alternieren zwischen Sopran- und Männerstimmen das antiphonische Singen der Engelschöre plastisch abbildet. Die Formelhaftigkeit nach dem Vorbild gregorianischer Melodiemodelle ist bei diesem Motiv wieder so stark, dass es zu den Worten „Deus Deus Sabaoth“ einfach einen Halbton nach unten gesenkt werden kann, um auf der letzten Silbe „-oth“ wieder in die Grundtonart einzumünden. Die Schlichtheit und Schwerelosigkeit des „Sanctus“-Motivs wird auch dadurch verstärkt, dass es hemiolisch notiert ist und so eine rhythmische Ver86 Jürgen Kindermann: Vorwort zu Hector Berlioz: Grande messe des morts (= Hector Berlioz. New Edition of the Complete Works, Vol. 9, Jürgen Kindermann (Hg.), Kassel etc. 1978), S. XVI. 87 Eine vergleichbare Beobachtung lässt sich bei Heinrich Schütz machen: Während er in den Cantiones Sacrae den 6. Psalm Domine, ne in furore tuo arguas me mit einer chromatisch aufsteigenden Linie beginnen lässt, führt die Parallelvertonung in der deutschen Übersetzung Luthers aus den Psalmen Davids zur Fassung in einem absteigenden Quartsprung, der unmittelbar dem Sprachduktus des emphatischen „Ach Herr“ entnommen ist. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern/München 196813, S. 335 bemerkt: „In der Interjektion Ach! wurzelt sozusagen alle Lyrik“.
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schleierung stattfindet. Diesen eigentümlichen Zustand der Erdenthobenheit unterstützt die harmonische Grundierung, die vom Sextakkord der ersten Stufe zur sechsten und zurück schwingt und dann über die plagale vierte Stufe wiederum den Ausgangsklang erreicht:
G. Fauré: Requiem op. 48, Sanctus, T. 1–8 (nur Chor und Orgel)
Diese Akkordfolge verhindert wieder jeden Anklang an funktionsharmonische Muster und setzt dem „leittongetriebenen“ Drängen chromatischer Expressivität ein Moment statischer Ruhe entgegen. An die Stelle leidenschaftlichen Strebens und Wollens als Grundzug spätromantischer Musik tritt ein gelöstes und erlöstes Sich-Ergeben. Die harmonische Bewegung ist nicht linear zielgerichtet, sondern kreist in sich – ein Abbild des „sine fine dicentes“.88 Die Harmoniefolge hat ebenso wie die Melodik formelhaften Charakter und wird so bei der bereits angesprochenen Halbtonversetzung nach D-Dur transponiert, das über eine typische leittonfreie Scheinkadenz der siebten Stufe erreicht wird. Der zweite Teil des Sanctus wird im Gegensatz zu diesem statischen Kreisen durch eine gliedernde tonale Kadenz, die über den Dominantseptakkord von Es88 Kidd 1973, S. 226–228, spricht bei diesem und weiteren Beispielen aus Faurés Werken von „circular progressions“.
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Dur in die Ausgangstonart zurückführt, eröffnet. Sofort wechselt die harmonische Bewegung wieder zur Kreisform mit der dem ersten Teil nah verwandten Stufenfolge I-VI-III-IV-I. Auch die Melodie des „Pleni sunt caeli et terra“ erscheint wieder mit dem auffälligen, formelhaften Quartrahmen:
G. Fauré : Requiem op. 48, Sanctus, T. 25–32 (nur Chor und Orgel)
Bis auf den Wechsel zum unverschleierten Dreier-Takt, der der Textdeklamation entgegen kommt, ist der zweite Teil inklusive des „Hosanna“ mit seinem Alternieren zwischen den Stimmenregistern und den Einwürfen des „Te decet“-Motivs
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ganz parallel zum ersten Teil gestaltet. Durch eine gliedernde V7-I-Kadenz abgetrennt89, schließt sich eine Art Coda an, die den eigentlich schon erreichten Abschluss des Satzes mit zusätzlichen in den Hörnern und Trompeten verstärkten „Hosanna“-Rufen erweitert und schließlich in ein von allen Stimmen vorgetragenes letztes „Sanctus“ mündet. An dieser Stelle gliedern sich die Singstimmen zum ersten Mal akkordisch auf, während der gesamte Satz bis dahin als Ausdruck des „una voce“ im Unisono gehalten ist. Dieser bordunartig bis zum Ende durchklingende Es-Dreiklang, der langsam im pp verklingende „Sanctus“-Ruf und die sich in der Solo-Violine immer höher schraubende Abspaltung des „Te decet“-Motivs suggerieren den in unendlichen Höhen nachhallenden Klang der Himmelsbewohner. Die Grundtonart des Satzes wird kurz zuvor nochmals demonstrativ bestätigt, indem sie hier im Gegensatz zum Beginn als Es-Dur-Akkord in Grundstellung erklingt. Letzteres gilt allerdings nur für den Orchestersatz, denn der Chorbass hat in diesem letzten Sanctus-Ruf den Ton B, also die Quinte des Dreiklangs. So entsteht ein stehender Quartsextakkord-Klang; Chor- und Orchestersatz unterscheiden sich also auf subtile Weise:
G. Fauré: Requiem op. 48, Sanctus, T. 57–61 (nur Chor, Solo-Violine und Orgel)
Diese charakteristische Chorsatzbehandlung, die mit Quartsextklängen einen eigentümlichen Schwebezustand herstellt und an klangliche Muster orthodoxer Gesänge erinnert, erscheint bereits im Vers des Introitus. Motivisch mit dem Sanctus verbunden ist das anschließende Pie Jesu. Durch die Besetzung mit Solo-Knaben-Sopran und reine Orgelbegleitung im ersten Teil ist die Nähe zum Choralvortrag besonders stark gegeben. Auch der vorangestellte BDur-Akkord erinnert an die Intonationsangabe des Organisten z. B. beim priester89 Die gliedernde Kraft dieser Kadenz wirkt umso stärker, als die beim vorausgehenden „Hosanna“-Ruf angesteuerte Kadenz nach Des-Dur nicht eingelöst wird.
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lichen Gebet. Der Motiv-Kopf des „Pie Jesu“ ist aus dem „Pleni sunt caeli“ gewonnen. Wie dieses ist es strukturell von der aufgespannten Quart geprägt. Bei der Wiederholung des „Pie Jesu“ wird dann symmetrisch die Unterquart erreicht. Bei der Harmonisierung fällt wieder auf, wie Fauré eine eindeutige tonale Gliederung zunächst hinausschiebt, indem er die erste Zäsur bei „Domine“ durch einen plagalen Schritt erreicht und zahlreiche Nebenstufen einsetzt, die einer herkömmlichen tonalen Orientierung zuwider laufen. Erst zur Abschlussbildung bei „requiem“ erscheint eine klare IV-V-I-Kadenz nach B-Dur:
G. Fauré: Requiem op. 48, Pie Jesu, T. 1–9 (nur Singstimme und Orgel)
Der letzte Satz In Paradisum erinnert mit seiner bordunartigen Grundierung aus Akkordbrechungen an das Sanctus. Auch hier bestimmt das Unisono der Sopranstimmen als Abbild englischen Gesangs den Satz fast vollständig. Obwohl die Tonart D-Dur von Anfang an klar etabliert wird, ist doch bemerkenswert, wie Fauré die Melodik der Singstimmen wieder in ganz feststehenden Intervallräumen gestaltet, die mit ihrer demonstrativen Quartgliederung die Nähe des Chorals und der Modi spüren lässt. So ist das „Deducant angeli“ in den Quintraum a’-e’’ gefasst, der strukturell über die Quart a’-d’’ plus anschließendem Ganztonschritt eröffnet wird. Das darauf folgende „in tuo adventu suscipiant te martyres“ kopiert dieses Schema einen Ganzton nach oben in den Quintraum h’-fis’’:
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G. Fauré: Requiem op. 48, In Paradisum, T. 7–16 (Sopran)
Das anschließende „et perducant te in civitatem sanctam Jerusalem“ wird von der Quarte a’-d’’/dis’’ bestimmt, die durch das h’ in Ganzton plus Terz gegliedert ist. Die Wiederholung des „Jerusalem“ nimmt dann wieder die Quart h’-e’’ auf. Im zweiten Teil des Satzes erscheint bei „Chorus angelorum“ zunächst wieder die Quart a’-d’’, die dann um die Unterquart a’-e’ symmetrisch erweitert wird. Gleich darauf erklingt die nach oben verschobene Unterquart h’-fis’:
G. Fauré: Requiem op. 48, In Paradisum, T. 31–37 (Sopran)
Die archaische Kantigkeit dieser Melodik ist umso auffälliger, als sie in strengem Kontrast zu den kontinuierlichen Dreiklangsbrechungen der Begleitung steht: vokale und instrumentale Schicht des Satzes erhalten also eine stilistisch differenzierte Behandlung.90 Fauré vermeidet offensichtlich ganz bewusst fast jeden Anklang an Dreiklangsmelodik in den Singstimmen und setzt dagegen formelhafte Bausteine, die zentral für die Choralmelodik sind.91 Die lineare Ausrichtung der Melodik im Zeichen der Modalität und das vertikale Moment der Harmonik als Zeichen der Tonalität erscheinen so in ihrer gleichzeitigen Verschiedenheit92. Es wäre also zu vordergründig, das ganze In Paradisum nur als selige Verklärung in Dur deuten zu wollen. Erst ganz zum Schluss, wenn der Satz und das ganze Requiem auf dem Wort „requiem“ zur Ruhe kommen, vereinigt sich der Chor zu einem lang gehaltenen, stehenden D-Dur-Dreiklang. Eingeleitet wird dieser Moment durch die den bisherigen Quart/Quint-Raum sprengende Durchschreitung 90 Hier muss der Behauptung von Gervais 1971, S. 73 widersprochen werden, Faurés Melodik sei grundsätzlich nur eine sekundäre Ableitung der Harmonik und besitze keine Eigenständigkeit. 91 Erinnert sei hier nur daran, dass das gregorianische In paradisum zu Beginn die Quinte G-D über die zwischengliedernden Stufen der Terz und der Quart exponiert. 92 Vgl. hierzu die Beobachtungen zum Verhältnis von Melodik und Harmonik bei Serge Gut: „Die Verflechtung von Modalität und Tonalität in der Musik von Gabriel Fauré“, in: Jost 1996, S. 161/162.
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der Sext bei „aeternam habeas“ (f’’-a’) bzw. „habeas“ (d’’-fis’). Und wieder zeigt sich die bereits im Introitus-Vers und im Sanctus gemachte Beobachtung: Im Chorbass erklingt im Gegensatz zum Orchesterbass die Quint des Dreiklangs, so dass das Werk im Chor mit einem schwebenden Quartsextklang endet:
G. Fauré: Requiem op. 48, In Paradisum, T. 57–61 (nur Chor und Orgel)
Erst mit diesem lichten D-Dur-Klang des Schlusses ist der Gegenpol zum d-Moll des Introitus erreicht.93 Dieses Durchschreiten von der Welt des Moll zum Dur, das somit den Rahmen des ganzen Werkes bildet, leuchtet bereits an zwei Stellen vorher auf: Das umrahmende „O Domine“ des Offertoire erscheint zunächst in hMoll und schließt mit einem H-Dur-Klang. Und die Einleitung des in der pastoralen Tonart F-Dur gehaltenen Agnus Dei erscheint nach der unmittelbar anschließenden Communio ebenfalls in rahmender Funktion nun in D-Dur wie als Vorausahnung des endgültigen Schlusses. Symbolisch lässt sich die Polarität des Requiems zwischen Modalität und Tonalität als Verweis auf Faurés Verhältnis zu diesen beiden musikalischen Welten in einem allgemeinen Sinn verstehen. In Faurés harmonischer Sprache bleibt die Basis die Verankerung in der Tonalität, die aber durch die Möglichkeiten, die die Modalität bietet, erweitert wird.94 Modale und tonale Melodik bzw. Harmonik sind daher gleichzeitig möglich und durchdringen sich.95 Der Rückgriff auf modale Klangmuster ermöglicht es Fauré, die zielgerichtete Syntax der traditionellen Harmonik zu durchbrechen und durch Ambivalenzen zu verunsichern. Dadurch erreicht er eine größere Farbigkeit der Harmonik, die aber auf ganz anderem Weg entsteht, als durch die chromatischen Erweiterungen spätromantischer Musik.
93 Dies könnte auch als Reminiszenz an das chorale Vorbild verstanden werden, denn das In paradisum steht im siebten Ton, also dem höchsten und strahlendsten innerhalb der Modi. 94 Vgl. Gervais 1971, S. 49, 65, 90. 95 Gervais 1971, S. 32, spricht von « interpénétration de la modalité et de la tonalité »; vgl. auch ebda., S. 26ff.
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Festzuhalten bleibt, dass diese Inanspruchnahme von Vorbildern aus dem Choral und aus der modalen Musik bei Fauré nicht auf den Bereich geistlicher Musik beschränkt bleibt. Die neue Präsenz mittelalterlicher Musikformen für die kompositorische Orientierung rührt bei Fauré, wie auch bei anderen französischen Komponisten der Zeit, zwar ursprünglich von der durch die kirchenmusikalischen Reformbewegungen initiierten Rückbesinnung auf ältere Musik und ihrer anschließenden institutionellen Verbreitung her. Sie ist aber bei Fauré bereits zu einem integrierten Bestandteil seiner Musiksprache geworden. So lassen sich die am Requiem gemachten Beobachtungen in gleicher Weise an zahlreichen Liedern, die im Gesamtschaffen Faurés gegenüber seinen geistlichen Werken bei weitem überwiegen, wiederfinden. Erinnert sei nur an das bekannte Lied Lydia op. 4,2 von 1870, das bereits in seinem Titel die Assoziation an den lydischen Modus enthält und diese dann durch die melodische Tritonusspannung f’-h’ in Singstimme und Begleitung auch einlöst.96 Wie Fauré in einem Brief an seinen Sohn Philippe mitteilt, sind solche modalen Rückgriffe für ihn Mittel, um die Melodik und Harmonik zu erweitern, ihnen auch den Hauch der Fremdheit und des Ungewohnten zu vermitteln, ohne jedoch dabei die Basis der Tonalität aufzugeben. Ausdrücklich erwähnt er, dass ihm hierbei der gregorianische Choral als Anregung diente.97 Diese Technik erschöpft sich aber bei Fauré nicht in einer vordergründigen Anleihe an ältere Musik, um in rein programmatischer Manier etwa den Namen „Lydia“ auszudeuten. Vielmehr lassen sich in den Liedern alle Verfahren nachweisen, die auch im Requiem zur Herstellung jener ambivalenten, aus Negation gewonnenen Harmonik dienen: Bewusste Aussparung der leittönigen Spannung, das Ineinandergreifen von Tonalität und Modalität, Verschiebungen, die nicht aus dem tonalen Rahmen herausführen, die Häufung plagaler Kadenzen.98 So eröffnet Fauré Le Ramier (op. 87-2, 1904) mit der plagalen Harmoniefolge Tonika, Septakkord der Subdominante und Subdominante mit Sixte ajoutée, die die ersten drei Takte stereotyp bestimmt. Im weiteren Verlauf bleibt die tonartdefinierende fünfte Stufe weiterhin aufgeschoben und tritt erst in Takt 10ff zum
96 Hierzu Strobel 1999, S. 50/51. Fauré greift dieses Tritonus-Motiv später auch im dritten Lied der Bonne Chanson auf; vgl. ebda., S. 151. 97 Fauré erklärt in seinem Brief vom 17. 08. 1906 an seinen Sohn bezüglich des Air de danse de Caligula, dessen Hauptthema sei aus einer Mischung der G-Dur- mit der h-Moll-Skala entstanden, wodurch sich der Tritonus g-cis ergibt. Er betont jedoch, dass das Stück grundsätzlich in G-Dur stehe und fügt hinzu: « J’ai voulu donner l’impression d’une danse de caractère antique … et comme les anciens ne modulaient pas de la même façon que nous, je me suis enfermé dans une gamme composée de deux tons. Le plain-chant est plein d’exemples semblables. »; Correspondance, S. 258. 98 Vgl. die Beispiele hierzu bei Strobel 1999, S. 71, 72, 93, 112, 190, 233. Weitere Beispiele bei Marie-Claire Beltrando-Patier: Les mélodies de G. Fauré, Lille 1981, S. 481ff. Peter Cahn: „Fauré, Gabriel Urbain“, in: Horst Weber (Hg.): Metzler Komponisten Lexikon, Stuttgart und Weimar 1992, S. 244–245, betont „die Vermeidung des Leittons in Mollwerken, d. h. die bewusste Anwendung modaler Klangtechnik“ als besonderes Charakteristikum der Musik Faurés.
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ersten Mal kurz in Erscheinung. Die Pendelbewegung zwischen erster und vierter Stufe der Takte 1-3 beschließt auch die Komposition99:
Ein rhythmisch wie melodisch ostinates Motiv benutzt Fauré auch zur Eröffnung von Danseuse (op. 109-4). Als Mittelachse erklingt zunächst im Klavier über zehn Takte a’’ als Quintton und Repercussa der dorischen Tonart, unterfüttert mit der Unterquart nach e’, die als Anklang an das antike Tetrachord über den Halbton f’ erreicht wird. Die Singstimme greift den Rezitationston auf, springt zunächst zur charakteristischen dorischen Sept c’’ und dann zur Oberquart d’’. Die auffälligen Tonrepetitionen verstärken wie bei Au cimetière den Eindruck liturgischen Rezitierens100:
G. Fauré: Danseuse, op. 109,4, T. 1–10
99 Notenbeispiel nach Fauré: Œuvres complètes, Tokyo 1991, Bd. 3, S. 42. Die Pendelbewegung erinnert an die 1. Gymnopédie von Erik Satie, die ebenfalls zwischen dem Septakkord der vierten und ersten Stufe hin- und herschwingt und die fünfte Stufe an prominenter Stelle erst zur Binnengliederung und dann wieder bei der Schlusskadenz bringt, bezeichnenderweise jedoch beides Mal ohne Leitton. 100 Notenbeispiele nach Fauré: Œuvres complètes, Tokyo 1991, Bd. 3, S. 169–173.
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Der Grundton des Dorischen wird dann in der Singstimme über die Quarte g’-d’, wiederum mit der „antiken“ Halbtonstufe es’, erreicht, wozu die rhythmische Ostinato-Figur des Klaviers nun die plagale Unterquart a erklingen lässt (Takt 12– 17):
Während der ganzen zweiten Strophe bewegt sich die Singstimme nun im Quartrahmen über dem Quintton, während die Klaviermittelstimme d’ als Grundton vorträgt. Auch die Binnenkadenzen der Singstimme markieren mit den Stufen a’’, d’ und d’’ den strukturellen Rahmen des Dorischen. Die zum Ostinatomotiv gehörende Umspielung mit dem unteren Ganzton fungiert jetzt als Demonstration des leittonfreien Kontextes des Tones d’ (Takt 18–24):
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Diese Funktion tritt noch plakativer am Ende der Komposition auf, das nach den tonartlichen Ausweichungen der dritten Strophe, wieder zur Grundtonart zurückführt und die Vertonung mit wuchtigen Akkorden auf D beschließt, die wiederum durch den „Nicht“-Leitton C in fundierender Basslage verbunden sind und die dorische Quinte d’-a’’ in den Oberstimmen exponieren (Takt 57-64):
Die Rolle von modaler Musik und Choral in Faurés Schaffen hebt sich somit von verwandten Erscheinungen bei anderen französischen Komponisten der Zeit ab. Sie ist nicht durch besondere religiös-geistliche Kontexte evoziert, wie besonders eindringlich das letzte Liedbeispiel zeigt, das, ohne dass es vom Text provoziert wäre, ganz aus den Strukturprinzipien des Dorischen heraus gestaltet ist. Genauso wenig dient sie in klangmalerischer Absicht dem Kolorit exotischer oder folkloristischer Welten. Der Unterschied dieser Phänomene zu Faurés Technik zeigt sich schon darin, dass beispielsweise in der Oper des 19. Jahrhunderts Choral oder modal gefärbte Musik in der Funktion einer „couleur locale“ als klar erkennbare Versatzstücke, als Zitate in assoziativer, manchmal auch parodierender Absicht erscheinen, die sich von der umgebenden Musik stilistisch deutlich absetzen.101 Ein genauso grundsätzlicher Unterschied besteht zum reichen Repertoire französischer liturgischer Orgelmusik. Denn auch hier haben Choral und modale Techniken nicht die Funktion einer allgemeinen Erweiterung der musikalischen Sprache, sondern dienen in einem engeren Sinne der Entwicklung einer spezifischen, liturgisch gebundenen Musik. Die alte Tradition des Alternatim-Vortrags mit Orgel, die den Choral und seine Bearbeitung fest an die Orgelmusik bindet, bleibt im Grunde in Frankreich bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die Grundlage liturgischer Musik.102 Die umfassenden Veränderungen, die sich durch die ChoralRestauration vor allem in Solesmes für die Gestalt und den Vortrag des Chorals ergaben, schlagen sich deshalb auch deutlich in der französischen Orgelmusik nieder.103 Schulen wie die École Niedermeyer und später die Schola Cantorum 101 Vgl. Klaus Wolfgang Niemöller: „Die kirchliche Szene“, in: Heinz Becker (Hg.): Die „Couleur locale“ in der Oper des 19. Jahrhunderts (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 42), Regensburg 1976, S. 350. 102 Benjamin van Wye: „Gregorian influences in French organ music before the Motu proprio“, in: JAMS 27 (1974), S. 2. 103 Hierzu die grundlegende Studie von Benjamin David van Wye: The influence of the plainsong restoration on the growth and development of the modern French liturgical organ school, Phil. Diss. Illinois 1970 und van Wye 1974, S. 1–24.
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vermittelten das neu gewonnenen Wissen um den Choral an ihre Studenten, die speziell zu Organisten ausgebildet werden sollten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die enge traditionelle Verbindung zwischen Choral und Orgelmusik auch den Stil der liturgischen Stücke veränderte. Zunächst stand unter dem Einfluss Niedermeyers die neu gewonnene Rolle der Modalität im Vordergrund, die die gewohnte tonale Begleitung in Frage zu stellen begann. Hiervon zeugen beispielsweise die umfangreichen Pièces grégoriennes von Eugène Gigout.104 In einer zweiten Rezeptionsphase wirkten speziell die neu entwickelten Rhythmustheorien aus Solesmes zum Choralvortrag auf die Orgelmusik. Die große rhythmische Freiheit und Flexibilität, die den Choral aus einem erstarrten metrischen Korsett oder formlosen Äquivalismus befreite, beflügelte auch die französischen Komponisten, die Choralbearbeitung im Sinne eines traditionellen cantus-firmus aufzugeben. Besonders im Werk des an der Schola Cantorum lehrenden und damit Solesmes sehr nahe stehenden Alexandre Guilmant105 lässt sich dies nachweisen, aber auch bei seinem Kollegen Vincent d’Indy106 und später dann bei Charles Widor107 und Charles Tournemire.108 Wie verschieden auch immer die individuellen Verfahren bei diesen einzelnen Komponisten aussehen mögen, es bleibt doch als verbindende Gemeinsamkeit, dass der Choral und die Modalität hier auf den Wirkungskreis liturgischer Musik eingeschränkt bleiben. Eine Abstraktion von der konkreten Aufgabe der Choralbegleitung oder eine Fruchtbarmachung der neu gewonnenen Techniken für außerliturgische Musik findet nicht statt.109 So anregend und einflussreich die Kompositionen der französischen Orgelschule für Komponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich auch gewesen sein mögen, der Schritt, den Fauré und andere getan haben, nämlich die Befruchtung der traditionellen Musiksprache mit den Mitteln der wieder entdeckten alten Musik, ist weitreichender. Der Grad der Abstraktion von Faurés Musiksprache gegenüber den Kompositionen aus dem unmittelbaren Umfeld der Liturgie zeigt sich besonders darin, dass sie sich zwar vom Choral und von modaler Musik inspiriert zeigt, aber selbst in den geistlichen Werken keine direkten Choralzitate 104 Vgl. z. B. 100 pièces brèves dans la tonalité du plain-chant, Paris 1888, Album grégorien, Paris 1895. Vgl. Van Wye 1970, S. 68ff. 105 Vgl. L’organiste liturgiste, Paris 1884–1899. Van Wye 1970, S. 80ff; Edward Zimmerman, Lawrence Archbold; „Why should we not do the same with our catholic melodies?“: Guilmant’s L’Organiste liturgiste, op. 65, in: Lawrence Archbold, William J. Peterson (Hgg.): French Organ Music. From the Revolution to Franck and Widor, Rochester 1995, S. 201– 247. 106 Van Wye 1970, S. 97ff. 107 Ebda., S. 104ff; Lawrence Archbold: „Widor’s Symphonie romane, in: Archbold, Peterson 1995, S. 249–274. 108 L’orgue mystique. 51 offices de l’année liturgique inspirés du chant grégorien et librement paraphrasés pour grand orgue, Paris 1927–36. 109 Ein erster Schritt in diese Richtung könnte vielleicht bei den Stücken zu sehen sein, die keine Choralzitate enthalten und nicht für den unmittelbaren liturgischen Gebrauch geschrieben wurden, wie viele der Kompositionen von Gigout, die Orgelsymphonien von Widor oder beispielsweise die Impression grégorienne op. 90 von Guilmant. Dennoch bleibt diese Musik, wie bereits die Titel deutlich machen, dem unmittelbaren Umfeld der Liturgie verhaftet.
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verwendet.110 Ein Vergleich mit dem 1947 entstandenen Requiem von Maurice Duruflé erhellt diese spezifische Haltung Faurés.111 So sehr Duruflés Komposition vom Werk Faurés beeinflusst erscheint – dies zeigt unter anderem die identische Satzabfolge und Besetzung in den vokal-solistischen Teilen, die emphatische Herausstellung der „libera eas“-Bitten im Offertorium oder die Begleitung in Akkordbrechungen im Sanctus – so dokumentiert sie doch ein ganz anderes Verhältnis zum Choral. Nach eigenen Aussagen des Komponisten beruht sein Werk ganz auf der gregorianischen Totenmesse.112 Der Introitus beispielsweise beginnt diesem programmatischen Ansatz folgend zwar wie bei Fauré mit einem d-MollAkkord, zitiert die gregorianische Melodie jedoch wörtlich im ursprünglichen sechsten Ton. Auch die übrigen Sätze sind zum größten Teil so eng an ihre choralen Vorlagen angelehnt, dass sich die wenigen Passagen, denen Duruflé eigene Melodien unterlegt hat, hiervon besonders absetzen.113 Die gegenüber Fauré weitaus stärkerer Treue Duruflés der originalen Choralgestalt gegenüber zeigt sich auch darin, dass Duruflé durch zahlreiche Taktwechsel die Freiheit der Choralrhythmik nach Solesmer Vorbild im modernen Taktsystem nachzubilden versucht und die Wortfolge am Schluss des Agnus Dei und des Pie Jesu unberührt lässt, also nicht die Änderungen Faurés zugunsten der Betonung von „requiem“ mitvollzieht. Fauré war also nicht bereit, die Anregungen, die von der Wiedererweckung alter Musik ausgingen, auf liturgisch gebundene Musik im engeren Sinne noch auf geistliche Musik in einem allgemeineren Sinne zu beschränken. Die erklärte Absicht von Faurés Lehrer Niedermeyer war es, gerade diese Einschränkung – vor allem auf die Choralbegleitung – im Sinne eines Schutzwalls gegen die dekadente weltliche Musik zu propagieren. Niedermeyer selbst dokumentiert diese absolute Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Musik in seinem eigenen Schaffen, da seine eigenen Kompositionen keine Spur der modalen Verfahren seines Traité aufweisen.114 Andererseits mag gerade die Tatsache, dass Niedermeyer vor allem als Komponist von Romances in der romantischen Musiksprache der Zeit hervor110 Hier muss aufgrund der Beobachtungen am Requiem der Behauptung von Beltrando-Patier 1981, S. 483, « Fauré … ne conçoit de phrases musicales directement inspirées des tournures grégoriennes » widersprochen werden. 111 Vgl. Inge Forst: „Maurice Duruflé und sein Requiem“, in: KmJb 75 (1991), S. 107–117. 112 « Ce Requiem est entièrement composé sur les thèmes grégoriens de la Messe de morts. »; zitiert nach ebda., S. 110. 113 Hierin besteht eben gerade der entscheidende Unterschied zu Fauré, den Nectoux 1991, S. 121, verwischt, wenn er schreibt: „Overall the vocal writing shows the discreet influence of Gregorian chant, to be taken up again in Maurice Duruflé’s beautiful Requiem of 1947 which is very close to Fauré’s in spirit.“ 114 Vgl. Gervais 1971, S. 23. Die zwischen 1857 und 1859 in La Maîtrise veröffentlichten Orgelwerke Niedermeyers gemahnen nur an vereinzelten Stellen, wie im Offertoire von 1857, T. 34–36, mit seinen Akkordketten, entfernt an die Techniken des Traité; viel stärker ist das Vorbild Bach zu erkennen; vgl. Louis Niedermeyer: Pièces pour orgue, Francois Sabatier, Nanon Bertrand (Hgg.), Paris 1997. Camille Saint-Saëns bemerkt hierzu: « On y chercherait en vain, comme dans celles de Sébastien Bach, un reflet du moyen âge ; ce ne sont pas figures de missel ou de vitraux anciens … »; in: Louis-Alfred Niedermeyer 1893, S. xii/xiii.
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getreten war, mit dazu beigetragen haben, dass für Fauré die Spannung zwischen der aktuellen, ihn umgebenden Musik und dem, was Niedermeyer lehrte, bewusst wurde und er zur Suche nach einer Synthese angeregt wurde.115 Die Bereicherung der tonalen Harmonik, die aus dieser Synthese erwuchs, war der entscheidende Schritt, der, wie Camille Saint-Saëns bestätigte, die gesamte Musik Frankreichs beeinflusste.116 Niedermeyers Unterricht bildete hierbei für Fauré, wie er ja selbst mitteilte, die entscheidende Anregung. Die Techniken zur Vermeidung funktional-harmonischer Kadenzmuster und Zusammenhänge, die Aufwertung der traditionell schwächeren Nebenstufen und die Häufung plagaler Kadenzen sind Charakteristika, die die Beispiele in Niedermeyers Traité auffällig kennzeichnen und es ist nicht verwunderlich, dass sie Faurés Denken beeinflussten und in seine musikalische Sprache einflossen, zumal er in sehr jungen Jahren und praktisch ohne musikalische Vorbildung in die École kam.117 Allerdings war die Bedeutung speziell des Chorals bereits seit Beginn der Forschungen in Solesmes auch außerhalb und unabhängig von der École Niedermeyer118 für jeden französischen Komponisten spürbar. Spätestens seit den großen Choralkongressen in Paris 1860, den Niedermeyer und d’Ortigue organisierten, und in Arezzo 1882, verbreitete sich die Kunde von den reichen und bereichernden Möglichkeiten des Chorals in ganz Frankreich.119 Solesmes spielte hierbei insofern eine entscheidende Rolle, als erst durch die dortige Forschung der Choral, der ja auch im 19. Jahrhundert in Frankreich noch ein alltägliches bzw. sonntägliches Phänomen war, in seiner historischen Dimension ins Bewusstsein trat. Erst dadurch wurde Choral als mittelalterliche Musik gehört, konnte er zu einer ästhetisch fernen, ja durchaus exotischen und damit für jene attraktiven Musik werden, die auf der Suche nach Alternativen 115 Ein Reflex auf Niedermeyer als Komponist mag in den ersten Werken Faurés zu sehen sein, bei denen es sich um Romances handelt; vgl. Strobel 1999, S. 36. Edition bei David Tunley: Romantic Song 1830–1870, Vol. 1: Early Romances by Bérat, Berlioz, Duchambge, Grisar, Meyerbeer, Monpou, Morel, Panseron, and Romagnesi. Selected songs of Louis Niedermeyer and Ernest Reyer, London 1994. Mit den Werken von Schumann, Liszt und Wagner wurde Fauré durch den Unterricht bei Saint-Saëns an der École vertraut; vgl. Kidd 1973, S. 22, und er sah später durchaus auch Einflüsse deutscher Musik auf die französische; vgl. Préface zu Georges Jean-Aubry: La musique française d’aujourd’hui, Paris 1916, S. ix/x. Nicht zu vergessen ist, dass Niedermeyers Traité nur die Choralbegleitung betraf und die Schüler der École daneben einen ganz „normalen“ Harmonielehre-Unterricht erhielten, wie er z. B. in Gustave Lefèvres Traité d’Harmonie festgehalten ist; vgl. Gervais 1971, S. 54–57. 116 „Niedermeyer, who, despairing of extirpating the error involved in an accompaniment to plain-chant, attempted to render it at least rational by conserving its „modal“ character by means of an ingenious system. And for the propagation of his system he founded the School which bears his name … But the task is accomplished; his system has made its way throughout France, and has even overpassed its aim by showing the possibility of introducing the ancient Modes into modern Harmony, thus enriching it in an unexpected manner.“; Camille Saint-Saëns: „Music in the Church“ (translated by Theodore Baker), in: MQ 2 (1916), S. 3. 117 Diesen Zusammenhang betont vor allem Kidd 1973 in seiner Studie und führt ihn anhand zahlreicher Vergleiche zwischen Niedermeyers Traité und Werken von Fauré aus. 118 Zur Relativierung von Niedermeyers Einfluss auf Fauré s. Beltrando-Patier 1981, S. 35. 119 Dom Pierre Combe: Histoire de la restauration du chant grégorien d’après des documents inédits, Solesmes 1969, S. 37–112.
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waren. Da die Epoche des Mittelalters inzwischen zu kulturellem Prestige gelangt war, ließ sich der Rückgriff auf Musik einer bewunderten Vergangenheit im Dienste kompositorischer Gegenpositionen zur Musik der Gegenwart auch kulturell legitimieren. Somit kann die École Niedermeyer als vermittelnde Institution verstanden werden, die Fauré für den allgemeineren musikästhetischen Diskurs in Frankreich initiierte und ihn schließlich zu jener musikalischen Sprache führte, die das Potenzial alter Musik erkannt hatte, es aber in Überwindung sklavischer Nachahmung auf neue Weise fruchtbar werden ließ.120 Dass es sich bei Niedermeyers Lehre um die Auswirkungen einer zeittypischen Mittelalterkonstruktion, also um pseudomittelalterliche Satzverfahren handelt, ist hierbei von sekundärer Bedeutung. Fauré kam das entscheidende Verdienst zu, den als traditionell französisch verstandenen musikalischen Tugenden der Klarheit, der Reinheit und der starken Zurückhaltung gegenüber jedweder Effekthascherei zu neuer Bedeutung verholfen zu haben.121 Dass Fauré auf diesem seinem Weg weder den Versuchungen der übermächtigen und betörenden spätromantischen Musiksprache im Stile Wagnerscher emotionaler Exaltiertheit122 noch den Verlockungen eines künstlich gegen jede andere zeitgenössische Musik abgeschotteten, vermeintlich „reinen“ Kirchenstils erlag, machte ihn im Urteil seiner Zeitgenossen zum « véritable gardien de notre tradition nationale »123 und zum « maître par excellence de la musique française ».124 Fauré griff damit auch die Bedenken jener kritischer Beobachter der Reformbewegung auf, die, wie z. B. Berlioz, vor dem Hang zum Dogmatischen im Kreis um Niedermeyer warnten125, oder wie Saint-Saëns ebensolche Tendenzen im Wir-
120 Eine ganze Reihe von Autoren beschreibt dieses spezielle Verhältnis Faurés zum Choral und zur modalen Musik, das nicht auf Imitation, sondern auf Inspiration beruht: Reynaldo Hahn: „Gabriel Fauré: Préambule“, in: Journal de l’Université des Annales (15. Juli 1914), S. 117, bezeichnet den Stil Faurés als « voluptueusement grégorien ». Charles Kœchlin: Gabriel Fauré, Paris 1949, S. 109, betont: « Chose plus importante qu’on ne saurait dire. Il ne s’agit point, nous l’avons signalé, d’érudite et factice reconstitution, mais de correspondance préétablie entre la nature de ces gammes et celle, bien souvent, de la sensibilité fauréenne. », und Vladimir Jankélévitch: Gabriel Fauré. Ses mélodies, son esthétique, Paris 1951, S. 80, schreibt Fauré und seiner Musik « une certaine expérience grégorienne » zu. 121 Fauré benennt diese « qualités essentiellement françaises » selbst mit « le goût de la claire pensée, de la forme sobre et pure, la sincérité, le dédain du gros effet. »; Préface zu JeanAubry 1916, S. x, xiii. 122 Treffend charakterisiert Émile Vuillermoz: „Gabriel Fauré“, in: La Revue musicale 22 (Octobre 1922), S. 14, Fauré damit, er sei « réfractaire au virulent microbe romantique » geblieben. Ganz ähnlich spricht Charles Kœchlin: „Le Théâtre“, in: La Revue musicale 22 (Octobre 1922), S. 38, von « l’absence totale d’emphase ou d’effet! Il faut remonter bien loin pour retrouver pareil idéal : chez Bach, chez les maîtres du XVIe siècle, dans le chant grégorien. C’est le contraire même du ‘pathétique théâtral’ ». 123 Vuillermoz 1922, S. 14. 124 Roger-Ducasse: „La musique de chambre“, in: La Revue musicale 22 (Octobre 1922), S. 79. 125 „Ferner will das Werk des Herrn d’Ortigue noch das musikalische System der Psalmodie auf Kosten der modernen Musik, ja auf Kosten der Musik überhaupt verherrlichen, indem es die
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ken der Schola Cantorum ausmachten und gegenüber der blinden Nachahmung alter Meister die Gleichberechtigung von alter und neuer Musik empfahlen.126 Später legte Fauré diese Wertschätzung der Tradition ohne Ausschluss oder Abwertung der Gegenwart als programmatische Devise seiner Direktion des Conservatoire zugrunde.127 Eine Devise, wie sie in dieser Form im 19. Jahrhundert wohl nur in Frankreich möglich war. Im deutschsprachigen Raum herrschte zu jener Zeit zum einen die dogmatische Verhärtung gegenüber zeitgenössischer Musik im Zuge des Caecilanismus vor, zum anderen bedienten sich zeitgenössische Komponisten älterer Musik und aus ihr abgeleiteter Verfahren, um ihr Schaffen punktuell zu bereichern. Dieser Weg, der sich von reiner Klangmalerei unterschied, aber auch nicht die Integrationsfähigkeit des Alten in das Neue und ein daraus resultierendes Drittes aufweisen konnte, soll anhand eines abschließenden Exkurses zu Franz Liszt, Anton Bruckner und Guiseppe Verdi aufgezeigt werden, und damit die Sonderstellung Faurés nochmals beleuchten.
3.4 EXKURS: FRANZ LISZT, ANTON BRUCKNER, GUISEPPE VERDI Franz Liszt stand von Beginn seines Schaffens an in enger Berührung mit den kirchenmusikalischen Reformbemühungen seiner Zeit. Wie die Wortführer der Erneuerungsbewegung in Frankreich und Deutschland trat er, durch die Lektüre unter anderem von Chateaubriand zu schwärmerisch-religiöser Begeisterung entfacht, leidenschaftlich für eine grundlegende Reform der Kirchenmusik ein. In zwei programmatischen Aufsätzen wandte sich Liszt 1835 an die Öffentlichkeit und geißelte zum einen die unhaltbaren Zustände der Musik an den Pariser Kirchen, das „gedankenlose Blöken, von dem das Domgewölbe widerhallt“128 und die verweltlichte Orgelmusik, zum anderen entwickelte er einen umfassenden RePsalmodie für allein fähig erklärt, religiöse Empfindungen würdig auszudrücken“; Hector Berlioz 1912, S. 221. 126 „Some forty years ago there was formed in Germany a school of composers writing solely in this style, never considering that, as the entire sixteenth century had produced mountains of such music, one needed only to delve in this gold mine instead of seeking to create useless imitations. … The Schola Cantorum joined the fray with excellent intentions: but instead of using persuasion, it sought to succeed through violence; without sufficient reason it strove to prescribe works by certain authors and to proscribe those of others; … it has made itself detested, and has achieved no results. … One should not hesitate to perform fine works of ancient date which might, in some other place, have no success. But to my mind it is a great mistake to exclude modern works“; Camille Saint-Saëns 1916, S. 4, 5, 6. 127 « Je désire être l’auxiliare d’un art à la fois classique et moderne, qui ne sacrifie ni le goût actuel aux saines traditions, ni non plus les traditions aux caprices de la mode »; Gabriel Fauré in: André Nède: „Le nouveau directeur du Conservatoire“, in: Le Figaro (14. Juni 1905). 128 „Franz Liszt: Über die Kirchenmusik“, in: Essays und Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst. In das Deutsche übertragen von Lina Ramann, Leipzig 1881 (= Franz Liszt, Gesammelte Schriften, Lina Ramann (Hg.), Bd. 2), S. 48.
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formplan, der der Kirchenmusik zu neuem Ansehen verhelfen sollte. Die einzelnen Punkte diese Programms, wie Wiederherstellung der maîtrises, Verehrung des Mittelalters, Aufwertung der Musikgeschichte als Lehrfach und Werkausgaben bedeutender alter Meister129, deckte sich mit den Plänen anderer Reformer. Was Liszt jedoch grundsätzlich von den Ansichten etwa Niedermeyers oder der Vertreter des Caecilanismus unterschied, waren seine Vorstellungen darüber, wie die Kirchenmusik wieder zu einem größeren Wirkungskreis kommen sollte. Bereits Liszts kirchenmusikalische Reformideen waren nur Teil eines umfassenderen Reformvorhabens, das der Verbesserung des musikalischen Niveaus insgesamt dienen sollte.130 In diesem gesamtmusikalischen Kosmos nahm die Kirchenmusik einen zwar gewichtigen aber nicht alleinigen Platz ein, und die Chance für die Erneuerung geistlicher Musik sah Liszt gerade darin, dass sie die Abschottung nach Aussen durchbrach und in die Welt hinein wirkte.131 Folgerichtig verstand Liszt diese zu neuem Leben erweckte Kirchenmusik, die das Beste im Menschen wachzurütteln verstand, in einem übergreifenden Sinn als eine « musique humanitaire », die die Aspekte von „Theater“ und „Kirche“ vereinigte und zugleich „dramatisch und heilig, prachtentfaltend und einfach, feierlich und ernst, feurig und ungezügelt, stürmisch und ruhevoll, klar und innig“ war.132 Liszt sah damit in seiner Vision gerade die Aspekte miteinander vereint, die Niedermeyer oder Witt und Haberl sorgsam getrennt sehen wollten. Bereits in dieser frühen Programmatik Liszts zeigt sich seine Eigenständigkeit den organisierten Reformbewegungen gegenüber, deren Aktivitäten er gleichwohl sehr gut kannte und mit Sympathie verfolgte. Das Besonderer hierbei ist, dass er sich sowohl den Forschungen der Solesmer Mönche als auch dem Regensburger Kreis verbunden fühlte, zwei Organisationen also, die sich ja selbst diametral gegenüber standen. Von Liszts übergeordnetem Standpunkt einer notwendigen kirchenmusikalischen Reform aus spielten dogmatische Parteiungen keine entscheidende Rolle. So kannte er aus eigener Lektüre die Schriften von d’Ortigue133 und den Traité von Niedermeyer134 ebenso wie die Werke Mettenleiters.135 Er bewun129 Ebda., S. 49, 54. 130 „So fordern wir alle Musiker, alle diejenigen, welche ein weites und tiefes Kunstgefühl besitzen, auf: ein Band der Gemeinschaft, der Verbrüderung, ein heiliges Band zu knüpfen, einen allgemeinen Weltverband zu begründen …“; ebda., S. 53. 131 „Heutigentags, wo der Altar erbebt und wankt, heutigentags, wo Kanzel und religiöse Ceremonien dem Spötter und Zweifler zum Stoff dienen, muß die Kunst das Innere des Tempels verlassen und sich ausbreitend in der Außenwelt den Schauplatz für ihre großartigen Kundgebungen suchen.“; Franz Liszt: „Über zukünftige Kirchenmusik. Ein Fragment“, in: Ramann 1881, S. 56. 132 Ebda. Der originale Wortlaut in den von Liszt 1835 in der Gazette Musicale de Paris 2 unter dem Titel « De la situation des artistes et de leur condition dans la société » veröffentlichten Artikeln bei Hartmann 1991, S. 21. 133 Nachweise bei Heinrich Sambeth: Die Gregorianischen Melodien in den Werken Franz Liszt’s und ihre Bedeutung für die Entwicklung seiner Religiosität und Kunstanschauung, Diss. Münster 1923, S. 81/82. 134 Ebda., S. 82. 135 Ebda., S. 49.
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derte sowohl die Leistung der Solesmer Mönche136 als auch die Aktivitäten des Caecilienvereins.137 Da er selbst eine reformierte Choralausgabe plante, machte sich Liszt auch mit Details der Choralforschung vertraut.138 Solche theoretischen Studien betrieb Liszt jedoch nicht aus reinem Selbstzweck. Ihn interessierten von Anfang an die Verbindungen zu seinem eigenen kompositorischen Schaffen. So fand er nach eigenem Bekunden in den Schriften von d’Ortigue und Niedermeyer bedeutende Anregungen139 und notierte in seine Skizzenbücher an zahlreichen Stellen modale Skalen und liturgische Intonationen.140 Diese intensive Auseinandersetzung mit Choral und Modalität, die noch durch seine Wertschätzung der alten Meister wie Palestrina, Lasso und Bach ergänzt wird141, ließ Liszt jedoch nicht zum blinden Anhänger der cäcilianischen Bewegung oder des Kreises um d’Ortigue und Niedermeyer werden.142 Seine künstlerische Potenz bewahrte ihm eine kritische Distanz zu bloßer Palestrina-Imitation und zu einer dogmatischen Verehrung modaler Harmonik als notwendiger Voraussetzung „wahrer“ Kirchenmusik. Die spätromantische Musiksprache, derer er sich selbst in seinem Schaffen bediente, zugunsten eines spezifisch „kirchlichen“ Stils aufzugeben, war für Liszt keine Lösung. Choral, Modalität und PalestrinaStil sollten der zeitgenössischen Musik als Erweiterung und Bereicherung gegenüber treten.143 Der Rückgriff auf alte Musik dient damit zwar dem Wunsch nach überindividueller Gültigkeit des Kunstwerks, die es im Zeichen einer neuen Mystik dem Irdischen entrückt und dem Göttlichen näher bringt, er lässt aber nicht wie bei den Cäcilianern den Komponisten seiner Individualität verlustig gehen.
136 Ebda., S. 154. 137 « A mon humble avis, les meilleurs et les plus solides résultats obtenus jusqu’à présent sont ceux du plain-chant grégorien à l’Abbaye des Bénédictins à Solesmes, et les exécutions à cappella des œuvres de Palestrina, Lassus à Ratisbonne »; zitiert nach ebda., S. 84. 138 Ebda., S. 82/83. 139 « Ma lecture de route était le dictionnaire de plain-chant de J. d’Ortigue. J’y ai trouvé tout plein de choses intéressantes. »; « J’ai lu avec un grand intérêt les principaux articles de ton Dictionnaire du plain-chant que tu as eu l’obligeance de me donner à notre dernière entrevue, et me suis procuré depuis ton Traité théorique et pratique d’accompagnement du plain-chant ; ainsi que ton volume La Musique à l’Eglise, où j’ai retrouvé avec grand plaisir d’excellentes pages d’ancienne connaissance. »; zitiert nach ebda., S. 82. 140 Hartmann 1991, S. 12, 50. 141 Ebda., S. 29. 142 Ernst Günter Heinemann: Franz Liszts Auseinandersetzung mit der geistlichen Musik. Zum Konflikt von Kunst und Engagement, München/Salzburg 1978, S. 68–70. 143 Wie sehr Liszt das wechselseitige Verhältnis von Tonalität in der zeitgenössischen Musik und diatonischer Modalität beschäftigte geht aus folgender Stelle eines Briefes an d’Ortigue hervor: « Permets-moi donc, cher d’Ortigue, de rester persuadé qu’un peu plus tôt ou plus tard, quand l’heure en sera venue, je te rendrai un office analogue à celui dont tu as su bon gré à Niedermeyer, et que la démonstration de la tonalité et de la modalité de la Musique présente ne sera pas moins évidente pour ton esprit et tes oreilles, que la démonstration de Niedermeyer de la tonalité et de la modalité du Chant Grégorien. »; zitiert nach Sambeth 1923, S. 83.
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Auf diesem Hintergrund erklärt sich, warum selbst von den geistlichen Werken Liszts keines vollständig auf Vorbildern aus dem Choral oder auf modaler Harmonik und Melodik basiert. Vielmehr ist zu beobachten, dass in ein und demselben Werk Modalität und Choralmelodik wie selbstverständlich neben spätromantische Chromatisierung und expressive Harmonik treten. So vereint Liszt die auseinanderstrebenden Tendenzen der kirchenmusikalischen Strömungen des 19. Jahrhunderts zu kontrastreicher Opposition.144 Hierbei erfüllen Choral und Modalität zum einen die Aufgabe, die spannungsgeladene chromatische Harmonik bewusst zu unterbrechen und sie durch die Kontrastwirkung schärfer zu beleuchten, zum anderen haben sie zitathaften, assoziativen Charakter, d.h. sie binden die Musik an die religiös-liturgische Sphäre zurück. In den Messevertonungen, wie der Männermesse oder der Missa choralis, zeigt sich dies in der mehrfachen Verwendung liturgischer Gloria- oder CredoIntonationen auf ganz direkte und plakative Weise.145 In anderen Messen und geistlichen Werken wiederum werden die Choralmotive selbst zum Gegenstand chromatischer Verfremdung oder fehlen, wie im Requiem, ganz.146 Hieraus erhellt, dass Liszt Choralzitate und -anklänge weder ausschließlich mit modaler Harmonisierung verbunden sieht, noch sie als notwendige Bestandteile seiner geistlichen Musik betrachtet. Sie sind ihm tönende Symbole, die auch dann ihre religiösmagische Wirkung entfalten, wenn sie, ganz im Sinne von Liszts Auffassung einer nach Aussen tretenden Kirchenmusik, die engere liturgische Sphäre verlassen und in anderen Kontexten auftauchen. So interessiert ihn die den 8. Psalmton konstituierende Quart G-C mit dem zwischengliedernden Ton A nicht in erster Linie als Struktur, sondern, wie er selbst bemerkt, als „tonisches Symbol des Kreuzes“, als welches sie in der Legende von der Heiligen Elisabeth fungiert.147 Im Christus zeigt sich der Motto-Charakter, den der Choral für Liszt einnimmt, in dem Jesaja-Zitat, das der Komponist dem einleitenden Satz voranstellt und das dann als klingendes Zitat mit der Melodie des Introitus zum vierten Adventssonntag Rorate coeli desuper zur musikalischen Grundlage der Einleitung wird. Darüber hinaus erscheint es in gleicher mottohafter Funktion zu Beginn des zweiten Teiles und im letzten Satz und bildet somit eine tönende Klammer für das ganze Oratorium. Die Verwendung gregorianischer Zitate im Christus hat Bekenntnischarakter – Liszt hielt sich zur Zeit der Komposition in Rom auf, wo er eine besonders große Nähe zur katholischen Kirche suchte und auch fand. Dennoch erschöpft sich Liszts Verwendung von Choralzitaten und modaler Harmonik nicht in bloßem oberflächlichem Kolorit. Seine intime Vertrautheit mit der Choralforschung und den harmonische Neuerungen im Stile Niedermeyers und d’Ortigues verrät sich in der kundigen technischen Ausführung. 144 Heinemann 1978, S. 28/29. 145 Ebda., 50, S. 137. 146 Vgl. die Beobachtungen bei Sambeth 1923, S. 34, 36, 44 zum Pater noster, zur Graner Festmesse und zum Totentanz; zum Requiem: Hartmann 1991, S. 215. 147 Zitat nach Sambeth 1923, S. 114.
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So ahmt er bei der Verkündigungsszene des Engels, der nacheinander die dritte und die vierte Antiphon der Laudes an Weihnachten zitiert, die rhythmischen Freiheiten des Choralvortrags durch eine differenzierte Rhythmisierung und den Verzicht von Taktstrichen nach148:
F. Liszt: Christus, I. Teil: Beginn des 2. Satzes (Sopran solo)
Der Choral tritt hier – speziell im Kontext eines geistlichen Werkes – in instrumenteller Funktion auf: Er ist nicht nur dem Text und der Stellung im Kirchenjahr nach passendes Zitat, sondern darüber hinaus auch Reverenz an die altehrwürdige kirchliche Tradition und gleichzeitig – die bloße theatralische Pose überschreitend – tröstende Versicherung dieser Tradition für Liszt, der seine Religiosität inmitten äußerer und innerer Kirchenfeindlichkeit leben musste.149 In seiner kompositorischen Adaption wiederum ist der Choral Erfahrung von Alterität gegenüber der zeitgenössischen spätromantischen Tonsprache. Dieser Punkt kommt auch bei Anton Bruckner zum tragen. Für seine 1879 entstandene Motette Os iusti150 wählt er die lydische Tonart in programmatischer Absicht. Die Vertonung des Graduales zum Fest des Hl. Augustinus ist dem Chordirektor des Stifts St. Florian, einem überzeugten Cäcilianer, gewidmet, und die Wahl des Lydischen ist daher als bewusste Entscheidung Bruckners für die Welt des Modalen im Kontrast zur romantischen Harmonik zu verstehen. Dies ist nicht nur aus dem expliziten handschriftlichen Vermerk Bruckners „lydisch“ im Autograph ersichtlich151, sondern auch aus seinem Brief an den Widmungsträger, in dem er die Vorzüge der Harmonik des Stückes in einer Negativbeschreibung, die an Mettenleiter und Niedermeyer erinnert, hervorhebt: „Ohne # und b; ohne
148 Notenbeispiel nach Franz Liszt: Christus (1873), Edition Gábor Darvas, London etc. 1972. 149 Friedrich W. Riedel: „Franz Liszts Verhältnis zur Kirche und zur Kirchenmusik seiner Zeit“, in: Ders.: Musik und Geschichte. Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur musikalischen Landeskunde, München/Salzburg 1989, S. 204. 150 Anton Bruckner: Sämtliche Werke Bd. 21, Kleine Kirchenmusikwerke 1835–1892, vorgelegt von Hans Bauernfeind und Leopold Nowak, Wien 1984, Nr. 28. 151 Anton Bruckner: Sämtliche Werke Bd. 21, Kleine Kirchenmusikwerke 1835–1892, Revisionsbericht, vorgelegt von Leopold Nowak, Wien 1984, S. 103.
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Dreiklang der 7. Stufe; ohne -Akkord, ohne Vier- und Fünfklänge.“152 Ist der Hauptteil des Graduales im Palestrina-Stil gehalten, so greift das abschließende einstimmige Alleluja auf Choralmelodik zurück, ohne direktes Choralzitat zu sein. Dies trifft auch für den später hinzugefügten Alleluja-Vers Inveni David zu. Die hier hinzutretende Orgelbegleitung benutzt, wiederum nach dem Vorbild Mettenleiters und Niedermeyers153, nur diatonische Akkorde in Grundstellung oder Sextakkorde ohne leittönige Verbindungen:
A. Bruckner: Os iusti (Schluss)
Auf dieselbe Art ist auch das zwischen 1885 und 1888 entstandene Ave Regina coelorum gefasst.154 Bei beiden Stücken ist die Choralsphäre durch den UnisonoVortrag in den Gesangsstimmen, das Fehlen von Taktstrichen und die Notation in vorwiegend ganzen Notenwerten offensichtlich, ohne dass Choral direkt zitiert wird. Weder für das Alleluja. Inveni David noch für das Ave Regina ist im Choralrepertoire eine Vorlage nachzuweisen, aus der Bruckners Melodien abzuleiten
152 Zitiert nach Leopold Nowak: „Die Motette „Os justi“ und ihre Handschriften“, in: Ders.: Über Anton Bruckner. Gesammelte Aufsätze 1936–1984, Wien 1985, 247. 153 Für Bruckner ist wohl eher die Kenntnis von Mettenleiters Werk als die des Traité vorauszusetzen. 154 Sämtliche Werke Bd. 21, Nr. 36. Der eröffnende Teil versieht nur die Schlussklänge der einzelnen Phrasen mit Dreiklängen mit erhöhter Terz; im weiteren Verlauf kommen dann auch Septakkorde, wenn auch nur im Durchgang, hinzu.
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wären.155 Die Korrekturen Bruckners im Autograph des Ave Regina zeigen zudem, dass der Komponist die Melodie selbst gestaltet hat.156 Offensichtlich war es für Bruckner nicht unbedingt nötig, Choral direkt zu zitieren, um die Sphäre des Chorals und der damit verbundenen Konnotationen zu erzeugen. Die plakative Wahl des Lydischen, in der sich das Vorbild Beethoven spiegeln mag157, und die modale Harmonisierung waren hierfür übergeordnete und wichtigere Gesichtspunkte. Könnte man hier, wiewohl sich die Melodik Bruckners in den genannten Werken einzelner Bausteine der Choralmelodik bedient, von einer Art „Kunstchoral“ sprechen, so umso mehr beim Agnus Dei aus Verdis Requiem. Hier handelt es sich erkennbar um keine gregorianische Melodie, Verdi signalisiert aber auf mehrfache Weise, dass die Sphäre von Choralvortrag evoziert werden soll.158 Dies zeigt sich bereits darin, dass zu Beginn Sopran und Mezzo-Sopran den ersten AgnusRuf solistisch in parallelen Oktaven, die seit dem 17. Jahrhundert Choral signalisieren, vortragen. Obwohl die Agnus-Melodie im 4/4-Takt notiert ist, weist die Aneinanderreihung von zunächst 4 plus 3 Takten, die dann im zweiten Ansatz zu insgesamt 6 Takten verschmelzen, mit ihrer konstruierten Unregelmäßigkeit auf die rhythmischen Freiheiten des Choralvortrags hin. Hierzu ist auch die rhythmische Ausdifferenzierung jeweils bei „qui tollis peccata mundi“ und „dona eis requiem“, hier besonders mit der eingeschalteten Triole, zu zählen.159 Einen weiteren Hinweis auf die Vorstellung von Choral und Modalität bilden die Rahmenintervalle, in die die Melodie gefasst ist: Die Quart f’’-c’’ bzw. f’-c’ in den jeweils ersten 4 Takten, dann die Oktav g’’-g’ bzw. g’-g bei „qui tollis …“ mit dem Quintfall d’’-g’ bzw. d’-g als Mittelkadenz und, als ausweitende Steigerung, die Oktave a’’-a’ bzw. a’-a bei „dona eis …“. Quart, Quint und Oktav, die konstituierenden Intervalle des Chorals und modaler Skalen bilden also das Gerüst der Me155 Vgl. hierzu Sämtliche Werke Bd. 21, S. VIII/IX, 185, 186, 188; Nowak 1985, S. 248. 156 Sämtliche Werke Bd. 21, Revisionsbericht, S. 139. Die angeblichen gregorianischen Vorlagen für Bruckner, die Elisabeth Maier: „Der Choral in den Kirchenwerken Bruckners“, in: Bericht über das Bruckner-Symposion „Anton Bruckner und die Kirchenmusik“ Linz 1985, Othmar Wessely (Hg.), Linz 1988, S. 115–117, anführt, sind wegen ihrer Nähe zu allgemeinen tropischen Wendungen im Choral kaum überzeugend. 157 Vgl. Ludwig Berberich: „Die Motetten Anton Bruckners“, in: Cäcilien-Vereins Organ, Zeitschrift für Kirchenmusik 69/5,6 (1949), S. 150. Eine archaische Tonartvorstellung und die Rezeption des romantischen Palestrina-Ideals lassen Beethoven den „Heiligen Dankgesang“ in op. 132 mit ausschließlich leitereigenen Akkorden harmonisieren; vgl. Manfred Hermann Schmid: „Streichquartett a-Moll op. 132“, in: Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer (Hgg.): Beethoven: Interpretation seiner Werke, 2 Bde., Laaber 1994, Bd. II, S. 333–337. In der autographen Partitur notierte Beethoven zunächst, wie Bruckner, einfach: „in der lidischen Tonart“; ebda., S. 333, Anm. 3. 158 Ein Reflex findet sich in Hanslicks Besprechung des Verdischen Requiems, wenn er von der „etwas psalmodischen Sopran-Melodie“ des Agnus spricht; Eduard Hanslick: Musikalische Stationen, Berlin 1880, S. 10. 159 Vielleicht könnte die eigentümliche Vorschlagsnote mit Akzentuierung des nachfolgenden Tons bei „A-gnus“ und bei der Parallelstelle „do-na“ als ferner Nachklang einer Liqueszenz oder einer Plica verstanden werden.
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lodik. Der demonstrative Charakter dieser Anlage wird noch dadurch verstärkt, dass Verdi die Melodie in C-Dur gestaltet, also von vorne herein das Bild gleichsam blanker Neutralität und Naturhaftigkeit zeichnet, das auch bis auf das Cis bei „e-is“ durch keine Alteration getrübt wird160:
G. Verdi, Requiem, Agnus Dei, T. 1–13
Im weiteren Verlauf wird die Choralvorstellung noch dadurch gestärkt, dass bei der ersten Wiederholung des „Agnus Dei“ der gesamte Chor mitsamt dem Orchester die Melodie ebenfalls im Unisono vorträgt. Diese erste Wiederholung entpuppt sich in der Gesamtanlage des Stückes als erste von mehreren variierten Durchführungen der „Agnus“-Melodie und suggeriert auch dadurch schon die Technik von Choralvariation mit cantus firmus, was durch die anschließende typische „minore“-Variante der beiden Solo-Stimmen nur bestätigt wird. Auch bei der dann folgenden vierstimmigen Fassung in den Chorstimmen ist die Harmonisierung bewusst schlicht gehalten, Dissonanzen und Alterationen sind mit großer Zurückhaltung angebracht. In dieser vornehmen Bescheidung, die Verdi für die Charakterisierung von Choral angemessen erscheint, klingt etwas von jener « puissante simplicité » an, die dem Meister nicht ohne Zufall gerade in Frankreich als besonderes Verdienst angerechnet wurde161:
160 Notenbeispiel nach Guiseppe Verdi: Messa da Requiem (1874), Edition David Rosen, Chicago, London, Mailand 1990. 161 « … la puissante simplicité qui a rendu populaire et universel le maître parmesan … »; Théophile Gautier in seiner Kritik über Verdis Don Carlos, in: Le Moniteur Universel (18.03.1867), S. 2.
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G. Verdi: Requiem, Agnus Dei, T. 39–45
Obwohl kein direkter Kontakt Verdis zu Solesmes oder zur ChoralReformbewegung bekannt ist, könnte er doch spätestens seit dem Kongress von Arezzo oder anlässlich seiner Paris-Aufenthalte mit dem Gedankengut der Choralrestitution in Berührung gekommen sein. Unabhängig hiervon wendet er im Agnus des Requiems ganz bewusst nach choralischen Vorbildern gestaltete Melodik und diatonische Harmonik als Kontrastmittel zur spätromantischen Musiksprache an, um eine Vorstellung von geistlicher Musik zu erwecken, die über eine bloße kolorierende Absicht, wie beispielsweise bei den liturgischen Gebetston karikierenden Aufforderungen zur Buße („Domine fallo casto!“) im zweiten Teil des 3. Aktes von Falstaff oder beim Miserere des Mönchschors im 4. Akt des Trovatore, weit hinausgeht und sich auch von den archaisierenden parallelen Quinten beim „Oro supplex et acclinis“ aus dem Confutatis seines Requiems unterscheidet.162 Eine erstaunliche Parallele, die im Nachhinein den Choralcharakter von Verdis Agnus-Melodie bestätigt, findet sich im fünften Satz des ersten Teils von 162 „Verdi’s Requiem enthält neben großen Schönheiten auch manche schwache Stelle, sogar einiges Unschöne (wie die mit sonderbarer Absichtlichkeit angebrachten Parallel-Quinten in dem Baßsolo „Confutatis“)“; Hanslick 1880, S. 10.
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Liszts Christus. Liszt bemerkt hierzu selbst: « D’aventure, la mélodie de l’Agnus Dei du Requiem [de Verdi] ressemble singulièrement à celle du verset Apertis thesauris suis obtulerunt Magi de mon Oratorio Christus. Cette concomitance me flatte ».163 In der Tat zeigt das Thema des Adagio sostenuto assai eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu Verdis Melodie: Der erste Viertakter setzt wie bei Verdi auf der Terz der Grundtonart mit einer punktierten Halben ein, um sich dann in Viertelbewegung zur Quart aufzuschwingen und am Ende auf dem Grundton zur Ruhe zu kommen164. Im Gegensatz zu Verdi, bei dem die Quinte den Ansatz des fünften Taktes markiert, erreicht Liszts Melodie bereits im dritten Takt den Quintton der Tonart, der Beginn des zweiten Viertakters wird dafür mit der Sext ausgezeichnet, der sich derselbe abwärtsführende Gestus anschließt. Die triolische Schlussformel, die Verdi erst bei der Wiederholung der Melodie anwendet, erscheint bei Liszt bereits zu Ende des ersten Teils. Der zweite Teil stellt wie bei Verdi eine Wiederholung des ersten dar, wobei dem Sextansatz bei Verdi hier nun die Septime a’ entspricht:165
163 Brief vom 13. August 1874 an Kardinal Gustav Hohenlohe; zitiert nach: Franz Liszts Briefe. Gesammelt und herausgegeben von La Mara, Bd. 8: 1823–1886. Neue Folge zu Band I und II, Leipzig 1905, S. 278. 164 Die Ähnlichkeit zu Verdis Melodie wird noch größer, wenn das Thema T. 366ff in C-Dur erscheint. 165 Nebenbei bemerkt, stellt sich damit, wenn auch in ganz anderem tonartlichen Kontext, wie bei Verdi die Oktav a’-a ein.
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F. Liszt: Christus, Teil I/5, T. 224–240 (nur Streicher)
Wiewohl Liszt seine Melodie gegenüber Verdi in regelmäßige Viertakter gießt, ist die Idee eines „Kunstchorals“ auch hier unverkennbar – und der Vergleich Liszts ist sicher auch auf dieses Charakteristikum zu beziehen. Das zeigen schon die Unisono-Koppelung von ersten und zweiten Geigen mit den Celli und das Schriftzitat, das in diesem Falle an die Stelle eines konkreten liturgischen Textes tritt. In seinem Te Deum von 1859 lässt Liszt den größten Teil des Werkes von einem in Frauen- und Männerstimmen geteilten Chor ausführen, der die Choralmelodie des Lobgesangs in parallelen Oktaven vorträgt und damit zusätzlich Choralsphäre vermittelt. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass auch die Orgel, die die hauptsächliche Begleitfunktion übernimmt, während die Blechbläser nur punktuelle Stützfunktion haben166, das einleitende „Te Deum laudamus“ in parallelen Oktaven mitspielt. Die anschließend einsetzende Begleitung setzt zu jedem Cantus-Ton einen einzelnen Akkord, ausnahmslos in Grundstellung und mit strikter Vermeidung jeder leittönigen Wendung oder chromatischen Alteration.167 Der Bezug auf das Mettenleitersche Enchiridion und auf den Traité von Niedermeyer ist schon wegen der zeitlichen Nähe zur Entstehung dieser Traktate offenkundig168, und der Vergleich mit Niedermeyers Harmonisierung aus seinem Graduel von 1861 zeigt die Identität beider Fassungen: 166 In der Vorliebe Liszts für die Besetzung Sologesang bzw. Chor mit Orgel in seinen kirchlichen Werken spiegelt sich die französische Tradition der Orgelmesse; vgl. Riedel 1989, S. 205. 167 Erst im Mittelteil fächert sich der Chor in einzelne Stimmen auf und kommt es zu einigen Dominant-Tonika-Wendungen. Notenbeispiel nach: Edition Michael von Hintzenstern, Stuttgart 1986. 168 Zu diesem und den folgenden Beispielen vgl. die Beobachtungen bei Serge Gut: „Die historische Position der Modalität bei Franz Liszt“, in: Kongressbericht Eisenstadt 1975. Im Auftrag des European Liszt-Centre (ELC) hg. von Wolfgang Suppan (= Liszt-Studien, Bd. 1), Graz 1977, S. 97–103.
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F. Liszt: Te Deum, T. 1–14 (nur Chor und Orgel)
Louis Niedermeyer:Accompagnement pour Orgue des principaux offices de l’Église selon le rite Romain ... Première partie: Graduel, Paris 1861, 4
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Auch im Magnificat der Dante-Symphonie wird der Frauen- oder Knabenchor, der die Psalmodie des Canticums im transponierten achten Psalmton im Unisono vorträgt, ausschließlich von diatonischen Akkorden in Grundstellung begleitet.169
F. Liszt: Dante-Symphonie, II. Purgatorio, T. 13–16 nach Ziffer O
Als weiteres Beispiel ließe sich die Orgelbearbeitung des Salve Regina anführen, in der Liszt ebenfalls nur Akkorde in Grundstellung oder Sextakkorde verwendet und mit archaisierender Wirkung den Leitton bei Kadenzstellen vermeidet.170 Dies hat denselben demonstrativen Charakter, wie wenn Berlioz im zweiten Teil seiner L’enfance du Christ, beim Vorspiel zu La Fuite en Egypte, expressis verbis „Mi non “ im zweiten Takt der Violinen (und dann nochmals „Si non “ an der entsprechenden Stelle bei den Celli und Kontrabässen) vermerkt, um auf den tatsächlich beabsichtigten Ton e innerhalb von fis-Moll aufmerksam zu machen.
169 Vgl. Sambeth 1923, S. 49ff. 170 In dieser betonten und stilisierten Einfachheit mag auch Liszts Sympathie für das franziskanische Ideal durchscheinen; vgl. Riedel 1989, S. 204.
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F. Liszt: Salve Regina, T. 1–18
Im weiteren Verlauf weicht jedoch dann plötzlich diese Diatonik einer zunehmenden Chromatisierung und führt damit jenes Nebeneinander von modaler und spätromantischer Harmonik vor Augen, das in besonderem Maße Liszts Via Crucis kennzeichnet. Der einleitende Choralhymnus Vexilla regis dieses musikalischen Kreuzweges wird – ganz wie im Te Deum – nach einer Intonation der Orgel in parallelen Oktaven vom Chor zunächst im Unisono vorgetragen und von der Orgel in Oktaven begleitet. Die folgende Orgelbegleitung verwendet wiederum nur diatonische Akkorde171 in Grundstellung, die Kadenzen sind leittonfrei172:
F. Liszt: Vexilla Regis, T. 1–22 171 Eine Ausnahme bildet der Es-Dur-Akkord bei per-tulit. 172 Notenbeispiel nach: Edition Thomas Kohlhase, Stuttgart 1978.
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Wie sehr sich eine solche Harmonisierung von der üblichen Begleitpraxis der Zeit unterscheidet, zeigt ein Vergleich mit dem Beginn des Vexilla regis aus Franz Xaver Reihings Vesperale von 1858 mit seiner selbstverständlichen Anwendung tonaler, leittöniger Kadenzen:
Der weitere Verlauf des Vexilla regis bei Liszt ist dann von zunehmender Chromatisierung gekennzeichnet. Sie weist voraus auf die 12. Station mit ihrer zu äußerster Expressivität gesteigerten spätromantischen Harmonik.173 Diese für Liszt charakteristische bipolare Sympathie für die modale Diatonik auf der einen und die romantische Harmonik auf der anderen Seite mag mit seiner deutsch-französischen kulturellen Ambivalenz zu tun haben.174 Sie weist aber auch nochmals auf den eigenen Weg Liszts und gleichzeitig auf den Unterschied zu Fauré hin. Liszt schließt sich weder einer museal erstarrten Palestrina-Imitation deutscher Prägung noch einer dogmatischen Einengung modaler Harmonik auf die Choralbegleitung nach dem Willen französischer Reformkreise an. Liszt, wie auch in verwandter Weise Bruckner und Verdi, behalten die spätromantische Musiksprache als Basis bei und gebrauchen Choral und Modalität als Kontrastfolie, die die beiden musikalischen Idiome in spannungsvollem Wechsel gegenseitig beleuchtet und damit im Zuge einer schärferen Wahrnehmung zu einer qualitativen Bereicherung führt.175 Bei Fauré dagegen steht an Stelle des Kontrastes die Synthese: Durch die Integration der Modalität in die funktionalen Harmonik entsteht bei ihm eine die Tonalität erweiternde Alternative zur chromatischen Harmonik, die als eigenständige musikalische Sprache aus dem engeren Zirkel religiöser Musik heraustritt.
173 Heinemann 1979, S. 78. 174 So die Vermutung von Serge Gut 1977, S. 97. 175 Vgl. Heinemann 1979, S. 98/99, Hartmann 1991, S. 152.
4. « CLAUDE DE FRANCE » 4.1 PELLÉAS ET MÉLISANDE
« Qui n’a pas vu Claude Debussy attentive aux plainchants, qui tombaient des voûtes glacées de Saint-Gervais, ne se doute pas de ce que Pelléas doit à Bordes. »351
Die Namen, die Jules Ecorcheville in seinem Nachruf auf Charles Bordes miteinander in Verbindung bringt, stehen für zwei der wichtigsten Bewegungen innerhalb der französischen musikgeschichtlichen Entwicklung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Zum einen Charles Bordes, der mit seinen Chanteurs de Saint-Gervais und der später hieraus hervorgehenden Schola Cantorum neben den Mönchen von Solesmes am nachhaltigsten für die Restauration des Gregorianischen Chorals in Frankreich und für seine Verbreitung im allgemeinen Musikleben verantwortlich zeichnete. Auf der anderen Seite Claude Debussy, dessen erste und einzige Oper Pelléas et Mélisande bereits von den Zeitgenossen, bei aller kontroverser Kritik, als das epochemachende Werk der französischen Musikgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts begriffen wurde. Die Verbindung, die Ecorcheville postuliert, mag zunächst nicht unmittelbar einleuchtend erscheinen. Debussy nahm nie aktiv an der Arbeit der Schola teil wie etwa Vincent d’Indy oder Alexandre Guilmant. Außerdem war er Absolvent des Conservatoire, als dessen notwendiges Korrektiv für die Rückbesinnung auf die Werte ältere Musik, zumal im geistlichen Bereich, und Gegenspieler sich die Schola verstand. Und doch wirft Ecorcheville mit seinem Ausruf ein bezeichnendes Licht auf die vielfältigen Verbindungen und Beeinflussungen zwischen den Bemühungen um die Wiederbelebung älterer Musik vor allem auch durch praktische Aufführungen und die kompositorische Neuorientierung der französischen Komponisten um die Jahrhundertwende. Inwiefern diese Querverbindungen bei Claude Debussy und insbesondere bei seiner Oper Pelléas et Mélisande wirksam wurden, soll im Folgenden beleuchtet werden. Für Debussy war die Entdeckung des Dramas Pelléas et Mélisande von Maurice Maeterlinck im Jahre 1892 eine Offenbarung. Auf seiner Suche nach einem geeigneten Opernstoff fand er hier einen Text, dessen « atmosphère de rêves »352 ihm wie geschaffen schien für seine Vorstellungen eines musikalischen Dramas. Diese waren vor allem gegen Wagner gerichtet. So sehr er Wagner für sich be351 Jules Ecorcheville, Charles Bordes, in: Le Siècle, Novembre 23, 1909 (Mardi, 74ème année, No 20980). 352 Claude Debussy: „Pourquoi j’ai écrit « Pelléas »“, in: François Lesure (Hg.): Claude Debussy: Monsieur Croche et autres écrits, Paris 1971, S. 62.
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wunderte, so sehr war er der Überzeugung, dass die französische Musik einen ganz anderen Weg gehen musste, der sich aus den musikalischen Traditionen der eigenen Vergangenheit speiste. Die Faszination, die von Maeterlincks Drama ausging, lag für Debussy zunächst in der symbolistischen, märchenhaften Szenerie des ganzen Geschehens. Das Drama entführt in eine Traumwelt, in der eine eigentümliche Zeitentrücktheit und Irrationalität herrschen. Über den Personen lastet ein merkwürdiges Fatum, das sie eines selbstbestimmten Handelns enthebt. Von Anfang werden bewusst kausale Zusammenhänge unterdrückt, so dass der Zuschauer von Maeterlincks Drama und später der Hörer von Debussys Oper im Bewusstsein einer tragischen dunklen Verstrickung ohne eigentliche Sinnhaftigkeit gelassen wird.353 Exemplarisch zeigt sich dies bereits in der ersten Szene des ersten Aktes: Das merkwürdig-zufällige Zusammentreffen von Golaud und Mélisande im Wald führt zu einem Dialog, der trotz vieler Fragen von Golaud eher zur Verdunklung als zur Erhellung des Geschehens beiträgt. So erklärt Mélisande weder wer ihr etwas angetan hat, woher sie stammt, vor wem sie geflohen ist, noch wer ihr eine Krone gab, und erst recht nicht, warum sie diese nicht wieder haben will. Dieses Gespräch evoziert eine dunkle unaufgeklärte Vergangenheit, die mit der Orientierungslosigkeit der beiden Protagonisten im dunklen Wald korrespondiert. Der Aufschrei « Je suis perdue! » von Mélisande, den Golaud am Schluss der Szene resigniert aufgreift – « Je suis perdu aussi » – wirkt wie eine schreckliche Vorahnung auf das kommende Geschehen: Die unglückliche Liebe zwischen Pelléas und Mélisande, die Ermordung von Pelléas durch Golaud, der plötzliche Tod Mélisandes. Romain Rolland bemerkt über Maeterlincks Drama: « L’atmosphère où se meut le drame de Mæterlinck est un abandon mélancolique de la volonté de vivre à la Fatalité. Rien ne peut rien changer à l’ordre des événements. En dépit des illusions de l’orgueil humain qui se croit le maître, des forces inconnues et irrésistibles mènent, d’un bout à l’autre, la tragique comédie de la vie. Nul n’est responsable de ce qu’il veut, de ce qu’il aime ; … On vit, on meurt, sans savoir pourquoi. »354 Rolland macht diesen eigenartigen Wesenszug von Maeterlincks Drama für den Erfolg und für die Bedeutung von Debussys Oper mitverantwortlich. Beide, Maeterlinck und Debussy, sind von den ästhetischen Positionen des literarischen Symbolismus geprägt.355 So konnte Debussy seine musikalischen Vorstellungen in idealer Weise umsetzen, denn die skizzierte Konzeption des Dramas führt dazu, dass sich kaum ein wirklicher Handlungsgang ergibt, sondern vielmehr eine Abfolge von Szenen, die eine Introspektive von Seelenzuständen nachzeichnen. Die Personen des Dramas erscheinen nicht eigentlich als Handelnde, sondern gerade 353 Debussys Textkürzungen, die teilweise auf Maeterlinck selbst zurückgehen, verschleiern teilweise zusätzlich noch die Handlung; vgl. Robert Jardillier: Pelléas, Paris 1927, S. 66 und Robert Orledge: Debussy and the theatre, Cambridge 1982, S. 54/55. 354 Romain Rolland: Musiciens d’aujourd’hui, Paris 1908, S. 198. 355 Hierzu Anita Kolbus: Maeterlinck, Debussy, Schönberg und andere: „Pelléas et Mélisande“. Zur musikalischen Rezeption eines symbolistischen Dramas, Marburg 2001.
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als dem eigenverantwortlichen Tun Beraubte, marionettenhaft356, in einer „pflanzenhaften Passivität“357; sie sind auf die Reflektion ihrer seelischen Regungen zurückgeworfen. Diese Konzentration auf das Innenleben der Akteure kam dem entgegen, was Debussy auf seiner Suche nach einer Erneuerung der französischen Oper zu finden hoffte. Die Schilderung von Seelenzuständen ist für Debussy gleichbedeutend mit einer äußersten Beschränkung der musikalischen Ausdrucksmittel. Im Mittelpunkt soll die sich äußernde und sich ausdrückende Person stehen und von dieser Mitte darf nichts Überflüssiges ablenken. Die Suche nach einem neuen Weg für die Oper ist deshalb für Debussy ganz dezidiert die Suche nach einer neuen Einfachheit und Freiheit in der Musik. Die Genese dieser Position ist zum einen vor dem Hintergrund des französischen Opernschaffens im ausklingenden 19. Jahrhundert, zum anderen in Hinblick auf den Einfluss Wagners auf die französische Musik zu verstehen. In seiner sarkastischen Art gibt Debussy im Monsieur Croche seiner Meinung über die Pariser Opéra und die dort aufgeführten Werke Ausdruck: Die Opéra sei ein aufgeblasener monumentaler Bau, zu dem die Qualität der dort gegebenen Opern passe, ebenso wie das Publikum, das weniger wegen der Musik, sondern eher zum Zwecke der Selbstinszenierung auftauche.358 Dabei trifft Debussys Kritik nicht nur das von italienischen Vorbildern beeinflusste « théâtre meyerbeerien » mit seinen « pompes clinquantes »359, sondern auch das Schaffen der französischen Komponisten der vorhergehenden Generation wie Saint-Saëns oder Massenet, die beide mehr oder weniger stark in einem Wagnerschen Epigonentum befangen blieben. Debussy sieht « aucune tentative vraiment neuve », die Musik scheint ihm im Gegenteil in einer Fremdbestimmung gefangen, die verhindert, dass die eigentlichen französischen Tugenden zum Vorschein kommen können.360 Diese « qualités fondamentales du génie français » definiert Debussy als « clarté » sowie « ramassé dans l’expression et dans la forme ».361 Wagner habe eben diese Eigenschaften mit seiner Konzeption des symphonischen Dramas verdunkelt. Sein Weg ist in den Augen Debussys zwar für sich bewundernswert, führt aber in Hinblick auf eine Erneuerung der französischen Musik nur in eine Sackgasse. Debussy nennt denn 356 « On cherche les fils qui font mouvoir ces marionnettes »; André Hallays: „Pelléas et Mélisande“, in: La Revue de Paris, 15. 05. 1902, S. 415. 357 Peter Cahn: „Der Szenenaufbau in Debussys „Pelléas et Mélisande“, in: Kongressbericht Bonn 1970, Kassel etc. o. J., S. 210. 358 Monsieur Croche, S. 38/39. Zu Debussys Äußerungen in seinen Schriften und Briefen ist grundsätzlich zu bemerken, dass sie kritisch zu betrachten und ihr Hang zu Ironie und Mehrdeutigkeit zu beachten ist. Die letzte Beurteilungsinstanz müssen die Kompositionen selbst bleiben, und es gilt die Warnung François Lesures: « Il convient donc de ne pas toujours lire Debussy au premier degré. … Ses déclarations sur ces sujets ne paraîtront contradictoires qu’à ceux qui ne cherchent pas à déceler les intentions du moment. »; François Lesure: Claude Debussy: Lettres 1884–1918, Paris 1980, S. VIII. 359 Monsieur Croche, S. 306. 360 « On dirait que la musique en entrant à l’Opéra y endosse un uniforme obligatoire comme celui d’un bagne »; Monsieur Croche, S. 40. 361 Ebda., S. 67.
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auch Wagner, wohl auch eingedenk seiner eigenen anfänglichen WagnerBegeisterung, einen « beau coucher de soleil que l’on a pris pour une aurore ».362 Der Hauptvorwurf, den Debussy Wagner gegenüber macht, ist der der « fausseté ».363 Wagners Idee, das musikalische Drama mit der symphonischen Form zu vermählen, führe dazu, dass die Darstellung der Charaktere durch die neue gewichtige Rolle, die dem Orchester zukommt, nicht mehr allein im Mittelpunkt stehe. Bildet nach Wagners Konzeption das Orchester gleichsam eine Trägerschicht, in die das gesamte musikalische Geschehen eingebettet ist, so werden nach Debussy die Aufblähung des Orchesterapparates sowie « les développements, cette chose si longue et si ennuyeuse » im Orchester, in denen die Bühnencharaktere zur Passivität verurteilt sind, zum Grab für die Konzentration auf das Wesentliche und für eine natürliche Sprachdarstellung.364 In dem Bestreben, letzteres zu verhindern, ist die Grundlage für Debussys Entwurf eines neuen musikalischen Dramas zu sehen. Von Anfang an versteht er selbst die Arbeit an Pelléas als Einlösung seiner Vision einer völlig neuen Form von Musik für das Theater.365 Die Eckkoordinaten dieser neuen Form sind folgendermaßen bestimmt: Im Zentrum steht der Mensch, der sich und seine Seelenlage ausdrückt. Dies soll durch eine möglichst nahe an den natürlichen Sprachvortrag angelehnte musikalische Deklamation geschehen. Um dies zu erreichen, ergeben sich als Konsequenzen eine einfache Form, die die handlungshemmende Teilung in Arien und Rezitative überwindet, ein einfaches Orchester, das sich nie in den Vordergrund drängt oder den Fortgang der Handlung unterbricht sowie eine musikalische Gesamtkonzeption, die sich jeder übertriebener weil unmotivierter Gefühlsausbrüche begibt, dagegen als Grundhaltung eine klare Einfachheit und Zurückhaltung annimmt.366 Gleichsam als Kur verordnet Debussy der französischen Musik: « Épurons notre musique. Appliquons-nous à la décongestionner. ... Wagner n’est pas un bon professeur de français. » Es gelte, zu einer « musique plus nue zu finden. »367 Diese letzte Forderung macht die Nähe zu und den Einfluss von Eric Satie deutlich, der ja seinerseits eine « musique dépouillée » propagierte.368 Ebenfalls von ihm stammt der Debussy gegenüber geäußerte berühmte Rat, das Orchester „keine Grimassen schneiden zu lassen“369, eine Anregung, die Debussy offensichtlich in seine Konzeption des Pelléas miteinbezog. Die Opposition Debussys zu Wagner ist zum einen von einer zunehmenden allgemeinen Ablehnung des deutschen Einflusses nach der Hochblüte des Wagné362 363 364 365 366 367 368 369
Ebda., S. 64. Ebda., S. 265. Ebda., S. 266. Ebda., S. 61. Ebda., S. 266. Ebda., S. 241. Vgl. Anm. 609. « Il faudrait […] que l’orchestre ne grimace pas quand un personnage entre en scène. »; nach Jean Cocteau: „Fragments d’une conférence sur Eric Satie (1920) “, in: La Revue Musicale 38 (1. März 1924), S. 221.
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risme motiviert, zum anderen wird sich Debussy einer prinzipiellen Eigengesetzlichkeit der französischen Sprachdeklamation bewusst, die einer genuinen Lösung im Musikalischen bedarf. Für Debussy entfernt sich die Wagnersche Art der Sprachbehandlung zusammen mit der gewichtigen Orchesterbegleitung zu sehr vom natürlichen Sprachvortrag. In gewisser Weise vergewaltige sie damit die eigentliche sprachliche Aussage, die für sich stehen und wirken soll. Debussy sieht daher seine eigentliche Mission darin, der französischen Musik eine neue Freiheit zu bringen, die der Komplexität der französischen Sprache mit ihrem sehr variablen Akzentmuster entgegenkommt. Nach Debussys eigener Aussage versuchen die Personen in Pelléas, « de chanter comme des personnes naturelles et non pas dans une langue arbitraire faite de traditions surannés. »370 Die Musik soll hierbei so beschaffen sein, dass sie sich innig mit dem Text verbindet und sich von dem « vague bourdonnement qui accompagne trop généralement les vers ou la prose »371 deutlich unterscheidet. Auf der Suche nach solch einer neuen, dem französischen Geist entsprechenden Bühnenmusik, stieß Debussy auf Vorbilder aus der Musikgeschichte, die als Anregungen für die Entwicklung einer am natürlichen Sprachvortrag geschulten musikalischen Deklamation dienen konnten: Zum einen die Opern Rameaus, in deren Rezitative Debussy den Vorläufer eines genuin französischen Sprachvortrags erblickte. Zum anderen der Gregorianische Choral, dem als Ausgangspunkt aller musikalischen Entwicklung noch größere Bedeutung zukam. Er konnte zwar nicht wie Rameau als primär französische Musik reklamiert werden, durch die fast ausschließlich in Frankreich betriebenen Bemühungen um die Wiederherstellung seiner ursprünglichen Gestalt und seine katalytische Wirkung für die Rückbesinnung auf ältere Musik im allgemeinen als eines nationalen Erbes wurde er jedoch zu einem französischen Anliegen per se. Bevor wir uns den konkreten Auswirkungen dieser musikgeschichtlichen Vorläufer auf Debussys musikalische Konzeption und ihrer Anwendung in Pelléas zuwenden, sollen im Folgenden die beiden Hauptträger der Bewegung zur Rückbesinnung auf die musikalische Vergangenheit betrachtet werden: Charles Bordes und die Schola Cantorum sowie die Schule von Solesmes.
4.2 CHARLES BORDES UND DIE SCHOLA CANTORUM Anlässlich einer Aufführung von Rameaus Castor et Pollux in der Schola Cantorum würdigt Debussy die Leistungen und Verdienste von Charles Bordes folgendermaßen: « M. Charles Bordes est presque universellement connu, cela pour les meilleures raisons du monde. … puis il a l’âme de ces ardents missionnaires de jadis … Assurément il est moins périlleux de catéchiser les foules au nom de Palestrina que les sauvages avec l’Évangile ; toutefois, on peut y rencontrer la même 370 Monsieur Croche, S. 62. 371 Ebda., S. 305.
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mauvaise volonté – le genre de supplice seul diffère : les uns ont le scalp, les autres le bâillement ! »372 Mit dieser Hommage zeichnet Debussy mit wenigen Strichen ein stimmiges Bild der Persönlichkeit von Charles Bordes und seiner Bedeutung für die Wiederbelebung älterer Musik im Frankreich der Jahrhundertwende: Bordes besonderes Verdienst ist darin zu sehen, dass er die von Solesmes ausgehenden Impulse zur Restauration des Chorals nicht nur auf breiter Basis aufgriff und auf weitere ältere geistliche Musik vor allem der Palestrina-Zeit ausdehnte, sondern durch Gründung eines eigenen spezialisierten Ensembles und durch umfassende Konzertreisen dieses wieder neuentdeckte Repertoire dem Publikum in ganz Frankreich zugänglich machte. Durch seine jahrelangen unermüdlichen Bemühungen, die immer durch eine Kombination aus pädagogischer Tätigkeit in Form von Vorträgen und praktischem Tun als ausübender Musiker gekennzeichnet waren, erreichte er eine allmähliche Verankerung älterer Musik im musikgeschichtlichen Bewusstsein. Mit der Institutionalisierung seiner Bewegung in Form der Schola Cantorum entwickelte sich eine Ausbildungsstätte, die schnell zum Anziehungspunkt für junge Musiker und – wie Debussy 1903 bemerkt – zum bedrohlichen Konkurrenten und « cauchemar » des Conservatoires wurde.373 Resümierend fasst Debussy die besondere und folgenreiche Zielsetzung der Schola, die Wiederbelebung älterer Musik mit deren Fruchtbarmachung für das Schaffen der jungen Komponistengeneration zu verbinden, zusammen: « Depuis quelques années, cette école … nous a restitué toute la beauté de l’ancienne musique ; sans parler de ce qu’elle a fait connaître de l’œuvre des jeunes musiciens inconnus. »374 Bordes Aktivitäten sind vor dem Hintergrund der kirchenmusikalischen Entwicklungen in Frankreich von der Mitte des 19. Jahrhunderts an zu verstehen. In diese Atmosphäre hinein fällt das aktive Wirken Charles Bordes, beginnend mit seiner Berufung zum Kantor an Saint-Gervais zu Paris im Jahre 1890. 1892 brachte Bordes zusammen mit Vincent d’Indy innerhalb der Karwoche zum ersten Mal ein Programm zur Aufführung, das nur aus älterer Kirchenmusik bestand. Der Bogen spannte sich von Palestrina bis Bach, hatte aber bereits einen deutlichen Schwerpunkt auf den Meistern des 16. Jahrhunderts. Ebenso zeigte sich hier bereits die große Rolle, die der Gregorianische Choral nach der Methode von Solesmes, spezieller nach den Forschungen Dom Pothiers spielen sollte.375 Der Erfolg der Darbietungen führte im selben Jahr zur Gründung eines festen Ensembles, der Chanteurs de Saint-Gervais, dessen in einer Satzung festgelegte Aufgabe die Aufführung und Verbreitung vorwiegend des Choralrepertoires und der Meisterwerke des 16. Jahrhunderts war.376 372 373 374 375
Ebda., S. 87. Ebda., S. 88. Ebda. Philip Michael Dowd FSC: Charles Bordes and the Schola Cantorum of Paris: Their influences on the liturgical music of the 19th and early 20th centuries, Ph. Diss., Catholic University of America, Washington 1969, S. 19/20. 376 Ebda., S. 21/22.
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Die wachsenden Aktivitäten dieser Gruppe ließen den Plan reifen, einen umfassenden Zusammenschluss aller Interessenten älterer Musik anzustreben. Zusammen mit Vincent d’Indy, dem Organisten Alexandre Guilmant und dem Musikhistoriker Louis-Albert Bourgoult-Ducoudray wurde so 1894 die Schola Cantorum ins Leben gerufen, die ihren Schwerpunkt zunächst als aufführendes Ensemble hatte. Als Publikationsorgan diente die Tribune de Saint-Gervais, die in ihrer ersten Nummer die folgende Zielsetzung der Schola formulierte: Wiederherstellung der verlorenen Tradition des Gregorianischen Chorals, Wiederbelebung der Musik Palestrinas und anderer Meister des 16. Jahrhunderts sowie Anleitung zur Schaffung neuer geistlicher Musik, besonders auch für Organisten.377 Bald stellte sich heraus, dass dem Mangel an genügend ausgebildeten Sängern für dieses Repertoire und der steigenden Nachfrage junger Komponisten nach vertiefendem Studium älterer Musik nur durch eine eigene Ausbildungsstätte begegnet werden konnte. So wurde 1896 die Schola Cantorum zu einer „Schule für Choral und Geistliche Musik“, dazu bestimmt, die „Wiederherstellung wahrer Kirchenmusik“ voranzutreiben.378 Die benötigten Lehrkräfte waren bereits Mitglieder der Gesellschaft: Guilmant für Orgel, d’Indy für Komposition und Kontrapunkt, Bordes für Vokalensemble, Bourgault-Ducoudray für Musikgeschichte und – bereits von Anfang an – Dom Pothier als Gastdozent für Gregorianischen Choral. Zusammen mit der Tribune als Publikationsorgan war damit eine Schule ganz in der Tradition von Choron und Niedermeyer geschaffen, mit dem Unterschied, dass die Schola einen ständig wachsenden und nachhaltigen Einfluss auf das Musikleben Frankreichs ausübte. Die Zahl der Studenten wuchs von 21 im Gründungsjahr bis auf 600 im Jahre 1930, und zu den Absolventen zählten so bedeutende Namen wie Albert Roussel, Erik Satie, Roland-Manuel oder Edgar Varèse. Die enge Verbindung zu Solesmes zeigte sich darin, dass Pothier und Mocquereau nicht nur an der Schola unterrichteten, sondern auch die Studenten sich immer wieder zu Gastaufenthalten in der Abtei einfanden, dort mit der Methode von Solesmes vertraut gemacht wurden und das Stundengebet mitsangen. Im Gegenzug steuerten Pothier und Mocquereau forschungsgeschichtliche und aufführungspraktische Artikel zur Tribune de St. Gervais bei.379 Die Lehre der Solesmer Mönche fand damit über die Schola eine weitgreifende und folgenreiche Verbreitung. Der Gregorianische Choral blieb auch weiterhin unverzichtbare Grundlage der Ausbildung und der Aufführungen, nachdem die Schola im Jahre 1900 wegen der wachsenden Studentenzahlen ihr Curriculum erweitert und Bordes die Direktion an d’Indy übergeben hatte. Letzterer verstärkte sogar noch die Bedeutung mittelalterlicher Musik als Leitbild, sodass Romain Rolland in Hinblick auf die Schola vom « esprit gothique » sprach, der dort herrsche.380 377 378 379 380
Ebda., S. 30. Zitiert nach ebda., S. 33. Ebda., S. 43, 82. Johannes Trillig: Untersuchungen zur Rezeption Claude Debussys in der zeitgenössischen Musikkritik (= Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft Bd. 13), Tutzing 1983, S. 51.
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Bordes widmete sich nun in verstärktem Maße der Aufgabe, sein Anliegen, eine neue Ära in der Geschichte der französischen Kirchenmusik einzuläuten, das er in der Schola verwirklicht sah, nach außen hin „werbewirksam“ zu vertreten. Hierzu zählten neben den hauseigenen Publikationsorganen der Schola Sammlungen alter Kirchenmusik und von Volksmusik, die Bordes selbst herausgab, die Gründung von Ablegern der Schola in anderen Provinzen Frankreichs, die Organisation von Kongressen, Gesellschaften und Chören zur Pflege älterer Musik, vor allem aber eine umfangreiche Konzerttätigkeit mit den Chanteurs, die jeweils mit musikgeschichtlichen Vorträgen von Bordes verbunden war. Entscheidend ist der Umstand, dass die Chanteurs ihre Aufführungen nicht nur im Kontext der Liturgie gaben, sondern erstmals diese ältere und für das Pariser Publikum völlig ungewohnte Musik als eigenes Konzert-Repertoire darboten. Dabei blieben die Auftrittsorte keineswegs auf kirchliche Räume beschränkt, sondern die Chanteurs konzertierten in Reihen, die sonst dem gewöhnlichen Pariser Konzertleben gewidmet waren. Das Publikum nahm diese Musik, von der ein durchaus exotischer Reiz ausging, mit Begeisterung auf. So gaben die Chanteurs innerhalb der Concerts Lamoureux ein Konzert, bei dem die über 2000 Zuhörer lautstark die Wiederholung eines Gregorianischen Allelujas forderten; dies wiederholte sich in ganz ähnlicher Weise anlässlich eines Konzerts in den „Folies Bergères“.381 Wenn auch die Konzertberichte der Tribune durch die missionarische Brille der Schola etwas gefärbt sein mögen, so bleibt doch festzuhalten, dass durch die Aktivitäten von Bordes Ensemble Gregorianischer Choral – und damit gleichgesetzt die Methode von Solesmes als Abgrenzung gegenüber anderen Interpretationsversuchen – in einem vorher nicht gekannten Maße die anfänglich weitverbreiteten Ressentiments diesem Repertoire gegenüber zu verdrängen und sich im Bewusstsein der professionellen Musiker aber auch des traditionellen Konzertpublikums zu verankern begann. Als Höhepunkt dieses „Werbefeldzuges“ und gleichzeitig als bestes Beispiel dafür, wie sehr die Arbeit von Bordes und der Chanteurs dazu beitrug, Gregorianischen Choral und die Theorien von Solesmes aus dem engeren Zirkel des kirchlichen Umfeldes hinaus in eine breite, ja weltweite Öffentlichkeit zu tragen, kann 381 « Sur les cinq pièces que comportait l’intermède, deux furent bissées, et, qui le croirait? l’une d’elles était un alléluia grégorien. Signe des temps, une salle de deux mille dilettanti de musique extra-moderne bissant d’acclamation une mélopée grégorienne ! Le fait méritait d’être signalé … Certains critiques auxquels le chant grégorien est totalement étranger ne surent trop qu’en penser. Mais ce qu’il importait, la foule dans un magnifique movement d’enthousiasme, a manifesté sa jubilation et a redemandé l’alléluia. Je doute que les faiseurs d’adaptations métriques voulues et plus ou moins saugrenues obtiennent jamais pareil résultat … un fait brutal a lieu, la mélopée bénédictine seule conquiert la foule, parce qu’elle est à la fois et scientifique et artistique, c’est-à-dire, merveilleusement musicale et à ce point de vue parfaitement définitive. Cela, le public de M. Lamoureux l’a prouvé une fois de plus. »; La Tribune de St. Gervais V (1899), S. 30/31. « Par une série de concerts … dans la salle des Folies-Bergère, M. Bordes et sa Schola ont donné à leur auditoire l’idée de ce que pourrait être la musique d’église. On aime à se rappeler avec quel recueillement, avec quelle émotion, une assistance toute profane, dans un lieu qui ne l’était pas moins, … écoutait tel alleluia grégorien «; La Tribune de St. Gervais XII ( 1906), S. 238.
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die Pariser Weltausstellung von 1900 gelten. In einem Nachbau einer Kirche aus dem 14. Jahrhundert, die zusammen mit anderen Nachbildungen ein wiedererstandenes mittelalterliches „vieux Paris“ darstellen sollte, sangen die Chanteurs täglich das monastische Stundengebet.382 Auf dieselbe Breitenwirkung zielten die Phonographen-Aufnahmen mit Ausschnitten des Gregorianischen Repertoires, – wohl die ersten ihrer Art überhaupt – die Bordes ebenfalls 1900 erstellte.383 In Hinblick auf diesen unermüdlichen Einsatz kann es kaum verwundern, dass Bordes das am 22. November 1903 ergangene Motu Proprio Tra le sollicitudini Papst Pius X als Bestätigung und Krönung seines Lebenswerkes verstand. Tatsächlich führte die päpstliche Verlautbarung zur Neuordnung der Kirchenmusik nacheinander die Punkte auf, die bereits im Zentrum der Arbeit der Chanteurs und später der Schola gestanden hatten: Die herausragende Stellung des Gregorianischen Chorals in seiner nach den Handschriften wiederhergestellten ursprünglichen Gestalt, die zentrale Rolle Palestrinas für mehrstimmige Kirchenmusik sowie die Vorbildfunktion beider Repertoires für Neukompositionen.384 1904 erhielten Bordes und die Schola anlässlich einer Privataudienz und kurze Zeit später durch ein am 11. Juli ausgestelltes Breve Pius X die direkte päpstliche Anerkennung ihrer Arbeit, verbunden mit dem Wunsch und Auftrag, diese mit gleicher Kraft fortzusetzen.385 Neben der hauptsächlichen Beschäftigung mit geistlicher Musik interessierte sich Bordes von Anfang an auch für die Volksmusik Frankreichs, vor allem für die des Baskenlandes, aber auch für die französischen Renaissance-Meister der Chanson und für die Oper des 17. und 18. Jahrhunderts. Hier stand besonders Rameau im Mittelpunkt, dessen Opernschaffen die Schola immer wieder in ihren Konzerten der Öffentlichkeit präsentierte.386 Damit hatte Charles Bordes bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1909 in Frankreich ein Klima geschaffen, in dem Gregorianischer Choral, die Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts sowie die französische Barockoper dem Konzertpublikum wie Musikern und Komponisten beinahe selbstverständlich zugänglich waren. Für letztere lag es nahe, die Aufforderung Bordes in die Tat umzusetzen, dieses reiche Reservoire eines nationalen musikalischen Erbes auf der Suche nach einer neuen französischen Musik zu nutzen.387
382 383 384 385 386 387
Dowd 1969, S. 99. Ebda., S. 124/125. Nach Dowd sind diese Aufnahmen jedoch nicht nachweisbar. Ebda., S. 128/129. Ebda., S. 132–134. Ebda., S. 91/92. Zur Vorreiterrolle von Charles Bordes vgl. Ecorcheville 1909 und Paul Dukas: „Charles Bordes“, in: La Revue Musicale 43 (1. August 1924), S. 97–103.
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4.3 SOLESMES Der wichtigste Einfluss für die Wiederbelebung des Gregorianischen Chorals in Frankreich ging sicher von Solesmes und dem Mann aus, der diese Abtei zu neuem Leben erweckte: Prosper Guéranger.388 Er begann, um dem allgemeinen Verfall kirchlichen Lebens im Frankeich des 19. Jahrhunderts entgegenzuwirken, 1831 im halbverfallenen Priorat St-Pierre de Solesmes eine kleine Gemeinschaft nach der Regel des heiligen Benedikt einzurichten. Dieser Versuch einer Wiederbelebung monastischen Lebens in Frankreich bettet sich ein in die allgemeine Strömung jener 30er Jahre des 19. Jahrhunderts, die die Rückbesinnung auf das kulturelle Erbe Frankreichs, vor allem das des Mittelalters, zum Inhalt hatte. Der Anstoß hierzu war mit Victor Hugos Roman Notre Dame de Paris von 1831 gegeben. Hugos literarische Rekonstruktion der Pariser Kathedrale als eines nationalen Wahrzeichens mündete bald in eine wirkliche architektonische Restaurierung von Notre Dame unter Prosper Mérimée und Eugène-Emmanuel Violletle-Duc ab 1844. Die Offensive, die von der architektonischen Seite ausging, hatte Signalwirkung auch auf geisteswissenschaftliche Disziplinen. Passionierte Musikforscher verstanden sich z. B. als musikalische Archäologen, die musikalische „Monumente“ der französischen Vergangenheit als verborgene Schätze hoben und restaurierten. Leitgedanke war hierbei die von den Restauratoren mittelalterlicher Bauwerke übernommene Überzeugung, dass die tot geglaubten Relikte der Vergangenheit durch vergleichende Forschungen und Ergänzungen des Fehlenden im Geiste der alten Zeit nicht nur wieder zum Leben erweckt, sondern auch zu anregenden Vorbildern für die Gegenwart werden konnten. Für Prosper Guéranger stand fest, dass die Restaurierung nicht an den Kirchenfassaden Halt machen durfte, sondern eine innere Erneuerung kirchlichen und monastischen Lebens aus dem Geist heraus, der einst die Kathedralen füllte, Not tat. Mit dem Einzug eines kleinen Konvents in Solesmes im Jahre 1833 begann eine schrittweise Wiedereinführung benediktinischen Mönchtums in Frankreich, die zunächst die Bereitstellung der Lebensgrundlagen der Mönche nach der Benediktregel zum Ziel hatte. Da die alten klösterlichen Traditionen nach der Revolution praktisch nicht mehr existent waren, mussten die für den Tagesablauf notwendigen Texte, Gebete und Gesänge in mühevoller Arbeit wieder rekonstruiert werden. Oberstes Ziel war hierbei eine möglichst vollständige Annäherung an die alten originalen Quellen. Erst später, nachdem die Quellenerschließung bereits weit fortgeschritten war, vollzogen die Mönche von Solesmes auch im Architektonischen den Schritt zurück zu einem verlorenen Idealbild der Vergangenheit, indem sie von 1896 an begannen, das Äußere ihres Klosters einer mittelalterlichen Abtei anzuverwandeln.389 388 Zum Folgenden Norbert Rousseau: L’École grégorienne de Solesmes, Tournai 1910, Dom Pierre Combe: Histoire de la restauration du chant grégorien d’après des documents inédits, Solesmes 1969 und Katherine Bergeron: Decadent Enchantments. The Revival of Gregorian Chant at Solesmes, Berkeley/Los Angeles 1998. 389 Abbildungen der Abtei Solesmes vor und nach der Renovation bei Bergeron 1998, S. 21/22.
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Mit der Wiedereinführung monastischen Lebens in Solesmes rückte ganz selbstverständlich die Rekonstruktion der liturgischen Gesänge in das Zentrum der Bemühungen. Als Maxime galt auch hier die von Architekten wie Viollet-leDuc übernommene Methode, die in Rückkehr zu den ältesten greifbaren Quellen, Sichtung und Sicherung des Bestandes und in der Ergänzung fehlender Teile durch stilistisch richtige Rekonstruktionen bestand. Guéranger formulierte diese Arbeitsmethode, die zur Basis der Schule von Solesmes werden sollte, im ersten Band seiner Institutions liturgiques von 1840 unter Hinzunahme philologischer Prinzipen für die Restauration des Gregorianischen Chorals folgendermaßen: Die Authentizität einer gregorianischen Melodie ließ sich daran ermessen, inwieweit voneinander unabhängige, möglichst ursprüngliche Quellen in einer Lesart übereinstimmten. Die Entwicklung von Solesmes, von der Erhebung zur Abtei 1837 bis zur Einrichtung eines eigenen Skriptoriums 1860, ist von der schrittweisen Umsetzung von Guérangers Vorgaben gekennzeichnet. Spätestens unter der Federführung Dom Pothiers ab 1871 wurden die quellenkundlichen Forschungen enorm ausgedehnt. Die Arbeiten umfassten vor allem das Kopieren von Manuskripten sowie die Ausarbeitung einer Theorie zur Darbietung des Gregorianischen Chorals. Das Ergebnis waren die einflussreichen Publikationen Les mélodies grégoriennes d’après la tradition von 1880 als theoretische Fundierung und die damit vorbereitete erste auf den ältesten Überlieferungszeugen beruhende Edition gregorianischer Melodien, der Liber Gradualis von 1883. Pothiers Edition war vor allem ein Protest gegen die vom Heiligen Stuhl immer noch aprobierten Ausgaben des Hauses Pustet aus Regensburg, die im Prinzip eine Fortführung der Medicea-Edition mit all ihren Schwächen verkörperten. Den Imperativ Guérangers, zu den originalen Handschriften zurückzukehren, hatte sich auch Pothier zu eigen gemacht, indem er sein Ideal eines dem ursprünglichen Singen des Heiligen Gregors möglichst ähnlichen Chorals sowohl in den Ausgaben als auch im Vortrag anstrebte. Diese idealisierte Schau und Erneuerung im Geiste Gregors führte ihn, der von Zeitgenossen auch der „Viollet-le-Duc des Gregorianischen Chorals“ genannt wurde390, dazu, nach eben der Methode des einflussreichen Architekten seine Editionen in einer idealisierten, d. h. historisch so nie existenten Form, vor allem was die verwendeten Notenzeichen betraf, vorzulegen.391 Trotz der zunehmenden Publikationstätigkeit unter Pothier, blieben die Erkenntnisse aus Solesmes zunächst auf einen kleineren Kreis von Eingeweihten beschränkt. Dies änderte sich grundlegend mit dem Wirken Dom Mocquereaus. Die von ihm 1889 initiierte monumentale Faksimile-Reihe der Paléographie musicale sollte zunächst dem Zweck dienen, die Authentizität der im Liber Gradualis Pothiers veröffentlichten Melodien durch die photographische Faksimilierung 390 « Ce qui s’est passé pour l’archéologie de la pierre se passe en ce moment pour l’archéologie des sons. Les vocalises des alléluias – telles des corniches de dentelles tombées des pinacles du temple – gisaient lamentablement dans la poussière. Du jour où Dom Pothier, ce Violletle-Duc du chant liturgique, les eut relevées et remises en place … » ; Amédée Gastoué: La musique d’église, Lyon 1916, S. 151. 391 Bergeron 1998, S. 34–62.
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der entsprechenden Handschriften zu unterstützen und damit die Überlegenheit gegenüber den Pustet-Editionen zu beweisen. Die Differenzen, die sich im Laufe dieses Publikationsunternehmens zwischen der Edition Pothiers und dem handschriftlichen Befund auftaten, führten zum einen zu einem Abrücken Mocquereaus von Pothiers Melodiefassungen und letztlich zu einem offenen Zwist zwischen den beiden Choralforschern im Zuge der Erstellung der Vaticana.392 Zum anderen öffneten sie aber die bisher doch eher im Verborgenen ablaufende und mit einer Art mystischen Aura umgebene Restaurationsarbeit der Mönche einem weiteren Kreis. Die bis dahin nur durch mühevolle Kopierarbeit in Bibliotheken und Skriptorien zu gewinnenden Einblicke in die Quellenlage wurden nun jedem interessierten Forscher möglich. Die bisher nicht gekannte Präzision der photographischen Faksimilierung innerhalb der Paléographie führte zu einer neuen Demokratisierung des Wissens, ja legte überhaupt die Basis für eine wissenschaftliche Quellenforschung, die zur Grundlage der modernen Musikwissenschaft werden sollte.393 Gleichzeitig trug sie aber entscheidend dazu bei, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Rückkehr zu den originalen Quellen, ganz allgemein aber auch das Interesse am Gregorianischen Choral auf breiter Ebene geweckt wurde. Mocquereaus Arbeitsmethode war von vorne herein auf eine möglichst große Transparenz der Quellenerschließung und Melodierestitution ausgerichtet, die von selbst nach außen drängte und bald auch einen starken pädagogischen Impetus bekam.394 Ein deutliches Zeichen hierfür setzte der 1896 in Solesmes veröffentlichte Liber Usualis. Dieses Buch im handlichen Format vereinte – in dieser Form ohne historischen Vorläufer – Gesänge des Graduale und des Antiphonale sowie Texte des Missale in einem einzigen Band und bot damit eine Alternative zu den bisherigen einzelnen, nicht besonders billigen Publikationen der Solesmer Mönche. Es war damit für praktisch jedermann möglich, einen repräsentativen Querschnitt des Gregorianischen Chorals vor Augen zu bekommen. Im selben Licht einer immer stärkeren Popularisierung des Chorals sind auch Mocquereaus Bestrebungen zu sehen, neben der Bereitstellung der quellenkundlichen Basis durch die Paléographie auch aufführungspraktische Konzepte zu erarbeiten. An vorderster Stelle stand hierbei die Entwicklung einer Rhythmustheorie für den Choralvortrag. Erste Ansätze hierzu, die an ähnliche Überlegungen Dom Pothiers anknüpfen, finden sich bereits in den ausführlichen Belgeittexten der ersten Bände der Paléographie. In extenso entfaltete Mocquereau seine
392 Ebda., S. 143–155. 393 Pierre Aubry sah die Arbeit der Mönche von Solesmes als Grundstein für die neuentstehende, auf philologischer Quellenforschung basierende Disziplin Musikwissenschaft, der « musicologie médiévale » oder « musicologie sacrée », an; vgl. Pierre Aubry: La Musicologie médiévale: Histoire et méthodes. Cours professé a l’Institut catholique de Paris, Paris 1900, bes. « L’œuvre bénédictine », S. 87–99. 394 Dies stand ganz im Gegensatz zu Pothiers Konzeption eines ideal rekonstruierten Chorals, die sich im Zweifelsfall auch für diese ideale Melodieversion und gegen den handschriftlichen Befund entschied.
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Rhythmustheorie aber zum ersten Mal auf über 300 Seiten im siebten Band der Paléographie von 1901. Im Grunde bildeten Mocquereaus Ausführungen eine theoretische Fundierung der in Solesmes gewachsenen Aufführungstradition des Chorals sowie eine energische Zurückweisung der weitverbreiteten mensuralistischen Interpretationsansätze. Mocquereau versucht zunächst nachzuweisen, dass die stereotype Gleichung lateinischer Wort- bzw. Silbenakzent gleich betonte Taktzeit, die auch bei vielen modernen Komponisten zu finden sei, historisch keine Tradition besitze, und deshalb nicht zwingend sei. Durch den Zusammenfall von Akzent und betonter Zeit entstehe eine plumpe Einförmigkeit, die die großen Meister der Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts gerade vermieden hätten. Die Analyse zahlreicher musikalischer Beispiele aus dieser Zeit führt Mocquereau zu dem Schluss, dass als die historisch legitimiertere und ästhetisch wertvollere Position dem lateinischen Wort- bzw. Silbenakzent die leichte, unbetonte Taktzeit, der « levé », zukomme.395 Nur durch diese Aushebelung des gängigen Betonungsschemas entstehe jener Freiheit des Rhythmus, die die großen Werke der Vokalpolyphonie bis hin zu Beethoven und an erster Stelle den Gregorianischen Choral, als den eigentlichen Ursprung, auszeichne.396 Er habe als durchgängiger Bezugspunkt in der Kompositionsgeschichte der späteren Musik seinen Schatz der rhythmischen Unabhängigkeit und Freiheit vererbt.397 Konsequenterweise sieht Mocquereau als Keimzelle dieser « indépendance et liberté toute grégorienne »398 eine Silbenverteilung auf der Ebene des einzelnen Wortes, die den Akzent jeweils auf die leichte, die unbetonte Silbe jeweils auf die schwere Taktzeit setzt. Es entsteht dadurch eine Folge von Auf- und Abtakten, über der die gewohnte Folge von betonten und unbetonten Silben gerade um eine Position über die – wenn auch imaginären – Taktstriche hinweg verschoben ist.399 Wie wenig sicher indes Mocquereau sich über die historischen Legitimationen seiner Rhythmustheorie selbst ist, zeigt sich darin, dass er sich ganz dezidiert auf die Autorität Pothiers und auf dessen rhythmische Transkriptionen beruft, des Mannes also, dessen Forschungen Mocquereau zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr vorbehaltlos zustimmen konnte. Aber dieser scheinbare Widerspruch führt auf die eigentliche Motivation der Abhandlung Mocquereaus: Trotz der sich historisch gebenden Argumentation geht es ihm eigentlich darum, die in Solesmes gewachsene Tradition des Choralvortrags theoretisch zu erklären und zu legitimie395 « Car, le plus nous remontons vers les siècles passés, plus nous trouvons d’exemples dans lesquels l’accent latin est placé au levé da la mesure »; PM VII, S. 37. 396 « La liberté du grand rythme, tel qu’on le trouve dans les œuvres d’un Beethoven, dans celles des maîtres religieux des XVe & XVIe siècles, &, mieux encore, dans le nombre musical grégorien »; ebda., S. 28. 397 « L’accent au levé étant admis dans la polyphonie, il s’ensuit qu’il l’était aussi dans la monodie grégorienne, ou plutôt on peut dire, sans crainte d’erreur, que la polyphonie ne traitait l’accent avec tant de liberté que parce que le chant grégorien lui avait livré le secret de cet antique procédé »; ebda., S. 74. 398 Ebda. 399 Ebda., S. 169.
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ren. Und in dieser Tradition bildet Pothier einen wichtigen Baustein. Seine Beschreibung des freien Choralrhythmus, die dem Akzent die Arsis und der unbetonten Silbe die Thesis des Taktes zuordnet, ist nichts anderes als Mocquereaus Lehre vom Akzent auf dem « levé », von « élan » und « repos », freilich in einem noch unausgereiften Stadium.400 Letztlich ist zu fragen, ob hinter der doch ziemlich künstlich wirkenden Theorie Mocquereaus, die eine rhythmische Befreiung des Chorals bewirken soll, – obwohl er dies bestreitet401 – nicht schlichtweg die französische Aussprache des Latein mit ihrer traditionellen Betonung des Wortendes durchscheint. Bezeichnenderweise führt Mocquereau selbst zur ersten Erläuterung seiner Theorie von der Akzentverschiebung ein französischsprachiges Beispiel an.402 Wie er weiter ausführt, stellt seine Abhandlung nur eine theoretische Beschreibung dessen dar, wie in Solesmes schon immer auf instinktive und natürliche – und das heißt in Mocquereaus Augen richtige – Weise gesungen wurde.403 Und dies scheint mit einer vom französischen Sprach- und Betonungsklang geprägten Aussprache verbunden gewesen zu sein, wie die frühen Tonaufnahmen aus Solesmes heute noch erkennen lassen. Die letzte Instanz in Mocquereaus Argumentation bilden dementsprechend immer die nicht zu fassenden Kriterien der Natürlichkeit, der Selbstverständlichkeit, des Universellen, der Schönheit, des guten Geschmacks.404 Ein weiteres wichtiges Movens für die Ausbildung von Mocquereaus Theorie darf nicht vergessen werden: Bereits mit der Paléographie wollte Mocquereau die quellenkundlichen Grundlagen für die Restitution des Gregorianischen Chorals einem breiteren Interessentenkreis zugänglich machen. Dem sollte nun auch auf aufführungspraktischer Ebene eine Theorie folgen, die die möglichst einheitliche Interpretation des Chorals in einem größeren Ensemble auch außerhalb von So400 « Or le savant auteur des Mélodies grégoriennes a toujours enseigné, ... que la meilleure manière ... de bien faire ressortir l’accent ... est de le placer à l’élan, à l’arsis du mouvement rythmique, c’est-à-dire en langage moderne au levé de la mesure. Bien loin de sacrifier l’accent, on lui donne ainsi, d’après Dom. J. Pothier, sa vraie place ... »; ebda., S. 128. « Sans doute, le docte bénédictin n’a pas formulé cette féconde vérité du premier coup, ni avec toute la clarté désirable. ... mais elle était en germe à chaque page des Mélodies Grégoriennes »; ebda., S. 133. 401 « L’assimilation dynamique et rythmique des mots latins et des mots romans est une grave erreur: en aucune manière il n’est permis de faire entrer le mot latin dans le moule rythmique et dynamique du mot français ou de la musique moderne »; Dom André Mocquereau: Le Nombre musical grégorien ou rythmique grégorienne. Théorie et pratique, Tome II, Solesmes 1927, S. 648. 402 PM VII, S. 27. 403 « Quant à la pratique, l’accent enlevé, comme nous disons alors, a toujours été en honneur au chœur de Solesmes dans l’exécution des mélodies liturgiques. Dès le début nous chantions ainsi instinctivement, naturellement, sans trop comprendre ce que nous faisions ... et même sans nous apercevoir qui’il était en contradiction flagrante avec le procédé de nos modernes compositeurs »; ebda., S. 133. 404 « Mais ... nous ne voyons pas pourquoi ce qui est bon, beau, naturel dans le récitatif musical de ces anciens maîtres ne le serait plus dans le récitatif grégorien »; PM VII, S. 89. « Exécutez cette hymne en enlevant bien chaque accent, en lui donnant son élan ... et vous aurez rythmé cette hymne avec art et avec goût »; ebda., S. 140.
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lesmes ermöglichte405. Diesem Zweck diente die von Mocquereau entwickelte Methode, rhythmische Stützpunkte zur Gliederung des Choralvortrags in die Notation einzubauen. Die Vorstellung, dass Gregorianischer Choral von großen Sängerchören vorgetragen werden sollte – was wiederum den von Mocquereau betriebenen Transfer des Chorals nach außen, auch in nichtklerikale Kreise zeigt – mache es notwendig, die Vielfältigkeit des « rythme libre » im Choral durch spezielle Zusatzzeichen anzuzeigen.406 Von 1899 erschienen deshalb die neuen Publikationen von Solesmes mit einem System verschiedener rhythmischer Zusatzzeichen versehen, das in den folgenden Jahren immer mehr ausdifferenziert wurde und schließlich 1901 zur Einführung des Ictus-Zeichens führte.407 Ihre vollausgereifte Darstellung erhielt schließich Mocquereaus Theorie über den Rhythmus des Gregorianischen Chorals in seinem monumentalen zweibändigen Werk Le Nombre musical grégorien ou Rythmique grégorienne.408 Die hierin angestellten Überlegungen zur allgemeinen Natur rhythmischer Phänomene ließen Mocquereau sein fundamentales Gesetz von Zweier- und Dreiergruppen als kleinste Einheiten des Chorals aufstellen, das für ihn ebenso unumstößliche Gültigkeit hatte409, wie es historisch nicht zu begründen war.410 Demnach lag dem Choral eine äquivalistische Struktur zu Grunde, die durch eine Abfolge von Zweier- und Dreiertakten gegliedert wurde.411 Trotz der aus heutiger Sicht gravierenden Mängel von Mocquereaus Lehre über den « rythme grégorien », die in merkwürdigem Gegensatz zur Präzision und zum wissenschaftlichen Anspruch der Paléographie musicale steht, war ihr Effekt, dass Gregorianischer Choral in ganz neuer Weise nicht nur in das musikalische Bewusstsein kirchlicher und außerkirchlicher Kreise getreten war, sondern dort auch aktiv gepflegt wurde. Und so konnte Mocquereau schließlich begeistert fest-
405 « ... une longue expérience de chœurs nombreux nous a prouvé que pour obtenir un ensemble parfait, une réglementation plus précise des morae et des silences est nécessaire »; ebda., S. 261. 406 « La cantilène grégorienne est le plus souvent exécutée par des chœurs nombreux; il est donc nécessaire, si l’on veut obtenir un ensemble parfait, de préciser, par la notation, l’exécution qui doit être adoptée. Cette précision de notation et l’ensemble qui en résulte ne peuvent en aucune manière nuire à l’aisance, à la souplesse, à la liberté du rythme grégorien »; ebda., S. 267. 407 Bergeron 1998, S. 124. 408 Bd. I: Rom/Tournai 1908, Bd. II: Solesmes 1927. 409 « Cette loi fondamentale qui exige à la base de toute composition rythmique une série de temps premiers (divisibles ou indivisibles, peu importe ici), groupés en temps binaires et ternaires, se distinguant par l’apparition d’ictus ou touchements ou, pour parler le langage moderne, groupés en mesures binaires et ternaires »; Nombre musical, Bd. I, S. 8. 410 Riemann Musiklexikon, Artikel „Mocquereau“, S. 230. Mocquereau versuchte unter anderem mit Hilfe der litterae significativae der St. Galler Handschriften, seine Rhythmustheorie abzusichern; vgl. Nombre musical, Bd. I, S. 12. 411 Solange Corbin: „Die Neumen“, in: Paleographie der Musik, Bd. I: Die einstimmige Musik des Mittelalters, Köln 1979, 3.197, Eugène Cardine: Artikel „Solesmes“, in: NG 17, S. 453.
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stellen, dass der Choral nach der Lehre von Solesmes spätestens zur Jahrhundertwende eine breite Anhängerschaft gefunden hatte.412
4.4 EINFLÜSSE AUF DEBUSSY Der Zeitraum von beinahe zehn Jahren (1893-1902), in dem Debussy an Pelléas et Mélisande arbeitete413, fällt ziemlich genau mit den Aktivitäten von Charles Bordes an der Schola Cantorum in Paris und von Dom Mocquereau in Solesmes zusammen. Bis zur Jahrhundertwende war Gregorianischer Choral durch quellenbasierte Editionen und wissenschaftliche Abhandlungen, durch die Wiederbelebung im klösterlichen Singen sowie im Konzertbetrieb in einem vorher unbekannten Ausmaße in das allgemeine musikalische Bewusstsein getreten. Schon auf Grund dieser Lage erscheint es naheliegend, dass Debussy während der Entstehung seiner ersten Oper mit dieser wiederentdeckten und faszinierenden Musik, die der Gregorianische Choral damals darstellte, in Berührung kam. Es lassen sich jedoch auch ganz direkte Verbindungen Debussys zu den Hauptzentren der Wiederbelebung des Chorals nachweisen. Obwohl Debussy nie in das engere Umfeld der Schola trat, kannte und bewunderte er offensichtlich – wie das bereits erwähnte Zitat anlässlich der Aufführung von Rameaus Castor et Pollux zeigt – die Arbeit von Charles Bordes. Er sah in ihm, dem Begründer der Chanteurs de Saint-Gervais und der Schola Cantorum, denjenigen, dem die so fruchtbare Rückbesinnung auf die musikalische Vergangenheit Frankreichs in erster Linie zu danken war.414 Mehrere Zeitzeugen berichten übereinstimmend, dass Debussy nicht nur die Bemühungen Bordes um die Wiederbelebung der französischen Barockoper an der Schola aufmerksam verfolgte, sondern auch die Konzerte der Chanteurs de Saint-Gervais selbst besuchte und sich von der Qualität und der Kraft der dort gebotenen Alten Musik zutiefst beeindruckt und berührt zeigte.415 412 « La Méthode bénédictine est aujourd’hui à la base de toute exécution traditionelle des mélodies liturgiques et ses adhérents sont très nombreux »; Nombre musical, Bd. I, S. 5. 413 Detaillierte Angaben zur Entstehung und Überlieferung bei François Lesure: Catalogue de l’œuvre de Claude Debussy (= Publications du Centre de documentation Claude Debussy Saint-Germain-en-Laye III), Genf 1977, S. 89–92. 414 « Charles Bordes … entreprit la série des « Semaines saintes de Saint-Gervais », dont le succès fut tellement considérable que le haut clergé s’en émut … Bordes fut aussi l’initiateur de cette « Schola Cantorum ». »; Monsieur Croche, S. 87/88. 415 « Bientôt il [Charles Bordes] fondera les Chanteurs de Saint-Gervais. […] Au premier rang de son auditoire : Paul Dukas, Claude Debussy. »; Joseph Samson: „Le réveil de l’esprit“, in: Musique et Liturgie 57/58 (1957), S. 22 [54]. Nach Léon Vallas rechnete Debussy es den Chanteurs hoch an, dass sie « toute la beauté de l’ancienne musique en des programmes dont quelques-uns exercèrent sur lui-même une action très vive » wiederhergestellt hätten; Léon Vallas: Claude Debussy et son temps, Paris 1932, S. 234. Julien Tiersot berichtet, wie er Debussy nach einem Konzert der Chanteurs getroffen habe, « l’œil animé, tel que je ne l’ai jamais vu, et, venant à moi, me disait ces simples mots exprimant une émotion intense: ‘Voilà
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Was Solesmes betrifft, soll sich Debussy als Gast in der Abtei aufgehalten haben.416 Einem Bericht von Becket Gibbs zufolge soll Debussy dort die Stundengottesdienste besucht und ein besonderes Interesse an den Modi gezeigt haben.417 Debussy reiht sich damit ein in einen regelrechten Pilgerstrom, der Musiker und Komponisten in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts nach Solesmes zog.418 Neben der Teilnahme am Stundengebet und der theoretischen Unterweisung in der Methode von Solesmes durch Mocquereau wird anlässlich dieser Aufenthalte immer wieder die magische Atmosphäre der Abtei hervorgehoben, die spätestens nach ihrer mittelalterlichen Umgestaltung 1896 von noch größerer Anziehungskraft gewesen sein dürfte.419 Im Jahr seiner ersten Beschäftigung mit Pelléas et Mélisande war Debussy somit in unmittelbaren Kontakt mit der Schule von Solesmes im Allgemeinen und mit den Theorien Dom Mocquereaus im Besonderen gekommen. Was Debussy in der Begegnung mit Gregorianischem Choral und Alter Musik, wie sie von Bordes und Mocquereau wiederbelebt wurden, fand, waren Anregungen auf seiner intensiven Suche nach einer neuen, sich vom gängigen Opernstil abhebenden und doch spezifisch französischen Musik. Er fand diese tiefgreifenden Impulse zum einen in der Modalität im Allgemeinen, wie sie auch durch die Wiederentdeckung alter Volksliedtraditionen ins Bewusstsein rückte420, zum
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la musique! …’ »; Julien Tiersot: „Pour le centenaire de Palestrina. Les Répons de la Semaine-Sainte“, in: Rivista musicale italiana XXXII (1925), S. 411. Die Mönche von Solesmes stützten sich für diese Aussage auf den Artikel von Dom Jean Clair: „Un centenaire: Claude Debussy à Solesmes. 5-6 août 1894“, in: Cahiers du Maine n° 2 (1993), S. 15–18, der sich wiederum auf die Erinnerungen des englischen Musikforschers Harry Briggs bezieht (freundliche Mitteilung von Père Daniel Saulnier/Solesmes). Zweifel am Besuch Debussys in Solesmes werden dagegen von Edward Lockspeiser: „New literature on Debussy“, in: ML XL/2 (April 1959), S. 142/143 und Ders.: Debussy: His life and mind. Volume I: 1862–1902, London 21966, S. 171, Anm. 1 und François Lesure: Claude Debussy. Biographie critique, Paris 2003, S. 459 angemeldet. Inzwischen wurde mir durch Père Daniel Saulnier versichert, dass der Besuch Debussys in Solesmes definitiv auf einem Irrtum beruht. d’Almandra 1947/48, S. 183–187. Becket Gibbs nennt das Jahr 1893 für Debussys Besuch, räumt aber ein, dass er sich irren könnte; vgl. ebda., S. 186. Ebda., S. 25, 26. Bergeron 1998, S. 20–24. Vgl. Werner Danckert: Claude Debussy, Berlin 1950, S. 88. Julien Tiersot stellte 1889 in seiner Histoire de la Chanson Populaire en France den Vorbildcharakter der Volksweisen für die Weiterentwicklung der zeitgenössischen französischen Kunst heraus: « L’école moderne a bien su juger du parti qu’elle pouvait tirer de la mélodie populaire: elle n’a pas craint de l’employer hors du théâtre, non plus dans un but exclusivement pittoresque, mais en vue de renouveler et de vivifier le style de la symphonie. ... Elle a compris que la mélodie populaire renferme en elle assez de vitalité, de sève musicale, pour les communiquer à des œuvres de longue haleine en servant de base et de point de départ à leurs développements »; zitiert nach Ursula Eckart-Bäcker: Frankreichs Musik zwischen Romantik und Moderne. Die Zeit im Spiegel der Kritik, Regensburg 1965, S. 195/196.
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anderen in den Vorstellungen über den « rythme libre » des Gregorianischen Chorals im Besonderen.421 Von diesen beiden Inspirationsquellen ist die Verwendung von Modi bzw. von modal gefärbter Tonalität allein etwas, was nicht nur für Debussy spezifisch wäre. Mit seiner Wiederentdeckung und Wiederbelebung begannen viele französische Komponisten spätestens seit der Jahrhundertmitte verstärkt, den Choral in ihre Musik aufzunehmen. Die Verfahren reichten hierbei von einer eher äußerlich wirkenden, zitathaften Verwendung, über die Bildung signifikanter Themen nach choralen Vorbildern bis hin zur Aufnahme der modalen Sprache in das eigene Schaffen. Allen Adaptionen gemeinsam ist das Verständnis von Choral als eines willkommenen Auswegs aus einer als veraltet und einengend empfundenen Klangwelt.422 Die Übersättigung mit den Reizen spätromantischer Harmonik ließ den Gregorianischen Choral besonders vom letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an als ein Heilmittel – zunächst von durchaus exotischem Reiz – für eine musikalisch ausgelaugte und dem neu erwachten nationalen Bewusstsein kaum mehr gerecht werdende Tonsprache erscheinen. Diese charakteristische, am Widerstand gegen Wagner gewachsene Haltung zeigen neben Debussy Erik Satie vor ihm und Maurice Ravel nach ihm.423 Auch Debussy selbst verwendet modale Färbungen seiner Melodik und Harmonik bereits vor Pelléas. Freilich findet sich in seiner Oper dieses Element in einzigartig konsistenter und plakativer Weise angewandt. Julia d’Almendra hat in ihren Untersuchungen dargelegt, wie stark der musikalische Stoff in Pelléas von modalen Vorstellungen bestimmt und geradezu durchwebt ist.424 Diese Fäden verdichten sich auf demonstrative Weise bereits zu Beginn der Oper im Vorspiel, das ganz im Zeichen modaler Melodiebildung und Harmonik steht. Gleichsam als klingendes Signum erscheinen charakteristische Zitate des ersten Modus, in ihrer Zeichenhaftigkeit die seit dem Mittelalter gültige Klassifikation dieses Tones als fons et origo und damit als Generator des ganzen Modalsystems aufgreifend, über dem ganzen Werk.425 Der Ton D wird im Sinne der Finalis zunächst in den Fagot421 Paul Dukas 1924, S. 100, berichtet über den Komponisten Bordes: « Il rêvait donc, comme compositeur, d’un art affranchi de la tyrannie métrique et du despotisme harmonique. Et il en voyait le modèle dans le chant grégorien … ». 422 Einen Überblick hierzu bietet Jacques Chailley: „À propos de quatre mesures de L’Entführung. La renaissance de la modalité dans la musique française avant 1890“, in: Kongressbericht Wien 1956, Erich Schenk (Hg.), Graz, Köln 1958, S. 78–91. 423 Vgl. Julia d’Almendra: „Debussy et le mouvement modal dans la musique du XXe siècle“, in: Edith Weber (Hg.): Debussy et l’évolution de la musique au XXe siècle. Paris, 24–31 Octobre 1962 (= Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique), Paris 1965, S. 125–127. 424 d’Almendra 1947/48, 1965. 425 « Et l’on peut affirmer que si les premiers accords de Pelléas, de modalité médiévale, sont à l’ouvrage un frontispice saisissant ... »; Maurice Emmanuel: Pelléas et Mélisande de Claude Debussy. Étude historique et critique. Analyse Musicale, Paris 1926, S. 90. Ganz ähnlich beginnt das Prélude zum 1. Akt von Debussys späterem Mysterienspiel Le Martyre de SaintSébastien mit monumentalen Mixturklängen der Holzbläser in es-dorisch, die ebenso wie die plakativen Quart- und Quintschritte der Akkordmelodie von der archaischen und sakralen
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ten und den tiefen Streichern grundgelegt, wobei die Oktavverdopplungen die Archaik noch unterstreichen und – wie seit dem 18. Jahrhundert als Konvention üblich – sogleich Choralcharakter suggerieren. Der hinzukommende Oberquintton, ebenfalls in Oktaven, markiert die Gestik des ersten Modus. Das im zweiten Takt einsetzende C rückt den für das Dorische wichtigen Septton in den Vordergrund und betont zusammen mit den gleichzeitig eintretenden parallelen Quinten demonstrativ die fehlende leittönige Spannung. Der Ganztonschritt erscheint damit in der gleichen Funktion wie zu Beginn von Faurés Requiem und führt – unter Auslassung des Tones B – konsequent zum As in Takt 5. Gleichzeitig bildet das C des zweiten Taktes den Grundton eines in Pendelbewegung erreichten C-Klanges mit geschlechtsspezifizierender großer Terz, wodurch ein eigenartiges Schillern zwischen alter Modalität und moderner DurMoll-Tonalität erzeugt wird. Es wirkt damit wie ein Konzentrat der in Frankreich zu dieser Zeit aktuellen Diskussion um die Vor- und Nachteile von modalen und Dur-moll-tonalen Tonsystemen.426 Der erste Modus mit seiner traditionellen Repercussa, die im dritten Takt rhythmisch aufgebrochen und damit intensiviert wird, beschwört mit der Modalität eine versunkene Welt herauf, wobei die Wahl des Modus auch an sein traditionelles Attribut der gravitas denken lässt. 427 Hier artikuliert sich jedoch kein genuin historisches Interesse Debussys an mittelalterlicher Musik, von der er vermutlich sogar ein eher diffuses Bild hatte, sondern der Aspekt des Fernen und Verhüllten, das gerade deshalb umso stärker auf den Komponisten Debussy einwirken konnte. Wagner dagegen kannte und sammelte mittelalterliche Musik, war aber als Komponist nicht daran interessiert. Und so entsteigt das Rheingold-Vorspiel den Tiefen der Natur, das Vorspiel zu Pelléas aber der geschichtlichen wie klanglichen Tiefe. Gleichzeitig dient es Debussy dazu, zusammen mit der dunklen Färbung im Orchesterklang die geheimnisvolle, Sphäre des Stoffes inspiriert sind; vgl. Richard Beyer: Organale Satztechniken in den Werken von Claude Debussy und Maurice Ravel (= Neue Musikgeschichtliche Forschungen, Lothar Hoffmann-Erbrecht (Hg.), Bd. 19), Wiesbaden 1992, S. 91/92. 426 Maurice Emmanuel berichtet von der entsetzten Reaktion seines Lehrers Delibes, als er diesem seinen Plan enthüllte, aus der Musik des Mittelalters neue kompositorische Anregungen zu gewinnen: « J'avais eu la naïveté d'avouer à Delibes mon enthousiasme, de lui exposer un plan d'études que je m'étais fabriqué et qui consistait à remonter, à travers l'art liturgique du Moyen Age, jusqu'à la musique antique ... de façon à trouver dans ces musiques successives, non épuisées, de nouveaux moyens d'expression. ... Mon obstination à trouver belles ces vieilles gammes et à les croire utilisables dans l'art moderne polyphone, me valut, de la part d'un musicien charmant, mais fermé à toute tentative extra-classique, ... une sévérité qui se traduisit dans des notes d'examen, et par le refus formel de me présenter au concours de Rome »; Emmanuel 1926, S. 6. 427 « Tel est ce thème qui, inscrit au frontispice du drame de Pelléas, semble dire: « Ceci est une légende, une vieille et triste légende de la forêt » »; Louis Laloy: „Claude Debussy. La simplicité en musique“, in: Revue musicale 1904/3, S. 106. Wie sehr noch dem 19. Jahrhundert die traditionelle Charakterisierung des ersten Modus als „gravitas“ geläufig war, zeigt eine Eintragung in einem Skizzenbuch Franz Liszts, in der er das Dorische mit « la gravité » kennzeichnet; Hartmann 1991, S. 131. Das Dorische selbst bezeichnete er als seine „Lieblingstonart“; ebda.
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von ungewissen Ahnungen durchdrungene Atmosphäre des ganzen Dramas bereits in den ersten Takten anzulegen:428
428 « Tel est le chant grave et doux qui s’exhale de l’orchestre au début de Pelléas, annonçant une antique légende »; Louis Laloy: „Sur deux accords“, in: Ders.: La musique retrouvée. 1902–1927, Paris 1928, S. 115. Die folgenden Notenbeispiele nach Claude Debussy: Pelléas et Mélisande. Partition d’Orchestre, Edition Durand, Paris 1905 bzw. Partition Chant et Piano [KA], Edition Durand 1907.
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Die Sphäre des Archaischen wird beim Wiederaufgreifen des Themas (T. 8–11) in den Celli wiederum durch parallele Quinten noch verstärkt. Auch die folgenden parallel verschobenen Terz-Sext-Klänge evozieren das Klangbild eines Fauxbourdon-Satzes. In beiden Fällen tritt das Harmonische nicht als eigenständige Größe, sondern lediglich als parallele klangliche Ausgestaltung der einstimmigen Linie auf. Damit greift Debussy Verfahren früher Mehrstimmigkeit auf und tritt in Opposition zur Strebigkeit Wagnerscher Harmonik429:
C. Debussy, Pelléas, T. 8–12
429 Vgl. hierzu die Charakterisierung von Jacques Rivière: „Pelléas et Mélisande de Claude Debussy [1911]“, in: Ders.: Études, Paris 1924, S. 156: « Aucune direction extérieure aux accords ; rien qui les conduise, qui les entraîne ; ils ne poursuivent aucune solution, sinon celle qui de l’un va faire l’autre ; ils ne sont pas pris dans uns mouvement. » Rudolf von Ficker weist in seinem Aufsatz über „Primäre Klangformen“ auf verwandte Erscheinungen in der modernen Musik hin: „Den entscheidenden Wendepunkt bildet hier die „Harmonik“ Debussy, die eine entschiedene Rückkehr zum primären Klangerlebnis bildet, die Ausschaltung der harmonischen Funktionsbeziehungen anbahnt. Seine Musik weist – bei aller Verschiedenheit der musikalischen Gestaltung – denselben klanglichen Beharrungszustand, seine Melodik, die hier zur melodischen Formel wird, dieselbe spannungslose Tendenz auf, die wir bei allen primär-klanglichen Erscheinungen feststellen konnten.“; Rudolf von Ficker: „Primäre Klangformen“, in: JbP 1929 (36), S. 30/31. Vgl. auch Guido Adler: „Über Heterophonie“, in: JbP 1908 (15), S. 17.
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Im weiteren Verlauf des Dramas kleidet Debussy auch den Textvortrag der Singstimmen immer wieder ganz in das Gewand des D-Modus, so beim Gespräch Genevièves mit Pelléas in der dritten Szene des ersten Aktes oder beim Zwiegespräch Mélisande – Golaud in der zweiten Szene des zweiten Aktes:
C. Debussy: Pelléas [KA], S. 51/52
C. Debussy: Pelléas [KA], S. 79/80
Obwohl die Orchesterbegleitung die Modalität verfärbt, ist das Modell des DModus jeweils in der Singstimme ganz unverkennbar. Dazu trägt vor allem bei, dass die traditionellen Strukturstufen des Modus wie Finalis, Repercussa, Oberseptime und Oberoktave in der Gesangslinie neben ihrer Funktion als Rezitationsebenen auch zur Auszeichnung bestimmter Strukturstufen des Textes wie Akzente oder Interpunktionen eingesetzt werden. Dieser große Einfluss der Modi auf die musikalische Sprache Debussys ist nur naheliegend, wenn man die allgemeine fast modisch zu nennende Rückwendung zu älterer Musik jener Jahre in Frankreich und den Hintergrund der Schola und von Solesmes im speziellen bedenkt. Einer Erinnerung von Amadée Gastoué zufolge soll Debussy sich bestimmte Wendungen des Gregorianischen Chorals bei
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seinen Besuchen in Saint-Gervais sogar zu späterer Verwendung eigens notiert haben.430 Das Charakteristische für die Adaption dieses neugewonnenen musikalischen Vokabulars durch Debussy in Pelléas ist aber nicht die Verwendung modaler Tonskalen an sich, sondern die spezielle Art und Weise wie diese zur Gestaltung des Textvortrags eingesetzt werden. Die Besonderheit dieser Technik, die sofort mit vehementen Reaktionen wahrgenommen wurde, kommt vielleicht am deutlichsten im grellen Gegenlicht der teilweise hämischen zeitgenössischen Kritiken zum Vorschein: So fühlt sich Florencio Odero in seiner Rezension für die Renaissance latine vom 15. 05. 1902 an die « balbutiements de la première église » erinnert, während Paul Souday in La Revue meint, « on se croirait à vêpres ».431 Die hier pointiert vorgetragenen Spitzen gegen Debussys Textdeklamation decken sich mit der allgemeinen Kritik, dass es in Pelléas gar keine wirkliche Melodiebildung gebe.432 Die ganze Oper sei ein endloses, langweiliges Rezitieren ohne erkennbare Rhythmik und Tonalität.433 Die hier ins Negative gemünzte instinktive Konnotation mit liturgischem Rezitativ und Psalmodie434 weist auf den spezifischen Charakter von Debussys Behandlung der Singstimmen in Pelléas: In der Tat singen die Protagonisten im althergebrachten Sinne kaum, sondern sie rezitieren vielmehr über weite Strecken den Text auf einer melodisch-rhythmischen Trägerschicht, die auf vielfältige Weise an liturgische Vorbilder denken lässt. Da ist zunächst die weithin dominierende Modalität, die den äußeren Rahmen hierfür legt, aber erst die Funktionen, die die modalen Skalenstufen als Rezitationsebenen und Akzentuierungsstufen einnehmen und die Kombination mit einer rhythmischen Struktur, die in ihrer Variabilität dem wechselnden Akzentmuster der französischen Sprache hautnah folgt, lassen diesen Eindruck entstehen. Die positiven Stimmen, die sich zur Uraufführung von Pelléas im Mai 1902 meldeten, sehen denn auch das exzeptionell Neue und Befreiende von Debussys
430 « Parmi les modernes, est-ce que nous n’avons pas vu à l’église Saint-Gervais, à Paris, Claude Debussy suivre fidèlement les offices, qu’illustraient alors les fameux Chanteurs de Charles Bordes, et noter sur son carnet, un crayon en main, les passages, les tournures qui l’avaient le plus frappé, parmi les chants grégoriens ou les motets palestriniens ? »; Amédée Gastoué: L’Église et la Musique, Paris 1936, S. 60. 431 Zitiert nach Trillig 1983, S. 213, Anm. 70. Ganz ähnlich Léon Kerst: « … d’inutiles chanteurs, psalmodiant des mots, rien que des mots, en manière de récitation, prolongée, monotone, insupportable, mourante … »; in: Le Petit Journal, 01. 05. 1902. 432 Arnold Schönberg äußert in Hinblick auf seinen verworfenen Plan, ebenfalls eine PelléasOper zu schreiben: „Meine Oper wäre anders geworden als diejenige Debussys. Ich hätte vielleicht den wundervollen Duft des Stücks nicht einfangen können, aber vielleicht hätten meine Personen mehr gesungen“; zitiert nach Edward Staempfli: „Pelleas und Melisande. Eine Gegenüberstellung der Werke von Claude Debussy und Arnold Schönberg“, in: SMZ 1972 (112), S. 68. 433 Trillig 1983, S. 213. 434 André Hallays 1902, S. 417, schlägt – hier in positivem Sinne – die Bezeichnung « psalmodie » für Debussys Gesangsstil vor.
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Methode gerade in seiner Verwirklichung einer « déclamation chantée ».435 Deren positive Attribute werden als eine große Nähe zur Natur der französischen Sprache was Geschmeidigkeit der Artikulation und Akzentstruktur betrifft und damit verbunden eine größtmögliche Wahrheit im Ausdruck erkannt.436 Dies sind genau die Punkte, die sich Debussy als Ziele auf seinem Weg zur Oper steckte. Gegen den Vorwurf einer « déclamation monotone où jamais rien n’apparaît de mélodique »437 wehrt sich Debussy mit dem Hinweis, dass seine Konzeption der Oper eben gerade das aus seiner Sicht übermäßige und wahllose Singen nach Wagnerschem Vorbild ablehne und zu einer neuen Ökonomie des Ausdrucks zugunsten der Wahrhaftigkeit zurückkehre.438 Paul Dukas und Gaston Carraud betonen, dass Debussy diese Wahrhaftigkeit dadurch erreiche, dass er es verstehe, die individuelle Wortmelodie der französischen Sprache gleichsam herauszuhören und damit eine viel engere Verbindung zwischen Text und Musik zu schaffen, als sie Wagner je habe erreichen können.439 Die vorgeblich Einfachheit, ja Primitivität von Debussys Melodiebildung, die ihm – wie bereits Satie – von den Vertretern des etablierten Opernbetriebs zum Vorwurf gemacht wird, ist für seine Anhänger gerade die Verheißung einer neuen, sich auf nationale Werte besinnenden musikalischen Sprache440, die mit der im besten Sinne naiven Kindlichkeit von Maeterlincks Drama verschmilzt.441 Besonders deutlich tritt das Wesen dieser neuen Sprache zu Beginn der zweiten Szene des ersten Aktes zutage, wenn Geneviève Golauds Brief an Pelléas vorliest. Bereits die kurze Einleitungsformel Genevièves, die den Terzschichtklang E-G-B-D im dritten Takt der Orchestereinleitung melodisch entfaltet, eröffnet mit der Untersekundkadenz E-D-E den modalen Rahmen des folgenden Berichts. Das hierzu nur in den Flöten bordunartig ausgehaltene E verstärkt zum einen die modale Zentrierung auf die Finalis E und unterstreicht zum anderen in seiner Kargheit,
435 Trillig 1983, S. 207. 436 « Le langage que parlent les personnages est une déclamation chantée ... très juste et très sincère d’accent. »; Auguste Mangeot: „Pelléas et Mélisande“, in: Le Monde Musical (15. 05. 02), S. 156. 437 Monsieur Croche, S. 62. 438 « Au théâtre de musique on chante trop. Il faudrait chanter quand cela vaut la peine et réserver les accents pathétiques. Il doit y avoir des différences dans l’énergie de l’expression. »; Emmanuel 1926, S. 36. 439 « Une musique si rapprochée de la musique incluse sous les mots ... qui’il devient impossible de la dissocier du texte qu’elle pénètre. » « Tout dans la partition, semble soumis à la parole: d’un bout à l’autre court, sans autre souci apparent que la vérité, une déclamation d’une fluidité, d’un naturel uniques, plus rapide, plus coulante, partie plus intégrante de la musique que la déclamation wagnérienne, et véritablement modelée sur la simplicité de notre douce langue »; Emmanuel 1926, S. 55/56, 60. 440 « L’effet que produit la musique de M. Debussy semble d’une simplicité rudimenaire. Il y a en elle la manière d’un primitif ... »; Schneider 1902, S. 199. « La déclamation conserve le même caractère de simplicité et de sincérité, quelle que soit la situation, quel que soit le personnage »; Hallays 1902, S. 418. 441 Schneider 1902, S. 197, spricht von der « impression d’adorable enfantillage ».
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während das übrige Orchester schweigt, den Ankündigungscharakter der Phrase sowie die Nähe zu Einleitungsformeln liturgischer Lektionen oder Orationen:
C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 1–14 nach Ziffer 22
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C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 5–24 nach Ziffer 22 (nur Singstimme)
Der Bericht Genevièves basiert im ersten Teil auf dem geschichteten Gerüst E-AC, wobei E als Finalis und Hauptrezitationsebene, A als Nebenrezitationsstufe und C als Obergrenze fungieren. Die folgenden Stellen zeigen die beiden Rezitationsstufen in ihrem Quart-Verhältnis als tiefer und höherer Rezitationston sowie den Schichtbau der Strukturtöne in plakativer Weise. Die Beschränkung der Singstimme auf diesen Tonvorrat sowie die Verwendung von formelhaften Motiven weisen auf den Einfluss modaler Vorbilder hin. Gleichzeitig zeigt z. B. die ausdrucksbedingte chromatische Flexion des Tones A an der Stelle « et sanglotte », dass es Debussy nicht um eine direkte Übernahme der Modi, zumindest nicht in ihrer im Gregorianischen Choral ausgeprägten Form, zu tun ist.442 Die modale Sprache dient Debussy als Anregung. Grundlegende Prinzipien werden übernommen, sie können aber durchaus auch übertragen, ausgebaut und transformiert werden. Dieselbe Ambivalenz kennzeichnet auch die Orchesterbegleitung: Teilweise unterstreicht sie die modale Orientierung, an anderen Stellen färbt sie die modale Linie der Singstimme mit tonaler Harmonik. So erscheint beispielsweise zu Beginn die Rezitationsstufe E als Terzton eines C-Dur-Klanges, dem F und G als Dominantquintsextklang folgen:
442 Der direkten Gegenüberstellung von Choralausschnitten und Stellen aus Pelléas bei d’Almendra ist deshalb nur unter Vorbehalt zuzustimmen; s. d’Almendra 1947/48, S. 103ff.
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C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 1–3 nach Ziffer 23
Mit Erreichen des Rezitationstones A wechselt dagegen die Begleitung auf eine zweimal vorgetragene Abfolge parallel geführter archaischer Quintoktavklänge:443
C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 4–7 nach Ziffer 23
Im zweiten Teil des Briefes mischen sich Figuren des D-Modus in den melodischen Verlauf, die sich mit Erreichen des tiefen A endgültig zu typischen Formeln des zweiten Tones mit der Unterquartstruktur A-D verfestigen:
C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 1–9 nach Ziffer 24 (nur Singstimme) 443 Auch in späteren Werken setzt Debussy Quintoktavparallelen als Signum für Sakrales und Archaisches ein: So in der Danse sacrée von 1904 oder in der 1910 komponierten Ballade que Villon feit à la requeste de sa mère pour prier Nostre-Dame aus den Trois Ballades de François Villon; vgl. Beyer 1992, S. 52/53. Maurice Emmanuel berichtet, wie Debussy bereits zu Studienzeiten am Conservatoire seine Mitstudenten mit parallel geführten Quinten und Oktaven überraschte und schockierte; vgl. Emmanuel 1926, S. 102/103.
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Der modale Wechsel fällt zusammen mit dem Wechsel der Erzählebenen: Von der bereits vergangenen Eheschließung zwischen Pelléas und Mélisande hin zu ihrer nun bevorstehenden Rückkehr (s. oben Takte 19–22 nach Ziffer 22). Die Zentrierung auf die neue Finalis zeigt sich in den letzten Sätzen durch die ausschließliche Rezitation auf D (Takte 4–10 nach Ziffer 25):
C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 4–7 nach Ziffer 25 (nur Singstimme)
Zugleich wird hier ein weiterer wichtiger Aspekt der Verwendung von Rezitationsstufen durch Debussy in Pelléas deutlich: Die nur auf D ohne sonstige Flexionen rezitierten Worte beinhalten die Verabredung geheimer Signale für Golauds Rückkehr. Sie sind eine Aufforderung an Pelléas und treten damit aus der sonstigen Erzählhaltung des Briefes heraus. Das pochende Insistieren auf der Rezitationsstufe D setzt die drängende Notwendigkeit und den Aufmerksamkeit erheischenden Charakter der Briefstelle um. Hier lässt sich das von Debussy immer wieder in seiner Oper angewandte Verfahren beobachten, Momente besonderer Wichtigkeit durch die äußerste Reduzierung und damit Intensivierung der Ausdrucksmittel anzuzeigen. Was die rhythmische Seite anbelangt, so verwendet Debussy ein System, das in seiner subtilen Ausdifferenzierung so eng wie möglich den Nuancen der französischen Sprache zu folgen versucht. Grundlage hierfür ist die strikte Syllabik, die die Gesangslinie vollkommen beherrscht. Als Grundwert der normalen Silbendeklamation dienen Achtelnoten, wobei die typische Endbetonung einzelner Worte, von Wortgruppen oder eines ganzen Satzes im Französischen durch längere Notenwerte (Un soir, s. o. Takt 7 nach Ziffer 22) oder durch entsprechende Positionierung innerhalb des Taktschemas erfolgt, sodass Taktschwerpunkt und betonte Silbe zusammenfallen (je l’ai trouvée, s. o. T. 8 nach Ziffer 22). Diese normale Deklamation – auf die auch die Vortragsanweisung simplement et sans nuances hinweist – differenziert Debussy nun entsprechend dem Verlauf der Spannungskurve während der Brieflesung. Auf die gesteigerte innere Erregung weist zunächst der Übergang zur höheren Rezitationsebene A hin. Gleichzeitig treten mit dem Taktwechsel kleinere Notenwerte in Sechzehnteln auf, die eine Beschleunigung und feinere Nuancierung des Vortrags – so z.B. bei der Realisierung der kurzen nachschlagenden Silben (âge) – bewirken. Des Weiteren kommen Triolenbildungen hinzu, die Silbengruppen zusammenfassen und eine Variierung des Vortrags gegenüber dem Grundmetrum anzeigen. Diesem differenzierteren Deklamieren entspricht wiederum die neue Vortragsanweisung Sans rigueur dans la mesure (s. o. T. 11 nach Ziffer 22).
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Im weiteren Verlauf des Vortrags intensivieren sich die einzelnen Komponenten noch: Die Untergliederung der Notenwerte nimmt Zweiunddreißigstel auf, neben Triolen finden sich Quintolen und Sextolen zur Silbengliederung, der Takt wechselt mehrfach und die Vortragsanweisungen nehmen an Dichte zu. Besonders bei der Rezitation auf D am Schluss des Briefes erscheinen die Angaben zum Bewegungstempo wie als der Versuch, zusätzlich zur äußerst nuanciert notierten Rhythmik die Feinheiten der Deklamation verdeutlichen zu wollen.444 Dabei ist das komplizierte Notenbild, wie Debussy selbst in Hinblick auf Pelléas betont, nur der technische Unterbau, auf dem eine möglichst natürliche und einfache Sprachbehandlung erwächst.445 Dieser sehr verfeinerte Deklamationsstil, der dem Sprachleib wie eine Haut anliegt446, entspricht in dieser Szene besonders der Vortragssituation in Form eines Botenberichts und verstärkt sie gleichzeitig. Das von Debussy für Pelléas entwickelte Verfahren, das hier besonders deutlich hervortritt, beherrscht aber seine gesamte Oper. Die zahlreichen Skizzen und Frühfassungen von Pelléas offenbaren, mit welcher Akribie Debussy an der Gestaltung dieses Vortragsstils gearbeitet hat, indem er durch rhythmische und melodische Verschiebungen dem Aussagecharakter des Textes und dem Tonfall der französischen Sprache so nahe wie möglich zu kommen suchte.447 Debussys Deklamation hat ihre Grundlage und Anregung zunächst in der vom vers libre geprägten, auf freiem Rhythmus fußenden dichterischen Prosa Maeterlincks, die hier zum ersten Mal als textliche Basis einer Oper verwendet wurde. Die konkrete musikalische Ausformung dieser neuen Flexibilität der Sprache, die sogar die Wortakzente variieren kann448, weist aber auf liturgische Vorbilder, spezieller auf die von Solesmes und Mocquereau entwickelte Choraltheorie. Sie kann 444 Fast möchte man hier, bedenkt man die durch Modalität und Rezitationsstil evozierte Choralsphäre, an die litterae significativae der Choralcodices denken. Man vgl. hierzu die Bemerkungen von Charles M. Widor im Vorwort zu seiner Symphonie romane: « L’indépendance rythmique des chants Grégoriens s’accomode mal de l’absolutisme de notre mesure métronomique. Est-il rien de plus délicat que de transcrire en signes modernes les vocalises d’un Graduel et d’un Alleluia ? Alors on en vient aux explications parlées et aux commentaires: Quasi recitativo, rubato, espressivo, a piacere etc. ». 445 « On le [Debussy] fait passer pour un compliqué, et il est le musicien le plus épris de simplicité qu’il connaisse ; … Autre chose est la notation musicale : celle-là peut être compliquée, pourvue qu’elle donne un effet simple. Le moyen en art ne regarde personne, et en musique plus spécialement, la notation ardue est une pure question de lecture, et pas autre chose. »; Monsieur Croche, S. 267. 446 « M. Claude Debussy a écrit une partition qui „habille“ le texte et qui en même temps s’en imprègne »; Louis Schneider: „Pelléas et Mélisande“, in: Revue musicale 1902/5, S. 199. 447 Beispiel hierzu bei Roger Nichols, Richard Langham Smith, Claude Debussy: Pelléas et Mélisande, Cambridge 1989, S. 42–47 und David A. Grayson: The Genesis of Debussy’s Pelléas et Mélisande, Michigan 1986, S. 197–224. Faksimile der Skizzen bei François Lesure (Hg.): Claude Debussy. Esquisses de Pelléas et Mélisande (1893–1895). Publiées en facsimilé avec une introduction par François Lesure (Publications du centre de documentation Claude Debussy Saint-Germain-en-Laye II), Genf 1977. 448 Vgl. Marie-Claire Beltrando-Pathier: „« Pelléas » ou les Aventures du Récit musical“, in: Littérature et Nation 2 (Juni 1990), S. 71–80.
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Debussy auch ohne unmittelbar nachweisbarem Kontakt mit Solesmes zugänglich gewesen sein. Mocquereau legte einen besonderen Schwerpunkt auf die Vermittlung seiner Choral- und Rhythmustheorie nach außen hin. Schon Pothier regte im Vorwort seiner Mélodies grégoriennes eine Symbiose zwischen dem in seiner ursprünglichen Gestalt und Kraft wiederentdeckten Choral und der Musik einer neuen Komponistengeneration an, wenn er der Hoffnung Ausdruck gibt, seine Darlegungen mögen nicht nur im engeren kirchenmusikalischen Umfeld mit Wohlwollen aufgenommen werden, sondern auch « par les musiciens profanes eux-mêmes, par ceux surtout qui estiment que la musique moderne a besoin d’être régénérée, retrempée aux sources vives des inspirations anciennes », und – als Spitze gegen Wagners „Zukunftsmusik“ – « que la musique du passé mieux connue et enrichie des ressources légitimement acquises que le present peut lui offrir, doit être saluée comme la vraie musique de l’avenir. »449 Es war ebenfalls Pothier, der als erster in Bezug auf die Melodien des Chorals vehement die Meinung vertrat, diese seien « mieux appropriées aux textes et plus intimement unies aux rites sacrés, que les compositions les plus vantées de l’art moderne. »450 Seiner Ansicht nach waren es gerade der dem Choral innewohnende « caractère de simplicité, loin d’être une infériorité par rapport à une musique plus compliquée »451 und der natürliche freie Rhythmus452, welche als Ursache für die Wertschätzung und den Vorbildcharakter des Chorals anzusehen seien. Diese Vorstellungen, die in leichter Modifikation auch die Basis für Mocquereaus Lehre bilden, mussten auf einen Komponisten wie Debussy, der auf der Suche nach einer neuen Musik war, die sich vom etablierten Opernbertrieb abheben sollte, starken Einfluss ausüben. In noch höherem Maße als Pothier betont Mocquereau in seinen Schriften die einzigartige Qualität des « rythme musical libre »453 im Choral, die ihn von jeder anderen Musik unterscheide. Diese « liberté du vrai grand rythme »454 sei der Grund für die Überlegenheit des « récitatif grégorien »455, die sich in der Wahrhaftigkeit, in der einfachen Reinheit und in der Natürlichkeit der Verbindung zwischen Text und Musik darstelle.456 Das Neue gegenüber späterer Musik und auch im Vergleich zu den meisten zeitgenössischen Kompositionen zeige sich darin, dass die Choralmelodik den ständig wechselnden Akzenten und Feinheiten der Sprache in allen Nuancen folge.457 449 Dom Joseph Pothier: Les mélodies grégoriennes d’après la tradition, Tournai 1880 (Édition avec Préface de Jacques Chailley, Paris 1980), S. 30. 450 Ebda., S. 36. 451 Ebda., S. 36/37. 452 Ebda., S. 215/216. 453 Nombre musical I, S. 5. 454 PM VII, S. 28. 455 Ebda., S. 89. 456 « ... son rythme si vrai, si pur, si naturel »; ebda. 457 « ... le rythme se joue librement avec des nuances délicates qui rapellent le miroitement de la lumière et des couleurs sur le plumage ondoyant de l’oiseau ». « ... cette grâce naturelle, ces mouvements liés et ondulants, qui conviennent éminemment à la diction souple et aisée de la mélodie grégorienne. ... cette variété des accents ... »; ebda., S. 161, 278.
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Debussy konnte in solchen Vorstellungen ein Vorbild für seine angestrebten Neuerungen finden, die Anregung erhalten, „to seek in Gregorian art for the enchanted secret of rhythmical flexiblity“, wie es Felix Raugel formulierte.458 Debussys Mission, in Pelléas « la musique dramatique de la lourde contrainte dans laquelle elle vit depuis si longtemps »459 zu befreien, fand im Kampf Mocquereaus gegen die « tyrannie de la mesure »460 einen Verbündeten. Dieser hatte seinen Feldzug breit angelegt und stellte in der Einleitung zum ersten Band von Nombre musical fest, dass die Choraltheorien aus Solesmes inzwischen überall verbreitet seien. Mit Erstaunen habe man die neuen Freiheiten des « rythme libre » im Choral aufgenommen und dank der unermüdlichen Tätigkeit von Solesmes habe sich nun ein regelrechtes « tempérament grégorien » herausgebildet.461 Mit für diesen Erfolg macht Mocquereau neben seiner Ictus-Theorie vor allem die Übertragung der Choralmelodien in moderne Notenschrift verantwortlich, die wesentlich zur Verbreitung und Akzeptanz des Chorals in der musikalischen Welt beigetragen habe.462 Bereits Pothier hatte in der Revue du chant grégorien solche Transkriptionen gegeben, die mit Achteln als normalem Silbenwert, Vierteln und punktierten Vierteln für längere Silbenwerte und mit verschiedenen Formen von Taktstrichen den « rythme libre » im Choral verdeutlichen sollten.463 Mit Mocquereaus Entwicklung seines rhythmischen Grundprinzips der Zweier- und Dreiergruppen wurden die Übertragungen in Gruppen zu zwei und drei Achteln als äquivalistische Silbengrundwerte zum typischen Erscheinungsbild des Chorals.464 So typisch und selbstverständlich, dass manche Beobachter äußerten, Debussy habe die Singstimmen in Pelléas in Choralnotation geschrieben.465 In der Tat ist der Vorbildcharakter der Solesmer Transkriptionen für Debussy kaum zu übersehen: Die Achtelwerte als durchgängige Grundlage der Silbendeklamation, die Triolengruppierungen, die sich mit paarigen Gruppen abwechseln, das offenkundige Bemühen, den freien Rhythmus des Sprachvortrags einzufangen, dies alles weist darauf hin, dass Debussy bei seinem Bemühen, eine ganz neue, natürliche Musik zu schreiben, im Choral auf die von Solesmes und Mocquereau propagierte „musica
458 459 460 461
462
463 464 465
Zitiert nach Cœuroy 1927, S. 603. Monsieur Croche, S. 63. PM VII, S. 159. « ... ce qui a été fait aussi dans un nombre considérable de cathédrales, églises monastiques et paroissiales, chapelles de toutes sortes, par des voix d’hommes, de femmes, d’enfants, par des artistes et des chantres de village. ... notre tempérament grégorien s’est formé ... Notre oreille, d’abord rebelle et étonnée, s’est bientôt laissé séduire par le charme de ce rythme libre, souple, ondulant, auquel notre éducation moderne ne nous avait guère préparés »; Nombre musical I, S. 6. « Bien plus, des transcriptions soigneusement rythmées en notation moderne, sans barres, ont été essayées; elles ont été mieux accueillies encore que les précédentes: leur diffusion a été plus large. Par leur moyen, nous avons eu la joie de faire pénétrer le chant grégorien dans des milieux d’où il eût toujours été exclu sous son costume neumatique »; ebda., S. 16. Drei dieser Übertragungen finden sich wiederabgedruckt in PM VII, S. 128–133. Beispiel hierfür: Nombre musical I, S. 148. Vgl. z. B. d’Almendra 1947/48, S. 101.
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omnino naturalis“466 gestoßen war467. Im Choral sah Debussy jenes Grundprinzip der « divine arabesque » verwirklicht, das sich für ihn in der Konzentration auf die notwendigsten, jeder Übertreibung abholden musikalischen Ausdrucksmittel manifestierte und vom Choral aus über die Meister der Vokalpolyphonie bis zu Bach zu verfolgen war, bis es mit Wagner sein unwiderrufliches Ende fand.468 Dass eine Übertragung der damit als gleichsam universal empfundenen Grundprinzipien des Chorals aus der engeren liturgischen Gebundenheit heraus auf andere Musik erfolgen konnte, ist sicherlich auch der Tatsache zuzuschreiben, dass speziell Mocquereau seine Rhythmustheorie immer stärker als allgemeingültige Lehre verstand, die sich vom liturgischen Kontext lösen konnte. Hiervon legen seine umfangreichen Rhythmustabellen, die schematisch die verschiedenen Kombinationen aus Zweier- und Dreiergruppen ohne jeden Text auflisten469, ebenso Zeugnis ab wie seine Idee eines « solfège grégorien »470, die einzelne Neumenfolgen völlig isoliert auf allen Tonstufen zusammenstellt.471 Beides zeigt in seiner abstrakten Schematisierung, die sich von der ursprünglich so intimen Verbindung von Sprache und Musik beim Choral ganz gelöst hat, wie sehr dieser bereits den Charakter einer musikalischen Sprache angenommen hatte, über die in neuer Weise verfügt werden konnte. Dies wird auch daran deutlich, dass Pothier und Mocquereau beide aktiv bei der Formulierung neogregorianischer Gesänge mitwirkten. Sowohl der Solesmer Liber Gradualis wie der Liber Usualis enthalten Neukompositionen von Pothier, ebenso wie seine Sammlung Cantus Mariales.472 466 PM VII, S. 168. Bereits im frühen 19. Jahrhundert waren es die dem Choral zugesprochenen Attribute der Einfachheit und Natürlichkeit, die ihn als Ideal für eine musikalische Neuorientierung zunächst im religiösen Bereich erschienen ließen; s. Karlheinz Schlager: „Wege zur Restauration. Marginalien zur Kirchenmusik zwischen Augustinus und Thibaut“, in: Traditionen und Reformen in der Kirchenmusik, Festschrift Konrad Ameln zum 75. Geburtstag, Gerhard Schuhmacher (Hg.), Kassel etc. 1974, S. 15–24. 467 Wie sehr auch spätere französische Komponisten mit der Herausforderung, die freie Rhythmik des Chorals nach Solesmer Vorbild mit dem modernen Taktsystem zu verbinden, beschäftigt waren, zeigt eine Bemerkung Maurice Duruflés über sein Requiem von 1947: « Ainsi me suis-je efforcé de concilier dans la mesure du possible la rythmique grégorienne, telle qu’elle a été fixée par les Bénédictins de Solesmes, avec les exigences de la mesure moderne. La rigueur de celle-ci, avec ses temps forts et ses temps faibles revenant à intervalles réguliers, est en effet difficilement compatible avec la variété et la souplesse de la ligne grégorienne qui n’est qu’une suite d’élans et de retombées successives. »; zitiert nach Forst 1991, S. 110. 468 « Les primitifs, Palestrina, Vittoria, Orlando di Lasso, etc., se servirent de cette divine « arabesque ». Ils en trouvèrent le principe dans le chant grégorien et en étayèrent les frêles entrelacs par de résistants contrepoints. Bach en reprenant l’arabesque la rendit plus souple, plus fluide … »; Monsieur Croche, S. 34. 469 Nombre musical I, S. 91ff. 470 Ebda., S. 185. 471 Vgl. z. B. ebda., S. 244ff. 472 Vgl. Lucas Kunz: „Die Editio Vaticana“, in: Fellerer 1976, S. 290/291, Willi Apel: Gregorian Chant, Bloomington 1958, S. 345. Für den Hinweis auf den Cantus Mariales. Chants à la Vièrge Marie, recueillis, adaptés, composés par D. Joseph Pothier, Abbé de Saint-Wandrille, Saint-Wandrille 19509, danke ich Fr. Daniel Saulnier/Abtei Solesmes, der mir auch freundlicherweise ein Exemplar zukommen liess.
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Und wie bereits Pothier, so stellt auch Mocquereau eine direkte Verbindung zur zeitgenössischen Komponistengeneration her: Vincent d’Indy gilt ihm als der Anführer der « jeune École française », die in Bezug auf die Vorstellungen über die Freiheit des Rhythmus ganz mit der Lehre von Solesmes übereinstimme.473 D’Indy sah im Choral nicht nur den Ursprung selbst der Volksmusik, sondern ganz allgemein den aller Kunst.474 In Übereinstimmung mit Solesmes galt ihm der Choral als die einfachste und gleichzeitig als die aufrichtigste musikalische Form475, weshalb er sich mit seiner Geschichte und Notation ausführlich auseinandersetzte.476 Auch Charles Bordes formulierte als ästhetische Prinzipien der Schola den Kampf gegen den « art métrique » und für die Freiheiten einer natürlichen, spezifisch französischen Musik mit höchstmöglicher rhythmischer Flexibilität, die sich aus dem Choral und aus der Volksmusik als Vorbilder speise.477 Als Qualitätsmerkmal dieser neuen Musik galt Bordes die Nähe zum Choral, sowohl was die Anwendung modaler Ausdrucksmittel als auch der rhythmischen Freiheiten betraf.478 Bordes wusste sich damit im Einklag mit den Vorstellungen des Heiligen Stuhls, wie sie im Motu Proprio von 1903 dargelegt wurden.479 Obwohl Bordes diese Richtlinien speziell für die Komposition neuer geistlicher Musik entwarf, musste sich Debussy, der Bordes kannte und bewunderte, von den neuen, faszinierenden Möglichkeiten des wiederentdeckten Chorals angezogen fühlen. Mit Pelléas sollte zwar keine religiös gebundene Komposition entstehen. Aber der mit dem Choral verbundene Anspruch einer auf alten Traditionen 473 « Monsieur Vincent d’Indy, nous le savons, ne serait pas d’un autre avis ... La jeune École française, dont il est le chef incontesté, reconnait la fausseté de la théorie moderne, sur la mesure intensive, et professe l’entière liberté rythmique de l’accent, dans la mélodie et dans la parole; ... les idées nouvelles et justes y abondent et confirment entièrement l’enseignement de Solesmes »; PM VII, 161. 474 « Le principe de tout art est d’ordre religieux »; « Les mélodies primitives vraiment populaires, celles qui ont subsisté à travers les âges ... sont presque toutes ... des interprétations de monodies liturgiques »; Vincent d’Indy: Cours de composition musicale I. 1897–98, Paris 1912, S. 83, 84. 475 « Chant admirable entre tous, par son emotion naïve, sincère ... »; « le même esprit de simplicité qui règne dans les pièces primitives de plain-chant »; ebda., S. 74, 77. 476 Ebda., S. 49ff. 477 « C’est ... le culte de la liberté dans la phrase musicale ... la Schola s’est donné pour mission de célébrer et de poursuivre pour lutter contre l’art métrique »; Charles Bordes: „Résumé des doctrines esthétiques de la Schola Cantorum“, in: La Tribune de Saint-Gervais IX (1903), S. 307. « La Schola poursuit donc le triomphe de la musique naturelle, libre et mouvante comme le discours, plastique et rythmique comme la danse antique, en s’appuyant sur les monuments de l’art religieux, du théâtre lyrique primitf et sur le culte de la nature, de la tradition populaire, en ayant un souci constant, un but avoué : le triomphe de la musique française et son culte. »; ebda., S. 308. 478 « La Schola Cantorum a pour but de créer une musique moderne vraiment digne de l’Église. … Il faut en conclure que, plus une composition musicale se rapprochera du plain-chant, plus elle aura le droit de porter le titre de musique d’Église. »; La Tribune de St. Gervais I (1895), S. 11. 479 Vgl. Dowd 1969, S. 128.
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aufbauenden nationalen Musik traf sich ganz mit Debussys Bestrebungen. Darüber hinaus wies das geheimnisvoll-mystische Sujet Maeterlincks durchaus gemeinsame Wesenszüge mit religiösen Kontexten auf. Diese seltsame Mischung aus religiösen Versatzstücken und einem verschwommenen Mittelalterbild zeigt sich auch darin, dass sich Maeterlinck selbst für seinen Pelléas „costumes of the eleventh [and] twelfth centuries, or else like Memling“480 vorstellte und spätere Aufführungen des Dramas in der Abtei Saint-Wandrille mit ihren Ruinen aus dem 13. Jahrhundert veranstaltete.481 Dies alles bildete die mittelalterlich-religiösen Konnotationen, die Debussy in der Übernahme einzelner musikalischer Gestaltungsprinzipien des Chorals einlöste.482 Besonders deutlich wird dies im Lied Mélisandes zu Beginn des dritten Aktes. Die Melodik ist hier unverkennbar aus einem auf E basierenden Dorisch heraus gestaltet. Darauf weist bereits das Vorspiel hin, das eine über siebzehn Takte währende Fundierung des Quinttons in verschiedenen Oktavbrechungen darstellt. Auch hier unterstreicht die Instrumentierung mit Flöten, Harfen und gedämpften Streichern die geheimnisvoll verschleierte Atmosphäre der Szene, die sich in der aus einer ebenso geheimnisvollen Vergangenheit stammenden Modalität widerspiegelt. Das Grundgerüst der Rezitation Mélisandes bildet sich aus dem Quintton und der im Quartsprung mit seinem archaischen Ausdruckswert erreichten Oktav:
C. Debussy: Pelléas [KA], S. 116 (nur Singstimme)
Die Nähe zum Liturgischen tritt im zweiten Teil des Liedes unmittelbar und unvermutet mit der Anrufung der Heiligen Daniel, Michael und Raphael hervor. Die auf die Gerüsttöne beschränkte und strikt wiederholte Melodik evoziert den Tonfall der Allerheiligen-Litanei:
C. Debussy: Pelléas [KA], S. 116 (nur Singstimme)
480 Zitiert nach Nichols, Smith 1989, S. 6. Ebenso vage beschrieb Maeterlinck die Zeit, in der sein Drama spielt, mit irgendwo zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert; vgl. David Grayson: „Waiting for Golaud: the concept of time in Pelléas“, in: Richard Langham Smith (Hg.): Debussy Studies, Cambridge 1997, S. 29. 481 Bergeron 1998, S. 63. 482 Louis Laloy: La musique retrouvée, Paris 1928, S. 113, spricht vom « accent religieux », der Debussys Pelléas präge.
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Hier ist zu betonen, dass Debussy diese in den ersten Auflagen von Maeterlincks Drama enthaltene Version des Mélisande-Liedes gegenüber den in späteren Ausgaben an dieser Stelle vorgesehenen fünf volksliedhaften Strophen beibehalten hat.483 Offensichtlich erschien ihm die völlig regelmäßige, mit kurzen Refrains durchsetzte Struktur der zweiten Fassung ungeeignet für seine Technik der freien Deklamation. Die Originalfassung enthält zwar auch Reime, erinnert aber in ihrer paarigen Anlage besonders stark an den parallelismus membrorum der Psalmen.484 Wie um den besonderen Charakter dieser Stelle noch weiter zu unterstreichen, schweigt das Orchester bezeichnenderweise bis auf eine zweitaktige Überleitung während des gesamten Liedes und die Rezitation kommt damit unmittelbar zum Vorschein. Die Orchesterbegleitung in Pelléas ist natürlich in ihrer Eigenständigkeit und Wichtigkeit keinesfalls zu vernachlässigen, ist sie doch auch ein Indikator für die bei Debussy fortwirkenden romantischen Traditionen.485 Dennoch verschiebt Debussy den Schwerpunkt des Komponierens, der in der spätromantischen Musik ganz von einer spannungsgeladenen und äußerst verfeinerten Harmonik geprägt wurde, auf ein neu sensibilisiertes Verständnis von Melodik und Rhythmik.486 Die Konzentration auf die modale Melodik bei Mélisandes Lied weist auf die zentrale Bedeutung dieser neuen musikalischen Sprachmittel hin. Gleichzeitig zeigt sich auch hier wieder der versatzstückartige Umgang Debussys mit der liturgischen Tradition. So wie das Lied Mélisandes die Heiligenanrufung aus dem engeren liturgischen Kontext herausschneidet und gleichsam spielerisch übernimmt, so ist es Debussy nicht um die genaue Kopie liturgischen Vortrags zu tun. Es ist eher der Gestus liturgischen Rezitierens, den Debussy übernimmt, weil ihm dieser als geeignetes Ausdrucksmittel für seine Vorstellungen über das mit Pelléas neu zu schaffende musikalische Drama erscheint.487 Nicht die Kirchenmusik an sich interessiert den Komponisten Debussy.488 Es ist die emotionale Distanz von Modalität und Choral, die, aus einer alten, dunklen 483 Debussy besaß eine der ersten im Sommer 1892 erhältlichen Ausgaben von Maeterlincks Drama; vgl. Orledge 1982, S. 50. Diese enthielt in der von Debussy gestrichenen 1. Szene des 3. Aktes bereits die Heiligenanrufungen und in der folgenden Szene das Mélisande-Lied in der von Debussy vertonten Form; vgl. z. B. Maurice Maeterlinck: Pélléas et Mélisande, 5ème édition, Brüssel 1892, S. 67, 70/71. 484 Vgl. Emmanuel 1926, S. 90/91. 485 Richard Strauss hörte in Pelléas deutliche Anklänge an Parsifal; s. Lockspeiser 21966, S. 96. 486 Vgl. Kurt Westphal: „Die moderne Musik im Lichte Debussys. Ein Versuch über die Grundlagen der neuen Klanggestaltung“, in: Die Musik 20/9 (Juni 1928), S. 635. 487 Mit einem Wort de Fallas könnte man Debussys Übernahme von Gestaltungsmitteln des Chorals als „Wirklichkeit ohne Authentizität“ bezeichnen; s. Theo Hirsbrunner: Die Musik in Frankreich im 20. Jahrhundert, Laaber 1995, S. 56. 488 Ganz zurecht weist Stefan Kunze: „Der Sprechgesang und das Unsagbare. Bemerkungen zu „Pelléas et Mélisande“ von Debussy“, in: Werner Breig u.a. (Hgg.): Analysen. Beiträge zu einer Problemgeschichte des Komponierens. Festschrift Hans Heinrich Eggebrecht zum 65. Geburtstag (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft XXIII), Stuttgart 1984, S. 345, Anm. 18, auf den Funktionswechsel liturgischer Vorbilder in der Musik Debussys hin; Kunzes Interpretation der „Briefszene“ und des „Mélisande-Liedes“, ebda. S. 343–346, 348– 352, klammert jedoch jeden Bezug auf die modalen Grundlagen dieser Stellen völlig aus.
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Vergangenheit stammend, jetzt bei ihrer Wiederbelebung gleichermaßen nur erahnt werden. Als Musik mit dem denkbar größten Abstand zur Gegenwart, übt die Musik des Mittelalters einen besonderen Reiz aus und könnte so durchaus als eine Art „zeitlicher Exotismus“ bezeichnet werden. Sie erscheint Debussy als geeignetes Mittel, um das Charakteristikum von Maeterlincks Drama, „die Gestaltung einer unbestimmten Angst und des Grauens vor drohenden Abgründen, die Auffassung vom Leben als einem beständigen Warten auf etwas Schreckliches, auf ein im Dunklen lauerndes Schicksal“489, in Musik umzusetzen. Diese Grundhaltung des Maeterlinckschen Dramas, das Hineinhören ins Innere, die Ausrichtung auf das Ahnungsvolle, Schemenhafte, die Bevorzugung des „drame intérieur“ gegenüber dem „drame extérieur“490, trifft sich mit Debussys kompositorischen Vorstellungen. Ihm geht es um eine Schilderung von Seelenzuständen, um eine Introspektive. Dem entspricht die große Rolle, die Schilderungen von Natur und Raum als gleichsam objektiv gegebene Größen, frei von jedem « anthropomorphisme »491 nicht nur im Pelléas, sondern im gesamten Schaffen Debussys einnehmen. Zu dieser Innenperspektive bedarf es – wie Debussy selbst ausführt – eines dramatischen Vorwurfs, der der Seelenschilderung mit musikalischen Mitteln ausreichend Platz gibt. Die literarische Grundlage muss sich eher im Hintergrund halten, indem sie beispielsweise Ort und Zeit der Handlung nicht genau fixiert und die Personen als der höheren Instanz des Schicksals unterworfen zeichnet und ihnen damit eine gewisse Zurückhaltung auferlegt.492 Erst in dieser Zurücknahme des persönlichen Ausdruckswillens sieht Debussy die Voraussetzung dafür, dass die Musik das Unaussprechliche, das sie aussagen kann und soll, zum Ausdruck bringt. Die Ausdrucksmittel, derer sie sich hierbei bedient, müssen wiederum dieser Aufgabe angemessen sein. Das bedeutet für Debussy vor allem eine Zurückhaltung auch im Musikalischen, eine gewisse Unaufdringlichkeit, die sich der Emphase und Extrovertiertheit des Wagnerschen Dramas gänzlich begibt. Die Rolle, Träger des Nichtsagbaren, Numinosen zu sein, die Wagner dem Orchester überträgt, versucht Debussy wieder an die singenden bzw. sprechenden Personen zurückzubinden. Die hieraus resultierende radikale Einfachheit lässt die wenigen Momente, in denen die Personen aus ihrer schattenhaften Blässe heraustreten, umso deutlicher erscheinen. So schlägt in der vierten Szene des vierten Aktes die Faktur der Singstimme radikal um, wenn Pelléas nach dem gegenseitigen Liebesgeständnis trun489 Helmut Schmidt-Garre: „Debussy und Maeterlinck – die Kongruenz ihres Empfindens und die Inkongruenz ihrer Wirkung“, in: NZM 130 (1969), S. 85. 490 Ebda. 491 Vladimir Jankélévitch: La musique et l’ineffable, Paris 1961, S. 50. 492 « Quel poète pourra vous fournir un poème ? Celui qui, disant les choses à demi, me permettra de greffer mon rêve sur le sien; qui concevra des personnages dont l’histoire et la demeure ne seront d’aucun temps, d’aucun lieu; qui ne m’imposera pas, despotiquement, « la scène à faire » et me laissera libre, ici ou là, d’avoir plus d’art que lui, et de parachever son ouvrage. ... Je rêve de poèmes ... où les personnages ne discutent pas, mais subissent la vie et la sort »; Emmanuel 1926, S. 35/36.
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ken vor Glück die Schönheit Mélisandes besingt. Die plötzlich auftretenden, aufhellenden Kreuz-Vorzeichen zeigen den Übergang von der vorhergehenden unbestimmten Modalität in eine definierte Tonalität an, der Rezitationsduktus weicht der regelmäßigen schwingenden Rhythmik des 6/4-Taktes, ebenso wie die Rezitationsstufenmelodik einer ariosen Dreiklangsmelodik. Wiewohl auch bei diesen Stellen keine Melismatik auftritt, macht der Vergleich mit den eingelagerten Rezitationsmomenten den strukturellen Unterschied deutlich:
C. Debussy: Pelléas, 4. Akt, Takte 1–10 nach Ziffer 44 (nur Singstimme)
C. Debussy: Pelléas, 4. Akt, Takte 1–5 nach Ziffer 47 (nur Singstimme)
Solche Momente, in denen die individuelle Emotionalität sich auch in der Melodik Bahn bricht, stellen aber die absolute Ausnahme in Pelléas dar. Als Normalfall herrscht der fast rituelle Rezitationsgestus vor. An Stellen besonderer Bedeutung reduziert Debussy dieses Stilmittel weiter bis zur Rezitation auf einem einzigen Ton. Die Sparsamkeit der Ausdrucksmittel dient dazu, das Geheimnisvolle oder Bedeutungsschwere der Aussage extra zu unterstreichen: In der ersten Szene des vierten Aktes berichtet Pelléas – wieder in der Funktion eines Botenberichtes – von der dunklen Prophezeiung seines baldigen Todes durch seinen Vater, auf E rezitierend:
C. Debussy: Pelléas, 4. Akt, Takte 13–18 nach Ziffer 2 (nur Singstimme)
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Die gesamte Sterbeszene des fünften Aktes ist ebenfalls von dieser Konzentration und Ehrfurcht erzeugenden Ausdruckshaltung geprägt. Wenn Golaud die sterbende Mélisande um Vergebung bittet, so tut der dies mit einem dreimal sequenzierenden Muster aus Einzeltonrezitation und erhöhtem Akzentton, wobei beim dritten Mal der Halbton der schmerzlichen Ausdrucksintensivierung dient:493
C. Debussy: Pelléas [KA], S. 281(nur Singstimme)
Hier schweigt das Orchester zur Unterstreichung des Einzigartigen ebenso wie in der Schlüsselszene des vierten Aktes, wenn Mélisande ihre Liebe zu Pelléas bekennt494. Debussy kleidet die Ungeheuerlichkeit dieses Augenblicks in die schlichte, jede Unaufrichtigkeit verhindernde Rezitation auf C (Takte 5–9 nach Ziffer 42, nur Singstimmen):495
Erik Satie, der mit seiner Forderung nach einer « musique depouillée » auf Debussy eingewirkt hat496, zeigt sich seinerseits in der Sterbeszene seines Socrate von 493 « C’est ici qu’il faut, de fait, évoquer les cantilènes grégoriennes, les vocalises des antiennes médiévales, les versets de l’antiphonaire »; Jarillier 1927, S. 96. 494 Dies korrespondiert mit der Bedeutung des Schweigens in Maeterlincks Sprache: „ [...] so ist das Endziel der Maeterlinckschen Sprache letzten Endes das Schweigen. [...] Im Schweigen erkennen sich die Seelen der Liebenden.“; Schmidt-Garre 1969, S. 86/87. 495 Treffend bemerkt Georg Bonte über Pelléas: „Debussys Pelléas et Mélisande ist die einzige Oper, bei der zu den Worten „Ich liebe dich“ das Orchester – schweigt“; Georg Bonte: „Fünfzig Jahre „Pelléas“, in: NZM 1952, S. 281. Romain Rolland äußert sich zu dieser Szene: « Pelléas et Mélisande fut comme le manifeste de la révolte. Il réagit avec intransigeance contre toute emphase, contre tout excès, contre toute expression qui dépasse la pensée. Cette répugnance à l’àgard des paroles et des sentiments exagérés va même jusqu'à la peur de livrer ce qu’on sent, quand on est le plus ému. Les passions se disent à mi-voix. C’est par d’imperceptibles frémissements de la ligne mélodique que se traduit l’amour, qui grandit dans le cœur du couple malheureux, le timide : « Oh ! pourquoi partez-vous ? » de la fin du premier acte, le tranquille : « Je t’aime aussi « de l’avant-dernière scene. Et que l’on compare les sauvages lamentations d’Ysolde mourante à la mort sans cris, sans phrases, de Mélisande. »; Rolland 1908, S. 199/200. 496 Albert Bertelin urteilt 1912 über Satie: « Ce véritable précurseur ouvrit en somme la voie dans laquelle s’engagea M. Debussy. Les compositions d’Erik Satie contenaient en germe tous les éléments dont devait se servir en les développant et en les perfectionnant l’auteur de
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Debussys Pelléas beeinflußt: Die schlichte, auf Achtel- und Viertelwerte beschränkte syllabische Deklamation, die in diesem « drame symphonique » vorherrscht497, reduziert sich bei der Schilderung des sterbenden Sokrates, um die Bedeutung dieses Vorgangs hervorzuheben, auf eine Rezitation auf E mit der Archaik vermittelnden Oberquart A als Betonung der Schlusssilben der Satzeinheiten:498
E. Satie: Socrate, III. Mort de Socrate, T. 278–287
Diese Stellen verweisen mit der prominenten Rolle des Schweigens zum einen auf Gedanken Richard Wagners, offenbaren aber zum anderen diametrale Positionen bei der Einlösung im Musikalischen. Wagner wie Debussy sind der Überzeugung, Pélleas »; zitiert nach: Eckart-Bäcker 1965, S. 220. José Contamine de Latour bemerkt: « De Debussy, Satie reçut des conseils précieux et les encouragements qui pouvaient aller le plus directement à son cœur ; et Debussy lui-même y puisa les novatons qui devaient, appuyés sur sa science profonde, constituer sa seconde manière, celle de Pelléas et Mélisande »; in: Comoedia, 6. August 1925. Eine kritische Würdigung des Verhältnisses von Debussy und Satie bietet Robert Orledge: „Debussy and Satie“, in: Smith 1997, S. 154–178. 497 Vgl. Jankélévitch 1961, S. 61. 498 Das Klavier repetiert stereotyp das Quartintervall E-A sowie die Töne E und A in Oktaven. Die letzten Worte bzw. Sätze werden auf dieselbe Art eine Quint höher transponiert vorgetragen. Notenbeispiel nach: Erik Satie: Socrate. Drame Symphonique en 3 Parties avec Voix, Editions Max Eschig, Paris 1973.
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dass die Sprache der Ergänzung durch die Musik bedarf, dass erst durch sie das Unaussprechliche zum Ausdruck kommen kann. Hier gleichen sich die Formulierungen teilweise bis ins Detail499, und es liegt nahe, dass sich Debussy bei aller Kritik an Wagners Musik von dessen theoretischen Konzepten beeinflusst zeigt, zumal Wagners Aufsatz „Zukunftsmusik“ als erste seiner Schriften 1861 als « Lettre sur la musique » in Frankreich erschien.500 Wenn Wagner jedoch von der „Kunst des tönenden Schweigens“ im Tristan spricht501, so liegt für ihn die musikalische Umsetzung im Zurückweichen der Sprache zugunsten des Orchesters, das zum Träger des Unsagbaren im Zeichen der „unendlichen Melodie“ wird.502 Ganz im Gegensatz hierzu sieht Debussy, wenn er Ernest Chausson zu Beginn der Arbeit an Pelléas vom Schweigen als Ausdrucksmittel berichtet, dies in der Reduktion des Begleitapparates zugunsten der musikalisch eingekleideten Sprache im rezitativischen Vortrag verwirklicht.503 Deshalb verstummt die Sprache im Liebesduett des zweiten Aktes von Tristan zunehmend und überlässt das eigentlich zu Sagende dem Orchester, während beim Liebesgeständnis in Pelléas das Orchester vor der nackten Rezitation ver499 „In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um uns das Unaussprechliche selbst schweigend uns sagen zu lassen“; Richard Wagner: „Zukunftsmusik“, in: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen, dritte Auflage, Leipzig [1883], Bd. 7, S. 130. « Je ne suis pas tenté d’imiter ce que j’admire dans Wagner. Je conçois une forme dramatique autre : la musique y commence là où la parole est impuissante à exprimer; la musique est faite pour l’inexprimable »; Emmanuel 1926, S. 35. 500 Übersicht der französischen Übersetzungen von Wagners Schriften bei Manuela Schwartz: Wagner-Rezeption und französische Oper des Fin de siècle. Untersuchungen zu Vincent d’Indys Fervaal (= Berliner Musik Studien 18), Sinzig 1999, S. 48. Schwartz spricht ebda., S. 102, den Gedanken aus, dass der Anti-Wagnérisme Debussy als „Resultat einer umfassenden … kritischen Wagner-Rezpetion zu betrachten“ sei. 501 „Ich kehre nun zum ‚Tristan’ zurück, um an ihm die tiefe Kunst des tönenden Schweigens für mich zu Dir sprechen zu lassen“; Tagebucheintrag vom 12. 10. 1858, zitiert nach: Richard Wagner an Mathilde und Otto Wesendonk. Tagebuchblätter und Briefe, hg. von Julius Kapp, Leipzig [1915], S. 138. 502 „Der Musiker ist es nun, der dieses Verschwiegene zum hellen Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens ist die unendliche Melodie. Nothwendig wird der Symphoniker nicht ohne sein eigenthümlichstes Werkzeug diese Melodie gestalten können; dieses Werkzeug ist das Orchester“; Wagner: „Zukunftsmusik“, S. 130. Zum Verständnis des Terminus „unendliche Melodie“ im Sinne von unbegrenzter Ausdrucksfähigkeit s. Fritz Reckow: „Zu Wagners Begriff der „unendlichen Melodie“, in: Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1970 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 23), S. 81–110 und Manfred Hermann Schmid: Musik als Abbild. Studien zum Werk von Weber, Schumann und Wagner, Tutzing 1981 (Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, Bd. 33), S. 142f. 503 « Ça ressemblait au duo de M. Un tel, où n’importe qui, et surtout, le fantôme du vieux Klingsor alias R. Wagner, apparaissait au détour d’une mesure. J’ai donc tout déchiré et suis reparti à la recherche d’une petite chimie de phrases plus personnelles […] J’en ai rapporté quelque chose qui vous plaira peut-être ; […] je me suis servi, tout spontanément d’ailleurs, d’un moyen qui me paraît assez rare, c’est-à-dire du silence (ne riez pas !) comme d’agent d’expression ! et peut-être la seule façon de faire valoir l’émotion d’une phrase … »; Brief vom 2. Oktober 1893, zitiert nach Lesure: Esquisses de Pelléas, 1977, S. 11.
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stummt. Hier scheint bei aller Zeitentrücktheit und traumhafter Szenerie des Pelléas der Akzent, den das französische Musiktheater traditionellerweise auf das Wort als Träger der Handlung legt, durch.504 Den Fingerabdruck liturgischen Rezitierens in Debussys Deklamation reflektiert Marcel Proust, wenn er in À la recherche du temps perdu Verbindungen zwischen den Rufen der Straßenverkäufer und liturgischen Praktiken bzw. der Musik in Boris Godonow und Pelléas herstellt: Die Rufmelodien der Händler, die von der Straße aus zum Fenster hereindringen, erwecken in ihm wie von Ferne das Bild des mittelalterlichen Frankreich und erinnern mit ihren gleichbleibenden Rezitationstönen und ihrer entlang des Sprechduktus geformten Melodik, die eher dem Bereich der Sprache als dem der Musik anzugehören scheint, an den Deklamationsstil in Pelléas.505 Wie dort, bewirken die zu ritueller Formelhaftigkeit erstarrten Rufe der Straßenhändler, die, hierin den kurzen, wiederholten Sätzen, den „ruckartige[n] und keuchende[n] Satzrhythmen“506 von Maeterlincks Sprache ähnlich, aus kurzen, oft wiederholten Wortsequenzen mit ebenso rituell verfestigten Pausen bestehen, klangliche Assoziationen an liturgische Rezitation.507 Im Choral, und hier besonders in der liturgischen Rezitation und in der Psalmodie, in denen die musikalischen Sprachmittel des Chorals auf die tragenden Strukturen reduziert sind, findet Debussy jene emotionale Distanziertheit, die ihm für die Umsetzung des Unsagbaren in Maeterlincks Drama am geeignetsten 504 Vgl. hierzu Andreas Liess: Deutsche und französische Musik in der Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, München 1950, S. 75–78. 505 « [...] divers petits métiers, mais ambulants [...] faisaient penser par moments à la France ecclésiastique d’autrefois. Car l’appel qu’ils lançaient aux petites maisons voisines n’avait, à des rares exceptions près, rien d’une chanson. Il en différait autant que la déclamation – à peine colorée par des variations insensibles – de Boris Godunow et de Pelléas ; mais d’autre part rappelait la psalmodie d’un prêtre au cours d’offices dont ces scènes de la rue ne sont que la contre-partie bon enfant, foraine, et pourtant à demi liturgique. […] des récitatifs déclamés par ces gens du peuple comme ils le seraient dans la musique, si populaire, de Boris, où une intonation initiale est à peine altérée par l’inflexion d’une note qui se penche sur une autre, musique de la foule, qui est plutôt un langage qu’une musique. »; Marcel Proust: À la recherche du temps perdu, Tome VI: La Prisonnière (Sodome et Gomorrhe III), Paris 1924, S. 159/160. 506 Schmidt-Garre 1969, S. 86. 507 « Pourtant un arrêt rituel mettant un silence au milieu du mot, surtout quand il était répété deux fois, évoquait constamment le souvenir des vieilles églises. […] le marchand d’habits … psalmodiait : « Habits, marchand d’habits, ha… bits » avec la même pause entre les deux dernières syllabes d’habits que s’il eût entonné en plain-chant : « Per omnia saecula saeculo… rum » ou : « Requiescat in pa… ce » […] division grégorienne qui me rappela moins cependant la liturgie que ne fit l’appel du marchand de chiffons, reproduisant sans le savoir une de ces brusques interruptions de la sonorité, au milieu d’une prière, qui sont assez fréquentes dans le rituel de l’Église : « Praeceptis salutaribus moniti et divina institutione formati, audemus dicere », dit le prêtre en terminant vivement sure « dicere » »; Proust 1924, S. 161/162, 173/174. Jean-Rémy Julien: „L’influence des crieurs de Paris sur le recitatif debussyste: Une hypothése“, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 15/2 (1984), S. 141–157, teilt einige Rufmelodien der Pariser Straßenhändler aus dem 19. Jahrhundert mit. Die von Julien vertretene Hypothese, dass Debussy direkt von solchen Rufmelodien beeinflusst wurde, ist jedoch kaum verifizierbar.
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scheint. Der Choral ist zwar in Musik überführtes menschliches Beten, er setzt aber den Text dieser Gebete nicht in die Emphase musikalischen Ausdrucks um, wie ihn erst die Musik seit 1600 kennt. Die Anrufung Gottes erfordert Überindividualität; deshalb bildet der Choral nicht in erster Linie die Emotionen der Sprache ab, sondern registriert die Sprache gleichsam seismographisch.508 In diesem Sinne verwendet Debussy Techniken liturgischer Rezitation in seiner Sprachvertonung, so die fast ausschließliche Beschränkung auf Intervalle kleiner als die Quinte, unter Vermeidung beispielsweise der emotional aufgeladenen Sexte, oder die weitgehende Indifferenz der musikalischen Syntax, die sich zwar wie etwa bei der Psalmodie an den übergeordneten Sprachzäsuren orientiert, aber nicht den individuellen Sinngehalt der Sprache reflektiert.509 Die Musik erscheint in der Funktion eines architektonischen Gefüges, sie wird hierbei nicht zum subjektiven Abbild, sondern eher zur ornamentalen Trägerschicht und entspricht damit der „Passivität des Vegetativen“510 der Maeterlinckschen Protagonisten, die nicht als subjektiv Handelnde, sondern als Objekte einer Handlung gezeichnet werden.511 Es ist jenes Moment des Enthumanisierten, naturhaft Gegebenen im Gegensatz zum vom subjektiven Wollen nach Ausdruck Getriebenen, das Debussy mit dem Begriff der « divine arabesque » umschreibt, und das ihm in der Musik vom Choral über die alten Meister bis zu Bach vorzuherrschen scheint.512 Die « conception ornementale » dieser Musik bewahre sie mit der « sûreté d’un mécanisme » vor jeder vordergründigen « sensiblerie ».513 Und so bewundert Debussy an Paul Dukas, dass sich dessen Musik nicht den « développements parasites » ergibt, sondern mit ihrem nach innen gekehrten Ausdruck eine der Architektur vergleichbare, „konstruktive“ Schönheit entfaltet.514 Die eigentümliche Gestaltung der Singstimme im Sinne einer Prosodie bewirkt auch, dass gesungene Sprache und Orchesterbegleitung in Pelléas als deut-
508 Hierzu: August Gerstmeier: „Die Deutung der Psalmen im Spiegel der Musik. Vertonungen des "De profundis" (Ps. 130) von der frühchristlichen Psalmodie bis zu Arnold Schönberg“, in: Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium II. Interdisziplinäre Reflexion (Pietas Liturgica. Interdisziplinäre Beiträge zur Liturgiewissenschaft, hg. v. Hansjakob Becker), Hansjakob Becker, Reiner Kaczynski (Hgg.), St. Ottilien 1983, S. 91–130, bes. S. 92–101. 509 Jardillier 1927, S. 97, spricht vom « refus de sculpter les mots … ». 510 Albert Jakobik: Claude Debussy oder die lautlose Revolution in der Musik, Würzburg 1977, S. 77. 511 Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas 1880–1950, Frankfurt 1959, 198115, S. 60. 512 Zum Begriff der Arabeske bei Debussy vgl. Françoise Gervais: „La notion d’arabesque chez Debussy“, in: La Revue Musicale 241 (1958), S. 3–22, Ulrich Mahlert: „Die „göttliche Arabeske“. Zu Debussys „Syrinx“, in: AMw 43 (1986), S. 181–200 und Jean-Jacques Eigeldinger: „Debussy et l’idée d’arabesque musicale“, in: L’œuvre de Claude Debussy. Actes du colloque international – Mars 1989 (= Cahiers Debussy 12–13/1988–1989), François Lesure (Hg.), Paris 1990, S. 5–14, bes. S. 11. 513 Monsieur Croche, S. 34. 514 « On peut même dire que cette émotion est constructive par ce qu’elle évoque de beauté pareille aux lignes parfaites d’une architecture … »; ebda., S. 31.
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lich unterschiedene Schichten erscheinen. Das Orchester tritt relativ unabhängig zum Sprachvortrag hinzu, ohne sich jemals in den Vordergrund zu drängen. Die dichte Verwebung von « mouvement dramatique » und « mouvement symphonique » nach Wagnerschem Vorbild, die sich in der Dominanz des Orchesters äußert, ist Debussy ein Greuel.515 Er setzt, in der Terminologie Joseph Kermans, die Idee von „opera as sung play“ an die Stelle von Wagners Vorstellung von „opera as symphonic poem“516, was sich auch darin zeigt, dass Debussy in einer fast als ehrfürchtig zu bezeichnenden Haltung den Maeterlinkschen Text so gut wie nicht angetastet hat;517 er verfasst im Gegensatz zu Wagner seinen Text nicht selbst, was bereits eine bestimmte objektive Distanziertheit bewirkt. Wagners Singstimme ist nicht wie bei Debussy vom Orchester ablösbar, Orchester und Singstimme sind zum Klangleib verschmolzen, der das Subjekt verkörpert. Während Debussy sein Orchester in der Funktion des Chores im antiken Drama sieht518, der als außenstehende, neutrale Instanz die Handlung eigenständig kommentiert, dabei sich der Gefühlswelt der Protagonisten öffnen, sich ihr gegenüber aber auch gleichsam „kalt“ verhalten kann, prophezeit Wagner, dass sein Orchester gerade diese Rolle verlassen und zum untrennbaren Bestandteil der Handlung und konstituierenden Element des Ausdrucks werden wird.519 Das heißt nicht, dass Singstimme und Orchester nicht mehr unterscheidbar wären, aber, dass im entscheidenden Moment das Instrumentale, wie es vom Orchester verkörpert wird, die Begrenztheit des Vokalen sowohl im Ausdruck wie in der musikalischen Gliederung auffangen, ja überwinden kann, wie Manfred Hermann Schmid gezeigt hat.520 Debussy versteht die Orchesterbegleitung als musikalische Szenerie und er spricht in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise vom « décor orchestral »521, also von einem musikalischen Kulissenraum, in dem sich die Protagonisten bewegen und in den gleichsam hineingesprochen wird. Dieser tritt als ei515 516 517 518
Ebda., S. 266. Joseph Kerman: Opera as drama, New York 1956, S. 190. Ebda., S. 173. Zu den Textkürzungen vgl. Orledge 1982, S. 54/55. « L’orchestre est là comme une façon de chœur antique qui traduit au public les pensées des interprètes »; Schneider 1902, S. 199. 519 „Es [das Orchester] wird zu dem von mir gemeinten Drama in ein ähnliches Verhältniß treten, wie ungefähr es der tragische Chor der Griechen zur dramatischen Handlung einnahm. Dieser war stets gegenwärtig […] Nur war diese Theilnahme des Chores durchgehends mehr reflektierender Art, und er selbst blieb der Handlung wie ihren Motiven fremd. Das Orchester des modernen Symphonikers dagegen wird zu den Motiven der Handlung in einen so innigen Antheil treten, dass es, wie es einerseits als verkörperte Harmonie den bestimmten Ausdruck der Melodie einzig ermöglicht, […] so die Motive stets mit überzeugendster Eindringlichkeit dem Gefühle mittheilt.“; Wagner: Zukunftsmusik, S. 130. 520 Manfred Hermann Schmid: „Unendliche Melodie“. Zu den Schlüssen in Wagners Ring“, in: Der «Komponist» Richard Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft. Symposion Würzburg 2000, hg. von Ulrich Konrad und Egon Voss, Wiesbaden u.a. 2003, S. 49–64. 521 Monsieur Croche, S. 62. Auch Erik Satie sprach Debussy gegenüber, wie Cocteau überliefert, von der Aufgabe, einen « décor musical » zu schaffen; Cocteau 1924 (1920), S. 221. Bezeichnenderweise entstand die Orchestrierung von Pelléas beinahe im letzten Moment vor der Uraufführung; vgl. Orledge 1982, S. 60/61.
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genständige Größe, als Objekt dem Sänger gegenüber und besitzt eine Eigengesetzlichkeit, die sich nicht dem Willen des Subjekts fügt, ja sich ihm naturhaft entgegenstellen kann. Musikalisch zeigt sich dies in der verschiedenen Faktur von Gesang und Orchesterbegleitung. Schon der ständige Deklamationsgestus der Singstimme, mit ihrer ununterbrochenen Reihung von syllabischen Einzelwerten, die jede periodisch gegliederte, ariose Melodiebildung verhindert, lässt den Gesang stets als ein Gegenüber des Orchesters wahrnehmen, das diesen rezitativischen Duktus nie aufgreift. Durch diese eigentümliche Behandlung des Vokalparts, die oberflächlich betrachtet beinahe gleichförmig wirkt und erst bei näherer Analyse ihren Nuancenreichtum offenbart, wird der generelle Eindruck der Zeitenthobenheit unterstützt. Es fehlen gleichsam über weite Strecken die markanten Orientierungspunkt in einer flachen Landschaft, die zur Gliederung und Strukturierung und damit zum Zeitempfinden beitragen könnten. Nur an einigen ausgezeichneten Stellen, wenn die Singstimme – wie in der bereits dargestellten vierten Szene des vierten Aktes – sich dem Liedhaften annähert, wird diese Gleichförmigkeit durchbrochen und dort fügen sich Gesang und Orchester zusammen. Ansonsten zeichnet sich das Orchester über weite Strecken durch eine blockhafte Gliederung aus, die bereits durch das zweitaktige Anfangsthema vorgegeben wird und das gesamte Vorspiel durchzieht. Selbst wörtliche Wiederholungen von Takten – man vergleiche die Takte 12/13 sowie 14/15 der Einleitung – tauchen häufig auf. Dadurch ergibt sich eine eigentümliche Statik, die der Musik des 19. Jahrhunderts ansonst fremd ist. An die Stelle von zielgerichteter Fortentwicklung tritt statischer Blockbau. In diesen architektonisch vorgegebenen Rahmen hinein spricht die Singstimme, wobei ihre Zäsuren und die der Orchesterbegleitung nicht zusammenfallen. So bleibt das Orchester beim ersten Auftritt Golauds, den ersten gesungenen Worten der Oper überhaupt, unbeirrt bei seiner fest gefügten Gliederung aus Zweitaktgruppen, überwölbt mit den Halben in den Bläserstimmen die Deklamation mit einer Bogenarchitektur und wird so durch die zur Singstimme asynchronen Ankerpunkte als Anderes, als Kontrastfolie erfahrbar522:
522 Vgl. die ähnlichen Beobachtungen bei Kunze 1984, S. 343–345, zur „Briefszene“ des ersten Aktes.
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C. Debussy, Pelléas, 1. Akt, Takte 4–11 nach Ziffer 3
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Mit der gleichen Technik gestaltet Debussy den Moment in der letzten Szene des 1. Aktes, wenn Pelléas und Mélisande gedankenverloren auf das Meer hinaus schauen. Wieder sind es wiederholte Zweitaktgruppen in Bläsern und Streichern, die den statischen Raum bilden, in den die Sprechenden eingebettet sind. Die Takte nach « C’est un phare », mit dem komplementären Triolenmotiv in den Violinen, bleiben praktisch unverändert:
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C. Debussy, Pelléas, 1. Akt, Takte 4–9 nach Ziffer 42
Diese deutliche Zweischichtigkeit verschärft noch die Profilierung der Singstimme und ist ein deutlicher Indikator dafür, wie wichtig Debussy die Sprache als gesungenes Wort unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Französischen ist523, und in diesem Sinne mag Debussy als jener Erwecker gelten, den Wagner für die seiner Meinung nach toten romanischen Sprachen vorhersah.524 523 Vgl. Liess 1950, S. 92. 524 Richard Wagner: Oper und Drama. Dritter Teil, in: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Sechste Auflage, Band 4, Leipzig [1911], S. 109 und 211.
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Die relative Unabhängigkeit von Gesang und Orchester ist jedoch nicht mit Beziehungslosigkeit gleichzusetzen. Beginnend mit Maurice Emmanuels Studie von 1926 ist in zahlreichen Untersuchungen das motivische Geflecht, das Debussys Oper durchzieht, aufgedeckt worden. Der entscheidende Punkt, der wiederum auf den Unterschied zu Wagner verweist, ist aber, dass diese Motive nicht im Sinne plakativer „Leitmotive“ fungieren, sondern als « rapports sonores »525 die « sentiments de l’âme »526 der Personen im Orchester reflektieren, also die Geheimnisse der Seele ausleuchten, dabei immer im Reich des Verborgenen, der Andeutung verbleibend.527 Auch hier tritt die kulissenartige Natur des Orchesterparts wieder zutage: Die Seelenzustände der Akteure pflanzen sich wie ein Echo im Raum fort, erscheinen wie Reflexe auf einer Seeoberfläche gespiegelt, um sich sofort wieder zu verlieren oder zu zerfließen. So bleibt das Orchester den Protagonisten gegenüber zwar nicht teilnahmslos, wird aber auch nicht selbst zum Träger leidenschaftlicher Emphase wie bei Wagner. Es handelt sich um den Unterschied zwischen « musique compassionnelle » und « musique passionnelle ».528 Die schattenhafte Amorphität529 der motivischen Gestaltung ist auch der Grund dafür, dass Marcel Proust, wie er in einem Brief an Reynaldo Hahn bekennt, bei einer Aufführung von Pelléas, der er via théâtrophone folgte, die Pausengeräusche für besonders eindrückliche Stellen der Oper halten konnte.530 Von den Einflüssen, die auf Debussys Deklamationstechnik einwirken, ist sicher der Gregorianische Choral und seine Vermittlung durch Solesmes als einer der stärksten zu nennen.531 Daneben ist aber auch die französische Operntradition 525 Knut Stirnemann: „Zur Frage des Leitmotivs in Debussys „Pelléas et Mélisande“, in: Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft 4 (1980), S. 160, schlägt diesen Terminus anstelle von „Leitmotiv“ für Debussys Oper vor. 526 « J’aimerai toujours mieux une chose où, en quelque sorte, l’action sera sacrifiée à l’expression longuement poursuivie des sentiments de l’âme »; Brief Debussys an Mme Vasnier, zitiert nach Jardillier 1927, S. 64/65. 527 Stirnemann 1980, S. 170. 528 Theo Hirsbrunner: Debussy und seine Zeit, Laaber 1981, S. 191. 529 « Les thèmes de Pelléas circulent dans la partition comme des ombres, surgissent sans qu’on sache d’où et disparaissent avant qu’on s’en soit aperçu »; Henry Barraud: Les cinq grands opéras, Paris 1972, S. 199. 530 « ... à un moment je trouvais la rumeur agréable mais pourtant un peu amorphe quand je me suis aperçu que c’était l’entr’acte ! »; Brief Nr. 119 vom 21. 02. 1911 an Reynaldo Hahn, in: Marcel Proust: Correspondance, Philip Kolb (Hg.), Bd. X (1910–1911), Paris 1983, S. 250. Vgl. den Hinweis bei Thomas Kabisch: „Gestaltungsprinzipien der französischen Musik zwischen Franck und Messiaen“, in: Französische Klaviermusik, hg. v. EPTA (= Beiträge des Kongresses in Karlsruhe 1998 und des Seminars in Remscheid 1999, EPTA-Dokumentation 1998/99), Düsseldorf 2000, S. 19. Denselben Sachverhalt bringt Léon Kerst 1909, in seiner Kritik zum Ausdruck: « … j’ai entendu des sons harmonisés (je ne dis pas harmonieux) se succédant de façon ininterrompue, sans une seule phrase, sans un seul motif, sans un seul accent, sans une seule forme, sans un seul contour ; ». 531 Domenico de Paoli versucht in seinem Aufsatz „Orfeo and Pelléas“, in: ML XX (1939), S. 381–398, Monterverdi als Vorbild für Debussy darzustellen. Abgesehen davon, dass es keine Hinweise auf eine besondere Monteverdi-Rezeption bei Debussy gibt, sind die Unterschiede zwischen dem rhythmisch profilierten italienischen Vers und Maeterlincks
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als wichtiges Moment auszumachen. Neben dem Choral stellt die Rückbesinnung auf die französische Barockoper einen zweiten Schwerpunkt bei der Wiederbelebung älterer Musik in Frankreich dar. Bereits Bordes und die Schola Cantorum bemühten sich um Aufführungen der Werke Rameaus. Und auch Debussy nennt Rameau als besonderes Vorbild für seine Arbeit.532 Was Debussy in Pelléas an Neuem erreichen wollte, sieht er in Rameaus Opern in exemplarischer Weise vorgebildet.533 Dies betrifft vor allem « une pure tradition française … faite de tendresse délicate et charmante, d’accents justes, de déclamation rigoureuse dans le récit, sans cette affectation à la profondeur allemande … »534 Die Sprachbehandlung Rameaus scheint Debussy ideal, da sie den Nuancierungen und der Akzentstruktur der französischen Sprache gerecht werde, nicht aufdringlich wirke und alles Überflüssige vermeide.535 Sie verwirkliche damit die französischen Ideale der Klarheit und Einfachheit, die bereits mit Gluck unter deutschem Einfluss zu verwässern begannen.536 Was Debussy als vorbildhafte Eigenschaft der französischen Barockoper hervorhebt, wird bereits von den Theoretikern des 18. Jahrhunderts als Eigenart des französischen Opernstils in Abgrenzung zum italienischen durchaus kontrovers
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Sprache gravierend. Die Vergleichbarkeit ist eher in der beiden musikalischen Stilen gemeinsamen Beeinflussung durch liturgische Rezitation zu sehen; vgl. hierzu Theodor Göllner: „Falsobordone-Anklänge in Prologen und Auftritten der frühen Oper“, in: Kongressbericht Bonn 1970, Kassel etc. o. J., S. 179–182. Zum Einfluss der Schola und des Chorals auf französische Komponisten vgl. die Beobachtungen von Robert F. Waters an den Kompositionen von Déodat de Séverac, der zehn Jahre an der Schola Cantorum in Paris u.a. bei Bordes, Guilmant und d’Indy studierte und Kurse bei Pothier besuchte. Waters zeigt auf, welche vor allem modalen Einflüsse zunächst in den frühen Orgel- und sakralen Chorwerken Séveracs zu finden sind, weist dann aber etwa auch in den Liedern Renouveau (1898, Bordes gewidmet, nach einem Text von Charles d’Orléans, später ebenfalls von Debussy und SaintSaëns vertont) und Paysages tristes (1898, d’Indy gewidmet, nach einem Text von Paul Verlaine, später ebenfalls von Stravinsky und Varèse vertont) auf modale Gestaltung der Melodik, parallele Quinten in der Klavierbegleitung, fehlende Taktstriche und syllabischrezitativische Textdeklamation hin, die den Einfluss von Séveracs Choralerfahrung verraten; s. Robert F. Waters: Déodat de Séverac. Musical identity in Fin de siècle France, Aldershot 2008, S. 22, 83, 85, 87, 100-102. Ursula Eckart-Bäcker: „Claude Debussys Verhältnis zu Musikern der Vergangenheit“, in: Mf 30 (1977), S. 56–58. Diesem Einfluss der Musik seit dem 16. Jahrhundert auf die französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts widmet vorrangig Katharine Ellis ihre Studie Interpreting the musical past. Early music in nineteenth-century France, Oxford 2005, während die Musik des Mittelalters von ihr nur am Rande erwähnt wird. « L’air-monologue de Pollux : … si personnel d’accent, si nouveau de construction, que l’espace et le temps sont supprimés, et Rameau semble un contemporain auquel nous pourrons dire notre admiration à la sortie. »; Monsieur Croche, S. 90. Ebda., S. 89. « Et cette subtilité si souple à nombrer les syllabes de notre douce langue, qu’est-elle devenue ? Nous la retrouverons dans cet Hippolyte et Aricie … »; ebda., S. 199. « Entre nous, vous prosodiez fort mal ; du moins, vous faites de la langue française une langue d’accentuation quand elle est au contraire une langue nuancée. (Je sais … vous êtes allemand.) Rameau, qui aida à former votre génie, contenait des exemples de déclamation fine et vigoureuse qui auraient dû mieux vous servir … »; ebda., S. 99.
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diskutiert. Marpurg betont in seiner Analyse von Rameaus Zoroastre die häufigen Taktwechsel im Rezitativ und die Ähnlichkeit zwischen Rezitativ und Arie in der französischen Oper im Allgemeinen.537 Ganz ähnlich tadelt Carl Heinrich Graun in seinem Disput mit Telemann die auffällige Häufung von Taktwechseln im Rezitativ von Rameaus Castor et Pollux.538 Diese dienen dazu, den sprachlichen Rhythmus der französischen Sprache möglichst detailgetreu wiederzugeben, wie Mattheson in seinem Vollkommenen Capellmeister ausführt.539 Bereits im 18. Jahrhundert treten also die eigentümlichen Charakteristika der Sprachbehandlung in der französischen Oper auf, die Debussy für seine Neuerungen in Anspruch nimmt: Zum einen ein individueller, flexibler Deklamationsstil, der die wechselnden Akzentmuster der französischen Sprache mit ihren charakteristischen Endbetonungen abbildet. Zum anderen eine Nivellierung der in der italienischen Oper so deutlich ausgeprägten Unterschiede zwischen Rezitativ und Arie, die in ein mehr oder minder permanentes Rezitieren mündet. Der französischen Oper sind die exaltierten Ausbrüche italienischer Arien wesensfremd. Noch in den französischen Versionen der Opern Glucks zeigt sich das Nachwirken dieser Traditionen: Gegenüber ihren italienischen Schwesterversionen verbleiben die französischen Fassungen auch in den erregtesten Szenen in einer eigentümlichen noblen Verhaltenheit, die nie die Bindung an die Sprache verlässt, was sich in den engeren Intervallen und der Vermeidung des stereotypen Kadenzfalls am Rezitativende zeigt.540 Diese Eigenarten der französischen Oper sind so sehr mit der französischen Sprache verbunden, dass sie Musikern, die aus einer anderen Sprachkultur kommen, nur schwer verständlich sind. Bereits Graun bezeugt dieses Unverständnis und Debussy sieht die in seinen Augen unglücklichen Veränderungen Glucks in dessen Unkenntnis der französischen Sprache begründet. Noch bei Richard Strauss scheint dieser tiefe Graben zwischen französischer und deutscher Sprache auf, wenn er bei der Erstellung der französischen Fassung seiner Salome die mangelnde Regelhaftigkeit der Betonungsmuster im Französischen beklagt. Romain Rolland gegenüber, der ihm Debussys Pelléas als Vorbild empfohlen hatte, äußert er den schwer verständlichen Unterschied gegenüber der Sprachbehandlung Wagners, die ihm allein als natürlich und logisch erscheint.541 Auch die rhythmischen 537 Vgl. Friedrich-Heinrich Neumann: Die Theorie des Rezitativs im 17. und 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Musikschrifttums des 18. Jahrhunderts, Masch. Diss. Göttingen 1955, S. 284/285. 538 „Ich sehe nicht, was dabey verlohren würde, wenn der egale Tact durchaus behalten würde ...“; zitiert nach: Georg Philipp Telemann: Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann, Hans Grosse und Hans Rudolf Jung (Hgg.), Leipzig 1972, S. 276. 539 Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739 (Faksimile-Nachdruck, Margarete Reimann (Hg.), Kassel 1954), S. 213/214. 540 Paul Brück: „Glucks Orpheus und Eurydike“, in: AMw VII (1925), S. 436–476; Hellmuth Christian Wolff: „Die Sprachmelodie im alten Opernrezitativ“, in: Händel-Jahrbuch 1963, S. 93–134. 541 „Ich frage noch einmal: warum singt der Franzose anders als er spricht? ... Bei uns hat Wagner das Gefühl für den Sinn der Sprache wieder neu erweckt“; zitiert nach: André Espiau
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Feinheiten Debussys und das Stilmittel der Reduktion auf Einzeltonrezitation bleiben für Strauss vom Wagnerschen Opernbegriff her urteilend kaum fassbar.542 Mit seiner in Pelléas verwirklichten Deklamationstechnik taucht Debussy ein in den über die Jahrhunderte fortdauernden Strom spezifisch französischer Merkmale des Musiktheaters. Rousseau beschreibt in seiner Charakterisierung des idealen französischen Rezitativs exakt die Merkmale, die Debussy in seiner Oper verwirklicht hat.543 Ob Debussy Rousseau bewusst rezipiert hat, bleibt hierbei unerheblich.544 Die Tatsache, dass er die – nach Meinung einiger Autoren seit dem Mittelalter nachzuverfolgenden545 – als typisch französisch geltenden Eigenschaften der Einfachheit, Klarheit und Natürlichkeit in der Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Pelléas exemplarisch zu neuem Leben erweckt hat, macht ihn zum wirklichen « Claude de France ».546
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de la Maëstre: „Debussys Deklamationstechnik in „Pelléas et Mélisande“ im Lichte des Briefwechsels von Richard Strauss und Romain Rolland“, in: ÖMZ 17 (1962), S. 3. „Halten Sie diesen monotonen ewigen Triolenrhythmus und stets auf ders e lb en No te bei Debussy für schön oder poetisch? Für mein deutsches Gemüt ist dies einfach eine Mißhandlung der Sprache durch den Musiker“; ebda., S. 7. « Il doit rouler entre de fort petits intervalles, n’élever ni n’abaisser beaucoup la voix; peu de sons soutenus, jamais d’éclats; encore moins des cris; rien surtout qui ressemble au chant; peu d’inégalité dans la durée ou valeur des notes, ainsi que dans leurs degrés »; Jean-Jacques Rousseau: „Lettre sur la musique française“, in: Œuvres complètes 11, Paris 1824, S. 191/192. Zusammenfassung der Diskussion hierüber bei Dieter Winzer: Claude Debussy und die französische musikalische Tradition (= Neue Musikgeschichtliche Forschungen, Lothar Hoffmann-Erbrecht (Hg.), Bd. 11), Wiesbaden 1981, S. 121ff. Alfred Bruneau ist der Meinung, Adam de la Halle habe „die französische Musik geschaffen, die aus der Erde unseres Vaterlandes sprossend, sich wie ein riesiger, herrlicher Baum erhoben hat ...“; Alfred Bruneau: „Geschichte der französischen Musik“, übertragen von Max Graf, in: Richard Strauss (Hg.): Die Musik, Berlin o. J., S. 3. Henri Hell zieht zur Beantwortung seiner Frage « Qu’y a-t-il de commun entre Guillaume de Machaut, Couperin, Rameau, Berlioz, Fauré, Debussy, Ravel, Poulenc, Milhaud et Messiaen ? » Paul Valérys Charakterisierung der französischen Litteratur heran: « Notre goût de la simplification et de la clarté immédiate, notre crainte de l’exagération et du ridicule, une sorte de pudeur dans l’expression »; Henri Hell: „L’esprit de la musique française“, in: La Revue Musicale 212 (April 1952), S. 10/11. Mehrfach bezeichnet ihn so in hymnischer Verehrung Gabriele d’Annunzio; vgl. Gabriele d’Annunzio: Cento et cento e cento e cento pagine del Libro Segreto di Gabriele d’Annunzio tentato di morire, Pietro Gibellini (Hg.), Mailand 1995, S. 249 und Guy Tosi: Debussy et d’Annunzio. Correspondance inédite, Paris 1948, S. 40, 42. Auch zahlreiche spätere Schriften bezeichnen Debussy als « musicien français »; vgl. z. B. Victor I. Seroff: Claude Debussy – Debussy, musician of France. Traduit de l’Anglais par Roger Giroux, Paris 1957. Jardillier 1927, S. 126, spricht Pelléas « un caractère par-dessus tout français » zu.
5. ERIK SATIE: « MUSICIEN MÉDIÉVAL» Die Meinungen und Urteile über das kompositorische Schaffen Erik Saties sind nach wie vor von einer großen Kontroverse geprägt. Einerseits wird er als genialer Vorläufer und Wegbereiter der kompositorischen Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts wie Minimal-Music und Aleatorik reklamiert, andererseits ist er dem Vorwurf mangelnden handwerklichen Könnens ausgesetzt.546 Bereits die zeitgenössische Satie-Kritik teilte sich in vorbehaltlose Bewunderung einerseits547 und ablehnende bis abwertende Urteile andererseits.548 Die negative Seite dieses ambivalenten Bildes beherrscht auch heute noch weitgehend die Literatur über Satie: Der komponierende Dilettant, der nicht ganz ernst zu nehmende Possenreißer, der Spassmacher und Satiriker.549 Besonders die Werke der frühen Schaffensperiode Saties (1886-1895) haben die Häme der Kritiker auf den Plan gerufen: Diese Kompositionen seien das Ergebnis eines bestenfalls mittelmäßigen Amateurs, der seine beschränkten Möglichkeiten auf dem Gebiet der Harmonik, seine mangelnde Beherrschung von Formabläufen sowie seine Einfallslosigkeit zu Tugenden einer neuen Musiksprache stilisiere. Satie wurde zum « Cas Satie ».550 Demgegenüber machten einzelne Spezialuntersuchungen geltend, dass eben diese Werke als Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung Saties mit den zeitgenössischen historistischen Strömungen im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu interpretieren sind.551 Die schwärmerische Hinwendung zu Antike, Mystik und vor allem zum Mittelalter bildete eine mächtige Kraft, die Satie 546 Vgl. meine Vorstudie „Der französische Komponist Erik Satie (1866–1925) und sein Mittelalter“, in: KmJb 1999 (83), S. 145–166. 547 Vgl. z. B. Charles Kœchlin: „Erik Satie“, in: La Revue Musicale 38 (1. März 1924), S. 193– 207. 548 Boris de Schlœzer: „Le cas Satie“, in: La Revue Musicale 43 (1. August 1924), S. 173–176. 549 Vgl. z. B. Theo Hirsbrunner: Die Musik in Frankreich im 20. Jahrhundert, Laaber 1995, S. 17–18. 550 Boris de Schlœzer wirft in seinem Beitrag Satie vor, er sei musikalisch eher unbedeutend und nur von seinen Anhängern zur Kultfigur hochstilisiert worden. Mit am schärfsten urteilt Jean Barraqué in seiner Debussy-Biographie über Satie: « Au moment où Satie rencontre Debussy, ce dernier vient de terminer sa période d’incubation … et n’a plus guère d’influences à recevoir, surtout celle d’un analphabète musical aussi accompli que Satie. … Peut-être aussi les « trouvailles » de Satie, nées au hasard d’improvisations pianotées, amusaient-elles l’esprit toujours un peu frondeur de Debussy »; Jean Barraqué: Debussy, Paris 1962, S. 77. Einen Gegenpol hierzu stellt der 1952 herausgekommene Sonderband der Revue Musicale dar, in dem Freunde und Weggefährten Saties sein Schaffen würdigen. 551 Grete Wehmeyer: Erik Satie, Regensburg 1974 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jh., Bd. 36), András Wilheim: „Erik Satie’s Gregorian Paraphrases“, in: Studia Musicologica Scientiarum Hungaricae 25 (1983), S. 229–237.
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auf seiner Suche nach neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten und Formen aufgriff. Dass Satie, der eine Alternative zu Wagner schaffen wollte, die fast identischen Kritik wie den Bayreuther Meister in manchen Punkten selbst traf, stellt eine Ironie der Geschichte dar. Im Folgenden soll versucht werden, Saties Schaffen in die vielfältigen Strömungen einzuordnen, die in Frankreich während des 19. Jahrhunderts auf eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, vor allem auf eine Rückbesinnung auf das mittelalterliche nationale Erbe zielten: Zu nennen sind hier die allgemeine verklärende Sehnsucht nach dem Mittelalter unter romantischen Vorzeichen, in Frankreich besonders durch Victor Hugos Notre Dame de Paris552 initiiert und akzentuiert, die Auseinandersetzung mit der gotischen Architektur, die hiervon beeinflussten Restaurationsbestrebungen auf dem Gebiet des Gregorianischen Chorals durch Solesmes und die „musikarchäologische“ Forschung, die hiermit einsetzende vehemente Debatte um die richtige Form der Choralbegleitung, die Vermittlung des Mittelalter-Bildes durch Ausbildungs-Institute und die Suche nach einer nationalen französischen Musik, als Gegenpol zum Wagner-Kult, mit Hinwendung zur Volksmusik und in Verbindung mit der durch Cocteau und Apollinaire propagierten Einfachheit und Nüchternheit als Kennzeichen eines « esprit nouveau ». In den Ogives von 1886, die Saties Kompositionen mit mittelalterlichmystischem Hintergrund eröffnen und in plakativem Gegensatz zum gerade abgebrochenen Studium am Conservatoire stehen, sind die stilistischen Merkmale dieser Werkreihe bereits voll ausgeprägt. Zunächst sind die Anklänge an liturgische Gesangspraktiken unverkennbar: Jeder dieser „musikalischen Spitzbogen“ beginnt mit der Vorstellung einer choralartigen Melodie im Oktavabstand, der sich eine akkordisch gefüllte Version im ff und eine schlichtere dreistimmige Fassung im pp anschließen; den Schluss bildet eine Wiederholung der ff-Version:
552 Victor Hugo: Notre Dame de Paris, Paris 1831.
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5. « Erik Satie »
E. Satie: Ogive I, II, IV [jeweils Beginn]
Bereits dieser Aufbau mit seinem Wechsel zwischen einstimmigem bzw. akkordisch leichtem Satz und blockhafter Akkordik evoziert zusammen mit den dynamischen Unterschieden die Sphäre liturgischen Gesangsvortrags mit Alternieren von Vorsänger oder Vorsängergruppe und Antwort des Chores sowie die hieraus resultierende räumlich-akustische Wirkung. Dies wird verstärkt durch die Oktavparallelen, die seit dem 17. Jahrhundert traditionell als Kennzeichen von Choral gelten.553 Hinzu kommt, dass die Melodik zwar keine direkten Choralzitate aufweist, aber deutlich aus dem Formelrepertoire des Chorals schöpft: Die in Ogive I und II stereotyp wiederkehrende Tonrepetition aus der Unter- oder Obersekunde (g-a-a, e-d-d, d-e-e) etwa greift das typische psalmodische Modell für den Vortrag von Proparoxytona oder Paroxytona mit melismatisch gefasster erster Silbe auf.554 Auch der für die Melodik des Chorals konstitutive Quart-Rahmen bildet eine Mo-
553 Manfred Hermann Schmid: „Surrexit Christus hodie“. Die Sonate XI aus den MysterienSonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber“, in: Altes im Neuen. Festschrift Theodor Göllner zum 65. Geburtstag, Bernd Edelmann und Manfred Hermann Schmid (Hgg.) (= Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, Theodor Göllner (Hg.), Bd. 51), Tutzing 1995, S. 198–200. 554 Im dritten Prélude zu Le fils des étoiles von 1891 und im letzten Satz der Messe des Pauvres von 1895 zitiert Satie die rhythmische Gestalt psalmodischer Rezitation auf einem einzigen Ton bzw. Akkord.
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tiv-Zelle dieser Stücke: Ogive I zeigt dieses markante Intervall mit seiner typischen Gliederung in Terz und Sekund als Schlussformel der Melodie (a-c’-c’-d’). Beide weisen auch das Quartmotiv in der Physiognomie des achten Psalmtones auf (fis-g-e-d-d bzw. gis-a-fis-e), des weiteren Ogive II und IV typische Formeln des ersten bzw. zweiten Tones (h-d’-cis’-h-a-h, d’-a-c’-d’-e’-d’). Ganz bewusst vermeidet die Melodik Dreiklangsbildungen, um Anklängen an das Durmoll-tonale System zu entgehen. Die Melodien der Ogives erweisen sich somit nicht als Kopien von Choralausschnitten, sondern als Neuschöpfungen aus dem Geist der Gregorianik.555 Satie verwendet das Formelrepertoire des Chorals und fügt es baukastenartig zu neuen Kombinationen, die eine choralartige Atmosphäre hervorrufen sollen.556 Satie selbst sagt über die Melodien der Oviges, sie seien in einer speziellen „mystischliturgischen Manier“ ersonnen.557 Grete Wehmeyer hat in diesem Zusammenhang von „Neogregorianik“ gesprochen.558 Inwieweit Satie mit den Versuchen aus Solesmes vertraut war, nach und neben der Rekonstruktion der authentischen Melodiefassungen des Chorals auch Neuschöpfungen im gregorianischen Stil zu verfassen, ist kaum zu klären. Ein Besuch in Solesmes, wie er beispielsweise für Charles Bordes und Vincent d’Indy belegt ist559, kann für Satie nur vermutet werden.560 Aber auch ohne direkten Kontakt mit Solesmes waren die Bestrebungen der Choralrestitution im 19. Jahrhundert in Frankreich permanent spürbar und wirksam. Dies nicht nur durch die Publikationen der Benediktiner von Solesmes, sondern auch in den Aufführungen der Chanteurs de St. Gervais sowie bei den Konzerten der Schola Cantorum. Saties frühe Werke sind mitten in einer Zeit entstanden, in der die Beschäftigung mit Choral, die Bemühungen um seine melodische Restitution, seine Wiederaufführung nach neuen Erkenntnissen und das Interesse vieler Komponisten an dieser neu in den Blickpunkt rückenden Musik einen Höhepunkt erreichen. Dass Satie keine Neogregorianik im Sinne Solesmes verfassen wollte, sondern dass es ihm um ein allgemein mittelalterlich-mystisches Ambiente ging, macht bereits der Titel Ogives deutlich: Der gotische Spitzbogen steht für die französische Kathedrale und diese für das Mittelalter generell. Das Interesse und die Begeisterung für die gotischen Kathedralen Frankreichs und insbesondere für 555 Von diesem „Abdruck“ der Gregorianischen Melodik im Werk Saties spricht auch Nadia Boulangier: „La musique religieuse“, in: La Revue musicale 22 (Octobre 1922, numéro spécial consacré à Gabriel Fauré), S. 105: « Quand on relit quelques admirables monodies grégoriennes, quelques curieux exemples de diaphonie et de déchant, dont on retrouve des traces parfois très sensibles chez Erik Saties … ». 556 Im fünften Satz der Messe des Pauvres bezeichnet Satie eine solche choralartige Melodie direkt mit Chant Ecclésiastique. 557 Erik Satie: Schriften, Ornella Volta (Hg.), Hofheim 1988, S. 17. 558 Wehmeyer 1974, S. 25. 559 Julia d’Almendra: Les modes grégoriens dans l’œuvre de Claude Debussy, Diss. Paris 1947/1948, S. 25/26. 560 Clément Jacob: „Erik Satie et le chant“, in: Erik Satie. Son temps et ses amis, Rollo Myers (Hg.) (= La Revue Musicale 1952), S. 88, tut dies ohne Nachweis.
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Notre Dame de Paris als monumentale Relikte und Symbole eines nationalen Erbes, war spätestens seit Victor Hugos Roman auf der eher schwärmerischen Seite und mit den Arbeiten von Viollet-le-Duc auf der wissenschaftlich-analysierenden Seite geweckt. Der Hinweis von Saties Bruder Conrad, die Ogives seien nach ausgiebiger Betrachtung des Spitzbogengewölbes von Notre-Dame entstanden561, geht mit der zurecht bisher in der Literatur angenommenen Vermutung zusammen, Satie habe sich mit Viollet-le-Ducs Schriften beschäftigt.562 Letzterer hatte 1843 mit der Restaurierung der Pariser Kathedrale begonnen und in zahlreichen Publikationen seine Erkenntnisse über den gotischen Stil verbreitet. Das zentrale Thema seines zwischen 1854 und 1869 entstandenen Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVI siècle ist die Entwicklung der Gotik in Frankreich unter dem Signum des Spitzbogens.563 Violletle-Ducs mit Nachdruck vertretenes Credo, dass es ihm nicht um eine Kopie gotischer Architektur zu tun sei, sondern darum, die Bauprinzipien der Gotik freizulegen, um mit diesem Formenrepertoire neue Möglichkeiten für die Gegenwart zu eröffnen564, lässt sich ohne weiteres auf Saties Schaffen übertragen. Er, der sich zeitlebens als Erforscher neuer musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten begriff, suchte ebenfalls nicht die Kopie sondern die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Grundlage und Inspiration für das eigene Schaffen. Dass Satie wirklich die Werke Viollet-le-Ducs bis ins Detail studierte und wie groß dessen Einfluss auf ihn war, zeigt die bisher nicht registrierte Beobachtung, dass sich zwei Zeichnungen aus dem Dictionnaire als fast exakte Kopien in Saties kalligraphischem Nachlass befinden.565 Auch Saties Zeichnungen kleiner Orgeln und Portative sowie seine bizarren Grundrisse erfundener gotischer Kathedralen und Klöster erinnern stark an entsprechende Abbildungen in Viollet-le-Ducs Lexikon.566 Wie für Viollet-le-Duc, der selbst eine Parallele zwischen Architektur und Musik zog567, so bildete auch für Satie die Versenkung in das Mittelalter einen
561 Schriften, S. 441. 562 Pierre-Daniel Templier: Erik Satie, Paris 1932, englisch Cambridge/London 1969, S. 10. 563 Viollet-le-Duc: L’architecture raisonnée. Extraits du Dictionnaire de l’architecture française, Hubert Damisch (Hg.), Paris 1978, S. 14. 564 « Ce n‘est pas un plaidoyer en faveur de la construction gothique que nous faisons, c’est un simple exposé des principes et de leurs conséquences. Si nous sommes bien compris, il n’est pas un architecte sensé qui, après nous avoir lu avec quelque attention, ne reconnaisse l’inutilité, pour ne pas dire plus, des imitations de l’art gothique, mais qui ne comprenne en même temps le parti que l’on peut tirer de l’étude sérieuse de cet art, les innombrables ressources que présente cette étude, si intimement liée à notre génie »; zitiert nach Damisch 1978, S. 136. 565 Vgl. Encyclopédie médiévale d’après Viollet le Duc, 2 Bde., o. J., Tome II: Architecture & Mobilier, S. 225, Abb. 44 und S. 475, Abb. 13 mit Schriften, Abb. 104 und 105. 566 Vgl. Schriften, Abb. 39, 109, 110 mit Encyclopédie médiévale I, S. 95, Abb. 27, S. 178, Abb. 1, S. 179, Abb. 2 und II, S. 713, Abb. 2/3. 567 « Pour l’architecte, comme pour le musicien, le phénomène psychologique est différent. Ces artistes ne reçoivent pas directement d’une scène, d’un objet ou de la nature, une sensation
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Ankerpunkt, von dem aus die schöpferische Phantasie tätig werden konnte.568 Der gotische Spitzbogen – dies macht auch die Gestaltung des „O“ in Form eines Spitzbogens in Saties Kalligraphie des Titels der Ogives deutlich569 – ist hierbei als Chiffre für eine nationale mittelalterliche Kunst zu verstehen, die durch geheimnisvolle Mystik einerseits, durch rationales Formstreben andererseits gekennzeichnet ist. In diesem Kontext ist auch die akkordische Einkleidung der Ogives zu sehen. Die Restaurationsbestrebungen lösten auf musikalischer Seite in Frankreich nicht nur eine intensive Suche nach den ursprünglichen Melodiefassungen des Chorals aus, sondern setzten auch eine mit Vehemenz geführte Diskussion über die Choralbegleitung in Gang. Ein gutes Bild über den Widerstreit der Meinungen bietet der 1854 erschienene Dictionnaire ... de plain chant von Joseph d’Ortigue.570 Unter dem Artikel Accompagnement finden sich Beiträge verschiedener prominenter Autoren wie Danjou oder Nisard, die von völliger Ablehnung jeder Begleitung bis zu einem Begleitungsstil reichen, der sich von der weitverbreiteten Einbindung des Chorals in die funktionale Harmonik absetzt. Letzterer ist vor allem durch die Vermeidung leittöniger Kadenzen und chromatischer Wendungen und eine blockhafte, homorhythmische Akkordik, die jeder Choralnote ihren eigenen vierstimmigen Akkord zuordnet, gekennzeichnet. Diese neugewonnene, als „modal“ proklamierte Begleitung, wird im Laufe der Auseinandersetzung zunehmend als die dem religiösen Bereich einzig adäquate Form gegenüber einer als weltlich und lasziv verurteilten funktionalen Harmonisierung stilisiert. Die Argumentationslinie bezieht sich hier wiederum auf das Mittelalter: Hier existiere ja in den Formen von Organum, Klangschrittlehre und Kontrapunkt bereits eine Choralbegleitung, die sich über Jahrhunderte bewährt hätte und jetzt nur wiederzubeleben sei.571 Diese scharfe Zurückweisung der Choralharmonisierung mit den Stilmitteln der romantischen Musiksprache wird in Frankreich bereits sehr früh artikuliert, ebenso wie der Hinweis auf die Eigenständigkeit der modalen Tonsprache sowie die Überzeugung, dass hiervon eine Bereicherung der kompositorischen Mittel zu erwarten wäre. So schreibt schon Rousseau in seinem Dictionnaire von 1768, dass die Schönheit und Eigenart des Chorals durch eine Kontaminierung mit tonaler
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propre à se transformer en œuvre d’art. C’est de leur cerveau que doit sortir cette œuvre ... »; Damisch 1978, S. 189. « Le plus pauvre monument du moyen âge fait rêver ... »; Damisch 1978, S. 220. José Patricio Contamine de Latour berichtet über Satie: « Bien qu’élevé dans la religion protestante, il adorait le moyen âge et sa ferveur, les tableaux des primitifs, les vieilles églises gothiques et leurs pierres tombales, la vie des saints et les légendes chrétiennes; » ; in: Comœdia, 5. August 1925. Abbildung in Schriften, S. 16. Joseph d’Ortigue: Dictionnaire liturgique, historique et théorique de plain-chant et de musique de l’église au Moyen-Age et dans les temps modernes, Paris 1854. Ebda., Sp. 22–92.
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Musik unwiderruflich zugrunde gehe und dem nur durch Respekt vor seiner Eigenständigkeit zu begegnen sei.572 Der Rückgriff Saties, Debussys und einer ganzen Generation französischer Komponisten am Ende des 19. Jahrhunderts auf Choral und Elemente der Modalität ist also eingebettet in einen das ganze Jahrhundert durchziehenden Prozess, der die eigenständige Qualität mittelalterlicher Musik und damit ihre Fähigkeit, eine Lösung zum Dilemma der als überkommen und überfremdet empfundenen spätromantischen Musiksprache aufzuzeigen, mehr und mehr ins Bewusstsein rückt. Für Satie hat András Wilheim auf den Einfluss besonders der Ecole Niedermeyer hingewiesen573, da Saties erster Klavier- und Orgellehrer Vinot Absolvent dieser Ausbildungsstätte war. In der Tat weisen die in Niedermeyers Traité théorétique et pratique de l’accompagnement du plaint-chant von 1857 und in seinem Graduel574 von 1861 versammelten Choralharmonisierungen mit ihrer blockhaften Akkordik eine frappante Ähnlichkeit zu Saties Akkordreihungen in den Ogives auf. Letztlich steht aber auch hinter Niedermeyers als dem Choral besonders adäquat propagiertem Harmonisierungssystem eine Legitimierung durch Rückgriff auf mittelalterliche Vorbilder und Praktiken. Die bestehenden Vorstellungen über mittelalterliche Choralbegleitung finden sich z. B. in Felix Cléments einflussreicher Histoire générale de la musique religieuse von 1860 zusammengefasst: Wie der Name „Organum“ deutlich mache, begleitete die Orgel den Choral in Quarten, Quinten und Oktaven; aus Sequenztexten sei abzulesen, dass diese Begleitung, auch mit anderen Instrumenten, Silbe für Silbe, d. h. Note für Note in gleichbleibender Bewegung erfolgte. Die sich hieraus ergebende blockhafte Reihung von Akkorden sei wegen ihrer « gravité » ein besonderes Signum des Chorals und allgemein der religiösen Musik gegenüber dem bewegteren und deshalb weltlicher Musik angemesseneren Discantus.575
572 « Ces Modes ... y conservent une beauté de caractère ... Mais on peut dire qu’il n’y a rien de plus ridicule & de plus plat que ces plains-Chants ... modulés sur les Cordes de nos Modes: comme si l’on pouvoit jamais marier notre Systême harmonique avec celui des Modes anciens, qui est établi sur des principes tout différens. ... Loin qu’on doive porter notre Musique dans le plain-Chant, je suis persuadé qu’on gagneroit à transporter le plain-Chant dans notre Musique »; Jean Jacques Rousseau: Dictionnaire de musique, Paris 1768, Reprint Hildesheim 1969, S. 375. 573 Wilheim 1983. 574 Accompagnement pour Orgue des principaux offices de l’Église selon le rite Romain ... par L. Niedermeyer. Première partie: Graduel, Paris 1861. 575 « L’introduction de l’orgue dans les églises a favorisé l’accompagnement des mélodies par des quintes et des octaves ... Cet instrument a donné son nom à cette espèce d’harmonie, à l’organum ... L’organum consistait en une suite d’accords semblables, soit des quartes, des quintes et des octaves successives, accompagnant le chant dans un mouvement semblable, et le suivant invariablement en montant et en descendant. ... Il est à remarquer que le déchant a été appliqué de préférence aux sujets profanes ... tandis que la diaphonie était réservée au chant liturgique, nouvelle preuve de la gravité de cette dernière harmonie et de sa plus parfaite conformité avec le caractère du chant religieux »; M. Félix Clément: Histoire générale de la musique religieuse, Paris 1860, S. 42–44.
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Clément empfand das 13. Jahrhundert als Höhepunkt der Choralentwicklung und verknüpfte diesen mit dem Symbol von Notre Dame zu Paris.576 Saties Ogives beziehen sich damit nicht nur auf den Gipfel gotischer Baukunst, sondern auch auf den Hochpunkt geistlicher Musik des Mittelalters im Allgemeinen. Auch hier imitiert Satie aber nicht etwa ein Quart- oder Quintorganum. Wiewohl ihm diese Formen früher Mehrstimmigkeit aus den musikgeschichtlichen Abhandlungen etwa von Fétis oder Coussemaker – auch durch Beispiele577 – bekannt sein konnten, benutzte er für die langen Akkordketten in den Ogives wie auch in den anderen Werken seiner frühen Schaffensperiode keine Nachahmung von Parallelorgana.578 Wenn überhaupt, so wäre in diesem Kontext eine direkte Reverenz vor den Meistern der Notre-Dame-Schule zu erwarten gewesen. Satie interessiert und fasziniert vielmehr das Stilmerkmal des gleichförmigen, akkordisch-blockhaften Fortschreitens, das ihm als Kennzeichen des Mittelalterlichen schlechthin erscheint. Die durch die Oktaven vorgegebenen Konturen der „Choral“-Melodien in den Ogives werden akkordisch gefüllt und die sich ergebenden Akkorde folgen dem äußeren Rahmen. Im Wechsel von leichter Akkordik und massiven Akkordreihen verbindet sich die Vorstellung vom Alternieren zwischen solistischer und chorischer Ausführung mit den Traditionen der französischen Orgelmesse, wie Alternatim-Praxis und kontrastierenden Orgelregistern. Es ist offensichtlich, dass die hierbei resultierenden Akkorde nicht in einem funktionalen Zusammenhang zu interpretieren sind579; es finden sich zwar Sextund Quartsextakkorde sowie in anderen Stücken Sept- und Nonakkorde, aber dies sind nur Versatzstücke der überkommenen romantischen Musiksprache, die jetzt einer ganz anderen Intention dienen. Es handelt sich aber auch nicht um eine Kopie der „modalen“ Akkordik im Stile Niedermeyers, da Satie dissonante Akkordbildungen und Alterationen verwendet. Bereits vom Notenbild wird dieser Unterschied beispielsweise beim Vergleich der zweiten Ogive mit ihrer Massierung von Kreuzvorzeichen mit dem gleichsam
576 « Nous avons la certitude que l’apogée ... a été atteinte vers le XIIIe siècle ... Ainsi nous fixons l’apogée du chant ecclésiastique au sommet des tours de Notre-Dame de Paris, au fond de la nef de Notre-Dame de Reims »; Clément 1860, S. 218. 577 Vgl. François-Joseph Fétis: Histoire générale de la musique depuis les temps les plus anciens jusqu’à nos jours, Bd. I, Paris 1869, S. 173. Edmont de Coussemaker: Histoire de l’harmonie au Moyen Age, Paris 1852, Nachdruck Hildesheim 1966, S. 15–17; es ist gut vorstellbar, dass Coussemakers Beispiele in ganzen Notenwerten mit ihren Oktav- und Quint-Oktavverdopplungen Saties Vorstellung der parallelen Akkordik mit angeregt haben. 578 Im zehnten der an der Schola Cantorum entstandenen Choräle schreibt Satie dagegen Passagen in strikter Abfolge aus parallelen Quint-Oktav-Klängen; s. Kurt von Fischer: „Erik Saties Choralkompositionen“, in: De musica et cantu. Studien zur Geschichte der Kirchenmusik und der Oper. Helmut Hucke zum 60. Geburtstag, hrsg. v. H. Schneider, Hildesheim 1993 (= Musikwissenschaftliche Publikationen, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/Main 2), S. 608. 579 Vgl. die ähnlichen Beobachtungen zu Debussy bei Gervais 1971, S. 120.
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„blanken“ Partiturbild von Niedermeyers Harmonisierung eines Benedicimus deutlich:580
Die alterierten Töne entstehen bei Satie jedoch nicht durch Kadenzbildung im funktionalen Sinne oder um den Klang in spätromantischer Absicht zu schärfen, sondern dadurch, dass Satie bereits in der einstimmigen Ausgangsmelodie modale Formeln verschiedener Herkunft aneinanderfügt und sich auch bei der akkordischen Füllung nicht auf eine geschlossene Modalität beschränkt. Die Alterationen sind das Ergebnis einer parallelen Akkord-Verschiebung über die Klaviatur; sie sind in diesem Sinne zwar durch die Notation sichtbar aber nicht hörbar, d. h. sie haben ihre Bedeutung im funktionsharmonischen Sinne verloren. Dass dieses akkordische Verschieben entlang einer gegebenen Melodie den Kern von Saties Kompositionsverfahren in seinen frühen Werken bildet, zeigt sehr anschaulich seine handschriftliche Kalligraphie des zweiten Satzes Dixit Dominus aus der Messe des Pauvres von 1895.581 Auf drei Systemen im Vierliniensystem des Chorals mit C- und F-Schlüsseln und in einer fiktiven schwarzen Mensuralnotation notiert, ist hier die parallele Akkordik besonders augenfällig, zumal sie im Gegensatz zu der von Satie mit Intende votis supplicum benannten abweichenden Version desselben Satzes auf jede Vorzeichensetzung demonstrativ verzichtet.582 Die aus Quarten und Quinten geschichteten Akkorde der Mittelstimme setzen optisch um, was Felix Clément « l’harmonie plaquée » nennt, eben jene akkordisch-blockhafte Begleitungsform, die historisch nachzuweisen sei und das Wesen des Chorals nicht verändere.583 580 Beispiel nach Wilheim 1983, S. 232. Beim zweiten Akkord von „De“-um ist sicher c1 gemeint und nicht h. 581 Vgl. Abb. in La Revue Musicale 1952. 582 Abb. des Intende vocis supplicum wiederum in fiktiver Mensuralnotation in Briefe 1, S. 316. In der Ausgabe der Editions Salabert von 1929 erscheint dieser Satz jedoch wiederum in einer anderen Fassung. Zur komplexen Genese der von Darius Mulhaud nach Saties Tod herausgegebenen Messe s. Erich Schwandt: „A new Gloria for Satie’s Messe des Pauvres“, in: Canadian University Music Review 18/2 (1998), S. 38–47, bes. 42–45. Einige weitere solcher Partituren in mittelalterlicher Notation fertigte Satie für die Librairie de l’Art Indépendant; vgl. Erik Satie: Briefe 1. Die Korrespondenz von 1891 bis 1913, Ornella Volta (Hg.), Hofheim 1991, S. 60. Weitere Beispiele in der Sammlung der Harvard University, s. Wehmeyer 1974, S. 313. 583 « Que l’harmonie qu’on lui adapte soit si simple, si naturelle, qu’elle ne change en rien ses conditions essentielles qui sont la simplicité, la clarté ... Sous ce rapport, l’harmonie plaquée, c’est-à-dire l’accompagnement de chaque note par un accord, est de tous les modes d’accompagnement le plus convenable. Or il est remarquable que ce système est précisement
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Quartschichtungen als Kennzeichen des Mittelalterlich-Archaischen spielen in Saties Préludes zu Joseph Péladans sogenannter Wagnérie Kaldéenne Le fils des étoiles (1892) eine dominante Rolle. Das Prélude zum ersten Akt wird in seinem Anfangsteil ganz vom Quartintervall beherrscht. Das Eingangsmotiv selbst ist aus der bekannten Kombination von Sekund- plus Terzschritt gebaut und wird mit einer völlig gleichbleibenden Akkordik aus geschichteten Quarten (vier reine Quarten und eine verminderte Quarte) versehen; dasselbe Motiv wird anschließend eine Quarte tiefer wiederholt. Auch die kurzen Achtelmotive des Mittelteils (Comme une douce demande) greifen das Anfangsmotiv auf. Im zweiten und dritten Prélude finden sich ebenfalls kurze Einwürfe, die in dieser parallelen Quartakkordik gehalten sind584:
E. Satie, Le fils des étoiles [Beginn des ersten und dritten Abschnitts]
Die Quarte als elementares Intervall, das im dritten Prélude mit schnellen Sechzehntelrepetitionen gleichsam ins Bewusstsein gehämmert wird, dürfte für Satie in ihrer Archaik und Ursprünglichkeit gut mit der mystischen Traumwelt des „Sâr“ Péladan zu verbinden gewesen sein.585 Letztere bestand aus einer bizarren Mischung von verklärter Mittelalterbegeisterung und orientalisch-mystischer Verzückung als Gegengewicht zum Gefühl der « décadence » und allgemeiner « fin du siécle »-Depression sowie aus der Verbindung von Elementen des katholischen celui qui a été employé à l’époque la plus florissante du plain-chant, du XIe siècle au XIVe, et auquel on revient presque généralement de nos jours »; Clément 1860, S. 326. 584 Notenbeispiel nach Erik Satie, 1866-1925: Piano music. Selections, Dover Publications 1989, Reprint Rouart, Lerolle, Paris 1891. 585 In der Literatur hat sich wegen der Verbindung einiger prominenter Stücke aus der frühen Schaffensperiode Saties mit dem Rosenkreuzerorden die Bezeichnung „Rose Croix“-Musik für die Werke bis 1895 (Abschluss der Messe des Pauvres) eingebürgert; Patrick Gowers: „Satie’s Rose Croix Music (1891–1895)“, in: Proceedings of the Royal Musical Association 92 (1965–1966), S. 1–25, hier: S. 1.
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Ritus und fanatischer Wagner-Verehrung in Gestalt des wiedererweckten Rosenkreuzerordens, dem Péladan selbst als Hohepriester vorstand.586 Saties eigene intensive Beschäftigung mit griechischer Musiktheorie ist als weitere Erklärung für die zentrale Bedeutung der Quarte in diesen Kompositionen heranzuziehen. Erhaltene Skizzenhefte zeigen, wie Satie immer wieder mit Tonreihen aus verschiedenen Formen geschichteter Quarten experimentierte.587 Neben dieser Funktion einer Chiffre für Antik-Archaisches stand die Quart in der musikgeschichtlichen Forschung der Zeit aber auch als Kennzeichen geistlichmittelalterlicher Mehrstimmigkeit schlechthin. Clément z. B. beschreibt die Quarte als Grundintervall, das mit der « harmonie religieuse » gleichzusetzen sei.588 Seinen eigenen Erfahrungen und Experimenten nach, rufe die Quarte zusammen mit der Quinte jene eigentümliche Ernsthaftigkeit des Ausdrucks, jene bedeutungsvolle Schwere und majestätische Größe hervor, die der geistlichen Musik angemessen sei.589 Satie versieht das Quartthema im ersten Prélude mit der Vortragsanweisung En blanc et immobile. Wenn solche Vortragsangaben bei Satie auch oft in ironisch-karikierender Absicht verwendet werden und sich in späteren Werken als selbständige Textebenen verstehen, die unabhängig neben der Musik herlaufen590, so ist hier doch naheliegend, dass Satie die von Clément beschriebene bewegungslose Strenge der Choralbegleitung nach mittelalterlichen Vorbildern zu charakterisieren versucht. Über sein Prélude zu dem esoterischen Drama La Porte Héroïque du Ciel von Jules Bois wird Satie später in ganz ähnlicher Weise sagen, dessen Harmonien seien „andächtig und weiß, gemäß den so achtbaren und rührenden Konventionen, wie sie mit Recht von unseren Ehrwürdigen Vorfahren, den verehrten Meistern des ... Phänomenalen Antiphonars getroffen wurden.“591 In diesem Sinne ist auch die Bezeichnung des Mittelteils im ersten Prélude mit Pâle et hiératique zu interpretieren. Für Satie ist die blockhafte Akkordreihung ein Kennzeichen des Mittelalterlich-Mytischen, die sich neben der Farbigkeit spätromantischer Harmonisierung weiß und fahl ausnimmt, da sie sich demütig dem Choral unterordnet und damit seine erhabene Größe erst wieder zum
586 Zu Péladan: Ernest Bertholet: La pensée et les secrets du Sâr Péladan, Lausanne/Paris 1952– 1955. 587 Hierzu: Oliver Vogel: Socrate von Eric Satie. Eine Identifikation, Magisterarbeit Berlin 1994, S. 56–63. 588 « Le Diatessaron, désigné comme la base essentielle de l’harmonie, peut ... signifier ici la quarte. Mais ce mot paraît avoir une acception plus générale. Il était employé souvent par les personnes assez étrangères à la musique pour signifier l’harmonie religieuse. ... Quel que fut le diatessaron, son importance était grande, puisqu’on le considérait comme le principal accord de l’harmonie »; Clément 1860, S. 47/48. 589 « Nous avons fait l’essai de la manière suivante: douze voix chantaient à l’unisson la mélodie d’un introït; deux voix seulement suivaient ce chant à la quinte supérieure, et deux autres voix doublaient le chant à l’octave. C’était donc une véritable diaphonie ... mais on s’est accordé à le trouver saisissant de grandeur et de majestueuse gravité »; Clément 1860, S. 59. 590 Grete Wehmeyer: Erik Satie, Reinbek 1998, S. 69–75. 591 Schriften, S. 19.
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Leuchten bringt. Clément benutzt selbst das Wort « hiératique », um den speziellen Charakter geistlicher Mehrstimmigkeit des Mittelalters zu beschreiben.592 Die aufsteigenden Quartenakkorde des ersten Prélude beschwören also eine geheimnisvolle, versunkene, in mystisches Dunkel gehüllte Welt herauf. In derselben Bedeutung setzt Satie im zweiten Stück der 1913 entstandenen Embryons dessechés – wenn auch hier in parodistischer Absicht – aufsteigende Quint-OktavAkorde ein, um die unbewegliche Ruhe der Krustentierart Edriophtalma nachzuzeichnen593:
E. Satie, Embryons dessechés, II: d’Edriophthalma
Ebensolche nach oben steigenden Quint-Oktav-Klänge stehen am Anfang von Claude Debussys Cathédrale engloutie von 1910, wenn das Bild der Kathedrale langsam aus tiefem Nebel erscheint (Dans une brume doucement sonore); und wenn sie schließlich in ihrer vollen Größe vor Augen steht, erklingt eine choralartige Melodie mit der völlig gleichförmigen, parallelen Akkordik, wie sie Satie lange vorher bereits in den Ogives und den Préludes594 entwickelt hat:595
592 « Chez tous les peuples on a dégagé des formes générales de l’art une forme particulière qu’on pourrait appeler hiératique, parce qu’elle convient spécialement à l’expression de la foi religieuse et à la prière publique. Après une trop longue interruption des traditions chrétiennes dans l’art, nous avons assisté de nos jours à leurs renaissance dans l’architecture, la sculpture, l’ornementation ... »; Clément 1860, S. 447. 593 Notenbeispiel nach Dover Publications 1989, Reprint E.Demets, Paris 1913. 594 Vgl. Prélude zum dritten Akt: Sans trop frémir. 595 Notenbeispiel nach Edition Durand, Paris 1910. Ein Nachklingen dieser musikalischen Tradition besteht in Olivier Messiaens Apparition de l’Eglise éternelle (1934) mit ihren zäsurbildenden Quint-Oktav-Klängen am Ende nach oben strebender melodischer Abschnitte und dem Schlussteil in plakativen, choralartigen parallelen Quint-Oktav-Akkorden. Charles Kœchlin 1924, S. 194, bemerkt zu Saties blockhafter Akkordik: « Antérieures de quatorze ans à celle de Claude Debussy, précédant même les harmonies en accords parallèles par quoi M. Bruneau, dans le Rêve, créait une si juste atmosphère de cathédrale … », und er bezeichnet Satie in Bezug auf Debussy als « précurseur ». Die Vorreiterrolle, wie sie Debussy von d’Almendra für die Rückbesinnung auf das Mittelalter alleinig zugesprochen wird, bedarf in diesem Zusammenhang sicher einer Revision.
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C. Debussy, La Cathédrale engloutie, T. 1-3, 26-35
Saties Kompositionen der frühen Zeit stehen damit in denkbar scharfem Gegensatz zur Musikästhetik der Spätromantik. Nicht so sehr, weil sie sich dezidiert auf mittelalterliche Vorbilder beziehen, – das taten auch andere Komponisten – sondern weil sie – über den Bezug auf das Mittelalter – einer Vorstellung von Musik und ihrem Verlauf in der Zeit Ausdruck verliehen, die in der europäischen Kunstmusik längst verloren gegangen war. Der Wesenskern dieser ganz anderen Art von Musik ist durch eine zyklische Zeitvorstellung im Gegensatz zu einer gerichteten Zeitgeraden bestimmt.596 Die abendländische Musik kennt sie in den frühesten Formen der Mehrstimmigkeit über Jahrhunderte, um sie dann in einem stetig zunehmenden Prozess zugunsten der Fortschrittsidee aufzugeben. Das an sich neutrale Fortschreiten in der Zeit, dem die Musik als Kunst der Zeit unterliegt, wird zum wertenden Fortschritt. Fortschreiten heißt jetzt Entwicklung. Die ältere zyklisch-geschlossene Zeitvor596 Hierzu: Manfred Hermann Schmid: „Fortschrittsdenken und Zeitbewusstsein in der Musik“, in: Musicological Annual XXVI, Ljubljana 1990, S. 5–15.
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stellung überdauert in der Musik der Vergangenheit und in volksmusikalischen Traditionen, um von Satie im Rückgriff auf eben diese Vergangenheit und Traditionen und durch die Begegnung mit außereuropäischer Musik seit der Pariser Weltausstellung von 1889 als einem der ersten in aller Radikalität wieder aufgegriffen zu werden; sie wird im 20. Jahrhundert eine der Hauptinspirationen auf der Suche nach einer Alternative zum Weg Schönbergs bilden. Saties Musik kennt kein Fortschreiten im Sinne eines Fortschritts, einer Entwicklung. Damit negiert sie eine der zentralen musikalischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Die blockhaft-statische, leittonfreie Akkordik erweckt die Vorstellung eines in sich ruhenden und kreisenden Klangraumes, wie sie von Ficker als Kennzeichen „primärer Klangformen“ beschrieben wurde.597 Dieser Eindruck wird verstärkt durch Saties oft als „Baukastenmethode“ benannte Vorliebe, seine Kompositionen – und dies über sein ganzes Schaffen hinweg – aus einzelnen kleinen Motiven und Versatzstücken aufzubauen, die austauschbar und verschieden kombinierbar sind. Der in der abendländischen Kunstmusik seit Jahrhunderten etablierten Vorstellung, dass sich musikalische Form und Logik aus dem an den Zeitverlauf gebundenen Entstehen und Verändern von Motiven ergibt, setzt Satie seine Reihungstechnik entgegen, bei der bereits Erklungenes einfach wiederkehren kann, ohne von dem Vorhergehenden in seiner Erscheinung begründet sein zu müssen und – noch schockierender – ohne eine Veränderung anzuzeigen.598 Dies steht in diametralem Gegensatz zum romantischen Musikideal und – in dessen Nachfolge – zu Schönbergs Musikästhetik, die gerade jede wörtliche Wiederholung beinahe panisch meidet und von der Vorstellung von Musik als Ausdruck ausgehend die organische Verbundenheit der einzelnen Teile untereinander und mit dem Ganzen betont. So kündet etwa Schönbergs Kammersymphonie op. 9 mit ihrer Quartenmotivik programmtisch den Weg aus der Tonalität an, ihre Motivstruktur erweist sich aber als ein Geflecht organischer Ableitungen.599 Wie erhaltene Skizzen zur Messe des Pauvres und zum Prélude de la Porte Héroïque du Ciel zeigen, experimentierte Satie im Vorfeld seiner Kompositionen intensiv mit musikalischen Bausteinen, die er « motifs » nannte.600 Die Aneinanderreihung dieser « motifs » im Zusammenhang mit wiederholenden Strukturen ergibt eine bis an die äußersten Grenzen gespannte Ökonomie des musikalischen Materialgebrauchs. So bestehen die Ogives aus der vierfachen Wiederholung ein597 Rudolf von Ficker: „Primäre Klangformen“, in: JbP 1929 (36), S. 21–34. 598 Kœchlin 1924, S. 201 stellt hierzu fest: « Développer n’est pas un but en soi ; c’est un moyen et qui ne convient pas à toutes les œuvres ». 599 Vgl. hierzu die Bemerkungen von Anton Webern: Der Weg zur Neuen Musik, Wien 1960, S. 42/43: „Man suchte Zusammenhänge in der Begleitung zu schaffen, thematisch zu arbeiten, alles aus einem abzuleiten und so den engsten – größten – Zusammenhang herzustellen. Und nun ist alles aus dieser gewählten Folge von zwölf Tönen abgeleitet … Das hat etwas Nahverwandtes mit der Auffassung Goethes von den Gesetzmäßigkeiten und dem Sinn, der in allem Naturgeschehen liegt und sich darin aufspüren läßt. In der „Metamorphose der Pflanze“ findet sich der Gedanke ganz klar, dass alles ganz ähnlich sein muß wie in der Natur … Und was verwirklicht sich in dieser Anschauung? Daß alles dasselbe ist: Wurzel, Stengel, Blüte.“ 600 Gowers 1965/66, S. 13–15.
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und derselben Melodie, die sich selbst wiederum in zwei bis auf den Schluss identische Hälften gliedert.601 Ein weiteres identitätsstiftendes Element sind auch die stereotyp wiederkehrenden rhythmischen Modelle, die die Melodie in eine Art freie Rhapsodik fassen. Von Anfang an notiert Satie seine vom Choral angeregten Kompositionen ohne Taktstriche. Damit wendet er sich zum einen gegen die im 19. Jahrhundert nach wie vor weitverbreitete Praxis, den Choral in regelmäßige Taktgliederungen zu pressen; zum anderen zeigt er die radikale Andersartigkeit seiner Musik an, indem er auch dieses elementare Merkmal der ihn umgebenden Kunstmusik negiert. Innerhalb der Bewegung um die Wiederbelebung des Chorals war die Überzeugung schon länger etabliert, dass dem Choral ein festes metrisch-rhythmisches Schema nicht angemessen sei. Clément vertritt die Meinung, dass dem Choral nach Ausweis der Handschriften kein fester Rhythmus zukomme, und dass dieser nur durch verschiedenartige Takte bzw. Taktfragmente darzustellen sei.602 Saties Folge von Viertel- oder Achtelwerten mit Längung und damit Akzentuierung einzelner Noten folgt aber auch nicht der Reihung lauter gleicher Werte in Halben, wie sie Niedermeyers Beispiele zeigen. Es ist zumindest nicht auszuschließen, dass Satie hier die rhythmischen Theorien von Solesmes aufgegriffen hat. Wie weit er direkten Kontakt mit Solesmes hatte ist schwer zu sagen, es ist aber anzunehmen, dass die später von Mocquereau formulierte Ictus-Theorie durch die weitreichenden Aktivitäten der Abtei auch bereits im Vorfeld der Publikation allgemein im Umlauf war.603 Insgesamt erhalten durch die formelhafte Rhythmik und die bausteinartige Struktur nicht nur die einzelnen Stücke einen konzentrierten, fast hermetisch in sich geschlossenen Aufbau, sondern auch die zu Werkgruppen wie den Ogives, den Préludes zum Fils des étoiles oder den Sonneries de la Rose+Croix zusammengeschlossenen Kompositionen weisen untereinander große Ähnlichkeit auf. Die strenge, fast ritualisierte Formgebung ist letztlich ein Impuls, den Satie aus der Begegnung mit liturgischer Musik empfangen und für sein eigenes Schaffen fruchtbar gemacht hat. Die Kritiker Saties haben eben diese Charakteristika seiner Musik – ins Negative gekehrt – als Symptome eines Langweilers und mangelnder Erfindungskraft gewertet. « Un petit génie de second ordre à court souffle » nannte Paul Landormy Satie in seinem Artikel „Le Cas Satie“.604 Nicht nur die Anspielung auf Nietzsche
601 Letzteres gilt für Ogive I und IV. 602 « Les différentes valeurs des sons se succédant irrégulièrement, produisent des mesures et des fragments de mesures ... On voit clairement en quoi la régularité du rhythme ne peut convenir au plain-chant ... On voit aussi que la variété dans le rhythme est une condition essentielle du plain-chant »; Clément 1860, S. 40. 603 Bereits in den 90er Jahren hielten sich viele Komponisten in Solesmes auf und wurden von Mocquereau über seine rhythmischen Theorien instruiert; s. d’Almendra 1947/48, S. 25/26. 604 Paul Landormy: „Le Cas Satie“, in: La Victoire, 16. 09. 1924 (Mardi, 9ième année, No 3179). Landormy bezeichnet Satie hier auch als « un homme de peu d’importance en somme » und seine Schaffen als « art enfantin. »
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in Landormys Titel legt eine Parallele zu Wagner nahe605, auch die Vorwürfe gegenüber Satie decken sich in erstaunlicher Weise mit der zeitgenössischen Wagner-Kritik. Obwohl Satie in der Hochblüte des Wagnérisme eine Alternative zu Wagners Musik schaffen wollte – man denke an sein berühmtes Bonmot der « musique sans choucroute »606 – trafen sich Satie und Wagner in den Momenten, in denen sie die etablierten Kategorien der spätromantischen Musiktradition verließen und zu der bereits skizzierten älteren Musikauffassung zurückkehrten. Dilettantismus, Langeweile und mangelnde Kreativität unter dem Deckmantel einer prätentiösen genialen Einfachheit wurden Satie und Wagner vorgeworfen, wenn sie anstelle motivischer Fortentwicklung stehende „Klangflächen“607 in Musik setzten.608 Während jedoch bei Wagner die Klangflächentechnik der Auszeichnung bestimmter Stellen innerhalb einer Umgebung motivisch-thematischer Entwicklung dient, wurzelt Saties Postulat einer bewusst einfachen und nüchternen Musik, einer « musique dépouillée »609 wie er sie später titulierte, in der tiefen Überzeugung, eine Alternative zum romantischen Ausdrucksideal, zu Wagner und allgemein zu deutscher Musik schaffen zu müssen. Diese Überzeugung verknüpft sich mit den im 19. Jahrhundert in Frankreich weit verbreiteten Bestrebungen, einer neuen, französischen Kunst den Weg zu weisen. Seit der Niederlage von 1870/71 empfand Frankreich besonders stark das Gefühl einer schleichenden Überfremdung – nicht nur in der Musik, für die Heulhard eine « intoxication en petite dose »610 diagnostizierte. Claude Duboscq, der etwas jüngere Zeitgenosse Saties, verteidigte Kürze der Form, Schlichtheit im Ausdruck und rhythmische Freiheit nach dem Vorbild des Chorals als franzö-
605 Landormys Artikel bezieht sich natürlich auch auf de Schlœzer 1924 und Charles-Francis Caillard und José de Béry: Le Cas Debussy, Paris 1910. 606 « J’écrivais, à ce moment-là, le Fils des Etoiles – sur un texte de Joséphin Péladan; & j’expliquais, à Debussy, le besoin pour nous Français de se dégager de l’aventure Wagner, laquelle ne répondait pas à nos aspirations naturelles. Et lui fasais-je remarquer que je n’étais nullement antiwagnérien, mais que nous devions avoir une musique à nous – sans choucroute, si possible »; Erik Satie: Ecrits, Ornella Volta (Hg.), Paris 1977/1981, S. 69. 607 Monika Lichtenfeld: „Zur Technik der Klangflächenkomposition bei Wagner“, in: Carl Dahlhaus (Hg.): Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 23), Regensburg 1970, S. 161–167. 608 So schreibt Otto Jahn über die Türmerszene in der dritten Szene des zweiten Aktes im Lohengrin: „Anderer Art ist die Scene im zweiten Act, wo die Thürmer das Morgenlied blasen, das auf nicht eben geistreiche Art mit Tonica und Dominante wechselt; nachdem das 28 Takte gedauert hat, müssen wir uns noch 28 Takte lang mit dem gebrochenen D dur-Accord im Orchester unterhalten. Das ist nicht einfach, sondern langweilig“; Otto Jahn: Gesammelte Aufsätze über Musik, Leipzig 1867, S. 156. 609 « Il a voulu que sa musique fût dépouillée et sereine, si modeste en sa nudité ... »; René Chalupt im Vorwort zu Socrates, Paris 1919, zitiert nach Wehmeyer 1974, S. 233. 610 A. Heulhard: „L’invasion allemande dans la musique“, in: L’Art Musical XI/10 (1872), zitiert nach Weymeyer 1974, S. 83.
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sische Vorzüge gegenüber der typisch deutschen Idee langangelegter thematischer Entwicklung.611 Das Vorbild für die Rückbesinnung auf die eigene künstlerische Vergangenheit als Quell neuer Inspiration liefert die Architektur. Beginnend mit dem Wirken Prosper Mérimées und dann in besonders intensiver Weise propagiert von Violletle-Duc, rückt die mittelalterliche Baukunst als neues Ideal an die Stelle, die bisher unangefochten der römischen Architektur zugestanden wurde. Die gotische Kunst und in ihrem Brennpunkt die Kathedrale wird zum Inbegriff einer nationalen französischen Kunst.612 Die Restaurierung mittelalterlicher Architektur gibt damit den Anstoß für die Restaurationsbestrebungen auf dem Gebiet mittelalterlicher Musik. Zunächst im Wesentlichen beschränkt auf den Choral, widmet sich eine ganze Heerschar französischer Musikforscher der « archéologie médiévale », um die Schätze der Vergangenheit zu heben.613 Wie stark diese Tätigkeit mit dem nationalen Gedanken verbunden ist, zeigen die vom Staat verliehenen Preise und Auszeichnungen, die z. B. für entdeckte Manuskripte vergeben werden.614 Durch die besondere kirchenmusikgeschichtliche Entwicklung in Frankreich bleibt dort der Kontakt zum Choral in der Praxis stärker erhalten als in anderen Ländern. Frankreich schreibt sich deshalb in dieser Zeit allgemein eine Vorbildfunktion auf dem Gebiet der Choralrestitution zu, die sowohl auf der ununterbrochenen Tradition und der besonderen Qualität des französischen Choralgesangs 611 « Pourquoi cette brièveté, ce laconisme, ces raccourcis? – Parce que le “développement” d’idées inspirées, étant germanique, ne saurait être français. Pourquoi tant de netteté, de clarté, de lumière? – Afin de disperser un instant les nuées asphyxiantes d’Outre-Rhin. … Les indications de nuances et de mouvements sont rares. C’est que l’auteur voudrait que chacune de ses interprètes pût librement puiser dans cette œuvre quasi liturgique parfois, comme dans un chant grégorien, l’expression d’elle même la plus dépouillée. »; Claude Duboscq: „Avertissement“ zu Matines, Sarabandes et Galliardes (1923). 612 « Il y a des arcs brisés, au XIIe siècle, par toute l’Europe occidentale. Il n’y a de construction gothique, à cette époque, qu’en France ... n’en déplaise à ceux qui n’admettent pas qu’on ait inventé quelque chose chez nous avant le XVIe siècle »; Damisch 1978, S. 95. « Ce qu’il y a de plus frappant dans le nouveau système d’architecture adopté dès la fin du XIIIe siècle, c’est qu’il s’affranchit complètement des traditions romaines. Il ne faut pas croire que de cet affranchissement résulte le désordre ou le caprice; au contraire tout est ordonné, logique, harmonieux »; ebda., S. 137. « Il ne faut pas aller étudier ou juger l’architecture française de cette époque là où elle a été importée, il faut la voir et la juger sur le sol qui l‘a vue naître, au milieu des divers éléments matériels ou moraux dont elle s’est nourrie; elle est d’ailleurs si intimement liée à notre histoire, aux conquêtes intellectuelles de notre pays, à notre caractère national dont elle reproduit les traits principaux, les tendances et la direction, qu’on a peine à comprendre comment il se fait qu’elle ne soit pas mieux connue et mieux appréciée, qu’on ne peut concevoir comment l’étude n’en est pas prescrite dans nos écoles comme l’enseignement de notre histoire »; ebda., S. 147. 613 « A cette occasion se produit un merveilleux élan vers l’archéologie qui fait surgir en France une véritable floraison de savants musicologues, passionnés pour les recherches médiévales »; Abbé Norbert Rousseau: L’Ecole Grégorienne de Solesmes, Tournai 1910, S. 8. 614 Vgl. hierzu Théodore Nisard: L’Archéologie musicale et le vrai chant grégorien. Ouvrage posthume, Aloys Kunc (Hg.), Paris 1890.
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als auch auf der ertragreichen Forschungstätigkeit in Frankreich – mit Solesmes an der Spitze – beruhe.615 Aber nicht nur der Choral wird in diesem Sinne zu einer nationalen, einfachen, klaren Musik, auch volksmusikalische Traditionen rücken als potente Kandidaten für die Wiedergewinnung einer genuin französischen Musik in den Mittelpunkt des Interesses. Einfachheit und Klarheit fordert der Musikethnologe und Professor am Conservatoire Louis-Albert Bourgault-Ducoudray, den Satie seit seiner Studienzeit kannte, als Prinzip einer sich neu auf ihre Tradition besinnenden französischen Schule. Als Ausweg aus der Sackgasse harmonischer Exzesse des 19. Jahrhunderts empfiehlt er das Studium der Volksmusik, die er selbst sammelte und mit einer Art „modalen“ Begleitung versehen herausgab.616 Ganz wie später bei Bartok in Bezug auf Bauern- und Volksmusik wird hier die Überzeugung geäußert, dass die Rückkehr zu den Wurzeln der eigenen nationalen Musik mit ihrer Einfachheit und festen tonalen Verankerung, die Lösung aus dem Dilemma einer in die Krise geratenen Harmonik sei. Satie erweist sich insofern als Anhänger dieser Meinung, als er die spätromantische Harmonik ablehnt, weil ihr erstens als „deutscher“ Erfindung der ältere, „lateinische“ Kontrapunkt vorzuziehen sei, und weil er die Harmonie grundsätzlich als der Melodik untergeordnet ansieht.617 Die Harmonik stellt für ihn die Möglichkeit dar, ein- und dieselbe Melodie, die die Kontur vorgibt, verschiedenartig auszufüllen und zu beleuchten, in unterschiedliche Perspektiven zu rücken – so wie er dies beispielsweise in den Ogives vorführt.618 Saties Skizzenbücher weisen ganze Katologe von Intervallharmonisierungen auf, die – fast in der Art mit615 « La France pourra revendiquer l’honneur d’avoir produit les travaux d’archéologie musicale les plus importants, et d’avoir contribué, plus qu’aucune autre nation catholique, à remettre en honneur les mélodies grégoriennes. ... On est obligé de reconnaître que le goût du plain-chant est demeuré plus vivace en France ... »; Clément 1860, S. 402/403. 616 « La musique savante est parvenue actuellement aux dernières limites du développement de ses deux modes officiels: le majeur et le mineur. Toutes les combinaisons harmoniques qui procèdent de ces deux modes paraissent épuisées. Comme au seizième siècle, la musique demande aujourd’hui son pouvoir expressif du contrepoint. ... L’abus du compliqué et du difficile doit provoquer tôt ou tard une réaction. Un rétour à la simplicité et à la clarté s’impose à l’Ecole française, comme le seul moyen pour elle de conserver son individualité et son génie propre. ... Pour que ce rétour aux qualités ‚françaises‘ puisse s’effectuer, il est nécessaire que l’inspiration musicale se retrempe dans le chant populaire, ce type de la mélodie éternellement jeune, éternellement vraie »; Louis-Albert Bourgault-Ducoudry: Trente Mélodies Populaires de Basse-Bretagne, recueillies et harmonisées, Paris 1885, S. 16. 617 « L’harmonie moderne est d’origine allemande: ce sont les romantiques allemands qui la créèrent. Le contrepoint, lui, est latin »; Ecrits, S. 164. « Un traité de l’harmonie n’est pas une règle de jeu, ce n’est qu’un formulaire – hors d’usage ... Songeons que nos „bottins“ de l’harmonie datent tous du milieu du XIXe siècle. ... Ceux parus ces dernières années, ne sont que la perpétuelle copie de leurs admirables et comiques devanciers »; ebda., S. 174. 618 « Une mélodie n’a pas son harmonie, pas plus qu’un paysage n’a sa couleur. La situation harmonique d’une mélodie est infinie car une mélodie est une expression dans l’expression. N’oubliez pas que la mélodie est l’Idée, le contour, ainsi qu’elle est la forme & la matière d’une œuvre. L’harmonie, elle, est un éclairage, une exposition de l’objet, son reflet »; ebda., S. 48.
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telalterlicher Klangschrittlehren – demonstrieren, wie verschiedene Melodieschritte harmonisch zu unterfüttern sind.619 Die Bewunderung des Kontrapunkts, als des ursprünglichen, alten Kompositionsverfahrens, erklärt auch, warum Satie in Stücken, wie z. B. dem dritten Satz aus der Messe des Pauvres, gleichzeitig zur parallelen Akkordverschiebung eine Bassstimme in Gegenbewegung schreibt. Letztlich ist hier auch der tiefere Grund für Saties Kontrapunktstudium zwischen 1905 und 1908 bei Vincent d’Indy an der Schola Cantorum zu suchen; wie d’Indy selbst empfand Satie diese Unterweisung in „mittelalterlichem“ Tonsatz als bewussten Gegensatz zum Lehrstoff des Conservatoire.620 So wie Satie mit seiner Rückwendung zu mittelalterlicher Musik und ihren Konstruktionsprinzipien die bereits vorhandenen Strömungen, eine genuin französische Kunst zu schaffen, aufgreift und verstärkt, so reflektieren ihrerseits später Jean Cocteau und Guillaume Apollinaire in der Begegnung mit Saties Musik die Grundzüge dieser neuen nationalen Kunstauffassung und entwickeln sie als Zukunftsmaxime weiter. Saties Jugendfreund José Patricio Contamine de Latour deutete das Oeuvre Saties als kühne Konsequenz aus den Beschränkungen mangelnden handwerklichen Könnens.621 Cocteau beschreibt es als Inbegriff des « renoncement », des Ideals der bewussten Entsagung und der Schlichtheit im Ausdruck, das die neue französische Kunst kennzeichne, und ein Verdienst Saties sei, und für das dieser sich zeitlebens trotz aller Widrigkeiten eingesetzt hätte.622 619 Transkription bei Gowers 1965/66, S. 11. 620 Satie in einem Brief vom 17. Januar 1911 an seinen Bruder Conrad: „1905 habe ich begonnen, mit d’Indy zu arbeiten. Ich hatte genug davon, mir eine Ignoranz vorwerfen zu lassen, in der ich mich glaubte, weil kompetente Leute sie in meinen Werken geltend machten. ... Da stehe ich nun 1908 mit einem Schein in den Händen, der mir den Titel des Kontrapunktikers verleiht“; Briefe 1, S. 208. Abbildung des Diploms der Schola bei Wehmeyer 1974, S. 173. Louis Laloy über den Unterricht an der Schola: « J’aurais voulu apprendre l’harmonie … Mais on ne l’enseignait pas à la Schola. Le contrepoint devait nous suffire, comme aux musiciens du moyen âge. C’est M. Vincent d’Indy, je crois, qu’il faut rendre responsable de ce parti pris d’archaïsme … »; Laloy 1928, S. 77. 621 « Il était dans la situation d’un homme qui ne connaîtrait que treize lettres de l’alphabet et déciderait de créer une littérature nouvelle avec ces seuls moyens, plutôt que d’avouer sa pauvreté. Comme audace, on n’avait pas encore trouvé mieux, mais il tenait à honneur de réussir avec son système »; José Patricio Contamine de Latour: „Erik Satie intime. Souvenirs de jeunesse“, in: Comœdia, 3. August 1925. Ganz ähnlich äußert sich Charles Kœchlin 1924, S. 195: « Les successions d’accords y semblaient empreintes de la timidité d’un primitif qui découvre à lui seul un nouveau monde. » 622 „Ein anderer meiner Meister war jener Erik Satie, dessen Richtung dem musikalischen Impressionismus entgegentrat und dessen entfettete, von allen Saucen und Schleiern befreite Musik den Dilettanten zu simpel erschien“; Jean Cocteau: Der Lebensweg eines Dichters, München 1953, S. 54. „Satie lehrt die größte Kühnheit in unserer Zeit: schlicht zu sein. ... Angeekelt vom Verschwommenen, Ungenauen, Überflüssigen, Schmückenden, zeitgemäß Blendenden ... beschränkt sich Satie darauf, ‘in Holz zu schneiden’ und einfach, klar, offen zu bleiben. Doch das Publikum verabscheut Offenheit. ... Erik Saties Widerstand besteht in einer Rückkehr zur Schlichtheit“; Jean Cocteau: Hahn und Harlekin. Aphorismen und Notate, aus dem Französischen übertragen von Bernhard Thieme, Leipzig/Weimar 1991, S. 41, 57. Satie war sich durchaus bewusst, dass er sich mit seinen Kompositionen außerhalb der etablierten
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Guillaume Apollinaire sieht in Saties Ballett Parade die erste Manifestation der von ihm mit « Esprit nouveau » bezeichneten Erneuerungsbewegung innerhalb der französischen Kunst. Die Einfachheit und Luzidität der Musik Saties ist für ihn der Inbegriff des klaren französischen Geistes.623 Das Neue – dies der entscheidende Unterschied von Apollinaires Konzept zu den Futuristen und von Satie und seinen Nachfolgern zu Schönbergs Weg – entsteht nicht aus der Zerstörung oder der Überwindung der Vergangenheit, sondern die Vergangenheit bildet die Grundlage für den Künstler, der das Neue schafft, indem er gleichzeitig zurück und nach vorne schaut und neue Formen auf der Basis der Vergangenheit baut.624 Satie selbst stellt in einem Artikel für die Feuilles libres von 1923 die Verbindung zwischen « Esprit nouveau » und der künstlerischen Haltung von Demut und Entsagung her625, wie er sie programmatisch im vierten Satz der Messe des Pauvres als Beischrift artikuliert: S’appliquer au renoncement. Saties Orientierung an mittelalterlicher Musik, die in seinen frühen Werken ihre Grundlegung erfährt, erweist sich somit als ein Konzept, das der kompositorischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts neue Wege bereitet. Das Mittelalter-Bild, das sich in Saties kompositorischer Rezeption äußert, erweist sich – wie auch anders – als zeitgebunden. Auch Satie nahm an der allgemeinen Mittelalter-Mode teil, wenn er die Sonneries de la Rose+Croix für die mystischen Riten des Péladan-Ordens in Saint-Germain-l’Auxerrois, der Taufkirche der französischen Könige, mit Harfen und Trompeten instrumentierte, seine eigene Kirche samt einer Art Kunstreligion als Nachahmung und gleichzeitig ironische Übertreibung der Rosenkreuzer gründete, auf seinem Briefpapier gotische Kirchenfenster reproduzierte oder Texte in erfundenem Altfranzösisch verfasste.626 Im Licht dieses eher dekorativen Mystizismus, der einer allgemeinen Empfänglichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert in Frankreich für Mystik und Okkultismus als Flucht vor Materialismus und Positivismus entsprach, ist es auch zu
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Tradition stellte und damit Unverständnis auf sich zog: « J’ai écrit mes Sarabandes à 21 ans, en 1887; mes Gymnopédies à 22 ans, en 1888. Ce sont les seules œuvres de moi qu’admirent mes détracteurs ... La logique voudrait qu’ils aimassent mes œuvres d’homme mûr, de compatriote. Non. Il n’y a pas de danger – aucun »; Ecrits, S. 98. « C’est un poème scénique que le musicien novateur Erik Satie a transposé en une musique étonamment expressive, si nette et si simple que l’on y reconnaîtra l’esprit merveilleusement lucide de la France même. ...il est résulté, dans Parade, une sorte de sur-réalisme où je vois le point de départ d’une série de manifestations de cet Esprit Nouveau ... »; Apollinaire im Programmheft zu Parade von 1917, zitiert nach Margareth Wijk: Guillaume Apollinaire et l’Esprit Nouveau (= Etudes Romanes de Lund 36), Lund 1982, S. 48/49. « Je ne me suis jamais présenté comme destructeur, mais comme bâtisseur »; Wijk 1982, S. 99. « L’art doit en plus abolir le temps afin qu’on puisse embrasser d’un seul regard le passé, le présent et l’avenir »; ebda., S. 110. « ‘L’esprit nouveau‘ enseigne à se diriger vers la simplicité émotive, vers la fermeté d’expression – sorte d’affirmation lucide de sonorité et de rhythmes (au dessin précis, accentué – tout d’humilité et de renoncement) ... Je parle de la musique »; Ecrits, S. 41. Zur Aufführung der Sonneries vgl. Briefe 1, S. 23, zur Eglise Métropolitaine d’Art de Jésus Conducteur vgl. Ecrits, S. 15/16 mit 235/236, zu Saties Briefpapier vgl. Briefe 1, S. 309, Abdruck des Briefes, mit dem sich Satie von der Kunstauffassung Péladans distanziert, bei Wehmeyer 1974, S. 93.
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sehen, wenn Satie seine Wohnung mit mittelalterlichen Bildern und Skizzen tapezierte und vorgab, bei seinen Werken direkt von einem mittelalterlichen Kleriker inspiriert zu sein.627 Wie sehr sich aber Saties Erfassung und Verarbeitung des Wesenskern mittelalterlicher Musik von anderer „gotischer“ Musik jener Zeit unterscheidet, zeigt beispielsweise ein Blick auf Léon Boëllmanns Suite gothique oder die Symphonie gothique und Symphony romane von Charles-Marie Widor, deren „Mittelalterlichkeit“ sich auf alte Satzformen, wie das Menuett, oder Choralbearbeitung beschränkt. Mittelalter dient hier vor allem als Kolorit, als modische Kulisse einer irrationalen, dunklen, unheimlichen Welt, wie sie mit Erfolg von Meyerbeer und Verdi in Szene gesetzt wurde. Demgegenüber wird klar, dass Debussys Charakterisierung Saties, ein wirklicher « musicien médiéval » zu sein, niemandem so zukam wie ihm.628
627 « Il avait baptisé son nouveau logis : le Placard; il en avait tapissé les murs d’images moyenâgeuses, de croquis, de tableaux. Il s’y trouvait très bien. C’est là qu’il écrivit … les Ogives et les Gnosiennes. Il y commença même les Sonneries de la Rose Croix et le Prélude de la Porte héroique du Ciel »; de Latour: „Satie intime“, in: Comœdia, 5. August 1925. Zu Saties Inspiration s. Alfred Cortot: La musique française de piano, Bd. 3, Paris 19323, S. 237/238. Zum parodistischen Aspekt der Messe des Pauvres s. Andreas Mielke: Untersuchungen zur Alternatim-Orgelmesse (= Bochumer Arbeiten zur Musikwissenschaft, Werner Breig (Hg.) Bd. 2), Bd. 1, Kassel etc. 1996, S. 8. 628 Widmung auf einem Exemplar von Debussys Beaudelaire-Liedern vom 27. Oktober 1892: « Pour Erik Satie, musicien médiéval et doux, égaré dans ce siècle pour la joie de son bien amical Cl. A. Debussy »; Faksimile bei Templier 1932, Abb. 37.
6. SCHLUSSBEMERKUNG Die vorliegende Untersuchung hatte zum Ziel, den Einfluss der Rezeption mittelalterlicher Musik auf das kompositorische Schaffen in Frankreich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. Dazu war es notwendig, über die Beobachtung allgemeiner kulturgeschichtlicher Strömungen hinaus den Aufweis des Rezeptionsphänomens in der kompositorischen Struktur selbst zu erbringen und hierbei den Anteil des spezifisch Mittelalterlichen zu profilieren. Dass letztere Aufgabe mit einer stellenweise nicht unerheblichen Unschärfe einhergehen kann, liegt schlichtweg daran, dass Mittelalter und eine allgemeine Vorstellung von alter und ältester Musik im 19. Jahrhundert teilweise noch in Eins fallen. So wäre es töricht und zugleich unredlich, alle Rückbezüge auf ältere Musik speziell mit mittelalterlicher Musik gleichzusetzen und den Einfluss anderer älterer Musik, wie der Vokalpolyphonie der Renaissance oder der Barockoper für die Entwicklung französischer Musik im 19. Jahrhundert leugnen zu wollen. Hier ist also der Unterschied zwischen dem Epochenbegriff „Mittelalter“ im 19. Jahrhundert und dem der heutigen Musikwissenschaft, denen beiden eine gewisse Beliebigkeit unterstellt werden könnte1, zu beachten. Entscheidend ist aber, dass sich bei den untersuchten Komponisten eine bestimmte Vorstellung von Mittelalter ausmachen lässt, die sich von einer allgemeinen Begeisterung für Älteres abhebt. So erklärt sich Debussys Behandlung der Singstimme in Pelléas nicht allein durch die Tradition des Rezitativs in der französischen Barockoper oder eine allgemeine, diffuse Vorstellung von Psalmodie, sondern wird in ihrer Besonderheit hinsichtlich der Sprachbehandlung erst durch die zeitgenössischen Theorien über die rhythmischen Freiheiten und die symbiotische Beziehung zwischen Sprache und Musik der ursprünglichen Gestalt des Gregorianischen Chorals verständlich. Und die Bedeutung des Archaischen und Einfachen, wie sie in Form ästhetischer und kompositorischer Konzepte im Schaffen Faurés und Saties nachgewiesen werden kann, erschöpft sich, so sehr sie auch bei letzterem dem Skurrilen und der Überzeichnung zuneigt, nicht in einer bloßen Mittelaltermode, sondern speist sich aus zeitgenössischen Vorstellungen über den neu entdeckten Choral und die frühe Mehrstimmigkeit. Hier zeigt sich, dass bei der Vorstellung des Mittelalterlichen und bei der Konstruktion dessen, was als Mittelalter gilt, die zeitliche Entfernung eine entscheidende Rolle spielt. Gegenüber anderen Wendepunkten in der Musikgeschichte, steht im späteren 19. Jahrhundert, bedingt durch den Historismus, die Geschichte als etwas Anderes und Eigenständiges zur Verfügung und erlaubt so 1
Hierzu Reinhard Strohm: „Gibt es eine Epochenwende in der Musikgeschichte?“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 12 (2000), S. 229–236.
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6. Schlussbemerkung
den Blick auf eine weit entfernte Vergangenheit, die sich aber doch noch in Quellen greifen lässt. Welche Mechanismen allgemein bei solchen Wendepunkten wirksam werden und wie die jeweilige Neuorientierung aussieht, wäre eine interessante Fragestellung, der hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann. Die Qualität des Exotischen, die eine neue Art der Begegnung und die Entwicklung unbelasteter ästhetischer Positionen erlaubt, ruft die fast magische Anziehungskraft mittelalterlicher Musik hervor. Im Gegensatz zur geographisch bedingten, anregenden Fremdheit außereuropäischer Musik, wird der Choral erst durch seine Wiederentdeckung und die damit verbundenen Restaurationsbestrebungen zum Faszinosum. Choral und Psalmodie waren ja, wenn auch in verzerrter Form, dem 19. Jahrhundert durchaus vertraut, kompositorisch aber auch unattraktiv. Die Rolle von Solesmes und der französischen „Musikarchäologie“ ist darin zu sehen, zur Exotisierung von Choral und mittelalterlicher Musik geradezu beigetragen zu haben. Analog zur Ruinen-Begeisterung und von dieser inspiriert, tritt so die Musik des Mittelalters als Alternative zur zeitgenössischen Musik in den Blickwinkel. Voraussetzung für dieses Phänomen ist die Zerstörung, die letztendlich in der Französischen Revolution zu suchen ist, und die Möglichkeit des Wiederaufbaus und damit der Begegnung in neuer Unvertrautheit. In diesem Sinne ist der Einfluss mittelalterlicher Musik nicht nur das Ergebnis allgemeiner kulturgeschichtlicher Prämissen, dem die Komponisten sozusagen willkürlich erliegen, sondern er offenbart eine bewusste Entscheidung. Terminologisch wäre so statt von „Rückbesinnung“ vielleicht besser von einem „Rückgriff“ zu sprechen. Dies zeigt sich schon darin, dass die mittelalterliche Musik von den französischen Komponisten als befreiende Lösung aus der Umklammerung Wagnerscher Musik empfunden wird. Dass hierbei gleichwohl die theoretischen Konzepte und Legitimationsstrategien Wagners durchscheinen, ist dem Unterschied zwischen Theorieentwurf und kompositorischer Einlösung zuzuschreiben. Letzte Instanz sollen und müssen die Partituren bleiben.
7. ABKÜRZUNGVERZEICHNIS Abb. AMw AMZ Anm. Bd./Bde. bes. CSM Ders. Dies. Diss. DTÖ Ebda. f. ff. hg. Hg./Hgg. JAMS KmJb Lat. JbP Mf ML MQ Msch. NMZ o. J. ÖMZ PM s. S. SMZ Sp. v. vgl. VjMw z. B. ZIMG ZMw
Abbildung Archiv für Musikwissenschaft Allgemeine Musikalische Zeitung Anmerkung Band/Bände besonders Corpus Scriptorum de Musica Derselbe Dieselbe Dissertation Denkmäler der Tonkunst in Österreich Ebenda folio fortfolgende herausgegeben Herausgeber Journal of the American Musicological Society Kirchenmusikalisches Jahrbuch lateinisch Jahrbuch der Musikbibliothek Peters Musikforschung Music and Letters Musical Quarterly maschinenschriftlich Neue Zeitschrift für Musik ohne Jahr Österreichische Musikzeitung Paléographie musicale siehe Seite Schweizer Musikzeitung Spalte von vergleiche Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft zum Beispiel Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft Zeitschrift für Musikwissenschaft
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DERS.: La Cathédrale engloutie, in: Préludes (premier livre) [Lesure-WV 125/(117)], Édition Durand, Paris 1910. DUBOSCQ, Claude: Matines, Sarabandes et Galliardes (1923). DURUFLÉ, Maurice: Requiem, op. 9. FAURÉ, Gabriel: Ses mélodies. Œuvres complètes, Hidehico HAGIWARA (Hg.), 3 Bde., Tokyo 1991. DERS.: Requiem op. 48, pour soli, chœur et orchestre de chambre, version 1893, Jean-Michel NECTOUX, Roger DELAGE (Hgg.) (Musica Gallica), Paris 1994. DERS.: Requiem op. 48, pour soli, chœur et orchestre symphonique, version de concert 1900, JeanMichel NECTOUX (Hg.), Paris 1998. FUX, Johann Josef: Missa S. Caroli (Canonica), in: Messen (= DTÖ Jahrg. I/1, Bd. 1, Johannes Evangelist HABERT, Gustav Adolf GLOSSNER (Hgg.), Wien 1894, unveränderter Abdruck Graz 1959). GIGOUT, Eugène: 100 pièces brèves dans la tonalité du plain-chant, Paris 1888. DERS.: Album grégorien, Paris 1895. GOUNOD, Charles: Requiem (1893), Œuvre posthume. GUILMANT, Alexandre: L’organiste liturgiste, Paris 1884–1899. LISZT, Franz: Te Deum (1859), Edition Michael VON HINTZENSTERN, Stuttgart 1986. DERS.: Christus (1862–66), Edition Gábor DARVAS, London etc. 1972. DERS.: Via crucis (1879), Edition Thomas KOHLHASE, Stuttgart 1978. MESSIAEN, Olivier: Apparition de l’Eglise éternelle (1934). NIEDERMEYER, Louis: Accompagnement pour Orgue des principaux offices de l’Église selon le rite Romain ... Première partie: Graduel, seconde partie: Antiphonaire, Paris 1861. DERS.: Pièces pour orgue, Francois SABATIER, Nanon BERTRAND (Hgg.), Paris 1997. POTHIER, Dom Joseph: Cantus Mariales. Chants à la Vièrge Marie, recueillis, adaptés, composés par D. Joseph Pothier, Abbé de Saint-Wandrille, Saint-Wandrille 91950. REIHING, Franz Xaver: Cantionale Chori oder Gregorianische Kirchen-Gesänge zum Amte der heiligen Messe und allen damit in Verbindung stehenden Festlichkeiten des ganzen Kirchenjahres. Harmonisch für die Orgel bearbeitet von Franz Xaver Reihing Pfarrer, Gmünd 1855. SATIE, Erik: Socrate. Drame Symphonique en 3 Parties avec Voix, Éditions Max ESCHIG, Paris 1973. DERS.: 1866–1925: Piano music. Selections, Dover Publications, Toronto 1989. TOURNEMIRE, Charles: L’orgue mystique. 51 offices de l’année liturgique inspirés du chant grégorien et librement paraphrasés pour grand orgue, Paris 1927–36. TUNLEY, David: Romantic Song 1830–1870, Vol. 1: Early Romances by Bérat, Berlioz, Duchambe, Grisar, Meyerbeer, Monpou, Morel, Panseron, and Romagnesi. Selected songs of Louis Niedermeyer and Ernest Reyer, London 1994. VERDI, Guiseppe: Messa da Requiem (1874), Edition David ROSEN, Chicago, London, Mailand 1990. WIDOR, Charles-Marie: Symphonie gothique, op. 70. DERS.: Symphonie romane, op. 73. Édition Hamelle, Paris 1900.
9. REGISTER Personen und Institutionen Academy of Ancient music 25 Aiblinger, Johann Kaspar 34 Allgemeiner Caecilienverein 35 Anonymus IV 17, 25 Apollinaire, Guillaume 11, 157, 174, 175 Bach, Johann Sebastian 18, 28, 40, 44, 47, 91, 109, 135, 145 Baini, Guiseppe 32 Bartok, Béla 173 Baudelaire, Charles 56 Beethoven, Ludwig van 95, 116 Benedikt XIV. 20 Berlioz, Hector 62, 65, 88, 101 Besseler, Heinrich 9 Boccaccio, Giovanni 26 Boëllmann, Léon 176 Bois, Jules 166 Bordes, Charles 11, 47, 104, 108–112, 119, 120, 136, 153, 159 Bourgoult-Ducoudray, Louis-Albert 110, 173 Bruckner, Anton 89, 93, 94, 95, 103 Burney, Charles 19, 20, 25–27 Busoni, Ferruccio 13 Carraud, Gaston 127 Chanteurs de Saint-Gervais 104, 109, 111, 112, 119, 159 Charpentier, Marc-Antoine 66 Chastelain de Coucy 26, 41 Chateaubriand, François René 38, 40, 89 Chaucer, Geoffrey 26 Chausson, Ernest 143 Cherubini, Luigi 66 Choron, Alexandre-Étienne 11, 39, 41, 43, 44, 46–48, 110 Clément, Felix 162–164, 166, 167, 170 Cocteau, Jean 157, 174 Conservatoire (Paris) 11, 43, 44, 48, 89, 104, 109, 157, 173, 174
Conservatoire de musique et de chant religieux 45 Concerts Lamoureux 111 Contamine de Latour, José Patricio 174 Croizier, Xavier 45, 46 Danjou, Felix 39, 161 Dante Alighieri 26 d’Indy, Vincent 11, 47, 85, 104, 109, 110, 136, 159, 174 d’Ortigue, Joseph 47, 52, 55, 61, 62, 87, 90–92, 161 de Coussemaker, Emond 42, 163 de Crescimbeni, Giovanni Mario 24 de la Fage, Adrien 44 de la Moskowa, Prince Joseph Napoléon Ney 44–46 de Lagenais, F. 58 Debussy, Claude 12, 14, 104–109, 119, 120–122, 124–127, 129, 131–143, 145, 146, 149, 151–155, 162, 167, 176, 177 Desprez, Josquin 18 Dietsch, Louis 44 Drey, Johann Sebastian 36 Dubois, Théodore 51 Duboscq, Claude 171 Dukas, Paul 127, 145 Duruflé, Maurice 86 École Niedermeyer 44–48, 50, 63, 84, 87, 88, 162 École primaire de chant 43 École royale et spéciale de chant 43 Ecorcheville, Jules 57, 104 Emmanuel, Maurice 152 Ett, Caspar 34, 37 Faidit, Gaucelm 26 Fasch, Johann Friedrich 33 Fauré, Gabriel 12, 14, 47, 50, 63–74, 78–82, 84–89, 103, 177 Fétis, François-Joseph 34, 41, 42, 163 Fioravanti, Valentino 46 Florus, Lucius Annaeus 18
196 Forkel, Johann Nicolaus 19, 20, 27, 28 Fortoul, Hippolyte 46 Franck, César 51 Fux, Johann Josef 19, 32 Gastoué, Amadée 125 Gerbert, Martin 19, 20–26, 28 Gibbs, Becket 120 Gigout, Eugène 47, 85 Glarean, Heinrich 18, 19 Gluck, Christoph Willibald 153 Gounod, Charles 51, 66 Graun, Carl Heinrich 154 Gregor der Große 20, 21 Guéranger, Prosper 12, 38, 40, 41, 48, 113, 114 Guilmant, Alexandre 11, 47, 85, 104, 110 Haberl, Franz Xaver 35, 37, 90 Händel, Georg Friedrich 44, 55 Hahn, Reynaldo 152 Hawkins, John 19, 20, 23–27 Haydn, Joseph 36 Haydn, Michael 23 Heinse, Wilhelm 32 Herder, Johann Gottfried 31, 32 Heulhard, A. 171 Hindemith, Paul 13, 56 Hoffmann, E. T. A. 31 Hucbald von Saint Amand 22 Hugo, Victor 38, 113, 157, 160 Institution royale de musique classique 44 Institution royale de musique religieuse 43 Jahn, Otto 30 Karl VI. 19 Kiesewetter, Raphael Georg 30, 34 Lambillotte, Louis 39 Landini, Francesco 26 Landormy, Paul 170, 171 Lasso, Orlando di 91 Lefèvre, Gustave 47 Leonin 17, 25 Liszt, Franz 89–93, 98, 99, 101–103 Machaut, Guillaume de 26, 41 Maeterlinck, Maurice 104, 105, 127, 131, 132, 137–139, 144–146 maîtrises 11, 41, 43, 45, 47, 48, 67, 90
9. Register Marpurg, Friedrich Wilhelm 154 Martini, Giovanni Battista 24 Massenet, Jules 106 Mattheson, Johann 154 Mérimée, Prosper 113, 172 Messager, André 47 Mettenleiter, Johann Georg 61, 90, 93, 94, 99 Meyerbeer, Giacomo 176 Mocquereau, Dom André 41, 110, 114, 115–120, 132–136, 170 Möhler, Johann Adam 36 Monteverdi, Claudio 17 Mozart, Wolfgang Amadeus 36 Nicou-Choron, Stéphane 44 Niedermeyer, Louis 11, 45–48, 50–55, 59, 61–63, 66, 85–88, 90–94, 99, 110, 162, 163, 170 Nietzsche, Friedrich 170 Nisard, Théodore 161 Nivers, Gabriel Guillaume 24 Novalis 31 Odero, Florencio 126 Opéra (Paris) 43, 44, 46, 106 Orff, Carl 13 Palestrina, Giovanni Pierluigi 17, 32–34, 37, 44, 47, 91, 94, 103, 109, 110, 112 Pärt, Arvo 9 Péladan, Joseph 165, 166, 175 Pepusch, Christopher 25 Perne, François-Louis 41 Perotin 17, 25 Petri, Johann Samuel 19 Pius X. 112 Pothier, Dom Joseph 109, 110, 114–117, 133–136 Praetorius, Michael 18 Proske, Carl 35 Proust, Marcel 144, 152 Pustet 37, 114, 115 Rameau, Jean-Philippe 58, 59, 108, 112, 119, 153, 154 Raugel, Felix 134 Ravel, Maurice 121 Rebel, Jean-Ferry 55 Reichardt , Johann Friedrich 33 Reihing, Franz Xaver 60–63, 103 Rolland, Romain 105, 110, 154
9. Register Roland-Manuel 55, 110 Rousseau, Jean-Jacques 155, 161 Roussel, Albert 110 Sailer, Johann Michael 34 Saint-Saëns, Camille 47, 51, 54, 87, 88, 106 Satie, Conrad 160 Satie, Erik 12, 14, 107, 110, 121, 127, 141, 156, 157, 159, 160, 162–171, 173–177 Schlecht, Raymund 37 Schneider, Ludwig 63 Schola Cantorum (Paris) 11, 47, 48, 84, 85, 89, 104, 108–112, 119, 125, 136, 153, 159, 174 Schönberg, Arnold 10, 13, 56, 169, 175 Schubiger, Anselm 37 Schumann, Robert 18 Schütz, Heinrich 17, 40 Solesmes 11, 12, 37, 39, 40, 48, 59, 84, 85, 87, 90, 91, 97, 104, 108–111,113–120, 132–134, 136, 152, 157, 159, 170, 173, 178 Souday, Paul 126 Stift St. Blasien 22 Strauss, Richard 154, 155 Strawinsky, Igor 13 Telemann, Georg Phillip 154 Thibaut, Anton Friedrich Justus 33 Thibaut de Champagne/de Navarre 24, 26 Tinctoris, Johannes 18 Tournemire, Charles 85 Varèse, Edgar 110 Verdi, Guiseppe 11, 14, 65, 89, 95–99, 103, 176 Vinot, Gustave 162 Viollet-le-Duc, Eugène-Emmanuel 114, 160, 172 von Arezzo, Guido 21, 24 von Arx, Ildefons 37 von Böcklin, Franz Friedrich Siegmund August 22 von Ficker, Rudolf 169 von Humboldt, Wilhelm 30 von Ranke, Leopold 10, 30 von Schafhäutl, Karl Emil 37 von Schlegel, August Wilhelm 34, 36 von Winterfeld, Carl 33 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 31
197
Wagner, Richard 10, 12, 14, 55–57, 64, 88, 104, 106, 107, 108, 121, 124, 127, 133, 135, 139, 142, 143, 146, 151, 152, 154, 155, 157, 166, 171, 178 Walther, Johann Ludolf 21, 24, 26 Widor, Charles 85, 176 Witt, Franz Xaver 35, 37, 90 Zakone, Constant 58 Zelter, Carl Friedrich 33
Werke À la recherche du temps perdu (Proust) 144 Allgemeine Geschichte der Musik (Forkel) 27 Anleitung zur praktischen Musik (Petri) 19 Annus qui (Benedikt XIV.) 20 Commentari intorno alla storia della volgar poesia (Crescimbeni) 24 De cantu et musica sacra (Gerbert) 19, 20, 22 De l’état et de l’avenir du chant ecclesiastique (Danjou) 39 Der Vollkommene Capellmeister (Mattheson) 154 Dictionnaire de musique (Rousseau) 161 Dictionnaire historique des Musiciens (Choron) 41 Dictionnaire liturgique, historique et théorique de plain-chant et de musique de l’église au Moyen-Age et dans les temps modernes (d’Ortigue) 161 Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVI siècle (Viollet-leDuc) 160 Dissertation sur le chant gregorien (Nivers) 24 Dodekachordon (Glarean) 18 General History of Music (Burney) 25 General History of the Science and Practice of Music (Hawkins) 23 Génie du Christianisme (Chateaubriand) 38, 40 Geschichte der europäisch-abendländischen oder unsrer heutigen Musik (Kiesewetter) 30
198
9. Register
Gradus ad Parnassum (Fux) 32 Histoire générale de la musique religieuse (Clément) 162
Christus (Liszt) 92, 98 Danseuse (Fauré) 82 Dante-Symphonie (Liszt) 101
Institutions liturgiques (Guéranger) 38, 114
Embryons dessechés (Satie) 167 Enchiridion chorale (Mettenleitner) 61, 99
Journal de musique religieuse et classique 44 La musique à l’église (d’Ortigue) 62 Le Nombre musical grégorien ou rythmique grégorienne (Mocquereau) 118, 134 Les mélodies grégoriennes d’après la tradition (Pothier) 114, 133 Lexicon diplomaticum 21, 26 Memorie storico-critiche (Baini) 32 Monsieur Croche (Debussy) 106 Motu proprio (Pius X.) 112, 136 Musikalisches Kunstmagazin (Reichardt) 33 Notre Dame (Hugo) 38, 113, 157 Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum (Gerbert) 22, 23, 42 Société de musique vocale, religieuse et classique 44, 45 Traité théorique et pratique de l’accompagnement du plain-chant (Niedermeyer) 51, 52, 61, 62, 86, 87, 90, 99, 162 Tra le sollicitudini (Pius X.) 112 Tribune de St. Gervais 48, 110, 111 Ueber Reinheit der Tonkunst (Thibaut) 33 Antiphonaire (Niedermeyer) 62 Au cimetière (Fauré) 72, 82 Ave Regina coelorum (Bruckner) 94, 95 Boris Godonow (Mussorgski) 144 Editio Medicea 37, 40, 114 Editio Neo-Medicea 37 Editio Vaticana 40, 115 Cantica sacra (Ett) 37 Cantionale Chori (Reihing) 60 Cantus Mariales (Pothier) 135 Castor et Pollux (Rameau) 108, 119, 154
Falstaff (Verdi) 97 Fost chausa es (Gaucelm Faidit) 26 Geistliche Chormusik (Schütz) 17 Graduel (Niedermeyer) 99, 162 Grande messe des morts (Berlioz) 74 Je me cuidoie partir (Thibaut de Champagne) 24 La Porte Héroïque du Ciel (Satie) 166, 169 La Cathédrale engloutie (Debussy) 167 Le fils des étoiles (Satie) 165, 166, 167, 170 Le Ramier (Fauré) 81 Les Eléments (Rebel) 55 Legende von der Heiligen Elisabeth (Liszt ) 92 L’enfance du Christ (Berlioz) 101 Liber Gradualis (Pothier) 114, 135 Liber Usualis 115, 135 Lydia (Fauré) 81 Kammersymphonie op. 9 (Schönberg) 169 Männermesse (Liszt) 92 Magnus liber 17 Messe des Pauvres (Satie) 164, 169, 174, 175 Missa choralis (Liszt) 92 Missa in illo tempore (Monteverdi) 17 Missa canonica (Fux) 19 Missa pro Quadragesima secundum cantum choralem (Michael Haydn) 23 Musica Divina (Proske) 35 Ode for St. Cecilia’s day (Händel) 55 Ogives (Satie) 157–163, 167, 169, 170, 173 Os iusti (Bruckner) 93 Paléographie musicale 41, 114–118 Parade (Satie) 175 Pêcheurs de Perles 51 Pelléas et Mélisande (Débussy) 104, 107, 108, 119–122, 126, 131, 132, 134, 136–140, 142–145, 152–155, 177
9. Register
199
Pièces grégoriennes (Gigout) 85
Notenbeispiele
Requiem (Fauré) 63, 65, 67, 81, 122 Requiem c-Moll, d-Moll (Cherubini) 66 Requiem (Gounod) 66 Requiem (Duruflé) 86 Requiem (Liszt) 92 Requiem (Verdi) 95 Rheingold (Wagner) 122
L. Niedermeyer: Vexilla regis 62 F. X. Reihing: Vexilla regis 62 G. Fauré: Requiem op. 48, Introït, T. 1–8 69 G. Fauré: Requiem op. 48, Introït, T. 12–17 70 G. Fauré: Requiem op. 48, Introït, T. 20–23 70 G. Fauré, Requiem op. 48, Libera me, T. 3–17 71 G. Fauré: Requiem op. 48, Introït, T. 42–45 72 Introitus Requiem aeternam: Vers 72 G. Fauré: Au cimetière, op. 51-2 [1888], T. 1–10 72–73 G. Fauré: Requiem op. 48, Offertoire, T. 58–62 73 G. Fauré: Requiem op. 48, Sanctus, T. 1–8 75 G. Fauré: Requiem op. 48, Sanctus, T. 25–32 76 G. Fauré: Requiem op. 48, Sanctus, T. 57–61 77 G. Fauré: Requiem op. 48, Pie Jesu, T. 1–9 78 G. Fauré: Requiem op. 48, In Paradisum, T. 7–16 79 G. Fauré: Requiem op. 48, In Paradisum, T. 31–37 79 G. Fauré: Requiem op. 48, In Paradisum, T. 57–61 80 G. Fauré: Le Ramier op. 87-2, T. 1–3 82 G. Fauré: Danseuse, op. 109,4, T. 1–10 82 G. Fauré: Danseuse, op. 109,4, T. 12–17 83 G. Fauré: Danseuse, op. 109,4, T. 18–24 83 G. Fauré: Danseuse, op. 109,4, T. 57–64 84 F. Liszt: Christus, I. Teil: Beginn des 2. Satzes 93 A. Bruckner: Os iusti (Schluss) 94 G. Verdi, Requiem, Agnus Dei, T. 1–13 96 G. Verdi: Requiem, Agnus Dei, T. 39–45 97 F. Liszt: Christus, Teil I/5, T. 224–240 98–99 F. Liszt: Te Deum, T. 1–14 100 Louis Niedermeyer: Te deum (Graduel, Paris 1861, 4) 100 F. Liszt: Dante-Symphonie, II. Purgatorio, T. 13–16 nach Ziffer O 101 F. Liszt: Salve regina, T. 1–18 102 F. Liszt: Vexilla regis, T. 1–22 102
Salome (Strauss) 154 Salve Regina (Liszt) 101 Schöpfung (Haydn) 56 Socrate (Satie) 141 Sonneries de la Rose+Croix (Satie) 170, 175 Suite gothique (Boëllmann) 176 Sumer is icumen in 25 Symphonie gothique (Widor) 176 Symphonie romane (Widor) 176 Te Deum (Liszt) 99, 102 Thaïs (Massenet) 51 Tristan (Wagner) 55, 56, 143 Tropus Gregorius praesul 21 Tropus Sanctissimus namque 21 Trovatore (Verdi) 97 Vesperale (Reihing) 62, 103 Vexilla regis (Liszt) 102, 103 Vexilla regis (Niedermeyer) 62 Via Crucis (Liszt) 102 Zoroastre (Rameau) 154
Handschriften CH-SGs 359 (Cantatorium) 39 CH-SGs 390/391 (Codex Hartker) 21 F-MOf H 159 (Codex Montpellier 159) 39 GB-Lbm Add. 28550 (RobertsbridgeCodex) 27 GB-Lbm Ms. Cotton Tiberius B. IX 25 GB-Lbm Ms. Harley 978 27 GB-Ob Ms. Douce 139 27 GB-Ob 775 (2558, Winchester-Tropar) 25 I-VEcap 107 21
200 F. X. Reihing: Vexilla regis (Vesperale 1858) 103 C. Debussy: Pelléas, T. 1–7 123 C. Debussy: Pelléas, T. 8–12 124 C. Debussy: Pelléas [KA], S. 51/52 125 C. Debussy: Pelléas [KA], S. 79/80 125 C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 1–14 nach Ziffer 22 128 C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 5–24 nach Ziffer 22 129 C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 1–3 nach Ziffer 23 130 C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 4–7 nach Ziffer 23 130 C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 1–9 nach Ziffer 24 130 C. Debussy: Pelléas, 1. Akt, Takte 4–7 nach Ziffer 25 131 C. Debussy: Pelléas [KA], S. 116 137 C. Debussy: Pelléas, 4. Akt, Takte 1–10 nach Ziffer 44 140
9. Register C. Debussy: Pelléas, 4. Akt, Takte 1–5 nach Ziffer 47 140 C. Debussy: Pelléas, 4. Akt, Takte 13–18 nach Ziffer 2 140 C. Debussy: Pelléas [KA], S. 281 141 C. Debussy: Pelléas, 4. Akt, Takte 5–9 nach Ziffer 42 141 E. Satie: Socrate, III. Mort de Socrate, T. 278–287 142 C. Debussy, Pelléas, 1. Akt, Takte 4–11 nach Ziffer 3 148 C. Debussy, Pelléas, 1. Akt, Takte 4–9 nach Ziffer 42 149–151 E. Satie: Ogive I, II, IV 157–158 L. Niedemeyer: Benedicimus Deum 164 E. Satie: Le fils des étoiles 165 E. Satie: Embryons dessechés, II: d’Edriophthalma 167 C. Debussy: La Cathédrale engloutie, T. 1–3, 26-35 168
A RC H I V F Ü R M U S I K W I S S E N S C H A F T
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BEIHEFTE
Herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck. Franz Steiner Verlag
ISSN 0570–6769
19. Elmar Budde Anton Weberns Lieder op. 3 Untersuchungen zur frühen Atonalität bei Webern 1971. X, 122 S. mit zahlr. Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-00224-3 10./11. Erich Reimer Johannes de Garlandia: De mensurabili musica Kritische Edition mit Kommentar und Interpretation der Notationslehre Teil I: Quellenuntersuchungen und Edition Teil II: Kommentar und Interpretation der Notationslehre 1972. 2 Bde. mit zus. 178 S. mit zahlr. Notenbeisp. und 3 Taf., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-00225-1 12. Hans Heinrich Eggebrecht Versuch über die Wiener Klassik Die Tanzszene in Mozarts Don Giovanni 1972. IV, 61 S. mit 16 Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-00226-x 13. Klaus-Jürgen Sachs Der Contrapunctus im 14. und 15. Jahrhundert Untersuchungen zum Terminus, zur Lehre und zu den Quellen 1974. VI, 234 S. mit 69 Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-01952-9 14. Peter Andraschke Gustav Mahlers IX. Symphonie Kompositionsprozeß und Analyse 1976. VIII, 95 S. mit 8 Notenbeisp. und 5 Abb. auf Kunstdrucktaf., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-02114-0 15. Albrecht Riethmüller Die Musik als Abbild der Realität Zur dialektischen Widerspiegelungstheorie in der Ästhetik 1976. X, 131 S., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-02153-1
16. Wolfgang Ruf Die Rezeption von Mozarts „Le Nozze di Figaro“ bei den Zeitgenossen 1977. VIII, 148 S. mit 21 Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-02408-5 17. Christian Möllers Reihentechnik und musikalische Gestalt bei Arnold Schönberg Eine Untersuchung zum III. Streichquartett op. 30 1977. VIII, 168 S. mit 45 Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-02466-2 18. Peter Faltin Phänomenologie der musikalischen Form Eine experimentalpsychologische Untersuchung zur Wahrnehmung des musikalischen Materials und der musikalischen Syntax 1979. XIII, 245 S. mit zahlr. Notenbeisp., 37 Abb. und 29 Tab., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-02742-4 19. Angelika Abel Die Zwölftontechnik Weberns und Goethes Methodik der Farbenlehre Zur Kompositionstheorie und Ästhetik der Neuen Wiener Schule 1982. VII, 293 S. mit ca. 150 Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-03544-3 20. Erik Fischer Zur Problematik der Opernstruktur Das künstlerische System und seine Krisis im 20. Jahrhundert 1982. VII, 194 S. mit 62 Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-03548-6 21. Willi Apel Die italienische Violinmusik im 17. Jahrhundert 1983. X, 246 S. mit 202 Notenbeisp. und 1 Abb., Ln. mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-515-03786-1 22. Renate Groth Die französische Kompositionslehre des 19. Jahrhunderts 1983. VIII, 252 S. mit zahlr. Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-03746-2 23. Werner Breig / Reinhold Brinkmann / Elmar Budde (Hg.) Analysen Beiträge zu einer Problemgeschichte des Komponierens. Festschrift für Hans Heinrich Eggebrecht zum 65. Geburtstag 1984. XVI, 444 S. mit zahlr. Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-03662-8 24. Martin Zenck Die Bach-Rezeption des späten Beethoven Zum Verhältnis von Musikhistoriographie und Rezeptionsgeschichtsschreibung der Klassik 1986. IX, 315 S. mit zahlr. Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-03912-0 25. Herbert Schneider Jean Philippe Rameaus letzter Musiktraktat Vérités également ignorées et interessantes tirées du sein de la Nature (1764). Kritische Ausgabe und Kommentar 1986. VII, 110 S., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-04502-3 26. Thomas Röder Auf dem Weg zur BrucknerSymphonie Untersuchungen zu den ersten beiden Fassungen von Anton Bruckners Dritter Symphonie 1987. 232 S. mit zahlr. Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-04560-2 27. Matthias Brzoska Franz Schrekers Oper „Der Schatzgräber“ 1988. 209 S. mit zahlr. Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-04850-2 28. Andreas Ballstaedt / Tobias Widmaier Salonmusik Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis 1989. XIV, 458 S. mit 22 Notenbeisp., 69 Abb. und 9 Tab., geb. ISBN 978-3-515-04936-3
29. Jacob de Ruiter Der Charakterbegriff in der Musik Studien zur deutschen Ästhetik der Instrumentalmusik 1740–1850 1989. 314 S., geb. ISBN 978-3-515-05156-2 30. Ruth E. Müller Erzählte Töne Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert 1989. 177 S., geb. ISBN 978-3-515-05427-8 31. Michael Maier Jacques Handschins „Toncharakter“ Zu den Bedingungen seiner Entstehung 1991. 237 S., geb. ISBN 978-3-515-05415-4 32. Christoph von Blumröder Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens 1993. IX, 193 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-05696-3 33. Albrecht von Massow Halbwelt, Kultur und Natur in Alban Bergs „Lulu“ 1992. 281 S. mit 91 Notenbeisp. und 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-06010-3 34. Christoph Falkenroth Die „Musica speculativa“ des Johannes de Muris Kommentar zur Überlieferung und Kritische Edition 1992. V, 320 S., geb. ISBN 978-3-515-06005-7 35. Christian Berger Hexachord, Mensur und Textstruktur Studien zum französischen Lied des 14. Jahrhunderts 1992. 305 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-06097-9 36. Jörn Peter Hiekel Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter 1995. 441 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-06492-3 37. Rafael Köhler Natur und Geist Energetische Form in der Musiktheorie 1996. IV, 260 S., geb. ISBN 978-3-515-06818-X 38. Gisela Nauck Musik im Raum –
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Raum in der Musik Ein Beitrag zur Geschichte der seriellen Musik 1997. 264 S. mit 14 Notenbeisp. und 27 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07000-1 Wolfgang Sandberger Das Bach-Bild Philipp Spittas Ein Beitrag zur Geschichte der BachRezeption im 19. Jahrhundert 1997. 323 S., geb. ISBN 978-3-515-07008-7 Andreas Jacob Studien zu Kompositionsart und Kompositionsbegriff in Bachs Klavierübungen 1997. 306 S. mit 41 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07105-9 Peter Revers Das Fremde und das Vertraute Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption 1997. 335 S., geb. ISBN 978-3-515-07133-4 Lydia Jeschke Prometeo Geschichtskonzeptionen in Luigi Nonos Hörtragödie 1997. 287 S. mit 41 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07157-1 Thomas Eickhoff Politische Dimensionen einer Komponisten-Biographie im 20. Jahrhundert Gottfried von Einem 1998. 360 S. mit 1 Frontispiz und 4 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07169-5 Dieter Torkewitz Das älteste Dokument zur Entstehung der abendländischen Mehrstimmigkeit Eine Handschrift aus Werden an der Ruhr: Das Düsseldorfer Fragment 1999. 131 S. und 8 Farbtaf., geb. ISBN 978-3-515-07407-4 Albrecht Riethmüller (Hg.) Bruckner-Probleme Internationales Kolloquium vom 7.–9. Oktober 1996 in Berlin 1999. 277 S. mit 4 Abb. und 48 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07496-1 Hans-Joachim Hinrichsen Musikalische Interpretation
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Hans von Bülow 1999. 562 S. mit 70 Notenbeisp. und 10 Taf., geb. ISBN 978-3-515-07514-3 Frank Hentschel Sinnlichkeit und Vernunft in der mittelalterlichen Musiktheorie Strategien der Konsonanzwertung und der Gegenstand der musica sonora um 1300 2000. 368 S., geb. ISBN 978-3-515-07716-2 Hartmut Hein Beethovens Klavierkonzerte Gattungsnorm und individuelle Konzeption 2001. 432 S. mit 70 Notenbeisp. und 47 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07764-2 Emmanuela Kohlhaas Musik und Sprache im Gregorianischen Gesang 2001. 381 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07876-2 Christian Thorau Semantisierte Sinnlichkeit Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners 2003. 296 S. mit zahlr. Notenbeisp. und Abb., geb. ISBN 978-3-515-07942-4 Christian Utz Neue Musik und Interkulturalität Von John Cage bis Tan Dun 2002. 533 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07964-5 Michael Klaper Die Musikgeschichte der Abtei Reichenau im 10. und 11. Jahrhundert Ein Versuch 2003. 323 S. und 19 Taf., geb. ISBN 978-3-515-08212-3 Oliver Vogel Der romantische Weg im Frühwerk von Hector Berlioz 2003. 385 S. mit 102 Notenbeisp. und 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08336-7 Michael Custodis Die soziale Isolation der neuen Musik Zum Kölner Musikleben nach 1945 2004. 256 S., geb. ISBN 978-3-515-08375-8 Marcus Chr. Lippe Rossinis opere serie Zur musikalisch-dramatischen Konzeption
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2005. 369 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-08586-6 Federico Celestini Die Unordnung der Dinge Das musikalische Groteske in der Wiener Moderne (1885–1914) 2006. 294 S. mit 86 Notenbeisp. und 9 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08712-5 Arnold Jacobshagen Opera semiseria Gattungskonvergenz und Kulturtransfer im Musiktheater 2005. 319 S., geb. ISBN 978-3-515-08701-x Arne Stollberg Ohr und Auge – Klang und Form Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker 2006. 307 S. mit 27 Notenbeisp. und 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08868-7 Michael Fend Cherubinis Pariser Opern (1788–1803) 2007. 408 S. mit 2 Notenbeisp. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08906-7 Gregor Herzfeld Zeit als Prozess und Epiphanie in der experimentellen amerikanischen Musik Charles Ives bis La Monte Young 2007. 365 S. mit 60 Notenbeisp. und 13 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09033-9 Ivana Rentsch Anklänge an die Avantgarde Bohuslav Martinůs Opern der Zwischenkriegszeit 2007. 289 S. mit 63 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-08960-9 Frank Hentschel Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik 2007. 277 S. mit 6 Notenbeisp. und 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09109-1 Simon Obert Musikalische Kürze zu Beginn
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des 20. Jahrhunderts 2008. 307 S. mit 37 Notenbeisp. und 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09153-4 Isabel Kraft Einstimmigkeit um 1500 Der Chansonnier Paris, BnF f. fr. 12744 2009. 348 S. mit zahlr. Notenbeisp., 71 Abb. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08391-1 Frédéric Döhl „… that old barbershop sound“ Die Entstehung einer Tradition amerikanischer A-cappella-Musik 2009. 294 S. mit 46 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09354-5 Ulrich Linke Der französische Liederzyklus von 1866 bis 1914 Entwicklungen und Strukturen 2010. 311 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09679-9 Irene Kletschke Klangbilder Walt Disneys „Fantasia“ (1940) 2011. 205 S., geb. ISBN 978-3-515-09828-1 Rebecca Wolf Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat Ein musikalisches Experiment um 1810 2011. 242 S. mit 33 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09381-1 Kordula Knaus Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber Cross-gender Casting in der Oper 1600–1800 2011. 261 S. mit 5 Abb. und 34 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09908-0 Christiane Wiesenfeldt Majestas Mariae Studien zu marianischen Choralordinarien des 16. Jahrhunderts 2012. 306 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-10149-3 Tihomir Popovic´ Mäzene – Manuskripte – Modi Untersuchungen zu „My Ladye Nevells Booke“ 2012. 269 S., geb. ISBN 978-3-515-10214-8
In diesem Band zeigt Stefan Morent den Einfluss der Rezeption mittelalterlicher Musik auf das kompositorische Schaffen in Frankreich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem bei der jüngeren Komponistengeneration um Gabriel Fauré, Claude Debussy und Erik Satie. Er nimmt sich damit des forschungsgeschichtlichen Desiderats nach einer Aufarbeitung der Dialektik von Progressive und Retrospektive in der Kompositionsgeschichte in Frankreich im 19. Jahrhundert an. Methodisch geht der Autor über die Beobachtung allgemeiner kulturgeschichtlicher Strömungen hinaus, indem er Rezep-
tionsphänomene in der kompositorischen Struktur selbst belegt und den Anteil des spezifisch Mittelalterlichen profiliert. Neben der Analyse des musikästhetischen und musiktheoretischen Diskurses steht der Nachweis der Auswirkungen auf die Kompositionsgeschichte anhand ausgewählter Werke im Mittelpunkt der Arbeit. Geklärt wird auch, welche Rolle die Institutionen zur Vermittlung des neuerwachten Interesses an mittelalterlicher Musik spielen – wie das Kloster Solesmes, die Ecole Niedermeyer und die Schola Cantorum in Paris.
www.steiner-verlag.de
ISBN 978-3-515-10294-0