Das Leben denken: Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch 9783495817575, 9783495489260

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Das Leben denken: Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch
 9783495817575, 9783495489260

Table of contents :
Inhalt
Pascal Delhom und Annette Hilt: Einleitung: Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch
Das Leben denken – Die Ordnung der Diskurse
Thomas Ebke: »Affektives Apriori«
1. Einleitung
2. Der »leuchtende Teil« der Differenz: Das »affektive Apriori« bei Deleuze
3. »Unmittelbarer Erlebnisverkehr mit der Welt selbst«: Das »affektive Apriori« bei Scheler
Literatur
Joachim Fischer: Vital turn
Einführung
I. Parallelparadigmen
1. Bergson: Schöpferische Evolution
2. Plessner: Stufen des Organischen und der Mensch
II. Paradigmatische Bewährung der Paradigmen bei Bergson und Plessner
1. Bergson: Das Lachen
2. Plessner: Lachen und Weinen
III. Vital turn
1. Differenz Bergson – Plessner
2. »Vital turn« durch Bergson und Plessner
Literatur
Historische Perspektiven
Marc Rölli: Idee des ganzen Menschen
I.
II.
III.
Literatur
Kerstin Andermann: Anthropologie und Kritik
1. Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
2. Anthropologie und Kritik
3. Empirisch-transzendentale Verdoppelung
4. Endlichkeit und Unendlichkeit
5. Grenzen der philosophischen Anthropologie
Literatur
Gérard Raulet: Lebens- oder Geschichtsphilosophie?
1.
2.
3.
Literatur
Denker und Rezeptionswege
Jean-Jacques Wunenburger: Le rythme de la vie
1. Les deux versants de l’esprit : l’activité scientifique et la vie rêveuse.
1.1. La vie de l’esprit scientifique
1.2. La vie de l’imagination rêveuse et poétique
2. Le chiasme épistémologie des deux vies
3. Les racines spatio-temporelles de la vie de l’esprit
Litérature
Heike Delitz: Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken: eine ›Lebenssoziologie‹
1. Negative Effekte: Abstoßungen von Bergson in der französischen Schule der Soziologie
2. Zwischenschritt: Der Bruch mit Bergson und die Neulektüren
3. Bergson: Philosophie der Differenz, Philosophie der Immanenz, Neuer Vitalismus
4. Positive Effekte: Übernahmen dieser Philosophie in Konzepte des Sozialen
Literatur
Stefania Achella: Was ist der Mensch?
1. Die Frage nach dem Menschsein: Jaspers’ Kritik an der philosophischen Anthropologie
2. Die »idealistische« Struktur menschlicher Erkenntnis
3. Die offene Natur des Menschen
Literatur
Diskursfelder
Birgit Stammberger: Der Körper im Denken der Maschine
1. Jenseits des Körper-Maschine-Dualismus?
2. Die transhumanistische Vision der Abschaffung und Neuschöpfung des Menschen
3. Metaphern der Aneignung, Verdrängung und Eliminierung: Philosophische Anthropologie und psychoanalytische Verteidigungsrhetoriken
4. Fremdheit, Maschinenparadigma und die Historizität des Wissens
5. Eine »Biophilosophie« des biologischen Wissens
6. Posthumanistische Interventionen und historische Epistemologie
Literatur
Christina Schües: Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive: ein transhumanes Paradigma
1. Transhumanes Paradigma, conditio humana und imaginäre Beziehungen
2. Leben als gelebtes Leben und Leben entzieht sich
3. Verdammt zu Sinn und Leben als Entzugsphänomen
4. Leben in generativer Perspektive und generative Phänomenologie
5. Gespanntheit zwischen Ego, Leib und Welt. Die Fremdheit des eigenen Lebens
Phase -2. Normalität: Mein Herz fühle ich oft gar nicht. Aber ich kann meine Hand auf die Brust legen und merken, dass es klopft.
Phase -1. Vor der Transplantation: Das ist nicht normal: Mein Herz schmerzt und funktioniert nicht mehr.
5. »Leben« weitergegeben
Stunde + - 0. Das alte Herz wird explantiert und entsorgt; ein neues altes Herz wird eingesetzt.
Phase +1. Die Herztransplantation hat stattgefunden und das »eigene Leben« wird fortgesetzt. Aber wie?
(a) Das »Weiterleben«
(b) Modi der leiblichen Fremderfahrung und der Zeit
(c) Weiterleben in neuer »Verwandtschaft«
Phase +2: Langfristige Perspektive: Das fremde Herz des Anderen bleibt ›fremd‹
Literatur
Roberto Esposito: Biologisches Leben und politisches Leben
1.
2.
3.
4.
5.
Literatur
Über die Autorinnen und Autoren

Citation preview

Pascal Delhom Annette Hilt (Hg.)

Das Leben denken Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817575

.

B

Pascal Delhom Annette Hilt (Hg.) Das Leben denken

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Pascal Delhom Annette Hilt (Hg.)

Das Leben denken Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Pascal Delhom / Annette Hilt (Eds.) Thinking Life Philosophical Anthropology and Philosophy of Life in German-French Dialogue In the 20th century the concept of life became associated with the disenchantment of the great ideals of reason and the history of progress. Today we rather associate »life« with the crucial idea of vulnerability or with the dream of technological improvement of life. Running parallel to the technological developments of the Life Sciences, life as a concept has entered various areas of philosophical thought. Life today is foundational for philosophical anthropology, it serves as a reference object of biopolitics, as an object and measure for bioethics, and, last but not least, as the highest value of an ethics of responsibility.

The Editors: Dr Pascal Delhom is a senior lecturer at the Philosophy Department of the Europa-Universität Flensburg. Dr Annette Hilt is a senior lecturer at the Philosophy Department of Johannes-Gutenberg-University of Mainz. She is also a senior lecturer at the »International Eugen-Fink-Research-Centre of Phenomenological Anthropology and Social Philosophy« in Mainz.

https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Pascal Delhom / Annette Hilt (Hg.) Das Leben denken Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch Der Begriff des Lebens ist im 20. Jahrhundert verbunden mit der Entzauberung der großen Ideale der Vernunft und der Geschichte als Fortschritt, heute verbinden wir ihn allerdings mehr mit einer akuten Idee der Verletzlichkeit oder mit dem Traum der technologischen Verbesserung des Lebens. Parallel zu den technologischen Entwicklungen innerhalb der Lebenswissenschaften hat das Leben längst in verschiedene Bereiche des philosophischen Denkens Einzug gefunden, als Ausgangspunkt für eine philosophische Anthropologie, als Bezugsobjekt der Biopolitik, als Objekt und Maß der Bioethik, schließlich als oberster Wert einer Verantwortungsethik.

Die Herausgeber: Dr. Pascal Delhom ist Akademischer Rat am philosophischen Seminar der Europa-Universität Flensburg. Dr. Annette Hilt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz sowie an der dortigen ›Internationalen Eugen Fink-Forschungsstelle für phänomenologische Anthropologie und Sozialphilosophie‹.

https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48926-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81757-5

https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Inhalt

Pascal Delhom und Annette Hilt Einleitung: Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch . . . . . . . . . . . . . .

7

Das Leben denken – Die Ordnung der Diskurse Thomas Ebke »Affektives Apriori«. Zu einer Parallelaktion von Scheler und Deleuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Joachim Fischer Vital turn. Lebensphilosophie und Philosophische Anthropologie als moderne Parallelparadigmen: Bergson und Plessner . . . . .

50

Historische Perspektiven Marc Rölli Idee des ganzen Menschen. Bemerkungen zum deutschsprachigen Anthropologiediskurs im 18. und frühen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Kerstin Andermann Anthropologie und Kritik. Kant, Foucault und die philosophische Anthropologie

. . . . .

91

Gérard Raulet Lebens- oder Geschichtsphilosophie? Zur französischen philosophischen Anthropologie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . .

110

7 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Inhalt

Denker und Rezeptionswege Jean-Jacques Wunenburger Le rythme de la vie. La pensée rhénane de Gaston Bachelard (de Ludwig Klages à Pinheiro dos Santos) . . . . . . . . . . .

131

Heike Delitz Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken: eine ›Lebenssoziologie‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

Stefania Achella Was ist der Mensch? Grenzen und Freiheit in der Anthropologie von Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

Diskursfelder Birgit Stammberger Der Körper im Denken der Maschine. Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zum problematischen Verhältnis von Technik und Leben . . . . . . . . . . . . . . .

191

Christina Schües Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive: ein transhumanes Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

Roberto Esposito Biologisches Leben und politisches Leben

. . . . . . . . . . . 248

Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Pascal Delhom und Annette Hilt

Einleitung: Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch »Jede Zeit findet ihr erlösendes Wort«, schrieb Helmuth Plessner vor mehr als achtzig Jahren. »Die Terminologie des achtzehnten Jahrhunderts kulminiert in dem Begriff der Vernunft, die des neunzehnten im Begriff der Entwicklung, die gegenwärtige im Begriff des Lebens.« (Plessner 1975, 4) Es scheint, dass wir diese Zeit noch nicht verlassen haben. Heute wie damals ist der Begriff des Lebens verbunden mit der Entzauberung der großen Ideale der Vernunft und der Geschichte als Fortschritt. Heute verbinden wir ihn allerdings mehr als damals einerseits mit einer akuten Idee der Verletzlichkeit, bis hin zur Möglichkeit einer völligen Zerstörung des Lebens oder zumindest des menschlichen Lebens auf Erden, andererseits mit dem Traum seiner technologischen Verbesserung. Parallel zu den technologischen Entwicklungen innerhalb der Lebenswissenschaften hat das Leben längst in die verschiedenen Bereiche des philosophischen Denkens Einzug gefunden, sei es als Ausgangspunkt für eine philosophische Anthropologie, als Bezugsobjekt und als »Subjekt« der Biopolitik, als Objekt und Maß der Bioethik, schließlich als oberster Wert einer Verantwortungsethik. Bevor es der mögliche Gegenstand ethischer, politischer oder anthropologischer Fragestellungen ist, stellt sich jedoch mit dem Leben ein epistemologisches Problem. Denn es sind Lebewesen, die das Leben erfahren oder erkennen. Als Lebewesen sind wir – wenn auch nicht für alle Philosophen, um die es in diesem Band geht – Organismen in einem Milieu mit anderen Lebewesen, zugleich sind wir Subjekte einer Erkenntnis über das Leben, als ob wir es von außen beobachten könnten. Als Lebewesen haben wir von uns aus einen Bezug zu uns selbst, zu unserer Umwelt und zu den anderen, und versuchen als Subjekte der Erkenntnis dieses »von uns aus« vitalistisch oder teleologisch zu erklären. Das »Denken des Lebens durch sich selbst« (Canguilhem) stellt Forderungen an wissenschaftliche Konzeptionen von Erkenntnis9 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Pascal Delhom und Annette Hilt

zugängen und Interpretation der Erkenntnisse, führt vor das Problem, unterschiedliche Fundierungsebenen von Erkenntnis zu vermischen im Sinne der foucaultschen empirisch-transzendentalen Dublette. Gerade hier zeigt sich ein wissenschaftstheoretischer Anspruch, der vor allem in der französischen und der deutschen Philosophie ihren Niederschlag gefunden hat und von dort aus auch Eingang in gesellschaftstheoretische Fragen genommen hat. So wurde die von Bergson zuerst herausgearbeitete temporale Dynamik des nicht kalkulierbaren, teleologisch nicht zu erfassenden Anders-Werdens für die Analyse sozialer Strukturen aufgegriffen: angefangen mit Lévi-Strauss’ Analyse der kalten und heißen Gesellschaften über Jan Assmanns Studien zur Erinnerungskultur zu Castoriadis’ Analysen der imaginären Institutionen, um nur einige Vertreter eines Dialoges zu nennen. Für eine Grundlagenreflexion im Plessnerschen Sinne, der Anthropologie Reflexionskategorien des Lebens vorausgehen zu lassen, stellt sich auch die Frage nach dem ontologischen Status des Menschen, seinem Status als Erkenntnissubjekt und seinem Vermögen zu handeln: Was unterscheidet uns von unseren Artefakten, von den Maschinen, was unterscheidet uns von anderen Lebewesen, insofern sie Lebewesen sind oder Funktionen wie Lebewesen ausführen, insofern sie alle Akteure bzw. Aktanten (Latour) innerhalb der sozialen Beziehungen sind? Welches sind die Möglichkeiten, die wir haben, uns von der Umwelt und von uns selbst so zu distanzieren, dass wir den Lebensprozess unterbrechen, Erkenntnisse über ihn gewinnen, ihn gestalten und über ihn entscheiden können? Was bedeutet es für uns Menschen, uns ausgehend von der Kategorie des Lebens zu verstehen zu versuchen und dadurch sowohl den Dualismus von Körper und Seele als auch die beiden Extremen des Mechanismus und des Idealismus zu überwinden, im Sinne Merleau-Pontys einen »dritten Weg« zwischen den für unsere Konzeptionen vom Leben so maßgeblichen und immer wieder zurückkehrenden Seiten eines Dualismus von Subjekt und Objekt zu finden? Die Aktualität solcher Fragen wird nicht zuletzt durch Foucaults Analyse des »anthropologischen Zirkels« – die er mit der Übersetzung und der erst seit kurzer Zeit veröffentlichten und nun auch in deutscher Sprache (Foucault 2010) zugänglichen Kommentierung von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht begann – an eine kritische Sichtung dieser philosophischen Disziplin verwiesen. Trotz dieser Skepsis wurde die anthropologische Reflexion durch 10 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Einleitung

wechselseitige Rezeption französischer und deutscher Denker neu angeregt, so zuletzt durch die wachsende Beschäftigung mit dem Werk Bergsons und Canguilhems, der allerdings bereits zu seiner Zeit von Denkern der Physiologie und der medizinischen Anthropologie wie K. Jaspers, V. v. Weizsäcker, K. Goldstein, E. Minkowski und E. Strauss aufgegriffen wurde. An Bergsons Philosophie des Werdens gegenüber einem Primat des Seins schließt sich Plessner mit seiner philosophischen Anthropologie, den ›Grundgesetzen des Menschen‹ Exzentrik und Expressivität an. Im Ausgang von Bergson wurde durch Merleau-Ponty, Gauchet und kürzlich auch Frédéric Worms eine vielfältige Phänomenologie des Lebens mit französischen Bezügen in den deutschen Diskurs eingeführt. Schließlich wird der Bezug einer Philosophie des Lebens mit ethischen Fragen auch durch die junge Veröffentlichung der kritischen Ausgabe der Werke von Hans Jonas vorangetrieben, der derzeit verstärkt in Frankreich diskutiert wird und der mit seiner Biophilosophie viele Parallelen zu Canguilhem aufweist. Marc Röllis Kritik der Anthropologischen Vernunft (Berlin 2011), Thomas Ebkes Lebendiges Wissen des Lebens: Zur Verschränkung von Plessners philosophischer Anthropologie und Canguilhems historischer Epistemologie (Berlin 2012), die dritte (Neu-)Auflage von Joachim Fischers Philosophische Anthropologie – eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts (Freiburg 2013) brachten auf jeweils eigene Weise die Aktualität des Themas voran. Insbesondere wird der philosophische Diskurs über das (menschliche) Leben in Deutschland durch die junge Rezeption des Denkens Georges Canguilhems zunehmend geprägt. Seine Werke erscheinen seit einigen Jahren endlich in deutscher Übersetzung, werden rezipiert und kommentiert. Verschiedene Zusammenhänge werden hier sichtbar, etwa zur Bio-philosophie Foucaults, aber auch zur Epistemologie Bachelards oder zur Lebensphilosophie Bergsons, wie z. B. Frédéric Worms (Über Leben, Berlin 2013) nahelegt. Im Sommer 2014 veranstaltete die »Deutsche Gesellschaft für französischsprachige Philosophie (DGFP)« an der Johannes Gutenberg Universität Mainz eine Tagung, die das deutsch-französische Gespräch über die Fragen einer Philosophie des Lebens im Anschluss an die französische Tradition der Lebensphilosophie und der Anthropologiekritik nach Bergson, Canguilhem und Foucault wie an die deutsche Tradition der Philosophischen Anthropologie aufnahm und fortführte: Beiträge und Diskussionen beleuchteten historisch die ge11 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Pascal Delhom und Annette Hilt

genseitige Rezeption oder Ausblendung der jeweiligen anderen Seite und arbeiteten systematisch Veränderungen und Gewinn neuer Themen im Denken des Lebens heraus, um dies schließlich auf konkrete Fragen der derzeitigen bioethischen oder politischen Debatten zu beziehen, aber auch auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach unserer Sterblichkeit und Verletzlichkeit, sowie nach unserer Gebürtlichkeit und nach dem Schöpferischen in uns, das uns lebendig macht. Die in den gemeinsamen Diskussionen erweiterten und ergänzten Beiträge dieser Veranstaltung sowie einige zusätzliche Texte wollen nun die Möglichkeiten neuer Forschungsfelder und methodischer Reflexionsstrategien ausloten, die im gemeinsamen Gespräch der zunächst ideengeschichtlich differenten Ansätzen, über den Menschen zu denken, sich eröffnen. In der den Band eröffnenden Sektion »Das Leben denken – Die Ordnung der Diskurse« diskutieren Thomas Ebke und Joachim Fischer unterschiedliche Parallelparadigmen, die für die Konstitution des Selbstverständnisses und der Methodologie von Philosophischer Anthropologie und Lebensphilosophie maßgeblich wurden. Über das »affektive Apriori« entwirft Ebke eine spekulative Ideengeschichte, um die Verflechtungen von Philosophischer Anthropologie – verstanden als Wissenschaftstheorie der unterschiedlichen Spielarten anthropologischen Philosophierens – mit der aus einer lebensphilosophisch erwachsenen ›french theory‹ aufzuarbeiten. Implikation der Philosophischen Anthropologie, ihre »Hineinverwicklung in Konzeptionen, die aus anderen Gründen und mit ihr fremden Mitteln etwas denken, was auch die »Philosophische Anthropologie« auf ihre ganz eigene Weise zum Thema gemacht hat« (Ebke), werden mit Schelers Leib-Phänomenologie und Deleuzes transzendentalem Empirismus, den hier wirksamen Figuren einer differentiellen Ontologie, als eine Parallel-Aktion rekonstruiert, deren Protagonisten sich indes auf einer operativen Ebene begegnen können. Beide Ansätze resultieren aus einer Auseinandersetzung mit Kant, gleichwohl unterschiedliche Gewichtungen vorgenommen, unterschiedliche Aspekte ein- und abgeblendet werden. Ist Deleuzes Projekt von »Differenz« und »Wiederholung« als »Ausdrucksphilosophie« konzipiert, fehlt ihm indes ein phänomenologisch adäquater Zugang zum »Ausdruck« bzw. zum Ausdrucksverhalten affiziert-affektiver Körper. Eben dies leistet Scheler in seiner Konzeption des Wertfühlens in einer reellen Phänomenologie. Deleuze wie auch Scheler entwickeln Zugänge zur unmittelbaren Ideation 12 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Einleitung

ideeller Gehalte des Sinnlichen über eine spezifisch affizierend-affektive Bewegung, gleichwohl führen sie dies ontologisch – über eine radikale Immanenz einerseits, eine aisthetische, sinnlich-leibliche Teilhabe an transzendenten Werten andererseits – ganz unterschiedlich aus. Joachim Fischer zeigt in seinem Beitrag »Vital turn – Lebensphilosophie und Philosophische Anthropologie als moderne Parallelparadigmen« eine weitere Möglichkeit auf, Lebensphilosophie und Philosophische Anthropologie als Reflexion auf die Diskurse vom Menschen als zwei sich gegenseitig potenzierende moderne Denkressourcen stark zu machen: sowohl gegen einen reduktionistischen Naturalismus im Sinne einer (Darwinschen) evolutionären Anthropologie als auch gegen einen extremen Kulturalismus, wie er vor allem über den Poststrukturalismus und seine Rekonstruktionen diskursiver Konstruktionen menschlicher Lebensformen für die zeitgenössische Kulturtheorie und -philosophie zu Geltung kommt. Fischer untersucht Bergsons und Plessners operatives Vorgehen, durch »Umwegtheorien des Menschen« über das Leben, einerseits mit dem élan vital, andererseits mit der Positionalität, analytische Zugänge zur leibhaft gebundenen, abhängigen Unabhängigkeit menschlicher Existenz zu entwickeln. Die heuristische Potenz dieser beiden Paradigmen bewährt sich an den nichtsprachlichen, aber spezifisch menschlichen Vitalphänomenen Lachen und Weinen: Mit dem Lachen erschließt Bergson lebenssoziologisch Krisenreaktionen auf die Erstarrung gesellschaftlichen Lebens durch eine institutionalisierte Rationalisierung der Lebenswelt. Plessners Konzeption einer Grenztheorie des Lebendigen, die erst aus den organisch-physiologischen Grenzen zu diesen Distanz gewinnen kann – womit Plessner sich von Ganzheitstheoremen des anthropologischen Denkens verabschiedet – führt in »Lachen und Weinen« zu einer lebenspsychologischen Betrachtung, wie physiologisch verselbständigte Grenzreaktionen auf Sinnüberforderungen Verhaltensmuster und -erwartungen unterbinden. Nach diesen beiden einführenden Beiträgen zu den durch Lebensphilosophie und Philosophische Anthropologie ermöglichten Reflexionshaltungen zu Diskursordnungen geht unser Band in der Sektion »historische Perspektiven« über zu Rekonstruktionen der Diskursgeschichte der beiden Denkansätze. Marc Rölli untersucht in »Idee des ganzen Menschen« den deutschsprachigen Anthropologiediskurs vom 18. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, um in einer 13 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Pascal Delhom und Annette Hilt

Diskursanalyse auf das unterschwellige Wirken von Idealisierungen einer menschlichen Norm hinzuweisen, die sich gouvernemental bis in die heutigen bioethischen und biopolitischen Diskurse weiterzieht. Rölli setzt ein mit der epistemologischen Umarbeitung des cartesianischen Postulats einer »Doppelnatur des Menschen« in medizinischen Diskursen beginnend mit den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts, in denen das Ideal der Einheit von Körper und Seele auch empirisch darzulegen gesucht wird. Mit Kants Anthropologievorlesungen entsteht von philosophischer Seite einerseits eine transzendentalphilosophische Umarbeitung des metaphysischen Dualismus, andererseits auch eine pragmatische – antinaturalistische – Modifikation der empirischen Psychologie. Kants erkenntnis- und praxistheoretischen Rahmenbedingungen einer sich kritisch philosophisch verstehenden Anthropologie werden bekanntermaßen von Foucault als die Möglichkeit gesehen, die empirisch-transzendentale Reduplikation des Menschen in Theorieentwürfen zu unterlaufen: eben in einer Absage an das Ideal des ganzen Menschen. Nichtsdestotrotz wird der an Kant anschließende Diskurs von der Suche nach idealistischen Vermittlungsfiguren zwischen Natur, Vernunft und Sittlichkeit geprägt. Nicht nur Schillers Konzeption des freien Spiels der Erkenntniskräfte, sondern auch Schellings Konzeption des Organismus und Hegels Seelenlehre führen wieder zurück zu Einheitskonzeptionen, die nun auch geschichtsphilosophische und auf neue Weise normative Implikationen zur Bildungs-Aufgabe des Menschen ins Spiel bringen, eine lebendige Einheit des Charakters auszuprägen. In den Bestrebungen im 20. Jahrhundert, mit einer philosophischen Biologie gegen Naturalisierungstendenzen ein »ganzes menschliches Wesen« ins Spiel zu bringen, wirkt dieses Ideal bioethisch unter der Frage der Optimierung des Menschen fort: Die Optimierung erfolgt unter der Maßgabe neuer Normalitätsgrenzen, die indes die offene Doppelnatur, wie sie Plessner feststellte, zum einen potenzieren, zum anderen damit aufheben. Zugleich zeigt sich hier die Gefahr, die Diskursgenese der empirisch-transzendentalen Duplizierungen des Lebens und ihren historischen Wandel vergessen zu machen. Auf einen wichtigen Moment dieser Diskussion konzentriert sich Kerstin Andermanns Beitrag »Anthropologie und Kritik. Kant, Foucault und die philosophische Anthropologie«. Sie zeigt die Spezifizität der kantschen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht gegenüber einer philosophischen Anthropologie, die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts versucht, in Abkehr von der Metaphysik, den 14 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Einleitung

Naturwissenschaften und der Geschichtsphilosophie eine spezifische Naturphilosophie des Menschen zu entwickeln. Nach Andermann, die sich weitgehend auf Foucaults Analysen bezieht, geht es Kant nicht um die Bestimmung eines Wesens des Menschen, sondern um das Verständnis des Menschen sowohl als empirischen Gegenstand wie auch als transzendentale Bedingung der Erkenntnis seiner selbst im Sinne eines erkennenden und freihandelnden Wesens in der Welt. Diese zwei Ebenen, die empirische und die transzendentale, stützen und begrenzen sich gegenseitig. Denn keine von beiden vermag es, unabhängig von der anderen eine Erkenntnis des Menschen zu gründen. Und zugleich betonen sie auf doppelte Weise die Endlichkeit des Menschen, und zwar ohne Bezug auf ein äußeres Unendliches, sondern einerseits durch die empirischen Kenntnisse seiner Mängel, von der Sterblichkeit bis hin zu den Krankheiten der Seele, sowie andererseits durch die kritische Begrenzung seines Erkenntnisvermögens. Ein Denken des Menschen sei also nur in dieser Doppelung, in der empirisch-transzendentalen Dublette möglich. Vielleicht vermag diese es sogar, so legt es Andermann nahe, im Sinne einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht einen Ausweg aus der Gefahr einer normalisierenden Wesensanthropologie, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat, zu ermöglichen. Zum Ende des 20. Jahrhunderts entwickelte sich allerdings in Frankreich auch eine ganz andere Denkrichtung der philosophischen Anthropologie, die sich radikal von der Annahme eines Erkenntnissubjektes verabschiedete. Gérard Raulet zeichnet in seinem Text »Lebens- oder Geschichtsphilosophie? Zur französischen philosophischen Anthropologie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts« wichtige Denkmomente dieser Entwicklung, wobei er sich ebenfalls, aber auf eine rezeptionsgeschichtlich andere Weise als Ebke, auf Gilles Deleuze bezieht. Dieser ist nämlich deswegen besonders interessant, weil er mit der deutschen Philosophischen Anthropologie viele Referenzen teilt, von Nietzsche und Bergson bis hin zur Phänomenologie, und dennoch eine grundsätzliche Veränderung des anthropologischen Denkens bewirkt. Nach der Verabschiedung des Subjekts und der Intentionalität und im Zuge einer subversiven Weiterentwicklung der Psychoanalyse sowie einer radikalen Erneuerung des politischen Emanzipationsdenkens entwickelt Deleuze nach Raulet einen biopolitischen Ansatz, bei dem es um nichts weniger als eine neue Begründung des demokratischen Projekts geht, jenseits der Repräsentation und unter Berücksichtigung sowohl der Herrschaftsdimen15 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Pascal Delhom und Annette Hilt

sion wie auch der psychophysischen Macht der betroffenen Individuen. Die Macht des Lebens, das Funktionieren von »Wunschmaschinen«, die Energie des »organlosen Körpers« sind hierbei Widerstandskräfte gegen die Kodierung des Lebens in Organismen und in Formen der sozialen Organisation. Sie bewirken Brüche und öffnen Bruchlinien, die sogar der Entwicklung des Kapitalismus gewachsen sind. Raulet verweist allerdings hier auf die Gefahr einer Flucht nach vorne, die alle möglichen, auch regressiven Formen der Rekodierung des Dekodierten ermöglichen. Eine weitere Dimension des Aufsatzes von Raulet ist die Betonung der Rolle Spinozas, seiner Philosophie des conatus, seines Ethos der Immanenz und seines materialistischen Ansatzes für die Entwicklung des Denkens Deleuzes. Raulet zeigt aber auch, wie die Spinoza-Referenz, über Deleuze und über die erwähnten Schwierigkeiten seines biopolitischen Denkens hinaus, sowie unter Berücksichtigung seiner Rezeption durch Schmitt, Strauss und Althusser, etwa bei Hardt und Negri oder bei Lordon ein radikaldemokratisches Denken des Verhältnisses zwischen Macht, Menge der Individuen (Multitude) und Lebenskraft des Handelns eröffnet und vorantreibt. Die dritte Sektion des Bandes richtet sich auf Denk- und Rezeptionsbewegungen einzelner Denker der französischen und deutschen Philosophie im Spannungsfeld von Leben, Anthropologie und Existenz. So zeigt der Beitrag von Jean-Jacques Wunenburger, »Le rythme de la vie. La pensée rhénane de Gaston Bachelard (de Ludwig Klages à Pinheiro dos Santos)«, wie Bachelard, entgegen einigen einseitigen Rezeptionen seines Werkes, zwei Seiten oder Polen des Lebens des Geistes, und dadurch auch eine französische mit einer deutschen Denktradition miteinander verbindet. Die französische, besonders auf Auguste Comte zurückgehende, wissenschaftlich positivistische Auffassung des Geistes besteht in einer ständigen Tätigkeit der Abstraktion, der Entvitalisierung der spontanen und konkreten Bildern der Erfahrung hin zu einer formalisierenden Vernunft. Auf der anderen Seite steht die träumende und poetischen Einbildungskraft, mit ständiger Schöpfung von ambivalenten Bedeutungen, die jedoch, so Bachelard in Anschluss an C. G. Jung, universalen symbolischen Werten entsprechen. Die Betonung dieses schöpferischen Vermögens knüpfe an den magischen Idealismus der deutschen Romantik. Nun argumentiert Bachelard im Sinne einer chiasmatischen Verbindung beider Seiten. Gegen die Einseitigkeit des französischen Positivismus vertritt er eine Auffassung der wissenschaftlichen Ra16 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Einleitung

tionalität, die eine eigene Heterogenität verbirgt, auf einen prä-logischen Wunsch der Erneuerung verweist und plurale Modi der rationalen Intelligibilität anerkennt. Umgekehrt versucht er, unter der unaufhörlichen Kreativität der psychischen Lebenskräfte eine Logik zu entdecken, die er mit dem Projekt einer Wissenschaft des Imaginären bzw. der poetischen Schöpfung verbindet. Beide Tendenzen verweisen darüber hinaus auf ein gemeinsames Substrat in der Gestalt einer rhythmischen Auffassung der Zeit, die primär aus diskontinuierlichen Augenblicken besteht, aus denen erst eine Dialektik der Dauer entstehen kann. Diese Zeitauffassung ermöglicht eine vibrierende oder schwingende Harmonie von alternativen Polen, die auf eigentümliche Weise beide Seiten des Lebens des Geistes verbindet. Heike Delitz untersucht ihrerseits die »Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken. Philosophische und soziologische Anthropologie aus Frankreich«. Ideengeschichtlich sucht sie nach einem Paradigma der Sozial- und Gesellschaftstheorie, das an die Bergsonsche Philosophie des (menschlichen) Lebens anschließt, wie sich dies in der deutschsprachigen Soziologie im Anschluss an die Philosophische Anthropologie als wissenschaftsreflexiver Einsatz der Philosophie in den Sozialwissenschaften zeigte. Jede soziologische Konzeption der kollektiven Existenz unseres gesellschaftlichen Seins setzt eine spezifische Philosophie (eine Ontologie, Epistemologie, Wissenschaftstheorie und auch eine normative Position) voraus, kommt dabei indes zu unterschiedlichen Aussagen hinsichtlich dessen, was Gesellschaften eigentlich ›sind‹ und in welcher Weise Subjekte gesellschaftlich erzeugt sind. In der französischen Sozialtheorie zeigt sich zunächst eine starke Abstoßungstendenz von der Bergsonschen – als anti-intellektualistisch verstandenen – Philosophie. Doch lässt sich zeigen, wie mit Bergson eine Philosophie der Zeit, der Differenz, der Immanenz und des Vitalismus implizit in die Sozialtheorie eingeführt wurde – angestoßen durch Canguilhem und Merleau-Ponty: Bergson ersetzt eine vorherrschende identitätslogische Tradition durch die temporale Betonung des Werdens und dessen Differenzierung in unterschiedlichen Rhythmen, die für unterschiedliche Wissenschaften – Psychologie, Biologie, Physik, Ethnologie/Soziologie – eigens untersucht werden. Mit dem leicht misszuverstehenden Begriff Intuition wird bei Bergson eine Methode sichtbar, Wesens- und Graddifferenzen richtig zu verteilen und aus falschen Verteilungen falsche Probleme der unterschiedlichen Disziplinen zu identifizieren. 17 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Pascal Delhom und Annette Hilt

Für die Gesellschaftstheorie maßgeblich ist die Frage nach der Instituierung des Sozialen, wie es u. a. Castoriadis mit Blick auf Bergson an den imaginären Institutionen herausarbeitet. Für die Sozialtheorie wird die Frage nach der Unterscheidung zwischen Mensch und Nichtmenschlichem virulent, wozu auch Artefakte und deren kulturprägende Dynamik gehören, für die Gesellschaftsanalyse Methoden des kontrastiven – strukturalen – Kulturvergleichs, wie sie z. B. Lévi-Strauss insbesondere für die ›kalten‹, die sich dem Paradigma des geschichtlichen Verstehens entziehenden Kulturen, entwickelte. Stefania Achella stellt in ihrem Beitrag »Was ist der Mensch? Grenzen und Freiheit in der Anthropologie von Karl Jaspers« die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen Existenzphilosophie und anthropologischem Philosophieren gestalten. Jaspers kritisiert die Naturalisierungstendenzen einer von ihm vor allem physiologisch und soziologisch wahrgenommenen anthropologischen Philosophie. Für Jaspers ist die Idee inakzeptabel, dass es eine eigene Logik des Erlebnisses gebe. Versuche, die das subjektive Erleben der menschlichen Erfahrung zu organisieren versuchen, gehen über das philosophisch, aber auch empirisch auszuweisende und methodisch zu sichernde Verstehen hinaus und verweisen auf eine Methode, in der unweigerlich dem Erlebnis und seinem heuristischen Status ausgewichen wird; der Rückgang neuer anthropologischer Wissenschaften vom Menschen auf scheinbar stabile und endgültige Begriffe stellt in seinen Augen den Verrat der existentiellen Möglichkeiten des Menschen dar und öffnet einer Dogmatisierung dieser Begriffe Tür und Tor. Doch auch einer lebensphilosophischen Perspektive auf den Menschen verweigert sich Jaspers, insofern hier das Leben als ›Ganzes‹ zu einer wissenschaftsfeindlichen Spekulation überleitet. Insbesondere kritisiert er die Tendenz der Immanentisierung des Lebens, die die Existenz jeglichen Freiheitsmomentes beraube. Beide Ausrichtungen geraten in Gefahr, eine abstrakte und totale Idee vom Menschen anzusetzen. Jaspers eigener Ansatz betont die Irreduzierbarkeit des Menschen auf sicheres Wissen; die Grundlage einer existenzphilosophischen Idee vom Menschen liegt darin, diese Idee nicht in einem Wesen zu hypostasieren, den Menschen vielmehr in seinem Gesamthorizont mit in Anlehnung an Kant gefassten Schemata zu fassen, die regulativen Charakter für eine Erfahrung vom Menschen haben. Letztlich zeigt sich das Wesen des Menschen als ein sich transzendie18 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Einleitung

rendes und offenes durch die Selbstverborgenheit des Menschen, die sich in immer wieder neuen Entschlüssen kommunizier- und auslegbar macht. Im abschließenden Teil des Bandes kommen zeitgenössische Diskursfelder, in denen Lebensphilosophie und Philosophische Anthropologie aufeinander treffen, zur Sprache. In ihrem Aufsatz »Der Körper im Denken der Maschine. Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zum problematischen Verhältnis von Technik und Leben« vertritt Birgit Stammberger die These, dass Technologien immer »historisch situierte Praktiken der Verkörperung« sind, die Körper und Technik verbinden und eine scharfe Trennung zwischen ihnen nicht zulassen. So kritisiert sie einerseits Theorien des Transhumanismus, die von einer Überwindung des Lebens und einer Transformation des Menschen in Maschinen ausgehen: Diese verkennen die Historizität von Wissen und Praktiken und gründen auf der falschen Annahme eines bis dahin von Technik unberührten Körpers. Stammberger setzt sich andererseits mit Beteuerungen des Verlustes und der Entfremdung des Subjekts oder des menschlichen Lebens auseinander, die auch von einem Dualismus ausgehen. Gegen Roudinescos These der Technologisierung des Wissens und der Verdrängung des lebendigen Subjekts und seines Begehrens durch funktionalistische Normen argumentiert sie u. a. mit Freuds Einbeziehung des Modells der Energiemaschine und mit Lacans Verständnis der Subjektivität in Analogie zur kybernetischen Maschine. Gegen Lists Verteidigung einer irreduziblen Perspektive der lebendigen Erfahrung führt sie mit Lettow die Gefahr konservativer, sogar totalitärer Konnotationen ein, die besonders am Anfang des 20. Jahrhunderts solche Diskurse mittrugen, sowie die reduktionistische Auffassung der Technik und der Wissenschaft, die mit ihnen einhergeht. Stammbergers Argumentation führt zu einer engen Verbindung zwischen Leben und Maschine, wie sie bereits von Haraway paradigmatisch an der Figur des Cyborgs entwickelt wurde. Die theoretische Grundlage ihrer Erläuterungen bildet allerdings vor allem die Lebens-, Technik- und Wissenschaftsphilosophie Georges Canguilhems. Mit ihm betont sie die Einbettung der Technik im Leben im Sinne eines schöpferischen Unternehmens, die Einschreibung der Maschine in die menschliche Geschichte sowie die Entwicklung, in Bezug auf das Leben als Gegenstand des Wissens, von Forschungsdynamiken »aus der Interaktion von Personen, Verfahren, Apparaten, Praktiken, Materialen und Dingen«, bei denen keine Entfremdung, sondern durchaus, 19 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Pascal Delhom und Annette Hilt

wie sie auch in Anschluss an Grieseke formuliert, produktive Verfremdungseffekte des Wissens entstehen können. Um spezifische Verfremdungseffekte geht es auch im Text von Christina Schües »Das ›Leben‹ in biophänomenologischer Perspektive: Ein transhumanes Paradigma«. Sie stellt darin die Frage einer geeigneten philosophischen Methode, um transhumane Phänomene und Praktiken zu analysieren, etwa im Bereich der Transplantationsmedizin, das heißt der Verpflanzung von lebendem Material von einem Menschen in einen anderen Menschen. In Anlehnung an Nancys Darstellung und Reflexion über die eigene Herztransplantation fragt sie nach den besonderen Fremdheitsbeziehungen des Empfängers sowohl zum eigenen kranken Herz vor der Operation wie auch zum fremden Herz im eigenen Körper, das jenseits des Todes eines anderen Menschen das eigene Leben zu einem neuen Leben verhilft. In diesem Zusammenhang thematisiert sie die eigenartigen medizinischen Verwandtschaftsbeziehungen, die durch Transplantationen entstehen und sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Aneignung des fremden Körperteils und Immunabwehr ausstrecken. Sie betont aber auch besonders die imaginären Beziehungen des Empfängers sowohl zum anderen, nun toten Menschen, dessen Organ ihm oder ihr ermöglicht weiterzuleben, sowie zu diesem Organ selbst als Fremdes im eigenen Körper und zugleich als geschaffene Bedingung des Lebens ebendieses Körpers. Hier stellt sich auf besondere Weise die Frage nach dem Sinn des gelebten und erfahrenen Lebens unter der Maßgabe des weitergegebenen Lebens. Diese Sinnfrage zu stellen und in ihren vielfältigen Dimensionen zu verfolgen bedarf nach Schües die Aufstellung eines neuen philosophischen Aufgabenfeldes, das sie Biophänomenologie nennt. Zuletzt bietet Roberto Esposito eine engagierte Reflexion über das moderne und noch sehr aktuelle Verhältnis zwischen »biologischem Leben und politischem Leben«. Er fängt mit einer historischen Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Politik und Leben an. Ihre Trennung in der Antike wurde von Hobbes aufgehoben, für den die Erhaltung des Lebens und die Gewährung eines annehmbaren Lebens in Sicherheit zum Grundproblem der Politik wurde. Die Transformation, im 18. Jahrhundert, des Souveränitätsparadigmas in dasjenige einer Regierung der Bevölkerung als Gut, das es zu schützen gilt, und die Entstehung der Biologie kurz darauf, die mit Bichat den Vorrang der organischen über die motorisch-sensorische sowie intellektuelle Ebene des Lebens behauptete, trugen zur Krisis der rationalen 20 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Einleitung

politischen Subjektivität und zur Entstehung dessen bei, was Biopolitik genannt werden kann. Nun teilt sich nach Esposito die Biologisierung der Politik in zwei Richtungen, die es systematisch zu unterscheiden gilt. Eine negative, weitgehend deterministische Richtung transformierte Darwins Auffassung der natürlichen Selektion zuerst in einen Kampf um die Existenz (Spencer), später mit Gobineau in die Festlegung von natürlichen und erblichen Merkmalen von Rassen, die das politische Subjekt bestimmen. Es entstand eine Politik der Beherrschung der einen durch die anderen und der Reinheit der Rassen durch künstliche Selektion, eine Thanatopolitik, bei der der Körper zugleich Subjekt und Objekt der Politik wurde. Das Ende des Nationalsozialismus bedeutete allerdings nicht das Ende der Biopolitik, die nun unter anderen Vorzeichen weiterhin unsere Zeit beherrscht. Die Rolle des Genus, das Verhältnis zwischen Leben und Technik sowie ökologische Fragen des zukünftigen Lebens rücken ins Zentrum des politischen Interesses. Sie erfordern nach Esposito eine Veränderung des politischen Wortschatzes, der nicht mehr von einem abstrakten Rechtssubjekt ausgehen kann, sondern Fragen von Geburt und Tod, Gesundheit und Sexualität, Veränderung der Umwelt und Transformationen des Körpers ansprechen muss. Auch die Grundunterscheidungen zwischen öffentlich und privat, Künstlichkeit und Natur, Recht und Biologie werden in Frage gestellt. Die Grundkategorien der Demokratie – Repräsentation, Identität der Regierenden und der Regierten, Volkssouveränität – werden umgestülpt. Es geht allerdings hierbei Esposito nicht um das Aufgeben der Demokratie, sondern um eine grundlegende Modifizierung ihres Sinnes und um eine Verlagerung ihrer Kategorien von der formellen Sphäre der Institutionen hin zur substantiellen Sphäre des lebendigen Körpers der Individuen und der Bevölkerung. Somit thematisiert Esposito im Rahmen einer politischen Fragestellung, wie bereits Raulet in einem anderen Zusammenhang, einige Aspekte und Dimensionen einer Lebensphilosophie und einer philosophischen Anthropologie, die den Kern des vorliegenden Bandes ausmachen.

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Das Leben denken – Die Ordnung der Diskurse

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Thomas Ebke

»Affektives Apriori« Zu einer Parallelaktion von Scheler und Deleuze

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Einleitung

Wer nach dem Widerhall »der« Philosophischen Anthropologie in der Geschichte der modernen und kontemporäen französischen Philosophie fragt, tut gut daran, zunächst Joachim Fischers Entflechtung eines »Denkansatzes« namens »Philosophische Anthropologie« aus der homonymen »Disziplin«, verstanden als immanentes Teil- und Interessensgebiet nachmetaphysischen Denkens, zu beherzigen (Fischer 2008, 14 f.). Erhellend ist eine solche Abgrenzung schon allein deshalb, weil sie die letztgenannte Redeweise von philosophischer Anthropologie 1 im Sinne einer binnenphilosophischen Sparte »von Die an dieser Stelle mit der Orthografie des ersten Satzes kontrastierende Kleinschreibung (mit kleinem »p« in »philosophischer Anthropologie«) geht auf Fischers Notation zurück, um die Nichtkoinzidenz des »Denkansatzes«, der unter dem Titel »Philosophische Anthropologie« (mit groß zu schreibendem »P«) steht, mit »philosophischer Anthropologie« im Sinne eines Gebietsbegriffs zum Ausdruck zu bringen. Im Folgenden greife ich, wo von der sich um Scheler, Plessner und Gehlen bewegenden historischen Tradition die Rede ist, auf die Variante der Großschreibung (sowie auf die von Fischer und anderen gelieferte Begründung für sie) zurück. Der Sache nach entspricht die von Fischer akzentuierte Distinktion Plessners Überlegung, wonach »Philosophische Anthropologie« gerade nicht die Substituierung von Metaphysik durch Anthropologie meinen kann, wodurch sich letztere als vermeintlich einzig noch adäquate, verendlichte Gestalt von Philosophie inaugurieren soll (Marx, Feuerbach). So entstünde lediglich, Plessner zufolge, »anthropologische Philosophie«. Das Geschäft der »Philosophischen Anthropologie« in der Modulation Plessners (und zuvor schon Schelers) würde demgegenüber darin bestehen, die latenten Anthropologismen, deren Naturalisierungen und Idealisierungen in den Blick zu bringen, die den anthropologischen Entwürfen nach dem kritischen Abschied von metaphysischen Letztgrundlegungen selbst noch inhärieren. Vgl. Plessner 1983. In Auseinandersetzung mit den historisch-epistemologischen Rekonstruktionen Foucaults hat Hans-Peter Krüger, Plessners terminologische Präzisierung weiterführend, Gründe angegeben, inwiefern die (groß geschriebene) »Philosophische Anthropologie« gegenüber jenem »anthropologischen Zirkel« immunisiert ist, der die postmetaphysische Verendlichung der philosophischen Reflexion nach und gegen Hegel be-

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Thomas Ebke

Aristoteles bis Kant und Hegel« (Scheler 1995, 126) als eine teleologische Projektion der Rückschau dechiffriert, die ihrerseits auf einer »anthropologischen Wende«, einer geschichtlich neuen Akuität der Frage und Fraglichkeit menschlichen Lebens, aufruhe (siehe Fischer 2008, 485). So gesehen, stiftet eine »philosophische Anthropologie« eine »Beschreibung des Menschen« (H. Blumenberg), die zwar keinen Diskurs über ein vorgeblich invariantes und eminentes »Wesen des Menschen« (als zoon logon echon, animal rationale, res cogitans, als Figur des Selbstbewusstseins innerhalb eines Geschehens des »Weltgeistes« und dgl. mehr) mehr iteriert, dafür aber umso mehr mit positiven Fixierungen dessen aufwartet, was jeweils als Proprium des Menschen in seiner endlichen Natürlichkeit ausgezeichnet werden soll – Fixierungen, die, was insbesondere Foucault aufgespießt hat, stets mit empirischen Erträgen der Arbeit faktischer Erfahrungswissenschaften verflochten und insofern keineswegs die reinen Substrate einer transzendentalen Kritik sind, weshalb sich ihr Status auf eigentümliche und hybride Weise verdoppelt (Foucault 1991, insb. 384–412). 2 »Philosophische Anthropologie« mit einem großen »P« hingegen hätte nicht so sehr den Menschen im Sinne eines dem menschlichen Leben ontisch zudeutbaren humanum (Sprache, Selbstbewusstsein, symbolische Repräsentation usw.) zum Thema als vielmehr die anthropologische Produktivität wissenschaftlicher, technologischer, politisch-praktischer und philosophischer Objektivierungen menschlichen Seins. Mit anderen Worten: Die Aufmerksamkeit des »Denkansatzes« der Philosophischen Anthropologie gilt just den philosophischen Anthropologien (= anthropologischen Philosogleitet und sich epistemologisch nicht zuletzt im aporetischen Ineinandergleiten des Transzendentalen und des Empirischen artikuliert hat. Siehe Krüger 2008, insbesondere 53. 2 »Anthropologische Philosophien« oder »philosophische Anthropologien« wären demnach Philosophien, die ein letztentscheidendes Merkmal oder ein Ensemble von Merkmalen ansetzen, das den Menschen in seiner Endlichkeit explizieren soll – einer Endlichkeit, die in den Natur-und Humanwissenschaften gerade auch empirisch dimensioniert ist. Interessant ist, dass diese prägnante Rolle der Anthropologien dem Umstand entspringt, dass es sich bei ihnen dem Anspruch nach um anti-essentialistische Unternehmungen handelt: Um philosophische Spekulationen also, die eine auch empirisch zu identifizierende, gleichsam depotenzierte Singularität des Menschen einzukreisen versuchen – und gerade keine Eminenz des menschlichen Wesens, die letztlich in dessen zentraler Position innerhalb der göttlichen Schöpfung (Scholastik, imago dei-Tradition) oder zur intelligiblen Transparenz des Seienden (Rationalismus) gründen würde.

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»Affektives Apriori«

phien), genauerhin deren Hermeneutiken und Epistemologien, aus (und in) denen wissenschaftliche, technologische, politische und philosophische Vereindeutigungen der Frage danach, was das menschliche Leben in letzter Instanz zusammenhalte, emergieren. 3 Bringt man diese Unterscheidung ein, um die historische Theorieform der »Philosophischen Anthropologie« gerade nicht mit der symptomatischen Tendenz postmetaphysischer Reflexionen zu verrechnen, sich als »philosophische Anthropologien« der verendlichten Natur des Menschen zu konstituieren, so schärft sich, was die deutsch-französischen Interpenetrationen in solcherlei »Fragen nach dem Menschen« (Wunsch 2014) betrifft, folgender Rundblick: Während im französischen Raum letztlich seit den 1930 eine Denomination von »philosophischer Anthropologie« kursiert, 4 die a fortiori in den 1960er Jahren virulente Kritiken auf sich zieht, 5 läuft die Rezeption der »Philosophischen Anthropologie« à la Scheler, Plessner und Gehlen in Frankreich bis in die 1980er Jahre 6 hinein merkwürdig leer. Eine solche Lesart kann sich freilich aus dem markanten Anfang von Schelers Hauptwerk Die Stellung des Menschen im Kosmos motivieren, wo Scheler das, was er unter »Philosophischer Anthropologie« versteht, gerade nicht als einen vierten »Gedankenkreis« neben der judäisch-christlichen Schöpfungsmythologie, der logozentrischen Anthropologie der Antike und den naturwissenschaftlich-modernen Diskursen über homo sapiens auf den Weg bringt, sondern als Denken jener »einheitliche[n] Idee vom Menschen«, die zeitgenössisch in eine pluralistische Zersplitterung untereinander unverbundener Anthropologien diffundiert sei (siehe Scheler 1966, 9). 4 Man denke an Groethuysen 1953. Unbedingt zu nennen sind hier vor allem auch die in den Jahren 1932 bis 1937 erschienenen Jahrbücher der Recherches philosophiques (Koyré, Puech, Spaier 1932 ff.), die französische Übersetzungen von Aufsätzen u. a. Schelers, Plessners, Löwiths, Landmanns, Bollnows usw. enthielten, und dies Seite an Seite mit Artikel von Autoren wie Sartre, Lacan, Bachelard oder Ruyer. Die Recherches philosophiques stellen jenen unschätzbar bedeutungsvollen französischdeutschen Begegnungsraum dar, in dem die »Philosophische Anthropologie« dem französischen Publikum ihrer Zeit sichtbar werden konnte (oder eher: hätte sichtbar werden können). 5 Siehe bspw. Althusser 1968, 176: »Der Bruch mit jeder philosophischen Anthropologie oder mit jedem philosophischen Humanismus ist kein zweitrangiges Detail […]«; Derrida 1999, 139: »Heidegger, von dem man nur einen Entwurf philosophischer Anthropologie oder existentialer Analytik kannte […]«; Foucault 2010, 114: »Im Namen dessen, was ist […], muß man all diese ›philosophischen Anthropologien‹ verwerfen, die sich als natürlicher Zugang zum Fundamentalen geben […]«. 6 Als Pioniertext, der das Spektrum philosophischer, gesellschaftstheoretischer und ästhetischer Entwürfe der Weimarer Republik für die französische Diskussion allererst differenziert und darin erstmals auf die »Philosophische Anthropologie« als eine von Scheler, Plessner und Gehlen getragene Strömung aufmerksam gemacht hat, 3

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Thomas Ebke

So flamboyant also in Frankreich diverse Frontalangriffe auf das philosophische Recht jeglicher »philosophischen Anthropologie« waren (und sind): Sie artikulierten sich ohne Einbeziehung, ja sogar ohne sachliche Kenntnis des Korpus (mit Fischer: des »Denkansatzes«) namens »Philosophische Anthropologie«. Von daher kann man konstatieren, dass Günter Schiwys hellsichtiger Hinweis, wonach »[v]or allem die philosophische Anthropologie, wie sie von Max Scheler und Helmuth Plessner in den zwanziger Jahren begründet worden ist, […] nicht nur in ihrer Fragestellung und ihren Lösungsversuchen, sondern bereits in der Terminologie in Richtung des heutigen Strukturalismus [weist]«, 7 insofern solitär blieb, als dass die systematische Erforschung möglicher Berührungspunkte der auf Plessner und Scheler zurückdatierenden Tradition mit den verschiedenen enjeux der neueren französischen Philosophie Jahrzehnte lang völlig brach lag. In der im Umkreis der Übersetzung von Blumenbergs Beschreibung des Menschen (Blumenberg 2011) sensibler gewordenen französischen Sekundärliteratur 8 wird die Rezeption der »Philosophischen Anthropologie« (im Sinne des historisch distinkten Korpus/ des »Denkansatzes«) noch immer überlagert durch das angestammte Thema der anthropologischen Auflösung der Metaphysik durch Feuerbach und Marx, 9 deren vermeintlich kritische Produktivität Althusser, Foucault, Derrida und andere längst in Frage gestellt hatten. 10 kann Raulet 1984 gelten. Grundlegend und vertiefend dann später Raulet 2002 und Raulet 2006. 7 Schiwy 1972, 165. Schiwy evoziert vor allem Lévi-Strauss und, im Rückblick etwas idiosynkratisch, Lucien Goldmann (dessen Einschreibung in das strukturalistische Paradigma kaum stichhaltig erscheint). 8 Siehe etwa die Beiträge in den beiden Heften 10/2009 sowie 13/2011 der Revue Germanique Internationale, insbesondere Monod 2009. 9 Siehe exemplarisch die Beiträge in Heft 2015/23 (Dossier mit dem Titel Anthropologies philosophiques) der Zeitschrift Alter: Revue de Phénoménologie, wo, wie bereits der im Plural stehende Titel signalisiert, nicht exklusiv vom Erbe Schelers, Plessners und Gehlens die Rede ist, sondern eher von der Geschichte einer nachmetaphysischen Anthropologisierung der Phänomenologie, in der, allzu weitläufig, unter anderem noch (Beiträge zu) Heidegger, Merleau-Ponty, Henry, Patočka oder Simmel Platz finden. 10 Der gegenwärtige Ausbau der Rezeption der »Philosophischen Anthropologie« in Frankreich – immer bezogen auf die historische Strömung um Scheler, Plessner und Gehlen – ist deshalb so interessant, weil der zentrale forschungspolitische Filter, der ihn lenkt, in dem Interesse liegt, die »postmarxistische« Generation philosophischer Theoretiker in Frankreich mit den Aporien zu konfrontieren, die sich aus der »antihumanistischen« Stoßrichtung ihrer als verbindlich präsumierten Epistemologie des

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»Affektives Apriori«

Diese Lage ist misslich, insofern sie eine trennscharfe Fassung der »Philosophischen Anthropologie« und deren charakteristischer Differenz gegenüber jeder »anthropologischen Philosophie«/»philosophischen Anthropologie« verwässert: Versuche, auf die spezifische Fruchtbarkeit des intellektuellen Erbes von Scheler, Plessner und Gehlen hinzuweisen, bürden sich im gegenwärtigen deutsch-französischen Austausch ein ubiquitäres Verständnis von »philosophischer Anthropologie« auf, das zwar originelle ideengeschichtliche Transfers (etwa Raulet 2014; Delitz 2014; Gregorio 2014), nicht aber eine konzise Umgrenzung des Einsatzes, der dem Korpus der »Philosophischen Anthropologie« inhäriert, möglich macht. Wenn es stimmt, dass sich die französische Philosophie nach 1945 bis in die Gegenwart hinein um die Topoi einer »querelle de l’humanisme« (Aubenque 2005) bewegt, wo strukturalistische und poststrukturalistische Suspendierungen der Anthropologie auf deren mundane Fortsetzungen in der (Leib-) Phänomenologie oder, wie bei Lévinas, in einem Denken der absoluten Priorität des Ethischen treffen, dann lohnt es ganz besonders, die eigentümlich dephasierte Präsenz der »Philosophischen Anthropologie« in Frankreich im spezifischen Hinblick auf diese »querelle« besser auszuleuchten: In der Tat nämlich verläuft die französische Erschließung der »Philosophischen Anthropologie«, philosophie- wie rezeptionsgeschichtlich gesehen, historisch und sachlich versetzt zu den Disputen um die Rolle humanistischer und anthropologischer Formen des Denkens (und der politisch-gesellschaftlichen Praxis) in Frankreich. Der exegetische Reiz dieser singulären Konstellation – »Philosophische Anthropologie« versus french theory – liegt darin, dass in den hier zu gewinnenden Vergleichen eine eklatante Armut an materialer, historisch verbriefter und belastbarer Rezeption und ein überbordender Reichtum an systematischen, begrifflich-inhaltlichen Komplementaritäten einander durchdringen. Unter diesen Bedingungen erscheint nun ausgerechnet, um an die philosophisch ertragreichen missing links zwischen »Philosophischer Anthropologie« und den französischen Dynamiken heranzukommen, eine Methode angezeigt, die man dem Genre einer spekulativen Ideengeschichte zuschlagen könnte. Produktiver als die einflussgeschichtliche Bestandsaufnahme der kargen Spuren, die Dialektischen Materialismus (Althusser) ergeben. Siehe Balibar 2011 sowie in Reaktion darauf Raulet 2014.

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Thomas Ebke

Scheler, Plessner oder Gehlen auf Umwegen mit den französischen Theorien verbinden, 11 und triftiger als die Arbeit mit einem »philosophische Anthropologie« betitelten Passepartout, das die französische Landschaft nach einer Vielfalt von Dialogpartnern sondiert, erscheint eine Einschreibung des »Denkansatzes« Philosophische Anthropologie in die französische Problemlagen, die gerade auf der Fehlanzeige eines historischen Austauschs und darin auf der Zirkulation verbindender Denkfiguren insistiert. 12 Die einflussgeschichtliche Lektüre bleibt zu eng, das Ansetzen des Passepartouts führt zu weit: Während sich das erste Verfahren an die Linien einer verbürgten Rezeption klammert, die gleichwohl und bekanntlich nicht in eine systematische Aneignung der eigentlichen Positionen der »Philosophischen Anthropologie« eingemündet ist, entgrenzt die zweite Vorgehensweise die »Philosophische« in eine »philosophische« Anthropologie, wodurch sie die Frage nach der Pertinenz der genuin auf Scheler, Plessner und Gehlen zurückgehenden Motive in Frankreich verfehlt. Nicht die Frage nach der Implizitheit der »Philosophischen Anthropologie« in Frankreich steht im Raum, sondern die nach ihrer Implikation (dazu Ebke 2015): nach ihrer aktiven und synthetischen Hineinverwicklung in Konzeptionen, die aus anderen Gründen und mit ihr fremden Mitteln etwas denken, was auch die »Philosophische Anthropologie« auf ihre ganz eigene Weise zum Thema gemacht hat. Entscheidend ist im Register einer spekulativen Ideengeschichte, über die einflussgeschichtlich verifizierbaren Resonanzen – die teils verschwindend geringfügig, teils von trügerischer Evidenz und teils beides sind – hinauszugehen, um gleichsam gegen sie anzuschreiben. Was sich auf diese Weise zu Tage fördern lässt, sind deutsch-französische »Parallelaktionen«, die (worin allerdings eine signifikante Differenz zum musilschen Vorbild für diese Vokabel besteht) nicht nur ohne wechselseitige Koordination, sondern sogar in radikaler UnErforscht sind inzwischen etwa Merleau-Pontys Kenntnisse der gemeinsam von Plessner und Buytendijk verfassten Artikel (Merleau-Ponty 1976, 67 ff.), dazu Beaufort 2000; van Buuren 2018. 12 Insofern ist der Sichtweise von Thomas Keller zuzustimmen, wonach ein Unterschied herrscht zwischen der Frage nach der Sicherstellung »diskursiver Äquivalenzen« im Verhältnis der modernen philosophischen Szenen Frankreichs und Deutschlands und der Ausarbeitung von »Transfermöglichkeiten« beider philosophischer Kulturen vor allem in den Zwischenkriegsjahren, wodurch gerade auch »die Diagnosefähigkeit der Philosophischen Anthropologie in historischen Krisensituationen« allererst hervortreten könne (siehe Keller 2015, 344). 11

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»Affektives Apriori«

kenntnis voneinander ein und denselben Einsatz gemacht, also ein und dasselbe different, in nicht aufeinander rückführbaren Idiomen formuliert haben. Nicht immer wird man dabei auf den besonders kristallinen Fall einer gedanklichen »Begegnung« zwischen Autoren stoßen, die einander in wirklich keiner Weise rezipiert haben und die nachweislich nicht einmal über die Existenz des je anderen im Bilde waren (siehe Ebke 2012). Die Vorstellung von »Parallelaktionen« schließt eine Konstellation nicht aus, in der es zwischen Autor A und Autor B zu einer tangentialen Kenntnis voneinander (oder der einen durch die andere Seite) kam. Aber konstitutiv für die Vergleiche, die sich in dieser methodischen Einstellung entfalten, werden dann nicht diese Keime oder Rudimente einer faktischen Rezeption sein; vielmehr wäre ihre Pointe, dass die philosophisch-konzeptionelle Koinzidenz, die gleichsam parallaktisch zwischen zwei philosophischen Anstrengungen emergiert, massiver ist als diese einflussgeschichtlichen Elemente es nahelegen. So gesehen handelt es sich bei den deutsch-französischen »Parallelaktionen«, die hier auf dem Spiel stehen, um Epiphänomene: Um Gespräche, die nicht an die Summe ihrer realhistorischen Formen und Anzeichen gebunden sein müssen. Die nachstehenden Überlegungen beschreiben eine solche »Parallelaktion« mit Blick auf eine gemeinsame Figur, vor der sich die insgesamt so weit voneinander abgesetzten philosophischen Projekte von Max Scheler und Gilles Deleuze unversehens wiederfinden. Beide Autoren – das soll behauptet werden – sind in eminenter Weise Denker eines affektiven Apriori. Singulär wäre eine intellektuelle Begegnung ausgerechnet dieser beiden Autoren deshalb, weil beide in je ihrer Weise und auf den Bahnen, die ihre jeweiligen Konzeptionen dafür bereithalten, erstens die Apriorität einer affektiven Dimension des Subjektiven und die Realisierung dieser Affektivität zweitens als eine Bewegung des Ausdrucks einholen. Aber in ihrer Nähe zueinander trifft man auf eine tiefe Bruchstelle zwischen beiden Ansätzen: Während Deleuze die Dynamiken dieses affektiven Apriori innerhalb einer Ontologie der Immanenz artikuliert, die um die Möglichkeit einer Relektüre des ontologischen Primats des Ideellen als Differenz kreist, stößt Scheler zu einer leibgebundenen Phänomenologie realer Axiologien vor, die es zulässt, die Momente einer Partizipation (methexis) an der Idealität von Werten allererst zu konkretisieren. Was sich im Weiteren zeigen soll, ist, inwiefern Scheler mit dieser Perspektive, den Leib als Instantiierungsort eines affektiven 31 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Thomas Ebke

Apriori thematisch zu machen, eine philosophische Antwort entwickelt, die Deleuze hätte aufgreifen können, um sich einem internen Problem seines eigenen Denkens, nämlich einer unfreiwilligen ReIdealisierung seiner Ontologie der Immanenz in der Frage der »Wiederholung« zu stellen. Jener »Scheler bei Deleuze«, der im Folgenden enthüllt werden soll, wäre damit nicht der reelle Phänomenologe, der Deleuze ohnehin, wenngleich nur äußerst rudimentär, vertraut war; er wäre der Philosophische Anthropologe, als den Deleuze ihn eben nicht las und auch nicht lesen konnte.

2.

Der »leuchtende Teil« der Differenz: Das »affektive Apriori« bei Deleuze

Es wäre spannend, einmal die reichen deutsch-französischen Genealogien herauszuarbeiten, die Deleuze das Werk und die Texte des 1928 früh verstorbenen Max Scheler zugetragen hatten. Vielleicht wäre man im Ergebnis einer solchen Forschung überrascht, dass ausgerechnet der spätere Doktorvater von Deleuze an der Sorbonne, Maurice de Gandillac, Schelers opus magnum Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik übersetzt hatte – und dies noch 1955, in einer Phase der Scheler-Rezeption, in die auch die grundlegende zweibändige Monografie über Scheler von Marcel Dupuy (Dupuy 1959) fiel. 13 Doch ins Pariser Milieu eingeführt worden war Schelers philosophisches Denken bereits zwei Jahrzehnte zuvor, im Zusammenhang mit dem Exil Paul Ludwig Landsbergs, der seinerseits Kontakt zu Autoren aus dem Umfeld der personalistischen Zeitschrift Esprit unterhielt. 14 In diesem Kontext war dann auch von surrealistischer Seite Pierre Klossowski, der ab 1966 zu einem wiederkehrenden und besonders markanten Bezugsautor für Deleuze avancieren sollte (siehe Deleuze 1993a, 341–364; dazu auch James 2009), auf Schelers Denken gestoßen: 1936 erschien seine Übersetzung der drei Aufsätze Vom Sinn des Leidens, Vom Verrat der Freude sowie Liebe und Erkenntnis (Scheler 1936). Und schließlich war Deleuze noch an exponierter Stelle, ebenfalls zu Beginn der 1950er Jahre, Bereits 1951 hatte Dupuy Schelers Stellung des Menschen im Kosmos ins Französische übersetzt. 14 Dass die Rezeption und Präsenz von Schelers Denken in Frankreich bereits seit den 1930er Jahren nennenswert war, lässt sich Lenz-Medoc 1951 entnehmen. 13

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»Affektives Apriori«

durch die von Georges Canguilhem herausgegebene Anthologie Besoins et tendances (Canguilhem 1952), deren einleitenden Überblicksteil Deleuze verfasst hatte, mit einem darin enthaltenen Auszug aus Schelers Stellung des Menschen im Kosmos in Berührung gekommen. Vor allem de Gandillac und Klossowski haben zweifellos als Mediatoren fungiert, die Deleuze auf die philosophischen Leistungen Schelers aufmerksam gemacht haben. Doch nicht so sehr auf diesem genealogischen Vorfeld wäre meines Erachtens nach dem genuinen Anschluss zwischen den Vorhaben von Scheler und Deleuze zu suchen. Aufschlussreicher erscheint da jene kursorische sechzehnte Fußnote des sechsten Kapitels von Kino 1: Das Bewegungsbild (Deleuze 1998, 306), dem ersten seiner beiden Bücher zur Philosophie des Kinos, in der Deleuze eine unvermutete Referenz auf Scheler platziert. In dieser Anmerkung deutet Deleuze eine Kongruenz zwischen der peirceschen Semiosis und dem »Begriff des materiellen und affektiven Apriori« (Ebd., Hervorhebung i. O.) an, den zunächst Scheler freigelegt und dann etwa Mikel Dufrenne im Zeichen einer Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung ausgeführt habe. 15 Ähnlich wie die gemäß der Konzeption von Peirce »jeder Frage nach ihrer Aktualisierung enthoben[e]« (Ebd., 137) Erstheit des Zeichens – die Deleuze als dessen referentielle Potentialität auffasst – evoziere das phänomenologische Theorem des affektiven Apriori das Niveau eines gleichsam puren Ausdrucks, in dem »das Mögliche« (Ebd., 137) in Absehung von seinen Aktualisierungen, eben »als solches« (Ebd., 138) exponiert werde. Der Kontext des allusorischen Kommentars, den Deleuze Scheler an diesem Punkt widmet, besteht innerhalb der in den beiden BüBemerkenswert ist, dass Maurice de Gandillac 1959 anlässlich einer französischdeutschen Tagung in Cerisy-la-Salle zur Pertinenz der Konzepte von »Genese« und »Struktur« an den Grenzen des phänomenologischen Denkens die pointierte Trennung Schelers zwischen den Vollzügen der »Einfühlung« und der »Einsfühlung« in Erinnerung gerufen hatte – eine Entflechtung, die Deleuze möglicherweise dank de Gandillac geläufig wurde. Siehe Gandillac 1965, 346 (Hervorhebungen i. O.): »Dans toute structure enfin, on pourrait montrer le rôle des thèmes de transparence, d’évidence, ce qui nous conduit aux thèses d’Otto et de Scheler, à l’idée des saisies intuitives, non par Einfühlung, par intropathie, mais par Einsfühlung, c’est-à-dire par un mode d’appréhension plus émotionnelle que sensitive. Le Fühlen schélerien n’est ni affect, ni Gefühl, mais saisie immédiate et intuitive d’une structure. On l’a parfois rapprochée de l’intuition telle que Bergson, par exemple, l’a définie dans des textes classiques, à propos de la philosophie de Berkeley.« 15

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chern über das Kino entfalteten Taxinomie filmischer Bilder 16 in einer Erläuterung des sogenannten »Affekt-Bilds«. Ein Affekt-Bild geht, wie es Mirjam Schaub ausgedrückt hat, aus einer »zirkulierenden Leerstelle, Pause oder Verzögerung« (Schaub 2003, 94) hervor, der es eine gleichsam semipermeable Qualität verdankt: Nicht alle Wirkungen, die auf ein solches Bild einströmen, aktualisieren sich. Vielmehr antizipiert das Affekt-Bild solche Reize, die im Hinblick auf seine spezifische Position in der Gesamtheit aller Bilder Signifikanz erlangen können. Umgekehrt sind jene Impulse, die ein Affekt-Bild aus sich selbst heraus produziert, »nicht mehr unmittelbar mit der Einwirkung verknüpft: wegen des Intervalls sind es aufgeschobene Reaktionen, die für die Wahl ihrer Elemente, ihre Organisation und Integration in eine neue Bewegung Zeit haben« (Deleuze 1998, 91). Im Affekt also, so Deleuze, »hört die Bewegung auf, bloße Verlagerung zu sein und wird Ausdrucksbewegung, das heißt Eigenschaft, einfache Strebung, die ein unbewegliches Element erregt« (Ebd., 97). Genau dieser Konnex zwischen einer konstitutiven Apriorität der Affekte und einem Begriff bzw. Denken des Ausdrucks bildet die Schwelle, an der die denkerischen Bahnen von Deleuze und von Scheler aufeinandertreffen. Welche Rolle aber spielt das Niveau eines »affektiven Apriori« innerhalb des philosophischen Gesamtvorhabens von Deleuze, das man – gerade auch, um es vom Diskurs der Philosophischen Anthropologie abzugrenzen – mit Grund als einen »Transzendentalen Empirismus« (Rölli 2003) rekonstruieren könnte? Zum Verständnis der noch kommenden Darlegungen kann es erhellend sein, sich zu vergegenwärtigen, was Deleuze eigentlich unter einem »Bild« versteht: »Nennen wir Bild die Menge dessen, was erscheint. Man kann nicht einmal sagen, dass ein Bild auf ein anderes einwirkt oder auf ein anderes reagiert. Es gibt nichts Bewegliches, das sich von der ausgeführten Bewegung unterscheide, es gibt nichts Bewegtes, das getrennt von der übertragenen Bewegung bestünde. Alle Dinge, das heißt alle Bilder fallen mit ihren Aktionen und Reaktionen zusammen: das ist die universelle Veränderlichkeit« (Deleuze 1998, 86). Die Immanenz von Seiendem, Bild und Bewegung lanciert das Spiel einer unendlichen Produktion und Mutabilität: Kein Bild ohne eine Modifikation, die sich von einer anderen Bewegung her in das Bild einschreibt oder die es an einem Punkt, zu dem es seinerseits in Beziehung steht, hervorbringt. Ein Bild ist also – darin liegt die doppelte Pointe des Ausgangspunktes von Deleuze mit Bergsons Matière et Memoire – weder Repräsentation noch Reproduktion noch das Korrelat eines Blicks, denn letzterer vollzieht immer schon die Brechung jener transluziden Lichtlinien und Lichtströme, die nichts anderes konstituieren als das Fluidum der Dinge, der Materie selbst. Seiner Grundstruktur nach ist daher jedes filmische Bild »Bewegungs-Bild« – so der terminus technicus von Deleuze.

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Misslich könnte die von Deleuze selbst verwendete Denomination (z. B. Deleuze 1992, 84 f., 186 f.) des »Transzendentalen Empirismus« deshalb wirken, weil sie zweifellos weder auf eine (etwa phänomenologische) Renaissance von Kants Transzendentalphilosophie samt deren epistemologischer Umstellung der Ontologie auf eine bloße Analytik des reinen Verstandes zulaufen noch einen dogmatischen Rückgang hinter Kant zurück zu einem sensualistischen Empirismus à la Locke oder Hume vollführen soll. Eher geht der Transzendentale Empirismus bei Deleuze aus einer Dispensation, einer Art strategischen Aushebelung von Kants »Transzendentaler Analytik« hervor. Deleuze überspringt Kants Theorie der transzendentalen Schemata als Verfahren der Subsumtion des anschaulich Gegebenen unter die Kategorien, d. h. er umläuft Kants Hypothese zur Vermittlung zwischen diskursivem Denken und Sinnlichkeit in transzendentalen Zeitbestimmungen, indem er eine direkte Ideation des Denkens im Sinnlichen postuliert (dazu Brassier 2007, 193 f.), die nicht begrifflich mediatisiert ist. Während bei Kant das Mannigfaltige der Empfindung der apriorischen Synthesis des Verstandes bedarf, um allererst die gegenständliche Form einheitlicher Anschauung und damit von möglicher Erfahrung überhaupt annehmen zu können, denkt Deleuze dieses sinnlich Mannigfaltige als Inkarnation eines eidos oder genauer als »Aktualisierung eines virtuellen Ensembles von Veränderungen, die nichts anderes als das Sein des Seienden sind« (Besana 2004, 320). Wir treffen hier auf den neuralgischen Punkt in der Rückkehr zur Ontologie bei Deleuze: Er behauptet in der Tat nicht nur, dass alles konkrete Seiende die Verkörperung seiner ihm inhärenten Idee ist. Vielmehr ist er bestrebt, gegen Platon die Struktur der Idee, d. h. des Seins selbst, als indifferent gegen die Unterscheidung zwischen dem Einen und dem Vielen zu entwickeln. Die Idee ist also nicht allein das immanente und invariante Prinzip des mannigfaltigen Seienden; sie ist selbst nichts anderes als intern-ideale Mannigfaltigkeit, Vielheit und damit, wie Deleuze sagt, »Differenz« (Deleuze 1992, 11 f.). Auf genau dieses Argument kommt es an, wenn man wie Deleuze die These von der »Univozität des Seins« (Ebd., 56 ff.) rehabilitieren will: Das Sein wird in ein-und derselben Weise von all seinen es individuierenden Differenzen und intrinsischen Modalitäten ausgesagt, so sehr auch diese Differenzen und Modalitäten voneinander qualitativ differieren. Der Transzendentale Empirismus muss demnach sowohl die Grenzen der aristotelischen physis als auch jene der transzendentalen Repräsentation 35 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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sprengen: »Immer aber ist die Mannigfaltigkeit auf intrinsische Weise definiert, ohne daraus herauszutreten oder auf einen gleichförmigen Raum zu rekurrieren, in den sie eingebettet wäre. Die raum-zeitlichen Relationen bewahren zweifellos die Mannigfaltigkeit, verlieren aber deren Interiorität; die Verstandesbegriffe bewahren die Interiorität, verlieren aber die Mannigfaltigkeit, die sie durch die Identität eines Ich denke oder eines Etwas an Gedachtem ersetzen. Die interne Mannigfaltigkeit ist, im Gegenteil, das Merkmal der Idee allein« (Ebd., 234). Deleuze wickelt die »Transzendentale Dialektik« Kants gleichsam in die »Transzendentale Ästhetik« ein, um die Immanenz der Idee im Sinnlichen, des Noumenalen im Phänomenalen zur Entfaltung zu bringen: 17 Insofern ersetzt der Transzendentale Empirismus die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori bzw. der intersubjektiven Gegenstandsreferenz unserer Erfahrung durch die Frage nach den prozessualen Synthesen, in denen sich die Idee (will sagen: die virtuelle Mannigfaltigkeit) so im Raum und in der Zeit des Seienden aktualisieren kann, dass sie in dieser Bewegung zugleich in sich selbst impliziert bleibt (Deleuze 1992, 317 f.). Um in den eben geschilderten Hinsichten Platon umkehren und Kant über sich hinaustreiben zu können – also das Sein als immanent, univok und differentiell zu bestimmen – muss Deleuze zeigen, wie es geschehen kann, dass die Differenzen, die das interne Mannigfaltige individuieren, nichts anderes sind als dieses Sein selbst in seiner Einheit und Konsistenz. Den Schlüssel, der diesen Gedankengang ermöglicht, bietet eine Theorie der Individuation/Individuierung (Deleuze 1992, 62 f.) – und in genau diesem Rahmen spielt das Theorem des »affektiven Apriori« auf signifikante Weise mit. In gewisser Weise finden in der Individuationstheorie von Deleuze die beiden nominellen Pole seiner immanenten Ontologie: Dieser zielgenau gegen Kant ausgeführte Schlag gegen eine Epistemologie der Repräsentation wird scharf herausgearbeitet von Brassier 2007, 163. Auch de Beisteguis Interpretation trifft m. E. den neuralgischen Punkt: »Thought, Deleuze claims, […] is entirely immanent to what it thinks, immanent, that is, to the real that provokes it. For idealism, on the other hand, it is the real that is immanent to thought.« (Beistegui 2010, 13 f.; Hervorhebung i. O.) Allerdings scheint als Kontrastfolie zu der von Deleuze angesteuerten Ontologie der Immanenz weniger das vorkritisch-metaphysische Begriffspaar Idealismus/Realismus stichhaltig zu sein als vielmehr die kantische Auffächerung in (jeweils transzendentale) Ästhetik, Analytik und Dialektik.

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»Differenz« und »Wiederholung« zusammen. Nicht nur verhält es sich so, dass das Sein gar nicht anders »ist« als im Modus des infiniten Prozessierens einer Individuation, die jedes Seiende und sich selbst in jedem Seienden in die Differenz des Virtuellen vom Aktualen aufspaltet, 18 d. h. es gilt nicht nur, dass das Sein selbst schiere Differenz ist. Mehr noch individuiert sich das Sein als reine Differenz zuletzt auf eminente Weise, nämlich in einem »selektiven Denken« (Ebd., 370), das die eigentümliche Struktur des Seins als Immanenz bejaht, indem es sie iteriert. Man darf nicht überlesen, dass das Mantra des Textes von Deleuze in Nietzsches Formel von der ewigen Wiederkunft des Gleichen liegt: Deleuze transponiert Nietzsches kosmologische Hypothese und die darin implizierte Disparität zwischen der unendlichen Kontinuität der Zeit und der begrenzten Zahl möglicher Kombinationen der Welt in die Figur einer eminenten und produktiven »Wiederholung«, die nicht das wiederholt, was sich ausdehnt und qualifiziert, was ähnelt oder gleicht, sondern allein, wie Deleuze sagt, »die aus den Angeln gehobene Zeit« (Ebd.), d. h. das Ideelle, das Ungleichartige, dasjenige, was sich stets zurückbehält: die Differenz. Deleuze liest Nietzsche in Spinoza ein: »Damit das Univoke zum Gegenstand reiner Bejahung werden konnte, fehlte dem Spinozismus nur, dass er die Substanz um die Modi kreisen ließ, d. h. dass er die Univozität als Wiederholung in der ewigen Wiederkunft verwirklichte« (Ebd., 376; Hervorhebung i. O.). Entscheidend ist, dass dieses eminente Denken des Seins, das dasjenige am Sein affirmiert und wiederholt, was gegenüber seiner eigenen Aktualisierung inkommensurabel bleibt, die Bedeutung dessen, was Philosophie sein kann, verschiebt: Denken wird zu ontologischer Produktion, zu einer dynamischen Praxis der Generierung von Singularitäten und Novitäten. Auf dem Spiel steht für Deleuze damit der Schritt, durch den sich das Differenzierungsgeschehen der Differenz (als »das Sein«) erst voll zu erfüllen vermag, nämlich so, dass es seine Wiederholung unter den Bedingungen reiner Immanenz hervorbringt. Dies ist das veritable Telos des ontologischen Umdenkens, Diese ontologische Duplizierung alles Seienden in sich selbst plausibilisiert Deleuze, indem er zwischen der virtuellen »Differentiation« der Ideen als problematischen Multiplizitäten und ihrer aktualisierenden »Differenzierung« zu extensiven Teilelementen und Qualitäten unterscheidet. Die ideelle »Differentiation« bezieht sich mithin auf den »virtuellen Gehalt der Idee«; die »Differenzierung« des Ideellen vollzieht dessen (unbeendbare) Aktualisierung durch »lokale Integrationen« (Siehe Deleuze 1992, 265).

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an dem Deleuze in Differenz und Wiederholung arbeitet: Wenn sich zeigen ließe, »dass sich das Sein« (Ebd.) genau in dem Maße »›auf jede Weise‹ in ein und demselben Sinn [sens] aussagt« (Ebd.), dass es sich gerade »vom Differierenden aussagt, von der Differenz, die selbst immer im Sein beweglich ist und verschoben wird« (Ebd.), hätte man eine spezifische »Öffnung« (Ebd., 377) in den alten Raum einer Ontologie der Immanenz hineingeschlagen. Diese Öffnung schließlich würde es erlauben, dasjenige, was der metaphysischen Tradition als »seßhafte […] Verteilungen der Analogie« (Ebd.) erschienen war, d. h. jedes einzelne Seiende, im nunmehr verwandelten Modus von »nomadischen Verteilungen oder gekrönten Anarchien im Univoken« (Ebd.) zu wiederholen. Das Phänomen der Individuation ist bei Deleuze der Ort, an dem sich die beschriebene Bifurkation, die interne Verzweigung alles dessen, was ist, 19 in die beiden Stränge der ganz in sich selbst beschlossenen Virtualität gegenüber der differenzierenden Aktualisierung der Idee am klarsten artikuliert und am schärfsten hervorheben lässt: »Jedes Objekt ist doppelt, ohne dass sich seine beiden Hälften ähneln, von denen die eine das virtuelle Bild, die andere das aktuelle Bild ist. Unpaarige ungleiche Hälften« (Ebd., 265). In dieser Hinsicht gibt die Theorie der Individuation Ausblick auf das vorhin als »Telos« bezeichnete Moment der Philosophie von Deleuze, nämlich auf den Umschlagspunkt von Differenz in Wiederholung und damit von einem ontologischen Denken/Denken der Ontologie in die nun selber differentielle »Tat« (Ebd., 369) der affirmierenden Wiederholung der Immanenz des Seins. Zugleich umgreift die Individuationslehre jedoch auch so etwas wie eine Phänomenologie, 20 die konkretisiert, Auf ihrer basalsten Stufe beschreibt Deleuze mit seiner Theorie der Individuation bekanntlich die biopsychische Ausdifferenzierung sogenannter »larvenhafter Subjekte« (Deleuze 1992, 110), die über die Ausbildung primitiver Gewohnheiten bereits so etwas wie Kontraktionen temporaler Differenz aus räumlicher Wiederholung herausproduzieren. 20 Es ist hilfreich, wenn Marc Rölli sich nicht scheut, das Thema einer latenten Phänomenologie bei Deleuze produktiv zu machen (Rölli 2005, insb. 93). Zweifelsohne muss das Festhalten an dieser Begrifflichkeit quer stehen zum methodologischen Selbstverständnis von Deleuze. Aber der Vorzug des Verfahrens einer spekulativen Ideengeschichte läge nicht zuletzt darin, gerade auch die wissenschaftspolitisch oder auch generationell motivierten Vorzeichen eines philosophischen Diskurses in der Rückschau als solche und d. h. ein ums andere Mal als »blinde Flecken« kenntlich machen zu können. Ebenfalls innovativ Andermann 2007. Was Rölli durch seinen (im erweiterten, d. h. nicht im Schulsinne) »phänomenologi19

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wie sich die innere, alles Seiende individuierende Gabelung der Idee im spontanen Verhalten der Individuen niederschlägt, wie sich also das Ineinandereinmünden von Differenz in (zuletzt: eminenten, affirmative) Wiederholung eigentlich auf der Ebene distinkter Akte ausdrücken soll. Vor diesem Hintergrund ist das Zusammenspiel der Konzepte des »Intensiven«/der »Intensität« und des »Affekts« bei Deleuze zu verstehen, die in ihrer Verweisung aufeinander die Bedeutung dessen erhellen, was Deleuze mit der Figur des »affektiven Apriori« zum Ausdruck bringt. Wie hängen nun diese Begriffe zusammen und was leisten sie für die Position von Deleuze? Man muss hier zurückkommen auf die Strategie von Deleuze, Kants Transzendentale Analytik und die darin formulierte Grundlegung der Einheit des Mannigfaltigen aller Anschauungen qua »transzendentaler Apperzeption« auszuhebeln durch die Struktur einer unvermittelten (Ein-)Faltung der Idee im Sinnlichen. Deleuze verweigert Kants transzendentale Umstellung der Ideen von konstitutiven Begriffen zu indirekten regulativen Grenzen der Erkenntnis, aber was er durchaus von Kants Lehre von den Ideen aufgreift, ist die Einsicht in deren (im Sinne von Kants Vokabular) »problematischen« Stellenwert (Deleuze 1992, 217 f.): Die Idee als absolute Totalität, als das Unbedingte, das die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen sie gedacht werden kann, selbst noch einmal umfasst, kann nicht in der Erfahrung gegeben sein; aber gleichwohl ist diese Unbedingtheit der Idee dasjenige, auf das hin sich der infinite Regress des Denkens ausrichtet. Für Deleuze heißt das nun nichts anderes, als dass die Idee »intensiv« (Ebd., 294) ist und wirkt: Es liegt etwas im Sinnlichen, das es »nötigt«, 21 zu empfinden, das nur im Empfinden zugänglich werden schen« Zugriff auf Deleuze an den Tag bringen kann, ist die wichtige Figur einer Invertierung von ontologischer und lebensweltlich-faktischer Affizierung der Körper durch die (differentielle) Idee: »[V]on Rechts wegen muss die immanente Struktur des Werdens, d. h. dynamische Zusammenhänge zwischen singulären Punkten, den bewusst werdenden Aktualisierungsresultaten vorausgesetzt werden. Faktisch stellt sich diese Anordnung aber auf den Kopf: primär gegeben sind dann zunächst die normalen und alltäglichen Akte der Repräsentation, die Gewohnheitswelt der Objekte und der Dinge, die uns als einigermaßen stabile Personen umgeben. Nur in Extremsituationen, in Verschiebungen der Bewusstseinsschwelle, in plötzlichen Ereignissen, aufbrechenden Metamorphosen, Überwältigungen im Bann von Kunstwerken werden uns die intensiven und virtuellen Regionen des Lebens sichtbar.« (Ebd., 93 f.). 21 Siehe Deleuze 1992, 186:

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kann und dennoch unsinnlich bleibt. Das Konzept des Intensiven wahrt hier eine prägnante Äquivokation: Auf der einen Seite markiert es den »implikativen Seinsmodus« (M. Rölli) der ideellen Differenz. Andererseits jedoch hat der Begriff des Intensiven eine phänomenologische Komponente, denn er qualifiziert auch jene Zustände, in denen wir tatsächlich im Sinnlichen ek-statisch dasjenige freilegen, was zu empfinden gibt, ohne sich empfinden zu lassen – solche Zustände also, in denen sich unser Denken seinem inneren Un-Grund zuwendet, der spezifisch nur das Denken umtreibt und doch selbst nicht zu denken ist. Intensiv im Sinne von grenzwertig, singulär und zugleich intentional ist also nicht nur der Seinsmodus der Differenz, der Idee als problematisches Unbedingtes. Intensiv sind auch die Erfahrungen, in denen sich uns die Differenz phänomenologisch an sich selbst gibt. Was sich in ontologischer Hinsicht als prioritär erweist – die immanente und individuierende Kraft der Differenz im Seienden (siehe Rölli 2005, 93 f.) – hängt phänomenologisch an der Erfahrung von Ausnahmen und Abweichungen: Es ist diese reziproke Angewiesenheit von Differenz und Erfahrung, die der Begriff des Intensiven umspielt. Der Begriff des »Affekts«, den Deleuze ansetzt, schließt exakt hier an. Natürlich firmiert er zum einen innerhalb der grundlegenden Strategie eines Umsturzes von Kants Transzendentalismus: In Anlehnung an Spinoza deutet Deleuze das kantische Problem der »Affektion« in »Affizierung«, in die Bewegung einer unsere Vermögen allererst dynamisierenden Exteriorität um, die ihnen streng äußerlich bleibt und gerade dadurch dazu bringt, ihre eigene Ausübung zu initiieren (siehe Deleuze 1993b, 211–215). Zum anderen aber wird in der Kategorie des »Affekts« das Ringen von Deleuze um eine positive Ontologie der Immanenz aporetisch. Denn was man im Umgang von Deleuze mit dem Phänomen (mit seiner Phänomenologie) des Affekts feststellen kann, ist das Folgende: Für Deleuze ist es nicht damit getan, im Affekt eine »Affizierung« des Körpers durch die Idee zu sehen, die sich in ihm in der Dopplung des Virtuellen und des Aktuellen differenziert. Vielmehr fasst Deleuze die Affekte des Körpers zugleich als Wege der authentischen Wiederholung des nunmehr in seiner Univozität zu bejahenden Seins auf; er sieht in den »Jedes Vermögen muss an den äußersten Punkt seiner Störung getrieben werden, an dem es […] zur Beute […] der Gewalt dessen [wird], was zu erfassen es genötigt wird und was allein es zu erfassen vermag, obgleich dieses […] auch das Unfassbare ist.«

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Affekten Akte einer ontologischen »Wahl«, die die Gabelung der Differenz in die Stränge des Virtuellen und des Aktualen noch einmal aktiv in sich aufzunehmen hat. Das Problem dieser Konzeption liegt darin, dass sie eine Vorzugsstellung der Virtualität der Idee (im Unterschied zu ihrer Aktualisierungsachse) zementiert, die das initiale Anliegen der Ontologie von Deleuze durchkreuzt. So sehr sich das ontologische Projekt von Deleuze, d. h. sein Denken in »Differenz« und »Wiederholung«, als »Ausdrucksphilosophie« (Deleuze 1993b, 17 ff.) konstituiert, so sehr fehlt Deleuze ein phänomenologisch adäquater Zugang zum »Ausdruck«, zum Ausdrucksverhalten affiziert-affektiver Körper. Genau hier läge die Bereicherung, die Deleuze aus einer näheren Befassung mit Schelers anderer Konfiguration eines »affektiven Apriori« hätte ziehen können. Bevor jedoch dieser Vergleich ausgezogen werden kann, ist es nötig, den kontestablen Punkt in den Überlegungen von Deleuze zur Struktur des Affekts zu markieren. Einmal mehr führt der Weg hier zurück zur Situierung des Affektphänomens in den Büchern von Deleuze über das Kino. Es ist nicht nur so, dass, wie bereits hervorgehoben, ein »Affektbild« für Deleuze eine gleichsam gestaute Bewegung umschließt, einen Intervall, der die Passage von der Perzeption zur Aktion, von der Sensorik zur Motorik unterbricht, um als Intervall in Erscheinung zu treten. Vielmehr spricht Deleuze von einer intrinsischen Zweiteilung des Affekts in seine ihn aktualisierende Expression und seine »Potentialqualität« (Deleuze 1998, 143). In Dreyers Film über Jeanne d’Arc breite sich die expressive Wucht des Affektiven über die leiblich-personalen Regungen, über den »Zorn des Bischofs und das Martyrium von Jeanne« (Ebd., 149; Hervorhebung i. O.) hinweg und durch sie hindurch aus. »[V]on den Rollen und Situationen bleib[e]« zuletzt nichts weiter übrig als jener »unerschöpfliche und leuchtende Teil [des Ereignisses, nämlich hier des Martyriums der Johanna, TE], der über seine Aktualisierung hinausgeht, die Vollendung, die selbst niemals vollendet ist« (Ebd.) Der affektive Ausdruck der Leiber ist stets eine Expression, in der lokal zum Ausdruck kommt, was sich sui generis jeglicher Aktualisierung vorenthält. An kaum einer anderen Stelle zeigt sich eindringlicher, inwiefern sich in die Suche nach der ontologisch reinen Immanenz bei Deleuze eine empfindliche »Eminenz« 22 einschleicht, die quer zum differentiellen Denken des Seins 22

Dabei wird Deleuze in seinem Spinoza-Buch nicht müde, Denkfiguren der Emi-

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steht: Die Affekte werden von Deleuze keineswegs als psychophysisch neutrales Ausdrucksverhalten lebendiger Leiber aufgefasst, sondern als Ausdruck einer (die Körper affizierenden) »Selektionsmacht« (Deleuze 1992, 370), die – soteriologisch – die Reihen des rein Spirituellen und des bloß Aktualen voneinander scheidet. »Die höchste Prüfung liegt darin, die ewige Wiederkunft als das selektive Denken, die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr als das selektive Sein zu begreifen. […] Das Selbe und das Ähnliche, das Analoge und das Entgegengesetzte kehren nicht wieder. Einzig die Bejahung kehrt wieder, d. h. das Differente, das Ungleichartige« (Ebd., 370 f.): Sätze wie dieser verblüffen, weil sie herausstreichen, dass Deleuze keineswegs, wie es sein ontologisches Vorhaben verlanget, zu einer Hypothese strikter Immanenz vorstößt. Der Affekt erscheint als Instanz und als Gegenstand einer spiritualisierten Wiederholung, die »an ihm den Teil freilegt, der sich nicht aktualisieren lässt, der jede Erfüllung überschreitet (der ewige Neubeginn, die ewige Wiederkehr)« (Deleuze 1998, 161). Deleuze verfolgt den forcierten Anspruch, den veränderten, nunmehr differentiellen Zugang zur Univozität des Seins (d. h. zur reinen Immanenz) durch die eminente Operation einer Wiederholung zu erreichen, die »selektives Sein« und »selektives Denken« ineinander überführt: Transformation von Philosophie in ontologische Produktion. Ich möchte abschließend wenigstens einen knappen Hinweis geben, wie diese Dekomposition des ontologischen Projekts von Deleuze in einen erneuerten Spiritualismus und in die Dualismen zwischen dem Aktualen und dem Virtuellen, zwischen der Ästhetik der Intensitäten und der Dialektik der Ideen, zwischen Differenz und Wiederholung durch einen möglichen Rückbezug auf Schelers Fassung eines »affektiven Apriori« kritisiert und verhindert werden könnte.

3.

»Unmittelbarer Erlebnisverkehr mit der Welt selbst«: Das »affektive Apriori« bei Scheler

Wie gesagt: Scheler war Deleuze durch die Vermittlungen de Gandillacs und Klossowskis sowie durch Mikel Dufrennes Reformulierung nenz (etwa von Seiten der rationalen Theologie von Descartes) aus dem ontologischen Universum der Immanenz (Spinoza) kritisch auszuschließen. Siehe Deleuze 1993b, 54 ff.

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von Schelers »materialem« zu einem »affektiven« Apriori vertraut (Dufrenne 1959). Doch seine Wahrnehmung der schelerschen Theoreme reichte nicht so weit, als dass Deleuze den signifikanten Schnittpunkt zwischen ihren Ansätzen hätte erfassen können: Beide Autoren denken gegen das kantische Modell diskursiver Repräsentation an das Thema einer direkten Ideation des Ideellen im Sinnlichen. Während Deleuze, wie oben dargelegt, eine Ontologie reiner Immanenz in den Registern der Differenz und der Wiederholung im Blick hat, erscheint das Thema der Ideation bei Scheler unter den Bedingungen einer reellen Phänomenologie, die leibgebundene Vollzüge der Teilhabe an noumenalen Werten (methexis) differenziert (zu Schelers Axiologie siehe neuerdings Hausen 2015). Nähe und Disparität beider Positionen zeigen sich spezifisch an ihren je verschiedenen Konfigurationen eines »affektiven Apriori«. Um diese »Parallelaktion« zwischen Scheler und Deleuze prägnant charakterisieren zu können, ist es zunächst wichtig zu akzentuieren, dass Scheler in seinem monumentalen Buch Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (Scheler 1954) gut phänomenologisch eine Ordnung noetisch-noematischer Korrelationen zwischen Aktvollzügen und den ihnen je spezifisch entsprechenden »Gegenständen« des intentionalen »Wertfühlens« etabliert. Als ursprünglich und grundlegend für »alles empirische Verstehen (auch soziales und historisches Verstehen)« (Ebd., 272 f.; Hervorhebung i. O.), einschließlich des Verstehens »fremder Menschen« (Ebd.) wie auch »unserer eigenen empirischen Erlebnisse« (Ebd.) setzt Scheler ein intentionales »Sichbeziehen, Sichrichten des Fühlens auf ein Gegenständliches, auf Werte« (Ebd., 271; Hervorhebung i. O.) an. Nicht ein subjektiver Transzendentalismus, der die Apriorität der Relation des Fühlens im Bewusstsein verankert (das sich dann nicht länger als Prinzip kognitiver, sondern gleichsam sentimentaler Synthesen ausweisen würde), wird hier von Scheler begründet, sondern eine phänomenologische Verklammerung von Noesen und Noemata. Allerdings fasst Scheler dieses »Korrelationsapriori« in Entgegensetzung zu Husserl wiederum nicht so auf, als verdanke sich dieses irreduzible Ineinander von Vollzug und Gegenstand (des Fühlens) einer immanenten Synthesis des Bewusstseins. Vielmehr gelte, dass »die Wertgegebenheit und die Wertunterscheidung der Gegenstände […] also der Erfahrung der Gefühlszustände, welche diese Gegenstände bewirken, prinzipiell voraus« (Ebd., 261; Hervorhebung i. O.) liegen. Scheler vertritt also einen axiologischen Realismus, eine phäno43 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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menologische Konzeption real (nicht im Sinne von: empirisch) gestufter Wertgehalte, worin die intentionalen Akte, in denen sie stets schon gegeben sind, allererst gründen. In dieser permanenten Äquivokation erweisen sich sowohl die Realordnung der Werte als auch die mit ihnen jeweils intentional korrelierenden Akte werthaften Erlebens als psychophysisch neutral gegenüber der Alternative, entweder ontologisch »an sich« wirklich oder immanente Gehalte von Bewusstsein sein zu müssen. Man kann jetzt entscheidend präzisieren, welchen Status das Motiv eines »affektiven Apriori« innerhalb von Schelers Begrifflichkeit einnimmt: Denn obwohl Scheler mit dem Konzept des »Affekts« arbeitet, handelt es sich dabei keineswegs um die Vokabel, die die prononciertesten Akte intentionalen Werterfassens bezeichnet. Im Gegenteil: Bei Scheler rangieren Affekte als »zuständliche Gefühle« (Ebd., 274), die ihrerseits auf grundlegenderen Wertungen »gewisser Übel[n]« (Ebd., 272) oder als positiv qualifizierter Werte aufruhen. In dieser Hinsicht sind »Affekte« für Scheler zunächst durch binär gelagerte »Antwortsreaktionen« (Ebd.) wie »Sichfreuen und Sichbetrüben« (Ebd.) grundiert. Keiner dieser beiden Akttypen – die Affekte wie die »Antwortsreaktionen« jedoch – ist für Scheler im engeren Sinne »intentional«, da in beiden Fällen zwar ein »Fühlen von« vollzogen, nicht aber als »Fühlen von« gegenständlich werde. Eine solche höherstufige »Reflexion« (Ebd., 273) erkennt Scheler erst den werterschließenden »Fühlfunktionen« (Ebd., Hervorhebung i. O.) zu, die nicht auf gegenständliche Akte des Urteilens etc. angewiesen sind, sowie a fortiori den werthaften Akten des »Vorziehens« bzw. des »Nachsetzens« von Wertungen und schließlich insbesondere »Lieben und Hassen« (Ebd., 274; Hervorhebungen i. O.) als solche intentionale »Bewegung[en], in deren Verlauf jeweilig neue und höhere, d. h. dem betreffenden Wesen noch völlig unbekannte Werte aufleuchten und aufblitzen« (Ebd., 275; Hervorhebungen i. O.) können. 23 Stichhaltig von einem »affektiven Apriori« bei Scheler zu sprechen impliziert, sich diese Schichtendifferenzierung von Aktformen und der jeweils durch sie intentional erfassten Wertgehalte präsent zu halten. Doch muss man diese Abstufungen nicht jedes Mal durchlaufen, um festhalten zu können, dass Scheler in der Tat von einem »materialen« (und in einem zu explizierenden darin auch »affektiven«) Apriori ausgeht. Dass dieses Apriori für Scheler nun weder 23

Für eine detaillierte Analyse dieses Aufbaus siehe Zhang 2010, 2.

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»Affektives Apriori«

realontologisch der Objektseite noch transzendental-idealistisch der Immanenz des Bewusstseins zugeschlagen werden kann, sondern eher in einer ekstasis anzusiedeln ist, die das werthaft erfasste Phänomen mit dessen korrelativem Erlebnis (und dem, der dieses Erlebnis erlebt) verschränkt, geht besonders klar aus Schelers Auseinanderhalten von Phänomenen der »Einfühlung« und Phänomenen der »Einsfühlung (resp. Einssetzung)« in Wesen und Formen der Sympathie (Scheler 1948, 15; Hervorhebung i. O.) hervor. Scheler entwickelt hier das Argument, dass jeglichem Akt einer »projektive[n] ›Einfühlung‹« (Ebd., 9; Hervorhebung i. O.) in Fremdpsychisches die Unmittelbarkeit eines »gegenseitigen Verschmelzungsphänomen[s]« (Ebd., 23) zwischen Wertfühlung und gefühltem Wert vorgeordnet ist. Den Dingen selbst inhärieren objektive Werte, und deren Freilegung wiederum passiert in einem, wie Scheler andernorts schreibt, »lebendigen, intensiven und unmittelbaren Erlebnisverkehr mit der Welt selbst« (Scheler 2000, 30). Der Gegenfall dieser spontanen Einheit des Wertes der Sache mit dem intentionalen Fühlen, in dem sich die Erfassung des Werts immanent bewegt, stelle Kants funktionalistische Begrenzung der Wesenserkenntnis auf »das Gesetz der bloßen ›Anwendung‹ des auf die zufälligen Tatsachen gerichteten Verstandes« (Scheler 1921, 445 f.) dar: Dies liefe auf eine Transformation des materialen in einen formalen und funktionalistischen Apriorismus hinaus. Diesem ganzen Gedankengang wäre nun noch ein letzter Punkt hinzuzufügen: Denn Scheler bindet die von ihm freigelegte Struktur der instantanen »Fühlung« eines realen Werts an die phänomenologische Apriorität der Leib- vor der Körperlichkeit (Scheler 1954, 409 ff.). Während die Hinsicht auf den Körper aus einer »Ich-Außenwelt«-Unterschiedenheit heraus erfolgt, die auch das eigene »Ich« als Körper unter Körpern zu objektivieren vermag (was mit Komplexionen organischer »Empfindung«) korreliert, ist das leibliche Selbsterleben anders gelagert: Als »fundierende[s] Grundphänomen« (Ebd., 410) jeder solchen Objektivierung und jeder auf körperliche Korrelate bezogenen Empfindung läuft stets schon unsere Eigenleiblichkeit mit, von der »wir mit dem möglichen äußeren Bewusstsein auch noch ein inneres Bewusstsein« (Ebd., 409) haben (dazu Schürmann 2012, 213). Von daher lassen sich Schelers Überlegungen zur Apriorität der Relation, in der Werterfassung und Wertgehalt einander durchdringen, dahin gehend vervollständigen, dass diese ekstatische Relation sich stets als eine leibliche vollzieht und gegeben ist. Und damit ist zu45 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Thomas Ebke

gleich der Hintergrund markiert, vor dem Scheler später in Die Stellung des Menschen im Kosmos behaupten konnte, »dass Lebewesen nicht nur Gegenstände für äußere Beobachter sind, sondern auch ein Fürsich- und Innesein besitzen, in dem sie sich selber inne werden« (Scheler 1966, 12; Hervorhebung i. O.). Und diese leibliche Grundgegebenheit des Lebendigen für sich selbst und andere ist es, die Scheler mit dem Begriff des »Ausdrucks« (Ebd., 15; Hervorhebung i. O. belegt). Damit haben wir zuletzt ein ebenso eigentümliches wie signifikantes Resultat vor uns: Ebenso wie Deleuze ist Scheler an einem Zugang zur unmittelbaren und »intensiven« Ideation ideeller Gehalte im Sinnlichen interessiert. Und wie Deleuze denkt Scheler hier an eine spezifisch affizierend-affektive Bewegung: An eine »Einsfühlung« der Leiber mit Wertgegebenheiten, auf die hin sich diese Fühlungen je und je intentional ausrichten. Das immer schon ästimative Verhalten derart »affizierter« Leiber nennt Scheler »Ausdruck«. Diese Konzeption eines »affektiven Apriori« und seiner Folgen hat die Mittel, den ungewollt dualistischen Sprung in der Argumentation von Deleuze zu entschärfen, der wiederum auf seine Weise versucht hat, die Figur des »affektiven Apriori« fruchtbar zu machen: Denn anders als bei Deleuze gerät bei Scheler die aisthetische methexis am Ideellen nicht zu einer spirituellen Wiederholung oder Wahl, die die immanente Teilung der Differenz in ihren virtuellen und ihren aktualen Strang normativ noch einmal zu potenzieren hätte. Vielmehr wäre der Ausdruck unserer Teilhabe an der Idee bei Scheler nicht eine Frage dessen, was wir wollen, sondern dessen, was wir schon immer sind: Leibliche Wesen, die sich und ihr Außen nicht anders als durch das Raster wertender Fühlungen: durch ein »affektives Apriori« zu spüren vermögen.

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Vital turn Lebensphilosophie und Philosophische Anthropologie als moderne Parallelparadigmen: Bergson und Plessner

Einführung Um gleich mit der Erläuterung des Titels zu beginnen: »Vital turn« – unter diesem Titel soll eine moderne Denkressource freigelegt werden, eine deutsch-französische Denkressource, also eine europäische Denkressource des 20. Jahrhunderts, die im Feld der Theorieansätze des 21. Jahrhunderts bisher nicht genügend markant und präsent ist. Der Terminus »vital turn« lehnt sich an den üblichen Sprachgebrauch des Poststrukturalismus an (mit der Kaskade von »turns« in den Kultur- und Sozialwissenschaften) und markiert zugleich eine entschiedene Differenz gegenüber dieser Denkrichtung. Poststrukturalismus – das ist die Theorierichtung der turns, nach Foucault aller turns nach dem linguistic turn des Strukturalismus, also des body turn, des iconic turn, des emotional turn, des sensual turn, des spatial turn, des material turn etc. (vgl. Bachmann-Medick 2014), einem gewissen Hecheln der turns, das der poststrukturalistische Theorieansatz selbst begrifflich offensichtlich nicht fassen und explizieren kann. Eines fällt aber auf: Vor allem die etablierten deutschen Poststrukturalisten und ihre Nachwuchswissenschaftler wagen im Nachvollzug alle turns – nur den »vital turn«, die Wende zum Leben, zum Bergsonschen »élan vital«, zur Plessnerschen »Positionalität«, das würden sie nicht wagen. Denn ein solcher vital turn sprengt die Akkumulation von turns im Bannkreis diskursiver Konstruktion – im Geltenlassen des Lebens, der lebendigen Natur: Vital turn bedeutet auf der einen Seite ein anderes, nicht-poststrukturalistisches Paradigma und hat auf der anderen Seite zugleich nichts am Hut mit dem Paradigma des Naturalismus, der darwinschen Evolutionsbiologie. Ein solcher vital turn tritt in der jüngeren europäischen Theoriegeschichte z. B. in Bergsons L’évolution créatrice (Bergson 1921; 2013) oder in Plessners Stufen des Organischen und der Mensch (Plessner 1975) auf mit ihren jeweils hochreflektierten Auseinander50 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Vital turn

setzungen mit Darwins moderner evolutionärer, aber zugleich reduktionistischer Theorie des Lebendigen. Ein solcher vital turn öffnet die Fundamente sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung für die Energien, die Kraftfelder, die Dynamiken, den Drang, die Antriebsüberschüssigkeit menschlicher Lebewesen. Französische Lebensphilosophen bzw. deutsche Philosophische Anthropologen sind ja nichts weiter als die Theoretiker, die die Kategorie des Lebens, des Vitalen, zwischen die rein materiell-anorganische Natur einerseits und die Kultur, die symbolisch-diskursive Welt andererseits schieben, um dem cartesianischen Dualismus Natur/Kultur zu entschlüpfen und um von dieser vitalen Zwischenzone aus analytisch vorgehen zu können. Und in diesem vital turn lassen sich offensichtlich alle anderen von den Kultur- und Sozialwissenschaftlern je willkürlich postulierten turns zwanglos versammeln, zueinander in Relationen setzen – Emotionen, materielle Dinge, Artefakte, Architekturen, Körper, Praxen, Macht, Kreativitäten, Bilder – und auch die Sprache. Ein solches Paradigma unter der Fahne des vital turn, ein solches lebenstheoretisches Superparadigma lässt sich in einer französischdeutschen Parallelaktion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beobachten. Bergsons französische Lebensphilosophie und Plessners deutsche Philosophische Anthropologie bilden wahlverwandte modern-reflexive Paradigmen – modern, weil sie mit ihren je raffinierten Konzeptionen des Lebens den beiden herrschenden Theorieradikalismen zu entschlüpfen suchen: nämlich der im 20. Jahrhundert erneuerten cartesianischen Alternative von extremen Naturalismen seit der Evolutionstheorie (Darwinismus) einerseits und von extremen Kulturalismen seit dem linguistic turn (sozialer Konstruktivismus) andererseits. Dieses lebenstheoretische Parallelparadigma sollen die folgenden Überlegungen am Fall von Bergson und Plessner freilegen. Das geschieht in drei Schritten: Die Argumentation beginnt I. mit einer Parallelisierung des operativen Vorgehens von Bergson und Plessner in ihren Hauptwerken: Schöpferische Evolution und Stufen des Organischen und der Mensch (allen Differenzen zum Trotz). Dann wird II. die Aufmerksamkeit auf die eigentümlich paradigmatischen Bewährungen der Paradigmen bei beiden Autoren gelenkt – und zwar in beiden Fällen am Fall des »Lachens«. Die These dabei ist: Den theorieprogrammatischen Hauptwerken Bergsons Schöpferische Evolution und Plessners Stufen des Organischen und der Mensch entsprechen ihre jeweiligen exemplarischen Demonstrationen in der 51 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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menschlichen Lebenswelt. Bergsons Das Lachen verhält sich zur Schöpferischen Evolution wie Plessners Lachen und Weinen zu den Stufen des Organischen: Es sind exemplarische, paradigmatische Bewährungen der Paradigmen an nichtsprachlichen, aber spezifisch menschlichen, rätselhaften Vitalphänomenen – dem Lachen (und dem Weinen bei Plessner). Dabei ist natürlich klar, dass im Fall Bergson sein Buch Das Lachen von 1900 gleichsam eine Lotsenbootfunktion für das spätere Hauptwerk von 1908 übernimmt, während umgekehrt im Fall Plessner das Buch Lachen und Weinen von 1941 im Kielwasser des Hauptwerkes tatsächlich eine Phänomenbewährung der Thesen aus den Stufen von 1928 ist. Die Abhandlung schließt III. kurz mit einer Überlegung zur Ausstrahlung des vital turn, dieser europäischen Denkressource in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Der doppeltgestrickte und doppelbewährte vital turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften könnte als französisch-deutsche Parallelaktion eine bedeutende europäische Denkressource im 21. Jahrhundert bilden. 1

Den Affinitäten zwischen französischer Lebensphilosophie und deutscher Philosophischer Anthropologie ist von 2005–2010 auch die deutsch-französische Forschergruppe »Philosophische Anthropologie: Herkunft – Zukunft. L’anthropolgie philosophique: Ses origines et son avenir« nachgegangen; trilaterales Forschungsprojekt, gefördert von der DFG, der Villa Vigoni und dem Agence Nationale de la Recherche (ANR); initiiert von Joachim Fischer (Dresden), Ada Neschke (Lausanne), Gerard Raulet (Paris), Hans Rainer Sepp (Prag). Daraus ist eine Reihe hervorgegangen: Philosophische Anthropologie. Themen und Positionen, hg. v. J. Fischer, A. Neschke, G. Raulet u. H. R. Sepp. Editionsbeirat: H. Delitz, C. Nielsen u. G. Plas, Nordhausen: Verlag Traugott Bautz. Bd. 1: Philosophische Anthropologie – Ursprünge und Aufgaben, hg. v. A. Neschke, H. R. Sepp, 2008. Bd. 2: Philosophische Anthropologie und Politik, hg. v. G. Plas, G. Raulet u. M. Gangl, 2 Teilbände, 2013. Bd. 3: Philosophische Anthropologie. Hauptautoren und Grundschriften, hg. v. J. Fischer (erscheint 2017). Bd. 4: Konkurrenz der Paradigmata. Zum Entstehungskontext der philosophischen Anthropologie, hg. v. G. Plas u. G. Raulet u. Mitarbeit v. M. Gangl, 2 Teilbände, 2011. Bd. 5: Sprache und Wissenserwerb / Language and Acquisition of Knowledge. Ein interdisziplinärer und interkultureller Zugang / An Interdisciplinary and Intercultural Approach, hg. v. A. Neschke u. H. R. Sepp, 2012. – Im Umkreis dieses deutschfranzösischen Forschungszusammenhangs steht auch die Bergson-Habilitationsschrift von Heike Delitz (2015a).

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Vital turn

I.

Parallelparadigmen

Zunächst zur These, dass es sich bei Bergson und Plessner sachlich um Parallelparadigmen handelt. Es ist vorweg klar, dass es sich um zeitverschobene Paradigmen handelt, Bergson und die französischen Lebensphilosophen zuerst mit der Schöpferischen Entwicklung, dann 20 Jahre später Plessner und die Philosophische Anthropologie mit den Stufen des Organischen und der Mensch (Vgl. Delitz 2015b) Dennoch wird von Plessner selbst die Parallelität, die Zugehörigkeit zu einem Superparadigma erkannt und benannt, wenn er 1928 schreibt: »Jede Zeit findet ihr erlösendes Wort. Die Terminologie des 18. Jahrhunderts kulminiert in dem Begriff der Vernunft, die des neunzehnten Jahrhunderts im Begriff der Entwicklung, die gegenwärtige im Begriff des Lebens.« (Plessner 1975, 4) »Eine Philosophie des Lebens« sei nun dazu berufen, gegenwärtige Generationen »zur Erkenntnis zu führen und damit aus der Verzauberung zu befreien.« »Leben«, so wird Plessner 1961 mit Bezug auf Bergsons »Versuche einer Philosophie des Lebens« erinnern, bot sich an als »anonyme Macht, der man es zutraut, dass sie die Organismen und unter ihnen den Menschen produzieren konnte, ihn umgreift und in allen seinen Äußerungen trägt, wie sie denn auch von ihm begriffen und überwältigt wird.« (Plessner 1983, 153) Was ist das Paradigmatische, was ist der Denkstil beider Denkansätze? Es handelt sich jeweils um Umwegtheorien des Menschen, d. h. sie gelangen nicht direkt zum Menschen bzw. fangen nicht mit ihm an, sondern erreichen methodisch bewusst die Sphäre des Menschen, seine sozio-kulturelle Lebenswelt erst und nur im Umweg über eine Theorie der Welt des Lebendigen überhaupt. Anders gesagt: Beide Paradigmen koinzidieren im Denkstil darin, dass sie in der Theorietechnik eine philosophische Biologie (oder Naturphilosophie) der Theorie des Menschen einbauen, dass in den Theorieanlagen ein Primat einer Theorie der lebendigen Natur vor der Theorie der menschlichen Lebenswelt erkennbar ist – darin ist diese spezifische Art der Theoriebildung identifizierbar. Das erklärt sich aus einer Tiefenkonzession von Bergson und Plessner (aber auch Schelers) an die Modernität des 19. Jahrhunderts: die naturphilosophische Kehre im Deutschen Idealismus bereits bei Schelling, aber auch bei Schopenhauer und Nietzsche, und die evolutionstheoretische Entschlüsselung des Menschen als eines Teiles der Naturgeschichte – das Darwin-Programm. Um die Eigensphäre des Menschen vor jedem naturalisti53 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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schen Reduktionismus des modernen Darwinismus zu retten, zu sichern, bedarf es in den Augen der französischen Lebensphilosophen und der deutschen Philosophischen Anthropologen eines notwendigen Durchganges durch die Natur und das Leben, und zwar im Sinne einer philosophisch eigenverantworteten Reflexion über die Natur, über das Leben, um durch diese Reflexion, im gekonnten Aufzeigen des Bruches des naturgeschichtlichen Kontinuums die Spezifik der soziokulturellen Lebenswelt in der Natur zu bestimmen, des Aufruhens der soziokulturellen Lebenswelt auf der organischen Welt des Lebendigen. Nur das schützt vor den Anmaßungen des Naturalismus (alles Menschliche allein aus der Natur aufklären zu wollen) und vor den Arroganzen des Kulturalismus, der sich im cartesianischen Dualismus verschanzt und das Moment der Natur immer nur vermittelt über Kultur und soziale Konstruktion be- und verhandeln will.

1.

Bergson: Schöpferische Evolution

Es ist vollkommen klar, dass Bergson mit einer Umwegtheorie des Menschen operiert, d. h. dass er methodisch zunächst eine Theorie des Lebens, eine philosophische Biologie entwickelt, aus der heraus er dann die Theorie des Menschen – im Leben – gewinnt. Seine Theorie der »schöpferischen Evolution«2 ist eine Auseinandersetzung mit der darwinschen Theorie, die als Naturwissenschaft die Evolution des Organischen und der Arten entlang der Mechanismen der Auslese, der Anpassung und der Vererbung rekonstruiert – einschließlich des menschlichen Organismus. Der Mensch ist so gesehen ein Produkt der natürlichen Stammesgeschichte und in allem, was ihn ausmacht, von ihr determiniert. Bergson nimmt diese moderne Herausforderung des Naturalismus ernst, indem er eine philosophische Biologie entwirft, eine philosophisch eigenverantwortete Theorie des Lebens, die in letzter Hinsicht zur komplexen Erfahrung der Menschen passen soll – zur komplexen Sondererfahrung, sowohl zu einem Intellekt wie zu einer Intuition im Leben disponiert zu sein. In Differenz zur Materie postuliert er den élan vital als kreatives, ontologisches Prinzip des Lebens: der Lebensschwung verwandelt und überwindet in der von ihm etablierten Biosphäre die Materie, wobei jeder Organismus zugleich immer an letztere verhaftet bleibt. Durch 2

So die treffende Übersetzung von Bergsons Werk (2013).

54 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Vital turn

den élan vital ist die so erfasste Materie in ein dauerndes Anderswerden, eine fließende Veränderung verwandelt. Zugleich differenziert sich durch den Lebensschwung die einsetzende schöpferische Evolution (nicht reduktiv eingestellte Evolution) in verschiedene Richtungen aus, es entstehen nebeneinander verschiedene Arten und Erscheinungsformen des Lebens, spielerische Würfe des élan vital, die je für sich funktionieren. Vegetative, instinktive und intelligente Formen des Lebens – Pflanzen, Tiere und Menschen – sind je für sich operierende Lebensformen, die nicht als Höherentwicklung, sondern als je existierende Organisationsweisen des vorwärtsstürzenden Lebens zu verstehen sind – auch wenn das menschliche Lebewesen die Organisationsformen von Pflanze und Tier voraussetzt: »Alle Lebewesen tragen einander, alle überwältigt der gleiche furchtbare Drang. Das Tier nimmt seinen Stützpunkt auf der Pflanze, der Mensch schwingt sich auf die Tierheit, und die gesamte Menschheit in Raum und Zeit wird zum ungeheuren, neben jeden von uns hin galoppierenden Heere; vor uns und hinter uns in hinreißendem Vorstoß, fähig alle Hindernisse zu überreiten, und die größten Widerstände zu überwinden – vielleicht selbst den Tod.« (Bergson 1921, 275). Auf der Basis dieser Theorie des Lebens gibt Bergson seine Theorie des Menschen. Er entwickelt auf dieser Basis einen komplexen Begriff des Menschen. Zunächst sind intelligente Lebensformen – die Menschen – wie die instinktiven Lebewesen – die Tiere – auf Zweckmäßigkeit des Verhaltens der Organismen eingerichtet; Wahrnehmungen, Denkprozesse sind funktional allein für adäquates Verhalten im Lebensprozess. Das ist der gleichsam in den lebensphilosophischen Ansatz eingebaute Pragmatismus. Menschen sind die mit dem Intellekt ausgestatteten Lebewesen, der ihnen eine besondere Art der Lebensbewältigung erlaubt: Durch die kategoriale Erfassung von Wiederkehrendem, von Unbeweglichem, von Materiellem gelingt ihnen eine räumliche Schematisierung von Lebensprozessen mit der pragmatischen Eröffnung von planvollem Handeln, bis hin zur wissenschaftlich-analytischen Durchdringung der Materie in Geometrie, Physik, Chemie und der entsprechenden Technik. Im Medium des räumlich-statisch operierenden Intellektes bleibt diesen Lebewesen aber die Quelle ihres Ursprunges – das Leben in seiner Zeitigung – selbst verschlossen. Die verräumlichenden Kategorien des Intellektes kommen nicht an die kreative Zeitigung des Lebens heran. Bergson entdeckt und gewichtet deshalb systematisch ein zweites Monopol im menschlichen Lebewesen: den intuitiven Kontakt, den 55 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Kontakt mit der Welt des Lebendigen durch Intuition. Wenn man Bergson recht versteht, gibt es zwei Aspekte des intuitiven Kontaktes zur Quellnatur des élan vital: einen praktischen und einen eher theoretischen. Für menschliche Lebewesen erschließt sich das Prinzip des élan vital in der geschmeidigen Körperbewegung – vor allem im Medium der Melodien und der Tanzbewegung. In der schöpferischen Aktivität des Musizierens und des Tanzens schmiegt sich das menschliche Lebewesen für Phasen an das ständige Anderswerden des Lebens an. Und für menschliche Lebewesen erschließt sich der élan vital auch in der inneren Achtsamkeit auf den Bewusstseinsstrom, der wie eine innere Melodie prozessiert. In beiden intuitiven Kontaktmedien – dem Musizieren und Tanzen einerseits, dem intuitiven konzentrischen Zulassen des Bewusstseinsstromes andererseits – können menschliche Lebewesen in Freiheit die schöpferische Evolution erfahren. Indem Bergson aus einer Philosophie der lebendigen Natur die besondere Stellung des Menschen charakterisiert, öffnet er also den Blick für ganz eigene Relevanzzonen menschlicher Existenz in dessen sozio-kultureller Lebenswelt, Zonen, die sich nicht auf seine Rationalität bzw. Rationalisierungsprozesse zurückführen lassen.

2.

Plessner: Stufen des Organischen und der Mensch

Plessner gibt ebenfalls eine Umwegtheorie des Menschen – der Aufklärung des Menschen ist eine Aufklärung über das Leben vorgeordnet. Vorweg figuriert also die philosophische Biologie. Auch der Zoologe Plessner nimmt die Herausforderung des Naturalismus ernst. Der Kern von Plessners philosophischer Biologie ist eine grenztheoretische Interpretation des Organischen. Diese grenztheoretische Philosophie des Organischen ist gerichtet gegen die ganzheitstheoretische Philosophie des Organischen von Hans Driesch (1909), dessen Neovitalismus einen besonderen Entelechiefaktor veranschlagt, um die Eigenqualität des Lebendigen gegenüber allem Anorganischen aufweisen zu können. Plessner sieht hingegen in der Grenzbildung, in der Lebensphänomene von einer Umgebung abgesetzt sind, auf die sie sich zugleich material beziehen, die entscheidende Eigen-Qualität des Lebendigen. Von dieser einen Qualität der Grenzziehung deduziert er gleichsam alle anderen eigentümlichen Qualitäten des Organischen in den Hauptkapiteln der ›Stufen‹ : das Phänomen der Entwicklung; die Assimilation/Dissimilation (also z. B. Stoffwechsel in 56 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Atmung und Nahrungskreislauf); Restitution und Regenerationspotentiale des Organischen; Anpassung und Angepasstheit des Organismus; das Phänomen der Fortpflanzung, also das über die eigene Grenzbildung des individuellen Organismus geschehende Fortsetzungsphänomen des Lebendigen; Altern und Tod; die Vielfalt der Arten von Organismustypen; die Organisationsweisen von Pflanzen und Tieren; die Senso-Motorik bei tierischen Organismen; und das Neurogewebe, die Hirnbildung, die er ebenfalls grenztheoretisch als Unterbrechung, Verlangsamung von Reiz-Reaktionen und deren Neuverknüpfungsmöglichkeiten deutet. ›Grenztheoretische‹ Interpretation des Organischen meint: Die Bildung semipermeabler Membrane aus natürlichen Materialien ist offensichtlich ausschlaggebend für die Bildung einzelner Lebewesen, indem sie es von seiner Umgebung absetzt und dabei doppelsinnig wirkt: »einschließend-abschirmend gegen die Umgebung und aufschließend-vermittelnd zu ihr.« (Plessner 1975, 357) In Plessners umwegtheoretischer Kategorienbildung für den Menschen – »exzentrische Positionalität« – wird die Pointe der Vorschaltung einer philosophischen Biologie vor die philosophische Anthropologie besonders deutlich. Er interpretiert in der philosophischen Biologie das grenztheoretisch aufgefasste lebendige Ding als »Positionalität« und operiert mit der Vorschaltung der Kategorie »Positionalität« vor der Kategorie »Exzentrizität«, eine Vorschaltung, die aus systematischen Gründen auch noch für den Begriff »exzentrische Positionalität« selbst gilt. »Positionalität« ist derjenige Grundzug von »grenzrealisierenden« Lebewesen, welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht.« (Ebd., 129) Die Pointe des Begriffs »Positionalität« ist die Umkehrung des Primats vom Aktbegriffs der »Setzung«, also dem Schlüsselbegriff des Deutschen Idealismus für den ›aktiven‹ Akt des Denkens, zum Widerfahrnisbegriff der »Gesetztheit« als Schlüsselbegriff für das Leben. Plessner hat diese von ihm bewusst vollzogene lebensphilosophische Kehre von Fichtes setzendem und sich selbst setzendem Denksubjekt zum anonym »gesetzten« Lebenssubjekt ausdrücklich vermerkt. Das »grenzrealisierende Ding« ist so »gesetzt«, dass »es einerseits über es hinaus setzt (streng genommen: außerhalb seiner setzt), andererseits in es hineinsetzt (in ihm setzt)« (ebd.). Jede Rede von einem (subjektphilosophisch) aktiv setzenden ›Ich‹ oder gar (sozialkonstruktivistisch) von einem ›Wir‹ bzw. einem anonymen ›Man‹, das eine erste Konstruktion vornimmt, ist damit hinsichtlich des »Lebens« 57 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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im Ansatz der Philosophischen Anthropologie durch die inkludierte philosophische Biologie vermieden. Lebendige Dinge sind eben nicht – ›autopoietisch‹ – sich selbst erzeugende, sich selbst konstituierende Dinge, sondern sie finden sich in ihrem physischen Sein in einer Art abhängigen Unabhängigkeit »positioniert« vor, in einer umweltbezogenen Grenze, die sie durchhalten müssen. Wie bekannt, operiert Plessner dann mit Steigerungsstufen der »Positionalität«, um Lebensniveaus als »Stufen des Organischen« interpretieren zu können – einschließlich des Menschen. Auf der Ebene der Pflanze handelt es sich um »offene Positionalität«, auf der Ebene des Tieres um »geschlossene Positionalität«, dann neuronal vermittelt um »zentrisch« vermittelte »Positionalität«; auf der Ebene des Menschen nun um die Lebensform »exzentrisch« vermittelter »Positionalität«. Die verschiedenen Formen der Positionalität funktionieren je für sich nebeneinander. Diese Steigerungsstufen bedeuten Transformationen des Organischen: Die als »zentrische Positionalität« charakterisierte Lebensform kennt sinnliche Wahrnehmung und Verhaltensantworten auf Herausforderungen und Chancen der Umwelt, die als »exzentrische Positionalität« bestimmte Lebensform des Menschen ist zur Freiheit verurteilt, selbst »Setzungen«, Konstruktionen vorzunehmen, Grenzen zu ziehen. Erst im anthropologischen Grundgesetz der »natürlichen Künstlichkeit« taucht kategorial die »Setzung« auf, die aktive Konstruktion, zu der ein exzentrisch positioniertes Lebewesen – mit anderen zusammen – disponiert ist. Aber immer, auch in der »exzentrischen Positionalität«, bleibt das Moment von »Positionalität« in Kraft, der ›Es-Charakter‹ des Lebens, der passivische Grundzug des Getragen- und Getriebenseins; auch das menschliche »lebendige Ding« ist »gesetzt«, eingesetzt, ausgesetzt, in den Kosmos versetzt (Ebd., 290, 292). Exzentrisch positionierte Lebewesen sind in Distanz zur eigenen Lebensposition gesetzt – das ist Bergsons »Intellekt« der intelligenten Lebensform – und zugleich in Resonanz zur Welt geöffnet – das ist Bergsons »intuition«, der intuitive Kontakt als Monopol des Menschen.

II.

Paradigmatische Bewährung der Paradigmen bei Bergson und Plessner

Nach der Parallelführung von Bergson und Plessner hinsichtlich eines vital turn, einer Umwegtheorie des Menschen über eine Theo58 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Vital turn

rie des Lebens, wendet sich die Untersuchung den beiden paradigmatischen Demonstrationen zu, wie sie in Bergsons Das Lachen und in Plessners Lachen und Weinen vorliegen. Entscheidend und wegweisend scheint zu sein, dass es sich bei beiden Denkern um nichtsprachliche Beispiele handelt: nichtsprachliche Phänomene der Auslösung des Lachens wie z. B. das Komische; und nichtsprachliche Phänomene der Beantwortung der auslösenden Momente: das Lachen. Natürlich kennen beide Autoren auch sprachkomische Auslöser – die Wortkomik, den Witz – aber basal sind nichtsprachliche Auslöser: die Bewegungskomik bei Bergson, der Kitzel, die Verlegenheit bei Plessner. Entscheidend für die eventuelle Vorbildfunktion eines vital turn in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung ist: Mit dem Lachen kreisen beide in der analytischen Erschließungskraft ihrer Ansätze um eine nichtsprachliche, vorsprachliche, außersprachliche Vitalreaktion, die nur menschlichen Lebewesen zukommt. 3

1.

Bergson: Das Lachen

Menschen beobachten ein Phänomen, das sogenannte Lächerliche oder das Komische, und quittieren es mit einem Lachen. Bergson gibt in Das Lachen also eine Theorie des Komischen und eine Theorie des Lachens. 4 Beide setzen die Hintergrundtheorie des Lebendigen voraus, die schöpferische Lebensenergie des Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt, wobei sich der élan vital in gespannter Wachheit auf die jeweiligen Umstände und Herausforderungen und in geschmeidiger Verhaltensanpassung an sie mit und in den Subjekten fortsetzt. Die Theorie des Komischen klärt das Lachhafte, das Zubelachende mit einer Entgegensetzung von Starrheit und Mechanisierung einerseits und der Elastizität des Lebens andererseits auf: Wenn das Leben in Mechanismen, in Automatismen verfällt an Stelle der erwarteten, geforderten Elastizität und Geschmeidigkeit, bildet sich das Lachhafte, das Komische: »Was an dem einen oder anderen lächerlich ist, ist eine gewisse mechanische Starrheit, da wo wir geistige

Zur Phänomengruppe des Lachens und der entsprechenden Theoriebildungen: Fischer 2016a. 4 Bergson 2011. Vgl. »Die Korrektur des Vitalen im Sozialen«: Delitz, 2015a, 215– 217. 3

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Rührigkeit und Gelenkigkeit fordern.« 5 Gleich ob in der Bewegungskomik, in der jemand zerstreut über einen Stein stolpert, auf einer Glätte ausrutscht, oder in der Situations- bzw. Handlungskomik, dann in der Wortkomik: lachhaft ist, wenn jemand aus Gewohnheit und mangelnder Aufmerksamkeit das Verhalten seines Körpers, seines Sprechens und seines Denkens nicht geschmeidig an und angemessen auf eine Situation anpasst. Die von Anderen beobachtete momentane Trägheit des Körpers, die auf der lebendigen Energie lastet, die Kruste des Mechanischen, die sich in mechanischen, repetitiven Anordnungen über das Lebendige legt, wird quittiert durch das Lachen. Arbeitet Bergsons Theorie des Komischen mit der Automatisierung des Lebendigen, die sich gegen das Leben versteift, so arbeitet seine Theorie des Lachens mit einer spezifisch menschlichen, nichtsprachlichen Vitalreaktion, in der sich durch den Akt des Lachens der élan vital in der Gesellschaft wiederherstellt. Das Lachen über das Komische (die Mechanik des Lebendigen) erinnert den Belachten (als Auslöser) und gleichzeitig alle anderen in geselliger Weise daran, geistesgegenwärtig im Leben zu bleiben und nicht der Mechanik der Gewohnheiten und Rituale zu verfallen. Als Wiederherstellung des élan vital ist das Lachen auch eine Wiederherstellung der Geselligkeit. Wegen der conditio humana des élan vital suchen Gesellschaften geradezu die soziale Funktion des Lachens, stimulieren und pflegen sie – so gefährlich das ›bissige‹ Belachtwerden für den Einzelnen oder ganze Gruppen der Gesellschaft wiederum sein mag. Die Komödie ist diese gesellschaftliche Veranstaltung zur Erzeugung des Lachens: Vor allem in der Charakterkomik ahmt sie das Typische in lebendigen Menschen nach, stellt den Teilmechanismus in ihrem Verhalten und Reden heraus, wenn er sich in ihnen typischerweise eingenistet hat; sie präpariert die Mechanismen der Repetitionen, der Inversion, der Interferenz von Ereignisketten, die das ständige Anderswerden des Lebens mit seiner Individualität, seiner steten Änderung des Aussehens und der Unumkehrbarkeit der Zeitlichkeit stauen und stoppen. Das gemeinsame Gelächter ist also – folgt man Bergsons gleichsam lebenssoziologischer These – eine Krisenreaktion des gesellschaftlichen Lebens auf die von ihm erkannte größtmögliche Gefahr – seine Erstarrung. Ständig droht sich das ›Mechanische‹ des Verhaltens und der Sprache, das Leere und Floskelhafte wie eine 5

Bergson 2011, 8.

60 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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tödliche Kruste über die Vitalität, den ›schöpferischen Elan‹ einer Sozietät zu legen. Deshalb organisieren Gesellschaften in Komödien und Karikaturen, in Kabaretts und mit den Clowns das öffentliche Erscheinen solcher Versteifungen, um im Gelächter über die Inkongruenz von Geschmeidigkeit und leblosem Mechanismus die vitale Anpassungsdynamik der Gesellschaft wiederherzustellen – sich zu regenerieren.

2.

Plessner: Lachen und Weinen

Nun zu Plessners paradigmatischer Bewährung des philosophischanthropologischen Ansatzes am Vitalphänomen. Auch bei Plessner muss man eine Theorie der Anlässe bzw. Auslöser von der Theorie des Lachens als Verhalten unterscheiden. Es gibt das Gelächter ausgelöst durch Freude, durch Kitzel, das Gelächter im Spiel, veranlasst durch Komik, durch Witz, aber auch durch Verlegenheit und Verzweiflung. Wichtig ist nach Plessner, die Vielfältigkeit der Anlässe des Lachens im Blick zu behalten, um die Struktur des auslösenden Momentes zu erkennen. Lachen pariert offensichtlich nicht nur das im engeren Sinn ›Lächerliche‹. Da Lachen ein körperliches Verhalten ist, muss man sich die Grundstruktur des exzentrisch positionierten Lebewesens vergegenwärtigen: ein in seiner vitalen Fragilität auf eine stützende Sinnordnung verwiesenes Lebewesen, das sich – unter Einbeziehung der Körperbeherrschung – in und zu den sinnhaft operierenden Verhältnissen verhalten kann und muss. Nur einem solchen auf Geist und Intellekt eingestellten Lebewesen kann es situativ passieren, dass es zu »einer Unterbindung des Verhaltens durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte« kommt. Das ist die Gemeinsamkeit von Kitzel, überraschender Freude, Absurdem, Verrücktem, Witz, dem Verlegensein: Dem sinnhaft orientierten Lebewesen ist für Momente der Boden entzogen, der ihn trägt. Für ein so in die Welt gestelltes Lebewesen bedarf es von Natur aus einer eigenen »Krisenreaktion mit Antwortcharakter«. Das gurgelnd glucksende Gemecker ist diese »Antwort auf die Grenzlage« (Plessner 1981, 378) – der sich im Lachen verselbständigende Körper springt in der Sinnkrise ein, sorgt für die Wiederherstellung des Gleichgewichts, in der das Verhalten neu sinnhaft an die Sinnordnung anknüpfen kann. Das Lachen des Menschen ist – nach Plessner – eine vorübergehende Veränderung seines Selbstverhältnisses, noch un61 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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abhängig von der Funktion im Sozialverhältnis. Anders als bei dem auch den nichtmenschlichen Primaten möglichen ›Spielgesicht‹, das den Mund offen hält und das Entspannung signalisiert, gehört zur subjektiven Phänomenalität des Lachens die Erfahrung des ›Herausplatzens‹, das Hochkatapultiertwerden durch den Luftstoß des Prustens und das Aufgeschütteltwerden des Körpers. Darin liegt eine dramatische evolutionäre Umstrukturierung der Körpererfahrung. Diese für einen Moment vorwärtsstoßende »Emanzipation des Körpers« (so flüchtig sie sein mag) ist begleitet vom Erleben einer Überlegenheit, einer gewissen Angstfreiheit, einer zeitweiligen Leichtigkeit des Abstandes zu den Verhältnissen überhaupt, einer Entlastung von der Zumutung der Sinn-Ordnung. Plessners Bewährung der Philosophischen Anthropologie an der Aufklärung eines Vitalphänomens bezieht sich auf Lachen und Weinen. Verfolgt man nun bei ihm die Nachhaltigkeit der philosophischen Biologie in der philosophischen Anthropologie, dann kehrt die Regenerations- und Restitutionsfähigkeit des Organischen, die in Drieschs Philosophie des Organischen (1909) pointiert wurde, also die Restitutionsfähigkeit bei Verletzungen und Ausfall bestimmter Gewebe auf der gebrochenen Ebene des menschlichen Lebens wieder, und zwar eben in den Phänomenen des Lachens und Weinens. Lachen und Weinen sind nur dem menschlichen Lebewesen mögliche Salutogenesen in nur ihm möglichen Irritierungen, Verletzungen bzw. Traumatisierungen des Lebens. Lachen und Weinen werden als eigenartige, aber spezifisch menschliche Phänomene von Plessner aus dem skizzierten Ansatz der Stufen des Organischen und der Mensch erschlossen. Sie sind Äußerungsphänomene, und innerhalb dieser Äußerungsphänomen als Äußerungen scharf von den entlang und innerhalb von Sinnsetzungen sich einspielenden Äußerungen – des Sprechens, der zielgerichteten Körperbewegungen, der transparenten Ausdrucksgebärden – unterschieden. Von der philosophischen Biologie her ist klar, dass alles Verhalten mit energetischem Bezug auf die Umwelt verstanden wird, alles Verhalten – auch das der exzentrischen Positionalität – steht im Spannungsbogen einer Antwort auf eine fragende Situation. Sprechend und handelnd, also mit aktiven Setzungen innerhalb von filternden Sinnsystemen, 6 bewältigt das menschliche Lebewesen die alltäglichen Herausforderungen der Plessner verwendet für diese offenen, filternden »Systeme« der menschlichen Lebenswelt den Terminus »Bewandtnis«; vgl. Plessner 1981, 360.

6

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»Weltoffenheit«. Anders Lachen und Weinen als Spannungsverhältnis von Antworten auf fragliche Situationen: »Gemeinsam ist Lachen und Weinen, dass sie Antworten auf eine Grenzlage sind – Krisenreaktionen von Antwortcharakter.« »Lachen beantwortet die Unterbindung des Verhaltens durch unabgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte, Weinen die Unterbindung des Verhaltens durch Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Daseins.« Die Herausforderungslage ist die Epiphanie der »Weltoffenheit« im Alltäglichen, die plötzliche »Begegnung mit Losgelöstem«, anders gesagt mit ›Absolutem‹, das nicht innerhalb von Sinnverweisungen abgefiltert werden kann, und eine solche vitale Herausforderungslage ist nur einem exzentrisch positionierten, einem »weltoffenen« Lebewesen überhaupt möglich. Diesem »Losgelösten« oder Absoluten gegenüber antwortet – und zwar zwecks Regeneration der Lebensfähigkeit – eine Restitution von Vitalität in Krisen des Geistes – eine Verselbstständigung des menschlichen Körpers, der Mensch »verfällt ins Lachen, er lässt sich fallen – ins Weinen.« »Dieses Ins-Lachen- und Weinen-Geraten und -Verfallen zeigt, zumal im Hinblick auf den eigentümlich selbstständigen Prozess, der dann einsetzt und sich häufig der Dämpfung und Steuerung bis zur völligen Erschöpfung entzieht, einen Verlust der Beherrschung, ein Zerbrechen der Ausgewogenheit zwischen Mensch und physischer Existenz.« (Plessner 1981, 73) Diese an und in ihm selbst verselbständigte Natur erlebt der Mensch als sinnvolle Antwort – auf Krisen des Sinns, für die es keine Problemlösung aus dem Reservoir der Setzungen und Konstruktionen mehr gibt. »Lachen und Weinen […] kann der Mensch nur, wenn er sich ihnen überlässt. […] Während die Übergangslosigkeit im Lachen gern mit Ausdrücken des Platzens, Berstens, Explodierens angedeutet wird, versteckt sie sich beim Weinen unter der eigentümlich reflexiven Haltung des Weinenden, der sich loslassen muss, um die Lösung zu finden.« (Ebd.) Alles kommt Plessner darauf an, dass Lachen und Weinen physiologisch verselbständigte »Grenzreaktionen« sind, also gerade keine sozio-kulturellen Setzungen oder Konstruktionen des Ausdrucks (wohl aber sozio-kulturell modifizierbar), sondern von Natur in die spezifische Körpergestalt des Menschen eingefügte Reaktionsweisen mit Bezug auf die sinnhaft orientierte soziokulturelle Lebenswelt. Lachen und Weinen werden als verselbständigte Körperreaktionen beschrieben, die von sich aus einspringen, wenn die menschliche Sinnorientierung des Geistes situativ an »absolute« Grenzen stößt. 63 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Man kann auch sagen: Wenn die Möglichkeiten der Problemlösung in einer Situation absolut erschöpft sind, dann ist dieses Problem, keine Problemlösung mehr zu haben, für den Menschen von Natur aus in der Verhaltensgestalt seines Körpers bereits gelöst, indem die sich verselbständigende »Positionalität« ihn durch Krisen seiner »Exzentrizität« durchträgt. Anschließend, nach den im Lachen oder Weinen durchlittenen Zuckungen und Krämpfen der »Positionalität«, wie kurz auch immer, fühlt sich der Mensch in seiner »exzentrischen Positionalität« wie neugeboren. Lachen und Weinen sind also gleichsam ›bio-anthropologische‹ Krisenreaktionen – auf die Krisen seines Geistes, also nur dem menschlichen Lebewesen mögliche Krisen und damit trotz der eigendynamischen Naturalität der Antworten auch nur einem sinnorientierten Lebewesen mögliche Antworten; als Typus regenerativer, restitutiver Prozesse allein der »exzentrischen Positionalität« rekonstruierbar. Plessner fundiert also die menschlichen Monopole des Lachens und Weinens in einer philosophischen Biologie der Regenerations- und Restitutionspotentiale des Organischen überhaupt.

III. Vital turn Die Pointe der vorgetragenen Überlegung ist, dass zwei moderne Theorien der menschlichen Lebenswelt, die im Ansatz mit einer Theorie der lebendigen Natur operieren, sich zu ihrer analytischen Bewährung je ein spezifisch menschliches, nichtsprachliches Vitalphänomen aussuchen: das Lachen. Das ist aufschlussreich für die Analyse der Lebenswelt durch die Sozial- und Kulturwissenschaften. Die Reflexion schließt mit zwei Bemerkungen zur theoriesystematischen Relevanz des aufgewiesenen »vital turn« bei Bergson und Plessner.

1.

Differenz Bergson – Plessner

Die Differenz in der Phänomenbehandlung des Lachens als ein Vitalphänomen zwischen Bergson und Plessner ist offensichtlich: Es ist interessant, dass Bergson, der als philosophischer Psychologe einsetzt, eine dezidiert soziologische Theorie des Lachens entwickelt, eine lebenssoziologische Theorie, wie man sagen könnte, während 64 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Vital turn

Plessner, der später vor allem als Soziologe prominent wird, eine philosophisch-psychologische Theorie des Lachens (und Weinens) entwickelt, eine lebenspsychologische Theorie. Insgesamt ist das perspektivisch fruchtbar – es deutet Erkenntniserweiterungen an, wenn französische Lebensphilosophie und deutsche Philosophische Anthropologie analytisch kooperieren, wenn man sie als Varianten zu einem Superparadigma zusammenschließt. Zweifellos gibt es zwischen Bergson und Plessner, zwischen französischer Lebensphilosophie und deutscher Philosophischer Anthropologie aber auch Theoriedifferenzen. Der Schwerpunkt der Überlegungen hier lag aber darin, beide Denkansätze überhaupt in ihrer parallelen Theorietechnik, in der Parallelaktion ihrer Denkstile vorzuführen, und das – wie am Anfang angedeutet – im Kontrast zu anderen Theorieoptionen wie dem Naturalismus im Banne der genetischen Reproduktion und dem Kulturalismus im Banne der lingualen Konstruktion.

2.

»Vital turn« durch Bergson und Plessner

Was ist die Bedeutung des doppelgestrickten und doppelbewährten vital turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften? 7 Das Lachen ist kein kleines Phänomen, das man neben Sprache, Vernunft, Handlung oder Praxis auch behandeln kann, sondern es ist – gibt man ihm Gewicht – ein pars pro toto für eine ganze Phänomengruppe, ein Bündel menschlicher Phänomene, die die sozio-kulturelle Lebenswelt durchziehen, umzingeln, unterwandern: für die ekstatische Phänomengruppe insgesamt, die durch die operativen Leitbegriffe des élan vital und der »(exzentrischen) Positionalität« erschließbar werden. Es ist die Familienähnlichkeit der Phänomene von Musik und Tanzen, der Elevation des Lachens und dem Sich-Fallen-lassen des Weinens, von orgiastischen Äußerungen und Konvulsionen, von religiösen Ekstasen. Damit holt das lebensphilosophische und das philosophischanthropologische Paradigma »Phänomene […] in ihrer Bedeutung« ein, »die von der traditionellen Anthropologie übersehen wurde« – wie Edgar Morin gegen eine »rationalistische Anthropologie« im Namen der französischen Lebensphilosophie für seine eigenen ÜberZur Idee des »Vital turn«: Fischer 2015, Fischer 2014. Den Begriff des »Vital turn« verwendet auch Thomas Ebke (2014). – Zu den Perspektiven einer Lebenssoziologie auch bereits Seyfort (2008).

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legungen bemerkt. In seinem Buch »Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie« von 1974 schreibt er: »Sehr selten ist – wie etwa bei Georges Bataille [La Part maudite (1949)] oder bei Roger Callois [L’Homme et le sacré (1950)] – gesehen worden, dass das ›Verzehrende‹, der Taumel, der Exzess in der Wissenschaft vom Menschen eine zentrale Stellung beanspruchen dürfen. Sehr selten hat man sich über das Erdbebenhafte der menschlichen Lustempfindung Gedanken gemacht. Doch kann man sich keine Fundamentalanthropologie vorstellen, die nicht dem Fest, dem Tanz, dem Lachen, den Konvulsionen, den Tränen, der Lust, dem Rausch, der Ekstase ihren Platz einräumt.« (Morin 1974, 130) Und ohne eine materialistische Reduktion zu beabsichtigen, hatte Bataille auf den Spannbogen dieser Phänomengruppe bis hin zur Religiosität aufmerksam gemacht: »Die Erkundung des Sakralen muss über die Exploration des Sexuellen als Grenzüberschreitung gehen.« (Bataille 1979, 248) Die Wollust göttlicher Heimsuchung, der En-theos des Enthusiasmus, das Lebenssubjekt als Gefäß, das Gott Platz macht, ist den religiösen Virtuosen der Welt bekannt (die sich in die Ideenschau versetzen lassen oder in das Zungenreden geraten). 8 Das Lachen, in dessen Ausdeutung als menschliches Monopol, als offensichtlicher Ausweis seiner Sonderstellung in der evolution creatice Bergson und Plessner koinzidieren, ist mithin bloß ein Exempel des Paradigmatischen, des erhellenden Beispiels für das lebenstheoretische Superparadigma insgesamt, für den einen vital turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften, den die französische Lebensphilosophie und die deutsche moderne Philosophische Anthropologie für eine Psychologie und Soziologie des Lebens parat halten.

Literatur Bachmann-Medick, D. (20145): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlts Enzyklopädie. Bataille, G. (1979): Der heilige Eros (L’Érotisme), aus d. Französischen v. M. Hölzer, Darmstadt/Neuwied: Ullstein. Bergson, H. (2011): Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, aus d. Französischen v. R. Plancherel-Walter, Hamburg: Meiner.

Vgl. zur Gruppe ekstatischer Phänomene einschließlich der Erotik: Fischer 2016b, 383–402.

8

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Vital turn – (1921): Schöpferische Entwicklung, aus d. Französischen v. G. Kantorowicz, Jena: Eugen Diederichs. – (2013): Schöpferische Evolution – L’évolution créatrice, aus d. Französischen v. M. Drewsen, Hamburg: Meiner. Delitz, H. (2015a): Bergson-Effekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Weilerswist: Velbrück. – (2015b): »Helmuth Plessner und Henri Bergson. Das Leben als Subjekt und Objekt des Denkens«, in: K. Köchy u. F. Michelini (Hg.): Zwischen der Kulturen. Plessners ›Stufen des Organischen im zeithistorischen Kontext‹, Freiburg/München: Alber, 193–214. Driesch, H. (1909): Philosophie des Organischen, Leipzig: Engelmann. Ebke, Th. (2014): »Life, Concept and Subject: Plessner’s vital turn in the light of Kant and Bergson«, in: Plessner’s Philosophical Anthropology. Perspectives and Prospects, hg. v. J. de Mul. Amsterdam/Chicago: Amsterdam University Press, 99–110. Fischer, J. (2014): »Kommentar zu: Heike Delitz, »Eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht bergsonianisch sein …««, in: J. Fischer u. St. Moebius (Hg.): Kultursoziologie im 21. Jahrhundert, Wiesbaden: Springer, 52–55. – (2015): »Simmels Sinn der Sinne. Zum vital turn der Soziologie«, in: H. Göbel u. S. Prinz (Hg.): Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript, 423–440. – (2016a): »Lachen und Weinen«, in: ders.: Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist: Velbrück, 375–382. – (2016b): »Ekstatik der exzentrischen Positionalität. ›Lachen und Weinen‹ als Plessners Hauptwerk«, in: ders.: Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist: Velbrück, 383–402. Morin, E. (1974): Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie, aus d. Französischen v. A. Portmann, München/Zürich: Piper. Plessner, H. (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einführung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York: De Gruyter. – (1981): Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (Gesammelte Schriften, Bd. VII), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 201– 387. – (1983): Die Frage nach der Conditio humana (Gesammelte Schriften Bd. VIII), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 136–217. Seyfert, R. (2008): »Zum historischen Verhältnis von Lebensphilosophie und Soziologie und das Programm einer Lebenssoziologie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Die Natur der Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York: Campus, 4684–4694.

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Historische Perspektiven

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Marc Rölli

Idee des ganzen Menschen Bemerkungen zum deutschsprachigen Anthropologiediskurs im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Mein Beitrag behandelt die anthropologische Idee des ›ganzen Menschen‹, die sich im medizinischen Diskurs um 1750 bildet und dann im philosophischen Diskurs (seit den 1770er Jahren), mit einer besonders intensiven Phase in der deutschsprachigen Naturphilosophie nach Kant, aufgegriffen wird. Ich gehe hier davon aus, dass sich zwischen 1770 und 1860 ein philosophischer Diskurs der Anthropologie etabliert hat – mit einer Anfangs-, einer Hoch- und einer Endphase oder Übergangsphase, die sich durch den zunehmenden Verlust der philosophischen Deutungshoheit in weltanschaulichen oder menschenbildrelevanten Fragen auszeichnet (vgl. Rölli 2011). An diese These vom Struktur- und Funktionswandel der Wissenschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts hat man sich auch in philosophischen Kontexten gewöhnt. Und dass es einen philosophischen Diskurs der Anthropologie vor 1900 gegeben hat, das muss zumindest nicht die historisch Versierten verwundern, die von der kantischen ebenso wie von der hegelschen oder auch der feuerbachschen Anthropologie wissen. Bis zu diesem Punkt bewege ich mich in den Bahnen der Anthropologiegeschichte Odo Marquards (vgl. Marquard 1973, 122 f.). Von ihr entferne ich mich aber auch wieder, indem ich an einer Kontinuität idealistischer Denkfiguren auch in der nicht-philosophischen, zumeist in eigenwilliger Form an Darwin orientierten Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festhalte. Damit verschärft sich ein Punkt, den schon Marquard unterstrichen hat: Die sich in den 1920er Jahren neu erfindende philosophische Anthropologie kreiert keinen ganz neuen Denkansatz, sondern bleibt in wesentlichen Aspekten von der älteren naturphilosophischen Tradition anthropologischer Theoriebildung abhängig. 1 Ist die angesprochene

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»Denn auch und gerade die gegenwärtig zur Grundphilosophie gewordene Anthro-

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›Kontinuitätsthese‹ plausibel, dann heißt das in einem weiteren Schritt, dass auch das von den Veranstaltern in ihrem Programm 2 zitierte Dreistadienmodell Plessners – vom Paradigma der Vernunft zu dem der Entwicklung und zuletzt zum Leben – hinfällig ist, weil es die genannten Abhängigkeiten nicht in den Blick bekommt (vgl. Plessner 1975, 3). Im Folgenden werde ich mich auf das Thema des ›ganzen Menschen‹, verstanden als anthropologisches Ideal, beschränken. Es taucht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen anthropologischen oder – vorsichtiger gesagt – anthropologierelevanten Kontexten auf. Außerdem verbindet es sich mit einer epistemisch nachhaltigen Umarbeitung des metaphysischen Postulats von der ›Doppelnatur‹ des Menschen, die das institutionelle Gefüge der philosophischen Disziplinen einer tief greifenden Restrukturierung unterzieht. Zunächst und erstens wird das breite Spektrum der Themenfelder skizziert, die sich mit der Idee des ganzen Menschen anthropologisch verbinden. Diese reichen von Naturzustandsideen und gattungsmäßig ausgerichteten Entwicklungsszenarios bis zu (ganzheitlich gedachten) Seelenkrankheitslehren und einer physiognomisch orientierten Menschenkenntnis. Zweitens werden einige Varianten der philosophisch diskursiven Konsolidierung dieses anthropologischen Ideals (oder dieser anthropologischen Utopie) thematisch. Sie setzt mit Kant ein, wird aber in allen späteren Konsolidierungsrichtungen aus ihrer peripheren Situiertheit im kantischen Wissenschaftsbegriff ›befreit‹. Dies lässt sich nicht zuletzt anhand Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (Schiller 1959) anschaulich machen. Zum Abschluss werde ich den Versuch machen, die fortdauernde Relevanz einiger Bestimmungsmerkmale der Idee des ganzen Menschen im philosophischen Diskurs der Anthropologie aufzuzeigen.

pologie bleibt bestimmt durch die Motive jener Tradition der philosophischen Menschenkunde, die sich selber ›Anthropologie‹ genannt hat.« (Ebd., 124). 2 Hier verweist der Verfasser auf das Programm einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für französischsprachige Philosophie in Mainz, bei der dieser Text zuerst vorgetragen wurde (die HerausgeberInnen).

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Idee des ganzen Menschen

I. Für einen schnellen Einstieg in die Thematik bietet sich die stark von Christian Wolff beeinflusste Hallenser Fakultät der Medizin an. In den letzten Jahren haben Arbeiten zur Erforschung der Aufklärung gezeigt, dass im Umfeld des philosophierenden Medizinprofessors Johann Gottlob Krüger, der in den 1730er und 40er Jahren in Halle lehrte, eine Idee des ganzen Menschen entwickelt wurde, die für die aufblühende medizinische Anthropologie von großer Bedeutung gewesen ist (vgl. Borchers 2011). Zur näheren Beschreibung ihrer epistemischen Schlüsselfunktion gehe ich kurz auf den Text eines Schülers von Krüger ein, nämlich auf Johann August Unzers Abhandlung vom Seufzen (1747). Er schreibt: »Wenn wir eine gewisse Veränderung an uns warnemen, die dem Körper angehet; so können wir sicher schliessen, daß in der Sele auch eine Veränderung vorgehen müsse, die nur dieser Art von Bewegungen des Körpers allein eigen ist. Wiederum, wenn wir eine besondere Art von Vorstellungen in der Sele haben, so gehen onfelbar in unserm Körper Bewegungen vor, die sich one dergleichen Vorstellungen bei uns nicht befinden. Darin unterscheiden sich die lebendigen Körper von allen übrigen, und es ist niemals hinreichend, wenn wir von einer Bewegung des Körpers reden, one die Art der Vorstellungen dabei anzumerken, die damit in der Sele verbunden sind.« (Unzer 1747, 1 f.)

Beim Seufzen handelt es sich quasi um ein anthropologisches Phänomen, sofern in ihm seelische Veränderungen und körperliche Bewegungen nicht strikt zu trennen sind. Ausdrücklich spricht Unzer vom »Seufzen des Körpers« und von »Seufzern der Sele«: »[U]nd warum sollte man auch zweien Veränderungen des Menschen nicht einerlei Namen geben, davon die eine eben das in der Sele ist, was die andere im Körper?« (Vgl. ebd., 1 ff., 34 ff., 4) Das Seufzen ist in jedem Falle ein Phänomen, das nur in seiner körperlich-seelischen Totalität verständlich gemacht werden kann, während es eine einseitige Betrachtung aus den Augen verliert. Unzer besteht daher auch auf der Originalität seiner Untersuchung – »davon ich bis iezo keine ausnemende Nuzen und Vorteile weder in der Selenlere noch Arzneywissenschaft anfüren kann.« (Ebd., 3) Einerseits erläutert er die seelischen Aspekte, indem er das mit dem Seufzen verbundene Verlangen erläutert, nämlich über oder nach etwas zu seufzen, das man entbehrt und zu erreichen strebt. »Man stelle sich nur einen Gelerten vor, der das erste Mal disputiren, 73 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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oder auf die Kanzel treten sol. Er läst bei jedem Schritte, den er dem Plaze näher thut, einen tiefen Seufzer faren, und vermutlich am meisten desfals, weil er senlichst verlanget, den guten Fortgang seines Unternemens zu sehen.« (Ebd., 13 f.) Andererseits unterstreicht er die physiologischen Kontexte, indem er auf die wohltuenden organischen Effekte des tiefen Ausatmens, die beruhigende Wirkung auf den Blutkreislauf (oder die Abkühlung des Bluts in der Lunge) eingeht. Den Zusammenhang von Körper und Seele versteht er im Sinne der Naturforschung empirisch (gemäß Krügers Begriff vom Nervensaft), im Hinblick auf eine Übereinstimmung nervlicher Impulse und mentaler Dynamiken, ohne sich auf Spekulationen über die Art und Weise der Vermittlung (»Einflüsse und Harmonien«) einzulassen (vgl. ebd., 97 f., 101 f.). Und dennoch steht die quasi anthropologische Verbindung von Leib und Seele für den »warhaften Charakter einer Person« (ebd., 104). »Wer einen Anspruch auf die Seufzer machen wil, mus mit Leib und Sele verlangen können.« (Ebd., 102) Die Ausrichtung auf den ganzen Menschen antizipiert eine medizinische Anthropologie, die sich gegen die vorherrschende, an der cartesianischen Trennung der Substanzen orientierte Auslegung des Menschen wendet. Stephan Chauvins Lexicon philosophicum (1713) behandelt den Menschen dagegen strikt cartesianisch im Rahmen der scientia de homine als eine res composita. Zwar werden dort Dinge diskutiert, die nicht eindeutig somatologisch oder pneumatologisch kategorisiert werden können – wie z. B. die Frage nach dem »Sitz« der Seele. Aber vorausgesetzt bleibt doch eine strikte Trennung der Bereiche (vgl. Chauvin 1713, 46, 490). Walch und Zedler verstehen unter Anthropologie in erster Linie Anatomie und Physiologie der menschlichen Natur, weshalb sie von ihr die »moralische Beschaffenheit« des Menschen absondern, die in der Ethik thematisch wird. Die Anthropologie firmiert als ein »Spezial-Theil der Physic«. 3 Ebenso begreift der Jenaer Naturforscher Hermann Teichmeyer den Menschen als eine (göttliche) Maschine, die aus zwei Teilen zusammengesetzt ist: aus einer materiell körperlichen Seinsart, die mechanistischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, und aus einer immateriell geistigen: »homo ex duabus compositus est partibus essentialibus« (Teichmeyer 1719, Praef.). In der Forschung der sog. »literarischen Anthropologie« hat man die Bedeutung von Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und Welt3

Vgl. Walch 1726, Sp. 107; Zedler 1732 ff., Sp. 552.

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weise (1772) schon seit langem erkannt. In dem Text verbinden sich die physiologische und die psychologische Sichtweise zu einer ganzheitlich medizinischen. Bei Kosenina heißt es dazu: »Platners bedeutsamste Leistung bleibt […] die Mitbegründung der neuzeitlichen Anthropologie als einer medizinisch-philosophischen Wissenschaft vom ganzen Menschen, die als Vorläufer der psychosomatischen Medizin gelten kann.« (Kosenina 2000, 307) Demnach sind es vor allem die Ärzte, die sich wieder der Philosophie zuwenden sollten, indem sie nicht nur die körperliche Natur, sondern eben auch die seelische des ganzen Menschen in den Blick nehmen: »Der Mensch ist weder Körper, noch Seele allein; er ist die Harmonie von beyden, und der Arzt darf sich, wie mir dünkt, eben so wenig auf jene einschränken, als der Moralist auf diese. Indessen glaube ich, daß die Moralphilosophen mehr von dem menschlichen Körper wissen, als die Aerzte von der Seele; denn man rechnet noch immer die Erkenntnis des menschlichen Körpers eher zur Philosophie, als die Erforschung der Seele zum System der Arzneykunst.« (Platner 2000, IV) 4

Platner beklagt sich ausgiebig darüber, dass die Philosophie in der Ärzteschaft in Misskredit geraten ist. Zwar ist die spekulative Erforschung der Metaphysik der Substanzen nicht Gegenstand der anthropologischen Philosophie des vernünftigen Arztes (vgl. ebd. XIII). Aber daraus zu schließen, die geistige Existenz vollständig außer Acht lassen zu dürfen oder zu sollen, geht an den Tatsachen einer »Gemeinschaft« der Seele mit dem Körper vorbei. Platners Anthropologie enthält »wenig Psychologie«, »welche nicht auf physikalische Erklärungen zurück führte«, sofern die Psychologie jederzeit in der Gefahr schwebt, in spekulativen Höhenflügen das eigentliche Gebiet der anthropologischen Wissenschaft zu überfliegen. Die »Erkenntnis des Menschen« wird in »drey Wissenschaften« eingeteilt – in Physiologie (und Anatomie), welche die körperliche Natur des Menschen betrachtet, dann Psychologie, d. i. die Erforschung der Seele für sich allein, d. h. ohne Beachtung der Mitwirkung des Körpers, und zuletzt Anthropologie, welche die physio-psychologischen Beziehungen untersucht (vgl. ebd., XV-XVII). Weiter heißt es da: »Ein Arzt, der sich mit der Seelenlehre oder mit der spekulativen Weltweisheit […] noch beschäfftigt, nachdem er die zu seinen künftigen Absichten erfoderliche Magisterwürde erkauft hat, ist bey uns fast in Gefahr, für einen Abtrünnigen gehalten zu werden, wenigstens doch für einen Mann, der sich besser auf das Catheder schickt, als vors Krankenbette.« (Ebd., V)

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Den Gedanken von einer anthropologischen Einheit von Körper und Seele legt auch Lavater seinen 1775–1778 erscheinenden vier Bänden Physiognomische Fragmente zugrunde (Lavater 1775–1778). Lavater und seine Anhänger gehen davon aus, dass sie das Innerste, auch die tiefsten Seelengeheimnisse, im Äußersten erkennen können. Auf diesem Weg scheint der ›wahre Charakter‹ des Menschen fassbar zu werden – und so kann womöglich nicht nur sein inneres Wesen aus seiner verräterischen äußeren Erscheinung erschlossen sondern ihm auch vorgeschrieben werden, was er zu denken hat oder in welchem Ausmaß er zu denken fähig ist. Wie Lichtenberg in seiner berühmten Streitschrift Über Physiognomik; wider die Physiognomen [1778] schreibt, schließen die Physiognomen »aus Ähnlichkeit der Gesichter auf Ähnlichkeit der Charaktere« und behaupten, dass »die schönste Seele […] den schönsten Körper, und die häßlichste den häßlichsten« bewohne. 5 Sie unterstellen zudem ein Entwicklungskonzept, »durch Verschönerung der Seele endlich den Körper zu Idealen griechischer Künstler hinauf zu formen.« (Ebd., 29) 6 Diesen Überlegungen liegt eine Charakterlehre des ›ganzen Menschen‹ zugrunde, welche zwischen Seele und Körper, z. B. im Gebrauch des Begriffs der »Anlage«, vermittelt. »Was ist physiognomischer Sinn anderes als – in dem Leibe die Seele zu sehen?« 7 Lavater spricht vom Genie, das imstande ist, »durch das Äußerliche des Menschen sein Inneres« (bzw. seinen »stehenden Charakter«) zu erkennen. (Ebd.) Dabei orientiert er sich an den statischen Knochenmaßen und damit auch an einer idealen morphologischen Anatomie: an Winkelmanns Schönheitsideal. An diesem Punkt rekurriert die Physiognomie auf die anatomische Schädelkunde Campers (und Blumenbachs). 8 Ihr Bezug zur Naturlehre spielt in der Folgezeit in der vergleichenden Kraniologie, Kraniometrie und Rassenkunde eine große Rolle. Lichtenberg wendet sich nicht nur gegen den Gebrauch von Winkelmanns Ideal: »Allein es ist Unerfahrenheit und antiquarische Pedanterei, zu glauben, diese Schönheit [»die himmlische Aufrichtigkeit« und das »Bewußtsein der Unschuld«] sei das, was Winkelmann Schönheit Lichtenberg 1970, 25, 28. Vgl. auch ebd., 44. Selbst wenn es möglich wäre, in Analogie zur Tierzucht die menschlichen Gesichter »jenen griechischen zu nähern«, so wäre es doch noch fraglich, ob diese Veränderung auch eine hinsichtlich der Tugendhaftigkeit wäre. Vgl. ebd., 30. 7 Lavater-Zitat in Lichtenberg 1970, 15. 8 Vgl. Camper 1792. Siehe bereits Daubenton 1764. 5 6

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nennt.« (Lichtenberg 1970, 29) 9 Auch die mögliche – später im Rahmen der Anthropometrie praktizierte – Charakterstatistik weist er entschieden zurück. 10 Im Unterschied zur wissenschaftlichen Forschungspraxis der Physiker bedient sich der Physiognom der empirischen Methode, ohne dabei ein Verfahren zu entwickeln, seine Hypothesen experimentell zu überprüfen. Er »springt und stolpert«, ebenso »hilflos« wie »verwegen«, »von gleichen Nasen auf gleiche Anlage des Geistes, und, welches unverzeihliche Vermessenheit ist, aus gewissen Abweichungen der äußeren Form von der Regel auf analogische Veränderung der Seele.« (Ebd., 40) Wenn Lavater von »Erfahrung« spricht, so liegt hier Lichtenberg zufolge eine vollkommene Verwirrung vor. 11 Einerseits werden Kenntnisse über Personen unvermerkt in ihr Gesicht projiziert – eine Poetenlippe hat ein Poet und Forscheraugenknochen hat ein Forscher – andererseits wird ein neuer physiognomischer Sehsinn veranschlagt, ein göttliches Urteilsvermögen, das etwa so unverschämt ist, Krankheit und Gerechtigkeitssinn als miteinander unvereinbar auszugeben (vgl. ebd., 60). Wird der ganze Mensch (als leib-seelische Einheit) medizinisch im Hinblick auf psychosomatische Phänomene und physiognomisch im Sinne einer äußerlichen Lesbarkeit eines Charakterinneren gefasst (die zudem hirnphysiologische Kausalitäten kraniometrisch spezifischer Schädelformen behauptet), so liefert Rousseau mit der Idee des menschlichen Naturzustands ein weiteres Bild des ganzen Menschen im Sinne seiner ursprünglichen und nicht artifiziellen oder gesellschaftlich depravierten Natur (vgl. Rousseau 1990, 47, 61). Rousseaus Darstellung des Naturzustandes zielt auf den wilden Menschen, der als idealisierter ›ganzer Mensch‹ dem zivilisierten Menschen und »Tugend macht schöner, aber die größte Schönheit, die sie unter einem gewissen Himmelsstriche hervorbringt, ist so sehr von jener winkelmannischen unterschieden, daß vielmehr bis ans Ende der Welt jeder ehrliche deutsche Bauer darin von jedem neapolitanischen Dieb übertroffen werden wird […].« (Ebd., 66) 10 »Wäre man einmal so weit, daß man mit Zuverlässigkeit sagen könnte, unter 10 Bösewichtern sah immer einer so aus, so könnte man Charaktere so berechnen, wie die Mortalität. Allein hier zeigen sich gleich unübersteigliche Schwierigkeiten.« (Ebd., 25–26) 11 »Sie [die Physiognomen] irren sich, wenn sie aus Schattenrissen oder Portraiten von Personen urtheilen, die sie gar nicht kennen, so entsetzlich, daß, wenn man die Treffer mit den Fehlern verglichen sähe, das Glücksspiel gleich in die Augen fallen würde […] Auch die getroffenen sind es oft nur in Orakelwörtern, mit Spielraum für den Sinn […].« (Ebd., 60) 9

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seiner depravierten, degenerierten Existenz einen Maßstab zur Orientierung entgegensetzt. Er übernimmt aus den Reiseberichten Francisco Coréals eine Beschreibung der »Kariben« Venezuelas, die eine gesunde und einfache, ja in ihrem unmittelbaren Gegenwartsbezug geradezu tierähnliche Lebensweise pflegen (vgl. Coréal 1722). Im Unterschied dazu unterstreicht Rousseau, »dass der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur ist (que l’état de réflexion est un état contre Nature) und dass der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist.« (Rousseau 1990, 89) Mit der anthropologischen Differenz (zwischen Mensch und Tier) verbindet sich bei Rousseau stets das Kriterium der Handlungsfreiheit (oder der perfectibilité), die nicht zuletzt mit dem Verlust des Naturzustandes verbunden wird. Die natürliche Existenz des Menschen bedeutet dagegen für ihn, den natürlichen Gefahren der Selbsterhaltung ausgesetzt und mit sich selbst im Einklang zu sein. »Die Natur geht mit ihnen [den Menschen im Naturzustand; MR] präzise so um, wie das Gesetz Spartas mit den Kindern der Bürger umgegangen ist: Sie macht diejenigen stark und robust, die über eine gute Verfassung verfügen, und läßt alle anderen zugrundegehen, hierin von unseren Gesellschaften verschieden […].« (Ebd., 81) 12 Der zivilisierte Mensch, der zu all seinem Tun Maschinen und Werkzeuge verwendet, wird von einem wilden Menschen, stellt man sie »einander nackt und unbewaffnet gegenüber«, leicht überwunden: daran lässt sich der Vorteil ermessen, der darin besteht, »sich sozusagen immer ganz mit sich zu führen« [toujours tout entier avec soi] (ebd., 83). Mit diesen Überlegungen Rousseaus etabliert sich eine Sichtweise des ganzen Menschen, die ein historisches Entwicklungs- oder Verfallskonzept nicht nur mit den Augen eines idealen Maßstabs, sondern auch mit Blick auf natürliche und kulturelle Ungleichheiten unterschiedlicher Rassen (die Wilden und die Zivilisierten) perspektiviert. Diese Ungleichheiten werden zudem in eine Relation zur anthropologischen Differenz (Stichwort Tierähnlichkeit) und zur Pathologie der Seelenkrankheiten bzw. der später sog. vererblichen Degenerationserscheinungen gestellt.

Ebenso gilt, dass die Geschicklichkeit des Naturmenschen mit der Entwicklung der Kunstfertigkeit [industrie] verloren geht: »Würde sein Handgelenk so starke Äste brechen, wenn er ein Beil gehabt hätte?« (Ebd., 83)

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II. Aus meiner Sicht beginnt der eigentlich philosophische Diskurs der Anthropologie mit Kants Vorlesungen. Die Anthropologievorlesungen hält Kant seit 1772 regelmäßig, wenn auch die Buchfassung der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht erst 1798 erscheint (Kant 1917). Mit der Konzeption der Vorlesung wird eine populär gehaltene Lehrform entwickelt, die inhaltlich (im 1. Teil) die thematische Struktur der empirischen Psychologie der Wolff-Schule übernimmt. Diese Übernahme erfolgt mittels einer Umarbeitung der theoretischen Grundlagen, sofern der metaphysische Dualismus transzendentalphilosophisch modifiziert wird. Umgesetzt wird die Modifikation durch den Entwurf einer dezidiert pragmatischen Disziplin der Anthropologie, die sich von der physiologischen Alternative absetzt. Wie aus dem Briefwechsel mit Markus Herz klar ersichtlich ist, wendet sich damit Kant gegen Platners Anthropologie. Insbesondere wird die empirische These einer »Gemeinschaft von Körper und Seele« als metaphysisch voraussetzungsvoll entlarvt. Eine Klärung des Dualismusproblems kann aus seiner Sicht lediglich auf transzendentalphilosophischem Niveau gelingen, sofern ontologische Wissensansprüche mit einer raumzeitlich organisierten Subjektivierungsform der Erfahrung zurückgewiesen werden. Nach Kant sind die Aussagen der empirischen Psychologie nicht wissenschaftsfähig, weil die Erscheinungen des inneren Sinns aufgrund ihrer Zeitverhältnisse instabil und nicht mathematisierbar sind. Die psychologischen Themen sind seriös nur im Rahmen einer Anthropologie verhandelbar, die sich pragmatisch ausrichtet, d. h. seelische Phänomene in ihrem praktischen Weltbezug objektiviert. Damit werden gleichzeitig die (philosophisch-systematischen) Ansprüche zurückgewiesen, die mit den empirischen Wahrheiten anthropologischer Wissenschaften verbunden werden könnten. Die erkenntnistheoretischen ebenso wie die praxistheoretischen Rahmenbedingungen werden der Anthropologie (als empirischer Wissenschaft) durch das elementare Vokabular der systematischen Philosophie vorausgesetzt. Foucault sprach in seiner thèse complémentaire (1961), d. i. seine lang unveröffentlicht gebliebene Einführung in die von ihm selbst übersetzte Anthropologieschrift Kants, von einer »Lektion«, die dieser ihm erteilt habe (vgl. Foucault 2010). Mit dieser Blockade der empirisch-transzendentalen Reduplikation verbindet sich in der Sache auch Kants Absage an das Ideal des 79 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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ganzen Menschen. Sie wird in den Schlusspassagen im Kapitel über den Gattungscharakter des Menschen ausdrücklich. 13 Für den anthropologischen Diskurs ist allerdings entscheidend, dass Kant in der Anlage der Charakteristik (d. i. der 2. Teil der Anthropologie) und durch die dritte Kritik mit ihren Vermittlungsfiguren der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft weitere Optionen eröffnet. In der Folgezeit werden diese Optionen ergriffen – und mit ihnen der anthropologische Diskurs in der Philosophie konsolidiert. Mit Schelling rückt der Organismus ins Zentrum einer Naturphilosophie, die sich nach 1800 zunehmend anthropologisch ausrichtet. Diesem Trend folgen später auch die Anthropologieentwürfe der stärker positivistisch formierten philosophischen Psychologie nach Fries – und der in der Philosophie des Geistes situierten Seelenlehre Hegels. Bereits in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) diskutiert Schiller das in spezifischer Weise aus der kantischen Philosophie resultierende Problem des ganzen Menschen, nämlich seine Einheit als ebenso denkendes wie auch handelndes Wesen (vgl. Schiller 1959, 270). Diese Einheit wird anvisiert, indem die abgehobene Form der Moralphilosophie auf das natürliche Gesetz Rousseaus zurückgeführt wird: »Über diejenigen Ideen, welche in dem praktischen Teil des Kantischen Systems die herrschenden sind, sind nur die Philosophen entzweit, aber die Es charakterisiert den Menschen, so könnte man mit Kant sagen, dass er bloß insoweit vernünftig ist, als er zwar eine Menge unsittliche und lasterhafte Gedanken hegt, aber diese doch vor anderen verheimlicht und nicht laut ausspricht. »Weil aber Thorheit, mit einem Liniamente von Bosheit verbunden […], in der moralischen Physiognomik an unserer Gattung nicht zu verkennen ist: so ist allein schon aus der Verheimlichung eines guten Theils seiner Gedanken, die ein jeder kluge Mensch nöthig findet, klar genug zu ersehen: daß in unserer Rasse jeder es gerathen finde, auf seiner Hut zu sein und sich nicht ganz erblicken zu lassen, wie er ist […]. Es gehört also schon zur ursprünglichen Zusammensetzung eines menschlichen Geschöpfs und zu seinem Gattungsbegriffe: zwar Anderer Gedanken zu erkunden, die seinigen aber zurückzuhalten; welche saubere Eigenschaft denn so allmählig von Verstellung zur vorsetzlichen Täuschung, bis endlich zur Lüge fortzuschreiten nicht ermangelt.« (Kant 1917, 332) Die Vernunft umspannt nicht in der Weise die menschliche Natur, dass sie anthropologisch begründet werden kann. Zwar fügt sie sich harmonisch in die stoische Weisheit und Voraussicht des Naturgeschehens, aber sie spreizt sich doch gegen die Assimilation des niederen, sinnlichen und passiven Begehrens. Unheilbar, unversöhnlich bleiben die empirische und die reine Form des menschlichen Vermögens getrennt, so dass stets eine virtuelle Schicht (hier: im Denken) den aktuellen Manifestationen (hier: in der Rede) entgleitet. Den ganzen Menschen wird man also schwerlich zu fassen bekommen.

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Menschen […] von jeher einig gewesen. Man befreie sie von ihrer technischen Form, und sie werden als die verjährten Ansprüche der gemeinen Vernunft und als Tatsachen des moralischen Instinktes erscheinen, den die weise Natur dem Menschen zum Vormund setzte, bis helle Einsicht ihn mündig macht.« (Ebd., 270)

Der idealisierte Naturstand wird als Endzweck imaginiert, nämlich »aus heller Einsicht und freiem Entschluß« den wohlausgewogenen Naturzustand mit dem bürgerlichen Zustand zu vermitteln! So rechtfertigt sich der Versuch eines mündig gewordenen Volks, »seinen [despotischen] Naturstaat in einen sittlichen umzuformen.« (Ebd., 275) Problematisch erscheint hierbei die Orientierung an einem sittlichen (»nur problematischen«) Menschen, d. h. an einem normativen Ideal, das sein soll, aber nicht wirklich ist – wobei der wirkliche »physische Mensch« aufgegeben werden müsste. »Ehe er Zeit gehabt hätte, sich mit seinem Willen an dem Gesetz festzuhalten, hätte sie [die Orientierung am sittlichen Menschen; MR] unter seinen Füßen die Leiter der Natur weggezogen« oder ihm »die Mittel der Tierheit entrissen, die doch die Bedingung seiner Menschheit ist.« (Ebd., 275) 14 Weder der natürliche Charakter (der egoistisch und destruktiv ist) noch der sittliche Charakter (der erst gebildet werden soll – und als freier niemals erscheint) allein und für sich genommen können hier weiterhelfen. Vielmehr muss es darum gehen, »einen dritten Charakter zu erzeugen, der, mit jenen beiden verwandt, von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze einen Übergang bahnte« – und auf diese Weise den moralischen Charakter – als »sinnliches Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit« – entwickelte und realisierte (ebd., 276). Schiller verbindet das philosophische Unterfangen, zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft zu vermitteln, mit einem politischen Auftrag – der nur erledigt werden kann, indem er eine ästhetische Bildung und Propädeutik des vernünftigen Menschseins durchläuft. 15 »Jeder individuelle Mensch […] trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher »Das große Bedenken also ist, daß die physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee sich bildet.« (Ebd., 276) 15 »Soviel ist gewiß: nur das Übergewicht eines solchen Charakters bei einem Volk kann eine Staatsverwandlung nach moralischen Prinzipien unschädlich machen, und auch nur ein solcher Charakter kann ihre Dauer verbürgen.« (Ebd., 277) 14

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Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.« (Ebd., 277 f.)

Durch den Staat wird dieser reine Mensch repräsentiert. Schiller unterscheidet hier zwei Hauptformen der Repräsentation. Entweder unterdrückt der reine Mensch den empirischen und der Staat hebt die Individuen auf, oder aber das Individuum wird Staat, indem sich der empirische Mensch »in der Zeit zum Menschen in der Idee […] veredelt.« (Ebd., 278) In der einseitig moralischen Sichtweise fällt diese Unterscheidung weg, nicht aber »in der vollständigen anthropologischen Schätzung, wo mit der Form auch der Inhalt zählt und die lebendige Empfindung zugleich eine Stimme hat.« (Ebd., 278, Herv. MR) Nicht im kantischen Sinne spricht Schiller hier von ›Anthropologie‹, vielmehr zielt er auf eine Vermittlung im systematischen Feld der ästhetischen (und teleologischen) Urteilskraft: »Einheit fordert zwar die Vernunft, die Natur aber Mannigfaltigkeit, und von beiden Legislationen wird der Mensch in Anspruch genommen.« (Ebd., Herv. MR) Es entspricht einer »mangelhaften Bildung«, wenn der sittliche Charakter den natürlichen unterdrückt. Im Unterschied zum »mechanischen« Künstler, der den Zweck seines Tuns dem Material von außen voraussetzt, das er willkürlich und gewaltsam bearbeitet, müssen der pädagogische und ebenso der politische Künstler darauf achten, dass sie ihrer Bildungsaufgabe im Sinne einer Entwicklung des Menschen aus sich selbst heraus gerecht werden. Der Staat ist eine Organisation, welche die Teile mit dem Ganzen in ein harmonisches und zweckmäßiges Verhältnis setzt oder setzen kann – wenn dem nicht der »Charakter eines Volks« (z. B. durch den in ihm herrschenden Gegensatz des subjektiven und des objektiven Menschen) entgegensteht. (Ebd., 280) Schiller unterscheidet »Barbaren« und »Wilde«: jene entehren die Natur, indem sie an ihren Grundsätzen festhalten, diese folgen ihren Gefühlen – und verlieren so die Grundsätze aus den Augen. »Totalität des Charakters muß also bei dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen.« (Ebd., 280 f.) Es ist der wahrhaft gebildete Mensch, der Natur und Freiheit in sich, in der Totalität seines Charakters, versöhnt. Schiller greift die kantische Vorstellung von einem freien Spiel der Erkenntniskräfte auf – und transponiert diese ästhetische Bestimmung in den anthropologischen Bereich, sofern es eben »nur das Spiel […] ist, was ihn [den Menschen; MR] vollständig macht und 82 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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seine doppelte Natur auf einmal entfaltet.« (Ebd., 327) Mit der Schönheit soll der Mensch spielen. »Denn […] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« (Ebd., 329) Die natürliche Bestimmung des Menschen liegt eben darin, ein ganzer zu sein. Die Verstandeskultur ist dagegen eine beschränkte und einseitige, die durch eine ästhetische – oder anthropologisch vernünftige – »Veredelung des Charakters« aufzuheben ist. Individuelle Bildung und politische Kultur in weltbürgerlicher Absicht werden in der Idee des ganzen Menschen vermittelt. Die Bestimmung des Menschen liegt damit in einer Geschichtsphilosophie, die – wie schon bei Kant – in der Entwicklung der natürlichen Anlagen ihr Telos verfolgt. Schillers Idee einer politischen Ästhetik und Anthropologie wird insofern von Schelling aufgenommen, als dieser ebenfalls aus der Kritik der Urteilskraft ein zwischen den getrennten Bereichen von theoretischer und praktischer Vernunft angesiedeltes Wesen entnimmt und zur Grundlage seiner Naturphilosophie macht: den menschlichen Organismus. Organismen sind nach Kant Naturzwecke, d. h. rational organisierte Wesen, die einen nexus finalis inkorporieren. Schelling macht daraus den lebensphilosophischen Identitätsgrundsatz seiner Philosophie – und inspiriert auf diese Weise den gesamten Bereich der sog. »romantischen Anthropologie«. Keine andere Philosophie liefert Foucaults These vom Übergang der klassischen Naturgeschichte in die moderne Biologie und Lebenslehre eine bessere Bestätigung als die des jungen Schelling (auch wenn sie Foucault nicht bekannt war). Das Leben besitzt danach ein positives (allgemeines) und ein negatives (besonderndes) Prinzip, weshalb es in der Natur ein Stufenschema (Physik, Chemie, Biologie – Pflanze, Tier, Mensch) der Entwicklung etabliert, das mit einer dialektischen Methode durch Vernunft expliziert werden kann. Der Organisationsgrad verschiedener Lebewesen bestimmt sich aus den unsichtbaren vitalen Funktionen, wobei die Sensibilität als maßgebliche Instanz fungiert und die Ordnung der Stufenfolge festlegt (vgl. Rölli 2011, 108 ff.). An diesem Punkt kommt Schelling ausdrücklich auf den ›ganzen Menschen‹ zu sprechen, der zunächst unmittelbar und unreflektiert in der Natur lebt, dann aber kraft der Freiheit seines Geistes eine (mit sich entzweite, quasi »entfremdete« oder wie Rousseau sagt: »depravierte« oder »degenerierte«) Verstandeskultur errichtet – und sich damit der Vorsorge der Natur entzieht (Schelling 1994, 99 ff.). Die 83 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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mechanistische Logik einer theoretischen Rationalität, die der Natur ihre Gesetze vorschreibt, verfehlt das Leben, dessen organische Strukturen einzig und allein durch den Gebrauch einer reflektierenden Urteilskraft hervortreten können. Damit ist gemeint, dass sich »die Teile […] dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.« (Kant 1993, 373) Die Einheit des Organismus versteht Schelling als eine begriffliche Einheit, die das Verhältnis des Idealen und Realen im Sinne einer »höheren Empirie« als spekulative Identität fasst. Unablässig betont Schelling, dass die Einheit der organisierten Natur des Menschen eine leiblich-seelische Einheit ist. Im Menschen kommt das Leben zu sich selbst, könnte man sagen, wenn es seine in der Natur liegenden geistigen Anlagen entwickelt. (Schelling 1994, 103, 105) In der romantischen anthropologischen Literatur werden die von Kant in die Anthropologie eingeführten empirischen Charakterdifferenzen entwicklungskritisch herangezogen und beurteilt. An diesem Punkt wird die Vielfalt der nicht-philosophischen Themen der Anthropologie philosophisch integriert und in ihrer Integration sichtbar. Mit dem Charakter der Person und der Gattung wird die geschichtliche Bildungsaufgabe des Menschen als Lebewesen – quasi die Disziplin im Horizont einer politischen und ökonomischen Regulierung des Lebens – zur diskursiven Rahmenbedingung. Empirische Unterschiede ergeben sich aus der Natur sei es des einzelnen Menschen nach Disposition, Neigung oder Temperament, im Hinblick auf pathologische Erscheinungsformen, oder in Bezug auf den Charakter des Geschlechts, des Volks oder der Rasse. Hier werden natürliche oder biologische Grundlagen konstatiert, die als Erbanlagen ihre Entwicklungsmöglichkeiten bestimmen – und dies im vorgegebenen Rahmen eines Ideals des ganzen Menschen, das in seiner vollständigen Entwicklung, wenn möglich, nicht behindert wird. 16 Der anthropologische Begriff des Charakters zeichnet sich dadurch aus, dass er auf den ganzen Menschen zielt, indem er einerseits eine bestimmte körperliche Organisation aufweist, z. B. ein mehr oder weniger großes Gehirn, und eine seelische Verfassung, die mit der Ausbildung der natürlichen Lebensfunktionen korrespondiert. Vgl. hierzu die anthropologische Karriere der von Kant in seinen rassekundlichen Schriften verwendeten Epigenesislehre von »Keimen« im Sinne von quasi biologischen, teleologisch verfassten Erbanlagen.

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Diese lebendige Einheit stellt den naturphilosophischen Ausgangspunkt dar, eine entwicklungslogische Norm des gesunden und allseits begabten Menschen, das im Naturzustand ursprünglich verkörperte und in Zukunft wieder zu erreichende Ideal (das im genialen Menschen aufschimmert). Dies wird im einseitigen Verstandesdenken verfehlt, so dass sich der Mensch von sich selbst entfremdet, in einem degenerativen Prozess, der ihn zuletzt zu vernichten droht. In diesem Sinne fordert der Schellingianer Heinrich Steffens, das bloß naturwissenschaftlich auf die leblosen Dinge ausgerichtete Verstandesdenken in einer anthropologischen Vernunft aufzuheben (Steffens 1822, 7–8, 14 ff.). Ludwig Feuerbach sieht die lebendige Natur des Menschen vor allem theologisch gefährdet – und Ludwig Büchner schließt sich explizit an Feuerbach an, wenn er diese Natur insgesamt naturwissenschaftlich, und gerade nicht einseitig philosophisch und abstrakt gefasst wissen will. 17 Letztlich besteht der Einsatz der ›neuen‹ philosophischen Anthropologie seit Plessner und Scheler darin, gegen die Naturalisierung des Menschen wiederum sein ganzes Wesen ins Spiel zu bringen – und zu diesem Zweck wird auf die naturphilosophische Überlieferung zurückgegriffen und eine philosophische Biologie konzipiert. 18

III. Von einer Wiederkehr der philosophischen Anthropologie ist gegenwärtig, zumeist im Kontext der Bioethik, oft die Rede. Die Bioethik und mit ihr das Orientierungsverlangen, das angesichts rasanter technischer Entwicklungen im Kontext der Lebenswissenschaften entsteht, formulieren einen regelrechten Anthropologiebedarf. Philosophen sollen sagen, was der Mensch ist, und so die auch die menschliche Natur erfassende Technisierung (Organtransplantation, Gentherapie, Pränataldiagnostik etc.) legitimieren, ihre ethisch bestimmbaren Grenzen definieren und den Anschein vernünftiger Kontrolle wahren. Die breit geführten Diskussionen rund um die neuen Möglichkeiten der Biotechnologien kreisen etwa um die Frage, ob »die verbrauchende Embryonenforschung ein Anschlag auf die Menschenwürde ist« (Spaemann 2001, 41–50)? Nachgefragt wird 17 18

Vgl. Feuerbach1976, 17 ff.; Büchner 1855, 91 ff. Vgl. Scheler 1975, 11–36; Plessner 1975, 105 ff., 123 ff.

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ein Wissen vom Menschen, nämlich von dem, was ihn – angesichts technisch veränderter Verhältnisse von Anfang und Ende des Lebens – wesentlich charakterisiert. Ein Bezugspunkt dieser hierzulande rund um die Bioethik auftauchenden Frage nach dem Menschen ist die philosophische Anthropologie, die sich als eigentümlich deutsches Phänomen Ende der 1920er Jahre konstituiert. Es wäre allerdings verfehlt, wollte man diesen Bezug auf eine Traditionslinie der philosophischen Anthropologie verallgemeinern. Tatsächlich hat der gegenwärtige Aufschwung der Rede vom Anthropologischen noch andere Gründe. Einmal formiert sich im Anschluss an die Entwicklungen im Bereich der Lebenswissenschaften, besonders in den Evolutions- und Neurowissenschaften, ein »weltanschaulicher« Anspruch, nämlich menschenbildrelevante Erkenntnisse zu generieren (vgl. etwa Roth 1997). Ein historisches Vorbild dieses Vorgangs liefert die (in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende) populärmaterialistische Konstruktion einer quasi naturwissenschaftlichen Anthropologie. Im »biologischen Zeitalter« fällt es manchen allzu schwer, der Versuchung zu widerstehen, die evolutionswissenschaftlichen und humangenetischen Erkenntnisfortschritte nicht auch auf den Menschen im philosophischuniversalen Sinne anzuwenden. Hinzu kommt die Zeittendenz, eine praktische Anthropologie zu fordern, die der Aufgabe nachgeht, zwischen der Moral und dem »wirklichen« Menschsein, das sich stets auf neue Weise im wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt darstellt, zu vermitteln. 19 Dieses Anthropologiebedürfnis steht in einer eigentümlichen, moralphilosophisch-pädagogischen Tradition des kantischen Denkens. Die genannten Stränge sind häufig ineinander verwickelt, weil sie allesamt – Stichwort: Bioethik – im Begriff der Anthropologie das (naturwissenschaftlich-naturphilosophische) Leben und den Menschen (als selbstbewusstes, freies Wesen) zusammen denken. Gegenwärtig wird eine »Renaissance« der philosophischen Anthropologie »im Kontext der modernen Lebenswissenschaften« beobachtet (vgl. Gamm et al. 2005). Ich gehe davon aus, dass diese Erneuerung problematisch ist – und ein Gefahrenpotential enthält, das kritisch zu analysieren ist. Problematisch ist zunächst, ganz allgemein gesagt, dass das aktuell aufkommende anthropologische DenDie Rede ist von einer »Konvergenzanthropologie«, die im Namen philosophischer Vernunft Moral und Natur in ein Verhältnis der Versöhnung oder auch des Ausgleichs setzen will. Vgl. Illies 2006, 9 ff., 156–186, 327 ff.

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ken solche Denkgewohnheiten aktualisiert, die in der anthropologischen Vernunft ihren Grund finden, die nicht zufällig eine bestimmte historische Gestalt angenommen hat. Das heißt aber, dass sich der analytische Blick darauf richten muss, die charakteristische Fragmentierung des Kontinuums ›Leben‹, welche in der zeitgenössischen anthropologischen Antwort auf die Problemstellungen der angewandten Ethik steckt, herauszuarbeiten. Das heißt auch, dass anthropologische Zusammenhänge sichtbar zu machen sind, die die Wirklichkeitsmacht des Lebens, seine gegenwärtige Ökonomisierung und Inwertsetzung, mitstrukturieren. Vielleicht kann man sagen, dass zwei von Foucault herausgestellte Momente dieser ›Lebensmacht‹, nämlich die permanente Optimierung und Normalisierung des Lebens, in eine anthropologische Relation gebracht werden können, die ihre kohärente Simultaneität belegt. Es wäre demnach normal, besser zu sein als charakteristisch spezifisch Andere – und es wäre normal, schöner oder auch gesünder zu werden, auch reicher, berühmter und überhaupt leistungsfähiger. Es wäre normal, in einer Zukunft zu leben, die immer besser zu werden verspricht. Vor allem aber wäre es normal, normal zu sein; ebenso wie es menschlich wäre, ein Mensch zu sein. In diesem Sinne sind die Angebote eines besseren Lebens solche, die man normalerweise nicht ausschlägt oder auch nicht ausschlagen sollte. Begreift man diesen Normalismus als ein »partielles Diskursund Dispositiv-Netz«, dessen Kernfunktion darin besteht, den Fortschritt zu regulieren, so lässt sich im Kontext der von Foucault so genannten »Biomacht« zeigen, welche tragende Rolle das anthropologische Wissen und seine Machttechnologie spielt (vgl. Link 1999, 341–343). Es sind die Normalitätsgrenzen, die, z. B. im Gebrauch sozialstatistischer Verfahren, inhaltlich bestimmt werden können, indem man sich auf anthropologische Differenzierungen zurück bezieht. Das heißt, dass die binäre Logik (normal/abnormal) auf charakteristische Identitäten menschlichen Lebens (Mann oder Frau, Erwachsener oder Kind, Gesunder oder Kranker etc.) angewandt wird, selbst wenn die Grenzen als solche flexibel gehandhabt werden. Die vererbungsbiologisch und degenerationstheoretisch fundierte populationsstatistische Perspektive der Eugenik signalisierte nicht allein Abweichungen von einem Durchschnitts- bzw. Sollwert, sondern gleichzeitig das »Risiko von Denormalisierungen« und die mögliche »homöostatische Adjustierung« – wobei die »normalistische Norm« (etwa der »Erbwert« eines Menschen) an einem (biologisch 87 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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o. a. definierten) Typus eines bestimmten empirisch-anthropologischen Charakters festgemacht werden kann (vgl. ebd., 344 f.). Die Normalisierungsunfähigkeit ist heute das Charakteristikum eines Bevölkerungsanteils, der der anthropologischen Diskriminierungslogik zum Opfer fällt. Abnormal ist, wer an bestimmten Grundfähigkeiten oder Grundeigenschaften des Menschseins nicht partizipiert. 20 Das lässt sich altersspezifisch, geschlechterspezifisch, kulturspezifisch oder auch körper- und krankheitsspezifisch konkretisieren – im Raster der anthropologischen Charakteristik. Die Exklusion des Abnormalen wird internalisiert: Ein verfemter Teil steckt in uns, der unfähig ist, sich zu normalisieren, d. h. schöner, gesünder und erfolgreicher zu werden. Anhand eines Entwicklungsmodells wird die Annäherung an ein Idealbild des ganzen Menschen messbar, das sich an einer Verbesserung des individuellen Lebens oder auch kollektiver, national oder kulturell bestimmter Einheiten orientiert. Es liegt in der Logik dieses Gedankens, das Individuum als eine biologische Ressource für die Lebensverlängerung eines anderen aufzufassen. Utopisch grell rückt die kontinuierliche Verbesserung der Erbanlagen ins Licht bzw. die Gewebezüchtung mittels körpereigener Stammzellenlinien: So entsteht ein Leben, das sich mit Hilfe von Versicherungs- und Prognosetechniken von den Risiken, Defekten und Krankheitsanlagen zu lösen beginnt, die ein endliches Wesen stigmatisieren (vgl. Gehring 2006, 33 f.). Hieraus erklärt sich, dass auch der ›transhumanistische‹ Traum vom perfekten, technisch aufgerüsteten Menschen einer (cyber-)anthropologischen Logik folgt, die auf den ganzen, ideal verklärten Menschen abzielt.

Literatur Borchers, St. (2011): Die Erzeugung des ganzen Menschen. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter. Büchner, L. (1855): Kraft und Stoff, Neudruck der ersten Auflage, hg. v. W. Bölsche, Leipzig o. J.: Kroner. Camper, P. (1792): Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters etc., aus d. Holländischen v. Samuel Th. Soemmerring, Berlin: Vossische Buchhandlung. Vgl. zu einem Katalog der konstitutiven Bedingungen des normalen Menschen: Nussbaum 1999, 49 ff.

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Idee des ganzen Menschen Chauvin, St. (1713): Lexicon philosophicum, Leuven: Franciscus Halma. Coréal, F. (1722): Voyages de François Coréal aux Indes Occidentales, aus d. Spanischen übersetzt (ohne Angabe des Übersetzers), Paris: André Cailleau. Daubenton, L. (1764): »Mémoire sur les différences de la situation du grand trou occipital dans l’homme et dans les animaux«, in: Histoire de l’Académie Royale des Sciences avec les Mémoires de Mathématique et de Physique (Paris), 568–579. Feuerbach, L. (1976): Das Wesen des Christentums [1841], Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (2010): Einführung in Kants Anthropologie, aus d. Französischen v. U. Frietsch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gamm, G., Gutmann, M. u. A. Manzei (Hg.) (2005): Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften, Bielefeld: transcript. Gehring, P. (2006): Was ist Bio-Macht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Illies, Chr. (2006): Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, I. (1917): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], AA Bd. 7, Berlin: de Gruyter. – (1993): Kritik der Urteilskraft [1790], Hamburg: Meiner. Kosenina, A. (2000): »Nachwort«, in: Ernst Platner, Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Erster Teil, Nachdruck der ersten Ausgabe Leipzig 1772, Hildesheim: Olms, 303–313. Lavater, J. C. (1775–1778): Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig, Winterthur: Weidmann und Reich; Steiner. Lichtenberg, G. Chr. (1970): »Über Physiognomik; wider die Physiognomen«, in: Schriften zum Physiognomik-Streit, hg. v. K. Riha, Steinbach: Anabas, 17–72. Link, J. (1999): Versuch über den Normalismus, Opladen: Westdeutscher Verlag. Marquard, O. (1973): Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nussbaum, M. (1999): Gerechtigkeit oder das gute Leben, aus d. Englischen v. I. Utz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Platner, E. (2000): Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Erster Teil, Nachdruck der ersten Ausgabe Leipzig 1772, Hildesheim: Olms. Plessner, H. (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie [1928], Berlin: de Gruyter. Rölli, M. (2011): Kritik der anthropologischen Vernunft, Berlin: Matthes & Seitz. Roth, G. (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rousseau, J.-J. (1990), Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn: Fink. Scheler, M. (1975): Die Stellung des Menschen im Kosmos [1928], Bern/München: Franke. Schelling, F. W. J. (1994): Ideen zu einer Philosophie der Natur [1797], Hist.krit. Ausgabe Bd. 5, Stuttgart: Frommann-Holzboog, 59–306.

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Marc Rölli Schiller, F. (1959): »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen« [1795], in: ders., Über Kunst und Wirklichkeit. Schriften und Briefe zur Ästhetik, hg. v. C. Träger, Leipzig: Meiner, 269–393. Spaemann, R. (2001): »Gezeugt, nicht gemacht«, in: Chr. Geyer (Hg.): Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Steffens, H. (1822): Anthropologie, Bd. 1, Breslau: J. Max. Teichmeyer, H. F. (1719): Elementa anthropologiae sive theoria corporis humani, Jena: Bielcke. Unzer, J. A. (1747): Abhandlung vom Seufzen, Halle: Hemmerde. Walch, J. G. (1726): Philosophisches Lexicon, 2 Bde., Leipzig: Gleditsch. Zedler, J. H. (1732): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., Halle, Leipzig: Zedler.

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Kerstin Andermann

Anthropologie und Kritik Kant, Foucault und die philosophische Anthropologie*

Die Frage des Menschen nach sich selbst ist keine zeitlose Angelegenheit, die in der philosophischen Tradition immer schon vorhanden war. Sie wurde mitnichten von jeher gestellt, sondern ist eine durch und durch neuzeitliche Erscheinung und als solche verbunden mit einer Wende zur Lebenswelt und einer Ablösung von metaphysischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Entwürfen. Wie Odo Marquard in seiner einschlägigen Untersuchung zur Geschichte des Begriffs der Anthropologie deutlich gemacht hat, entsteht philosophische Anthropologie als Frage nach dem Menschen »aus der Distanzierung von Metaphysik, Naturwissenschaft und Geschichtsphilosophie, d. h. aus dem Misstrauen gegenüber den drei repräsentativsten Organen der Vernunft« (Marquard 1992, 218). So ist der erste große Aufschwung in der Geschichte des Begriffs der Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzusiedeln, wo wir es mit einer Konjunktur anthropologischen Denkens zu tun haben, die in der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen singulär sein dürfte. Es erscheinen unzählige Bücher und Zeitschriften, deren Ausgangspunkt die Natur des Menschen in ihrer physiologischen Anfälligkeit ist. Das frühe 19. Jahrhundert sucht den Menschen von naturphilosophisch-romantischen Grundlagen ausgehend zu verstehen und bewirkt die Fundierung der Anthropologie in der philosophischen Frage nach seiner Natur. 1 Verbunden mit der Abkehr von ge* Dieser Aufsatz ist bereits in einem von der Autorin und Andreas Jürgen herausgegebenen Band erschienen: Mythos – Geist – Kultur, München: Fink 2013, S. 221– 236. 1 »Die Anthropologie wird also romantisch fundamental durch [ihre] philosophische ›Wende zur Natur‹ : als jene radikale Form der Naturphilosophie, die nicht ›neben‹ der Philosophie des Menschen, sondern ›als‹ Philosophie des Menschen agiert. Gerade diese ›naturphilosophische‹, d. h. zur Geschichtsphilosophie ›alternative‹ Definition macht die Anthropologie in der Romantik […] zur Fundamentalphilosophie.« Naturlehre wie auch Philosophie – so führt Marquard vor allem mit Blick auf Heinroths

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Kerstin Andermann

schichtsphilosophischen Entwürfen erlangt die Bestimmung eines Wesens für die Anthropologie fundamentale Bedeutung, und zwar nicht als naturwissenschaftliche, sondern als philosophische Anthropologie im Sinne einer Naturphilosophie des Menschen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts verändert sich die Situation radikal: Mit Darwins Origin of Species von 1859 wird die romantisch-naturphilosophisch geprägte physiologische Anthropologie von der breiten, auch auf sozialwissenschaftliche Bereiche übergreifenden Durchsetzung einer evolutionstheoretisch-naturwissenschaftlich geprägten Sicht auf den Menschen abgelöst. 2 Fortan haben wir es geradezu mit einer Vernaturwissenschaftlichung des Menschenbildes zu tun, die dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihrerseits die – unter anderem von Dilthey her begründete – Kritik am Verlust des ganzen Menschen auf den Plan ruft. 3 Philosophische Anthropologie als Naturphilosophie des Menschen, und nicht-philosophische Anthropologie als naturwissenschaftliche Menschenkenntnis, haben gleichermaßen einen Begriff der Natur des Menschen geprägt und diesen als Ausgangspunkt ihrer Bemühungen verstanden. 4 Im Unterschied zu dieser sich im 19. Jahrhundert verfestigenden Naturalisierung der Frage nach dem Menschen soll im Folgenden mit Immanuel Kant ein anderer Ausgangspunkt gewählt und an den Anfang einer kulturalistisch und pragmatisch, lebensweltlich und 1822 erschienenes Lehrbuch der Anthropologie weiter aus – haben »ihre Wurzeln wie ihren Gipfel in der Anthropologie«. Vgl. Marquard (1992[a]), 129 f.; sowie exemplarisch Heinroth (1822). 2 Und fällt auf fruchtbaren Boden, denn die naturwissenschaftlich geprägte Kenntnis des Menschen hatte sich zu dieser Zeit bereits stark verbreitet, z. B. in den anthropologischen Gesellschaften, in der Bevölkerungsanalyse, der Hirnphysiologie, der Naturforschung und der Vererbungslehre, mit Ernst Haeckel, Rudolf Virchow, Herbert Spencer und Wilhelm Wundt, um hier nur wenige Stichworte und Namen zu nennen. 3 Selbstverständlich ist diese stark verkürzte Darstellung der Entwicklung anthropologischer Vernunft unvollständig und ausschnitthaft. Es geht mir an dieser Stelle lediglich um einen Eindruck von der Verfestigung des Naturbegriffs in der Tradition der Frage nach dem Menschen. Einschlägige, umfangreiche und kritische Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Begriffs der Anthropologie und zur Kritik der anthropologischen Vernunft liegen vor: Vgl. u. a. eben Odo Marquard, (Marquard 1992a); sowie Rölli (2011). 4 So setzt z. B. Helmuth Plessner 1928 programmatisch fest: »Ohne Philosophie des Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen.« (Plessner 1975, 26).

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Anthropologie und Kritik

weltbürgerlich orientierten Tradition der Frage nach dem Menschen gestellt werden. 5 Im Ausgang von Michel Foucault und seiner dezidierten Bezugnahme auf Kants Anthropologie soll dann das Verhältnis von Anthropologie und Kritik diskutiert werden, um von dort aus, über das Problem der empirisch-transzendentalen Reduplizierung, den Status einer philosophischen Anthropologie überhaupt zu hinterfragen.

1.

Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht

Den modernen und postmetaphysischen Ausgangspunkt einer Anthropologie, die sich als empirisch orientierte Wissenschaft der Kultur und der Lebenswelt versteht, bilden die Vorlesungen, die Kant zwischen 1772 und 1795 an der Universität Königsberg gehalten hat und die 1798 gesammelt unter dem Titel Anthropologie in pragmatischer Hinsicht veröffentlicht wurden. 6 Das Ziel seines collegium privatum der Anthropologie besteht für Kant darin, diese »zu einer ordentlichen akademischen Disziplin zu machen […]. Die Absicht, die ich habe, ist, durch dieselbe die Quellen aller Wissenschaften, die der Sitten, der Geschicklichkeit, des Umgangs, der Methode Menschen zu bilden und zu regieren, mithin alles Praktischen zu eröffnen.« (Kant Allerdings ist auch Kants Anthropologie nicht einfach als kulturalistisch zu charakterisieren, denn er baut nicht nur auf einen starken Vernunftbegriff auf, über den auch die Tradition des Humanismus in die Probleme anthropologischer Wesens- und Naturvoraussetzungen verwickelt wird; er richtet seine anthropologischen Analysen überdies auch an einer allgemeinen Natur dieser Vernunft aus und definiert von naturhaften Wesensbestimmungen aus Abweichungen. Kant ist zwar mitnichten ein Kulturalist, gleichwohl aber müssen die historisch bedeutsame Freisetzung des Menschen und die pragmatische Option der autonomen Gestaltung dessen, »was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht«, klar als nicht naturalistisch-determinierend anerkannt werden (Kant 1917, 119). 6 In der Vorrede zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht erwähnt Kant, dass er »einige dreißig Jahre hindurch zwei auf Weltkenntnis abzweckende Vorlesungen, nämlich (im Winter-) Anthropologie und (im Sommerhalbenjahre) physische Geographie gehalten« habe, »welchen als populären Vorträgen beizuwohnen, auch andere Stände geraten fanden« (Kant 1917, 122). Die Ausgabe der überarbeiteten Vorlesungen ist die letzte der von Kant selbst veröffentlichten Schriften. Die quellenorientierte Diskussion um die Herleitung der Anthropologie Kants aus der vorkritischen Phase und seine Auseinandersetzung mit anthropologischen Fragen bereits seit 1762 lasse ich hier aus. Vgl. dazu Hinske (1966); sowie den umfangreichen Kommentar von Brandt (1999). 5

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Kerstin Andermann

1922, 143 f.) 7 Kants Anthropologie hat mindestens zwei Bezüge, nämlich auf die kritische Reflexion der Transzendentalphilosophie einerseits sowie andererseits auf die Konjunktur der Untersuchungen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Bereich der Anthropologie zu konstituieren beginnen. Während die Natur des Menschen im Ausgang des naturphilosophischen und des naturwissenschaftlichen Erbes des späten 18. und des 19. Jahrhunderts bis heute weitgehend vorausgesetzt wird, verortet Kant den Ausgangspunkt seiner Anthropologie bereits in einem ganz anderen Begriff des Menschen und der menschlichen Wirklichkeit. Seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zielt auf die pragmatischen Handlungszusammenhänge, auf die Weltkenntnis vom Menschen, die Kenntnis des Menschen in seiner Welt, auf den Menschen als freien und vernünftigen Weltbürger, auf sein lebendiges Gemüt und sein Selbstbewusstsein. »Alle Fortschritte in der Kultur, wodurch der Mensch seine Schule macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten zum Gebrauch für die Welt anzuwenden; aber der wichtigste Gegenstand in derselben, auf den er jene verwenden kann, ist der Mensch: weil er sein eigener letzter Zweck ist. – Ihn also seiner Spezies nach als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders Weltkenntnis genannt zu werden, ob er gleich nur einen Theil der Erdgeschöpfe ausmacht.« (Kant 1917, 119)

Zwar geht es auch in der Anthropologie um das Erkenntnisvermögen und die sinnliche Orientierung, um Einbildungskraft, Verstand, Begehren und ästhetische Beurteilung, doch vor allem stehen hier der pragmatische Umgang des Menschen mit sich selbst und das, was er tätig aus sich zu machen imstande ist, im Mittelpunkt. Zwar scheint die Anthropologie die mannigfaltigen, gleichrangigen, so »unablässsig« beobachteten Phänomene auf den Nenner der »anthropologischen Charakteristik« bringen und gliedern zu wollen, doch gleichwohl ist der eigentliche Ausgangspunkt und die grundlegende

Kant schreibt weiter: »Da suche ich alsdenn mehr Phänomena u. ihre Gesetze als die erste[n] Gründe der Möglichkeit der Modifikation der menschlichen Natur überhaupt. […] Ich bin unablässig so bei der Beobachtung selbst im gemeinen Leben, daß meine Zuhörer […] unaufhörlich ihre gewöhnliche Erfahrung mit meinen Bemerkungen zu vergleichen jederzeit eine unterhaltende Beschäftigung habe[n].« (Ebd., 145 f.).

7

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Anthropologie und Kritik

Bestimmung, die Kant vornimmt, das Bewusstsein des Menschen von sich selbst und die dadurch eröffneten Freiheitsspielräume: »Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen.« (Ebd., 127)

Im unmittelbaren Zusammenhang zur Anthropologie stehen die berühmten drei Fragen, die Kant 1781 in der Kritik der reinen Vernunft formuliert und in denen sich alles Interesse seiner Vernunft vereinigt: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« Die erste bloß spekulative und unbeantwortbare Frage der Metaphysik, die praktische Frage der Moral, die nicht eigentlich Gegenstand der Kritik sein kann, und die ebenso praktische wie theoretische Frage des Hoffens auf Glückseligkeit. (Vgl. Kant 1911, 522 f.) Nicht etwa in den Vorlesungen, die uns als Kants Anthropologie hinterlassen sind, sondern in der späteren Einleitung zur Logik von 1800 werden die drei Fragen wieder aufgegriffen und in einer vierten zusammengeführt: »Was ist der Mensch?« »Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.« (Kant 1923, 25) Die anthropologische Fragerichtung wird hier als Horizont der Erkenntnis und als Kulminationspunkt der Philosophie ausgewiesen. »Denn Philosophie […] ist ja die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordiniert sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen.« (Ebd., 24)

Es ist also nicht Kants Anthropologie, sondern die Logik von 1800, in der die Philosophie als Wissenschaft der Beziehungen der Erkenntnis und der Vernunft auf den Menschen und »den Endzweck der menschlichen Vernunft« (Ebd.) bestimmt wird. Interessanter aber als die Tatsache, dass Kant die Frage nach dem Menschen nicht mit den anderen Fragen in der Kritik, sondern in der Logik formuliert, ist die, dass die Anthropologie sich ab den frühen 1770er-Jahren und damit parallel zur Genese seines kritischen Hauptwerks entwickelt. Das anthropologische Denken Kants steht also nicht nur im Zusammenhang von Metaphysik- und Naturwissenschaftskritik, sondern es bildet sich im 95 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Zuge der Entwicklung umfassender Vernunftkritik aus. Die reine Verstandeswelt bedarf ebenso wie die reine Sinneswelt der lebensweltlichen Ergänzung durch eine pragmatische Anthropologie. Seine vier Fragen gründet Kant auf der weltbürgerlichen Bedeutung der Philosophie, die er von ihrem reinen Schulbegriff, der nur auf »Geschicklichkeit« und »Vernunftkunst« zielt, absetzt. Der eigentliche Philosoph ist hier der praktische Philosoph, der über einen auf die Nützlichkeit und die Zwecke der menschlichen Vernunft gerichteten Weltbegriff verfügt. »Nach dem Weltbegriffe ist sie [die Philosophie] die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft.« (Ebd., 23 f.) Kant schaltet die metaphysischen und naturwissenschaftlichen Rahmungen der Frage nach dem Menschen aus, indem er die Anthropologie als pragmatische Lebensweltphilosophie und als empirische Wissenschaft vom frei und selbstbewusst in seiner Lebenswelt handelnden Menschen versteht. »Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll.« (Kant 1917, 119) Anthropologie ist hier Weltkenntnis, und pragmatisch ist sie nur, sofern sie sich auf die Erkenntnis des Menschen als eines Weltbürgers richtet, nicht aber sofern sie lediglich die Erkenntnis der Dinge in der Welt anstrebt. So ist z. B. die Kenntnis der Menschenrassen als Spielarten der Natur lediglich theoretische, nicht aber pragmatische Weltkenntnis, weil sie nicht auf die Zwecke der menschlichen Vernunft zielt. »Welt kennen« und »Welt haben« unterscheiden sich darin, dass »der eine nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der andere aber mitgespielt hat«. (Ebd., 120) Die menschliche Lebenswelt, eben nicht nur Verstandes- und nicht lediglich Sinneswelt, ist zu erschließen durch den Einsatz von »Hilfsmitteln« der Anthropologie, durch die Beförderung der Erkenntnis aus Literatur, Weltgeschichte, Biografien, Schauspiel und Romanen, durch Reisebeschreibungen und durch das Reisen selbst. 8 Die auf diesen Wegen und über diese »Hilfsmittel« vernehmbaren Dimensionen Zur Erwerbung der für die pragmatische Anthropologie unabdingbaren Menschenkenntnis eignet sich aber auch eine »große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landeskollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse […] mit angrenzenden, entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt«. Als einen solchen »schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis, […] wo

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Anthropologie und Kritik

einer mannigfaltigen empirischen Welt der vernünftigen Weltbürger will Kant durch die Anthropologie theoretisch und mit dem Anspruch der Popularisierung erreichen.

2.

Anthropologie und Kritik

Foucaults Auseinandersetzung mit Kant ist umfassend und beschränkt sich keineswegs auf den Impuls, den die Sache mit der vierten Frage für seine Analyse des »anthropologischen Schlafs« (oder Schlummers: sommeil) in Les mots et les choses darstellt. Foucault hat sich die seltsam unvermittelte Stellung der Anthropologie Kants im Rahmen von dessen Gesamtwerk zum Thema gemacht. Als Ergänzungsschrift (thèse complémentaire) zu seiner Doktorarbeit legte Foucault 1963 eine mit Anmerkungen und einer umfangreichen Einleitung versehene Übersetzung von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht vor, die als Zusatzthese nicht zwingend publiziert werden musste, aber gleichwohl 1963 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Diese Einleitung blieb in den Archiven der Sorbonne und der Nationalbibliothek zurück und wurde erst kürzlich ins Deutsche übertragen. 9 In dieser Auseinandersetzung mit Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht stellt Foucault bereits fest, dass die Frage, von der diese getragen wird, in dieselbe Richtung geht wie die der Kritik: Auch die Anthropologie, so Foucault, erhebe den Anspruch, »die Möglichkeiten und die Grenzen der Erkenntnis zu kennen; sie ahmt von außen und in den Gesten der Empirizität die Bewegung einer Kritik nach; und was es in ihr an Gegebenem gibt, scheint wie ein Apriori zu funktionieren.« (Foucault 2010, 111) Das Verhältnis von Anthropologie und Kritik in Augenschein zu nehmen, erscheint Foucault zunächst wenig sinnvoll: »Als Sammlung diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann«, stellt Kant hier (selbstverständlich) Königsberg vor. (Ebd., 120). 9 Vgl. Foucault (2010). Hans-Dieter Gondek unterzieht diese Ausgabe von Foucaults Einleitung in Kants Anthropologie einer massiven Kritik und bemängelt nicht nur den ungenauen Umgang mit Nachweisen und deutschsprachigen Zitaten in Foucaults Text, sondern erachtet vor allem die Übersetzung als unzulänglich. Vgl. Gondek (2011). Eine weitere ausführliche Auseinandersetzung mit Kant und Foucault, die nicht nur Foucaults Beschäftigung mit der Anthropologie untersucht, sondern der Verbindung zu Kant auch in anderen Arbeiten nachgeht, soll hier nicht unerwähnt bleiben: Hemminger (2004).

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empirischer Beobachtungen hat die Anthropologie keinen ›Kontakt‹ mit einer Reflexion der Bedingungen der Erfahrung.« (Ebd.) Das bedeutet aber nicht, dass zwischen beiden keine Verbindung bestünde: »Eine gewisse Analogie über Kreuz lässt in der Anthropologie flüchtig etwas wie das Negativ der Kritik erkennen.« (Ebd., 59) Foucault sieht also durchaus eine Verbindung zwischen Kants Kritik und dessen Anthropologie, zumindest fragt er nach einem bestimmten Bild des Menschen bei Kant, welches sich in der möglichen gegenseitigen Bedingung von Kritik und Anthropologie herausgebildet haben könnte. Wäre eine genauere Untersuchung des letzten von Kant autorisierten Textes möglich (abgesehen von wenigen Vorlesungsnotizen liegt Kants Anthropologie lediglich in ihrer endgültigen Druckversion vor), dann würde ihre Archäologie möglicherweise Schichten der Entwicklung parallel zur Kritik zeigen und einen »homo criticus« zum Vorschein bringen, so wie die Kritik als »Propädeutik« »zur Geburt und zum Werden der konkreten Formen der menschlichen Existenz« beitragen würde. (Ebd., 16) Dass die vierte Frage letztlich keinen eigenen Inhalt hat, zeigt sich auch an Kants Forderung: »Der Philosoph muss also bestimmen können 1) die Quellen menschlichen Wissens 2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens und endlich 3) die Grenzen der Vernunft.« (Kant 1923, 25) Die drei Fragen sind also die nach Quellen, Umfang und Gebrauch sowie nach Grenzen von Vernunft und Wissen, während die vierte Frage auf keinen bestimmten Gegenstand zielt. Die Anthropologie erscheint also nicht als wirkliches Integrationselement der anderen Fragen. Nach Foucault ist sie darum auch nicht mehr als eine »Episode zwischen einer Anthropologie, die auf eine […] Universalität des Sinns überhaupt keinen Anspruch erhebt, und einer Transzendentalphilosophie, die die Frage nach dem Menschen auf ein viel grundlegenderes Niveau verlagert« (Foucault 2010, 80). Gerade wenn anthropologisches Denken sich als Horizont dessen versteht, was der Mensch von sich wissen kann, besteht das Problem einer jeden Anthropologie in ihrer empirischen Anlage, d. h. in einer Empirizität, die sich nicht einfach auf sich selbst gründen kann. Anthropologie muss die Kritik als Frage nach den apriorischen und endlichen Bedingungen der Erkenntnis selbst wiederholen. Sie kann nicht einfach in aller Unmittelbarkeit vom Empirischen sprechen und sich auf die Möglichkeit positiver Erkenntnis berufen. Es gibt keinen natürlichen »Zugang zum Fundamentalen«, und man muss »alle die98 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Anthropologie und Kritik

se ›philosophischen Anthropologien‹ verwerfen, die sich als natürlicher Zugang zum Fundamentalen geben«. (Ebd., 114) Foucault verdeutlicht hier die Unzulänglichkeit rein positivistischer, empirischer Forschung und Erkenntnis und zeigt damit die Notwendigkeit von Theorie als Reflexion ihrer Bedingungen auf: »Oder kann man eine Anthropologie entwerfen, die nicht im Empirischen ihren Inhalt und ihre Gesetze fände, sondern die sich in einer Reflexion über den Menschen, der allein die Anschauung Reichtum und Leben gäbe, auf die Wesenheiten (essences) richten würde?« (Ebd., 102)

Hier hätte das Empirische nur beispielhafte Geltung und würde nicht die Formen der Erkenntnis bestimmen. Die »Lektion« jedenfalls, die Kant uns erteilt habe, bestehe vor allem darin, zu verstehen, dass die kritische Reflexion der Bedingungen der Erkenntnis sich auch in den empirischen Wissenschaften vom Menschen als eine sekundäre Ebene wiederholen muss, und dass das Denken des Menschen sich nicht auf der eigenen Ebene reflektieren kann. Kants Zuspitzung der drei Fragen auf die eine nach dem Menschen bedeutet für die transzendentale Reflexion also nicht, das Feld einer philosophischen Anthropologie zu überlassen, sondern, den Menschen sowohl als empirischen Gegenstand und auch als transzendentale Bedingung von Erkenntnis zu verstehen und diese Doppelung kritisch auszuloten.

3.

Empirisch-transzendentale Verdoppelung

Was hat es nun zu bedeuten, dass Kant die drei Fragen der Kritik allesamt auf die vierte bezieht? Lassen sich die Probleme der Philosophie in der Frage nach dem Menschen erschöpfend behandeln, entfaltet sich die Philosophie gar als Frage nach dem Menschen, und war dieser auch bereits eigentlich der Gegenstand der ersten Fragen? Oder werden die drei Fragen erneut um den Menschen herum gestellt, der sich in ihnen zu befragen meint, ohne zu merken, dass er selbst sie stellt und sie doch erst von hier aus hinterfragen müsste? Letztlich erscheint die Zuspitzung der erkenntnistheoretischen, der moralphilosophischen und der theologischen Fragen auf den Menschen und die menschliche Vernunft als ein Weg, diesen nicht nur den transzendentaltheoretischen Bedingungen seiner Erkenntnis nach, sondern auch als empirischen Gegenstand der Erkenntnis zu kennzeichnen. Durch die in der Anthropologie vorgenommene Verlegung der 99 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Begriffe in einen Bereich ursprünglicher Weltverwurzelung bezeugt Kant vor allem auch die Verkörperung des Denkens und des Gedachten durch den Menschen selbst. Seine Verlagerung des Denkens in die Immanenz der körperlichen und weltlichen Existenz des Menschen hat für die philosophische Anthropologie zwei Dimensionen: Sie befreit das Denken des Menschen von vorausgehenden transzendentalen Universalien auf der einen Seite und zeigt auf der anderen Seite seine empirische Naturhaftigkeit auf. Die Erkenntnisrichtung der Frage nach dem Menschen zielt nicht nur auf diesen als Objekt, sondern gleichzeitig als Subjekt der Erkenntnis. In der transzendentalphilosophischen Selbstbefragung wird der Mensch zugleich das Objekt einer Frage, deren Subjekt er ist. Mit der Integration der drei kritischen Fragen in die vierte, das hat Michel Foucault bereits 1966 in Les mots et les choses festgehalten, macht Kant den Menschen zum verdoppelten Dreh- und Angelpunkt seiner Selbsterkenntnis; er ist empirischer Gegenstand der Erkenntnis und zugleich ihre transzendentale Bedingung (vgl. Foucault 1971, 410 ff.). Anthropologie, so die Argumentation Foucaults an dieser Stelle, spielt eine konstitutive Rolle im modernen Denken und findet ihren Einsatzpunkt dort, wo die Grenzen souveräner Repräsentation erreicht sind, wo das souveräne »Spiel ihrer Synthesen und Analysen« und das souveräne Spiel eines »Ich denke« enden. (Ebd., 410 f.) Der Einsatzpunkt der Anthropologie liegt damit dort, »wo genau jene Souveränität ihre Grenze findet, das heißt: in der Endlichkeit des Menschen, die ebensowohl die des Bewusstseins wie die des lebenden, sprechenden und arbeitenden Individuums ist«. (Ebd., 410) Kants vierte Frage, so Foucault, durchzieht das Denken seit Beginn des 19. Jahrhunderts und »nimmt unter der Hand und im Voraus die Vermengung des Empirischen und Transzendentalen vor, deren Teilung Kant indessen gezeigt hatte«. (Ebd.) Es dreht sich um eine »empirisch-kritische Reduplizierung« (Ebd., 411), die den Menschen in sich gegenseitig konstituierende Ebenen aufspaltet, d. h., die empirische Analyse des Menschen bedingt, was die transzendentale Analyse seiner Erfahrung überhaupt als gegeben erscheinen lässt: »Die anthropologische Konfiguration der modernen Philosophie besteht in der Spaltung des Dogmatismus, darin, ihn in zwei verschiedene Ebenen aufzuspalten, die sich gegenseitig stützen und gegenseitig begrenzen: Die präkritische Analyse dessen, was der Mensch in seiner Essenz ist, wird zur Analytik all dessen, was sich im allgemeinen der Erfahrung des Menschen geben kann.« (Ebd.)

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4.

Endlichkeit und Unendlichkeit

Der äußere Bezugspunkt dieser kritischen Reflexion der Bedingungen von Erkenntnis ist nicht irgendein Unendliches (wie Gott oder die Natur), sondern die Gesamtorganisation ihrer apriorischen Bedingungen. Der Zusammenhang von Kants Kritik und seiner Anthropologie besteht damit für Foucault in der Erforschung von Grenzen, Grenzen der menschlichen Existenz, Grenzen des Denkens, und der unerbittlichen Verdeutlichung des Umstands der Endlichkeit. Die Anthropologie Kants »zeigt mit dem Finger auf die Abwesenheit Gottes und entfaltet sich in der Leere, die von diesem Unendlichen gelassen wird«. (Foucault 2010, 113) Für Foucault hat Kants langjährige, die Genese seines Hauptwerks flankierende Beschäftigung mit Anthropologie eine zentrale, systematische Funktion: Dabei geht es nicht nur darum, die »Anstrengung einer transzendentalen Reflexion durch eine konstante Akkumulation empirischer Kenntnisse über den Menschen zu verdoppeln«. (Ebd.) Es geht vor allem darum, die Endlichkeit des Menschen ohne die Unendlichkeit Gottes, und den Menschen selbst ohne jede Begründung des Absoluten zu denken. »Wie die Endlichkeit denken, analysieren, rechtfertigen und in einer Reflexion fundieren, die keine Ontologie des Unendlichen durchmachen muß und sich durch keine Philosophie des Absoluten entschuldigt?« (Ebd.) Die Frage der Endlichkeit kann aber im empirischen Denken nicht bewältigt werden, sie braucht die transzendentale Reflexion ihrer Bedingungen, und diese Bedingungen stellen sich der Anthropologie weitgehend als negativ dar. Denn von seiner Natur her und mit Blick auf seine Physis erweist sich der Mensch nicht nur für Kant als ein veritables Mängelwesen: Seine Grenzen und seine Sterblichkeit, seine schwachen und unspezialisierten Sinne, seine Ohnmacht, die Unzulänglichkeiten seines Erkenntnisvermögens, seine Gemütsschwächen und die Krankheiten der Seele, Leidenschaften, Begierden und Affekte; »kurz, die Negativität auf der Ebene der Natur« stellt das unausweichliche Apriori des Menschen dar. 10 In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Foucault zu der Einschätzung kommt, dass Ebd., 112. So bemüht Kant für seine Darstellungen des Gemüts, des Erkenntnisvermögens, der Lust und der Unlust, des Begehrungsvermögens und des Charakters ebenfalls häufig Fehlurteile, Irrtümer und Abweichungen als Beispiele und begründet die Normalität von der Abweichung her.

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Kants Anthropologie und Kritik implizit von der gleichen Fragestellung beherrscht sind. Mit dem Aufkommen anthropologischen Wissens gelangen die Endlichkeit und Begrenztheit des Menschen als eine epistemologische Struktur und als apriorischer Erkenntnisrahmen in den Blick. Aus diesem Grund spricht Foucault in Les mots et les choses immer wieder davon, dass der Mensch gerade zu dem Zeitpunkt die Bühne der Wissenschaften betritt, zu dem die Metaphysik an ihr Ende kommt, zu dem das Denken der Endlichkeit nicht mehr von der Unendlichkeit, sondern vom Menschen ausgehend erfolgt. »Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht. […] Es ist eine völlig junge Kreatur, die die Demiurgie des Wissens eigenhändig vor nicht einmal zweihundert Jahren geschaffen hat.« (Foucault 1971, 373) Die Moderne kann den Menschen denken, weil sie ihn nicht mehr in der Unendlichkeit denkt, sondern das Endliche (als seine Physis) als von ihm selbst ausgehend versteht. Als endliches Wesen geht er nicht mehr in der Erkenntnis einer unendlichen Natur oder eines unendlichen Gottes auf, sondern wird selbst mitsamt seinen Existenzbedingungen zum Mittelpunkt der Erkenntnis, der Welt und der Geschichte. Natur und menschliche Natur werden in eine komplementäre Verbindung gesetzt, in der sie sich bedingen und in der sich der Mensch selbst reflektiert. Im klassischen Denken »steht der Mensch nicht in der Natur durch Vermittlung jener regionalen, begrenzten und spezifischen ›Natur‹, die ihm durch Geburtsrecht wie allen anderen Wesen gegeben ist«. (Ebd., 375) Im klassischen Denken ist er ein Teil dieser Natur selbst, ein Teil der unendlichen Substanz, die ihn umgibt. Und wenn hier zwischen menschlicher Natur und Natur eine Differenz eingezogen wurde, dann weil die menschliche Natur mechanisch-funktional-rational zu unterwerfen war. In der großen »Disposition der klassischen episteme sind die Natur, die menschliche Natur und ihre Beziehungen, funktionale, definierte und vorgesehene Momente. Der Mensch als dichte und ursprüngliche Realität, als schwieriges Objekt und souveränes Subjekt jeder möglichen Erkenntnis findet darin keinen Platz.« (Ebd.) Mit dem Fall der gottgegebenen Ordnung der Welt taucht der Mensch sowohl als Subjekt als auch als Objekt des Wissens auf und beginnt sich selbst zu thematisieren. Die Selbstthematisierung des Menschen, wie wir sie in den Wissenschaften vom Menschen zur Erkenntnis unserer eigenen Existenz betreiben, ist auf eine Veränderung in den Wissensdispositionen zurückzuführen. Der Mensch »ist eine Erfindung, deren jun102 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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ges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt« (Ebd., 463). »Der Humanismus der Renaissance, der Rationalismus der klassischen Epoche haben dem Menschen in der Ordnung der Welt wohl einen privilegierten Platz geben können, sie haben jedoch den Menschen nicht denken können.« (Ebd., 384) Am Ende der Metaphysik steht er mit seinem Bewusstsein der Endlichkeit, und in einem unabschließbaren Bezug auf sich selbst, vor sich selbst. Denn »das Ende der Metaphysik ist nur die negative Seite eines viel komplexeren Ereignisses, das sich im abendländischen Denken vollzogen hat. Dieses Ereignis ist das Auftauchen des Menschen.« (Ebd., 383) Wie Foucaults Analyse zeigt, ist der moderne Mensch eben Subjekt und Objekt seines Wissens geworden. In und durch sich selbst nimmt er Kenntnis von sich selbst, er selbst ist die transzendentale Bedingung der Erkenntnis seiner empirischen Existenz und sein eigenes Apriori. Dieses ist der Sinn der Endlichkeitsanalytik: Nicht ein unendlicher Gott oder eine unendliche Natur geben das Ziel und den Sinn der Erkenntnis vor, sondern der endliche Mensch selbst in seiner eigenen Wiederholung. Von dieser Analyse der Endlichkeit ausgehend kommt Foucault zu seiner bekannten Diagnose: »Der Mensch ist in der Analytik der Endlichkeit eine seltsame, empirisch-transzendentale Dublette, weil er ein solches Wesen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht.« 11 Die Ermöglichung von Erkenntnis geschieht also durch den Menschen selbst, und in diesem Sinne erscheint er als seine eigene Bedingung der Möglichkeit. In diesem an die Entwicklung anthropologischen Wissens geknüpften Vorgang ist das Problem der Reduplizierung und der Wiederholung angelegt, die es zu überschreiten gilt. Das bedeutet, das Transzendentale nicht aus dem Empirischen und das Empirische nicht aus dem Transzendentalen abzuleiten, das eine nicht für das andere gelten zu lassen, sondern die Seiten gerade in ihrer gegenseitigen Überschreitung zu sehen. Anders formuliert: Mein Denken überschreitet meinen Körper, und mein Körper, d. h. die empirischen Bedingungen meiner Erfahrung, stellen nicht einfach die Bedingungen Ebd., 384. Das Problem der empirisch-transzendentalen Reduplizierung ist ebenfalls zur Grundlage des transzendentalen Empirismus bei Gilles Deleuze geworden. Die Rekonstruktion der Verbindung von Kant, Foucault und Deleuze in genau dieser Hinsicht steht noch aus, wobei sehr vieles äußerst aufschlussreich in der umfangreichen Arbeit von Marc Rölli dargestellt wurde. Vgl. von Deleuze vor allem: Deleuze (1997); sowie Rölli (2003).

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meines Denkens dar. Der Überschreitung der Ordnung des Körpers im Denken steht eine Überschreitung der Ordnung des Denkens durch den Körper gegenüber. Das Paradox der empirisch-transzendentalen Reduplizierung gilt es aufrechtzuerhalten, um zu verstehen, was der Mensch als transzendentales und als empirisches Wesen ist und wie seine Fähigkeit zustande kommt, das Leben, das er ist, in der Erfahrung, die er davon macht, ständig zu überschreiten. Ort von Kritik sind also gerade die Ränder dieser Reduplizierung, an denen Abweichungen und Überschreitungen, die im vorausgesetzten Deckungsverhältnis von Empirischem und Transzendentalem marginalisiert werden, ins Blickfeld kommen.

5.

Grenzen der philosophischen Anthropologie

In dieser Problematik der Ableitung und Abgleichung dessen, was die Anthropologie zu bestimmen sucht, liegen die Probleme des »Anthropologismus« und der »Anthropologisierung«, die Foucault als Gefahr für die Wissenschaften ansieht. 12 Anthropologie erscheint von hier ausgehend notwendig als normativ und reduzierend, vielmehr noch: sogar als normalisierend, weil sie die divergente Existenz des Menschen letztlich am Modell eines gesunden, belebten, funktionsfähigen Körpers orientiert und damit an einem wesensanthropologischen Ideal ausrichtet. Gerade die Anthropologien des 18. Jahrhunderts, die sich implizit an den Vorgaben des Cartesianismus orientieren und den Körper nach Physik und Physis zu unterteilen beginnen, erzeugen die Anthropologie als eine Lehre der Physis und ihrer Grenzen. »In dem Maß, in dem sie Anthropologie ist, erlangt die Physiologie ihre spezifische Gestalt; die Anthropologie ist ihre Berechtigung, nicht schlicht und einfach Physik zu sein.« 13 Foucault 1971, 417. Sobald die Anthropologie zu einer zentralen Disziplin wird, läuft sie Gefahr, unterschiedliche Wissensgebiete über den Menschen zu absorbieren und auf einen wesensanthropologischen Nenner zu bringen. Klammert sie die berüchtigte vierte kantsche Frage aber aus und verzichtet ganz auf die Wesensbestimmung des Menschen, läuft sie Gefahr, deren Beantwortung ideologischen, weltanschaulichen oder (heute) auch industriellen und kapitalistischen Interessen zu überlassen. Dieses Dilemma erweist sich z. B. dann als besonders nachteilig, wenn die philosophische Anthropologie durch biotechnologische Entwicklungen zu Bestimmungen des menschlichen Lebens herausgefordert wird. 13 Foucault 2010, 107. Dabei ist es nicht nur die Abgrenzung von Physis und Physik, die die Anthropologie heraufbeschwört, sondern ebenso die in der Unterscheidung 12

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Die Überwindung der Endlichkeit, der Unzulänglichkeiten, der Abweichungen und Defizite wird zur normalisierenden Logik der Lebensführung und durch den Einzelnen verinnerlicht. Das Wissen der Anthropologie ist insofern als ein begrenzendes und finalisierendes Fundierungswissen zu verstehen, das sich um den Menschen, seine Natur, die Gesetze und Möglichkeiten seiner Existenz und Erkenntnis herum ausbildet. Es ist reduzierend, weil es das Denken durch die Vermittlung und im Durchgang durch die Physis versteht und dabei einen »Horizont der Natur« (Ebd., 108) voraussetzt. Es ist normalisierend, weil es den lebendigen, gesunden und auf eine bestimmte Funktionsweise ausgerichteten Körper voraussetzt. Die Anthropologie umreißt auf diese grundlegende Weise jede Erkenntnis des Menschen und wird damit zum Horizont all dessen, was der Mensch von sich wissen kann. 14 Sie wird Wissenschaft dessen, was Erkenntnis begrenzt, d. h. eine fundierende Erkenntnis der Erkenntnismöglichvon res cogitans und res extensa angelegte Notwendigkeit der Vermittlung zwischen Körper und Geist, zwischen Innen und Außen, in der die problematische Idee der Verbindung und damit der Ableitung geistiger Charakteristiken und Merkmale aus der körperlichen Erscheinung angelegt ist. 14 Deutlich wird das z. B. an der Konjunktur des Anthropologiebegriffs in den sogenannten Bindestrichanthropologien. Gesprochen wird von ärztlicher Anthropologie, von pädagogischer Anthropologie, von Bild-, Medien-, Kulturanthropologie usw. Die Bezugnahme auf vermeintliche anthropologische Grundlagen scheint hier zur Voraussetzung für jede Thematisierung menschlicher Wirklichkeit geworden zu sein. Als ob es darum ginge, Konstanten zu identifizieren und die jeweilige Disziplin in den erlauchten Dunstkreis der scheinbar ewigen Frage nach dem Menschen zu stellen. Der Begriff der Anthropologie scheint hier einer Erlösungsformel gleichzukommen, die die Wahrheit über den Menschen und die Bestimmung seines Wesens, wenn nicht parat, so doch zumindest in Vorbereitung hat. Dabei geht es in der hier hergeleiteten negativen Anthropologie gerade darum, den Begriff des Menschen offenzuhalten und seine Ungegenständlichkeit zu betonen. Diese durchzuhalten wäre eine Aufgabe, die sich insbesondere den humanwissenschaftlichen Einzeldisziplinen stellt, da in ihnen auch noch die große Gefahr vereinseitigender Bestimmungen und mereologischer Fehlschlüsse angelegt ist. Im Unterschied zu den Einzelwissenschaften nimmt philosophische Anthropologie für sich in Anspruch, den ganzen Menschen zu sehen und damit über einen (von Wilhelm Dilthey her für die Geisteswissenschaften) begründeten, privilegierten Zugang zum Menschen zu verfügen. Sie erzeugt einen Zuständigkeitsbereich, der sich auf die Einheit des Menschen als Geist und Körper, als Natur und Kultur richtet und das fragmentierte Bild der Einzelwissenschaften zu einem Ganzen integriert. Vielleicht ist also die breite Inanspruchnahme des Begriffs der Anthropologie in den Einzelwissenschaften dem Bedürfnis geschuldet, am vermeintlich Ganzen der philosophischen Frage nach dem Menschen teilzuhaben und so über eine Natur des Menschen wie über einen immerwährenden Kern sprechen zu können.

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keiten des Menschen. Jede anthropologisch fundierte Wissenschaft ist in diesem Sinne als eine reduzierte und reduzierende Wissenschaft zu verstehen. Foucault sagt es deutlicher: »Die Anthropologie nimmt, indem sie zugleich Fundament und reduzierende Regel ist, die Gangart einer normativen Erkenntnis an, die von vornherein jeder Wissenschaft, die den Menschen in Frage stellt, ihren Verlauf, ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen vorschreibt.« (Foucault 2010, 109) Anthropologie fundiert, begrenzt und finalisiert das Wissen vom Menschen, indem sie »das natürliche Wesen des Menschen, das Gesetz seiner Möglichkeiten und die apriorische Grenze seiner Erkenntnis« begründet. (Ebd., 111) Wenn Kant seine vierte Frage also zum Fluchtpunkt der anderen drei Fragen macht, so lässt er damit erkennen, dass die Anthropologie als Frage nach dem Menschen die Bedingungen der drei Fragen nach seiner Erkenntnis, seiner Moral und seiner Religion vorgibt. Dies bedeutet aber nicht, dass die vierte Frage auch nur annähernd die anderen drei in sich aufheben könnte, und es bedeutet auch nicht, dass die Frage, was der Mensch sei, überhaupt anthropologisch zu beantworten ist. 15 Foucault betont nicht nur, dass diese vierte Frage Kants das Denken des 19. Jahrhunderts bestimmt, sondern eben auch, dass sich in ihr die Reduplizierung des Empirischen und des Transzendentalen ereignet. Die »anthropologische Konfiguration der modernen Philosophie besteht in der Spaltung des Dogmatismus, darin, ihn in zwei verschiedene Ebenen aufzuspalten, die sich gegenseitig stützen und gegenseitig begrenzen«. (Foucault 1971, 411) Dieser begrenzende Zirkelschluss beschränkt das philosophische Denken des Menschen, vor allem in dem Moment, in dem es Anthropologie wird. Um dieses Denken aufzubrechen, um Bewegung und Überschreitung in die funVgl. hierzu die Kritik Martin Heideggers am Begründungsanspruch und an der Idee einer philosophischen Anthropologie allgemein sowie mit Blick auf Kant: »Kant beruft sich nicht nur deshalb nicht auf seine Anthropologie, weil diese empirisch und nicht rein ist, sondern weil im Vollzug der Grundlegung durch diese selbst die Art des Fragens nach dem Menschen fraglich wird. Nicht die Antwort gilt es zu suchen auf die Frage, was der Mensch sei, sondern es gilt, allererst zu fragen, wie denn […] überhaupt nach dem Menschen allein gefragt werden kann und muß.« Durch Kants Frage nach dem Menschen ist überhaupt erst eine Grundlegung der Metaphysik gegeben, die selbst als Frage nach der Einheit der Grundvermögen des Menschen erscheint. Die Anthropologie könne noch so viele Erkenntnisse über den Menschen hervorbringen, so Heidegger, trotzdem verdecke sie die Notwendigkeit, die Frage nach dem Menschen als transzendentale Frage überhaupt erst auszubilden. Vgl. Heidegger (1991, 204 ff.).

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dierend-normalisierend wirkende anthropologische Denkungsart zu bringen, muss die Anthropologie aufgegeben werden. 16 Eine solche »Entwurzelung der Anthropologie« vollzogen zu haben, wird Friedrich Nietzsche zugesprochen, der mit der »Verheißung des Übermenschen […] das Bevorstehen des Todes des Menschen bedeutet« und damit die Befreiung vom Menschen als Ausgangspunkt des Denkens gezeigt hat. (Foucault 1971, 412) Mit Blick auf Nietzsches Übermenschen hält auch Deleuze in seinem Buch zu Foucault fest: »Der Übermensch hat nie etwas anderes bedeuten sollen als: im Menschen selbst gilt es das Leben zu befreien, da der Mensch selbst eine Weise darstellt, es einzusperren.« (Deleuze 1987, 129) 17 Das Denken des Menschen muss also in seinen Grenzen ausgelotet werden, und darum kann es gerade nicht in Form und Zwecksetzung einer Anthropologie stattfinden. Anders gesagt geht es darum, einen Begriff vom Menschen zu entwickeln, der gerade die Unmöglichkeit eines solchen Begriffs anzeigt, sich also selbst durchstreicht. Die Analyse der empirisch-transzendentalen Wiederholungsbedingung kann eine derartige negative Anthropologie begründen, und vielleicht ist sie das Ergebnis der Auseinandersetzung mit Kants Anthropologie. Zwar bildet die Anthropologie im Ausgang von Kant eine grundlegende Position, doch scheint sie gleichzeitig auch das Ende des philosophischen Denkens des Menschen anzukündigen: »Wenn die Entdeckung der Wiederkehr [Foucault findet auch hier am Ende zu Nietzsche] das Ende der Philosophie ist, ist das Ende des Menschen dagegen die Wiederkehr des Anfangs der Philosophie. In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.« (Foucault 1971, 412)

Foucault spricht hier mehrfach von Entwurzelung (déracinement) und davon, das anthropologische »Viereck« zu zerstören (détruire). In diesem Sinne plädiert auch Marc Rölli in seiner umfangreichen Untersuchung und Kritik anthropologischer Vernunft für die »›Abschaffung‹ eines philosophisch verstandenen anthropologischen Denkens«. Vgl. Rölli (2011, 12). 17 Und eben Nietzsches Zarathustra: »I c h l e h r e e u c h d e n Ü b e r m e n s c h e n . Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?« Nietzsche (1980, 14). 16

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Kerstin Andermann

Sich, wie Kant es bereits getan hat, von vornherein auf eine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, d. h. auf die pragmatische Verstrickung des frei tätigen Menschen in Lebenswelten, zu konzentrieren, würde einen Weg weisen, Anthropologie nicht als fundierend oder reduzierend zu begreifen, sondern sie in einer kritischen Funktion gegenüber einseitigen und instrumentellen Verkürzungen stark zu machen.

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Gérard Raulet

Lebens- oder Geschichtsphilosophie? Zur französischen philosophischen Anthropologie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts

In der französischen Philosophie der 1980er und 1990er Jahre, d. h. nach dem Zusammenbruch des Glaubens an das Projekt der Geschichtsphilosophie, kann man nicht eigentlich eine Konversion, wohl aber eine Besinnung auf tiefsitzende Grundlagen feststellen. Ich möchte mich im Folgenden gegen die vereinfachenden Darstellungen wenden, die geneigt sind, darin nur einen Rückschlag des Pendels und sozusagen eine Revanche der philosophischen Anthropologie zu sehen. Vielmehr geht es um das Aufkommen eines Denkmoments, das tatsächlich in den Augenblicken geltend gemacht wurde, in welchen die Geschichtsphilosophie ins Stocken geriet. Damit wird auf eine nottuende theoretische Aufgabe hingewiesen: Diese Momente sind systematisch zu erforschen, um herauszufinden, worum es eigentlich geht – um die »Philosophische Anthropologie« als dogmatische Position, oder bloß um die Ankurbelung einer geschichtsphilosophischen Reflexion, die ja seit dem 18. Jahrhundert die philosophische Anthropologie nie verkannt hat. Aufgrund meiner Beschäftigung mit den einschlägigen Texten des 18. Jahrhunderts bin ich diesbezüglich zu einem ziemlich eindeutigen Schluss gekommen: Es ging nur um die Art und Weise ihrer Einbeziehung in die Begründung einer neuen Episteme. Diese neue Episteme – ich betone es mit Nachdruck – war auf jeden Fall die Geschichtsphilosophie. Selbst Herder hat es nicht anders gesehen.

1. In einem ersten Schritt soll an die Ansätze erinnert werden, die in der französischen Sozial- und politischen Philosophie der Gegenwart von früh an die Perspektive einer biopolitischen Geschichtsphilosophie erforscht haben. Gemeint ist ein Denkmoment der französischen Philosophie der Emanzipation, das zum Zuge kam in ihrer äußersten 110 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Lebens- oder Geschichtsphilosophie?

Notlage beim Übergang zur nicht mehr frisch-fröhlichen Modernisierung – in anderen Worten: zur Postmoderne, die ja mit dem Ende der Wachstumsideologie zusammenfiel (wiewohl wir das damals nicht so wahrgenommen haben). Dieses anthropologische Denkmoment ist kein Zufall, und man kann die Überlieferungsstränge ziemlich genau rekonstruieren. Es verhält sich nämlich beileibe nicht so, als wäre die philosophische Anthropologie der französischen politischen Philosophie der Gegenwart fremd gewesen. Es gilt vielmehr das Gegenteil. Auf einem theoretischen Territorium, das sich durch die Namen Merleau-Ponty, Bergson, Husserl und – für das zeitgenössische deutsche Denken sicher befremdlicher 1 – Spinoza abstecken lässt, entwickelte sich eine französische philosophische Anthropologie, deren Brisanz darin besteht, dass sie von Denkern vertreten wurde, die in den 1970er bis 1990er Jahren als Fackelträger einer nicht-orthodoxen, subversiven Weiterentwicklung der Psychoanalyse und einer radikalen Erneuerung des politischen Emanzipationsdenkens gegolten haben. Ich denke in erster Linie an Deleuze, dessen frühes Interesse an Bergson – neben seiner eingehenden Beschäftigung mit der Phänomenologie – in diesem Zusammenhang von exemplarischer Bedeutung ist. 2 Deleuze situiert die Erfahrung auf dem radikal empiristischen Niveau eines Erfahrungsstroms, in dem unaufhörlich individuierende Synthesen stattfinden. Wenn überhaupt, so können befreiende Momente dann auch nur innerhalb dieses Stroms und als derartige individuierende Synthesen zum Zuge kommen. Wie für Bergson und für Nietzsche ist das Denken für Deleuze ein Handeln und soll an diesem Maßstab des Handelns, nicht an seinen erstarrten Resultaten, gemessen werden. Zugleich ist dieses Handeln alles andere als instrumentell, denn so wie es bei Nietzsche nur Wertsetzungen gibt, geht Deleuze davon aus, dass im positiv Gegebenen nichts einen ontologisch oder moralisch übergeordneten Status genießt. In der immanenten Ordnung des Realen gibt es nur Differenzen. Hier tritt der Bezug auf Spinoza ein: Bei diesem, den Deleuze als radikalen Denker der Immanenz stilisiert, ist damit gemeint, dass alles Positive nur an

1 Martin Saars Buch Die Immanenz der Macht – Politische Theorie nach Spinoza (Saar 2013) hat diese Ausblendung nachgeholt. 2 Darauf bin ich in meinem Beitrag zum 7. Band der Reihe »Philosophische Anthropologie« eingegangen: Vgl. Raulet 2014.

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Gérard Raulet

seiner potestas agendi zu messen ist. Die philosophische Botschaft von Deleuze ist eine Ethik, freilich im spinozistischen Sinn – im Sinn des fünften Buchs von Spinozas Ethik, das dazu auffordert, in jedem Ding das Gute wahrzunehmen, und das heißt das, was durch den Affekt der Lust unseren conatus fördert und uns zum Handeln ermuntert. 3 Für dieses Ethos der Immanenz besteht das Kriterium des Guten nur noch im Aktivwerden – dem »devenir actif«, von dem Deleuze in seinem Nietzsche-Buch handelt (Deleuze 1962, 213). Da ich den »Fall Deleuze« schon an anderer Stelle behandelt habe, lasse ich mich hier nicht länger auf ihn ein. Es gilt vielmehr, ihn in den allgemeinen Kontext einzuschreiben. Das Anliegen ist durch und durch politisch – und anthropologisch zugleich. Es ist sogar ein Musterfall der problematischen Dimensionen, für welche die philosophische Anthropologie einzustehen hat. Ich betrachte Spekulationen wie die von Deleuze, im Gegensatz zu den biotechnischen Ansätzen, als kontrafaktische und im guten Sinn »utopische« Entwürfe, die eine philosophische Forderung noch hochhalten. Dazu dient nicht zuletzt der Ansatz bei Spinoza, der es ermöglicht, eine Linie durchzuziehen über Hegel bis hin zu Marx. Man kennt den Satz von Marx über Hegel und Spinoza in jenem so wichtigen Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital, in dem er nichts Geringeres als seine Methode umreißt: Das »mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt«, behandle Hegel, »wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat«. Marx erhebt sich dagegen. In seiner Äußerung steckt mehr als ein philosophisches Bonmot. Es geht zugleich um die dialektische Methode und um die politischen Aussichten einer radikal immanenten Geschichtsphilosophie. Dass der schwer verwundete »französische Marxismus« in den Jahren, in welchen sein politisch-intellektuelles Imperium wackelte, gerade diesen Rückgriff auf Spinoza sich einfallen ließ, 4 kann im Nachhinein

»Es ist aber zu bemerken, dass wir beim Ordnen unserer Gedanken immer auf das achten müssen […], was in jedem Ding gut ist, damit wir so stets durch den Affekt der Lust zum Handeln bestimmt werden.« (Spinoza 1977, V. Buch, Lehrsatz 10, Anmerkung, 645 f.) 4 »Nous avons été coupables d’une passion autrement forte et compromettante : nous avons été spinozistes […] nous avons fait le détour par Spinoza pour voir un peu plus clair dans la philosophie de Marx […] nous avons fait le détour par Spinoza pour voir un peu plus clair dans le détour de Marx par Hegel.« (Althusser 1974, 65 & 69). 3

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durchaus als eine genialische Entscheidung angesehen werden. 5 Zwar hat der Bezug auf Spinoza in der marxistischen Reflexion eine lange Tradition, und es ist auch nicht zu leugnen, dass es für die französischen Marxisten um ein Nachzugsgefecht ging, bei dem ihr Überleben selbst auf dem Spiel stand. Aber man würde die Wende, auf welche es mir hier ankommt, völlig verkennen, wenn man sie darauf reduzierte. Nur ein Aspekt wäre unter Umständen zu bedenken: die Interpretation von Spinozas Monismus als Vorwegnahme des Marx’schen Materialismus, denn es ist kaum zu leugnen, dass die Rückkehr zu Spinoza eine Besinnung auf einen radikalen materialistischen Ansatz bedeutet – wenn auch nicht so, wie Plekhanov sie in seinen Grundfragen des Marxismus verstanden hat, nämlich als das Programm einer monistischen Gleichschaltung der Natur- und der Geisteswissenschaften. Die Wende der 1970er und 1980er Jahre hat – im Kontext des fast restlosen Siegs des Strukturalismus – die Akzente völlig anders gesetzt und (willentlich oder nicht) den Übergang zur sog. »poststrukturalistischen« Philosophie vorbereitet. Es ging darum – wie Althusser 1974 in »Sur Spinoza« schrieb –, der marxistischen Theorie über den Zusammenbruch der drei Grundvoraussetzungen des Ursprungs, des Subjekts und des Ziels, oder Zwecks, hinauszuhelfen. »Indem sie am Subjekt die zentrale Kategorie der imaginären Täuschung radikal kritisierte, traf [die spinozistische Philosophie] die bürgerliche Philosophie, die sich seit dem 14. Jahrhundert auf der Grundlage der rechtlichen Subjektidee entfaltete, ins Herz.« 6 Althusser begründete damit die Möglichkeit eines »postmodernen« Marxismus, der auf längere Sicht auch ohne den Glauben an ein VolksSubjekt sich bewähren könnte – nichts anderes also als eine Rückzugsbasis für die Kritik, wenn diese sich nicht mehr mit einem Subjekt identifizieren kann. Eine Reihe von Akteuren haben sich an dieser Wende beteiligt, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann. Die Verabschiedung des Geschichtssubjekts hatte zwei Konsequenzen. Sie öffnete nicht nur den Vielheiten (multitudes) Tür Im Vergleich mit dem völlig phantasielosen Denken der deutschen Linken, das überdies jeden Rest an »Historischem Materialismus« über Bord warf. 6 »En critiquant radicalement dans le Sujet la catégorie centrale de l’illusion imaginaire, [la philosophie spinoziste] atteignait au cœur la philosophie bourgeoise, qui se construisait depuis le XIVe siècle sur le fond de l’idée juridique du Sujet.« (Althusser 1974, 73) 5

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und Tor, wie sie später von Hardt und Negri im Anschluss an Deleuze in den Mittelpunkt eines radikalen demokratischen Projekts gestellt wurden. (Hardt und Negri richteten ihren Angriff gegen das »transzendentale Dispositiv«, das dazu dient, mittels des Mechanismus der Vermittlung und Repräsentation den Ausdruck der Vielen im Zaume zu halten.) Sie pochte auf die Notwendigkeit, das demokratische Projekt anders zu begründen als im Rahmen des Bermuda-Dreiecks der Diktatur des Proletariats oder eines vagen und fluktuierenden liberalen Volksbegriffs. Sie unterhöhlte zugleich von vorn herein die konsensorientierten Theorien von Rawls, Habermas und ihren Nachfolgern. Das eigentliche Anliegen besteht darin, andere demokratische Prozesse zu erkunden als diejenigen, die sich im Bereich der Repräsentationen, genauer: der bewussten Repräsentationen abspielen – dem Terrain, über welches Habermas und seine Schüler sich seit der Verabschiedung der Psychoanalyse kaum hinauswagen. Will man nicht nur, einerseits, der Spontaneität der sozialen Bewegungen Rechnung tragen, sondern auch, andererseits, die Dimension der Herrschaft berücksichtigen, die unmittelbar den Leib und die Psyche betrifft (einiges spricht dafür, dass es sich da um eine und dieselbe Dimension handelt), dann muss zum Paradigma der Herrschaft der symmetrische Standpunkt der psychophysischen Macht der betroffenen Individuen hinzutreten. – Im Grunde eine Lehre der philosophischen Anthropologie von ihren ersten Schritten her.

2. Wenn ich mich im Folgenden wieder länger mit Deleuze beschäftige, dann weil seinem Denken alle Referenzen zugrunde liegen, auf welchen auf deutscher Seite die philosophische Anthropologie ebenfalls sich konstituiert hat – also weil einer der »französischsten« Vertreter der subversiven French theory mit der konservativen deutschen Theorie grundsätzlich so viel gemeinsam hat, dass man die Frage nach den politischen Implikationen zuspitzen kann: zunächst einmal Nietzsche, womit die Berücksichtigung jener Kräfte gemeint ist, die nach Différence et répétition (1968) »unter der Ebene der Repräsentation am Werk sind«; dann Bergson, von dem Deleuze in Cinéma 2. L’image-temps (1985) nicht nur die Ansätze zu einer Theorie der Zeit und der Handlung, sondern zugleich auch die Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus übernimmt, die, wie jeder versierte Interpret 114 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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der Philosophischen Anthropologie weiß, zum Hintergrund ihrer Theoriebildung gehört. Und natürlich nicht zuletzt die Phänomenologie. Über die Bewusstseinsphilosophie, der diese verhaftet bleibt, setzt sich Deleuze hinaus, indem er sich für den radikalen Empirismus eines ununterbrochenen Erfahrungsstroms ausspricht. Die Absage an jede Form von Intentionalität geht soweit – und wir werden weiterhin die Wirkungen dieser Option verfolgen –, dass er sich weigert, bei dem leiblichen Ansatz von Merleau-Ponty stehen zu bleiben. In Was ist Philosophie? greift er auf Sartres Begriff des »transzendentalen Feldes« zurück, der klarmacht, in welchem Sinn er von »transzendentalem Empirismus« spricht: »Sartres Annahme eines transzendentalen Felds verhilft der Immanenz wieder zu ihrem Recht. Erst wenn Immanenz nichts anderem als sich selbst immanent ist, darf man von einer Immanenzfläche reden. Eine solche Fläche mag einen radikalen Empirismus bedeuten. […] Sie präsentiert nur Ereignisse […]. Das Ereignis bezieht nicht das Erlebte auf ein transzendentales Subjekt, ein Ich, sondern bezieht sich im Gegenteil auf das immanente Überfliegen eines subjektlosen Felds.« 7

In Differenz und Wiederholung unternimmt Deleuze eine immanenzphilosophische Kritik der Phänomenologie, die er später in seinem Buch über Foucault von 1986 und in Was ist Philosophie? radikalisiert hat. Selbst die Annahme einer präreflexiven Synthese erscheint ihm als verkappte bewusstseinsphilosophische Voraussetzung, wenn sie als Begründungsinstanz für die Erkenntnisleistungen des Subjekts verstanden wird. Er situiert nämlich die Dimension der Erfahrung auf dem empirischen Niveau eines Lebensstroms, aus dem immer neue individuelle Synthesen hervorgehen. Ist Deleuzes Philosophie eine Ethik, dann, wie gesagt, im Sinn eines Ethos der aktiven Selbstbehauptung und der Lebenskraft, die diesen Strom vorantreibt. Der Begriff der Begierde, wie Deleuze und Guattari ihn verstehen, stammt dabei weniger von Freud als von Spinoza. Michael Hardt hat Deleuzes Auffassung der Ethik in folgendem Zitat aus dessen Buch »La supposition de Sartre d’un champ transcendantal redonne à l’immanence ses droits. C’est quand l’immanence n’est plus immanente à autre chose que soi qu’on peut parler d’un plan d’immanence. Un tel plan est peut-être un empirisme radical. […] Il ne présente que des événements […]. L’événement ne rapporte pas le vécu à un sujet transcendant = Moi, mais se rapporte au contraire au survol immanent d’un champ sans sujet.« (Deleuze/Guattari 1991, 49)

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Spinoza et le problème de l’expression (1968) kondensiert: »Wie werden wir es schaffen, aktive Affekte hervorzubringen? Und vor allem: Wie werden wir es schaffen, ein Höchstmaß an freudigen Leidenschaften zu empfinden?« 8 Ebenso wenig wie bei Nietzsche unterscheiden sich bei Spinoza Tugend und Macht, virtus und potentia. Das hat Deleuze in seinen »Unterhaltungen« (Pourparlers) von 1990 mit der Rede von einer »Spinoza-Nietzsche-Linie« (»unité SpinozaNietzsche«) gemeint. All dies ist freilich wohl bekannt und mag sogar heute als etwas verblasst erscheinen. Auch die gleichsam Sorel’sche Wendung, die Deleuze im Kontext von 1968 diesem Gedanken in seinem Text Was ist Philosophie? gegeben hat, indem er das unaufhörliche Werden – samt seinen Formen – allen vermeintlichen »Utopien« entgegensetzte, die dessen spontanen und anonymen Strom aufhalten wollen, dürfte heute keinen politischen Denker mehr aufscheuchen. Als eine Philosophie der Immanenz, für welche es in der Ordnung des Realen nur Differenzen gibt, wirft das Unternehmen von Kapitalismus und Schizophrenie die Frage auf, wie diese Ordnung von einer emanzipatorischen Bewegung durchbrochen werden kann. Natürlich liegt es nahe, an dieses Unternehmen mit dem Raster der deutschen Lebensphilosophie heranzugehen und das Leben bzw. die Begierde den Formen entgegenzusetzen. Das wäre ein Fehler. Wenn Lyotard in seinem Aufsatz »Capitalisme énergumène« (»Energieteufel Kapitalismus«) von 1972 eine aktivistische Interpretation des Anti-Ödipus entwirft, führt er Gegensätze wieder ein, als ob die Libidoenergie gegen die kapitalistische Ordnung gewendet werden könnte. Die Frontlinie verläuft bei Deleuze etwas anders und, wenn man will, etwas perverser. In einem Gespräch von 1988 mit Raymond Bellour und François Ewald »hofft« er (»espère bien«), dass alles, was er bislang geschrieben hat, »vitalistisch« ist. 9 Diese Provokation kann darin ihre Rechtfertigung finden, dass er so der Verteufelung des Vitalismus durch Jürgen Habermas oder Manfred Frank im Voraus »Comment arriverons-nous à produire des affections actives ? Mais d’abord : Comment arriverons-nous à éprouver un maximum de passions joyeuses ?« (zit. nach Hardt 2001, 383) 9 Deleuze hat auch in seiner Spinoza-Lektüre den Vitalismus hervorgehoben. So schreibt er in einem Zusammenhang, der sich auch auf Nietzsche bezieht: »Il y a bien une philosophie de la ›vie‹, chez Spinoza : elle consiste précisément à dénoncer tout ce qui nous sépare de la vie, toutes ces valeurs transcendantes tournées contre la vie, liées aux conditions et aux illusions de notre conscience.« (Deleuze 1981, 39) 8

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durch die Unterscheidung zwischen Vitalismus und Organizismus vorgebeugt hat. Der »Vitalismus« von Deleuze will aber der Energie des »organlosen Körpers« gerecht werden. Wie er es in seinem Francis Bacon von 1981 betont, ist nämlich der Organismus geradezu das Gegenteil des Lebens: Er sperrt es in einen Zusammenhang ein, er ist der Ausdruck eines »kodierten Lebens«, das einem Gesamtplan entspricht, der Niederschlag einer Akkumulation und Sedimentation von Fähigkeiten, Funktionen und Formen, also von Verbindungen im Rahmen eines hierarchisierten Zusammenhangs nützlichen Wirkens (Deleuze/Guattari 1980, 218). Die »Dekodierung« besteht gerade darin, den Körper für Verbindungen rezeptiv zu machen, die solcher Organisation entgehen, ihn von den disziplinierenden Kräften zu befreien, die ihn in eine harmonisch funktionierende Produktionsordnung hineinzwängen. Deleuze stimmt hiermit mit Foucaults Auffassung der Disziplin in Surveiller et punir überein: Ziel der Disziplin ist es, zu verhindern, dass Individuen, oder Gruppen, dem Wirkungszusammenhang entgehen, der für die Effizienz des »sozialen Körpers« wesentlich ist, bzw. dass sie aus ihm herausfallen. Deleuzes Ansatz ist also, wie derjenige von Foucault, ein biopolitischer. Daran ist, wie für Foucault, seine politische Bedeutung zu messen. Diese lässt sich vielleicht durch eine Koinzidenz zusammenfassen: durch den Umstand, dass die Entdeckung der Begierde durch die Psychoanalyse (in einer wie auch immer breiten und bestreitbaren Chronologie) mit der Entdeckung der abstrakten Arbeit in der politischen Ökonomie und derjenigen des Lebens als genetischem Programm in der Biologie zusammenfiel. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und inwiefern das Funktionieren der Wunschmaschinen, die sich dadurch kennzeichnen, dass sie »durch das Fehlen jeder Bindung gebunden sind« 10, subversiv ist. Im Gegensatz sowohl zur kausalen Erklärung als auch zum hermeneutischen Verstehen beruht diese Auffassung lediglich auf cut ups und Nahfeldkonnektionen. Der Erfassung solcher Phänomene versucht die Schizoanalyse gerecht zu werden. Sie unterscheidet sich von aller Psycho-logie, auch von der Psychoanalyse, der Deleuze vorwirft, die Begierde ausschließlich unter dem Aspekt einer imaginären Antwort auf einen Mangel aufzufassen. Wie Deleuze sie versteht, hat die Begierde mit dem Symbolischen überhaupt nichts zu tun: Sie hält sich in der Im10

»liées par une absence de lien« (Deleuze/Guattari 1972, S. 510).

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manenz auf und visiert keine »andere Realität« an. Gerade dies macht aus ihr eine selbstgenügsame Maschine, die, mit Spinoza zu reden, nur kraft ihrer Natur existiert und keine Interpretationsprobleme, sondern lediglich funktionelle Probleme aufwirft. 11 Lust findet die Begierde nicht an einem Objekt, dessen Besitz das Begehren eines Subjekts befriedigen würde oder dessen Fehlen phantastisch kompensiert werden müsste, sondern – nach einer Formel von Mille plateaux – an einer »immanenten Befriedigung«. Unter dieser Bedingung kann sie hoffen, in die Abhängigkeit der Machtdispositive nicht zu verfallen. In expliziter Anlehnung an Foucault erklärt Deleuze: »Wird die Macht zur Biomacht, dann ist der Widerstand die Macht des Lebens.« 12 Der Subjektivierungsvorgang besteht darin, die Macht des Lebens geltend zu machen und immer neue Perspektiven zu öffnen. Seine Widerstandsfähigkeit ergibt sich daraus, dass er sozusagen den Machtverhältnissen ständig zuvorkommt, dass er schneller als die institutionalisierten Machtdispositive ist. Im Zusammenhang dieser Überlegungen kommt eine Verwandtschaft mit Gabriel Tarde zum Ausdruck, für den die sozialen Prozesse aus einer Vielzahl von kleineren Innovationen resultieren, so dass erst die Kenntnis dieser kleinen Innovationen aus der Soziologie eine eigentliche experimentelle Wissenschaft machen kann. Dieser Bezug auf Tarde ist, parallel zur nachdrücklichen Berufung auf Bergson, für das Verständnis der französischen Linie der philosophischen Anthropologie entscheidend, wiewohl Tarde sich eher auf Leibniz’ Monaden als auf Spinoza beruft. Die »Macht des Lebens« behauptet sich durch die Vervielfältigung kleiner Brüche und ungeplanter, d. h. nicht kodierter Verbindungen. Sie wetteifert mit dem Kapitalismus, der ja selber eine durchgreifende Dekodierung bewirkt. Schizophren, oder schizogen – wie Bateson sagt – ist der Kapitalismus nicht eigentlich deshalb, weil er »verrückt macht« – obwohl dies natürlich nicht ganz falsch ist –, sondern weil er von einer Logik getrieben wird, die darauf zielt, alle Beschränkungen zu sprengen, und weil er zugleich gezwungen ist, sich eine (mindestens vorübergehende) Disziplin aufzuerlegen, um an sei-

»Das Unbewusste stellt kein Problem der Bedeutung, sondern einzig Probleme des Gebrauchs. Nicht ›Was bedeutet das?‹ ist die Frage des Wunsches, sondern wie es läuft [comment ça marche].« (Deleuze/Guattari 1974, 141) 12 »Quand le pouvoir devient bio-pouvoir, la résistance devient pouvoir de la vie.« (Deleuze 1986, 98) 11

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ner eigenen Dynamik nicht unterzugehen. Man hat neuerdings diese schizophrene Beschaffenheit wieder feststellen können, als die neoliberalen Regierungen mit theatralischer Pathetik die Notwendigkeit einer »Moralisierung« der finanziellen Märkte heraufbeschworen haben. Als geradezu prophetisch erweist sich im Rückblick die Aufforderung von Deleuze und Guattari, den Kapitalismus unter dem Aspekt der Finanz und nicht mehr unter jenem der Produktion aufzufassen. Wobei natürlich der Kategorie der Arbeit und somit auch der Arbeiterklasse den Rücken gekehrt wird. 13 Dass dieser Ansatz, wenn er überhaupt noch emanzipatorisch sein kann, mit dem Marxismus nichts mehr gemeinsam hat, hat Lyotard in seinem Aufsatz »Capitalisme énergumène« (zuerst 1972 in der Zeitschrift Critique erschienen) früh hervorgekehrt. Die marxistische Lektion, wie Lyotard sie zusammenfasst, sagt, dass »es eine Grenze, eine Linie gibt, jenseits welcher die Organisation der Ströme, die ›Kapital‹ heißt, sich auflöst und die Verhältnisse zwischen Geld und Ware, Kapitalien und Arbeitskraft etc. zerbrechen. Das Wachstum der Produktionskapazitäten im entwickelten Kapitalismus stößt gerade auf diese Grenze, es bringt die Organisation der Produktion und der Zirkulation ins Wanken und lässt unvermeidlicher Weise noch mehr Energieströme passieren, deren ›Regulierung‹ durch das kapitalistische System, womit die Produktionsverhältnisse gemeint sind, immer mehr zerfällt.« (Lyotard 1973, 13 f.)

Zu Unrecht glaubt der Marxismus, schreibt Lyotard weiter, dass man den Kapitalismus bei seinem schwächsten Glied angreifen kann und soll. Das führt zur Aporie zurück, von der wir ausgegangen sind und die Paul Patton folgendermaßen resümiert: »It is as if there were two poles between which the body without organs oscillates. On the one hand, this body is oriented towards surfaces of stratification which block the circulation of intensities – either the stratum of organs which imposes a coded, hierarchical form of organization upon the body, or the stratum of subjectification, those forms of conscious and unconscious relation to the self which make us subjects of certain kinds. On the other hand the body without organs is oriented towards a plane of consistency which liberates the active force of desire and allows the circulation and conjugation of particles, the production of intensities. […] Whichever form […] we choose, the two-fold task of schizoanalysis remains the same: to differentiate between the different kinds of body without organs and 13

Wie Lyotard zu Recht schreibt (Lyotard 1973, 21).

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thus to provide conceptual means for distinguishing kinds of desiring processes; and on a practical level, to encourage the creative, intensive process while avoiding the dangers of failing into a too abrupt and therefore selfdestructive process of destratification.« 14

Das potentiell Subversive der Begierde bestünde dann darin, dass man die »Dekodierung«, die den traditionellen Sozialisations- und Produktionsformen ein Ende setzt, bis zu dem Punkt akzeptiert, wo sie mit der Biomacht, die sie in ihrem Sinn, und das heißt im Sinn der etablierten Machtverhältnisse, organisieren will, in Konkurrenz gerät. Jenseits dieses Punkts komme es darauf an, »Fluchtlinien« gegen die kodierten »Integrationslinien« geltend zu machen. Ein recht gefährliches Spiel. Denn die Deterritorialisierung geht, sowohl für den Kapitalismus als auch für die Bewegungen, die sich seiner Logik entziehen wollen, mit mehr oder weniger regressiven Reterritorialisierungen einher – mit »Neoarchaismen«, die – in Lyotards Formulierung – »notwendig sind, um das System aufrechtzuerhalten«. 15 Deleuze und Guattari sagen selbst im Anti-Ödipus, dass es »letztlich […] unmöglich [ist], Deterritorialisierung und Reterritorialisierung zu unterscheiden«, dass sie »sich wechselseitig enthalten oder die beiden Seiten ein und desselben Prozesses ausmachen« (Deleuze/Gattari 1972, 307). Weil es mir im Rahmen dieses Aufsatzes vor allem darum geht, eine politische Bilanz zu ziehen, verzichte ich bewusst auf die ontogenetischen Implikationen, die selbstverständlich davon untrennbar sind. Paul Patton kennzeichnet sie als »cautious experimental selfdestruction« und er beschreibt sie so: »So long as we have not found our body without organs, schizoanalysis suggests, we have not sufficiently dismantled ourselves.« (Patton 2001, 1151) Er weist auch auf ihre Gefahren hin: »It is the line of absolute deterritorialisation. A social movement may follow a line of this kind; a religious movement, crusade or minority rebellion. At the individual level, this line corresponds to what Fitzgerald calls a ›clean break‹, a rupture beyond which the past ceases to exist. In his own case, this is not simply a matter of becoming a different person, but of ceasing to be a

Paul Patton, »Deleuze and Guattari. Ethics and post-modernity«, in: G. Genosko, a. a. O., 1151. 15 »reterritorialisations nécessaires pour maintenir en place le système« (zit. in Lyotard 1973, 28). 14

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person at all. […] One never knows in advance how a line of flight will turn out.« (Ebd. 1153)

Nach Lyotard entwerfen Deleuze und Guattari eine politische Lehre, die auf der Höhe des Kapitalismus ist, weil sie seiner Flucht nach vorne entspricht. Letztere hat seit Marx die kritische politische Philosophie immer fasziniert: Ein Zeugnis solcher Faszination ist etwa Marcuses Kategorie der repressiven Desublimierung. Deleuze und Guattari befreien uns – und den Marxismus – vom schlechten Gewissen, das die Kehrseite dieser Faszination ist (Lyotard 1973, 25 f.). Diese Einwilligung in die Dynamik des Kapitalismus unter dem Vorwand, sie von innen – »immanent« – zu subvertieren, gleicht in vielem der »positiven Barbarei« von Walter Benjamin in seinem Kampf gegen den Faschismus – mit einem nicht unwichtigen Unterschied: Allem Anschein nach wendet sich dieses anthropologisch-sozialkritische Konzept nur noch an vereinzelte Subjekte. Es gibt kein historisches Subjekt, keinen Adressaten der intendierten Veränderung, geschweige denn eine Richtung dieser Veränderung. Es gibt nur noch »Fluchtlinien«.

3. Der spinozistische Ansatz kann sowohl gegen die Symbolfigur eines Souveräns als auch gegen den liberalen Pluralismus ausgespielt werden. Anders als im »pluralistischen« Liberalismus gewährt dabei die multitude der Heterogenität und den Differenzen extrem entgegengesetzte und spannungsvolle Ausdrucksmöglichkeiten, die vom Widerstreit bis zur Solidarität reichen, aber die Differenzen nie untertreiben. Aus diesem Grund geriet Spinoza im philosophisch-politischen Umbruchkontext der 1980er Jahre in den Fokus der Auseinandersetzungen. Ich könnte an diesem Punkt mich denjenigen anschließen, die in der Behauptung der potentia gegen die potestas, d. h. der Kraft und des Vermögens gegen die bloße Herrschaft, einen Rückfall in einen verdächtigen Vitalismus wittern. Ein anderer Weg scheint mir fruchtbarer, wenn man nicht an der Botschaft dieser Strömung vorbeigehen will. 16 Es gilt, die Bedeutung von Spinoza in der Urgeschichte unserer liberalen Weltordnung zu umreißen. 16

Wozu die »Frankfurter« immer neigen.

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Der heute noch wirksame »Spinoza-Effekt« ist in eine längere Geschichte einzuschreiben, wenn man seine politische und zugleich anthropologische Bedeutung wirklich erfassen will. Was sich nämlich kürzlich – das heißt in den letzten 10 bis 15 Jahren – in Deutschland, Frankreich und den USA – im Zusammenhang eines erneuten Interesses der rechten und der linken politischen Philosophie für Carl Schmitt – vor unseren Augen abgespielt hat, hat in der Figur und Theorie von Spinoza, wie sie von der herrschenden Geschichte und Theorie des politischen Denkens mobilisiert wurde, seinen Angelpunkt. Carl Schmitt und Leo Strauss gehen ja von derselben Auffassung aus: Spinoza ist derjenige, der die Autonomie der subjektiven Innerlichkeit proklamiert hat. In Persecution and the Art of Writing (1952) folgert Strauss freilich daraus, dass Spinoza die politische Ordnung, die er durchzusetzen half, zugleich auch von vornherein unterhöhlte. Daraus folgt, dass auch für Strauss ein autoritäres, oder zumindest konservatives Verständnis des Liberalismus schließlich die Oberhand erhält. Und umgekehrt, dass Spinoza im Mittelpunkt der Bestimmung dessen steht, was wir unter »Liberalismus« verstanden wissen wollen. Der Rückzug auf Spinoza beinhaltet also nichts Geringeres als ein Ringen um eine Auffassung des Liberalismus, die zugleich mit einer radikaldemokratischen Prämisse vereinbar wäre – was man entgegen der herrschenden Meinung eben nicht vom »Liberalismus« erwarten kann. Diese demokratische Prämisse impliziert nämlich eine Lebensphilosophie, die sich für die Behauptung eines Volkslebens und –willens als unerlässlich erweist. Man kann dagegen alle möglichen Vorbehalte und Einsprüche erheben. Es geht mir hier auch nicht darum, dafür einzustehen, sondern – von einer kritischen philosophischen Position aus – nur darauf zu pochen, dass hier ein substanzielles Wesen des Volks, und das heißt auch eine substanzielle Verwurzelung der Demokratie, heraufbeschworen wird, über die man sich schwerlich hinwegsetzen kann, wenn man noch annimmt, dass demokratische Prozesse sich nicht in einem luftleeren Raum abspielen. Dies erfordert freilich einen ziemlich gewagten Kurzschluss zwischen Carl Schmitt und der Fortsetzung des Ansatzes von Deleuze und Guattari bei Michael Hardt und Antonio Negri – womit man einen Einblick in die theoretischen Vernetzungen der europäischen und der amerikanischen Linken und in deren sonst völlig unverständliche Zuneigung zu Schmitt gewinnt. In seiner Verfassungslehre und in der zweiten Ausgabe der Dik122 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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tatur, die ebenfalls 1928 veröffentlicht wird, fragt sich Schmitt, worauf sich die Verfassung gründen kann und durch welche politischen Institutionen man den Ausnahmezustand überwinden kann. Er kommentiert in diesem Kontext den Unterschied, den Sieyès zwischen »pouvoir constituant« und »pouvoir constitué« macht und sieht an beiden Stellen eine »systematische Entsprechung« zwischen Sieyès’ Begriffspaar und dem spinozistischen Gegensatz von natura naturans und natura naturata. (Schmitt 1970, 80; 1964, 142) Der zynische Gebrauch, den er 1933 in der dritten Ausgabe des Begriff des Politischen vom spinozistischen conatus machen wird (Schmitt 1933, 8), kann den radikal demokratischen Ansatz dieser Auffassung der konstituierenden Macht nicht völlig diskreditieren, selbst wenn man natürlich von den völkischen Gefahren einer plebiszitären Begründung der Souveränität auch nicht absehen darf. Während Leo Strauss in Spinozas Denken nur den Ursprung aller Exzesse eines »kulturellen« Liberalismus zu sehen vermag, der jede Begründung untergräbt, interpretiert Schmitt Spinoza als den ersten Theoretiker »der unerschöpflichen Energie der Existenzbegründung« und geht so weit, auf dieser Grundlage eine radikal demokratische Auffassung der Volkssouveränität zu entwerfen. 17 Wie Thomas Heerich und Manfred Lauermann es betont haben, zeichnet sich Schmitts Spinoza-Interpretation dadurch aus, dass er »einen Gegensatz von souveräner potestas als Befehlsgewalt des Staates und tatsächlicher potentia der ›Volksversammlung‹ [entwickelt]« und dass er durch diesen Gegensatz annehmen kann, »dass die gesamte in der Gesellschaft zirkulierende Macht grösser ist als die formell oberste Gewalt, so dass die potentia die potestas als eine Teilmenge enthält. […] [Er] erzeugt so eine Theorie, in der Macht auch auf oberste Gewalt angewandt werden kann.« (Heerich/Lauermann 1991, 133) Nach Heerich und Lauermann ist das Ergebnis folgendes: »Dadurch ergibt sich ein reziprokes Verhältnis: die Souveränität ist genötigt, zu ihrer Erhaltung die Entwicklung der potentia in der potestas zu konzentrieren, und umgekehrt steigert sich die potentia der multitudo durch die Aneignung der rechtlichen Koordinierungsleistungen der potestas. Zwischen beiden besteht über dem Recht ein faktisches Machtverhält-

Vgl. Walther 1993, 369 (« l’énergie inépuisable du fondement de l’existence, jusqu’à esquisser la première ébauche conceptuelle d’une conception radicalement démocratique de la souveraineté du peuple »).

17

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nis, das der eigentliche Gegenstand der politischen Konstitution ist.« (Ebd., 136)

Es will mir scheinen, dass hiermit ein wesentlicher Unterschied zwischen republikanischer Demokratie und Liberalismus umrissen ist. 18 Daran knüpfen Hardt und Negri in ihrem Buch Empire an. Kennzeichnenderweise zitiert Hardt am Anfang seines Aufsatzes »The art of organization« (1991) folgenden Satz von Deleuze, der sich auf Spinoza bezieht: »Contre les dispositifs du pouvoir, il nous donne les agencements de la puissance.« 19 Er knüpft somit an den Gegensatz von potestas und potentia an. Es ist auch kein Zufall, wenn Deleuze (zusammen mit Pierre Macherey und Alexandre Matheron) für die französische Übersetzung von Antonio Negris Buch L’anomalia selvaggia (Mailand, Feltrinelli, 1981) ein Vorwort schrieb. (Negri 1981) Die englische Übersetzung besorgte Michael Hardt. (Negri 1991) Im Anschluss daran verfasste Negri Il potere costituente. Saggio sulle alternative del moderno, (Negri 2002) das ebenfalls in den linken spinozistischen Kreisen in Frankreich Gehör fand. (Negri 1997) Hardt und Negri schrieben auch noch zusammen Labor of Dionysus: a critic of the state form (1994) und dann ihren gemeinsamen globalen Renner Empire 20, der ganz zu Recht nichts Geringeres beansprucht als eine Antwort auf die Ideologie der Globalisierung zu geben. In dessen Zentrum steht, als Träger sowohl dieses Trends des Kapitalismus als auch der möglichen Antwort darauf, die Menge, die Multitude. Es scheint mir aber äußerst wichtig zu betonen, dass die Multitude alles andere als ein totalitäres Ganzes ist. Vielmehr besteht sie aus lauter kleinen Unterschieden, aus Differenzen. Im Hinblick auf die einzelnen individuierenden Momente, die es den Wunschmaschinen ermöglichen, Quasi-Subjekte zu gebären, ist entscheidend, dass in diesem »allgemeinen Willen« für antagonistische Positionen Platz ist: »The multitude remains contingent in that it is always open to antagonism and conflict, but in its dynamic of increasing power it attains a plain of consistency. […] The multitude is multiplicity made powerful.« (Hardt 2001, 392)

Vgl. auch ganz in diesem Sinn Walther 1993, 369. »Gegen die Dispositive der Gewalt stellt er uns die Gefüge der Macht zur Verfügung.« (Hardt 2001, 376) 20 Negri/Hardt 2001; deutsch 2003. Siehe auch Negri/Hardt 2006, deutsch: 2004). 18 19

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Hardt und Negri haben sozusagen eine praktisch-politische Übersetzung des Deleuze-Guattari’schen Konzepts versucht (welches vielleicht gar nicht so weit zu gehen beanspruchte, sondern möglicherweise im Endeffekt nur auf eine ontogenetische Verhandlung der »Subjekte« mit ihrer sozialpolitischer Umgebung, namentlich dem Kapitalismus in seiner äußersten liberalen Ausartung zielte, wie dies bei Foucault alles in allem der Fall ist). Ihr Verdienst besteht darin, das Konzept in einen globalen universalgeschichtlichen Entwurf eingeschrieben zu haben. Dieser Impuls wirkt fort, unter anderem bei Frédéric Lordon, dessen Werk umso mehr Aufmerksamkeit verdient, als er nicht Philosoph, sondern Wirtschaftswissenschaftler ist. Er setzt sich für eine philosophische Sozialwissenschaft (»une science sociale philosophique«) ein, deren Tugend in seinen Augen in erster Linie darin besteht, dass sie sich gerade deshalb der Infragestellung der grundlegenden Kategorien der liberalen Metaphysik unvoreingenommen und vorbehaltlos widmen kann. (Lordon 2013, 20) Schon in seinem ersten bahnbrechenden Buch La Politique du Capital (Lordon 2002) wird klar, worum es bei der Rückkehr zu Spinoza eigentlich geht und immer schon ging: um die Überwindung der unfruchtbaren Alternative zwischen einer Anthropologie des materiellen Interesses, d. h. im Großen und Ganzen die Ideologie des wirtschaftlichen Liberalismus, und einer antiutilitaristischen Soziologie, die von Marcel Mauss ausgehend dem bloßen wirtschaftlichen Kalkül völlig andere Paradigmata entgegensetzt – sowohl solche, die desinteressiert, an der Solidarität orientiert sind, als auch das Ringen um Prestige. Selbst diese Ansätze reichen aber nicht aus, um »aus dem Liberalismus wirklich auszubrechen«. Man muss »seine metaphysische Matrix sprengen und durch eine andere ersetzen«. (Lordon 2013, 21) Der conatus setzt sich nach Lordon über diese Matrix hinweg: Er entspricht nur einer vitalen Tätigkeit, die, je nach den gegebenen historischen und politischen Umständen, sowohl den Konsens als auch den Widerstreit fördern kann. Die »liberale Metaphysik«, wie Lordon sagt, hat sich auf der Vorherrschaft des Subjekts aufgebaut. Will man sie aus den Angeln heben, dann muss man an der Subjektmetaphysik rütteln. 21 Zu diesem Zweck eignet sich nur ein Rückgriff auf einen Autor, der sie durch den Monismus der Substanz unterhöhlt, nämlich Spinoza. Vgl. u. a.: »Il n’y a pas d’intériorité (ni d’intériorisation)«, in: Lordon 2010, 117– 121.

21

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Literatur Althusser, L. (1974): »Sur Spinoza«, in: Eléments d’autocritique, Paris: Hachette. Deleuze, G. (1962): Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF. – (1981): Spinoza. Philosophie pratique, Paris: Minuit. – (1986): Foucault, Paris: Minuit. Deleuze, G., Guattari, F. (1972): Capitalisme et schizophrénie. L’anti-Œdipe, Paris: Minuit. – (1974): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, aus d. Franz. v. B. Schwibs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1980): Mille Plateaux, Paris: Minuit. – (1991): Qu’est-ce que la Philosophie ?, Paris: Minuit. Hardt, M. (2001): »The art of organization. Ontological assemblages and political assemblages in Spinoza«, in: Genosko, G. (Hg): Deleuze and Guattari. Critical assessments of leading philosophers, New York: Routledge. Hardt, M., Negri, A. (1994): Labor of Dionysus. A Critique of the State-Form, Minneapolis/London: University of Minnesota Press. Heerich, Th., Lauermann, M. (1991): »Der Gegensatz Hobbes-Spinoza bei Carl Schmitt«, in: Studia Spinozana 7. Lordon, F. (2002): La Politique du Capital, Paris: Odile Jacob. – (2010): Capitalisme, désir et servitude. Marx et Spinoza, Paris: La fabrique. – (2013): La Société des affects, Paris: Seuil. Lyotard, J.-F. (1973): »Capitalisme énergumène«, in: ders.: Des dispositifs pulsionnels, Paris: UGE, 7–52. Negri, A. (1981): L’anomalie sauvage: Puissance et pouvoir chez Spinoza, aus d. Italienischen v. F. Matheron, Vorwort v. G. Deleuze, P. Macherey u. A. Matheron, Paris: PUF. – (1991): The Savage Anomaly. The Power of Spinozas Metaphysics and Politics, aus d. Italienischen v. M. Hardt, Minneapolis/Oxford: University of Minnesota Press. – (1997): Le pouvoir constituant: essai sur les alternatives de la modernité, aus d. Italienischen v. É. Balibar u. Fr. Matheron, Paris: PUF. – (2002): Il potere costituente. Saggio sulle alternative del moderno, Rom: Manifestolibri. Negri, A., Hardt, M. (2001): Empire, Cambridge (Mass.): Harvard University Press. – (2003): Empire: die neue Weltordnung, Studienausgabe, Frankfurt a. M.: Campus. – (2004): Multitude: Krieg und Demokratie im Empire, aus d. Englischen v. Th. Atzert, Frankfurt a. M.: Campus. – (2006): Multitude: war and democracy in the age of empire, London: Penguin Books. Patton, P. (2001): »Deleuze and Guattari. Ethics and post-modernity«, in: Genosko, G. (Hg): Deleuze and Guattari. Critical assessments of leading philosophers, New York: Routledge, 128–145.

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Lebens- oder Geschichtsphilosophie? Raulet, G. (2014): »Philosophische Anthropologie – auch eine französische Wissenschaft?«, in: ders., Plas, G. (Hg.): Philosophische Anthropologie nach 1945. Rezeption und Fortwirkung (= Philosophische Anthropologie. Themen und Positionen, Band 7), Nordhausen: Verlag T. Bautz, 367–389. Saar, M. (2013): Die Immanenz der Macht – Politische Theorie nach Spinoza, Berlin: Suhrkamp. Schmitt, C. (1933): Der Begriff des Politischen, 3. Ausg., Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. – (1964): Die Diktatur: Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, München / Leipzig: Duncker & Humblot (Reprint). – (1970): Verfassungslehre, München / Leipzig: Duncker & Humblot 5. Aufl. Spinoza, B. de (1977): Die Ethik, Stuttgart: Reclam. Walther, M. (1993): »Carl Schmitt et Baruch Spinoza ou les aventures du concept du politique«, in: Bloch, O. (Hg.): Spinoza au XXe siècle, Paris: PUF.

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Denker und Rezeptionswege

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Jean-Jacques Wunenburger

Le rythme de la vie La pensée rhénane de Gaston Bachelard (de Ludwig Klages à Pinheiro dos Santos)

L’œuvre de Gaston Bachelard explore, entre 1927 et 1961, une histoire, une psychologie et une épistémologie de la rationalité scientifique, éclairées par les innovations scientifiques les plus récentes (mathématiques, physique, chimie) et une logique symbolique et phénoménologique de l’imagination rêveuse. Science et rêverie constituent les deux pôles, diurne et nocturne, de la vie de l’esprit, centrée sur l’imagination qui doit être tantôt purifiée et rectifiée par la science, tantôt suractivée et transformée dans les relations poétiques avec l’espace et le cosmos matériel. Le développement de cette philosophie selon deux versants, souvent méconnus par suite de l’occultation de l’un ou de l’autre par des lecteurs pressés et infidèles, s’appuie largement sur des sources philosophiques françaises et allemandes. Bachelard puise dans ces deux traditions philosophiques pour décrire psychologiquement et anthropologiquement les faces de la rationalité et de l’imaginaire. Comment les deux viennent-elles participer au tableau de la vie de l’esprit humain ? De quelles manières surprenantes et paradoxales parfois Bachelard croise-t-il pensées allemande et française?

1.

Les deux versants de l’esprit : l’activité scientifique et la vie rêveuse.

1.1. La vie de l’esprit scientifique Très marqué par le positivisme français (d’Auguste Comte à Léon Brunschvicg) qui avait rattaché le progrès rationnel à une marche en avant permanente de l’abstraction scientifique, Bachelard vérifie cette conception historique aussi bien dans la genèse culturelle de la science moderne et contemporaine (relativité einsteinienne, mécanique quantique) que dans la pédagogie du développement de l’esprit scientifique 131 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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à l’école. A cet effet, le trajet impératif pour accéder à la rationalité passe par un travail de dévitalisation des images spontanées, qui est analogue à une psychanalyse de l’esprit, chargée de débarrasser les représentations des objets extérieurs de leurs surcharges affectives, d’autant plus fortes qu’elles sont pour partie inconscientes (cf. Bachelard 1967). L’image, dans laquelle le sujet et le monde perdent leurs frontières et leurs propriétés, doit donc faire l’objet d’une rectification continue pour en dégager une information abstraite, analytique, adaptée aux formalisations et à la mathématisation. Se ralliant ainsi à une position constructiviste du concept, pour laquelle un concept est d’autant plus porteur de vérité qu’il se détache des qualités sensibles, Bachelard insiste surtout sur la nécessité d’une dialectique continue, dans la mesure où toute forme nouvelle d’abstraction révèle toujours à nouveau de l’inadéquation, de l’impureté, obligeant ainsi la raison à se retourner sans cesse contre elle-même, et contre de nouvelles formes de résidus d’images. Le concept, non seulement se voit ainsi dé-substantialisé et perpétuellement déstabilisé, mais comme l’indique La philosophie du non (Bachelard 1962), il doit encore être confronté à un concept négatif, moins pour totaliser les déterminations comme dans la dialectique de Hegel, que pour se libérer des ultimes traces d’empiricité et de concrétude. La rationalité propre à la physique contemporaine devient ainsi le paradigme d’une abstraction à laquelle il convient de conduire tout esprit. Bachelard se réapproprie ainsi la méthodologie scientifique d’un aller-retour entre théorie – mathématique – et expérience en laboratoire, autour d’une phénoméno-technique qui matérialise les idées et permet de les valider. Renvoyant ainsi dos à dos réalisme et idéalisme (Le rationalisme appliqué, Le matérialisme rationnel), Bachelard rompt avec l’idée d’une figure achevée, indépassable de la rationalité, telle que l’avaient promue les philosophies progressistes antérieures, et prône une sorte d’activisme incessant de l’abstraction, qui est toujours encore en devenir dialectique. La connaissance scientifique se définit ainsi comme une conquête sans fin d’un objet en soi (noumène), sans qu’elle puisse jamais se reposer dans la saisie ultime d’une réalité en soi. C’est pourquoi Bachelard, dans le sillage d’André Lalande, assimile l’apprentissage de la pensée scientifique à une capacité à manier de manière volontariste une «raison constituante» en refusant tout arrêt dans une «raison constituée» (cf. Lalande 1963).

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1.2. La vie de l’imagination rêveuse et poétique Il semble bien que, en s’engageant à partir de 1932, à son arrivée à l’université de Dijon, dans l’exploration de l’imagination poétique et onirique, Bachelard opère une sorte de conversion qui le conduit à explorer une autre face obscure de l’âme ou du coeur, l’imagination onirique et poétique, qu’il rencontre à travers le romantisme allemand. Dans son premier ouvrage consacré à La Psychanalyse du feu (1938), Bachelard reste manifestement tributaire d’une méthodologie très positiviste puisque la psychanalyse freudienne lui livre une procédure de décryptage symbolique des fantasmes et rêveries du feu, qui ne lui apparaîtra que plus tard comme réductrice. Car la psychanalyse freudienne reste enfermée, à ses yeux, dans une recherche causale de traumatismes et de complexes, chargés d’expliquer le travail de déformation des images. Or rapidement le psychologue des profondeurs C. G. Jung lui permet, dès L’eau et les rêves (Bachelard 1942), d’explorer les voies d’une herméneutique symbolique, où les rêveries sur les matières ne travestissent plus seulement les déterminations empiriques et inconscientes du sujet, mais ouvrent sur une création permanente de significations ambivalentes, qui correspondent à des valeurs symboliques universelles, comme l’attestent les mythes universels. En important, tout en les enrichissant à sa manière, les concepts opératoires d’archétype, de sublimation, d’ambivalence, Bachelard valorise les pouvoirs créateurs d’une imagination qui traverse le sujet en connectant son histoire personnelle (particulièrement son enfance rêvée) à des réseaux de signification des images trans-individuelles et qui le mettent en syntonie avec le grand Tout du monde. Par là, Bachelard développe progressivement, dans le champ des théories littéraires françaises, une psychologie de la création, qui retrouve l’inspiration de la « fantastique transcendantale » chère au poète allemand Novalis. Comme le résume Dominique Lecourt : « En réalité, c’est à l’idéalisme magique de Novalis, à son projet d’une «fantastique transcendantale» que se rallie Gaston Bachelard et, par-delà, comme le prouvent ses références (Novalis, Hölderlin, Schlegel, Jean Paul), au courant du romantisme allemand. À des poètes et des philosophes qui voient dans l’imagination non une faculté psychologique mais la source même de l’être et de la pensée » (Lecourt 1974, 142). La rêverie, loin d’être le résultat d’une visée néantisante du donné comme chez Sartre dans L’imaginaire, doit être appréhendée comme une activité de dévoile133 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Jean-Jacques Wunenburger

ment des polarités de l’Être, comme une sorte d’ontophanie spirituelle. L’imagination, au contact des matières, entendues au sens alchimique ou théurgique (que G. Bachelard avait étudié dans la perspective de la formation de l’esprit scientifique), de formes transitionnelles où les propriétés matérielles sont en même temps conductrices de transformations psychiques, se présente donc comme un organe de participation magique avec une Nature définie elle-même comme «Âme du monde» (au sens du néo-platonisme antique et renaissant) et non comme mécanisme inerte d’un monde perçu partes extra partes.

2.

Le chiasme épistémologie des deux vies

Pourtant ce premier tableau est loin d’être aussi simple et univoque. A regarder de plus près, chacune de ces démarches se métisse d’une intelligibilité hétérodoxe, qui instaure un véritable chiasme épistémologique, germanisant l’épistémologie et francisant les conceptions de l’imaginaire : la rationalité scientifique va se lester de processus internes d’auto-complexification d’inspiration hégélienne, et l’imagination créatrice, perpétuellement innovante par sa force interne, se laisse aborder à travers des invariants, qui rendent possible une «science» de l’imaginaire. 1. L’esprit scientifique est étudié conformément aux modèles positivistes français : Auguste Comte, Léon Brunschvicg, Emile Meyerson, etc. ; mais progressivement Bachelard valorise le développement d’une «dialectique» interne de la rationalité scientifique, d’inspiration très idéaliste et allemande, déjà anticipée par le projet de définir un «surrationalisme». L’épistémologie bachelardienne abandonne ainsi (Bachelard 1962 [1940]) les catégories aristotélicienne et cartésienne pour s’installer dans une heuristique paradoxale. Il ne suffit plus, par exemple, de mettre au jour l’homogénéité d’une substance, mais de complexifier sa nature en désignant une hétérogénéité latente. Ainsi, « le chimiste cherche d’abord la substance homogène, puis il remet en question l’homogénéité, cherchant à détecter l’autre au sein du même, l’hétérogénéité cachée au sein de l’homogénéité évidente » (Bachelard 1963, 64). Penser le couple des concepts opposés n’est plus seulement céder à une pensée polémique mais c’est s’ouvrir véritablement à une dialectique du «oui» et du «non». Cette inversion de la logique scien134 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Le rythme de la vie

tifique implique une désubstantialisation des concepts qui ne peuvent plus être épurés en êtres transparents et homogènes, et surtout une intégration dans le concept d’attributs opposés ; elle ne peut donc que suspendre le primat des principes logiques classiques. Bachelard prend appui sur diverses orientations épistémologiques et pédagogiques qui toutes tentent de justifier la fécondité d’une pensée non identitaire. O. L. Reiser radicalise ainsi le principe de complémentarité des concepts d’onde et de corpuscule de l’électron pour « prouver que le principe d’identité, fondement de la logique aristotélicienne, est désormais frappé de désuétude parce que certains objets scientifiques peuvent avoir chacun des propriétés qui se vérifient dans des types d’expérience nettement opposés » (ibid., 112). Bachelard ne cache pas non plus la sympathie que lui inspirent les orientations pédago-sémantiques du polonais A. Korzybski, qui dénonce les méfaits d’une éducation fondée de manière pesante sur la logique d’Aristote, auxquels on pourrait parer grâce à un entraînement à la non identité. Ainsi donc la raison scientifique nouvelle, déjà appuyée sur un pluralisme cohérent, une régionalisation de ses objets, doit pousser l’audace jusqu’à remettre en question les fondements épistémologiques de son passé. La pratique de la contradiction permettrait ainsi d’inclure dans la représentation du monde le «non», l’«anti», ou le «contre». La psychologie polémique de la science débouche sur une réévaluation de l’inversion, de l’antithèse et de la contradiction. Certes Bachelard, dans le même ouvrage, prend bien soin de démarquer sa philosophie du non de toute ontologie négative qu’il trouve développée dans le romantisme allemand ou chez Jean Wahl et renonce par-là à toute intégration d’un tiers-inclus à partir duquel la contradiction produirait une représentation dénivelée et paradoxale. De sorte que la dialectique redevient surtout un vecteur de pensée polémique, et son poids historique comme sa constellation sémantique ne permettent que de réévaluer l’opposition, l’inversion, la scission, mais en fin de compte elle ne recouvre qu’une pratique intellectuelle d’unification progressive, d’intégration successive. L’attraction-répulsion de Bachelard pour la dialectique allemande lui a donc permis d’élaborer une rhétorique originale pour définir la modernité scientifique, mais sans pour autant tenir toutes les promesses de la dialectique elle-même. A vrai dire, plusieurs versions se trouvent cependant entremêlées dans les textes-manifestes, programmatiques, pédagogiques, d’inspiration surrationalistes surtout dans La philosophie du non 135 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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(Bachelard 1962). On peut les différencier selon des ambitions croissantes : – d’abord une incitation psychologique à mobiliser dans la connaissance scientifique le désir du nouveau plutôt que de favoriser l’installation dans le déjà connu (qui domine l’esprit scolaire, qui lui reproduit). Si la raison est exposée spontanément à des projections affectives, conscientes et inconscientes, corruptrices, sources d’obstacles épistémologiques, il en résulte qu’elle doit à tout moment surmonter ses représentations antérieures pour accéder à toujours plus d’abstraction. Cette obligation à se renouveler dans des savoirs plus complexes n’est peut-être que l’expression d’un désir plus originaire, prélogique, de renouvellement, de recommencement, que Bachelard invoque de manière récurrente. Dans ce contexte, des procédures discursives comme des polémiques voire des antilogies sont présentées comme favorables à la formation de l’esprit scientifique ; – ensuite une valorisation du travail de la négativité logique, interne à l’entendement ou à la raison, dans le sillage de la dialectique de Hegel. Bien qu’il se défende d’adhérer pleinement à cette logique du savoir absolu, trop systémique et tranchée, trop métaphysique, Bachelard n’en pose pas moins que concept et raisonnement dans les sciences gagnent à être soumis à la force de la contradiction, figure extrême du contraste et de l’opposition chez Hegel. Tel est par exemple le cas, dans la mécanique quantique contemporaine, de l’anti-concept de Dirac ; – enfin la validation de modes d’intelligibilité rationnelle pluriels, qui se présentent alors comme des approches complémentaires – soit successives, dans une logique ante-post (la physique nouvelle dépassant et englobant la physique newtonienne), soit même simultanées, dans une logique de la conjonction de propositions opposées (dans la cas de la complémentarité entre une nature ondulatoire et une nature corpusculaire de la lumière), soit enfin coexistant à des échelles différentes (différentes axiomatiques géométriques selon les niveaux d’organisation et de complexité du réel). Le surrationalisme renvoie alors au dépassement d’un mode d’énonciation ou de représentation unidimensionnel et monopolistique ; – parfois même Bachelard incite à dépasser le progrès dialectique linéaire et la diversité simultanée des modes de rationalité, au profit d’une sorte de «métalogique» au sens vertical. Bachelard a, plus d’une fois, invité la rationalité à développer une progression cognitive dans 136 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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le sens d’une dénivellation verticale (conscience dédoublée, au carré), ouvrant ainsi la possibilité de penser une logique générale dont chaque logique particulière ne serait qu’un mode particulier régional. D’où l’attirance pour la logique tria-lectique de Stéphane Lupasco qui fait apparaitre une logique générale de l’esprit dans laquelle la logique identitaire ne serait qu’une des polarités alternatives (cf. Lupasco 1987). Le surrationalisme peut donc désigner une variété de figures toutes envisagées par Bachelard : une simple ouverture au sens diachronique de renouvellement de contenus, c’est-à-dire d’un enrichissement progressif de savoirs ; une dynamique de la négativité interne à la raison – un anti – dans le rationalisme, à la suite de la dialectique hégélienne librement réajustée ; l’entrée, le saut même, dans un autre paradigme (post-rationaliste), par pluralisation ou complexification en «méta» – qui abandonne un niveau d’intelligibilité (par exemple de la causalité antécédente) pour élargir les modélisations pour ainsi dire horizontalement ou pour monter – suivant une orientation de verticalité – vers un niveau de discursivité englobant et élargi (incluant d’autres relations que causales, par exemple). Ainsi l’épistémologie bachelardienne semble bien avoir pris le parti d’une rationalité hétérodoxe, d’un néo- ou sur-rationalisme, dont le paradigme est emprunté aux ressources de la dialectique hégélienne et post-hégélienne. La science, après avoir longtemps été freinée par l’empiricité, puis avoir connu l’âge théorético-expérimental, s’approche à présent d’une rationalité autoproductrice du réel. Bachelard est donc bien passé d’un certain rationalisme français, toujours marqué par un sujet réflexif aux prises avec l’objet empirique, vers une rationalité plus proche de l’idéalisme allemand, où l’objet et le sujet sont entraînés par un processus de pensée toujours en excédent, où la négativité des jeux de concepts permet de produire un savoir vrai à venir. 2. L’esprit poétique tout en étant valorisé à travers une créativité incessante, née d’une énergie pulsionnelle (Freud) et d’un vouloir-vivre (Schopenhauer) qui conduisent à renouveler les images mentales, est censé obéir à une logique dont on doit pourvoir dégager des invariants rationnels. Bachelard préfigure dès la Psychanalyse du feu (1938) le projet d’une science de l’imaginaire. En effet, la résurgence de la poétique romantique, dans laquelle Fichte, Schopenhauer et Nietzsche lui 137 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Jean-Jacques Wunenburger

permettent de lier la force imaginative à une volonté originaire, source d’une puissance affirmative de l’être, ne saurait cautionner quelque irrationalité extatique ou intuitive des images. Certes Bachelard répète souvent qu’il faut « expliquer les rêves par les rêves » (Bachelard 1948, 49), ce qui ne l’empêche pas, dès La psychanalyse du feu, d’annoncer un projet de rationalisation de l’imaginaire, de véritable science de la création poétique, dont la syntaxe et la sémantique seraient formulables par des lois. Le projet, resté à bien des égards programmatique, de dégager des diagrammes poétiques, par exemple, atteste un souci analytique de décomposition des procédés de l’imagination. Si le programme ne sera mis en œuvre que par ses élèves (en particulier par Gilbert Durand dans ses Structures anthropologiques de l’imaginaire, sous-titré Introduction à une archétypologie générale [Durand 1984]), il n’en reste pas moins qu’à ses yeux, l’activité symbolique donne lieu à des principes invariants : parmi lesquels il détachera aussi bien la loi de bipolarisation des noyaux symboliques (qui repousse les rêveries triadiques) 1 que la loi de relation des opposés (l’eau et le feu), ou celle d’ambivalence. Si Bachelard a, par la suite, renoncé à énoncer une logique des images pour lui substituer une approche plus phénoménologique, influencée par Ed. Husserl, mais en un sens à nouveau libéré de toute orthodoxie husserlienne, c’est encore pour saisir des conditions formelles et transcendantales de la rêverie. Ainsi, à titre d’exemple, nos images s’enrichissent et se nourrissent de la symbolique des quatre éléments (terre, eau, air et feu), qui fournissent des « hormones de l’imagination », qui nous font « grandir psychiquement ». « Nous nous sommes cru fondé à partir d’une loi des quatre imaginations matérielles, loi qui attribue nécessairement à une imagination créatrice un des quatre éléments : feu, terre, air et eau » (Bachelard 1965, 14). Ainsi l’imagination, si elle est bien profondément liée à l’inconscient personnel du rêveur, se présente avant tout, du point de vue de son contenu, comme une imagination matérielle, dont les rêveries la relient intimement au cosmos : « Nous sommes emportés dans la recherche imaginaire par des matières fondamentales, par des éléments imaginaires, qui ont des lois idéalistiques aussi sûres que les lois expérimentales » (idem). Bachelard a Par exemple : « Si une union ternaire apparaît, on peut être sûr qu’il ne s’agit que d’une image factice, que d’une image faite avec des idées. Les véritables images, les images de la rêverie sont unitaires ou binaires » (Bachelard 1993, 112).

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138 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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en effet proposé d’expliciter les lois de production des images, en les étudiant à partir des activités artistiques (des créateurs, poètes, plasticiens, spectateurs ou lecteurs) ou des rêveries spontanées du travailleur ou de l’homme de loisir. La vie des images repose sur des lois d’une véritable physique onirique, qui sont aussi contraignantes que des lois physiques. Bachelard a même espéré, un moment, avant qu’il ne renonce à cette rationalisation trop mécaniste, pouvoir établir le « diagramme poétique » d’un créateur d’images, qui suppose que « les métaphores s’appellent et se cordonnent plus que les sensations, au point qu’un esprit poétique est purement et simplement une syntaxe de métaphores » (Bachelard 1938, 185). Ainsi le rationalisme scientifique cartésien et comtien s’ouvre sur une rationalité dialectique mise en oeuvre par un esprit romantique, qui bat au rythme de contradictions, et le romantisme de la rêverie cosmique (proche d’une «fantastique transcendantale» chère à Novalis) se laisse gagner par un désir d’arraisonner la vie des images dans des structures symboliques accessibles même aux formalismes. Cet enrichissement des projets théoriques s’opère chaque fois par une sorte de greffe opérée sur les héritages de chaque côté du Rhin.

3.

Les racines spatio-temporelles de la vie de l’esprit

Cette bifurcation dualistique qui conduit à deux formes de vies spirituelles différentes, l’une de la raison abstraite (Vernunft) en lutte avec l’image et l’affect, l’autre du psychisme imaginant (Seele) qui se projette dans les rêveries à hautes charges affectives ambivalentes, ne dispense pas Bachelard de chercher un substrat stable et commun des productions de l’esprit, qui sera identifié aux propriétés de l’espace et du temps. Si l’épistémologie et la poétique fourmillent de notations sur l’espace originaire, mais sans jamais d’accompagnement théorique, le temps a donné lieu à deux ouvrages qui veulent combattre une philosophie française dominante à l’époque, celle de Bergson, et défendre une philosophie alternative, éminemment rythmique, dont on peut trouver en fait des développements contemporains plutôt dans la pensée allemande (même si Bachelard s’appuie sur un jeune philosophe portugais réfugié au Brésil, Pinheiro dos Santos !). Bachelard, à qui l’on doit aussi une approche inédite de la poétique de l’espace, a fortement contribué à renouveler la compréhension du temps, en l’associant à une structure dialectique, subsumée 139 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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sous le terme de rythme. Dans L’intuition de l’instant (1932), et surtout dans La Dialectique de la durée (1989 [1936]), Bachelard, à grand renfort d’arguments tirés de la science quantique et de la théorie de la causalité, s’est démarqué fermement de l’analyse bergsonienne, qui, malgré ses immenses mérites, à ses yeux, aurait survalorisé indûment la continuité, en fondant le temps dans le magma fluide de la durée (De Bergson, il accepte « presque tout, sauf la continuité » [ibid., chap. I, 7]). Pour Bachelard, au contraire, le temps vécu comme le temps abstrait témoignent d’une discontinuité primitive, où l’instant prend le dessus sur la durée, où la plénitude substantielle laisse place à des vides, à des lacunes, qui constituent des intervalles. « La phénoménologie comporte toujours une dualité des événements et des intervalles […] une durée précise et concrète fourmille de lacunes » (ibid., VII). De ce point de vue, Bachelard a cherché à penser la discontinuité temporelle en la rattachant à une conception mathématique de l’espace, fait de points à l’infini, de sorte qu’elle se ramène à une »arithmétisation numérique» d’instants. Le rythme devient, dès lors, la notion-clé qui permet d’inscrire la structure instantanéiste, trouée et hachée, du temps, dans une nouvelle forme de répétition, dans une continuité qui n’est plus substantielle, mais plutôt formiste. Car c’est bien par une vibration, qui parcourt les instants, que le temps «lacuneux» se mue en une synthèse dynamique, que Bachelard rattache, comme souvent, au terme plurivoque de «dialectique». Bref la continuité résulte d’une saisie constructiviste de dialectisation « du son et du silence » (ibid., 122; sur la musique, voir chap. VII, 113 sq.), par des «systèmes d’instants» (ibid., IX) et par une superposition de rythmes pluriels (ibid., chap. VIII). Bergson avait d’abord opposé un temps propre à l’abstraction scientifique et un temps propre à l’intuition subjective de la conscience préparée par l’image et la métaphore. Le premier est analytique, discontinu, le second est une durée continue en perpétuel renouvèlement qualitatif. Bachelard pense identifier une seule structure temporelle, subjective et objective, qui serait faite d’instants séparés par des néants, et qui serait radicalement opposée à la durée bergsonienne. Les deux ouvrages (commentant les écrits d’un historien de la campagne, G. Roupnel, collègue à l’université de Dijon) rassemblent des arguments psychologiques (mémoire et attention), esthétiques (poésie et musique), scientifiques (relativité einsteinienne) pour attester de la primauté de l’instant sur la durée, de l’acte comme nouveau commencement par opposition à l’action comme persévé140 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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rance, qui convergent vers une représentation audacieuse d’un temps universel : – l’expérience de la conscience du présent nous livre un atome temporel, l’instant, discontinu, séparé d’un autre qui le précède et le suit. Le temps n’est pas plein mais troué de vide, qui ouvre sur une alternance de positivité et de négativité. « Le fil du temps est couvert de nœuds » (Bachelard 1989, 67). La durée bergsonienne n’est qu’une perspective épisodique, elle « est une poussière d’instants, mieux un groupe de points qu’un phénomène de perspective solidarise plus ou moins étroitement » (ibid., 33) ; – dans la pensée, le langage fait émerger le négatif avant l’affirmatif, ouvrant sur une continuité et une linéarité faite d’alternances. Cette linéarité horizontale est coordonnée par la rationalité qui introduit une synthèse alors que l’imagination poétique se déplace sur la verticalité de l’instant. L’image poétique s’installe en fait dans la discontinuité par opposition à la narrativité ; – qu’il soit réel ou pensé, le temps discontinu repose sur une structure primaire, la vibration (« le temps primitif est le temps vibré » [ibid., 131] et un « repos vibré » [ibid., 127]), qui fait surgir dans tous les événements temporels un rythme. Bachelard oppose le rythme à la mélodie bergsonienne, il l’étend à toute temporalité alors que Bergson affaiblissait le rythme en mélodie et le réservait à la sphère du Moi intime. Le rythme vient de la configuration vectorielle des instants : « l’être est un lieu de résonance pour les rythmes des instants et comme tel on pourrait dire qu’il a un passé comme on dit qu’un écho a une voix ». (Bachelard 1932, chap. V, 52) « Le rythme est vraiment la seule manière de discipliner et préserver les énergies les plus diverses. Il est la base de la dynamique vitale et de la dynamique psychique. Le rythme – et non la mélodie trop complexe – peut fournir les véritables métaphores d’une philosophie dialectique de la durée » (ibid., 128). Par là Bachelard ouvre dans les années 1935 un programme de rythmanalyse, certes appuyé sur des travaux de versification et de musicologie francophones, mais qui évoque, par ses fondements et son ampleur métaphysique et cosmologique, des thèses d’ontologie forte que l’on ne trouve alors que dans la pensée allemande. Signe qu’une fois encore Bachelard nourrit, corrige, complète les pensées inspirées par une langue et une tradition nationales par celles trouvées dans la voisine de l’autre rive du Rhin. 141 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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En ce sens, même si Bachelard n’a sans doute pas connu les ouvrages berlinois de L. Klages, on ne peut qu’être frappé de l’étonnante proximité des thèses développées dans La Dialectique de la durée et de celles défendues par L. Klages dans ses travaux sur le rythme. « Nous avons déjà bien souvent donné la réponse à cette question : c’est la vie elle-même qui, dans la mesure où elle est dans une position dominante, donne du rythme aux processus et aux formes. C’est pourquoi «vibrer» en rythme signifie vibrer dans la pulsation de la vie, et signifie de surcroît pour les hommes être libérés temporairement des limites par lesquelles l’esprit rétrécit notre pulsation vitale 2 ». L. Klages engage une philosophie de la vie (Lebensphilosophie) en consonnance avec ce devenir perpétuel bachelardien, rythmé par un jeu d’élan et de résistance, de mouvement et d’interruptions (repos vibré), qui transforme perpétuellement l’être. En conclusion, de la France Bachelard a tiré l’idée de progression et même de progrès rationnel, propre aux Lumières, mais de l’Allemagne romantique il a retenu la toute puissance du Dichten, de la Bildungskraft voire de la Schwärmerei, qui doivent trouver place à côté de la rationalité. De Bergson, il a gardé une durée créatrice en perpétuel recommencement, mais de Hegel il a intégré la violence du déchirement de la contrariété et de la contradiction. Ces confluences audacieuses ont abouti à une double anthropologie du jour et de la nuit, opposant la raison et l’âme (imagination, affect), qui s’excluent. Mais raison et imagination sont régis par un temps profond universel qui soumet toutes choses à des pulsions, vibrations, rythmes qui déterminent des alternances, faisant ainsi penser à un nouvel héraclitéisme enrichi par le temps ouvert issu du monothéisme messianique. Ainsi rapidement esquissé, à grands traits, l’homme bachelardien se révèle doté d’une nature complexe, qui mobilise toutes les dimensions du sujet, du corps à l’intellect en passant par l’affectivité, la volonté et l’imagination. Il s’enrichit selon plusieurs vocations, modes de réalisation: d’abord la pensée commune, adaptée, socialisée, puis le travail ascétique de la connaissance scientifique, enfin l’épanouissement hédoniste de la rêverie du monde, chacune de ces dimensions Klages 2004, 97 : conférence prononcée au Congrès de pédagogie de 1922. L. Klages (1872–1956) est le successeur à la chaire de Hegel à Berlin (voir la préface de Olivier Hanse, Klages 2004). On peut noter également l’intérêt pour le rythme chez G. Simmel (voir Simmel 2007, 624 sq.), auquel se réfère Bachelard : « Le temps est […] une tentative de vivre autrement, de vivre plus ou même, comme le voulait Simmel, une volonté de dépasser la vie » (Bachelard 1989, 79).

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éveillant en lui des valeurs propres qui constituent autant de visages d’une éthique plurielle. Dans toutes ces configurations, l’homme est invité à se laisser entraîner à un devenir, le long d’une verticalité qui lui fait conquérir sans cesse des nouveautés procurant vérités, vertu et bonheur. Mais cette progression continue tous azimuts reste scandée par des rythmes d’alternances, de féminité et de masculinité (d’«animus» et d’«anima»), de repos et de travail, d’intériorisation et d’extérioration, dessinant ainsi une harmonie vibrante de pôles alternatifs. De la sorte, il nous semble que Bachelard plaide, à travers le miroir de son œuvre épistémologique et esthétique, pour une sagesse humaine, délaissée depuis longtemps, en tout cas depuis l’antiquité et la Renaissance. Tout en ne sacrifiant pas les meilleurs acquis du rationalisme des Lumières ni l’héritage du romantisme allemand, il a mis en œuvre une sorte de synthèse originale des Lumières et du romantisme, cherchant à réconcilier en l’homme les contraires du jour et de la nuit, tout en engageant toujours l’homme intégral dans des métamorphoses de soi. Aux absolutisations intempérantes du rationalisme impérialiste, il a opposé un homme bi-frons, tel Janus aux deux visages, tout en faisant de cette dualité une totalité rythmée harmonieuse et bienfaisante. Il ne semble pas qu’il existe dans la philosophie moderne d’aussi ambitieuses et justes conceptions de l’homme, aussi soucieuses d’équilibres entre les opposés, que celle de G. Bachelard. Et c’est sans doute cette image de l’homme intégral que nous cherchons à faire nôtre en nous reconnaissant bachelardiens.

Litérature Bachelard, G. (1932): L’intuition de l’instant, Paris : Gonthier. – (1938): La Psychanalyse du feu, Paris : Gallimard. – (1942): L’eau et les rêves, Paris : J. Corti. – (1948): La terre et les rêveries du repos, Paris : J. Corti. – (1962): La philosophie du non, Paris : PUF. – (1963): Le matérialisme rationnel, Paris : PUF. – (1965): L’air et les songes, Paris : J. Corti. – (1967): La formation de l’esprit scientifique, Paris : Vrin. – (1989): La dialectique de la durée [1936], Paris : PUF. – (1993): L’eau et les rêves, Paris : Livre de poche, « Essais ». Durand, G. (1984): Les structures anthropologiques de l’imaginaire, 12eme édition., Paris : Dunod. Klages, L. (2004): La nature du rythme, trad. de l’allemand par O. Hanse, Paris : L’Harmattan.

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Jean-Jacques Wunenburger Lalande, A. (1963): La raison et ses normes, Paris : Hachette. Lecourt, D. (1974): Bachelard ou le jour et la nuit, Paris : Grasset. Lupasco, St. (1987): Le principe d’antagonisme et la logique de l’énergie, Monaco : Ed. du Rocher. Simmel, G. (2007): Philosophie de l’argent, trad. de l’allemand par S. Cornille et Ph. Ivernel, Paris : PUF.

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Heike Delitz

Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken: eine ›Lebenssoziologie‹ Der Beitrag widmet sich innerhalb des ›Gesprächs‹ zwischen (deutscher) Philosophischer Anthropologie und (französischer) Lebensphilosophie allein der französischen Seite, der Lektüre Henri Bergsons, und zwar mit einer im philosophischen Diskurs zunächst womöglich speziell scheinenden Frage: Welche Bergson-Effekte gibt es eigentlich im französischen soziologischen Denken (vgl. ausführlich Delitz 2015): Gibt es ein Paradigma der Sozial- und Gesellschaftstheorie, das an Bergsons Philosophie des (menschlichen) Lebens anschließt – wie in der deutschsprachigen Soziologie im Anschluss an die Philosophische Anthropologie (Fischer 2006, 2016)? Die Frage nach der Soziologie ist indes durchaus auch im philosophischen Kontext relevant, insofern eine jede Konzeption der kollektiven Existenz, des gesellschaftlichen Seins eine spezifische Philosophie (eine Ontologie, Epistemologie, Wissenschaftstheorie und auch eine normative Position) voraussetzt, an ihr partizipiert – und dabei je zu ganz verschiedenen Aussagen kommt, sowohl hinsichtlich dessen, was Gesellschaften eigentlich ›sind‹, als auch in der Frage, in welcher Gesellschaft wir aktuell leben – was wir für gesellschaftlich erzeugte Subjekte sind. Und die Frage nach dem Bergson-Paradigma innerhalb der Soziologie (und verwandter Disziplinen) stellt sich, sobald man von der Bedeutung Henri Bergsons für die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts weiß: davon, dass Bergson als «erster Weltphilosoph» galt, dass er ein Renommee erreichte, welches das zeitgenössische eines Sartre oder Foucault noch übertraf (Fabiani 2010, 164–170); davon, dass er die gesamte französische Denkweise des 20. Jahrhunderts beeinflusst hat (Bianco 2015). Bergson, der dieses Renommee zeitgleich zur Instituierung der französischen Soziologie erreichte – er musste doch auch das soziologische Denken affiziert haben? Der Blick in die französische Soziologiegeschichte (wie in die der Soziologie generell) zeigt zunächst eher das Gegenteil. Bergson und die Soziologie, das sind auf den ersten, und auch auf 145 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Heike Delitz

den zweiten Blick zwei verschiedene Welten: Es gibt keine bergsonianisch inspirierte Soziologie; es gibt kaum eine soziologische Wahrnehmung seines «livre de sociologie» (Bergson 2002, 1387), seiner eigenen Gesellschaftstheorie, die er 1932 in Reaktion auf die Durkheimianer vorgelegt hat (Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Bergson 1992). Dass Bergson innerhalb des französischen soziologischen Denkens also zunächst ›nicht stattfindet‹, dass er keinen Eindruck hinterlässt – das ist bereits ein erster, und zwar negativer ›Bergson-Effekt‹. Die französische Soziologie hat sich (auch) in der Abstoßung von Bergson, in der Aversion gegen diese Philosophie etabliert. In dieser Gegenbewegung hat sie ihre Themen und Begriffe formuliert und ihre Methodik gefunden – in der Abstoßung von dem, was die zu Soziologen werdenden Philosophen wie Durkheim, Mauss und Halbwachs von der bergsonschen Philosophie zunächst wahrnehmen wollten. Der Bergsonismus, die frühe Bergson-Rezeption machte aus dieser neuen Philosophie zunächst eine «Sammlung vorgefertigter Meinungen» (Merleau-Ponty 2007, 266 f.). ›Bergson‹, das war lange Zeit das Synonym für Anti-Intellektualismus, Irrationalismus, Psychologismus, Intuitionismus, und für eine spekulative Lebensphilosophie der inneren Einfühlung. Die neuere Renaissance des Werkes von Bergson interessiert sich für es in ganz anderer Hinsicht – insofern, als Bergson eine Philosophie der Zeit erfindet, ein Konzept, das alle philosophischen Fragen ›entlang des Problems der Zeit‹ noch einmal neu stellt; insofern, als Bergson dabei eine ›allgemeine Philosophie der Differenz‹ entfaltet, sowie eine Philosophie der Immanenz; und insofern, als Bergson einen ›recht verstandenen‹ Vitalismus bietet. Diese in mindestens diesen drei Hinsichten als innovativ wahrgenommene Philosophie hat neben den negativen auch positive Effekte im französischen soziologischen Denken gezeitigt. Ihre Begriffe, Konzepte und Argumente sind in spezifische Konzeptualisierungen der Gesellschaft und des Sozialen eingegangen, in ganz bestimmte Antworten auf die Kernfragen der soziologischen Theorie – was ›das Soziale‹ überhaupt ist, auf welches Problem eine ›Gesellschaft‹ eigentlich eine Antwort ist. Der Beitrag ruft einerseits (1) die negativen Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken auf – entlang der These, dass sich die französische Soziologie um Émile Durkheim auch in der ständigen Abstoßung von der Philosophie Bergsons etabliert hat, wobei sie von dieser Abstoßung zugleich ihre Themen, Begriffe und 146 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken

ihren Vektor bezog: Die Durkheim-Schule oder die «französische Schule der Soziologie» widmete sich den von Bergson aufgeworfenen Themen (oder gemeinsamen Problemen, so Worms 2009: dem Problem des ›Geistes‹). Dabei verfolgte sie diese Themen stets in genau entgegengesetzter (positivistischer, rationalistischer, soziologistischer) Richtung. Andererseits interessieren die positiven Bergson-Effekte (4) – die oft versteckten, impliziten Übernahmen bergsonscher Begriffe, Konzepte, Argumente und Methoden im soziologischen Denken (auch jenseits der Disziplin Soziologie selbst, in Anthropologie, Psychologie, Philosophie). Um diese Übernahmen indes zu sehen, sind zwei Zwischenschritte nötig: Zunächst (2) der Blick auf den Bruch mit Bergson und dadurch ermöglichte Neulektüren, die Bergsons Werke ab den 1940ern erfahren. Sodann (3) erfolgt die dadurch mögliche Darstellung des bergsonschen Denkens einschließlich seiner Soziologie.

1.

Negative Effekte: Abstoßungen von Bergson in der französischen Schule der Soziologie

Émile Durkheim kämpfte an vielen Fronten, um die neue, ›soziologische‹ Perspektive als Disziplin mit eigenen Methoden, eigener Fragestellung und Gegenstand zu etablieren. Gabriel Tarde, René Worms und Georg Simmel heißen die Konkurrenten um die ›reine Soziologie‹ ; die italienischen Kriminologen oder physiologischen Anthropologen konkurrieren um den Gegenstand; die Philosophie insgesamt – mit ihren Kernthemen der Moral (praktische Philosophie); des Wissens (theoretische Philosophie) und Gottes (Religionsphilosophie, Metaphysik) – sucht Durkheim zu soziologisieren. Die Etablierung ›der‹ französischen Soziologie, das Durkheim-Werden vollzog sich aber nun auch in einem Anti-Bergson-Affekt. Diese (stillschweigend vollzogene) Abstoßung erlaubte Durkheim eine bestimmte Richtung: Sie ist dort zu vermuten, wo Durkheim seine Perspektive von jedem ›Psychologismus‹ ; jeder ›Metaphysik‹ und jeder ›irrationalen Mystik‹ trennt; wo er also die soziologische Perspektive als nicht-individualistische und rationalistische Erklärung definiert. Und auch wenn sich Durkheim dabei meist an Tarde wendet, betreffen seine Argumente die bergsonsche Philosophie – eine Philosophie, die (nicht nur) er als schlechte ›Philosophie von heute‹ wahrnahm, als ›philosophische

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Heike Delitz

Mode‹ mit vagen Begriffen (Durkheim 1975 [1895]; Jacob 1898, vgl. Delitz 2015, 51 f.). Bergsons Effekte in der frühen französischen Soziologie sind negativ, und sie bleiben implizit. Weniger in Durkheims Texten als in Schriften Dritter und in institutionellen Auseinandersetzungen ist die Aversion greifbar. Gleichwohl gibt es aussagekräftige Stellen in Die elementaren Formen des religiösen Lebens und in der Vorlesung zum Pragmatismus: Im fulminanten Schlusswerk (das neben der religionssoziologischen Klärung der gesellschaftlichen Funktion der Religion eine Soziologisierung der Erkenntnistheorie enthält) wird Durkheim gegen das bergsonsche Konzept den sozialen Charakter der Zeit betonen. »Wir können die Zeit nur begreifen, wenn wir in ihr verschiedene Augenblicke unterscheiden […] eine Art unbegrenzten Bildes, auf dem die ganze Dauer unter den Augen des Geistes ausgebreitet ist und auf dem alle nur möglichen Ereignisse in bezug auf Fixpunkte aufgetragen werden können. Es ist nicht meine Zeit, die auf diese Weise organisiert ist; es ist die Zeit, wie sie von allen Menschen einer und derselben Zivilisation gedacht wird.»

Und weiter: »Man stelle sich zum Beispiel vor, was der Begriff der Zeit wäre, wenn wir das abziehen, womit wir sie einteilen, messen und mit Hilfe von objektiven Zeichen ausdrücken, eine Zeit, die keine Folge von Jahren, Monaten, Wochen, Tagen, Stunden wäre!« Diese Zeit »wäre etwas fast Unvorstellbares.« (Durkheim 1994, 29)

Weiß man um Bergsons Leitidee der Unterscheidung einer spatialisierten, eingeteilten, verräumlichten Zeit von der ›recht verstandenen‹ temporalen Dimension (temps vs. durée), so kommt man nicht umhin, hier eine Auseinandersetzung mit Bergson zu sehen. Tatsächlich bezieht sich Durkheim an dieser Stelle affirmativ auf seinen Mitarbeiter Henri Hubert (1929 [1905]), der Materie und Gedächtnis (Bergson 1991 [1896]) zum Anlass nahm, um eine soziologische Theorie der Zeit zu entwerfen. Ihre Themen sind die kollektiven (religiösen) Zeiteinteilungen, die Homogenisierungen und Diskontinuierungen der Zeit, die dem Kollektiv dazu dienen, Rhythmen einzurichten, eine zeitliche Gestalt zu erzeugen, um das Leben der Einzelnen und der Gruppe zu gliedern. Und am Schluss des Buches, auf diese Wissenssoziologie zurückkommend (den sozialen Ursprung der Kategorien einschließlich derjenigen der Zeit behauptend), versteht Durkheim die Soziologie als die neue »Wissenschaft vom Men148 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken

schen«, da sie den Blick »sub specie aeternitatis« (Durkheim 1994, 583) einnimmt, statt sub specie durationis: Stets müsse man – um den ›Menschen zu erklären‹ – das »Veränderliche dem Unveränderlichen«, das »Individuelle dem Sozialen« unterordnen (Durkheim 1994, 587). Insofern die bergsonsche Philosophie nun das Projekt ist, die Veränderung, das Anders-Werden als ontologisch grundlegend anzunehmen; die Identitäts- oder Repräsentationsphilosophie oder Substanzontologie durch eine Philosophie der Differenzierung zu ersetzen – insofern bewegen sich Durkheim und Bergson in genau umgekehrt symmetrische Richtungen. Dasselbe gilt für die Pragmatismus-Vorlesung (Durkheim 1993 [1913/14]), die nun auch explizit auf die Kritik an der bergsonschen Philosophie hinausläuft, beginnend mit dem kritischen Blick auf den Pragmatismus, dessen Bergson-Anleihen Durkheim kennt und nennt. Die Argumentation ist dieselbe wie in Elementare Formen: Die bergsonsche Philosophie sei ein Irrationalismus, da sie kontinuierliche Veränderung als eigentliche Form der Realität darstelle, während diese doch nur deren »rudimentärste Form« (Durkheim 1993, 153) sei. Zudem denke Bergson sub specie durationis, dabei definiert sich doch – so Durkheim (1993, 159 f.) gerade das Leben nicht durch Veränderung, sondern durch »Ergebnisse«! Auch wenn dies die einzige Nennung bleibt, den Zeitgenossen ist Durkheims Hass auf Bergson nicht entgangen (vgl. Agathon 1911, u. a. 366; Delitz 2015, 74 ff.). Die Vermutung, dass das Konzept der kollektiven ›Efferveszenz‹ (Erregung) demgegenüber einen vitalistischen, und damit bergsonschen Ton hat, muss Vermutung bleiben (vgl. zu diesen Vermutungen Delitz 2015, 66–70). Zwar steht das Konzept Bergson nahe, sofern dieser in seiner – indes zwanzig Jahre späteren – soziologischen Theorie die Konstitution von Kollektiven in affektiven, überzeugenden sozialen Ideen betont. Insgesamt widersprechen aber nicht nur der Rationalismus Durkheims, sondern auch die Spezifik des bergsonschen Begriffes élan vital der Annahme einer allzu großen Nähe (s. u.). Durkheim ist nicht von seiner Schule zu trennen. Von ihnen hat sich (neben Hubert) insbesondere Maurice Halbwachs permanent von Bergson abgestoßen. Halbwachs, der zunächst bei diesem, dann bei Durkheim studiert hatte, hat die gesamte Theorie des kollektiven Gedächtnisses als Gegenkonzept zur bergsonschen (›subjektivistischen‹) Gedächtnistheorie entfaltet, was er auch deutlich macht. Die soziologische Theorie des Gedächtnisses, die ab 1925 entsteht, behauptet dabei stets das kollektive Apriori des Gedächtnisses. Jede 149 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Heike Delitz

individuelle Erinnerung ist an das Kollektiv gebunden; eine Philosophie des Gedächtnisses ist daher verfehlt (und jedes Kollektiv braucht eine gemeinsame Erinnerung, ein kollektiv geteiltes Gedächtnis). Der Halbwachs-Herausgeber Gérard Namer sieht Halbwachs insgesamt damit beschäftigt, »Bergson so zu bearbeiten, dass er ihn auf Nichts reduziert« (Namer 1997, 261, vgl. Delitz 2015, 93– 103). Auch Marcel Mauss pflegt Bergson-Aversionen. Er schreibt Bergson eine anti-intellektualistische und Technik-feindliche Philosophie zu. Auch wenn er zuweilen dessen Errungenschaften würdigt (die Kritik der Assoziationspsychologie), so versteht er diesen Autor als Gegenautor, und letztlich als gefährlichen Irrationalisten. Bergson begrenze »die Tatsachen, die die Soziologen studieren, auf den Bereich des ›Geschlossenen‹, Gefrorenen und reserviert der Psychologie, Philosophie und selbst der Philosophie der Mystik die Erkenntnis dessen zu, was in Moral und Religion ›offen‹, vital, wirklich psychisch und schöpferisch ist. Die Tradition der schlicht literarischen Betrachtung der faits sociaux hat die Gunst des französischen Publikums nie verloren.« (Mauss 1969 [1933], 436)

Andere Durkheimianer (wie Robert Hertz) und Durkheim-Nahe (wie Lucien Lévy-Bruhl) zeigen punktuelle Annäherungen an die bergsonsche Denkweise. Insgesamt aber scheint die Aversion konstitutiv. So hat etwa auch Celestin Bouglé in seiner 1935 erschienenen Bilanz der französischen Soziologie Bergson als psychologistischen Gegner Durkheims wahrgenommen, auf der Suche nach dem ›Strom des inneren Lebens‹ – weit entfernt, sich einer Tatsachenwissenschaft zu nähern. Mit dieser Bergson-Lektüre stand (und steht) die Durkheim-Schule keineswegs allein.

2.

Zwischenschritt: Der Bruch mit Bergson und die Neulektüren

Im Kontext der späten 1920er nimmt die französische Philosophie eine zunehmend feindselige Haltung gegenüber Bergson ein, nachdem sie bereits zu Beginn skeptisch war, Bergson aber dann zunehmend etabliert schien, als Professor am Collège de France und Mitglied der Académie française. Seitens einer jungen, marxistisch affizierten Generation vollzog sich nun – zeitgleich zur Verleihung des Nobelpreises – eine radikale Abkehr. In Georges Politzers unter 150 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken

einem Pseudonym erschienenen La fin d’une parade philosophique: le bergsonisme (1929) gilt Bergson als Avatar der Bourgeoisie, seine Philosophie als schlechte Wiederholung der Tradition, der Bergsonismus als ›tot‹, und mehr noch: »Wenn es einen Denker gab, für den wir in dieser Zeit ohne zu zögern unsere Verachtung bekannten, war es Bergson. Dieses gebrechliche und formlose Denken, diese PseudoKonzepte ohne Konturen, diese Theorie der Fluidität und Kontinuität, diese Ausweitung der reinen Innerlichkeit machten uns physisch krank« (Lefebvre 1959, 383). Es ist Bergsons Publikumserfolg Bergsons, der den Hass auf ihn erklärt – es ist die Dominanz der bergsonschen Philosophie. In Folge dessen, sich abstoßend hat sich eine ganze Generation von Philosophen, unter ihnen Bachelard, Sartre, Paul Nizan und der frühe Canguilhem der deutschen Philosophie, den ›drei H‹ (Hegel, Husserl, Heidegger) zugewandt (vgl. Descombes 1981). Dieser Bruch mit Bergson wiederum motivierte ab den 1940ern neue Lektüren, neue Perspektiven auf eine Denkweise, die nun als ungewöhnlich, als innovativ, als wirklich etwas Neues empfunden wurde: 1946 lässt Jean Wahl sein Tableau der französischen Philosophie in Bergson münden, dessen Nähe zu Descartes betonend, die jeder andere französische Philosoph vehement bestritten hätte – nämlich »die Klarheit seines Stils und […] die Eindringlichkeit seiner Analysen« (Wahl 1948, 164). Jean Hyppolite erklärt 1949, man habe die »Originalität und Kraft« des bergsonschen Denkens bislang »wirklich verkannt« (1971b, 490) – weder handele es sich um einen Irrationalismus (denn nichts »ist luzider als eine Untersuchung Bergsons«); noch um einen Anti-Intellektualismus (sicher, die »Kritik der Intelligenz befindet sich im Zentrum des Bergsonismus, aber nicht als negative Kritik […], sondern als Anstrengung, damit die Intelligenz sich selbst übersteigt«, 1971b, 491); noch ist Bergson ein Intuitionist und Psychologist, der sich nur auf das ›innere‹ Leben beziehe. Vielmehr: Bergson ist gar kein Denker des Menschen, sondern einer des Lebens. Auch hat Hyppolite bereits auf das genealogische Konzept der ›Aktualisierung des Virtuellen‹ im Begriff élan vital aufmerksam gemacht (Hyppolite 1979a). Georges Canguilhem führt zu einer Neulektüre der bergsonschen Philosophie, indem er mit diesem einen Neuen Vitalismus denkt, einen Vitalismus, der sich nicht durch Spekulation, sondern durch Vollständigkeit auszeichnet – dadurch, das Leben als Objekt und Subjekt zu denken. Nur ein solches vereint Intellekt und Leben; nur ein solches wird dem »permanenten An151 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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spruch des Lebens selbst« gerecht (Canguilhem 2009, 25). Maurice Merleau-Pontys Antrittsvorlesung am Collège de France (MerleauPonty 1973) ist über weite Strecken ein Lob Bergsons, bei diesem die Privilegierung des Werdens, der Veränderung als zentral verstehend. Schließlich erscheinen ab 1956 die Bergson-Texte von Gilles Deleuze (v. a. Deleuze 1989, 2003a, 2003b, 2008): Seither ist die bergsonsche Philosophie als eine der Differenz und der Immanenz lesbar; als Philosophie, die die gewohnten Dualitäten des Denkens verlässt und Menschen wie Dingen eine »neue Aufteilung« verleiht (Deleuze 2003a, 28). Deleuze rehabilitiert ebenso den Begriff der Intuition, indem er präzise Schritte einer ›Methode‹ erkennt – einer Methode, die darauf zielt, alle philosophischen Probleme in Begriffen der Zeit statt des Raumes zu stellen; und er reformuliert das Konzept des élan vital als genealogisches Konzept der ›Aktualisierung des Virtuellen‹. In Folge dieser Neulektüren gibt es seit zwei Jahrzehnten eine BergsonRenaissance inklusive einer neuen Werkausgabe; der Annales bergsoniennes; einer neuen Reflexion auf Bergsons Vokabular (Worms 2002); und einer neuen, auf Bergsons Rezeption konzentrierten Philosophiegeschichtsschreibung (Bianco 2015).

3.

Bergson: Philosophie der Differenz, Philosophie der Immanenz, Neuer Vitalismus

»Ein Philosoph, der dieses Namens würdig ist, hat im Grunde nur immer eine einzige Sache im Auge gehabt« (Bergson 1948a, 131).

Mit diesen Lektüren sind wir im Werk von Bergson selbst. Unter ›Bergsons Philosophie‹ versteht die französische Bergson-Forschung seither (wenn auch sicher nicht unumstritten) eine Position, die die identitätslogische Tradition ersetzt, die das Werden an die Stelle des Seins oder der Identität setzt. Dabei muss man genau genommen nicht von einer Philosophie der Differenz, sondern der Different/ciation (Deleuze 2003c, 143; vgl. Delitz 2015, 339 ff.) oder Differentiation sprechen: Differenz meint hier keine räumliche Metapher (Umwelt/System), auch keine negative Bewegung, sondern eine positive, die Veränderung als ontologisch grundlegend begreift. In allen ontologischen Bereichen ist das ständige, unvorhersehbare, irreversible Anders-Werden zum Ausgangspunkt zu nehmen, von ihm aus sind die philosophischen (und soziologischen) Probleme zu stellen. Retro152 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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spektiv lassen sich dabei unterschiedliche Rhythmen des Werdens, und Differenzierungen erkennen. So sind etwa alle Lebewesen singuläre Individuationen oder Aktualisierungen des élan vital, aber dieser bekundet sich in ihnen noch als Ganzer – insofern Pflanzen und Tiere aufeinander verweisen, da sie entgegengesetzte, differenzierte Lebensformen darstellen. Bergson befasst sich in jedem Buch dabei mit einem ontologischen Bereich respektive einer Wissenschaft, um deren identitätsphilosophische Erblast aufzudecken und die neue, temporale Perspektive einzuführen – mit der Psychologie, Biologie, Physik, Ethnologie/Soziologie. Seit der Dissertation (Zeit und Freiheit. Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, Bergson 1994 [1889]) kreist er dabei um diese eine Grundidee des Unterschiedes von Raum und Zeit, oder Quantität und Qualität/Intensität. Das ist das Argument, das zunächst am Beispiel des Psychischen durchgeführt wird, und sukzessive auf die anderen ontologischen Bereiche erweitert wird. Bisher denke man Ideen, Wahrnehmungen, Vorstellungen als Teilbares, Assoziatives, in der Art räumlich verteilter Elemente. Dabei gehen Kognitionen kontinuierlich ineinander über und werden andere, sind Intensitäten, die temporal und nicht räumlich zu denken sind. Dazu braucht man indes einen richtigen Begriff der Zeit, einen, der die ständige Veränderung, Kontinuität, nicht Diskontinuität zu denken erlaubt – Werden; einen Begriff, der die Zeit nicht zur vierten Dimension des Raumes macht, nicht zum quasi-räumlichen Medium, in dem Ereignisse ablaufen – einen Begriff, der die Zeit nicht verräumlicht, einteilt, sie aus aneinandergereihten Zuständen denkt. Die Leitidee also ist, die spatialisierte Zeit (temps) von der ›wirklichen‹ Zeit (durée) zu unterscheiden, permanenter Veränderung, Anderswerden. Ziel ist dabei letztlich eine Philosophie der Freiheit: Nur wenn man das Neue, Unvorhersehbares zu denken fähig ist, ist die freie Handlung begriffen. Bereits in dieser kritischen und positiven Argumentation erkennt man Bergsons »Methode«, die er mit dem missverständlichen Begriff Intuition belegt, mit ihren Schritten: Wesens- und Graddifferenzen richtig zu verteilen; aus falschen Verteilungen falsche Probleme zu identifizieren; und die philosophischen Probleme vorrangig unter dem Aspekt der Zeit zu stellen. Das Eigentümliche der Methode ist, daß sie zunächst (negativ) falsche Verständnisse und Fragen »problematisiert« und die philosophischen Fragen dann (positiv) »verzeitlicht« (Deleuze 1989, 51). Aus dieser Methode und ihrer Privilegierung des Werdens folgt 153 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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werkbiografisch zunächst eine neue Ontologie und Epistemologie – anstelle des Cartesianismus. In Materie und Gedächtnis (1991 [1896]) entfaltet Bergson eine andere Vorstellung des Zusammenhangs (und Unterschieds) von Körper und Geist, ›Materie‹ und ›Gedächtnis‹. Beide stehen sich nicht als unausgedehnt vs. ausgedehnt gegenüber, sie unterscheiden sich graduell, bezeichnen verschiedene Spannungen oder Intensitäten des Bewusstseins in der ›Aufmerksamkeit auf das Leben‹ (die Handlung) und gehören einem ontologischen Bereich an. In diesem Immanenzdenken rücken bisher so strikt getrennte Begriffe wie Körper, Materie, Bild, Wahrnehmung und Empfindung zusammen – die Wahrnehmung ist keine rein spekulative Betrachtung der Welt, vielmehr wählt sie Bilder der Materie aus in Hinsicht auf eine Aktivität. Kurz, Bilder sind Teil der Aktivität des Körpers, und Bewusstsein und Materie, Handlung und Gedächtnis sind in Kontinuität (Immanenz) zu denken, auf einer Linie, auf der sie sich durch die Intensität der Aufmerksamkeit unterscheiden, die die Gegenwart einnimmt. In der Handlung ist die Wahrnehmung ganz auf die Gegenwart konzentriert (auf die Affektion der Materie); in der Erinnerung ist die Aufmerksamkeit entspannter. Die ›Welt‹ ist dann nichts Transzendentes – vielmehr das Korrelat eines spezifischen Organismus mit seiner Weise, affiziert zu werden und selbst zu affizieren. Die Forderung, die philosophischen Fragen in Bezug auf die Zeit zu stellen, gilt nun insbesondere für das Lebendige: Denn was kennzeichnet das Leben, wenn nicht Unvorhersehbarkeit, Kreativität, Neues? Vor allem hier ist die dominante Auffassung der Zeit verfehlt. Für die Evolutionstheorie Spencers wie für jede andere (mechanistische oder finalistische) Evolutionsbiologie zeigt Bergson (2013 [1907], Kap. 1) zunächst, dass sie implizit die Evolution bereits ›als gegeben‹ annimmt, und daher gar keine Entwicklung – kein Leben – kennt. In diesem Zusammenhang taucht der Begriff élan vital auf. Offensichtlich können wir zwar das Leben klassifizieren, in Gattungen, Arten; aber dies allein retrospektiv. In der Rückschau zeigen sich differente Linien. Das Leben selbst hingegen ist ein ungeteilter Akt, der sich permanent in Individuen aktualisiert, die durch die bloße Tatsache des Wachstums auseinandertreten. Nur zusammen machen sie das Leben verstehbar. Und sie sind nicht »Stufen einer und derselben« Entwicklung, sondern sie entfalten sich – reagierend auf den Widerstand der Materie – vielmehr in entgegengesetzte Richtungen (Bergson 2013, Kap. 2). Stets handelt es sich bei einer Lebensform dabei um ein untrennbares Gefüge von Bewegung und Bewusstsein 154 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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(entlang dessen, was bereits Materie und Gedächtnis beinhaltet) – die Körper haben je ›ihre‹ Wahrnehmungen und Affektionen, kognitive Aktivitäten und Grade des Bewusstseins im Sinne der Handlungswahl, des Aufbrechens des Reiz-Reaktions-Kreises. Pflanze, Tier, Mensch divergieren demzufolge in der Geschwindigkeit und Steuerbarkeit der Bewegungen und damit in der Intensität des Bewusstseins: Der Immobilität aufgrund der direkten Sonnenanzapfung entspricht die kognitive Inaktivität der Pflanze; der instinktiv gebundenen Bewegung die begrenzte kognitive Aktivität des Tieres; der Erfindung neuer Energiequellen und Mobilitäten die Erfindung immer neuer Gefühle und Gedanken im Menschen. Das Aussetzen der direkten Verbindung von Reiz und Reaktion, die Wahlfreiheit der Handlungen, Gefühle und Gedanken – es »ist diese Freiheit, die die menschliche Form in sich aufnimmt« (Bergson 2013, 301). In all diesen Lebensformen bekundet sich dieselbe, permanent wirkende Realität, ständiges Werden. Das Leben ist zwar nur in den Individuen aktuell, es ist aber gleichwohl mehr als diese. Präzise an dieser Stelle greift das Konzept des élan vital (vgl. Deleuze 2008, 118 f.) als Konzept für das ›Virtuelle‹, die positive, Neues schaffende Bewegung des Lebens insgesamt – von der nur aktuelle Individuationen greifbar sind. Im Gegensatz zur selektiven Realisierung von Möglichkeiten stellt die Aktualisierung des Lebens eine positive Neuerfindung von Differenzierungslinien dar, wobei das Leben oder der élan vital oder das Virtuelle bereits in sich differenziert ist: Das Leben teilt sich – so Bergson – entlang der Struktur der anorganischen Materie, auf die es zugreift, und es differenziert sich daher fortlaufend. Daher schlägt Bergson vor, das Leben als »Tendenz« zu beschreiben, und das heißt als etwas, dessen Aktualisierung sich in Form einer »Garbe«, in der Bifurkation oder Zweiteilung ereignet (Bergson 2013, 35, 120 f.). In dieser Lebenstheorie ist das Hauptthema mithin die Differenzierung der Lebensformen. Dies gilt für die bergsonsche Philosophie insgesamt. Insofern Bergson erstens das Werden als grundlegend versteht (und nicht das Sein), und zweitens dieses Werden als Zweiteilung nachvollzieht (und nicht als Identität), ist die Bergsonsche Philosophie eine ›allgemeine Philosophie der Differenz‹ – in der die Differenz nicht statisch, sondern dynamisch ist. Das hat ontologische und epistemologische Konsequenzen, oder vielmehr, dies setzt eine bestimmte Ontologie und Epistemologie voraus. Bergson entwickelt sie direkt im Anschluss an die Theorie der differenten Lebensformen, und zwar 155 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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in seiner berühmten Kritik negativer Begriffe (Bergson 2013, 309 ff.; 1948b, 117 ff.). Dieser Kritik zufolge sind die bisherigen Grundfragen der Philosophie (u. a.: Warum ist etwas und nicht nichts? Und: Warum ist Ordnung, und nicht Unordnung?) schlecht gestellt, da sie sich einer identitätslogischen Denkweise verdanken. Sie implizieren ein Denken in Zuständen, die Privilegierung des Seins vor dem Werden, und setzen einen Dualismus voraus: zwei Zustände (Ordnung vs. Unordnung), von denen der eine (Unordnung) rein negativ definiert wird. Dabei enthält der negative Begriff bereits all das, und ›mehr‹, als der positive: Das ›Nichts‹ enthält nicht ›weniger‹ als das ›Sein‹, sondern mehr, nämlich das ›Sein‹ plus den Akt der Verneinung. Das Nichts ist nicht nur nicht real; es ist nicht einmal konsistent denkbar. Ebenso verhält es sich mit der Ordnung/Unordnung: Real ist nie die Unordnung, sondern immer andere Ordnungen, die sich zudem stetig verändern, andere werden. Auch der Begriff der Unordnung enthält ›mehr‹, und nicht weniger als der positive Begriff (die Ordnung). Dieselbe Kritik gilt schließlich dem Begriffspaar des Möglichen/ Wirklichen. Das Mögliche stellt man sich – so Bergson – als latent Wirkliches vor, als etwas, das sich nur noch verwirklichen müsste, dem nur noch die Existenz fehlt. Das Wirkliche ist aber nicht bloße Verwirklichung eines bereits existenten Möglichen – sondern etwas, das ständig Neues, neue Möglichkeiten schafft! Die bergsonsche Kritik negativer Begriffe macht insgesamt den Weg frei, um das Werden nicht mehr als sekundär zu denken, um die Identitätslogik (Denken in Zuständen, z. B. Sein/Nichts) durch ein Denken der Differenz zu ersetzen: im Sinne der Differenzierung (Anders-Werden). In Die beiden Quellen der Moral und der Religion hat Bergson 1932 diese Denkweise weiter ausgebaut, indem er nun daraus die gesellschaftstheoretischen Konsequenzen zieht. Erneut geht es um die ständige Veränderung des (menschlichen) Lebens, und deren Unvorhersehbarkeit; erneut geht es auch um die Feststellung von ›Tendenzen‹ im Sinne von Zweiteilungen oder Bifurkationen, nun im Blick auf das soziale Leben. Zunächst erscheinen dann Gesellschaften oder Kollektive als gegenläufige Stillstellungen, als Fixierungen der ständigen Veränderung, der sie unterlegen: Kollektive integrieren sich via Tradition und Dogmen, sich gegen individuelle Abweichungen immunisierend, und zwar mittels der Fabulation, der schöpferischen Einbildungskraft. Auf der anderen Seite beschreibt Bergson die Emergenz neuer Kollektive in der Übernahme neuer individueller Ideen, die sich dabei auf dieselbe Fähigkeit der Imagination oder Fabulation 156 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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stützen. Mit anderen Worten: Bergson beschreibt, Durkheim absichtsvoll ergänzend, eine doppelte Bewegung zwischen der sich schließenden und der sich öffnenden Gesellschaft. Jedes Kollektiv muss sich seine Veränderung verleugnen, eine kollektive Identität schaffen (natura naturata); jedes basiert aber auf dem »Vitalen« (Bergson 1992, 93), unterliegt der natura naturans. »Wenn wir von der sozialen Solidarität [geschlossenen Gesellschaft] zur menschlichen Brüderlichkeit [offenen Gesellschaft] fortschreiten, dann brechen wir […] mit einer gewissen Natur, nicht aber mit der ganzen Natur. Man könnte sagen, […] wir lösten uns von der natura naturata, um zur natura naturans zurückzukehren. Zwischen der ersten und der zweiten Ethik liegt also die ganze Kluft zwischen Ruhe und Bewegung.« (Bergson 1992, 46)

Die Kluft zwischen Ruhe und Bewegung – das ist das Verhältnis des Grundes (natura naturans, Veränderung) und imaginärer Fixierungen oder Fabulationen von Kollektiven (natura naturata, imaginäre Institution). Immer erneut können soziale Ideen zu neuen Institutionen und Gesellschaften führen. Die »Tür wird immer offen bleiben für neue Schöpfungen« (Bergson 1992, 60) – die indes einer erneuten Schließung bedürfen, sollen sie kollektiv erfolgreich sein. Für Bergson stehen Kollektive mithin einerseits vor der Aufgabe, sich gegenüber dem eigenen Anders-Werden zu stabilisieren, sich imaginär zu fixieren (das ist es, was ihm zufolge Durkheim allein beschreibt). Auf der anderen Seite kann sich stets eine neue, Andere affizierende Imagination oder Fabulation ereignen. Und was in beiden Fällen erklärt werden muss, ist »stets der Aufenthalt und nicht die Bewegung« (Bergson 1992, 243) – die Veränderung ist vorliegend, real, während der Aufenthalt, die kollektive Identität, voraussetzungsvoll und imaginär ist. Gesellschaftsanalytisch schlägt Bergson sodann vor, von einer ›Pendelbewegung‹ (Bergson 1992, 227) auszugehen, einander entgegengesetzte Problemlösungen zu studieren – sei es menschliche gegenüber tierischen ›Gesellschaften‹, oder sei es (innerhalb der menschlichen Kollektive) asketische versus konsumistische Gesellschaften, die ebenso aufeinander verweisen wie Pflanze und Tier in Schöpferische Evolution – als differente Aktualisierungen eines selben sozialen Lebens, das in ständiger Veränderung besteht.

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4.

Positive Effekte: Übernahmen dieser Philosophie in Konzepte des Sozialen

Nun ist es möglich, nach Übernahmen der bergsonschen Denkweise in – französischen – soziologischen Konzeptionen zu suchen. Zunächst ist ein bergsonsches Denken dort zu vermuten, wo eine spezifische Kritik an identitätslogischen Konzepten geübt wird, nämlich als solchen, die das Sein privilegieren; und als solchen, die negative Begriffe verwenden. Namentlich eine spezifische, strukturalistische Kritik an ethnozentrischen Konzeptionen fällt hier auf: die Kritik an negativen Begriffen, die dazu führen, andere Gesellschaftsformen als behaftet mit einem Mangel zu beschreiben – als solche, die etwas ›noch nicht‹ haben, was ›wir‹ aufweisen, Konzepte, die nur eine einzige Linie der Entwicklung zu denken erlauben. Darüber hinaus finden sich die Übernahmen der bergsonschen Philosophie dort, wo immanenzontologische Konzepte des Sozialen entfaltet werden – die die Artefakte mit ihrer Materialität und die Körper mit ihren Potentialen einbeziehen. Schließlich enthalten Theorien, welche emergente Akte des Sozialen, Erfindungen von Institutionen und Gesellschaften denken, ein Bergson-Erbe – umso mehr, als sie dabei auf das Leben als Subjekt, als Träger des Sozialen verweisen. Schließlich sind die Übernahmen daran erkennbar, dass ›Gesellschaft‹ als etwas erscheint, das sich gegenläufig zum Werden entfaltet – als Antwort auf das Problem der ständigen Veränderung aller socii. Die ›Bergsonianer‹ des soziologischen Denkens teilen – mit unterschiedlichen Schwerpunkten – eine spezifische Gesellschaftstheorie; eine Sozialtheorie; eine spezifische Methode der Gesellschaftsanalyse; und eine bestimmte erkenntnistheoretische, epistemologische Haltung. Dabei haben sich die Autoren nur selten explizit und positiv auf Bergson bezogen, zuweilen haben sie sich demonstrativ von ihm entfernt. Worin besteht der Korpus bergsonianischer soziologischer Theorien? Zu nennen sind das Frühwerk von André Leroi-Gourhan (Évolution et techniques, 1943/1945); Gilbert Simondons Die Existenzweise technischer Objekte (2012 [1958]) sowie dessen zwei Individuationsbücher (L’individu et sa genèse physico-biologique, 1964; L’individuation psychique et collective, 2007a); bei Georges Canguilhem die Gesellschaftstheorie in der neuen Fassung von Das Normale und das Pathologische (1977 [1966]), in Das neue Wissen des Lebens (2009 [1952]), sowie in Das Problem der Regulation im Organismus und in der Gesellschaft (2013 [1955]); bei Deleuze die gesell158 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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schaftsanalytischen Kapitel in Tausend Plateaus (1992 [1980]); und von Castoriadis das Hauptwerk (Gesellschaft als imaginäre Institution, 1984 [1975]). Auch auf Claude Lévi-Strauss fällt ein neues Licht, da sich diese Soziologie letztlich – ›lebenssoziologisch‹ – um zwei Phänomene dreht, um die sozialen Formungen des Lebens, und um die gesellschaftliche Stillstellung des Werdens (Delitz 2015, 370– 384). Im Übrigen stimmt er in Das Ende des Totemismus ein Loblied auf Bergson an, in ihm den Grundgedanken der strukturalistischen Soziologie entdeckend. Gesellschaften drücken sich nicht lediglich in Symbolen aus, wie Durkheim noch schrieb, sondern sie konstituieren sich symbolisch (Lévi-Strauss 1965, 121 f.). Auch teilt Lévi-Strauss mit Bergson – und mit ihm Pierre Clastres, Cornelius Castoriadis, Marcel Gauchet und Claude Lefort – eine spezielle Methode der Gesellschaftsanalyse, nämlich den kontrastiven Vergleich von Gesellschaften vor dem Hintergrund ihrer durchgängigen Positivität, der bergsonschen Kritik an negativen Begriffen und seiner Differenztheorie folgend. Darüber hinaus haben auch Maurice Hauriou und Georges Bataille, Maurice Pradines, Jean Przyluski oder Eugene Dupréel ›ihren‹ Bergson. Aber sie stützen sich selektiv je auf eine Idee, ein Konzept, statt die bergsonsche Denkweise insgesamt zu übertragen. Schließlich gibt es Autoren, die ausdrücklich an Bergson anschließen, ohne indes bergsonianisch zu denken, da sie in ihm vornehmlich eine Phänomenologie suchen (wie Georges Gurvitch). 1) Gesellschaftstheorie: Was ist eine ›Gesellschaft‹ ? (Das Instituierte und das Neue) Wenn es zum Bergsonismus gehört, ontologisch das Werden an Stelle des Seins zu privilegieren, dann liegt ein erster positiver Bergson-Effekt im soziologischen Denken in all jenen Theorien, die das Soziale, und noch genauer: das Sozietale oder Gesellschaftliche als Lösung des Problems des ständigen Werdens verstehen. Gesellschaften und in ihnen die Institutionen sind Abwehren der Veränderung, in ihnen verleugnet sich das Kollektiv – notwendig zu seiner Existenz – die ständige, unvorhersehbare Veränderung. Das ist das Thema von Castoriadis, Deleuze, Clastres, Leroi-Gourhan, und man kann es selbst als ein Leitthema von Lévi-Strauss erkennen, wenn er mit den totemistischen Kulturen solche beschreibt, deren kollektives Unbewusstes in der Negierung der Geschichte, der Veränderung besteht – als Gesellschaften, die eine ahistorische Ordnung in die Welt der Wahrnehmung wie des Sozialen einführen. Ein Kollektiv kann sich als solches nicht vorstellen, dass es anders würde; zur 159 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Integration der Einzelnen braucht es eine wiedererkennbare (materielle und ideelle) Gestalt. Keine Gesellschaft kann sich vorstellen, einmal ganz anders gewesen zu sein oder es zu werden; eine jede ist – so hat es insbesondere Castoriadis formuliert – eine imaginäre Institution – eine (mittels institutioneller und kultureller Mechanismen erzeugte) Verleugnung des ständigen Werdens. Diese Erzeugung einer kollektiven Identität erstreckt sich auch in die Vergangenheit und Zukunft hinein – jede Gesellschaft gibt sich eine Geschichte und ein Projekt, eine Aufgabe, einen Zukunftsentwurf. Diese Imagination ist dabei eine radikale Schöpfung, etwas, das »nicht schon […] im Seienden bereits vorhanden war«, das »nicht bloße Aktualisierung eines vorherbestimmten Potentiellen« (Castoriadis 1984, 323). Jede Gesellschaft ist vielmehr Auftauchen von neuen Formen«, »immanente Schöpfung, nicht-triviale Neuheit«. Dabei ist es je die Institution, der Zustand, die Identität – die »instituierte Gesellschaft« –, die erklärt werden muss, während die Veränderung, die »instituierende Gesellschaft« real ist, grundlegend (Castoriadis 1984, 342 f.). Ständiger Veränderung unterliegen die menschlichen Einzelnen mit ihren vitalen Körpern (»Psyche-Soma«), ihren Affekten, Wahrnehmungen und Ideen, die dazu führen können, dass ein neues ›Volk-Werden‹ stattfindet (vgl. mit Bezug auf Bergson-Deleuze: Seyfert 2011, 52 ff.). Insofern die bergsonsche Denkweise das Werden als grundlegend ansetzt, könnte man einen der Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken also in der Einführung von Theorien sozialer Erfindungen, der produktiven Kreativität im Sozialen sehen – und ihrer symbolisch-materiellen Instituierung. Die Konzepte kennzeichnen sich dadurch, dass sie das Neue in die Gesellschaftstheorie einbringen, sich dafür interessieren, was im Gesellschaftlichen je produktiv, initiativ ist, an welchen Stellen Neues auftritt – ebenso aber auch dafür, wie die ständige Veränderung imaginativ abgewehrt wird. Sie verstehen das Wesen der Institution (Fixierung) einer Gesellschaft in einer neuen, affektiven Leitidee, in der Fabulation oder Imagination – in der Fähigkeit, in etwas etwas anderes zu sehen, etwas produktiv hervorzubringen. Bei Gilbert Simondon heißt es programmatisch, den ontologischen Ausgang vom Werden statt vom Sein reformulierend: »Das Werden ist eine Dimension des Seins, nicht das, was ihm in einer Aufeinanderfolge widerfährt, die ein anfänglich gegebenes und substantielles Sein erleidet. Die Individuation muß als das Werden des Seins aufgefaßt

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Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken

werden, und nicht als Modell des Seins, das die Bedeutung des Seins erschöpfen würde. […] Anstatt die Individuation vom individuierten Sein her zu erfassen, muß man das individuierte Sein von der Individuation her begreifen« (Simondon 2007b, 39).

Wegen der ständigen Individuation (Veränderung) mag – so Simondon weiter – eine durkheimsche »soziale Morphologie« wichtig sein. Viel zentraler sei aber eine soziale »Humanenergetik«. Man müsse sich in der Soziologie endlich einmal fragen, »warum sich die Gesellschaften ändern«, wie es zu Situationen kommt, in denen ein »Ereignis kurz davor steht, sich zu vollziehen, wo eine Struktur kurz davor steht, hervorzubrechen« (Simondon 2007a, 63, Übersetzung HD). In diesem Sinne interessieren sich auch, in großer Nähe zu Castoriadis, auch solch ›postfundamentalistische‹ Autoren (Marchart 2013) wie Claude Lefort (1999 [1981]) und Marcel Gauchet (1985; 1992 [1977]) für die kontrafaktische Imagination eines stillstehenden, tragenden gesellschaftlichen ›Grundes‹ – und für jene Momente, an denen dieser Grund auf entscheidende Weise neu imaginiert worden ist, nämlich im Umbruch von religiösen zu politischen Gesellschaften. Das weist vor auf die spezifisch vergleichende Methode dieser Gesellschaftstheorie und -analyse. 2) Sozialtheorie (Bestimmung des ›Sozius‹ zwischen Menschen und Nichtmenschen): Auch die Artefakte, auch die anorganische Materie haben ein ›Werden‹. Die technische Evolution ist unvorhersehbar, die Artefakte haben eine Eigendynamik aufgrund der molekularen Potentiale, in die der Techniker sich hineinzuversetzen hat. Auch sie bringen Neues in ein Kollektiv ein, führen zur Emergenz neuer Kollektive, insofern sich der Techniker ganz auf ihr Werden einlässt, er die Materie, auf die er einwirkt, »liebt«; wobei sie »an seiner Seite« ist – »sie ist initiativ«. Der Techniker ist ein Mensch, den die materielle Welt »akzeptiert, […] dem sie mit der Treuheit des Tieres gehorcht, das seinen Meister anerkennt. Das Geschick ist eine der Formen der Kraft, und die Kraft setzt eine Verzauberung voraus, […] einen Modus der einfachsten Partizipation.« (Simondon 2012, 84 f.) Simondon vorhergreifend, entfaltet bereits der frühe André Leroi-Gourhan eine ähnliche Theorie der evolutiven Tendenzen der Materie und der Analyse dessen, wie Kollektive mit technischen Erfindungen umgehen – mit dem Werden der Materie. Er unterscheidet Erfindung, Entlehnung, Abwehr als Modi der »Durchlässigkeit« von Gesellschaften 161 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Heike Delitz

für artifizielle Innovationen, wobei er ausdrücklich bergsonsche Begriffe nutzt (élan bergsonien der Materie, »Tendenz« der Materie, die zu differenten Aktualisierungen führt: Leroi-Gourhan 1945, 357 ff.). Gilles Deleuze hat sich – für die Sozialtheorie der ›Gefüge‹ (agencement) – zutiefst für diese Autoren interessiert, ihre Konzepte im Begriff des »Nomos« des Materials aufnehmend und für Gesellschaftsanalysen fruchtbar machend. Diese bergsonschen Konzepte bringen das »Eigenleben der Materie an den Tag, eine Vitalität der Materie als solcher, einen materiellen Vitalismus« (Deleuze/Guattari 1992, 568). Ein damit angesprochener Aspekt dieses spezifisch französischen soziologischen Denkens geht von Bergsons Philosophie der Immanenz aus, wie sie in Materie und Gedächtnis vorliegt. Diese Abhandlung, die eine andere Sortierung der Differenzen von Körper und Denken, Erinnerung und Handlung vorschlägt, als sie nicht nur in soziologischen Theorien bislang üblich war und ist (die skizzierte graduelle Differenzierung zwischen Bild und Materie, Erinnerung und Handlung, je nach der Intensität der ›Aufmerksamkeit auf das Leben‹) geht in die soziologische Theorie als sozialtheoretische Bestimmung der Elemente ein, die zur Konstitution der Gesellschaft beitragen. Artefakte sind für diese Autoren (weit vor Bruno Latour) sozial aktiv, sie bilden mit den menschlichen Akteuren untrennbare »Ensembles« (Simondon 2012) oder »Gefüge« (Deleuze/Guattari 1992). Es ist nicht allein der Arbeiter, der dem Ton seine Form aufdrückt, sondern es »ist das von Form und Ton gebildete System, das Bedingung der Formwerdung ist; es ist der Ton, der gemäß der Ziegelform Form annimmt« (Simondon 2012, 224 f.). Dasselbe gilt für die menschlichen Körper. Auch sie haben eigene Potentiale und Dynamiken, affektive Tendenzen und Mechanismen der Spannung zwischen Erinnerung und Handlung, die in die Kollektive eingehen und von diesen berücksichtigt werden müssen. Die ›Gefüge‹ sind dabei ihrerseits als kulturelle Modi verstehbar, das ständige Werden am Grund des Sozialen stillzustellen. In diesem Sinne beschreibt Deleuze das Gefüge Mensch-Pferd-Waffe und die Subjektform, die einen Nomaden auszeichnet (Deleuze/Guattari 1992, 540). In ähnlichem Sinn beschreibt Simondon ästhetische Ensembles als solche, die einer Norm unterliegen – man sähe es den Autos, Häusern, Bekleidungen um 1925 an, dass sie am Stil einer Epoche, einer Schicht, eines Volkes partizipieren (Simondon 2008, 164 ff.). Kurz, in der soziologischen Theorie kommen die Artefakte auf neue Weise in den Blick, weil eine nicht-cartesianische Sozialontologie sie – und andere Nichtmenschen 162 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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und anderes Nichtmenschliches: das Symbolische und Imaginäre – als ebenso zentral erachtet wie die menschlichen Subjekte. 3) Gesellschaftsanalyse (die Methode des kontrastiven Kulturvergleichs): Kollektive werden dann systematisch danach unterschieden, auf welche Weise, mit welchen kulturellen und institutionellen Mechanismen sie das Werden an ihrem ›Grund‹ fixieren. Dabei werden sie zugleich in Relation zueinander gedacht – als umgekehrt symmetrische Lösungen dieses Problems. Die Gesellschaftsanalyse verfährt via Kontrastvergleich, indem nun die Annahme durchgängig positiver Einrichtungen im Sozialen zentral ist. Statt negativer, evolutionistischer und eurozentrischer Konzepte; statt anzunehmen, es gäbe Kollektive ohne Staat – unsere soziale Form voraussetzend, die anderen in negativen Begriffen beschreibend –, wird davon gesprochen, dass sich diejenigen Kollektive, die keinen Staat aufweisen (oder keine Geschichte), gerade gegen ihn instituieren – sie haben ihn durchaus, lassen ihn aber nicht zu. In diesem Sinn sprechen Pierre Clastres und Deleuze von gegenstaatlichen Gesellschaften, in denen der ›Staat‹ als zentralisierende, die Einzelnen einteilende, fixierende Organisation virtuell wirklich ist, sicher aber nicht aktualisiert. Er wird mit konkreten Institutionen abgewehrt, etwa im rituellen potlatsch, oder in der nomadischen Architektur und Lebensweise. LéviStrauss spricht im selben Sinne von ›kalten‹ Gesellschaften, die sich gegen die Geschichte wehren. Diese strikt anti-evolutionistische, nicht ethnozentrische Gesellschaftsanalyse folgt der bergsonschen Kritik negativer Begriffe und wendet diese Kritik in eine Kritik der eigenen evolutionistischen Gesellschaftskonzeption: Indem wir andere Gesellschaften als solche beschreiben, die ›keinen Staat‹ haben, denen es am Staat mangelt – machen wir sie zu ›gesellschaftlichen Kindern‹ (Clastres 1976b, 179), zu »soziologische[n] Axolotl« (Clastres 1976a, 19 f.), von denen wir die Entwicklung vorhersagen können, weil es nur eine Richtung gibt. Dabei fallen wir stets ein normatives Urteil über sie. Diese Kritik folgt ebenso der Konzeption von Evolution als Differenzierung, als Zweiteilung, wobei die differenten Aktualisierungen aufeinander verwiesen bleiben. Die einen Kollektive wehren ab, was die anderen instituieren. Inwiefern also impliziert diese spezielle, die strukturale kulturvergleichende Methode der Gesellschaftsanalyse ein bergsonsches Konzept?

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»In der klassischen Metaphysik [und daher auch in Sozial- und Geisteswissenschaft] denken wir die Zeit als linear und die Geschichte als kumulativ; wir imaginieren eine aufsteigende Linie, die vom Weniger zum Mehr führt, vom Nichts zum Etwas, vom Möglichen zum Realen. Bergson denunziert ein solches Denken in seiner Kritik der Idee des Nichts als eine retrospektive Illusion. […] Nichts anderes sagt Clastres von der dominanten Vorstellung der Gesellschaften ohne Staat: Man denkt stets einen Körper, der in seinem Inneren eine reine Abwesenheit birgt.« (Prado Jr. 2004, 6, Übersetzung HD)

4) Epistemologie (Der neue Vitalismus: Das Leben als Objekt und Subjekt der Gesellschaft): Der Bergsonismus setzt das unvorhersehbare, permanente Anders-Werden als Realität, vor der sich Kollektive (und ihre Subjekte) als je momentane und notwendige Fixierung erweisen. Mit Durkheim und Foucault teilen die Autoren die These, dass die Kollektive ihre Subjekte formen, wobei sie Konzepte der zugleich ablaufenden ›kollektiv-psychischen Individuation‹ (Simondon) entwerfen – also gerade nicht die Vorgängigkeit des Kollektivs betonen (wie Durkheim). Nicht ›die Gesellschaft‹ (in Form ihrer Institutionen und Diskurse) ist die aktive Instanz. Auch ist das Individuum keine tabula rasa, ebenso wenig wie die Materie als rein passiver Stoff verstanden wird. Die Vitalität des Körpers ist vielmehr dasjenige, was stets mitzudenken bleibt – Grund des ständigen Anders-Werdens. Es ist das organische Leben, der präindividuelle, präsubjektive Körper, dessen Energien jedes Kollektiv tragen (Simondon 2007a, 193; vgl. Delitz 2015, 305 ff.); es ist das vitale Leben, das als das Subjekt des Kollektivs, der Institutionen mitgedacht werden muss. Der bergsonsche Einsatz ist so einfach wie weitreichend: Der Mensch ist ein Lebewesen, das Leben ist das, was sich zu Kollektiven formt. Nicht nur werden die Einbildungskraft und die affektive Resonanz dieses spezifischen Organismus – sein Bezug auf anorganische Körper – sozialtheoretisch mitgedacht; thematisch wird, dass noch die soziologische Theorie eine Anstrengung des Lebens selbst ist. Das Leben ist es, das sich im soziologischen Positivismus selbst zum Objekt macht. Jede positivistische Konzeption ist daher verfehlt, nicht zuletzt wegen der praktischen Folgen, die sie zeitigt. Denn die »erste Bedingung, um ein Wesen zu brutalisieren«, um ihm gegenüber in eine aggressive Haltung zu treten, ist, es als »inert« zu verstehen: »Traiter le vivant comme l’inerte est une condition implicite de l’utilisation du vivant. C’est une idée très importante que Bergson indique ici. Toute connaissance, personnalité de l’objet, légitime le mépris qu’elle en fait en

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rendant possible l’action qui déduira ou changera cet objet. La première des conditions pour brutaliser un être est de le tenir pour un brut et c’est pourquoi la haine est d’abord de valeur ou refus de valeur.« (Canguilhem 2007, 135 f.)

Canguilhems Kritik gilt einer Wissenschaft, die das Leben vergisst, sie gilt den gesellschaftlichen Folgen des (psychologischen, aber auch soziologischen) Positivismus, der den Menschen, indem er ihn von außen erkennen will, in ein Objekt, »in ein Insekt« (Canguilhem 1968, 379) verwandelt. Der Verstand aber darf sich »auf das Leben nur beziehen, wenn er die Originalität des Lebens anerkennt. Das Denken des Lebendigen muss die Idee des Lebendigen dem Leben selbst entnehmen« (Canguilhem 2009, 22). Aus dieser Perspektive ist der Mensch – nun für die soziologische Theorie gesprochen – nicht das Wesen, das zugunsten der Gesellschaft mit dem Leben bricht; Normen sind dem menschlichen Leben (und dem Leben insgesamt) immanent. Canguilhem behauptet eine »essentielle Normativität des Lebendigen« (Macherey 2009, 101). Dabei beruft er sich auf Bergson, sowohl in der Kritik am Positivismus, als auch in der Alternative, sich dem Leben gegenüber in eine »Haltung der Ehrfurcht« zu versetzen (Canguilhem 2007, 135 f., Übersetzung HD); und in der Entfaltung eines eigenen, vitalistischen Gesellschaftsbegriffes (Canguilhem 1977, 172–177; vgl. Delitz 2015, 279–284): Eine Gesellschaft sei weniger ein harmonisches Ganzes (ein ›Organismus‹), als vielmehr die ständige Suche nach der ›richtigen‹ Soziabilität. Denn man braucht »nur daran zu denken, daß in einer beliebigen Gesellschaft ein Individuum nach deren Bedürfnissen und Normen fragt und sie kritisiert […], und man begreift sehr leicht, daß ein gesellschaftliches Bedürfnis keineswegs immanent, eine gesellschaftliche Norm nicht inhärent ist und daß letztlich die Gesellschaft als der Ort gebändigter Konflikte oder latenter Antagonismen überhaupt kein Ganzes darstellt« (Canguilhem 1977, 177),

sondern eher eine ständige Unruhe, individuelle Initiativen, neue soziale Ideen, ein Anders-Werden. Daher jene Konzepte, die das Unvorhersehbare einer jeden Gesellschaft betonen; daher das Interesse an der Normativität des Lebens, das immer neue soziale Formen sucht; daher die Emphase der Freiheit: Letztlich sind die bergsonianischen Soziologien solche, die das Leben im Menschen ernst nehmen, statt es als Störquelle aus der Konzeption des Sozialen auszuschließen. Mit dieser Rehabilitierung des Vitalismus (als Denken des Lebens als Subjekt) und der Kritik negativer Begriffe (und ihrer Identi165 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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tätslogik) hängt eine letzte Gemeinsamkeit eng zusammen. Die bergsonschen Konzepte formulieren das soziologische Bezugsproblem neu. Es ist nicht das Problem sozialer Ordnung vs. Unordnung (die für die gesamte Soziologie womöglich zentrale Frage, wie soziale Ordnung eigentlich möglich ist anstelle der wahrscheinlicheren Unordnung – vgl. Luhmann 1981) – und zwar nicht nur, weil diese Frage ein Denken in Zuständen voraussetzt (Ordnung vs. Unordnung), ein Denken des Seins, nicht des Werdens ist; sondern auch, weil dieses gesellschaftstheoretische Denken implizit normativ ist. Das Bestehende wird privilegiert, Neues erscheint tendenziell als Abweichung, als negativ. An Stelle der Frage sozialer Ordnung stellt sich eher das doppelte Bezugsproblem: Wie schaffen es Kollektive imaginär, ihre faktische Veränderung stillzustellen – und an welchen Stellen ereignen sich dennoch Neuformierungen? Kurz: Im Ausgang vom Werden verschiebt sich die soziologische Aufmerksamkeit; es verteilt sich neu, was man als erklärungsbedürftig ansieht. Es ist, wie Bergson schrieb, »immer der Aufenthalt, der eine Erklärung verlangt, und nie die Bewegung« (1992, 243, s. o.). Bergsonsche Soziologien sind keine Theorien sozialen Wandels, da nicht ›etwas‹ als gegeben gedacht wird, das sich verändert. Das Werden ist grundlegend und real, und insofern handelt es sich strikt gesprochen um Theorien sozialen Werdens. Gemeinsam ist diesen Konzepten der Ausgang von ständiger, nicht kalkulierbarer Veränderung. Von daher erklärt sich die Grundfrage, was eine Gesellschaft eigentlich ›ist‹, wie ein Kollektiv sich instituiert, und welche socii und Aktivitäten dabei beteiligt sind – oder: Auf welches Problem ein Kollektiv oder eine Gesellschaft eigentlich eine Antwort ist (nämlich: ständige und unvorhersehbare Veränderung, durée). An die Stelle des Paars soziale Ordnung vs. soziale Unordnung rückt eine Kenntnisnahme gegensätzlicher sozialer Bewegungen. Gedacht werden sowohl die Fixierung als auch das Anders-Werden, die instituierte wie die instituierende Gesellschaft – es gibt immer neue soziale Erfindungen, neue Ideen, die (sofern sie affektiv sind) ein neues Kollektiv hervorbringen. Die instituierende bleibt in der instituierten Gesellschaft wirksam, das Vitale (natura naturans) in den ›geschlossenen‹, stabilisierten, fixierten Kollektiven (natura naturata). Kurz, für dieses soziologische Denken sind soziologische Ordnungstheorien letztlich verfehlt, weil sie das Werden nur negativ (als Anomie, Krise, Unordnung) oder sekundär (als Wandel) gegenüber der 166 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Bergson-Effekte im französischen soziologischen Denken

Identität eines Kollektivs konzipieren. Dabei setzt diese das Moment der Instituierung doch voraus, logisch zuerst kommt die schöpferische Imagination, die affizierende soziale Idee, erst darauf folgt der ›Druck‹, die Verpflichtung. Neben den negativen Bergson-Effekten im französischen soziologischen Denken (den Aversionen, und damit den Richtungsentscheidungen, die Durkheim und andere treffen), sind es also die positiven Bergson-Effekte, die interessant sind – weil sie ein Paradigma erzeugt haben, eine spezifische sozial- und gesellschaftstheoretische Denkweise, die sich auf die Begriffe, Konzepte und Argumente Bergsons zurückführen lässt. In vieler Hinsicht (der Einbeziehung der Körper, Affekte, Energien und Imaginationen; der Umstellung des sozialen Bezugsproblems; der Theorie positiver, produktiver Erfindungen und der Unvorhersehbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung) bildet dieses Paradigma eine Information im Spektrum der bislang verfügbaren soziologischen Theorieansätze. Alles in allem handelt es sich bei den positiven Bergson-Effekten, die sich durch verschiedene Werke hindurch verdichten, um eine differenztheoretisch und immanenztheoretisch operierende Lebenssoziologie. Von diesen gibt es nicht viele im Gesamtkonzert der soziologischen Denkweisen – neben der Philosophischen Anthropologie mit ihren ganz eigenen Theorieentscheidungen (vgl. dazu Keller 2004, Seyfert 2006, Fischer 2014, Delitz, Nungesser, Seyfert 2018).

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Stefania Achella

Was ist der Mensch? Grenzen und Freiheit in der Anthropologie von Karl Jaspers

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Die Frage nach dem Menschsein: Jaspers’ Kritik an der philosophischen Anthropologie

Die Beziehung zwischen Karl Jaspers’ Existenzphilosophie und der philosophischen Anthropologie zu verstehen, ist keine leichte Aufgabe. Obwohl beide viele Aspekte der erkenntnistheoretischen Neupositionierung teilen, die sich im 20. Jahrhundert im Nachdenken über den Menschen vollzieht, sieht Jaspers in den von ihm so genannten Wissenschaften vom Menschen das implizite Risiko, die geistige Dimension des Menschen, sein Wesen als Umgreifendes, aus dem Blick zu verlieren. Es ist daher kein Zufall, dass die Auseinandersetzung mit diesen Wissenschaften hauptsächlich in seinem historischsoziologischen Werk Die geistige Situation der Zeit aus dem Jahr 1931 stattfindet. Besorgt über die Massengesellschaft und die Auswirkung, welche die mit ihr verbundenen Formen der Emanzipation auf die Gesellschaft haben können, drückt Jaspers in dieser Schrift sein Misstrauen gegenüber den stattfindenden sozialen Veränderungen aus und verfolgt ein recht statisches und konservatives Gesellschaftsideal. 1 Soziologie, Psychologie und Anthropologie seien die wissenschaftliche Übersetzung dieser reduktiven Betrachtung des Menschen, die die phänomenalen Erscheinungen mit seinem Wesen vertauscht. Die Grenze dieser Wissenschaften liege gerade in ihrer Unfähigkeit, den Menschen in seiner authentischen Dimension zu erfassen, in seiner wesenhaften antinomischen Natur, da sie die Idee Jaspers richtet sich gegen jene Tendenzen, welche die Familie schwächen und ihre wesentliche Erziehungsrolle aufheben, und die das öffentliche und private Bewusstsein entwurzeln. »Statt das Schaudern vor Ehetrennung und polygamer Erotik und das Grauen vor Abtreibung, Homosexualität, Selbstmord […] im Ursprung zu bewahren, wird dieses alles vielmehr innerlich erleichtert«, während mit der Emanzipation der Frauen »das enorme Angebot der Unverheirateten zur Befriedigung im Massensexus« zunimmt (Jaspers 1931, 53).

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eines zur Vollkommenheit gelangenden bloßen Daseins, in dem jede Spannung zu bestehen aufhört, für tatsächlich verwirklichbar halten. Gemeint ist »eine soziologische Ordnung, in der alle zu ihrem Rechte kommen; eine Seele, deren Unbewußtes im Bewußten eine störungslose Begleitung hat, wenn aus ihm alle Komplexe ausgeräumt sind; eine Rassenvitalität, die nach Auslese durch Zuchtwahl sich als die gesunde und edle wissen darf, um in ihrer Wohlgeratenheit zufrieden sich als Dasein zu vollenden« (Jaspers 1931, 137). Das insgesamt negative Urteil hinsichtlich der Grundlagen dieser Wissenschaften, aufgrund ihrer reduktiven Vorstellung von Vernunft, trifft im Falle der Anthropologie auch auf methodologische Probleme. Sie »geht auf den sichtbaren Menschen in seinem ursprünglichen Wesen. Nicht eine allgemein-menschliche Psychologie ist ihr Ziel, sondern ein typisches Sein des Menschen als das zugleich Spezifische eines individuellen Charakters« (ebd., 143). 2 Sie versucht also, das Wesen des Menschen im Ausgang von seiner äußeren Erscheinung zu erfassen, in einer Typisierung, in der auch der individuelle Charakter Ausdruck finden möge. Unter Anthropologie versteht Jaspers in der Tat jene Lehre vom Menschen »in seiner Leiblichkeit, als Glied im Reich des Lebendigen, in seinen Rassen als anatomische, physiologische und physiognomische Artungen« (Jaspers 1932, III, 186). Die Anthropologie präsentiert sich daher nicht als universale Psychologie, d. h. als eine Beschreibung der Strukturen der Weisen, wie Menschen denken und erfahren, sondern vielmehr als eine »Wesenserkenntnis«, mit dem Anspruch also, ausgehend von seinen äußeren Erscheinungen zur Erfassung des wesenhaften Elements des Menschen zu gelangen. 3 In dieser Interpretation sind es die Begriffe von »Körperbautypus«, »Rasse«, »Charakter«, »Kulturseele« (vgl. Jaspers 1931, 143), die eine zentrale Rolle übernehmen. Bei der Beschreibung dieser wesenhaften Eigenschaften bieten Disziplinen wie die physische Anthropologie, die Physiognomik, die Morphologie, die Graphologie, Der Fehler der Soziologie sei es, die Gesellschaft zum ausschließlichen Gegenstand ihrer Analyse zu machen, derjenige der Psychologie als Psychoanalyse, diesen auf das Unbewusste zu reduzieren, der Anthropologie schließlich, sich auf die biologische Komponente zu beschränken (Jaspers 1931, 134 ff.). 3 »Was der Mensch sei, ist ontologisch nicht zu fixieren« (Jaspers 1932, III, 187). Zu diesem Thema sei verwiesen auf Immel 2007, bes. 34 ff. Die Beziehung zwischen Anthropologie und Jaspers’scher Philosophie bleibt einer der am wenigsten untersuchten Punkte in der Jaspers-Forschung. Zu diesem Thema sei verwiesen auf Hybašek 1985; Kiel 1991; Lehnert 2006; Klinger 1996. 2

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bis hin zur Kulturmorphologie, das Material, auf dem diese Erkenntnis aufzubauen ist. Eine solche Verallgemeinerung mit dem Ziel einer »Wesensschau« – der Hauptgrund übrigens für Jaspers’ Bruch mit Husserl – wird nun im Falle der Anthropologie sogar aus der Verallgemeinerung der empirischen Eigenschaften des Menschen hergeleitet und so leicht zugänglich für eine sich der Rassentheorie annähernde Interpretation. 4 So nimmt die Anthropologie »die Möglichkeiten geistigen Sehens in sich auf, um das von ihnen Ergriffene sogleich zu einem naturalistischen Sein zu degradieren« (ebd., 144). Sie habe ihre Grenze in folgender Grundüberlegung: »Ihr Denken ist beherrscht von dem Maßstab vitaler Dauer, von den Kategorien des Wachsens und Absterbens; ihre unwillkürliche Voraussetzung ist, man könnte pflegen, züchten, herstellen, eingreifen« (ebd., 144–145). Für Jaspers ist hingegen die Idee inakzeptabel, dass es eine eigene Logik des Erlebnisses gebe, ein Sich-geben des Erlebnisses in Gesetzen, Regelmäßigkeiten und Gleichförmigkeit. Eine Theorie, die das Erlebnis zu organisieren versucht, indem sie von ihm eine Axiomatik und Begriffsdefinition liefert, geht über das Verstehen hinaus und verweist auf eine andere Methode, in der unweigerlich dem Erlebnis ausgewichen wird: der Rückgang dieser Wissenschaften auf stabile und endgültige Begriffe stellt in seinen Augen den Verrat der existentiellen Möglichkeiten des Menschen dar. 5 Die Anthropologie, wie auch Marxismus und Psychoanalyse seien also die modernen Wissenschaften im Dienste einer Vorstellung vom Menschen, der in seiner natürlichen Triebstruktur verstanden wird. 6 Der Marxismus führe die Natur des Menschen auf soziale Mechanismen zurück, die Psychoanalyse auf seine instinkthafte Dimension: »Eigentliche Wirklichkeit sind die Libido und andere Triebe, wie im Marxismus die materiellen Interessen« (ebd., 143). All diese WisHinsichtlich des Unterschiedes zwischen Ideal- und Realtypus erklärt Jaspers im Übrigen: »Ganz anders ist der Sinn des Typus, wenn er nicht als Idealtypus, sondern als realer Typus gemeint ist. Die Realität des Typus aber wurzelt in einer unverstandenen Gegebenheit, einer biologischen Ursache, einer Konstitution, als deren Resultat er durch Beobachtung der Häufigkeiten des Zusammenvorkommens festgestellt und nur zum Teil verstanden wird« (Jaspers 1946, 363). 5 »Dieser Wille, zwingend zu wissen, was seinem Wesen nach nicht wißbar ist, wird zum Verrat an der Existenz« (Jaspers 1932, I, 93). 6 Im Kapitel der Allgemeinen Psychopathologie zum Thema Natur des Menschen (Eidologie) verweist Jaspers bei der Untersuchung der Sexualität kritisch auf die auf einer »Metaphysik der Geschlechtlichkeit« beruhenden Interpretationen, welche seiner Ansicht nach zu keiner Erkenntnis führten (Jaspers 1946, 523). 4

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senschaften seien Ausdruck für den Anbruch des Massendaseins: »Das gradlinig Brutale im Hassen und Preisen, wie es mit dem Massendasein zur Herrschaft gekommen ist, findet darin seinen Ausdruck: im Marxismus die Weise, wie Masse Gemeinschaft will; in der Psychoanalyse, wie sie die bloße Daseinsbefriedigung sucht; in der Rassentheorie, wie sie besser als Andere sein möchte« (ebd., 145–146). 7 Doch warum nimmt Jaspers nicht den lebensphilosophischen Standpunkt hinsichtlich des Menschen ein? Eine Antwort auf diese Frage findet sich teilweise in der letzten Ausgabe der Allgemeinen Psychopathologie, die Jaspers während der Jahre der Zwangspensionierung durch den Nationalsozialismus überarbeitet hatte. 8 In diese Jaspers verändert jedoch seine kritische Haltung gegenüber der Psychoanalyse auch in den folgenden Jahren nicht. Ihr Hauptfehler sei es gewesen, Sinnverstehen und kausale Erklärung miteinander zu verwechseln (vgl. Jaspers 1950), und das, obwohl er Freuds Verdienste um die Untersuchung des Sinnes von Erlebnissen anerkennt. In einem 1946 der Allgemeinen Psychopathologie hinzugefügten Kapitel erklärt Jaspers: »die kritische Stellung zu Freuds Lehren läßt sich etwa in folgenden Thesen fixieren, die ich in einer früheren Arbeit (1922) formulierte: 1. Bei Freud handelt es sich tatsächlich um verstehende Psychologie, nicht um kausale Erklärung, wie Freud meint. […] 3. Auf der Verwechslung verständlicher Zusammenhänge mit kausalen Zusammenhängen beruht die Unrichtigkeit der Freudschen Forderung, daß alles im Seelenleben, daß jeder Vorgang verständlich (sinnvoll determiniert) sei. Nur die Forderung unbegrenzter Kausalität, nicht die Forderung unbegrenzter Verständlichkeit besteht zu Recht. Mit diesem Irrtum hängt ein anderer zusammen. Freud macht aus verständlichen Zusammenhängen Theorien über die Ursachen des gesamten seelischen Ablaufs, während Verstehen seinem Wesen nach nie zu Theorien führen kann, dagegen kausale Erklärungen immer zu Theorien führen müssen (die verstehende Deutung eines einzelnen seelischen Vorgangs – nur solche einzelne Deutung kann es geben – ist natürlich keine Theorie).« (Jaspers 1946, 452) Und weiter heißt es zur Natur des Wissens: »Freud, der solche ›als ob verstandene‹ Phänomene in großer Menge beschrieben hat, vergleicht seine Tätigkeit mit der eines Archäologen, der aus Bruchstücken menschliche Werke deutet. Der große Unterschied ist nur der, daß der Archäologe deutet, was einmal wirklich war, während bei dem ›als-ob-Verstehen‹ das wirkliche Dasein des Verstandenen gänzlich dahingestellt bleibt« (ebd., 255). Als wären also die angenommenen Elemente verständlich, d. h. Erlebnisse. Zum Verhältnis zwischen Jaspers und der Psychoanalyse sei verwiesen auf: Bormuth 2002. 8 Offiziell bekam der Text aus Papiermangel ab 1942 keine Druckerlaubnis. In einem Brief an Viktor von Weizsäcker vom 7. November 1942 heißt es: »Die Papiergenehmigung für meine Psychopathologie, die seit 1. August fertig beim Verlag liegt, ist bisher nicht erteilt. Da dieser erste Schritt, der noch keineswegs die tatsächliche Papierbeschaffung bedeutet, sonst schnell erfolgt, wird vermutlich ein spezifischer Grund vorliegen, der in meiner Kategorie liegt. Das Erscheinen des Buches hätte ich zugunsten meines Prestiges gerade in diesem Augenblick gewünscht«. Bekanntlich 7

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bekanntlich in vielen Punkten erweiterte Ausgabe fügte er einen ganzen neuen, sechsten Teil ein, und zwar über Das Ganze des Menschseins. Bei der Untersuchung der verschiedenen Theorien über den Menschen, die darauf abzielen, die Ganzheit in einem einzigen Prinzip aufzulösen, lässt Jaspers, wenn auch nur kurz, auch die energetischen und organischen Theorien Revue passieren. So reich und interessant sie sein mögen, stellt die von ihnen vollzogene reductio ad unum doch eine Grenze dar, d. h. sie wollen die Komplexität des Menschlichen vereinfachen und verlieren so die individuelle Existenznatur aus dem Blick. Was die organischen Theorien anbetrifft, so nehmen sie zwar auf ein biologisches Denken Bezug, doch halten sie sich, nach Jaspers, weder an physikalisch-chemische Erkenntnisse, noch an die morphologischen Umweltuntersuchungen der Biologen, was gerade ihren Rückgriff auf einen Begriff des Lebens als Ganzem problematisch macht. Diese Theorien stellen das Leben des Menschen in einen höheren Lebensbegriff, indem sie aus der Existenz nur ein hergeleitetes und kein absolutes Ziel machen. »Vielmehr ist das Leben der Begriff vom Ganzen geworden, wie in der Philosophie des jungen Hegel, in der romantischen und späteren Lebensphilosophie, jetzt umspielt von den Ergebnissen neuerer biologischer Forschungen, deren Sinn durch Verwendung als Gleichnis oder durch Verabsolutierung verschoben wird« (Jaspers 1946, 446). Wie in jenen Jahren schon Otto Friedrich Bollnow scharfsinnig bemerkt hat, besteht der zentrale Punkt von Jaspers’ Kritik an der Lebensphilosophie in der Ablehnung der ihr zugrunde liegenden radikalen Immanentisierung, in der jede Form der Transzendenz zurückgewiesen wird und man zu einer Art Nietzsche’scher Gottlosigkeit gelangt, die den Menschen jenes Freiheitselements beraubt, das es ihm ermöglicht, in existentiellem Sinne er selbst zu sein. 9 Und doch, wie Bollnow selbst zuzugestehen bereit ist, sind Jaspers’ radikale Ablehnung der Immanenz und sein Appell an die Transzendenz

wurde die dritte Auflage der Allgemeinen Psychopathologie erst 1946 veröffentlicht. Vgl. K. Jaspers, Korrespondenzen, 3 Bände, hrsg. im Auftrag der Karl-Jaspers-Stiftung von M. Bormuth, C. Dutt, D. von Engelhardt, D. Kaegi, R. Wiehl und E. Wolgast, Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 9 Jaspers schreibt in seinem Nietzsche: »Die verkehrende Verwechslung von feststellender Psychologie und appellierender Existenzerhellung beruht zuletzt auf dem Willen zur reinen Immanenz, der jegliches Transzendieren verwerfen möchte, dann aber weder Existenz noch Transzendenz übrig läßt« (Jaspers 1936/1981, 430 f.).

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nicht frei von einer gewissen Ambivalenz, die in seiner Verwendung des Transzendenzbegriffs ihren Grund hat. »Er wird viel vorsichtiger und allgemeiner dort benutzt, wo er als ein Überschreiten der Bestimmungen endlicher Gegenständlichkeit und endlichen Wissens eingeführt wird, er bedeutet dann aber etwas sehr viel Massiveres, wo er als schneidende Waffe im Kampf gegen Nietzsches lebensphilosophischen Grundansatz eingeführt wird« (Bollnow 1938, 220). Der Begriff der Transzendenz, innerhalb dessen es dem Subjekt gelingt, sich zur Existenz zu erheben, verweist in manchen Fällen ausdrücklich auf die Ebene der Kommunikation, auf der die Welt in ihrer objektiven, gegenständlichen Dimension verlassen wird, um auf die Geistigkeit zurückzugreifen, dank derer der Mensch, frei von empirischen Grenzen, die authentische Freiheit anstreben kann. Der Sinn von Jaspers’ Transzendieren geht in der Tat nicht bis zum Ausgang aus der Welt, sondern erscheint als ein überschreitendes Denken, indem es die Objektivität aufhebt und zugleich doch in der Welt bleibt. 10 An zwei Punkten setzt also Jaspers’ Kritik an der Anthropologie an: einerseits an ihren pragmatischen Idealtypen 11, die sie in die Nähe der Perspektive der aufkommenden Rassentheorien rückt, und andererseits, wie er in der Allgemeinen Psychopathologie deutlich macht, an jenen Ansatz, der aus ihr eine die biologische Verfassung des MenVgl. Marzano 1998, 25. Jaspers erkennt dem Idealtypus den Charakter des methodologischen Instruments zu. Die Idealtypen, obwohl sie durch Abstraktion vom empirischen Material herstammen, sind fiktive begriffliche Konstruktionen, die nie als solche in der Wirklichkeit gegeben sind, sondern als Idealmodelle dienen, mit denen die Realität zu messen ist, d. h. sie dienen dazu, die Komplexität der empirischen Daten zu organisieren und zu reduzieren, damit sie besser verstanden werden können. Vgl. R. Garaventa, »L’uomo è più di quello che egli sa di sé«. Prospettive filosofiche nella psicopatologia jaspersiana, in Studi jaspersiani, II, 2014, 237–256. Hierzu schreibt Weber: »Er ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ›eigentliche‹ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines ›rein‹ idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird. Solche Begriffe sind Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, die unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt« (Weber 1904, 194). Deshalb erklärt auch Jaspers: »Sie werden schon durch einen einzelnen Menschen in voller Allgemeinheit offenbar, sind nicht erschlossen und nicht abstrahiert, sondern angeschaut unter Weglassen des nicht zu ihnen Gehörenden.« (Jaspers 1946, 362)

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schen instrumentalisierende Wissenschaft macht, mit dem Ziel einer abstrakten und totalen Idee des Menschen. In dieser finde sich ein definier- und erkennbares Wesen, in dem gerade der letzte Kern geopfert wird, der den Menschen, nach Jaspers, von anderen Lebewesen unterscheide, d. h. seine radikale Irreduzierbarkeit auf ein sicheres Wissen. 12

2.

Die »idealistische« Struktur menschlicher Erkenntnis

Nach Jaspers verlieren, wie wir gesehen haben, alle aus der neuen Gesellschaft entstandenen Wissenschaften, Anthropologie, Soziologie und Psychoanalyse, die Dimension des Möglichen aus dem Blick, doch »der Mensch kann nur wahrhaftig sein, wenn er wirkliche Erkenntnis von bloßer Möglichkeiten unterscheidet« (Jaspers 1931, 146). Die Anthropologie, die Jaspers in Die geistige Situation der Zeit ohne größere Unterscheidungen mit der Rassentheorie gleichsetzt, besitzt eine zerstörende Eigenschaft. Sie gründet auf einer verzweifelten Vorstellung der Geschichte, d. h. entweder auf der Auslese der Rassen, die die Schwächeren ausschaltet, oder auf einer Vermischung, die sich mit der Mittelmäßigkeit zufriedengibt. Gewiss erkennt Jaspers der Anthropologie in ihrer »Liebe zum adligen Menschenbild« (Jaspers 1931, 145) jenen »Impuls, sich kennenzulernen im Reichtum des Möglichen« (ebd.), an, d. h. die Suche nach immer neuen Aspekten des Menschen, unter Abbau der Unterschiede, die Suche nach dem, was die Menschen näherbringt und nicht dem, was sie trennt (Berufe, Parteien, Völker), bis hin zu einer Verwandtschaft, »die man dann in den Bildern des höheren Ranges objektiviert« (ebd.). Doch gerade »dieses Verfahren, das Existenzphilosophie zu werden schien, ist von ihr durch einen Abgrund getrennt, wenn es sich verabsolutiert zur Seinserkenntnis« (ebd.). Die Freiheit, die die Voraussetzung für Wie Hans Saner bemerkt, ist die Jaspers’sche Sichtweise gegenüber der Wissenschaft etwas, das mehr und zugleich weniger ist: »Philosophie [ist] einerseits mehr, anderseits weniger als Wissenschaft, aber in ihrem Vorgehen doch auch teilweise wissenschaftlich. Mehr ist sie, sofern sie alle Detail-Kenntnis übersteigt, die Totalität anvisiert und das Leben des Denkens führt; weniger ist sie, sofern sie kein intersubjektives, allgemeingültiges Wissens erbringt, sondern nur Orientierung und Erhellung ermöglicht; wissenschaftlich aber ist sie darin, daß auch sie begriffliche Klärung und methodisches Bewußtsein verlangt und von einem Willen zum Systematischen (nicht zum System) getragen wird« (Saner 1980, 136).

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die Definition des Menschen zu sein scheint, versteift sich im Begriff der Rasse. Jener bestimmende Raum für die Existenz wird gelähmt und in einer naturalistischen Notwendigkeit überwältigt. Wohlverstanden geht es hier nicht darum, wie Jaspers klärt, die Ebene der empirischen Wissenschaften oder der Spezialwissen zu verlassen. Ihr Beitrag zur Erkenntnis des Menschen ist unverzichtbar und wertvoll, doch bedarf es einer Gesamtsicht, die durch ein Hinausgehen über die Grenzen einzelner Wissensbereiche dazu gelangt, den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen. Das ist der Sinn der Existenzphilosophie. Sie »ist das alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte. Dieses Denken erkennt nicht Gegenstände, sondern erhellt und erwirkt in einem das Sein dessen, der so denkt. In die Schwebe gebracht durch Überschreiten aller das Sein fixierenden Welterkenntnis (als philosophische Weltorientierung), appelliert es an seine Freiheit (als Existenzerhellung) und schafft den Raum seines unbedingten Tuns im Beschwören der Transzendenz (als Metaphysik)« (ebd., 149). Das Wissen, welches sich um die Existenz herum entwickeln kann, ist also ein anderes Wissen als die notwendige Erkennbarkeit der Wissenschaften. »Was in mythischer Ausdrucksweise Seele und Gott heißt, in philosophischer Sprache Existenz und Transzendenz, ist nicht Welt. Sie sind nicht im selben Sinne wie Dinge der Welt als Wißbarkeiten, aber sie können auf andere Weise sein« (Jaspers 1932, II, 11). An diesem Ziel kann also nur eine neue Form der Erkenntnis arbeiten, auf einer neuen Methode konstruiert, eine »negative Methode«, eine Art Anwendung des Verfahrens der negativen Theologie auf die Existenz (ebd.). Dieser Ansatz stützt sich auf Ideen. Hier tritt die kantische Anlage in aller Klarheit zu Tage. Direkt berufen, die totalisierenden Ansprüche der Wissenschaft scharf zu kritisieren: »Wo ich das Ganze erfassen will, sei es die Welt oder den Menschen, verschwindet mir der Gegenstand, weil das, was ich meine, Idee (Aufgabe unendlicher Forschung), nicht bestimmte und geschlossene Endlichkeit ist. […] Die Welt kann ich nicht erkennen. Nicht anders ist es mit dem Menschen. […] Ich habe ihn nie mehr im Ganzen, wenn er mir Gegenstand geworden ist […]. Wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so nähere ich mich ihm – mit Kants Worten – durch das »Schema« der Idee. Schemata sind entworfene Typen, falsch, wenn ich sie als Realitäten behandele oder als Theorien von einem Zugrundeliegenden, wahr als methodisches Hilfsmittel, das grenzenlose korrigierbar und verwandelbar ist« (Jaspers 1946, 178 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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468). Der Rückgriff auf die Idee erlaubt es also, von einer methodologisch subjektiven Dimension auszugehen, um jedoch zu einer objektiven Definition vom Wesen des Menschen zu gelangen. Unter diesem versteht Jaspers hier die Leib-Seele-Einheit, »als Strukturganzes einer substantiellen Wesenheit […], in dem alle einzelnen Faktoren zusammengehalten, geordnet, modifiziert sind« (ebd., 662). Dank dieser Idee der Ganzheit wird nicht nur das gegenseitige Verhältnis zwischen den besonderen Dingen evident, sondern es werden auch viele Details sichtbar, die andernfalls nicht hervorträten. In dieser Perspektive zwingt die Möglichkeit, den Menschen als Ganzheit zu erfassen, dazu, die Unterscheidung Seele/Körper nicht als ein Primum zu denken, sondern vielmehr als ihre ursprüngliche Einheit. »Das Eine ist weder das Somatische noch das Psychische, sondern das, was in beiden zur Erscheinung kommt und was weder somatisch noch psychisch, sondern das Leben selber ist« (ebd., 531). Der Fehler besteht darin, bei der Durchführung einer Hypostasierung die Ideen zu Wesen zu machen: »Damit verlieren die Ideen ihren Schwung als Bewegung der Erkenntnis ins Offene hinein, während ich eine Scheinerkenntnis erhalte, die alsbald sich als »gegenstandslos« erweisen muß« (ebd., 546) 13. Die Idee der Einheit stellt zugleich die Grenze der Erkenntnis dar, aber auch ihre Triebkraft, »sie hält unser Auge offen, daß wir uns nicht beschränken in vorzeitigen Einheiten, als ob wir schon das Ganze in ihnen hätten« (ebd., 569). Ist es wichtig, nicht dem Missverständnis zu erliegen, die Inhalte der Idee für objektive zu halten, wäre es gleichzeitig ein Fehler, auf jedwede Vorstellung von Ganzheit zu verzichten, ohne deren Beitrag die Suche nach dem Verständnis des Menschen entschieden arm ausgehen würde. 14

13 In seiner Psychopathologie kritisiert Jaspers hierzu Kretschmers Hypostasierung der Typen, indem er Kurt Schneiders und Max Schmidts Kritik aufnimmt. Vgl. Schneider 1940, 40. 14 Hierzu kommentiert Jaspers: »Als Schiller einst Goethe, diesem recht gebend, den Sinn der Urpflanze klären wollte: sie sei wahr, aber sie sei nur eine Idee, antwortete Goethe, er sei froh, daß er die Idee sehe, sie sei Wirklichkeit. In der Tat, das ›nur‹ gilt ausschließlich gegen die endliche bestimmte Realität der Verstandesgegenstände unserer direkten Forschung. Aber die Idee ist Wirklichkeit, die, ohne daß wir sie besitzen, uns führt, uns in Bildern erscheint, in Gedanken und Schematen an sich heranzieht, unserer Erkenntnis Zusammenhang und Sinn gibt« (Jaspers 1946, 547). Zu Jaspers’ Kantismus siehe Marzano 1974.

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3.

Die offene Natur des Menschen

Nach der Untersuchung der dem neuen Erkenntnisansatz zugrunde liegenden epistemologischen Dimension, d. h. der regulativen Natur der Erkenntnis des Menschen als Existenz, ist es interessant sodann zu prüfen, wie die Voraussetzungen tatsächlich auf den Menschen mit seinen grundlegenden Eigenschaften angewandt werden. Jaspers unterscheidet vier verschiedene Ebenen: das empirische oder bloße Dasein, das Bewusstsein überhaupt, den Geist, das eigentliche Selbstsein. Um diese Aufeinanderfolge nicht misszuverstehen, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Jaspers in seiner Allgemeinen Psychopathologie vom Modell der grad- und stufenweisen Aufeinanderfolge Abstand nimmt. In diesen Theorien gilt: »Die Analogie zum Organischen liegt vor in den Gedanken über den hierarchischen Aufbau seelischer Funktionen. Das Seelenleben wird als ein Ganzes gedacht, in welchem alles seinen Ort hat, aber so, daß alles gleichsam in einer Pyramide von Schichten angeordnet ist mit einer höchsten Spitze, die als Zweck oder als die vitalste Realität angesehen wird. Der Zusammenhang besteht in Zweck-Mittel-Verhältnissen eines Daseinsinnes« (ebd., 446). In diesem Falle ist es seine hierarchische und auf dem organischen Leben aufbauende Strukturierung, die das Wesen des Menschen bestimmt. Das die Jaspers’sche Unterteilung belebende Prinzip ist hingegen ein Vernunftprinzip, wobei Vernunft hier in einem weiten Sinne verstanden werden muss. Auf einer jeden dieser Ebenen erreicht der Mensch nämlich in jedem Falle eine Form des Wissens, in einer durchaus nicht auf die Erreichung einer vollendeten Form zweckgerichteten Aufeinanderfolge. Von der Feststellung der Tatsachen, zu vernunftbestimmtem Verstehen, zu verstehender Teilnahme an den geistigen Ideen, bis hin zu existentieller Aneignung, ist die vorhergehende Ebene nie von der folgenden abhängig. 15 Der Mensch ist in erster Linie ein »bloßes Dasein«, ein empirisches Sein. Auf dieser Ebene unterscheidet er sich aufgrund seiner Triebnatur. Kurt Salamun schreibt diesbezüglich: »ein Kennzeichen dieser Seinsweise ist ein Zustand naiver, trieb- und instinktgesteuerter UnmittelSiehe zu diesem Aspekt auch die aufmerksamen Überlegungen Bollnows, der jedoch aufweist, wie für Jaspers schließlich der Eingriff der subjektiven Stellungnahme, die als eine Vorbedingung auch auf der niedrigsten Ebene der Erkenntnis vorausgesetzt wird, indem sie so unter den verschiedenen Erkenntnisformen keine von unten nach oben projizierte Sichtweise mehr stiftet, in jedem Falle dieser zirkulären Sicht der Erkenntnis zur Seite tritt. Vgl. Bollnow 1938, 198 ff.

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barkeit und fragloser Unbekümmertheit. Auf dieser Stufe gibt es kein Selbstbewusstsein, das auf Selbstreflexion beruhen würde« (Salamun 2012, 108). In diesem bloßen Dasein wurzelt Jaspers’ Begriff des Lebens, in dem Sinne dessen, was rein lebendig ist (Jaspers 1932, I, 168). Die zweite Form der Selbstverwirklichung des menschlichen Wesens ist die des »Bewusstseins überhaupt«. Hierzu schreibt Jaspers in Von der Wahrheit: »Wir sind Bewußtsein überhaupt als das in allen eine und gleiche Bewußtsein, mit dem wir auf das gegenständlich gewordene Sein, auf identische Weise es meinend, wahrnehmend, fühlend, gerichtet sind derart, daß uns in jedem seiner Akte ein Allgemeingültiges aufleuchtet« (Jaspers 1947, 65). Auf dieser Ebene erhebt sich das Bewusstsein zu einem kohärenten, verallgemeinernden, logischen Denken. Der Mensch öffnet sich gegenüber der Ebene der Teilung, indem er sich als Verstandeswesen erkennt. Das ist das Reich des Vorherrschens der Subjekt-Objekt-Spaltung. Um als allgemeines Bewusstsein zu erkennen, muss der Mensch das Allumgreifende, welches das Menschliche ist, auf die Formen der Objektivität zurückführen (Jaspers 1946, 635). Die dritte Ebene ist die des Geistes oder der Vernunft. An dieser Stelle kommt es zu einem regelrechten Qualitätssprung. Die beiden ersten Formen »treffen, was noch durch zwingende Wissenschaft zu fassen ist, die beiden letzten das Mehr als Wissenschaft, ohne dessen spezifisches Wesen Geisteswissenschaft keinen Sinn hat« (Jaspers 1932, I, 190) 16. Dies ist die Ebene der Werte und des Sinnes, durch die der Mensch die Welt ordnet, ihr Sinn gibt, indem er die Einheit in der Vielheit ausmacht, die Einfachheit im Rahmen der Komplexität. Doch erst auf der dritten Ebene begegnen wir der Existenz, d. h. dem »eigentlichen Selbstsein«. Es stellt den trans-objektiven Moment dar. Der Übergang zu ihm kann nicht rational oder objektiv geplant, sondern nur erlebt werden. Hier kommen die Grenzsituationen und die Kommunikation ins Spiel. Für JasIn der Allgemeine Psychopathologie vollzieht Jaspers eine etwas andere Einteilung, indem er den Hauptschnitt nur im Übergang von der dritten zur vierten Ebene festlegt. »Diese drei Weisen des Umgreifenden, das wir sind, sind ineinander verkettet […]. Sie sind die Weisen, in denen wir sind als reine Immanenz; in der Objektivierung und Subjektivierung dieses Umgreifenden erscheinen wir empirisch in adäquater Weise als Gegenstand der biologischen und psychologischen Forschung. Aber damit sind wir nicht erschöpft. Denn wir leben aus einem Ursprung, der über das empirisch objektiv werdende Dasein, über Bewußtsein überhaupt und Geist hinausliegt, und zwar als mögliche Existenz und als eigentliche Vernunft« (Jaspers 1946, 635).

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pers geht also die höchste Ebene der Verwirklichung des Menschen über die Ebene des Daseins und der empirischen Subjektivität hinaus und zu ihr hat man nur dank der intersubjektiven Beziehung Zugang. 17 Der Mensch ist also ein endliches Subjekt, in ständiger Spannung begriffen auf das Hinaustreten über die ihn jedoch zeichnende Endlichkeit. So unvollständig, unzureichend und fragmentarisch diese Suche sein möge, stellt sie doch den Weg vom endlichen Dasein zum Sein der Transzendenz dar. 18 Doch an dieser Stelle erhält die Jaspers’sche Reflexion eine interessante Biegung, denn hier nimmt die Auseinandersetzung mit dem Ursprung ihren Anfang. Wenn es stimmt, dass der Mensch immer weiter über sich hinausgehen kann, so muss er also einen Ursprung haben, der ihn nicht notwendig bestimmt. Dieser Aspekt erlaubt es uns, innerhalb der Polemik mit Freud und der Freud’schen Schule einen Schritt weiter zu gehen. In ihr geht es Jaspers u. a. um den Begriff des Unbewussten. Anders als für Freud bleibt für ihn das Unbewusste zum Teil unzugänglich, ein nicht zu offenbarendes Rätsel. 19 Und diese Gegebenheit, dieser Ursprung muss dunkel bleiben, undurchdringlich: das Unbewusste. Zwei Reihen der Einheit sind auszumachen, eine für die somatische Natur, eine für die psychische, doch die Einheit, die als solche diese beiden Reihen zusammenhält und in ihrem Ursprung liegt, ist nach Jaspers nicht auszumachen und erkennbar. Doch einen Zugang dazu zu finden, versucht er in der Einführung zu seiner psychopathologischen Arbeit, indem er innerhalb der Grundbegriffe die Natur des Unbewussten ausmacht, das er mit klaren Worten definiert: »Das Die Natur der Intersubjektivität, die hier von Jaspers auf der höchsten Ebene des Menschlichen, anders als von Scheler, als wesentlich gedacht wird, hat nichts mit der als Gott verstandenen Transzendenz zu tun, sondern mit dem, was die Subjektivität in ihrer individualistischen Abschottung transzendiert. Vgl. Scheler 1927. 18 Hier wird das Thema der Grenzsituationen und, im Allgemeinen, der Grenze zentral, als Stoß gegen den Anderen, im Ausgang von dem sich die Erfahrung des dem Scheitern ausgesetzten Menschen bestimmt, aber zugleich auch dessen einzigartiges Wesen. Vgl. Di Cesare, Cantillo 2002. 19 Hier befindet sich Jaspers vollends in jener Debatte über die Entwicklung der wissenschaftlichen Sichtweise vom biologischen Ursprung des Menschen, die im achtzehnten Jahrhundert stattfindet und an der auch Kant teilhat. Der Anfang bleibt deshalb ein Geheimnis. Wie Blumenbach in seiner Schrift Über den Bildungstrieb 1781 erklärt, ist die Ursache »für uns qualitas occulta […]. Es gilt von allen diesen Kräften was Ovid sagt: causa latet, vis est notissima« (J. F. Blumenbach, Über den Bildungstrieb, Dietrich, Göttingen 1781, 33–34). 17

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Was ist der Mensch?

Unbewußte wird gedacht als eine Macht, als Ursprung. Als solches ist es: 1. das Schöpferische; das Lebendige; 2. die Zuflucht, die Geborgenheit, der Grund und das Ziel. Man will sagen: alles Wesentliche, alles uns Hinreißende und alles uns Tragende, jeder Antrieb, jeder Einfall, ja Bildwerdung und Gestaltung, das Große und das Verderbliche, kommt uns aus dem Unbewußten – alle Vollendung wird am Ende zum Unbewußten, in das wir zurückkehren« (ebd., 10). Dieser dunkle Ursprung erlaubt es ihm, den Menschen als authentische Möglichkeit zu denken. Die anthropologischen Theorien, die im Ursprung ein Wesen des Menschen setzen, eine erste, im Unendlichen festwachsende Wurzel, kommen am Ende zur Negierung eines wahren Freiheitsraumes. Doch wird die Jaspers’sche Reflexion an dieser Stelle kompliziert. Er setzt das Wesen des Menschen nicht in einen bereits gegebenen Ursprung, sondern in den Prozess der Befreiung des Menschen von seiner Endlichkeit, in sein unendliches Streben nach einer Unendlichkeit, die zu erreichen ihm jedoch nicht gegeben ist. Das ist eine wahre anthropologische Wende, die die Anthropogenese in kein transzendentes Prinzip legt – wie in Hegels Modell des unglücklichen Bewusstseins –, sondern in das als bloße Möglichkeit des Hinausgehens über die Natürlichkeit, die Situationalität, die Bedingtheit verstandene Transzendieren. 20 »So ist für ihn das Doppelte: die unendliche Möglichkeit aus seinem Grunde spricht in ihm und verwehrt ihm, sich an seine Endlichkeit zu verlieren, aber fordert ebenso von ihm, seine Inkarnation im Endlichen, die sein Entschluß vollzieht, in einer unbedingten Identifizierung in der Zeit festzuhalten« (Jaspers 1946, 638). Der Mensch ist also eine offene Form 21 und die Art und Weise, wie diese Form sich bildet, sich füllt und färbt, gehört der Wahl an, den Entscheidungen, der individuellen Geschichte eines jeden Einzelnen. »Erst wo im Menschen aus der Entscheidung ein in sein Wesen übergegangener Entschluß herrscht, ist er eigentlich – existentiell – Mensch« (Jaspers 1946, 637). Das Ziel wie der Ursprung bleiben unerkannt, orientieren jedoch den Weg. Dieser Aspekt wird in den Untersuchungen zur Geschichte exemplifiziert. Bei der Definition des historischen Ursprungs des Menschen und daher beim Versuch, zu verstehen, ob es ein physisches oder metaphysisches Prinzip gibt, an dem die Natur des Menschen festzumachen Fiorillo 2003, bes. 153–212, hier 163. »Der Mensch ist offene Möglichkeit, unvollendet und unvollendbar. Daher ist er immer auch mehr und anderes, als er von sich verwirklicht hat« (Jaspers 1946, 640). 20 21

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Stefania Achella

ist, zeigt Jaspers sich als kritischer Denker des Ursprungs. »Die Idee der Menschheit« – liest man in Ursprung und Ziel der Geschichte – »wird konkret und anschaulich allein in der wirklichen Geschichte im Ganzen«. Dort wird sie zur Zuflucht im Ursprung, doch dieser »bringt den Anspruch an Kommunikation in uneingeschränktem Sinne« (Jaspers 1949, 332). Den Ursprung gilt es also immer wieder von neuem zu befragen. Daher muss sich, wie Jaspers weiter unten klärt, die Beziehung zum Ursprung nicht wie eine leere Wiederholung zeigen, die die Erscheinungen reproduziert, ohne sie jedes Mal im Ausgang vom eigenen Ursprung zu beleben, sondern wie eine wesenhafte Wiederholung, jeweils ursprünglich und jedes Mal authentisch. Der Mensch ist, anders als das Tier, ein unvollkommenes Sein, dank seines Ursprungs und Ziels, die offen sind. Seine nicht zu verwirklichende Aufgabe besteht gerade darin, ständig zu versuchen, die Unvollkommenheit auszufüllen, indem er sich im Ausgang vom eigenen Ursprung neuinterpretiert und sich dem Scheitern aussetzt, aber auch indem er sich der Freiheit gegenüber öffnet. Es bleibt eine letzte Fragestellung. Wenn die Erkenntnisform die kantisch regulative ist, die Struktur des Menschen offen und sein Ursprung immer teilweise unbewusst bleibt, wie lässt der Mensch sich dann durch die Welt bedingen? In welcher Beziehung steht diese offene Wurzel des Menschen, die ihn jeder Möglichkeit gegenüber aussetzt, gegenüber der Härte, dem »Widerstand« des Realen, gegenüber den notwendigen Konditionierungen der Welt? Die Möglichkeit des Menschen, sich als Existenz zu bestimmen, muss notwendigerweise mit der Welt rechnen und mit allem, was ihm Widerstand leistet. »Widerstand ist, was die Bewegung unseres Leibes hemmt, und Widerstand ist alles, was die unmittelbare Verwirklichung unseres Strebens und Wünschens verhindert« (Jaspers 1946, 79). Stehen zu bleiben oder an diesem Widerstand zu zerschellen, »bedeutet Erfahrung der Wirklichkeit. Darum hat alles Wirklichkeitserleben eine Wurzel in der Praxis« (ebd.). 22 Begriffe wie Widerstand, Konkretheit und Existenz kennzeichnen den Übergang von der Theorie der Erkenntnis als Darstellung zu der konkreten Ebene der Erkenntnis als Entscheidung. Jaspers schreibt weiter: »Der Widerstand in der Welt ist das weite Feld des Wirklichen […] mit der ich praktisch rechne, zu der ich mich jeden Augenblick verhalte, die mich erfüllt als das, was ich erwarte, woran als an ein Seiendes ich glaube« (Jaspers 1946, 79).

22

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Was ist der Mensch?

Dank der Welt und ihres Widerstandes zeigt sich also der authentische Weg, durch den der Mensch dazu kommt, er selbst zu sein. Gäbe es ein zu erreichendes Modell, ein Ziel oder einen retrospektiven Ursprung, so bliebe die Jaspers’sche Idee vom Menschen in einer abstrakten Dimension verankert, durchaus nicht weit entfernt vom Idealismus. Der Wendepunkt besteht hingegen gerade in der Entscheidung angesichts eines von der Welt herstammenden Stoßes, der als solcher immer individuell bleibt, indem er den Menschen auf absolut unvorhersehbare und daher freie Weise bestimmt. Die Entwicklung des Menschen findet nicht gemäß einer Aufeinanderfolge statt, die in Funktion eines Entwicklungsgrades der Erkenntnis durchlaufen wird. Der Übergang vom Dasein zur Existenz ist gebunden an eine Wahl, die immer eine praktische und individuelle ist, obwohl sie mit der Konkretheit der Welt sich auseinanderzusetzen hat. Durch die Entscheidung kann das, was in ihrer Ausbildung sich jeder kausalen Erkenntnis entzieht, tatsächlich werden. Eine authentische Existenzerhellung braucht deshalb eine klare Aneignung des Sinnes der Objektivität und ihrer Wahrheit. Mit diesem letzten Passus ist es also für Jaspers klar, dass der Versuch, den Menschen zu verstehen, im Ausgang von dessen offener Struktur stattfindet, zu der die eigene subjektive Erfahrung des Darüberhinausgehens gehört, verstanden als die empirischen Elemente seiner sinnlichen Natur, aber auch als Welt, in der wir schon immer leben und der gegenüber wir jederzeit zur Stellungnahme berufen sind. Nur der Übergang des Denkens durch die Härten des Realen hindurch, verstanden als äußere Welt oder als Daseinsbestimmung, verweist auf einen Sprung ins existentielle Philosophieren und in die Dimension des eigentlichen Selbstseins und der Freiheit. Übersetzung aus dem Italienischen: Steffen Wagner

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Was ist der Mensch? Schneider, K. (19404): Die psychopathischen Persönlichkeiten, Leipzig: Deuticke (19231). Weber, M. (1904): Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, jetzt in ders. (1922): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr S. 146–214.

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Diskursfelder

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Birgit Stammberger

Der Körper im Denken der Maschine Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zum problematischen Verhältnis von Technik und Leben

Es ist eine Mutation der Funktion der Maschine im Gange, die all jene hinter sich läßt, die noch bei der Kritik des alten Mechanismus sind. 1 Der Prozess wirkt reibungslos und wie ferngesteuert – als ob »die Maschine uns denkt« (Jean-François Lyotard), als hätten wir uns »in fast allen Bereichen der autoritären Herrschaft der Maschinen« unterworfen (Frank Schirrmacher). 2

1.

Jenseits des Körper-Maschine-Dualismus?

Im Zeitalter der Bio- und Technowissenschaften wird kulturellen Orientierungsmustern wie der Entgegensetzung von Mensch und Maschine permanent und provokativ entgegengewirkt, sodass die »Überschneidungen dieser Bereiche […] die verbleibenden Gegensätze [überwiegen]« (Haraway 1995a, 175). Ob automatisierte Park- und Abbremsfunktionen in Autos, computerunterstützte Überwachungssysteme im Pflegebereich, Roboter in Therapie- und Behandlungsverfahren der Chirurgie oder die Rolle von Algorithmen bei Entscheidungsprozessen wie der Wahl der Reiseroute und der Partnerwahl – Maschinen übernehmen immer mehr Bereiche vormals dezidiert menschlicher Lebenszusammenhänge. Maschinen formen und transformieren Alltagswahrnehmungen sowie kollektive und individuelle Selbstverhältnisse. Die Erfindung und Konstruktion von Maschinen erlaubt es nicht nur, immer besser die uns umgebende Natur sowie unsere eigenen menschlichen Körper zu erklären und zu bewältigen. Vielmehr sind die Hybridisierungsprozesse von Technik und Körper 1 2

Lacan 2015, 45. Becker 2012.

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Birgit Stammberger

auch mit zahlreichen Visionen der Menschenerschaffung oder -abschaffung verknüpft. Seitdem mithilfe von Technologien gezielte Eingriffe in die physiologischen Funktionszusammenhänge des menschlichen Körpers vorgenommen werden können, steht der Mensch selbst auf dem Spielfeld der postbiologischen Evolution. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt kompensierte niemals nur die Mängel, Defekte und Bedürfnisse des menschlichen Körpers, sondern stellte stets auch anthropologische Grundvorstellungen und -konzepte infrage. Ob mit der von Descartes oder La Mettrie begründeten Vorstellung des menschlichen Körpers als automatisches Uhrwerk, mit dem im 19. Jahrhundert aufgestellten und wirkmächtigen Paradigma der Energiemaschine oder mit dem Vergleich des menschlichen Gehirns mit einem Computer – die Erkenntnisse, Heuristiken und Methoden der Natur- und Biowissenschaften haben stets an den Grundfesten dessen gerüttelt, was als gesichertes Wissen vom Menschen galt. In die Diskussion über die anthropologischen Implikationen gegenwärtiger techno- und biowissenschaftlicher Entwicklungen hat sich ein radikales Verlust- und Gewinndenken eingeschlichen. Seit den 1990er-Jahren wird sowohl vonseiten einer radikalen Technikkritik als auch in medien- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen der Mythos vom Verschwinden des Körpers fortgeschrieben, der in apokalyptischer und utopischer Rhetorik gleichermaßen beschworen wird. Die vielfältigen Formen der technologischen Verkörperung wie funktionelle Implantate, die chirurgische Bearbeitung des Körpers oder gezielte Eingriffe in die Funktionszusammenhänge der Vererbung werden oftmals in einem dichotomen Analyserahmen von Neu- und Abschaffungsszenarien überformt und die permanent verhandelte Differenz von Körpern und Maschinen auf eine der beiden Seiten hin verkürzt. Dieser auf der Körper-Technik-Differenz beruhenden dualistischen Kritik stehen neuartige Denkansätze zu vielfältigen Transformationen der Verkörperung und komplexen Übertragungen von Funktionsweisen des Maschinellen auf die Logiken des Lebendigen gegenüber. Eine Philosophie, die sich daran orientiert, die Zweckrationalität mechanistischer Theorien aufzuzeigen, reduziert letztlich den Körper auf ein passives Objekt technologischer Einschreibungen. Technologien schreiben sich niemals nur in einen Körper ein, sondern sie sind historisch situierte Praktiken der Verkörperung. Sie sind also weder nur ein formgebendes Herrschaftsinstrument noch nur eine Form der Befreiung des unterworfenen Körpers. 192 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Der Körper im Denken der Maschine

Maschinen sind, wie Haraway schreibt, ein aktiver Teil der Verkörperung, angesichts dessen sie die wechselseitigen Konstitutionen der beiden Entitäten mit dem Begriff der »apparativen Verkörperung« zusammenfasst (Ebd., 171). In ihrem wegweisenden Cyborg-Manifest bezeichnet Haraway das Gegensatzpaar Maschine und Körper als eine der Leitdifferenzen der Moderne, die »systematischer Bestandteil der Logiken und Praktiken der Herrschaft« (Haraway 1995b, 67) sind. In ihrem programmatischen Projekt einer Cyborgisierung des Humanen widmet sie sich der Auflösung von Differenzen und der Fiktionalisierung ihrer Stabilität. Für Haraway war und ist die Trennung von Maschine und Organismus bereits ein zerstörerischer Akt, der die lange Tradition »verkörperter Objektivität« negiert. In der sich seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts herausbildenden »Kultur der Hochtechnologien« sieht Haraway eine »faszinierend intrigante Herausforderung dieser Dualismen«: »Wir können«, so schreibt sie, »für die Maschinen verantwortlich sein; sie beherrschen oder bedrohen uns nicht. Wir sind für die Grenzen verantwortlich, wir sind sie« (Ebd., 67). 3 Anstatt die Auflösung des Körpers durch Technik zu beklagen, sieht sie in den technowissenschaftlichen Entwicklungen am Ende des 20. Jahrhunderts und der damit einhergehenden Auflösung von Polaritäten eine Möglichkeit der Intervention gegen ein Denken in Dualismen. Die Figur des Cyborgs, der aus technischen und organischen Anteilen besteht, verkörpert dabei paradigmatisch einen Zwischenraum zwischen Körper und Maschine. 4 Im Folgenden geht es um Transformationen von Leitbildern und Erkenntnismodellen des Körpers an der Schnittstelle von Natur- und Astrid Deuber-Mankowsky und Christoph F. E. Holzhey haben Haraways Konzept des situierten Wissens und die von ihr diagnostizierte informationstheoretische Wende im Konzept der regionalen Epistemologie wieder aufgenommen. In ihrem Aufsatz »Kritik des Anthropozentrismus« hat sich Deuber-Mankowsky in Auseinandersetzung mit Georges Canguilhem und Donna Haraway der philosophischen und erkenntniskritischen Problematik einer Technikphilosophie des Lebens gewidmet. Vgl. Deuber-Mankowsky 2013. 4 In ihren Bezügen auf die Informationstechnologie und Kybernetik zur Beschreibung der Technowissenschaften am Ende des 20. Jahrhunderts tendiert Haraway jedoch dazu, die lange Tradition des Cyborgs zu übersehen. Deshalb betont Henning Schmidgen, dass Haraways These der permanenten Überschreitung der Körper-Maschine-Differenz letztlich auf eine Position hinauslaufe, die die jeweils »konkreten Verbindungen zwischen Mensch, Maschinen, Technik und Körper« nicht thematisiere. Vgl. Schmidgen 2013, 59. 3

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Birgit Stammberger

Kulturwissenschaften. Dabei wird von der Beobachtung ausgegangen, dass philosophisch-anthropologische und transhumanistische Sichtweisen eine eigentümliche Parallelität aufweisen, die – so die These – von einem Schematismus der Entgegensetzung von Maschine und Körper herrührt. Es wird gezeigt, dass die Techno- und Biowissenschaften der Gegenwart niemals von dem Körper oder der Maschine handeln, sondern eingebettet sind in Transformations- und Übersetzungsprozesse. Jenseits der Annahme eines Körper-Maschine-Dualismus wird dafür plädiert, beide Seiten in ihrer prozesshaften Relationalität zu erfassen.

2.

Die transhumanistische Vision der Abschaffung und Neuschöpfung des Menschen

Seit Jahren verkünden prominente Vertreter des Trans- und Posthumanismus wie Rodney Brooks oder Ray Kurzweil das Ende des Menschen. Laut dem Unternehmer und Informationstheoretiker Kurzweil steht die Menschheit am Beginn einer postbiologischen Evolution. Er belegt seine These vom Ende des menschlichen Körpers mit seiner Theorie der Singularität. Dabei geht Kurzweil von der Annahme aus, dass aufgrund der enormen Rechenleistungen derzeitiger Computer und des damit einhergehenden exponentiellen Wachstums von Technologie der Mensch hinter dem rasanten Fortschritt der Maschinen zurückbleiben werde. Singularität meint dabei jenen Punkt, an dem Computer und Supergehirne der relativ konstant bleibenden menschlichen Denkleistung überlegen sein werden. Die Leistungen und Fähigkeiten sich selbst optimierender Computer seien mit dem menschlichen Erfahrungshorizont nicht mehr zu erfassen. Nach Rodney Brooks, einem ebenfalls in den letzten Jahren vieldiskutierten Vertreter des Transhumanismus, verändere die Technologie nicht nur die Maschinen, sondern auch den menschlichen Körper. Im 21. Jahrhundert habe das »jahrhundertealte Projekt der Menschheit, künstliche Wesen zu schaffen, […] Früchte getragen« (Brooks 2002, 19). Die technologischen Entwicklungen prägen unseren Alltag derart, dass zahlreiche Verrichtungen nicht mehr ohne Computer zu denken seien. Für Brooks führen diese Entwicklungen dazu, dass »wir uns immer mehr zu unseren Maschinen entwickeln«. Der Mensch werde sich also mithilfe der Maschinen nicht einfach nur vervoll-

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Der Körper im Denken der Maschine

kommnen, vielmehr »werden wir heutigen uns im Verlauf unseres Lebens in Maschinen verwandeln« (Ebd., 232). Jenseits dieser Allmacht- und Untergangsfantasien werden die Visionen einer Menschmaschine neuerdings auch mit dem politischen Gestaltungswillen verknüpft. So wurden nahezu zeitgleich in den USA und in Deutschland transhumanistische Parteien gegründet. Die mit ungefähr 700 Mitgliedern bisher relativ kleine deutsche Partei der Humanisten hat den Transhumanismus zu ihrem Leitbild erhoben und zielt darauf, in den nächsten Jahren ihre politische Präsenz sukzessive auszubauen. 5 Die US-amerikanische Vereinigung der Transhumanisten hingegen stellte im Jahr 2016 ihren 41-jährigen Vorsitzenden Zoltan Istvan als (chancenlosen) Präsidentschaftskandidaten auf. Die Nachricht hatte auch hierzulande für mediale Furore gesorgt. So betitelte die Zeitschrift »Wired« ein Interview mit Istvan mit der Frage »Wird der nächste Präsident der USA ein Cyborg sein?«. 6 Die Wirksamkeit transhumanistischer Verkündungen entfaltet sich in der Radikalität des Neuen. 7 So verbürgt sich in den Begriffen des Trans- und Posthumanismus die Ankündigung eines Nach-demMenschen. 8 In der Medienöffentlichkeit beziehen sich trans- und posthumanistische Positionen zumeist auf das Recht auf Selbstoptimierung und die morphologische Selbstbestimmung. Der Bezug auf körperliche Selbstformgebung steht dabei in der philosophischen Tradition, die den Menschen als Mängelwesen bestimmt. Die Anerkennung der morphologischen Selbstbestimmung ist dabei der grundsätzlichen Tatsache geschuldet, dass jeder Körper defizitär ist. Diese weitreichende und wichtige Einsicht wird für transhumanistische

Vgl. die Homepage der Partei der Humanisten: https://parteiderhumanisten.de/politik/leitbild/ (letzter Zugriff 30. 11. 2015). 6 Vgl. https://www.wired.de/collection/latest/der-spitzenkandidat-der-transhumanis tischen-partei-usa-blast-zum-wahlkampf (letzter Zugriff: 02. 12. 2015). 7 Vgl. hierzu exemplarisch: »Hirnschrittmacher für alle. Ein Gespräch mit dem Philosophen Stefan Lorenz Sorgner, der auf die großen Vorzüge eines digital getunten Körpers setzt«, in: Zeit online vom 08. 05. 2013, http://www.zeit.de/2013/20/trans humanismus-philosoph-stefan-lorenz-sorgner/komplettansicht (letzter Zugriff: 01. 12. 2015); »Bring mir den Kopf von Raymond Kurzweil!«, in: FAZ.net vom 12. 07. 2015, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/transhumanismus-bring-mir-den -kopf-von-raymond-kurzweil-13696362.html (letzter Zugriff: 25. 11. 2015). 8 Doch solche Visionen fungieren, wie Dieter Birnbacher schreibt, mehr als Slogans denn als »seriöse Begriffsbildungen« (Birnbacher 2006, 173). 5

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Sichtweisen jedoch zum Dreh- und Angelpunkt einer Rhetorik der Selbstoptimierung des Menschen. Trans- und Posthumanismus sind somit Teil einer größeren, umfassenderen Entwicklung. Allzu offensichtlich sind dabei die Bezüge auf die anthropologische Bestimmung des Menschen als Mängelwesen. 9 Die postulierte Selbstoptimierung des Menschen weist dabei Ähnlichkeiten mit medialen Logiken des Neuen auf. Der Mensch hat zwar schon immer auf technologische Möglichkeiten zurückgegriffen, um die ihn umgebende Natur zu bewältigen, und vielleicht ließe sich in diesem Tun auch eine anthropologische Konstante menschlichen Handelns ausmachen. Doch in einer fatalen Geschichtsvergessenheit postulieren transhumanistische Argumentationen das Ende einer biologischen Entwicklung und damit auch das Ende des Menschen. Die Verselbstständigung der Technik scheint also nicht nur einen Optimierungsgedanken menschlicher Handlungszusammenhänge fortzusetzen, sondern den Menschen als Mängelwesen einer instrumentellen Logik der Zweckrationalität zu unterwerfen. Entsprechend unterliegt die Überschreitung seines Selbst nun wie nie zuvor einer ökonomischen und rationalistischen Logik. Stehen technologische Optimierungslogiken in einer Linie mit einem alten, schon immer währenden Menschheitstraum? Diese Frage wird vielfach diskutiert und stellt dabei oftmals technikeuphorische und technikkritische Argumentationen gewissermaßen diametral einander gegenüber. Trans- und posthumanistische Szenarien einer künftigen Verschmelzung von Organismus und Maschine beruhen dabei auf der In den Diskussionen über die technologischen Optimierungen wird gerade im Kontext des Transhumanismus immer wieder der Begriff des Menschen als Mängelwesens aufgegriffen, um den historischen Umschlagpunkt zu postulieren, der die Entstehung einer neuen menschlichen Existenz in der Verschmelzung von Technik und Leben kennzeichnet. Die anthropologische Bestimmung des Menschen als Mängelwesen dient dabei als Ausgangspunkt einer Argumentation, die eine zunehmende Technisierung und damit einhergehende Überwindung von Grenzen zwischen Mensch und Technik als etwas auffasst, was ganz im Selbstinteresse des Menschen steht. Obwohl der Begriff wesentlich auf Arnold Gehlen zurückgeht, der damit eine Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tier ausarbeitet, spielen seine Ausführungen im Kontext des Transhumanismus eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Hier wird eher von Nietzsche ausgegangen, um ein Verständnis des Menschen zu betonen, der das Recht hat, sich mithilfe von Technik selbst zu optimieren, vgl. zum Begriff des Menschen als Mängelwesens im Kontext des Transhumanismus Kurzweil 1999 sowie zum nietzscheanischen Transhumanismus Sorgner 2016.

9

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Der Körper im Denken der Maschine

Annahme eines bis dahin von Technik unberührten Körpers. 10 Das grundsätzliche Problem solcher Perspektiven besteht darin, dass sie eine eigentümliche Affinität zu Naturalisierungsstrategien aufweisen, die sie eigentlich von sich weisen. Denn insofern in der Rede vom Maschinenkörper weiterhin von entgegengesetzten Entitäten ausgegangen wird, wird eine Substanzialisierung des Körpers betrieben, ohne jedoch das komplexe und historisch kontingente Ineinandergreifen beider Seiten in ihren jeweiligen Verhältnissen zu betrachten. Statt die unterschiedlichen und vielfältigen Perspektivierungen auf das Thema von Körper und Maschine zu entfalten, ziehen sich transhumanistische Positionen auf eine Argumentation zurück, mit der sich die konkreten Praktiken, die materiellen und diskursiven Widerständigkeiten oder auch die gesellschaftlich regulierten und symbolisch vermittelten Praktiken der Verkörperung nicht erfassen lassen. Fragen nach der Historizität und Materialität des Wissens und der Praktiken werden in transhumanistischen Positionen nicht behandelt.

3.

Metaphern der Aneignung, Verdrängung und Eliminierung: Philosophische Anthropologie und psychoanalytische Verteidigungsrhetoriken

Die Philosophie begegnet den Praktiken und Visionen einer technologischen Optimierung und Selbstveränderung des Menschen mit einer Argumentation der Unverfügbarkeit und Integrität des Lebens. Transhumanistische Rhetoriken sind dabei Ausdruck einer mit den Techno- und Biowissenschaften verbundenen gesamtgesellschaftliSo argumentiert etwa Barbara Orland in der Einleitung des von ihr herausgegebenen Sammelbandes »Artifizielle Körper und lebendige Technik«, dass mit Blick auf die Wissenschafts- und Technikgeschichte die »Analogisierungen von Mensch und Maschine« spätestens seit dem 18. Jahrhundert ein Kontinuum darstellt, jedoch weiterhin von einer Polarität von Körper und Technik ausgegangen werde. Der Band versammelt zahlreiche Studien zur Wissenschaftsforschung und der Technikgeschichte artifizieller Körper und belegt eine bis heute bestehende Diskrepanz zwischen technowissenschaftlichen Perspektiven und philosophischen Studien zur Geschichte der komplexen Verwobenheit von Köper und Technik, vgl. Orland (2005, 14). Auch der Band »Materialität denken« setzt sich, wie die Herausgeber_innen ausführen, kritisch mit jenen Argumentationen auseinander, in denen letztlich das Verhältnis von Technik und Körper als »ein reines Unterwerfungsverhältnis« gedacht ist, vgl. Bath u. Bauer u. a. (2005, 15).

10

197 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Birgit Stammberger

chen Entwicklung. Im Vordergrund stehen die mit dem Komplex der Bio- und Technowissenschaften verbundenen Transformationen der Subjektivierung und Normalisierung. In diesem Zusammenhang betont Lettow die zentrale Rolle der spezifischen Materialität des Körpers, die die biowissenschaftlichen Technologien so brisant machen (Lettow 2011, 15). Vor dem Hintergrund einer spezifischen Verfasstheit des Lebenswissens als materielle und ökonomische Ressource für Logiken der Selbstoptimierung kam es in den letzten Jahren gerade in der deutschsprachigen Philosophie zu einer anthropologischen Wende, im Zuge derer nach anderen Formen und Konzepten der philosophischen Artikulation des biologischen Wissens gesucht wurde. Zentral ist dabei ein Lebensbegriff, der unter die allgemeinen Prinzipien der Lebendigkeit gestellt ist. Mit dem holistischen Konzept der Ganzheit, der Unterscheidung zwischen dem Lebendigen und dem Leben sowie der Aufwertung des Konkreten gegenüber dem Allgemeinen schließen diese Positionen an Annahmen einer biologischen Identität und Exzeptionalität des Menschen an (vgl. Deuber-Mankowsky u. Holzhey 2013, 16). Der anthropologische Rekurs auf die Unverfügbarkeit und Integrität des Lebendigen fungiert dabei – wie Dieter Birnbacher in Bezug auf den von Habermas eingeführten Terminus der Gattungsethik schreibt – als eine Barriere gegen die technische Selbstoptimierung (Birnbacher 2006, 169). Natürlichkeitsprinzipien bilden dabei eine Art Gegenmodell, um sich in einer von immer weiter beschleunigten Technologisierungsprozessen geprägten Gesellschaft zu positionieren. Der Bezug auf die Natur des Menschen bzw. auf das Lebendige dient dabei auch als Korrektiv einer reduktionistischen Figuration des Maschinenmenschen. Gegenpositionen zur instrumentellen Rationalisierung bemühen dabei häufig Metaphern der Verdrängung und Eliminierung. So spricht die französische Psychoanalytikerin und Lacan-Biografin Élisabeth Roudinesco provokativ vom Tod des Subjekts. Mit der Metapher des Todes knüpft sie nicht an poststrukturalistische Theorien der 1980er-Jahre an, vielmehr geht es um eine Verteidigung des psychoanalytisch konzipierten Subjektbegriffs. Roudinescos Analyse der Bio- und Technowissenschaften der Gegenwart nimmt ihren Ausgang von der Beobachtung einer zunehmenden Verdrängung psychoanalytischer Subjekt- und Wissensformationen. In Auseinandersetzung mit den besonders in den 1980er- und 1990er-Jahren heftigen Debatten um die Psychoanalyse und die Theorien Freuds liefert Rou198 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Der Körper im Denken der Maschine

dinesco eine fundierte Analyse der Herausbildung verhaltenstheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Erkenntnismodelle sowie ihrer Überschneidungen mit kulturellen Vorstellungsbildern des Humanen. Roudinescos Kritik zielt dezidiert auf eine Verteidigung psychoanalytischer Subjektmodelle, indem sie deren Relevanz und Bedeutung für kulturelle Selbstverhältnisse aufzeigt und auf eine Analyse ihrer Verdrängung durch die wirkmächtige Analogie zwischen Gehirn und Computer in den Kognitionswissenschaften drängt. Die Human- und Psychowissenschaften der Gegenwart sind für Roudinesco von einer umfassenden Rationalisierung und Technologisierung des Wissens geprägt, die letztlich den Menschen in eine Maschine verwandeln. In einem Gespräch mit Jacques Derrida untermauert Roudinesco ihre Kritik an der maschinellen Verfasstheit des gegenwärtigen Anti-Subjekts. Die Dominanz naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle, so betont sie, reduziere alle menschlichen »Verhaltensweisen auf experimentell nachweisbare physiologische Prozesse«. Und diese Reduktion, so ihr Fazit, gehe einher mit der »Umgestaltung des Menschen in eine Maschine« (Roudinesco u. Derrida 2006, 85). Das »Anti-Subjekt der Gegenwart«, das seine Wurzeln in der Phrenologie des 19. Jahrhunderts und in den kognitionswissenschaftlichen und kybernetischen Entwicklungen seit den 1950er-Jahren habe, werde gegenwärtig völlig neu formatiert. Roudinesco spricht von einer Auslöschung der Subjektivität, die unmittelbar mit Entwicklungen auf dem Gebiet der Pharmakologie und mit der Herausbildung neuer Krankheitsbilder wie der Depression und dem Burn-out verknüpft ist. Das Subjekt der Gegenwart ist dabei ein Individuum, das seiner inneren Konflikte und Schuldgefühle, seiner Beziehung zu anderen, der »existentiellen Grunderfahrung« von Abhängigkeit und seiner persönlichen Lebensgeschichte entleert sei (Roudinesco 2002, 37). Die Dominanz wissenschaftlicher Erklärungsmodelle zeige ihre kulturelle Wirksamkeit in der sozialen Nivellierung von Angst, Konflikt und Schuld und habe den Rahmen für eine »zeitgenössische Mentalität« geschaffen, die auf dem Paradigma der Depression beruhe. Entsprechend stehe »nicht mehr der seelische Konflikt, sondern die Ausrichtung an einer Norm im Vordergrund des Interesses« (Ebd., 19 u. 26). Vergeblich suche der Mensch der Gegenwart nach einer Bestätigung seines Selbst. In »der peinlich genauen Beobachtung seines Gesundheitszustandes oder im Kult des perfekten Körpers« manifestiere sich ein Typus von Mensch, der »glatt, lustlos 199 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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und völlig erschöpft« sowie stetig darum bemüht sei, »den eigenen Leidenschaften aus dem Weg zu gehen« (Ebd., 21). Das Individuum befinde sich in der liberal-depressiven Gesellschaft in der ausweglosen Situation, immerwährend nach seiner Einzigartigkeit suchen zu müssen, die jedoch im experimentellen Paradigma der Empirie und Beweisbarkeit ausgelöscht worden sei. In den dominanten Erklärungsmodellen der Verhaltenstheorie und der Kognitionswissenschaften erkennt Roudinesco also ein Menschenbild, in dem der Mensch, der »als Maschine funktioniert, viel mehr wert ist als ein Mensch mit seinem Begehren« (Ebd., 15). Insofern betreibe die gegenwärtige Wissenschaft vom Geist mit ihrem Deutungsmodell des Gehirns als Computer nichts anderes als eine Verdinglichung der Seele, angesichts derer die subjektive Dimension bedeutungslos wird (Ebd., 20 u. 25). Diesem Denkansatz stellt Roudinesco das psychoanalytische Prinzip der Heilung gegenüber, das die bewussten und unbewussten existenziellen Grunderfahrungen des persönlichen Lebens als Ursachen von Krankheiten anerkennt (Ebd., 37). Roudinescos Auseinandersetzung mit den Bio- und Technowissenschaften erfolgt dabei in Rekurs auf eine Tradition der Wissenschaft vom Unbewussten. In ihrer Verteidigungsschrift »Wozu Psychoanalyse?« weist Roudinesco die gängigen Reduktionismen der Naturwissenschaften und das von ihnen begründete behavioristische Menschenbild radikal zurück und betont die kulturtheoretischen Potenziale psychoanalytischer Subjekttheorien. Die Psychoanalyse sei, so Roudinesco, der einzig wissenschaftliche Ansatz, die ein Subjekt anerkenne, indem sie die »Besonderheit seines Unbewußten« (Ebd., 72) denke. Für Roudinesco stehen die Auseinandersetzungen um die Psychoanalyse und Freud im 20. Jahrhundert exemplarisch für die Herausbildung eines Subjekts, das sich in der szientistischen Illusion seiner Quantifizier- und Vermessbarkeit selbst abgeschafft habe (vgl. Ebd., 33 f.). Der »Konformismus und Gesundheitswahn der Gegenwart« ist für Roudinesco Ausdruck einer neuen »Barbarei der BioMacht«, in der »die Subjektivität keine Rolle mehr spielt« (Ebd., 52). Auch Elisabeth List sucht in einer anderen, biologisch-vitalistischen Tradition der Biologie nach einem Verständnis der menschlichen Lebensform jenseits biowissenschaftlicher Zugriffe, das den Eigentümlichkeiten des lebendigen, tätigen Subjekts Rechnung trägt. Für ihr philosophisches Projekt einer »Ethik des Lebendigen« sucht sie nach vitalistischen Konzeptionen von Subjektivität, die »unseren eigenen Erfahrungen des Lebendigseins« (List 2009, 34) entsprechen. 200 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Dabei unterscheidet sie zwischen einem wissenschaftlich fundierten Lebensbegriff und der lebensweltlichen Dimension. Unter Rückgriff auf diese Differenzierung von Leben und Lebendigkeit konstatiert List, dass in den Biowissenschaften schon längst nicht mehr, »wie man vermuten könnte, vom Lebendigen, sondern von Leben [die Rede]« (Ebd., 25) sei, wobei Leben als ein auf Reduktionismen und technischen Machbarkeiten basierender Begriff gedacht werde. In diesem vor allem biowissenschaftlich formatierten Lebensbegriff haben das Lebendige und das Subjekt keinen Raum. Leben bedeutet in diesem Sinne vor allem eine Festschreibung auf Paradigmen der technischen und praktischen Effizienz und wird einseitig materialistisch-mechanistisch ausgedeutet. Ausgehend von einer Kritik am Cartesianismus geht List an den Beispielen der KI-Forschung, der Robotik, aber auch des Transhumanismus den in den Wissensformationen der Bio- und Technowissenschaften angelegten Tendenzen einer »Gefährdung, vielleicht Verdrängung des Lebendigen« (List 2001, 11) 11 nach. Unter Rückgriff auf die philosophische Anthropologie sucht sie nach einem neuen Verständnis des Lebendigen, das der »Tatsache der Offenheit und Situiertheit aller Prozesse des Lebendigen, den Signaturen seiner Kontingenz, Rechnung« (List 2009, 95) trägt. Lists Auseinandersetzung mit den Biowissenschaften nimmt ihren Anfang bei der Klärung des Verhältnisses von Technik und Leben, also von der Frage »nach der Art und Weise der Beziehung zum Leben, die die Biotechnologien und die Technik allgemein mit sich bringen« (Ebd., 9). Dabei ist es ihr zentrales Anliegen, eine andere Theorietradition der Biologie zur Sprache zu bringen, die sie ins Zentrum der Auseinandersetzungen mit den gegenwärtigen Biowissenschaften stellt. Entscheidend für List sind dabei jene Sichtweisen, in denen ergründet wird, »was es aus der Perspektive lebendiger Erfahrung heißt, lebendig zu sein«, und in denen es entsprechend »nicht um Leben als einem in der raum-zeitlichen Ordnung des Kosmos eingefügten Stück Materie mit einer spezifischen Organisation« (Ebd., 12) geht. Dafür knüpft List an Konzepte des organischen Lebens an, die »sich in offenen Widerspruch zu den Prämissen des mechanistischen Paradigmas der Biologie« stellen, und bezieht sich unter anderem auf die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners (Ebd., 33). Unter Rückgriff auf vitalistische Traditionen der Biologie deutet sie das biologische Wissen 11

Vgl. auch Lettow (2011, 270 ff.).

201 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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in den Räumen aus, in denen Subjektivität und die spezifischen Organisationen des Lebendigen einen Ort haben. Wesentlich ist hier eine Kritik an materialistisch-mechanistischen Sichtweisen des Lebens, wie sie List auch in den gegenwärtigen Biowissenschaften erkennt. Denn in den Bio- und Lebenswissenschaften der Gegenwart komme Leben nur vor, insofern es auch mit experimentellen Verfahren der Selektion und Reduktion erfasst werden kann. Insbesondere die Molekularbiologie habe mit den Metaphern des Codes und der Information nicht einfach einen Theoriewandel im Inneren, mithin einen Paradigmenwechsel im Sinne Kuhns vollzogen, sondern eine Sprache des Lebens hervorgebracht, die in der lebensweltlichen Wirklichkeit im »Habitus einer Kultur der Selbstoptimierung« (Ebd., 109) längst Gestalt angenommen habe. Die informationstheoretischen Metaphern des Lebens lassen nach List auch deutliche Bezüge zu sozialen Erfahrungen und einer »bestimmten Gestalt des Selbst erkennen« (Ebd., 9). So betont sie, dass die Idee des Körpers als Maschine, die seit Descartes das wissenschaftliche Weltbild geprägt habe, auch in den gegenwärtigen Biowissenschaften eine zentrale Rolle spiele. Im Anschluss an Knorr-Cetina geht List davon aus, dass heute mehr denn je das Maschinenparadigma »die alltägliche Forschungsarbeit der Biowissenschaftler und ihren Umgang mit Lebewesen als ihren Forschungsobjekten« (Ebd., 28) präge. Die mit diesem Paradigma vollzogene Kopplung von organisch-lebendigen Prozessen mit einem Mechanismus der Kausalität gehe einher mit der »totalen Eliminierung der nicht plan- und kalkulierbaren Dimension des menschlichen Lebens« (Ebd., 108). 12 Meines Erachtens ging es Knorr-Cetina in erster Linie darum zu zeigen, dass die Unterscheidung des Wissens in die »zwei Kulturen« der Natur- und der Geisteswissenschaften eine systematische Fehldeutung des Wissenschaftsgeschehens mit sich bringt. Denn laut Knorr-Cetina sind die Unterschiede zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften weder in empirischer noch in historischer Weise so groß, wie oftmals unterstellt wird. In Die Fabrikation von Erkenntnis hat sie gezeigt, dass sich die tradierte Unterscheidung zwischen den beiden Wissenschaftskulturen zwar bekanntlich wesentlich in methodologischen Auseinandersetzungen herausgebildet hat, diese jedoch ihren Ursprung weniger in der Realität des Alltags beider Wissenschaften hatten als vielmehr in dem Bild, das von ihnen gezeichnet und weitgehend ungeprüft übernommen wurde. Anstatt die Unterschiede zwischen den Arbeits- und Denkweisen der beiden Wissenschaftskulturen aufzuzeigen, betont Knorr-Cetina die Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Denn sowohl die Geistes- als auch die Naturwissenschaften sind in empirisch vorfindbaren, sozial situierten, kontextuellen Merkmalen der Wissensfabrikation verortet, ebenso wie sie von den symbolisch-interpretativen Qualitä-

12

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Für List hat sich der Begriff des Lebens somit in die Logik technischer Machbarkeiten und der wissenschaftlichen Verfügung eingeschrieben. Die Maschine steht dabei paradigmatisch für reduktionistische, mechanistische oder materialistische Deutungsmuster des Lebendigen sowie für Prozesse der Selbsttransformation des Menschen, an dessen Stelle eben die Maschine getreten ist. Im Begriff der Maschine manifestiert sich also eine materialistische Verdinglichung des Lebendigen, die mit dem Verlust einer auf Lebendigkeit bezogenen Subjektivität verbunden ist. Jede Theorie und Wissenschaft vom Leben – so lautet Lists appellatorisches Resümee – habe anzuerkennen, dass ihr »erster und letzter Bezugspunkt die gelebte Erfahrung lebendiger Subjekte« sei, denn die »Lebendigkeit ist die Möglichkeitsbedingung für Subjektivität« (Ebd., 35).

4.

Fremdheit, Maschinenparadigma und die Historizität des Wissens

Trotz der unterschiedlichen Bezüge auf verschiedene Wissenschaftstraditionen kehren in den oben genannten Positionen doch ähnliche strukturelle Probleme wieder. 13 Wenn sich Roudinesco in Rekurs auf eine Wissenschaft des Unbewussten auf eine Formation von Subjektivität bezieht, um den gegenwärtigen Bio- und Technowissenschaften kritisch entgegenzutreten, dann bezieht sie sich mit der Psychoanalyse auf ein theoretisches Unternehmen, das vor dem Hintergrund eines bestimmten Maschinenparadigmas ausgearbeitet wurde. Freuds Ausarbeitung einer Theorie der Psyche fügte sich mit den Begriffen der Leistung, Verdrängung und Übertragung in das historische Modell der Energiemaschine ein und griff damit ein Maschinenparadigma des 19. Jahrhunderts auf. Umgearbeitet und weiterentwickelt wurde die von Freud ausgearbeitete psychoanalytische Theorie der menschlichen Psyche dann von Jacques Lacan in den 1950er-Jahren. Im Zeitalter des Computers zielt Lacan über die Analogie zwischen der Sprache bzw. dem Symbolischen und der kybernetischen Maschine auf ein neues, anderes Verständnis von Subjektivität (vgl. Lacan 2015) und bezieht sich dabei auf die in den 1950erten von WissenschaftlerInnen beider Kulturen getragen sind. Vgl. Knorr-Cetina (2012, 247 f.). 13 Vgl. hierzu auch Lettow (2011, 280 ff.).

203 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Jahren sich herausbildenden kybernetischen Informations- und Kommunikationstheorien. Das Entscheidende für Lacan war, dass sich in der kybernetischen Feedbackmaschine ein ganz neuer, bisher nicht zur Kenntnis genommener Mechanismus manifestiert, der eben nicht mehr – wie noch zu Zeiten Freuds – mit Energie und Leistung, sondern mit Information und Symbolen operiert. Die Theorien der Kybernetik waren dabei von zwei wesentlichen Erneuerungen des mechanischen Paradigmas geprägt. Zum einen hatte die Kybernetik mit der technischen Realisierung eines Feedbackmodells die für das 19. Jahrhundert noch entscheidende Differenz zwischen reversiblen und irreversiblen Prozessen brüchig werden lassen, die für die Unterteilung von organischen und anorganischen Systemen wesentlich war. 14 Zum anderen konnte mit der technischen Modellierung der Kommunikation Information nunmehr im Sinne von Botschaft und Quantität und nicht mehr im Sinne von Bedeutung und Qualität gedacht werden. Die menschlichen Sprachen und nicht nur die Maschine basieren für Lacan auf einem Formalismus, der mit »etwas so formal geläutertem wie den mathematischen Symbolen exemplifiziert« (Lacan 2015, 361) werden kann. Für Lacan ist es die Kybernetik, die eine Vorreiterrolle einnimmt, um zu zeigen, dass »die Sprache völlig unabhängig von uns existiert« (Ebd., 361). Wie Langlitz in seiner Untersuchung gezeigt hat, schließt Lacan hier direkt an Wieners Begriff der Kommunikation an: Die Individualität »eines Menschen basiert also auf seiner Form bzw. seinem Schema, nicht auf der Materie, aus der er besteht« (Langlitz 2005, 165). Lacan hatte sich diese Theorien insofern zu eigen gemacht, als auch das sprechende Subjekt innerhalb einer symbolischen Ordnung agiert und Sprache letztlich in weiten Teilen auf einem Automatismus basiert. So, wie die Maschine operieren kann, ohne die Bedeutung der Operation zu kennen, so spielt sich auch im sprechenden Subjekt etwas Automatenhaftes ab, denn die menschliche Sprache ist insofern wie eine Maschine verfasst, als sie gleichsam »fast ganz von selbst funktioniert«, sich also jenseits des Subjekts vollzieht (Lacan 2015, 361). Statt also einer wissenschaftlich-technischen Rationalität die lebensweltlichen Erfahrungswelten von Sinn und Bedeutung entgegenzustellen, erkundet Lacan mithilfe der Kybernetik die technologischen Bedingtheiten von Subjektivität, die Begrenzungen und Verwerfungen mechanistischer Kategorien, aber auch deren jeweilige 14

Vgl. hierzu Langlitz (2005, 175, Fn 52); weiterhin Wiener (1968, 53–68).

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Tradierungen, die sich weder umstandslos aus wissenschaftlichen Logiken noch aus kulturellen Vorstellungen heraus erschließen lassen. Auch die im Rahmen der gegenwärtigen Anthropologie zu verortenden Anstrengungen von Elisabeth List, eine die ursprünglichen Lebensprozesse fundierende biologische Identität zu bestimmen, sind aus historischer Perspektive kein unproblematisches Unterfangen. Im Rückgriff auf Konzepte der Ganzheit sowie in Orientierung an holistischen Denkansätzen des Organischen wird – wie Lettow eindrücklich gezeigt hat – ein »romantisches Artikulationsmuster« aufgenommen, »das auch in der Lebensphilosophie der 1920er und 1930er Jahre Konjunktur hatte« (Lettow 2011, 274). Allerdings wird in aktuellen Positionen, die die Lebensphilosophie der 1920er-Jahre aufgreifen, häufig der politisch-ethische Kontext im »Diskursuniversum der Weimarer Republik« ausgeblendet. Gerade mit ihrem »Pathos der Ganzheit und Lebendigkeit« habe sich, wie Lettow betont, die Lebensphilosophie nicht selten durch »konservative […], nur zu oft auch totalitäre […] und rassistische […] Konnotationen« (Ebd.) ausgezeichnet. Allzu offensichtlich sind auch die Überschneidungen mit der feministischen Technikkritik der 1970er-Jahre. So hat Angelika Staupe betont, dass eine Technikkritik, die sich unter Rückgriff auf das Konzept des autonomen Selbst als »Gegenposition zur instrumentellen Rationalität kapitalistischer Technisierungsprozesse« versteht, in der Überhöhung des Lebendigen letztlich »eine Wendung zurück zu Traditionen zivilisations- und entfremdungskritisch argumentierender Kulturkritik« 15 vollziehe. In der Gegenüberstellung von Erfahrung und Abstraktion, von Konkretem und Allgemeinem sowie von Technik und Leben wird unter Rückgriff auf holistische Konzepte des Lebendigen eine zunehmende Heterogenisierung und Abspaltung des subjektiven Lebens bzw. der menschlichen Erfahrung von wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion postuliert, die nur wieder eine Kritik bemüht, die auf einem Dualismus von Wissenschaft und Leben beruht. Mit der Logik von Begrenzung und Verteidigung wird dabei ein Diskurs vorangetrieben, der über die üblichen Entfremdungsund Abschaffungsargumentationen kaum hinauszugehen vermag und die wissenschaftlichen Praktiken biotechnologischen Forschungshandelns letztlich nur unzureichend erfasst. Gerade die Metaphern der Verdrängung und Nivellierung deuten an, dass Technik 15

Angelika Staupe, zitiert nach Lettow (2011, 275).

205 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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und Leben hier als zwei unterschiedliche, voneinander getrennte Bereiche aufgefasst werden. Auch die Bezüge auf Fremdheit und Entfremdung beruhen auf einer Argumentation, die Technik mit der Herrschaft einer instrumentellen Vernunft gleichsetzt, wie sie im 20. Jahrhundert exemplarisch von Adorno und Heidegger formuliert wurde. Der Mensch sei nur scheinbar der Beherrscher und Meister der ihn umgebenden Natur, in Wirklichkeit – so das Entfremdungsargument – sei er aufgrund der Dynamiken der wissenschaftlich-technischen Rationalität schon längst zum Objekt der Technik geworden. Ein Ausweg aus dieser Entwicklung wird gerade in jenen Denkansätzen gesucht, die sich auf die lebensweltliche Erfahrung des Menschen und »auf die Instanz eines in der Lebenswelt festverankerten ›Ichs‹« (Griesecke 2014, 18) beziehen. Wie Birgit Griesecke in ihrer Studie Fremde Wissenschaft? gezeigt hat, vermag die Argumentation einer zunehmenden Entfremdung letztlich auch nicht, über die bestehenden Ordnungen des Wissens und die herkömmlichen Bilder von Wissenschaft hinauszugehen (Ebd., 15–91). Statt also diese Bilder zu irritieren, die unabdingbaren Konstituentien des Wissens wie Zufall oder Unsicherheit im Forschungsprozess zu suchen, wird hier ein Technik- und Wissenschaftsverständnis vorausgesetzt, das selbst immer schon kulturell und machtpolitisch vermittelt ist. Fremdheit trägt niemals nur die Signatur eines anthropologisch Fremden in sich, sondern verfügt auch über das Potenzial zur Infragestellung von Selbstverständlichkeiten. Gerade die Wissenschaftsforschung hat in den letzten Jahrzehnten entscheidende Impulse von ethnografischen Studien erhalten, um »das herkömmliche Bild kultureller Unanfechtbarkeit wissenschaftlichen Denkens« (Ebd., 24) infrage zu stellen. Im Horizont pluralistischer Vorstellungen von wissenschaftlicher Rationalität haben sich die herkömmlichen Methoden und Begriffe »als zu dürftig« erwiesen, um auch nur ansatzweise auszuloten, was mit biotechnologischen Modifikationen und Selbsttransformationen des Menschen in einer hochtechnisierten Welt überhaupt auf dem Spiel steht (Ebd., 22). Der epistemologische Gewinn, den die Wissenschaftsforschung aus der Ethnografie ziehen konnte, lag vor allem darin, den Entfremdungstheorien die Verfremdungseffekte des Wissens gegenüberzustellen und in der methodischen Verfremdung der Gegenstände und Methoden des Erkennens das Denken selbst der Verfremdung auszusetzen (Ebd., 24 f.). Das erkenntnistheoretische Programm der historischen Epistemologie hat sein kritisches Potenzial von Ludwik 206 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Fleck über Georges Canguilhem bis zu Michel Serres und Bruno Latour gerade durch die Verfremdung des Wissens und der Wissensordnungen über den Ausweis ihrer lokalen Begrenztheit und historischen Situiertheit entfaltet und damit auch an kulturtheoretischen Ansätzen der Differenz angesetzt. 16 In diesem Sinne ist Fremdheit eben nicht mit einer ohnmächtigen Entfremdung des Subjekts durch die wissenschaftlich-technische Rationalität gleichzusetzen, sondern Fremdheit zeichnet sich bereits in den Widerständigkeiten und Eigenlogiken des wissenschaftlichen Tuns, in den spezifischen Materialitäten des Wissens und der Dinge ab und besitzt damit auch das Potenzial, die herkömmlichen Bilder von Wissen und Wissenschaft zu irritieren. Fremdheit bedeutet in diesem Sinne also nicht einfach Verlust, sondern – einmal in den »epistemologischen Dienst genommen« – eben auch Gewinn (Ebd., 22). Statt auf einer Ordnung wissenschaftlich-technischer Zurichtung auf der einen und lebensweltlicher Erfahrung auf der anderen Seite zu bestehen, zeigen sich mit Blick auf das Forschungshandeln selbst bereits die Eigenlogiken einer spezifischen Materialität des Lebendigen im Prozess der wissenschaftlich-technischen Zurichtung und Intervention. Statt sich auf lebensweltliche Erfahrungswelten zu berufen, um in der Annahme der Offenheit und Situiertheit des Lebendigen jenseits wissenschaftlicher Zurichtungen zu einer kritischen Position zu gelangen, könnte es das Forschungshandeln selbst sein, das dieses kritische Potenzial bereithält. Denn im experimentellen Zusammenhang von Methode und Objekt kommt bereits die Widerständigkeit und Potenzialität des Lebendigen zum Vorschein. Insofern wäre das Lebendige im Hinblick auf seine experimentelle Dimension zu bestimmen. Diese Einsicht wird seit einigen Jahren im Bereich einer sich neu formierenden »Biophilosophie« umgesetzt.

Damit ist vor allem der Bereich der Wissenschaftsforschung angesprochen, für den sich die Bezeichnung laboratory studies etabliert hat. Im Anschluss an ethnografische Feldforschung basieren diese Forschungsprogramme auf einer handlungstheoretischen Perspektive, aus der danach gefragt wird, wie Wissen am mikrokosmischen Ort des Labors hergestellt wird. Im Mittelpunkt stehen dabei die lokalen, konkreten und handlungsbezogenen Aspekte der Wissensproduktion. Vgl. hierzu Knorr-Cetina (2012); Pickering (1995); Latour u. Woolgar (1979); Latour (2002); dazu auch Paulitz, (2012).

16

207 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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5.

Eine »Biophilosophie« des biologischen Wissens

Die Biologie versteht sich seit ihrer Entstehung als eine Naturwissenschaft. Gleichwohl lässt sich die Biologie in der Gesamtheit ihrer vielfältigen Methoden und Forschungspraktiken nicht auf das naturwissenschaftliche Ideal eines mathematisch-mechanistischen Paradigmas festschreiben. Weil die Biowissenschaften im Modus der experimentellen Intervention und Zurichtung verfahren, müssen die Forschungsobjekte transformiert und zugerichtet werden, um Dinge des Wissens werden zu können. Um überhaupt zu biologischem Wissen zu gelangen, werden also Methode und Gegenstand ständig miteinander verschränkt, neu justiert und verändert. Insofern lassen sich auch die Biowissenschaften nicht angemessen erfassen, wenn nur die Modi von Reduktionismus und Mechanismus in den Blick genommen werden. Diese Modi können allenfalls als ein empirischer Zugang beschrieben werden, der nicht umstandslos auf die Biowissenschaften mit ihrer Vielfalt oftmals kaum vergleichbarer empirischer Zugänge übertragen werden kann. Wenn hier also von einer »Biophilosophie« die Rede sein soll, dann geht es um ein Verständnis der Biologie »vor allem unter pluralistischen Vorgaben«, wie Kristian Köchy in dem Band »Biophilosophie« konstatiert (Köchy 2008, 18). Auch wenn es dem Ideal mathematisch-physikalischer Wissenschaften entspricht, nur die Objekte zu erforschen, die auch den methodischen Vorgaben entsprechen, lassen sich die mit dem Leben verbundenen Wissenschaften nicht unter der Maßgabe der methodologischen Forderung nach Stabilität, Homogenität und Widerholbarkeit erfassen. Denn – so Köchy – die biowissenschaftliche Laborforschung als eine »Technologie der Intervention« untersuche mit ihren manipulativen Verfahrensweisen gerade nicht Objekte, die unter die Vorstellung eines mathematisch-physikalischen Idealgegenstandes fallen. Vielmehr greife das konstruierte und experimentelle Wissensding »im Vollzug der Forschung aktiv oder passiv in den Konstruktionsvorgang ein. Letztlich hat man es mit einer wechselseitigen Beziehung zu tun. Es ist davon auszugehen, dass Methode und Objekt sich im praktischen Prozess der Forschung nach Art der Koevolution gegenseitig beeinflussen.« (Ebd., 53) Unter dem Gesichtspunkt der experimentellen Forschungspraxis muss auch ein kritischer Ansatz der Tatsache gerecht werden, dass im biologisch-experimentellen Modus Subjekt und Objekt des Wissens sich gegenseitig beeinflussen und auch der Forschende ein lebendiges Wesen ist. Aus dieser Per208 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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spektive heraus sind Objekt und Subjekt des Wissens somit an die spezifische Verfasstheit der Forschungspraktiken selbst zurückzubinden. Wie Köchy im Anschluss an Maturana schreibt, ist die Biologie stets von einem grundsätzlich doppelten Zugang gekennzeichnet: als eine »Biologie von außen«, die auf physikalisch-technomorphen Ansätzen beruht, und als eine »Biologie von innen«, die die Widerständigkeit des biologischen Objekts als »Reaktion auf die Bedingungen dieses spezifischen Objektbereichs anerkennt« (Ebd., 123). Technik und ihre Artefakte sind einerseits immer im Hinblick auf ihre Einbettung in soziale und historische Kontexte, andererseits aber auch im Zusammenhang mit der Geschichte von Forschungspraktiken und des Wissens zu betrachten. Es wäre also zu fragen, ob ein Technik- oder auch ein Subjektivitätsverständnis, das auf einer strikten Trennung von Subjekt und Objekt beruht, die technologischen Bedingtheiten von Subjektivität angemessen erfassen kann, und wie die wechselseitigen Verknüpfungen von Praktiken des Experimentierens und materieller Dingen im Hinblick auf Theorien und Konzepte vom Leben in den Blick zu nehmen sind. Die unter Maßgabe allgemeiner Prinzipien der Lebendigkeit formulierte Annahme einer grundsätzlichen Vorgängigkeit körperlicher Erfahrungen könnte unter biophilosophischen Prämissen letztlich auf eine Biologisierung und Naturalisierung des Körpers hinauslaufen. In dem Bemühen, philosophische Konzepte des Lebendigen jenseits wissenschaftlicher Zugriffe zu umreißen, wird nicht nur eine Kluft zwischen wissenschaftlicher Objektivierung und lebendiger Erfahrung postuliert, sondern Körper und Leben werden überdies einem prädiskursiven Bereich zugeordnet. 17 Die oben diskutierten Positionen beruhen zwar auf kritischen Motiven, doch indem sie den Menschen auf seine Natur hin bestimmen, ist zu fragen, ob sich ein am Maschinenbegriff ausgerichteter philosophischer Entwurf einer Kritik am wissenschaftlichen Rationalismus nicht doch wieder in eine Lettow hat in ihrer Analyse eindrücklich gezeigt, dass Lists Verständnis von Subjektivität letztlich auf der Annahme »eines dem Kulturellen vorgängigen biologischen Körpers, der durch die symbolische Ordnung nur überformt wird«, beruht. Sie kommt zu dem Schluss: »Indem die ›Produktivität des Lebendigen‹ und das prädiskursive Körperselbst als Instanz von Kritik und Verdrängung erscheint, werden die heterogenen, immer auch widersprüchlichen Praxen, in denen hegemoniale Geschlechterkonstruktionen und hierarchische Geschlechterverhältnisse angefochten werden, ausgeblendet beziehungsweise auf eine homogene Antriebskraft reduziert.« (Lettow 2011, 277 f.)

17

209 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Reduktion und Positivierung des Lebensbegriffs verkehrt. In dem dabei zum Tragen kommenden Wissenschafts- und Technikverständnis wird zudem die Gesamtheit wissenschaftlicher Aktivitäten nicht selten als Manifestation eines Mechanismus aufgefasst und der wissenschaftliche Erkenntnisprozess auf einen immerwährenden Konflikt zwischen vitalistischen und mechanistischen Positionen zurückgeführt. Fraglich ist, ob ein solches Verständnis von wissenschaftlicher Forschungspraxis nicht doch dazu tendiert, Technik und Wissenschaft dem Bereich des Materiellen und Rationalen und das Leben einem Bereich außerhalb der Wissenschaften zuzuordnen. In seiner Auseinandersetzung mit der Historizität des Körper-Maschine-Verhältnisses hat Georges Canguilhem bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass das Leben nicht jenseits des Wissens steht und die Maschine nicht als dem Leben entgegengesetzt aufzufassen ist. Canguilhems Entwurf einer Technikphilosophie ordnet Technik den Erfordernissen des Lebens unter und verschließt sich so einer metaphysischen Überhöhung bzw. einer Vorstellung von der Sonderstellung des Lebens (vgl. Borck 2007, 220). Insofern verspricht Canguilhems philosophisches Unternehmen einer Technikphilosophie des Lebens auch eine Lebensphilosophie zu sein, die ihr kritisches Potenzial gerade dadurch entfaltet, dass sie über eine systematische Fixierung auf das Lebendige hinausgeht. 18

6.

Posthumanistische Interventionen und historische Epistemologie

In der Seminarmitschrift Das Ich in der Theorie Freuds findet sich eine Randbemerkung Lacans, über die sich eine Brücke zu Canguilhems Betrachtung des Verhältnisses von Organismus und Maschine schlagen lassen könnte. Lacans kleine Anmerkung findet sich im finalen Abschnitt, in dem er sich mit der Kybernetik auseinandersetzt und der unter dem Titel »Psychoanalyse und Kybernetik oder von der Natur der Sprache« veröffentlicht wurde. »Man weiß wohl«, heißt es dort, »daß sie nicht denkt, diese Maschine. Wir sind’s, die sie gebaut haben.« (Lacan 2015, 385) Sofern, wie man vermuten kann, hier auf den Aspekt des Konstruierens abgestellt wird, versteht Lacan die Maschine als einen aktiven Teil des menschlichen Tätigseins. In diesem 18

Vgl. hierzu auch Ebke (2012).

210 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Der Körper im Denken der Maschine

Sinne lässt sich eine erstaunliche Parallelität zwischen Lacan und dem Wissenschafts- und Medizinhistoriker feststellen, insofern auch Canguilhems Bestimmung der Technik auf die Dimension des Bauens und Experimentierens zielt. In der Gestalt der fertigen, funktionsfähigen Maschine bleibt gerade diese Dimension oftmals verschüttet. Canguilhems Analyse einer mechanistischen Auffassung des Organischen zielt darauf, Technik als eine Form der lebendigen Auseinandersetzung mit der Umwelt zu beschreiben und solche Auseinandersetzungen ins Zentrum seiner Betrachtung der Geschichte der Wissenschaften zu stellen. Auch das Leben schreibt sich in die Technik ein und nicht nur die Technik in das Leben. Diese doppelte Bedeutung der Erkenntnis des Lebens, wonach das Leben nicht nur ausschließlich das Objekt der Erkenntnis, sondern auch ihr Subjekt ist, ist der Ausgangspunkt von Canguilhems Überlegungen zum Verhältnis von Maschine und Organismus. Aus der Perspektive der Geschichte des Lebens und seiner Begrifflichkeiten gewinnt Canguilhem wichtige Einsichten zum Verhältnis von Wissenschaft und Leben, die bis heute nicht an Aktualität verloren haben. 19 Canguilhems wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen der Technik ziehen ihr kritisches Potenzial gerade nicht aus der Vorstellung eines vor jedem Erkenntnisakt stehenden originären Sinns, sondern aus der Analyse der jedem Rationalismus und jeder Technik innewohnenden vitalen Dimension. Canguilhems Ausführungen zum Verhältnis von Maschine und Organismus nehmen ihren Anfang von der Revision der mechanistiDer Text »Maschine und Organismus« basiert auf einem von Canguilhem 1947 gehaltenen Vortrag und wurde 1952 in dem Band La connaissance de la vie in der Librairie Hachette in Paris veröffentlicht. Auf Deutsch erschien der Aufsatz 2007 im dritten Band des Zürcher Jahrbuchs für Wissensgeschichte. Er erschien ferner in der Aufsatzsammlung Die Erkenntnis des Lebens, die 2009 vom Verlag August (Berlin) in der Übersetzung von Maria Muhle, Till Bardoux und Francesca Raimondi publiziert wurde. Vgl. Canguilhem (2007); dazu auch Borck (2007); der kürzlich von DeuberMankowsky und Holzhey herausgegebene Band Situiertes Wissen und regionale Epistemologie setzt sich kritisch mit Begriffen des Lebens auseinander, die auf Konzeptionen der »Ganzheitlichkeit und Sinnerfüllung« beruhen. Ziel der dort versammelten Studien und Diskussionen ist es, im Anschluss an Canguilhems Konzept der regionalen Epistemologie und Haraways Konzept des situierten Wissens eine Standortbestimmung der historischen Epistemologie und der feministischen Wissenschaftskritik vorzulegen und nach der Rolle zu fragen, die »die materiellen Dinge, die Technik und die Praktiken des Experimentieren in und außerhalb des wissenschaftlichen Labors für die Geschichte der Begriffe spielen« (Deuber-Mankowsky u. Holzhey 2013, 7).

19

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Birgit Stammberger

schen Theorien des Organismus. Heute, so konstatiert er, werde eine Gleichsetzung organischer Funktionen mit einem Mechanismus »von jenen Biologen, die sich auf einen dialektischen Materialismus berufen, für eine enge und ungenügende Sichtweise gehalten« (Canguilhem 2009, 183). Canguilhems Beschäftigung mit der Maschine zielt jedoch nur auf den ersten Blick auf Theorien, die bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in den Wissenschaften vom Leben an Relevanz verloren haben. Vielmehr ist die wissenschaftshistorische Analyse des Verhältnisses von Maschine und Organismus Anlass und Ort für eine Diskussion philosophisch und erkenntniskritisch relevanter Probleme. Denn die Frage nach dem Verhältnis von Maschine und Organismus ist für Canguilhem »sehr viel umfassender, komplexer und philosophisch bedeutsamer« (Ebd.). Weder radikale Ablehnung noch euphorische Affirmation mechanistischer Theorien des Organischen könnten den Rahmen für eine Epistemologie und Philosophie der Technik bilden. Vielmehr geht es um eine Einbettung der Technik in die Geschichte der Wissenschaften, denn beide können »nicht für sich« betrachtet werden, wie Astrid Deuber-Mankowsky schreibt. Canguilhem bestehe darauf, »dass das biologische Problem der Organismus-Maschine nicht unabhängig vom Zusammenhang von Technik und Wissenschaft behandelt werden könne« (Deuber-Mankowsky 2013, 112). Technik ist für Canguilhem weder einfach nur angewandte Wissenschaft noch könne man in Maschinen »nur materialisierte Theoreme« (Canguilhem 2009, 184) sehen. Die wissenschaftsgeschichtliche Analyse der Technik ist dabei von einer Kritik am reduktionistischen Fehlschluss getragen, Technik einfach nur als angewandte Wissenschaft zu verstehen (vgl. Deuber-Mankowsky 2013, 112). Jede philosophische Betrachtung der Technik greife nach Canguilhem zu kurz, wenn sie die Maschine als etwas Gegebenes voraussetze und von diesem Punkt aus das Problem der Körpermaschine zu lösen versuche: »Man hat fast immer versucht«, so Canguilhem, »ausgehend von der Struktur und der Funktion der bereits gebauten Maschine die Struktur und die Funktion des Organismus zu erklären; selten hat man jedoch versucht, die Konstruktion der Maschine ausgehend von der Struktur und der Funktion des Organismus zu verstehen.« (Canguilhem 2009, 184) Canguilhems Revision einer mechanistischen Organismustheorie zielt also auf eine Neubestimmung der Technik und Wissenschaft im Verhältnis zum Leben. Nach Canguilhem kann Technik weder als bloßes Derivat eines Wissens 212 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Der Körper im Denken der Maschine

aufgefasst noch im Rahmen einer zeitlichen Chronologie von Theorie und Maschine erfasst werden. Das Wissen gehe, wie Canguilhem betont, der Technik weder »logisch« noch »chronologisch« (Ebd.) voraus. Canguilhems Betrachtung von Technik zielt darauf, den Moment des technischen Handelns, die konkreten Problemlösungen mit Technik und ihren Fehlschlägen zu verstehen und den Zusammenhang von Technik und Wissenschaft dahingehend zu erhellen. Wissenschaft und Technik sind zunächst zwei unterschiedliche »Tätigkeitstypen«, doch weder lässt sich Wissenschaft auf Rationalisierung festlegen noch ist die Technik der praktische Tätigkeitstyp des Herstellens, so, als hätte man es hier nicht primär mit einem intellektuellen Unterfangen zu tun. Vielmehr stehen Technik und Wissenschaft insofern immer schon in einem Zusammenhang, als »jeder von dem anderen bald seine Lösungen, bald seine Probleme entlehnt« (Ebd., 228). 20 Und weiter heißt es: »Es ist die Rationalisierung der Techniken, die den irrationalen Ursprung der Maschinen vergessen lässt, und es scheint, als müsse man sich in diesem Bereich wie in jedem anderen drauf verstehen, dem Irrationalen einen Platz einzuräumen, selbst und vor allem, wenn man den Rationalismus verteidigen will.« (Ebd.)

Canguilhems Einbettung der Technik in vitale Zusammenhänge zielt nicht darauf, der Maschine das Leben entgegenzustellen, sondern Technik als Produkt einer Tätigkeit im Sinne eines schöpferischen Unternehmens zu verstehen. Jede Technik setzt auf wesentliche und positive Weise ein »vitales Original« voraus und ist damit nicht nur auf Formen der Rationalisierung reduzierbar (Canguilhem 2009, 205). Technik steht also in Kontexten des Experimentierens, Ausprobierens und Improvisierens. Vor aller Theorie ist Technik zunächst unvollkommen und wird in Verbindung mit Momenten des Erkundens und der Aneignung in das Leben eingeschrieben (vgl. Borck 2007; 218). »Aus philosophischer Perspektive ist es weniger wichtig, die Maschine zu erklären, als sie zu verstehen. Und sie zu verstehen heißt, sie in die menschliche Geschichte einzuschreiben, indem man die menschliche Geschichte ins Leben einschreibt, ohne indes zu verkennen, dass mit dem Menschen eine Kultur erscheint, die nicht auf die bloße Natur reduziert ist.« (Ebd., 219)

20

Vgl. hierzu auch Deuber-Mankowsky (2013, 112).

213 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Birgit Stammberger

Auch die Maschine erweist sich als ein aktiver Teil der Umformung, Aneignung und Sinngebung des Lebendigen. Technik kann somit nicht als etwas dem Leben Äußerliches gedacht werden, sondern für Canguilhem ist der Mensch über die Technik immer schon mit dem Leben verbunden. Ein Bruch zwischen Technik und Leben wird immer erst im Nachhinein durch die Wissenschaft herbeigeführt, indem von dieser ein Rationalismus beansprucht wird, der sich in der Negation der Dimension des Probierens, der Fehlschläge und Irrungen niederschlägt. Das Wissen vom Körper setzt dabei nicht seine Passivität, sondern vielmehr seine Lebendigkeit voraus, die Anlass und Ort von Forschungen sind. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht als immer weitergehende Abstraktionen von Wirklichkeit zu verstehen, sondern als eine Praxis, in die das Lebendige als konstitutives Moment der Erkenntnis vom Leben immer schon eingeschrieben ist. In dieser Hinsicht lässt sich nicht mehr danach fragen, wie und ob die wissenschaftlichen Zugriffe das Leben verfehlen, seine Vielfalt reduzieren und seine Pluralität negieren. Vielmehr räumt Canguilhem der Dimension des Lebendigen, die er in den Verfehlungen des Wissens aufspürt, einen Platz im Wissen ein. Wissenschaft selbst wird zu einer Form des lebendigen Austauschs, in dem das Leben als Leben Gestalt annimmt. Canguilhem ist also nicht der Autor einer Geschichte, die er schreibt, sondern der Beobachter von Ereignissen. Es ist diese Ereignishaftigkeit, die unausweichliche Iterabilität eines grundsätzlich immer schon prekären, instabilen Wissens, mit der die unterschiedlichen Logiken des Wissens vom Leben und des lebendigen Wissens offengelegt werden können. Als Gegenstand des Wissens erweist sich das Leben fortwährend als widerständig, und diese Widerständigkeit ist Ort und Anlass für weitere Forschungen. Dieser Anlass wird nicht ahistorisch gedacht, sondern verweist auf die zeitliche und räumliche Dimension des Wissens vom Leben. Nicht das Wissenschaftlersubjekt ist der Akteur des Wissens, sondern die Forschungsdynamiken entstehen aus der Interaktion von Personen, Verfahren, Apparaten, Praktiken, Materialien und Dingen. Indem Canguilhem die großen historischen Entitäten negiert, tritt an die Stelle von Theorien und Subjekten nun der »Begriff als kleinste Einheit der epistemischen Integration, d. h. der Abgrenzung, Interpretation und Verallgemeinerung von Erfahrung« (Schmidgen 2008, XVII). Um den wissenschaftlichen Diskurs beschreiben zu können, ist also ein Perspektivwechsel vom Wissenschaftlersubjekt zu den wissenschaftlichen Begriffen, von der Theorie 214 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Der Körper im Denken der Maschine

zur konkreten Praxis erforderlich. Was aus dieser Perspektive sichtbar wird, sind nicht Zugriffe, sondern Eingriffe, nicht Entdeckungen, sondern Einsätze, nicht fortschrittsgläubige Kontinuitäten, sondern Diskontinuitäten, nicht Aktionen, sondern Interaktionen. Es sind die Forschungsdynamiken, die beschrieben werden und eine Dezentrierung der Perspektive vom Menschen zum Leben bedingen. Dezentriert meint hier, dass die Perspektive in mehrfacher Hinsicht verschoben wird: erstens weg vom Subjekt des Wissens hin zu den Interaktionen von Apparaten, Personen, Verfahren, Dingen und Praktiken, zweitens weg von den allgemeinen Theorien hin zu den konkreten Praktiken und nicht zuletzt drittens eine Verschiebung weg vom Dualismus von Wissen und Leben. Durch die Entfaltung der Dynamiken, die diesen Perspektivverschiebungen innewohnen, könnte die historische Epistemologie des Biowissens dafür fruchtbar gemacht werden, den Anthropozentrismus und Schematismus des Maschinendenkens zu überwinden. Wissenschaftliche Wissensformen reduzieren über Praktiken der Auswahl, Selektion und Relevanzbestimmung notwendig die zahlreichen Möglichkeiten der Welt. Aber wenn diese Auswahl, diese notwendige Selektion und Relevanzbildung des Wissens immer auch ein stetiges Umformen und eine fortwährende Transformation bedeuten, dann muss gefragt werden, auf welche Weise solche Prozesse im Forschungsprozess angestoßen und unternommen werden. Denn in der Art des Fragens und in den Weisen des Forschen wird Einfluss genommen auf die Richtung der Weiterarbeit. Will man sich wissenschaftlich produziertem Wissen analytisch widmen, gilt es entsprechend, vor aller Kritik zunächst die Formen der Auswahl, der Gliederung und die Verfahren der Darstellung zu untersuchen, unter denen Wissen in Erscheinung tritt. Diese Analysen bedürfen zudem einer weiteren Grundlegung im Rahmen einer Kulturgeschichte des Wissens, nämlich in der Art von Untersuchungen, die versuchen zu klären, wann und unter welchen Bedingungen sich epistemologische Neuorientierungen der Wissenschaften in einer Kultur niederschlagen und wie diese historisch und kulturell, aber auch philosophisch verankert sind. Mit Blick auf die biowissenschaftlichen Entwicklungen und die damit verbundenen Transformationen der kulturellen Vorstellungen des Humanen könnte eine wissensgeschichtliche Untersuchung der zentralen Begriffe und Metaphern des Lebens, die hier ins Spiel kommen, auch dazu dienen, die Prozesse der Wissenserzeugung hinsicht215 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Birgit Stammberger

lich ihrer historischen Spezifika und jeweiligen Konjunkturen genauer als bisher zu bestimmen und zu unterscheiden.

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217 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Birgit Stammberger Sorgner, S. L. (2016): Transhumanismus – »die gefährlichste Idee der Welt«!?, Freiburg im Breisgau: Herder. Wiener, N. (1968): »Der Newtonsche und Bergsonsche Zeitbegriff«, in: ders.: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschinen, 2. Auflage, Reinbek: Rowohlt, 53–68.

218 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Christina Schües

Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive: ein transhumanes Paradigma

Viele biotechnologische Eingriffe haben Zugriff auf die conditio humana und unsere mitmenschlichen Beziehungen. Damit verändern sie auch unsere Erfahrungen. Dieser Beitrag diskutiert Erfahrungen im Zusammenhang von solchen Biotechnologien, die es erlauben, menschliches Körpermaterial zu teilen und an andere Menschen weiterzugeben. Durch die Weitergabe von Körpermaterial wird auch Leben weitergegeben. Um die virulenten Fragen nach dem Sinn des Lebens im Erfahrungskontext des gegebenen Weiterlebens und des Fremden im Eigenen (und des eigen Gewordenen im Entfremdeten) im Rahmen eines transhumanen Paradigmas aufzunehmen, bedarf es einer spezifischen phänomenologischen Methode. Phänomenologie richtet sich auf die Erscheinung und Konstitution von Sinn in der Erfahrung. Beruht aber die Erfahrung auf ganz besonderen Fremdheitskonstellationen, wie sie im Rahmen transhumaner Technologien hervorgerufen werden, dann wird ein besonderer Zugang zur Erfahrung benötigt. Diese phänomenologische Zugangsweise nenne ich Biophänomenologie. Der Name Biophänomenologie reflektiert, dass Biologie, Biotechnologie und Biographie als disziplinäre erfahrungsbegründende Praktiken in ihrer Verschränkung ineinander spielen und in dieser Relationalität für die Klärung und Entfaltung der Erfahrungen in transhumanen Praktiken sinnstiftend sind. Biophänomenologie setzt eine Erweiterung und Konkretisierung der Leibphänomenologie Merleau-Pontys und der generativen Phänomenologie (als eine Weiterentwicklung der husserlschen Transzendentalphänomenologie) voraus. 1 Mit der Anerkennung der Verflechtung von biotechnologischen Praktiken und dem gelebten Leben erfragt Biophänomenologie die Bedeutungen transhumaner Erfahrungen. Mit dem Begriff »transhuman« bezeichne ich nicht posthumane Szenarien der Überschreitung der Gattung »Mensch« oder 1

Zur generativen Phänomenologie siehe Schües (2016).

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Christina Schües

fähigkeitssteigernde Enhancement-Praktiken, sondern die Verpflanzung von lebendigem Körpermaterial von einem Menschen in einen anderen. Im Folgenden möchte ich zuerst erklären, was mit dem transhumanen Paradigma im Zusammenhang von Transplantationen gemeint ist und inwiefern es die conditio humana und mitmenschliche Beziehungen berührt. Dann werden die Begriffe und Kontexte des Lebens sowie des Körpers näher erläutert, um schließlich mit Hilfe einer Biophänomenologie die unterschiedlichen leiblichen Dimensionen und Fremdheitserfahrungen vor und nach einer Herztransplantation genauer zu erläutern.

1.

Transhumanes Paradigma, conditio humana und imaginäre Beziehungen

Die gegenwärtige Biomedizin kann mit dem Ersetzen von Körpermaterial heilen. Hierbei gibt es Unterschiede dessen, was implantiert oder transplantiert werden kann. Unter Implantaten versteht man die Einpflanzung lebloser Materialien, die eine Funktion übernehmen (z. B. das künstliche Hüftgelenk, der Herzschrittmacher, die elektronisch gesteuerte Apparatur, die Schmerzmittel an einer bestimmten Stelle abgibt, das einsetzbare künstliche Herz aus speziellem Material). Unter Transplantation versteht man hingegen die Verpflanzung von lebendem Material von einem Menschen in einen anderen Menschen. Transplantiert werden auch Zellen (z. B. die Insulin produzierenden Zellen aus der Bauchspeicheldrüse oder haematogene Stammzellen), solide Organe (wie die Niere, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse, das Herz oder Darmabschnitte) oder Gewebe (z. B. die Augenhornhaut). Als dritte Gruppe ist die Forschung an »tissue and organ engineering« zu nennen; sie lässt die Trennung zwischen Implantation und Transplantation undeutlich werden, da es um lebende Zellen geht, die im Labor mit Hilfe genetischer Manipulation weitergezüchtet werden, um sie dann einzupflanzen. Es ist also lebendiges Material, das aber nicht direkt von einem Menschen in einen anderen transplantiert wird. Der medizinische Vorteil von lebendem Biomaterial ist, dass es, im Unterschied zu alloplastischem Material, im Empfängerkörper anwächst und eine wirklich feste Verbindung mit ihm eingeht. Aber nicht immer wächst das »neue« Körpermaterial einfach an; auch muss oft ein körperlicher, leiblicher und emotionaler 220 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive

Eingewöhnungsprozess mitgedacht werden. Physiologische, psychische und soziale Dimensionen von Körper und Selbst sind verschränkt und führen für die ›transplantierte‹ Person zu einem neuen Leben in Fremderfahrung und dem Gefühl einer Identitätsverdoppelung, da – wie im Weiteren genauer dargestellt wird – dem Körper »Neues« zugefügt wurde, das einerseits den Körper in Aufruhr versetzen kann, weil plötzlich das Immunsystem streikt, und das andererseits ›neues‹ Leben bzw. das Leben ›neu‹ gibt. Die biotechnologische Weitergabe des Körpermaterials von einem Menschen zu einem anderen begründet eine transhumane Praxis, bei der es um den Einbau von lebendigem menschlichem Körpermaterial geht, wodurch medizinisch, gesellschaftlich und kulturell eine Beziehung – ein Verwandtschaftsverhältnis medizinischer Art – zwischen einem Spender und einem Empfänger gebildet wird. Somit unterscheidet sich dieses Paradigma von Implantationen mit Materialien wie etwa Titan, Kohlenstoffen oder biologischem Gewebe von Tieren. 2 Bei beiden Eingriffsformen geht es darum, biologische oder physiologische Funktionen des Körpers wiederherzustellen oder zu regulieren. Aber Eingriffe, die unter ein transhumanes Paradigma fallen, berühren die Erfahrungen der conditio humana existentiell. Im Falle einer Transplantation ist die Gewebekompatibilität des Spenders und Empfängers für ihren Erfolg entscheidend. Imaginäre Beziehungen werden sowohl zwischen Menschen als auch in Bezug auf das menschliche Material gebildet. Die conditio humana umfasst die im Selbstverständnis verankerte Bedingtheit und Verfasstheit der Menschen im persönlichen, sozialen und kulturellen Kontext. Mit dem Begriff der conditio humana ist nicht einfach die menschliche Natur – z. B. die DNA – gemeint. 3 Menschen sind bedingte Wesen und sie schaffen Bedingungen, »weil ein jegliches, womit sie in Berührung kommen, sich unmittelbar in eine Bedingung ihrer Existenz verwandelt«. (Arendt 51987, 16) Hannah Arendt unterscheidet hier vorgefundene Bedingungen und selbst geschaffene Bedingungen: Die vorgefundenen Bedingungen sind etwa die strukturellen Momente wie Gebürtlichkeit (Natalität) und Mortalität, das Leben, die Erde, die Weltlichkeit und Die Unterscheidung Mensch / Tier ist nicht ganz einfach. Bei der Transplantation von Tierorganen würden einige auch von besonderen verwandtschaftlichen Beziehungen sprechen wollen. (Haraway 1997) 3 Conditio (lat.): Bedingung, Vertrag. 2

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Christina Schües

Pluralität zwischen den Menschen; all diese Strukturmomente scheinen den direkten Erfahrungen und Tätigkeiten entzogen, dienen ihnen aber als unausgewiesener Grund. Geschaffene Bedingungen sind solche, die das Leben der Menschen beeinflussen, aber von Menschen gemacht sind, wie z. B. die Infrastruktur in der Welt oder reproduktionsmedizinische Techniken, die Zeugung und Geburt gestalten. Im Zusammenhang des transhumanen Paradigmas ist besonders der Begriff des Lebens, und wie Leben gelebt und erlebt wird, zentral. Die Art und Weise, wie auf Leben als eine conditio humana geantwortet und wie es gestaltet wird, bestimmt, welche Bedingungen die Menschen in der Welt für sich und ihr Leben schaffen. Somit ist die menschliche Verfasstheit nicht einfach ein Sachbefund der biologischen Anthropologie. Vielmehr wird sie in der Verschränkung mit sinnkonstituierenden Tätigkeiten, Erfahrungen und sozialen, kulturellen und technischen Einflüssen sichtbar gemacht und gestaltet. Auch Arendt betont, dass das Leben ein Aspekt der conditio humana ist. Sie bezieht sich allerdings mit diesem Begriff nur auf den »Kreislauf des Lebendigen«. (Arendt 51987, 231) Es ist ein Kreislauf, der sowohl den biologischen Lebensprozess, als auch die Lebensrhythmen des Täglichen und die Generationenfolge der Menschen kulturell beschreibt. Wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen, ist uns oft unklar, ob wir das Leben im Allgemeinen oder das eigene konkrete Leben meinen. Biotechnologische Interventionen des transhumanen Paradigmas können durch einen Eingriff in die körperliche Materialität das Leben umgestalten. Aber was heißt das für die Erfahrungen des gelebten Lebens? Es geht um sehr unterschiedliche Aspekte und Begriffe des Lebens, wobei das eigene gelebte Leben und der Hinweis auf den »Kreislauf des Lebens« nur eine erste Differenzierung bedeuten. Wenn ein Organ – womöglich das symbolisch am meisten besetzte Organ, nämlich das Herz – in einen anderen Menschen verpflanzt wird, dann beruht dieser Eingriff auf der Voraussetzung, dass menschliches Körpermaterial weitergegeben werden kann und damit einem anderen Menschen, dem Empfänger, hilft weiterzuleben. 4 Das Weiterleben mit Hilfe der Weitergabe eines Organs wird 4 In diesem Zusammenhang gehe ich von einer Körperspende post mortem aus. Die bioethischen Fragen zur Hirntoddebatte oder die prinzipielle Weitergabe von Organen werde ich hier nicht diskutieren. Bei den Lebendspenden, wie etwa Nieren- oder Gewebespenden, gibt es viele Fragen zum weiteren Leben aus der Sicht der jeweiligen

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Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive

oft als eine neue Geburt dargestellt, die in ganz besonderer Weise zur Frage nach dem Sinn des Lebens führt. Befragt wird die Erfahrung des Lebens aufgrund einer Körpergabe; es geht um die spezifische Erfahrung des Fremden im eigenen Körper; es geht um etwas Fremdes, das angeeignet wird und womöglich das Eigene fremd werden lässt. Das Eigne scheint fremd, wenn z. B. die Immunabwehr sich gegen Teile des eigenen Körpers richtet, die aber doch eigentlich zum Körper gehören (sollen). Thema ist somit eine Fremderfahrung, die das Fremde nicht als Unbewusstes oder als die Andersheit des anderen Menschen auffasst. Vielmehr ist eine Fremderfahrung angesprochen, die im Rahmen einer imaginären Beziehung gebildet ist. Die imaginäre Beziehung zwischen Menschen, und zwischen einem Menschen und menschlichem Material eines anderen wird leicht übersehen; sie ist aber eng mit dem Sinn des Lebens verknüpft. Sowohl Jean-Paul Sartre (1994/1986) als auch Cornelius Castoriadis (1984) haben beide das Imaginäre gegen die Annahme verteidigt, es handele sich bei ihm nur um eine Fiktion, die zur Realität addiert wird, oder womöglich um die Ersetzung der Realität im Sinne einer Halluzination. Sartre folgt der phänomenologischen Tradition in der Überzeugung, dass jegliches Bewusstsein mit der Möglichkeit zur Vorstellungsbildung gegeben ist. Eine Vorstellungsbildung gehört immer zur »inner-weltlichen Existenz« und sie ist so real wie anderes Existierendes. (Sartre 1994/1986, 283) Das Imaginäre, das auf dem »Welthintergrund« als Vorstellung erscheint, ist motiviert durch die Bewusstseinsfähigkeit, den »besonderen Sinn der Situation zu erfassen«. (Ebd., 295) Der imaginäre Akt, den Sartre als Irrealitätsthese und Nichtung versteht, ist grundlegend dafür, dass in einer Situation Reales expliziert werden kann, ohne selbst dem Irrealen zugehörig zu sein. In anderen Worten, die Rückseite des Tisches ist in meinem Blickfeld abwesend, dennoch aber in der Wahrnehmungsbedeutung des Tisches präsent. Das Organ »Herz« ist als Material für die Erfahrung nicht zugänglich, dennoch aber als Imaginiertes in seiner spezifischen Bedeutung, die es noch auszuweisen gilt, in ihr real. Castoriadis hat mit dem Begriff des »Magmen« auf die ontologische, aber nicht notwendig semantisch ausgewiesene Grundlage verwiesen, von der aus etwas in seinem Sinne verständlich werden kann. Die Tatsache, also das Magma, dass mit Spender wie auch Empfänger. Auch die Angehörigen der Spender und Empfänger, in ihren spezifischen Weisen, werden biographisch betroffen sein.

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Christina Schües

den heutigen Biotechnologien menschliche Körper als prinzipiell teilbar gedacht werden können, führt zu einer Sinninterpretation und mitmenschlichen (Weitergabe-)Bedingungen, die vorher nicht so denkbar waren. 5 Dass die Frage nach dem Sinn des Lebens auch lächerlich oder absurd sein kann, wurde literarisch von Albert Camus verarbeitet: Er beschreibt 1942 im Essay Der Mythos des Sisyphos (2008) die menschliche Existenz als hoffnungslose Absurdität. Gott sei tot und das Leben insgesamt sinnlos. Wir würden in einer hoffnungslosen Welt leben und dennoch so tun, als hätte alles einen Sinn. Der Ausgangsort einer redlichen Philosophie sei die Kombination, dass der sinnsuchende Mensch im sinnleeren Weltall nach dem Sinne des Lebens sucht. Er beginnt seine Schrift mit den Worten: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.« (Camus 152013, 15) Camus fragt nicht nach dem Wert des Lebens, so wie es einige Medizinethiker auf zweifelhafte Art getan haben; seine Frage zielt auf den Sinn des Lebens, auf den Sinn des gelebten Lebens. Und diese Frage zielt letztendlich auch darauf, ob es Sinn hat, sich um das eigene Weiterleben zu bemühen. 6 Diese Frage hat Jean-Luc Nancy für sich positiv entschieden. Ihm wurde ein fremdes Herz transplantiert – und anschließend hat er einen Text über seine Erfahrungen mit der Transplantation geschrieben. Allerdings hat er gar nicht entschieden, also nicht wirklich selber entschieden, wie er schreibt: Er wurde um die Entscheidung gebracht und kann das »eigene« Leben, das nun verlängert wurde, nicht wirklich als eigenes empfinden. – Wo findet es sich angesichts dreifacher Fremdbestimmung? (Vgl. Nancy 2000, 29) Es ist eine Fremdbestimmung durch die Entscheidung von Ärzten (die Leben retten), durch das Organ (das Herz, das für einen schlägt, aber eigentlich einer ganz anderen Person gehörte) und durch die Folgen der Verpflanzung des Herzens, weil u. a. das eigene Immunsystem ge-

Castoriadis hat indes nicht über diese Art von medizinischen Praktiken geschrieben, dennoch können einige seiner Überlegungen in diesen Kontext übertragen werden. Das allerdings würde eines weiteren Beitrages bedürfen. 6 Jean-Paul Sartre (1994) überantwortete ganz einfach uns die Aufgabe, dem Leben einen Sinn zu verleihen. Es liegt an den Menschen, ihm Sinn zu geben. Somit kann Leben mehr oder weniger Sinn haben. 5

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Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive

schwächt werden muss, um die Identität des anderen Herzens zu akzeptieren. Im Folgenden möchte ich nicht in Zweifel ziehen, ob ein Weiterleben – sei es mit oder ohne medizintechnischer Hilfe – sinnvoll ist oder eben nicht, auch geht es mir nicht um ethische Aspekte. Vielmehr möchte ich den Sinn des Lebens unter der Maßgabe (Bedingung) des weitergegebenen Lebens – eines Lebens, das der Andere (der Spender) nicht mehr hat – thematisieren. Der Fokus auf die verschiedenen Aspekte und Dimensionen des Lebens erfordert eine biophänomenologische Perspektive, die anhand der jeweiligen »Sache selbst« entfaltet wird. 7 Bevor die unterschiedlichen Phasen, was es bedeutet, Leben weiterzugeben, geschildert werden, soll zuerst das Leben als gelebtes Leben, dann das Leben in generativer Perspektive und im Zusammenhang der leiblichen Gespanntheit zwischen Ego, Leib und Welt vorgestellt werden. Besonderer Fokus wird gelegt auf die unterschiedlichen Weisen der Fremdheitserfahrungen.

2.

Leben als gelebtes Leben und Leben entzieht sich

Das große und verzweigte Thema des Lebens liegt zwischen den Disziplinen und Perspektiven (vgl. Toepfer 2013); deshalb wird es in der Biologie anders bestimmt als in den Literaturwissenschaften oder der Phänomenologie. Aber dieser Beitrag richtet sich nicht auf den Begriff des Lebens im Allgemeinen, sondern auf das »Leben« als gelebtes Leben. Mit der Formulierung des gelebten Lebens wird die Ebene weg vom Begrifflichen und hin zur Erfahrungsdimension gewechselt. Das gelebte Leben befindet sich bereits in einer Spannung zum Leben im Allgemeinen. Es bezeichnet das Leben, von dem tröstend gesagt wird, es gehe weiter, wenn jemand an seiner Trauer aufgrund des Verlustes eines geliebten Menschen zu verzweifeln droht. Allerdings wird das Leben im Allgemeinen immer nur als unbestimmt, als dem Bewusstsein entzogen erfahren. Aber das konkrete Leben scheint sich von ihm abzuheben, es fließt, gewollt oder nicht, gewissermaßen als Hintergrund in seiner Prozesshaftigkeit, die mit dem Kalender messbar wird. Erlebt und erfahren werden kann nur das konkrete persönliche Leben. Die Betonung auf das gelebte Leben legt die Bedeutung Ein Merkmal der Phänomenologie, hier der Biophänomenologie, ist ihr Vorgehen auf der Grundlage einer Verschränkung von Zugangsweise und Sache.

7

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nicht nur auf die Erfahrung, sondern damit auch auf die Frage, »wie sinnvoll zu leben ist«. Diese Frage, die bereits in der Antike mit der Frage nach dem guten Leben formuliert wurde, setzt voraus, dass geklärt wird, wie gelebtes Leben, eigenes oder fremdes Leben erfahren wird. »Leben erleben« wird nicht als »Ding« oder »objektive Tatsache« verstanden, sondern als Sinn, der in jeder Erfahrung gebildet wird, als Geschichte und »Drama« affiziert, provoziert, aufregt, vielleicht auch langweilt. (vgl. Worms 2007, 9, 15; 2013, 48) Für viele Menschen ist die Frage nach dem Sinn des Lebens eine der philosophischsten Fragen. Tatsächlich ist es eine komplexe und schwierige Frage, weil mit ihr weder das Leben im Allgemeinen noch das persönliche Leben im konkreten Sinn gemeint ist. Niemand kann Leben nur im Allgemeinen erfahren. Doch wir glauben, Erfahrungen des eigenen, individuellen, konkreten Lebens zu haben. Diese Erfahrungen haben als Horizont gleichwohl das Leben im Allgemeinen und finden (meistens) in Beziehungen mit anderen Menschen statt oder wenigsten mit Bezug auf sie. Die konkrete Erfahrung des eigenen, persönlichen Lebens entspricht nicht dem Leben im Allgemeinen und dieses kann nicht erfahren werden, weil Menschen immer schon in ihrem jeweiligen Leib, ihrer jeweiligen Sprache, Kultur und Lebenswelt eingebettet und verleiblicht sind. Deshalb wird »leben« immer relational erfahren. Frederíc Worms (2007; 2013), der diese Einsichten teilt, führt den Gedanken über Erfahrungen weiter: Der Sinn, der dem Leben gegeben ist, hängt davon ab, wie das eigene Leben, das somit nie nur das eigene Leben ist, erfahren wird. Die meisten Menschen werden Erfahrungen kennen oder erinnern, die ihrem Leben eine tiefe Bedeutung verliehen haben oder die das Leben bedeutungslos haben aussehen lassen. Die Erfahrungen, die uns am meisten angehen, sind diejenigen, die in Beziehungen gemacht wurden; es sind die Erfahrungen von Gefühlen, Emotionen oder Ereignissen mit anderen, die uns nahe sind oder von denen wir emotional berührt wurden. Durchaus bemerkenswert ist es, dass der Sinn des Lebens nie gut oder schlecht ist, doch Erfahrungen können gute oder schlechte sein. Das Leben mag sinnvoll oder sinnlos sein; Erfahrungen können sinnvoll oder sinnlos sein, aber eben auch gut oder schlecht (Wolf 1997). Leben hat somit seinen Sinn entsprechend der Beziehungserfahrungen, die im Zusammenhang des Verhältnisses mit sich selbst, auch mit seinem Körper und mit Anderen gemacht werden. Wenn Erfahrungen das Leben mehr oder weniger sinnvoll machen können, dann kann Leben nicht als »absoluter Wert« oder 226 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive

»objektive Tatsache« verstanden werden, wie Worms aus einer Gegenposition zur Metaphysik des Lebens und auf der Basis eines kritischen Vitalismus (der die Beziehung zwischen Lebewesen betont) argumentiert (Worms 2013, 66). Dieser Aspekt der Position von Worms ist an den Ansatz von George Canguilhem angelehnt, der dafür eintrat, dass der »Vitalismus nicht tot« sei, aber Leben, Gesundheit und Krankheit nicht einen Wert an sich darstellt und nicht ohne seinen historischen und sozialen Kontext interpretiert und verstanden werden könne (Canguilhem 2013). In seinem Aufsatz »La vie qui unit et qui sépare?« zeigt Worms (2007; 2013), dass die Dimensionen des Lebens verwoben sind: Das Leben im Allgemeinen und das konkrete Leben sowie das biologische und biographische Leben. 8 Er deutet zwar auf die Verbindungszusammenhänge, betont den Sinn in jedem Leben, jeder Geschichte und jedem Drama und bemerkt, dass seine Perspektive mit Ansätzen der phänomenologischen Tradition (er denkt besonders an Heidegger) verbunden werden könnte. Aber er wendet sich nicht der Phänomenologie zu; doch wäre gerade das sinnvoll und wichtig. 9 Denn mit einem phänomenologischen Ansatz kann geklärt werden, wie Leben einerseits gelebt wird, aber sich andererseits entzieht und keinen Wert an sich darstellt. Leben wird Sinn gegeben, indem es gelebt wird. Worms würde so weit gehen, dass der Wert des Lebens fragil und prekär ist und deshalb der Selbsterhalt »nicht der höchste Wert sein kann« (Worms 2013, 66). So sehr ich Worms zustimme, dass sich deshalb Leben immer wieder »durch intensive und relationale Bewährungsproben« erneuern wird (ebd.), so sehr möchte ich ihm auch entgegenhalten, dass es deshalb auch einen Wert darstellt, das Leben in Beziehungen zu halten und ihm somit Gelegenheit zur Bewährung zu geben. Diese Bemühung kommt einer Selbsterhaltung als Beziehungserhaltung gleich, weshalb auch die Auseinandersetzung mit dem Imaginären der transhumanen Praxis dringlich ist und damit ein Desiderat für zukünftige Diskussionen wäre.

Wohlgemerkt wird nicht gemeint, dass das Leben im Allgemeinen das sei, was mit biologischem Leben gemeint ist. Das biologische Leben kann als großer Kreislauf im Allgemeinen gesehen werden, aber auch individualisiert, bezogen auf eine Person. 9 Mit der Bewusstseinsphilosophie eines Husserls könnte allerdings ein Begriff wie das »Leben überhaupt« lediglich als Entzugsphänomen adressiert werden. Der Begriff des élan vital von Bergson ginge wiederum an der Fragestellung vorbei. 8

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3.

Verdammt zu Sinn und Leben als Entzugsphänomen

Der Phänomenologe Edmund Husserl interpretiert Menschen als sinnkonstituierende Wesen. Menschen sind zu Sinn verdammt, aber die Klärung, wie Sinn konstituiert und entfaltet wird, das wird zur Aufgabe der Phänomenologie. Der Grund für das Verdammtsein zu Sinn liegt in der fungierenden und waltenden Intentionalität der Menschen, die mit der Geburt die Geborenen in ein gespanntes Verhältnis in die Welt und zur Welt setzt. Der Grundbefund der konstitutiv fungierenden oder waltenden Intentionalität heißt nach Husserl: »Ich lebe« bzw. »Wir leben« (Husserl 2002, 335 f. Fn) Dieses Verständnis der Intentionalität wird von Husserl ab den 1920ern formuliert. 10 »Wir leben« bezieht sich auf eine »Welt der Menschen« (Husserl 1973, 620), die ihrerseits in einem genetisch-generativen Konstitutionszusammenhang mit anderen Lebewesen stehen. Für Husserl bezeichnet »wir leben« sowohl einen kulturell-sozialen wie auch einen biologisch-evolutionären Sachverhalt, der sich in einem geschichtlichen Zusammenhang – mit Paul Ricœur gesprochen – historisch und narrativ entfaltet. »Bewusstseinsleben« oder »ich lebe« bedeutet mehr als das sogenannte »Psychische« oder ›etwas‹, das mit der Psychologie bestimmt werden könnte. Explizit kritisiert Husserl die Gefahr einer Verdinglichung des Bewusstseinslebens und den zu seiner Zeit Mode gewesenen Psychologismus. 11 Husserl geht es um das konstitutive »Walten« und um das Lebendige des Aktlebens als eigenwesentlich Psychisches, das sich »mit dem Transzendentalen als konvertibel erweist« (Husserl 1954, § 62; Orth 2006, 54). 12 Deshalb bedeutet der Siehe dazu auch die sogenannte Krisis-Schrift von Husserl (1954). In früheren Schriften vertrat Husserl ein Konzept von Bewusstsein, das auf den Aspekt des »Gerichtet-sein auf etwas als etwas …« interpretiert wurde. »Leben« hieß für Husserl in dem Zusammenhang der sogenannten »Ideen« auch »Aktleben« bzw. das »Währen und Walten von Akten« (Husserl 1950a); es ist von lebendigen Akten und vom »Leben in Akten«, von Seelen bzw. Bewusstseinsleben die Rede. Alle diese Wendungen sind von verschiedenen Seiten, besonders auch von der französischen Phänomenologie, etwa Merleau-Ponty, auf den ich gleich eingehen werde), weiterentwickelt und kritisiert worden. 11 Die Beschreibung des Aktlebens rechnet Husserl der deskriptiven psychologischen Phänomenologie zu. (1950a) 12 In früheren Texten (Logische Untersuchungen, Ideen I) bedeutet Leben Intentionalität, was ungünstigerweise eine Lebensrichtung impliziert. Leben bedeutet hier weder organisch-biologische, noch leibkörperliche oder vorbewusste Wirklichkeiten. 10

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Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive

Versuch einer Selbstauslegung des Lebens, dass diese sich immer schon aufgrund der Verschränkung eines genitivus subjectivus und genitivus objectivus als widerständig erweist. Das gelebte Leben kann erfahren, aber nicht unter einer Was-Frage objektiviert oder sogar verdinglicht werden. Die lebendige Intentionalität ist ein Vermögen, das zur Konstitution von mehr oder weniger sinnvoll zusammenhängenden Sinngebilden führt, die gemäß entsprechender Auffassungsweise unterschiedlich erfahren und bewertet werden können. »Wir leben« heißt somit, wir sind zu ›Sinn‹ verdammt; wir können nicht nicht Sinn erfahren. Das bedeutet allerdings: Das ›Leben‹ selbst entzieht sich. Was in unser Sinn(es)feld rückt, ist ein Sinn; seine jeweilige Bedeutung für uns, und ob oder wie dieser Sinn als sinnvoll oder eben sinnlos gewertet wird, das ist eine andere Frage. Für Husserl bedeutet somit Leben Sinnkonstitution; es ist ein transzendentales Bewusstseinsleben, das als unhintergehbar subjektiv lebendig und selbst entzogen bleibt. 13 Der Grund für den Entzug des ›Lebens‹ liegt erstens in seiner immanenten Zeitlichkeit, die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dimensioniert ist. 14 Damit ist aber auch ›Leben‹ in Sinnkonstitution nicht einfach bewusstseinsmäßig, von seinem Bedeutungsgehalt her aufzuweisen. Es besitzt eine innere Intentionalitätsstruktur, die somit lebendig, aber auch entzogen ist. Deshalb ist der zweite Grund für den Entzug des Lebens, dass Leben als Sinnkonstitution immer schon mehr ist als ein Ich leisten könnte und umgekehrt gedacht: Die Konstitution einer Sinnwelt deutet auf die konstitutive Erweiterung des Ichs, das in seiner Verschränkung mit Welt und Leib nie als alleiniges abgegrenzt fassbar ist. 15. Somit bedeutet »Ich lebe« immer, mit anderen in der Welt zu leben und somit von jemandem in diese Co-Existenz mit anderen Der Begriff des Waltens wird von Husserl im Zusammenhang eines körperlichen oder ichlichen Waltens im Sinne des Fungierens benutzt. Es geht jeweils auch um eine Ausrichtung auf die Welt. 13 Dieses Bewusstseinsleben ist teleologisch ausgerichtet. (Husserl 1950a, § 58) 14 Die Zeithorizonte – Retention und Protention – sind Momente der Intentionalität, die eine statische Analyse (wie Husserl sie in den sogenannten Ideen (1950a, § 81, § 181) vorgelegt hat) eigentlich unmöglich machen. Die ursprünglich gestaltete Zeit ist Leben (Vgl. Husserl 2006). 15 Die Verschränkung von Leib und Welt und einer lebendigen Intentionalität, die in Husserls Texten ein führendes Motiv ist, könnte im Sinne eines passiven Strömens auch mit einem biologischen Lebensbegriff, etwa wie ihn jeweils unterschiedlich Humberto Maturana, Helmuth Plessner oder Michel Henry vertreten haben, zusam-

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geboren worden zu sein. Die conditio humana des Lebens ist nur in Verknüpfung mit den anderen menschlichen Bedingtheiten, wie etwa der Gebürtlichkeit und Sterblichkeit, der Leiblichkeit und Verletzlichkeit, Beziehungsnotwendigkeit und Welt verständlich. Das bedeutet, Geburt und Tod sind mehr als Lebensbegrenzungen; Leiblichkeit und Verletzlichkeit sind mehr als physische Risikodispositionen; Beziehungen und die Welt sind mehr als lästige Abhängigkeit und Umgebungskontext. 16 Diese und weitere Bedingtheiten der Menschen sind als conditio humana sinnstiftend und handlungsbegründend im Leben selbst.

4.

Leben in generativer Perspektive und generative Phänomenologie

Die Erfahrungen im Allgemeinen und besonders die konkrete Erfahrung des Anderen, des Fremden betreffen niemals nur ein Individuum. Erfahrungen sind immer schon in Beziehungen und Geschichten leiblich eingebunden. Deshalb ist eine Sinnkonstitution nur sinnvoll in Bezug auf mitmenschliche Beziehungen und generative Strukturen. Die generative Struktur umfasst die Generationenabfolge, in die Menschen jeweils hineingeboren werden, und bezieht die Tatsache ein, dass Menschen von anderen Menschen gezeugt und geboren werden. Wir werden also von anderen geboren und in eine Welt hineingeboren, die bereits von Anderen entdeckt und gestaltet wurde. An diese Beobachtung anknüpfend hat auch Husserl generative Phänomene erwähnt und zur Weiterarbeit empfohlen (vgl. Husserl 1950, § 62). Die phänomenologische Entfaltung generativer Phänomene, wie etwa die Geburt, das Geborensein oder die Generationenfolge, auch die Verwandtschaft oder der Tod, fordern die Verklammerung mit einer bestimmten Methode, nämlich mit der generativen Phänomenologie. Sie ist ausgerichtet auf generative und intersubjektive Beziehungen, auf die Anfänglichkeit und Endlichkeit des Lebens, und auf die Tatsache, dass es Phänomene gibt, etwa die eigene Geburt,

mengebracht werden. Auf einer anderen Ebene formuliert Arendt: »Leben heißt in einer Welt leben, die schon vor einem da war und nachher da sein wird.« (1989, 30) 16 Die generative Zeiterfahrung deutet auf eine Reibung oder eine Fraktur zwischen der persönlichen und der allgemeinen Zeit sowie zwischen einer linearen und zyklischen Zeitstruktur.

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Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive

die einem bewusstseinsmäßig entzogen, aber apodiktisch aufgrund der Tatsache des »Ich lebe« gewiss sind (Vgl. Schües 2016, Kap. V). Somit versucht sie auch eine Klärung des Bezugs zwischen einem Leben, das weitergeht und mir vorausging, und dem konkreten Leben, das persönlich als »eigenes« oder auch »fremdes« erfahren wird. Auch in diesem Thematisierungskontext bleibt das Leben in der Fokussierung auf Beziehungen und generative Zusammenhänge entzogen, obgleich das »Ich lebe« in sie hineingestellt ist. Somit wird deutlich, dass Leben mehr ist als ich meinem ›Ich‹ zuschreiben könnte; es übersteigt mein Ich und ist immer schon mit dem Leib, der Welt und Geschichten verschränkt. Leben auf der Welt (und nicht als Embryo im Mutterleib zu leben) bedeutet, geboren worden zu sein und in einem generativen Zusammenhang mit anderen in der Welt und zur-Welt zu leben. 17 Gleichwohl entzieht sich das Leben und Sinn drängt sich auf. Dieser Sinn liegt in der Beziehungserfahrung mit sich selbst als leibliches Selbst und mit anderen Menschen und wird dem Leben zugeschrieben. 18 Die Überlegungen mit der Perspektive einer generativen Phänomenologie auf die Geburt und ihre Beziehungszusammenhänge hilft, diese phänomenologische Methode weiterzuentwickeln, um auch die Erfahrungen im Zusammenhang der Transplantationspraxis genauer zu verorten und zu entfalten.

5.

Gespanntheit zwischen Ego, Leib und Welt. Die Fremdheit des eigenen Lebens

In seinem autobiographischen Text Der Eindringling erzählt Jean-Luc Nancy (2000) von seinen Erfahrungen mit einem neuen Herzen eines Anderen. Er beschreibt das Gefühl, wie das vormals eigene Herz durch Gesundheitsprobleme fremd wird, und berichtet über die Herztransplantation und die anschließende Ambiguität und Ambivalenz des eigenen gleichzeitig fremden Körpers, der sich an sein neues Herz gewöhnen soll. Nancy ist kein Phänomenologe; seine philosophiSo ist mein Geborenwerden transformiert in eine »anonyme Natalität« (MerleauPonty 1966, 253), die in ihrer fundamentalen Anonymität meine Leiblichkeit in der dramatischen Gespanntheit zwischen Ich-Welt-Andere sinnesgeschichtlich hervorbringt. Der Begriff der »Natalität« wird bedeutungsgleich mit dem der »Gebürtlichkeit« verwendet. 18 Die Beziehungserfahrung schließt auch weitere Beziehungen mit ein, etwa mit Tieren, Kunst, der Natur usw. 17

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schen Beobachtungen des eigenen Erlebens und der tiefgründigen Fremderfahrung sind eindringlich, doch bleiben sie beschreibend und erzählend. Nancy wählt als Eingangszitat für seine Erzählung einen Satz von Antonin Artaud: »Tatsächlich gibt es nichts, was auf so unerträgliche Art und Weise unbrauchbar und überflüssig wäre wie das Organ, das Herz genannt wird, dieses schmutzigste aller Mittel, das die Wesen erfinden konnten, um Leben in mich zu pumpen.« (Artaud 2000, 7) In der Ich-Perspektive beschreibt Nancy die Gefühle, die die meisten Menschen mit dem Herzen verbinden und die jeder aus der Innenperspektive für sich selbst nachvollziehen kann, die aber auch typisch für phänomenologische Beschreibungen sind: Das Herz pumpt Leben in mich, denn ohne dieses Leben bin ich nicht mehr, dieses Leben ist meine Bedingtheit. Biologisch betrachtet pumpt das Herz Blut, aber wenn es das nicht tut, dann bin ich tot. Also pumpt es wohl doch Leben? Das Herz steht auch symbolisch für die Liebe. Etymologisch gibt es eine Nähe zwischen Leben und Liebe. Ein jeder kann in sich fühlen: Das Herz ist mein Puls, mein Taktgeber des Lebens, es ist mir näher als meine Niere oder ein Gewebestück. Im Folgenden werden Lebensphasen unterschieden. Es gibt diejenigen vor der Transplantation, der Stunde 0, und diejenigen nach ihr. Die vorherigen Phasen, die ich mit »-2« und »-1« bezeichne, sind die der Normalität und schließlich die des Krankwerdens, die zur Transplantation »0« führen. Die Phasen danach werde ich dann mit der Symbolkraft von »+1« und »+2« benennen.

Phase -2. Normalität: Mein Herz fühle ich oft gar nicht. Aber ich kann meine Hand auf die Brust legen und merken, dass es klopft. Mein Herz ist mein, es klopft, wenn ich aufgeregt bin; es stockt, wenn ich mich erschrecke; es schlägt ruhig und gleichmäßig, oft – und dann bemerke ich es nicht einmal; es rast, wenn ich zu lange zu schnell laufe oder Angst habe. Und für die Beschreibung der Aufruhr der Liebe hilft bisweilen nur die Metaphorik des Jahrmarktes, um zu beschreiben, wie es dem Herzen geht.

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Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive

Phase -1. Vor der Transplantation: Das ist nicht normal: Mein Herz schmerzt und funktioniert nicht mehr. Wenn das Herz schmerzt oder aussetzt, dann bekomme ich Angst. Etwas ist falsch, es wird mir fremd, beunruhigt mich, setzt sich ab vom Körper, wird unvertraut und zur Störung. Wenn die »Pumpe« stockt, dann stocken Lebensfunktionen in mir. Mein Körper ist gestört. Ich werde mir fremd. Mein Körper drängt sich mir als nicht funktionierend auf und wird mir fremd. Dieses Fremde bewirkt den Abbruch, mindestens die Einschränkung der äußeren Beziehungen mit anderen Menschen oder der Bewegungsmöglichkeiten in der Welt. In der Erfahrung wird Sinn konstituiert, der leiblich verankert zur Welt ausgerichtet ist. Die Leiblichkeit ist prä-personal und anonym, und deshalb mir, also meinem Bewusstsein, vorgängig. Maurice Merleau-Pontys leibphänomenologischer Ansatz ist eine wichtige Ausgangsbasis für die Weiterentwicklung der husserlschen Phänomenologie, die im vorherigen Abschnitt bereits in eine generative Phänomenologie erweitert wurde. Diese Weiterentwicklung mündet dann in den Abschnitten über die Transplantation (0) und das Leben danach (+1, +2) in eine, wie ich es nenne, Biophänomenologie, die explizit auf das leibliche Erleben des Lebens und auf die Beziehungserfahrungen in transhumanen Praktiken ausrichtet ist. Zentrale Begriffe sind die Anonymität der leiblichen Vorgängigkeit und eine Struktur der Ambiguität, die in den Verhältnissen zwischen Ich und Welt, Leib und Körper, Aktualität und Potentialität ruht. Zuerst werde ich die Aspekte der Ambiguität, dann den Aspekt der Anonymität in den Vordergrund der Betrachtung rücken. Die leibliche Verankerung des Ichs und seiner Erfahrungen ist die Grundüberzeugung einer Leibphänomenologie. So auch für Merleau-Ponty (1966). Er entfaltet eine Struktur der Gespanntheit zwischen Ich, Leib und Welt, die einerseits in enger Kommunikation und in nahen wechselseitigen Beziehungen zu einander fungieren, andererseits aber immer in einer Distanz gehalten werden, die notwendig für Erfahrung ist und den Wahrnehmenden von dem Wahrnehmungsobjekt unterscheidet. 19 Das In-der-Welt-Sein bedeutet die leibDenn, wenn diese Distanz nicht vorläge, dann fiele die verleiblichte Intentionalität, also das Ego und der Leib, mit der Welt zusammen, und Irrtümer oder auch Missverständnisse wären unmöglich gemacht.

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liche Verankerung und eine Distanz, die im leiblichen Gerichtet-seinzur-Welt gründet, und es bildet eine Struktur der Ambiguität, die die Unterscheidung zwischen einem habituellen und aktuellen Leib durchzieht. Der habituelle Körper ist fremd geworden, wenn die Weltbeziehungen in ihrer Selbstverständlichkeit gestört werden und nicht mehr zu halten sind; dann drängt sich der Körper dem Selbst als fremder Körper auf. Der aktuelle Leib kann sich dem habituellen überstülpen, was durch die Ambiguität zwischen dem Sein in der Welt und dem Sein zur Welt eine stets präsente Möglichkeit ist. Der habituelle Leib, der prä-personal und anonym jeder Erfahrung vorgängig ist, ist immer schon in seiner spezifischen Weise in-der-Welt. Die im Leib angesiedelte Anonymität begleitet jede Erfahrung, jede Wahrnehmung und jede Bedeutung. Wesentlich für die Anonymität ist, dass sie nicht einfach eine Begleitung neben oder außerhalb der Erfahrung, Wahrnehmung oder Handlung ist, sondern sie gleichermaßen durchwebt und ihnen zugrunde liegt, weil z. B. eine Wahrnehmung oder eine Erinnerung sich mir als anonyme aufdrängt oder in mir wie aus der Dunkelheit des Bewusstseins ›hochsteigt‹. Jede Erfahrung der Beziehungen und der Welt findet in einem Milieu der Allgemeinheit statt, das diesseits meiner selbst einem Reich der Sensibilität angehört, die ihr vorausgegangen ist und somit anonym bleibt. Jede Empfindung, jede Erfahrung ist teilweise anonym, weil sie notwendig partiell ist. Nicht ich empfinde, sondern man empfindet in mir und jenseits des aktuell Erfahrenen gibt es immer noch mehr von der Welt. Die persönliche Zeit und der persönliche Erfahrungsraum sind von einer allgemeinen Zeit und einem allgemeinen Raum getragen, die ich nicht konstituiert habe, weshalb sich die Gegenstände unter einem »Schleier der Anonymität« befinden (Merleau-Ponty 1966, 399). Das gelebte Leben ist von einem allgemeinen Leben getragen, das ich nicht konstituiert habe und somit ebenfalls als Anonymität vorauszusetzen ist. 20 Die Welt ist in mir und ich bin in der Welt, »mein Innen« ist in gewissem Sinne ›außer mir‹ und was außen ist, durchwirkt mein Inneres. Im Bereich der Empfindung selbst »ist« ein blinder Fleck, der nicht zu fassen ist. In diesem Sinne Der in diesem Beitrag gewählte phänomenologische Ansatz ist trotz oder mit seiner Weiterentwicklung für die Problematik von Krankheit und Transplantation letztendlich der phänomenologischen Bewusstseinsphilosophie verpflichtet. Die Lebensphänomenologie von H. Bergson oder M. Henry hier einzuflechten, wäre spannend, liefe aber meinem Gedankengang zuwider und in eine ganz andere Richtung, die einem Bericht, wie dem von J.-L. Nancy, nicht gerecht werden würde.

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Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive

ist das eigene Leben prinzipiell entzogen, im Bereich der Anonymität angesiedelt und verschränkt in Ich, Leib und Welt. Nun noch in der Phase vor der Transplantation scheinen die Durchdringung von Personalem und Anonymität und die Verschränkung von Innen und Außen, die in ihrer jeweiligen Differenz Bedingung für jede Erfahrung sind, durcheinandergeraten. Eigenes und Fremdes treten auf. Aber das Fremde ist nicht einfach anonym. Es ist aufdringlich und stört. Der habituelle Leib entspricht nicht dem aktuellen. Aber der aktuelle Körper und das neue fremde Gefühl sind nicht einfach anonym; sie sind aufdringlich und stören. Aber sind sie mehrere? Körper und Gefühle? Nancy beschreibt: »Das Herz wurde nun zu meinem Fremden. Fremd wurde es gerade deshalb, weil es sich innen befand. Von außen konnte der Fremde nur in dem Maße kommen, in dem er zunächst innen aufgetaucht war.« (Nancy 1999, 15) Treppensteigen wird zum Problem. Der Körper wird schwer, der Atem flach und das Gefühl, das doch Körpergefühl, aber auch Gefühl darüber hinaus ist, vereinnahmt meine Beziehung zur Welt. Der eigentlich ungestörte Aufbau der subjektiven Welt erfährt eine Störung, und das raffinierte Gleichgewicht im Sinne eines Kohärenzgefühls zwischen subjektiver Kreativität (zur-Welt-sein) und objektivem Umgebungsangebot (in-der-Welt-sein) ist gestört, wenn – wie Lennart Levi es formuliert hat – die Umgebung »sich zu dem Lebewesen verhält wie ein schlecht passender Schuh.« (Zitiert v. von Uexküll, Wesiack 1998, 78) Der zu enge »Schuh« ist nicht abzustreifen, denn er ist wie innen eingebaut. Die Luft ist knapp, das Herz rast. »Leben« erscheint außer mir. Es erscheint als außer mir unter besonderen Umständen, die im anonymen Diesseits ruhen, da die eindringliche Störung des Fremden in mir die Differenzen des habituellen und aktuellen Leibes sowie des Eigenen und Fremden auseinandertreten lässt. Es ist eine Trennung, die aufklafft, aber unfassbar und stumm bleibt, eine reine noch stumme Erfahrung, ein Erleben, das erst nachträglich seinen Sinn bekommt. Der Sinn liegt dann nicht im Leben, sondern in der Sensibilität des Zurückgeworfenwerdens auf den Körper und ich bin »nicht mehr in mir selber. Ich komme bereits von außerhalb, von einem anderen Ort, oder ich komme überhaupt nicht.« (Nancy 2000, 17) Aber die Beziehung von mir und der Welt, mit mir und den anderen ist verloren. »Mein Herz, nunmehr Eindringling, muss ausgestoßen werden.« (Nancy 2000, 17) Wenn es so ist, wie Merleau-Ponty nahelegt, dass das Ich immer schon verschränkt ist mit Leib und Welt, dann bedeutet das, dass auch 235 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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ich mir selbst fremd geworden bin. Ich bin mir nicht nur fremd, weil das Herz nicht mehr kann, sondern weil dadurch mein bzw. der leibliche Bezug zur Welt ausfällt und damit mir auffällt. Die mich umgebende anonyme, doch mir zugehörige Umgebung und Tiefe stößt mir auf, in tief empfundener Fremdheit. ›Leben‹ ist die »primordiale Seinsart, die alles ›Erleben‹ einer Welt erst möglich macht; dass wir atmen […] müssen, ehe wir in ein beziehungsvolles Leben einzutreten vermögen […]« (Merleau-Ponty 1966, 191). Leben ist unmöglich geworden – in einem erschöpften Körper.

5.

»Leben« weitergegeben

Welchen Sinn hat das Leben unter der Maßgabe des verpflanzten weitergegebenen Lebens? Auf welchen Sinndimensionen kann »Leben« verstanden werden? Wenn es sich so anfühlt, dass das Leben durch ein krankes Herz nicht mehr möglich ist und dieses auch noch von der Medizin bestätigt wird, dann ist es Zeit, eine Transplantation zu thematisieren. Es geht um nicht mehr weiterleben können, um das tägliche Leben und eigene Leben, das nicht mehr weitergeführt werden kann, ohne die Unterstützung eines neuen Herzens. Aber dieses neue Herz steht auch für ein neues Leben und dafür, dass das eigene Leben mit einer Lebensgabe als wieder neu weiterleben kann.

Stunde + - 0. Das alte Herz wird explantiert und entsorgt; ein neues altes Herz wird eingesetzt. Eine Transplantation beinhaltet, dass ein Organ oder Gewebe aus einem Körper herausgenommen wird und in einen anderen hinein übertragen wird. In diesem Fall wird ein Herz transplantiert; es wird, biologisch gedacht, »verpflanzt«. Somit steht die Praxis der Transplantation auch für die Zerstückelung des menschlichen Körpers und für die Möglichkeit, einzelnen Teilen eine neue Umgebung zu geben. Wenn ein Mensch stirbt, dann können Teile seines Körpers in einem neuen Körper mit einem neuen Kontext weiterleben. Das Herz wird weitergegeben, um einem herzkranken Menschen zu helfen. Wahrscheinlich ist es jünger als das entsorgte Herz. So wird Leben weitergegeben, aber derjenige, der gibt, hat gar kein Leben, ist gar nicht mehr am Leben. Also wird es nicht wirklich weitergegeben. Zumin236 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Das »Leben« in biophänomenologischer Perspektive

dest ist der Mensch, der weitergibt, im Sinne der Hirntoddefinition, die mittlerweile in den meisten Ländern Grundlage für Transplantationen post mortem ist, nicht mehr am Leben. Wenngleich der Spender sein Leben nicht weitergegeben hat, so wird doch Leben weitergegeben. Das Herz lebt und hat die Aufgabe, Leben in den Körper zu pumpen. Technik verhilft zur Wiederbelebung mit lebendigem Menschenmaterial. Das weitergegebene Leben bedeutet für den Transplantierten, sein Leben zu verlängern. Die Transplantation des Herzens gibt neues Leben, das das alte weiterleben lassen soll. Sie ist Hoffnung für die Zukunft, für eine Zukunft mit einem neuen Herzen, das für ein wiedergewonnenes und auch neues Leben steht.

Phase +1. Die Herztransplantation hat stattgefunden und das »eigene Leben« wird fortgesetzt. Aber wie? »Ich habe das Herz eines anderen erhalten« schreibt Nancy und reflektiert die Fremderfahrung im Innersten seines Körpers nach der Herztransplantation. Um leben zu können, brauchte es das Herz eines anderen (Nancy 2000, 11, Übers. CS). 21 Ich brauchte es gar nicht, aber ich – um zu leben – brauchte es wohl doch. Es – das Leben, mein Leben, braucht das Herz eines Anderen. Das eigene Leben braucht das lebende Herz des Anderen. Aber »von Anfang an ist mein Überund Weiterleben in einen komplexen, von Fremden und Fremdartigem gebildeten Prozess verwickelt.« (Nancy 2000, 21) Auf der alltäglichen und sozialen Ebene erleben Menschen, die eine Transplantation hinter sich gebracht haben, dass sie nun ihr Leben als »Transplantierte« neu leben. Eigentlich soll das weitergegebene andere Leben das eigene Leben fortsetzen, aber es ist ein Leben unter »Aufsicht« (Nancy 2000,19); denn immer wieder müssen medizinische Tests gemacht werden, denn die »lebendigsten und beweglichsten Feinde lauern im Innersten«. (Nancy 2000, 37) Es ist der eigene Körper, der meine ›Viren‹ beherbergt, die immer zu mir gehörten und jetzt aufgrund des fremden Eindringlings behandelt werden müssen und das Selbst, das verleiblichte Selbst – fremdes oder eigenes Selbst? –, schwächen. Das Immunsystem versucht, das fremde Herz, In die deutsche Übersetzung ist ein Personalpronomen 1. Person hineingeraten. Sie weicht also vom Original ab! »Il fallait donc, pour vivre, recevoir le cœur d’un autre.« (Nancy 2000, 10)

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das für es nicht neues Leben, sondern ein Eindringling ist, abzuwehren. ›Ich‹ werde mir selbst zum Eindringling. Die Immunität des Körpers kennt nur das Eigene. Identität steht für Immunität; nach der Transplantation ist es so, als habe der ›Transplantierte‹ zwei Identitäten. Das eigene Immunsystem muss für das fremde lebenspendende Herz geschwächt werden, damit es dieses als eigenes akzeptiert. »Die Schwächung des Immunsystems erweckt zum Leben.« (Nancy 2000, 33) Die erfahrenen Begleiterscheinungen sind Übelkeit und Schüttelfrost, aber auch eine erhöhte Infektanfälligkeit und ein langfristiges Risiko für Tumore. Das Fremdartige ist der Eindringling, der von außen zu kommen scheint wie ein ungebetener Gast und nicht mehr weggeht. Er macht sich breit und bleibt. Das Fremde geht einher mit einer Fremderfahrung, die in diesem Fall sehr besonders ist. Sie ist so besonders, dass der Versuch ihrer Klärung die Möglichkeiten der Phänomenologie an die Grenzen treibt. Diese Form der Fremderfahrung betrifft nicht das Unbewusste als Anonymes, nicht die andere Person in ihrer Andersheit, nicht das Fremde außer mir, das sich mir entzieht und unzugänglich bleibt. Dieser Umstand fordert dazu auf, einen neuen erkenntnistheoretischen Zugang – eine Biophänomenologie – zu diesem besonderen Phänomen der Fremderfahrung zu entwickeln. Leben in seinen verschiedenen Facetten und Dimensionen, die besondere Fremderfahrung des Lebendigen und der spezifische Sinn des Weiterlebens mit Hilfe transhumaner Praktiken – all das ist Thema einer Biophänomenologie. Wie schon gezeigt wurde, bedarf es einer besonderen Beschreibung, um die spezifische Weise der Fremderfahrung adäquat in Worte zu fassen. Es geht um einen spezifischen Sinn von Weiterleben (a), um Modi der leiblichen Fremderfahrung und der Zeit (b) und um ein Weiterleben in neuer ›Verwandtschaft‹ (c). (a) Das »Weiterleben« Wenn es so ist, wie Max Scheler (1957) vermutet, dass das Leben ähnlich eines Stundenglases abläuft, indem die Vergangenheit immer größer und die Zukunft immer kleiner wird und damit die Todesrichtung klar vorgegeben ist, dann wird nun im Kontext der Transplantation die Ausrichtung fraglich. Mit dem neuen Herzen, das das Weiterleben ermöglichte und wie ein neues Leben gab, wurde der Lebensausrichtung auf den Tod hin eine zweite Geburt eingefügt, über die – wie für die Geburt üblich – nicht selbst verfügt werden 238 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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konnte. Die Metapher der »zweiten Geburt« hat Hannah Arendt in ihrem Buch Vita Activa (das sie auf Englisch passend unter dem Titel The Human Condition veröffentlichte) eingeführt. Eine ihrer Grundthesen ist es, dass die erste Geburt im Handeln und Sprechen, also im politischen Raum, aktiv neu inszeniert werden kann. Die in der ersten Geburt enthaltenen Aspekte der Anfänglichkeit und der Beziehungen werden in der zweiten Geburt politisch, indem mit anderen Menschen Beziehungen aufgenommen werden, im gewissen Sinne ›wiederholt‹. Die strukturellen Ähnlichkeiten liegen in der Bedeutung des Neuanfangs und in der Notwendigkeit, dass auch andere an diesem Anfang anknüpfen und ihn weiterführen, um ihn als Anfang zur Erscheinung zu bringen. Die Arendt’sche Metapher der »zweiten Geburt« und ihr Gebrauch im Zusammenhang von einer Transplantation und dem Eindruck eines Patienten, dem Tod entronnen zu sein, sollte nicht überstrapaziert werden. Dennoch gibt es gewisse Ähnlichkeiten in Bezug auf das Verhältnis zu sich selbst, zum eigenen Körper und zur Welt. Die ›zweite Geburt‹ einer Transplantation eröffnet keinen politischen Raum, aber sie verhindert den Tod und verhilft zum Überleben und Weiterleben in der Welt, mit Anderen und unter der notwendigen Aufsicht von Anderen. Stärker aber noch treiben die Phantasie und die Imagination ihre Spiele. Welches Leben ist nun meins? Was für ein Leben wurde eingepflanzt. Inwiefern ist die Ausrichtung des Lebens ein Weiterleben, aber doch auf den Tod hin? Das neue alte Leben bewirkt Leben. »Das Leben kann nur auf das Leben zutreiben.« (Nancy 2000, 23) Die Fantasie entwickelt Spielräume; wer sagt denn, dass das neue Herz länger leben könnte? Es gibt diesen Satz, den sogenannte Transplantierte immer wieder hören: »Denn sonst wärst Du nicht mehr da!« Es ist ein Satz, der impliziert, dass Tod vom Leben abgetrennt werden kann und dass von nun an Leben dem Leben (das dem Tode geweiht war) zukommt, das das fremde lebende Herz (das auch dem Tode geweiht war) zu neuem Leben erweckte. Doch glauben wir Husserl und Merleau-Ponty, dann hieße es, das Leben selbst bleibt entzogen, dennoch kann auf Leben als vom Tod abgetrennt, als gegeben und empfangbar hingewiesen werden. (b) Modi der leiblichen Fremderfahrung und der Zeit Nach einer Organtransplantation ist der Körper mit einem fremden Organ konfrontiert. Aber es ist nicht nur der Körper als physischer 239 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Körper, der den eingesetzten Fremdkörper in die Körperphysiologie assimilieren muss. Es geht auch um die leibliche Fremderfahrung des Selbst und um den aktuellen und habituellen Körper. Merleau-Ponty hat in der Phänomenologie der Wahrnehmung (1966) die Probleme beschrieben, die es schwierig, vielleicht sogar unmöglich machen, den Verlust eines Armes dem habitualisierten Körperschema einzupassen. »An Stelle des vormals Wahrgenommenen tritt neues, ja auch neue Gefühle treten an die Stelle der einstigen, doch diese Erneuerung wandelt nur den Erfahrungsinhalt, nicht die Erfahrungsstruktur, die unpersönliche Zeit fließt weiter fort, die persönliche Zeitlichkeit aber stockt.« (Merleau-Ponty 1966, 108) Sie kann sich dem neuen aktuellen Leib noch nicht anpassen. Hier wird die Erfahrung des Phantomschmerzes nach der Amputation eines Armes beschrieben. Auch nach einer Transplantation ist das Körperschema gestört. Allerdings ist es – wie bereits beschrieben wurde – in einem sehr widersprüchlichen Sinne gestört, da das Eigene fremd wird, und das fremde Organ zum eigenen wird, aber nur, wenn das eigene Immunsystem, also ein wesentlicher Aspekt des eigenen Körpers, geschwächt wird. Das neue Leben ist ein anderes und doch auch mein Weiterleben. Nach einer Transplantation ist ein fremdes Herz im Inneren des Körpers eingepflanzt. Doch ein »Eindringling«, das fremde Herz, verdrängt den habituellen Leib. Der aktuelle und der habituelle Leib müssten sich angleichen; es gilt als Herausforderung, die Ambiguität der Gespanntheit zwischen Gewohnheit und Wirklichkeit zu normalisieren, Gegebenheiten anzupassen. Aber ist das möglich? Die Erfahrung, auch die von Nancy, zeigt, dass die persönliche Zeit mit ihrer Befindlichkeit in der Gegenwart stockt. Was kann nun über den Eindringling, also über die spezifische Fremderfahrung in Bezug auf ein lebendes Herz zum Ausdruck gebracht werden? Das Herz wird als Herzschlag mehr oder weniger gespürt. Meistens aber ist es einem nicht besonders präsent. Aber die Sachlage des Eigenen und Fremden ist doppeldeutig. Eine Biophänomenologie hat die Aufgabe, die unterschiedlichen Modi der Fremderfahrungen zu entfalten, die durch die Einpflanzung von nicht-körpereigenem Material, aber auch durch die Krankheitserfahrungen entstehen. Es geht hierbei um die Fremderfahrung auf der Basis der Differenz des aktuellen und des habituellen Körpers, die in Phasen erfahren wird. Zuerst gibt es die Fremderfahrung aufgrund einer Körperstörung, bei der mein Körper mir im Kontext eines leib240 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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lichen Eingebundenseins in der Welt fremd wird. Die Fremderfahrung gleicht einer Entfremdung, etwas wird mir fremd oder ist mir fremd geworden. Und dann zur ›Stunde 0‹ wurde ein solides Organ transplantiert. 22 In diesem Fall sei mit zu berücksichtigen, dass es sich nicht um irgendein Organ handelt: Das Herz ist speziell. Es ist emotional und kulturell persönlich und symbolisch stärker besetzt als andere Organe. Weil das Herz, wie mehr oder weniger jedes andere Organ, als körperfremdes von außen in meinen Körper eingepflanzt wird, gibt es körpereigene Abstoßungsreaktionen, die die ›Phase +1‹ prägen. Das Immunsystem muss als Teil des eigenen Körpers geschwächt werden, um das fremde Organ zu akzeptieren und soweit körperlich anzunehmen, dass es ihn stärken kann. Die Erfahrung ist identitätsverwirrend für die ›transplantierte‹ Person: Das, was gut im eigenen Identitätskörper funktionierte, das Immunsystem, muss nun geschwächt werden. Die Fremderfahrung wird zur normativen Ausrichtung auf die Aneignung des Fremden: Ziel ist nicht die Abstoßung des Fremden, sondern seine Aneignung und Einverleibung im Körper. Nach den vorausgegangenen Erklärungen wurde deutlich, dass es nicht nur um einen physischen Körper geht, sondern um ein leibliches Ich, das Erfahrungen hat, die einen bestimmten Sinn haben. Es muss also um einen Prozess der Aneignung in der leiblichen Sinnerfahrung gehen, die selbst in der Zeit, in Geschichten und in der Welt verankert ist. Auch die psychologische Aneignung und Akzeptanz von lebendigem Material funktioniert nicht immer, wie auch Studien zeigen (Sonnenmoser 2011). Der Eindruck, dass jemand sterben musste, damit eine andere Person weiterleben kann, bedrückt einige Empfänger von Organen. Die Tatsache, dass die Person nicht gestorben ist, um zu spenden, hilft der Emotion nicht notwendig weiter. Möglicherweise haben einige Empfänger ein Problem mit der Gabe eines Organs: Sie haben das Gefühl, sie können nichts zurückgeben und der Spenderin oder dem Spender noch nicht einmal danken, und zwar nicht nur, weil er oder sie bereits verstorben ist, sondern auch

Entsprechend der oben gemachten Unterscheidungen zwischen Implantat und Transplantat kann die Ausrichtung einer Biophänomenologie verändert werden. Dann ist zu unterscheiden: erstens, die Fremderfahrung nach einer Implantation von nicht-lebendigem Material; zweitens, die Fremderfahrung nach einer Transplantation eines lebenden Organs; und drittens, die Transplantation von gezüchtetem biologischem Gewebe.

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weil ein Dank für die Gabe des Lebens immer als ungenügend erscheinen wird. 23 (c) Weiterleben in neuer ›Verwandtschaft‹ Geborensein, im üblichen Sinne, heißt von jemandem geboren worden zu sein. Es ist eine Geburt, also die ›erste‹ Geburt auf die Welt und in einen generativen Zusammenhang, der aus Verwandtschaftsverhältnissen in einer zeitlichen Genealogie besteht. Eltern und Großeltern lebten bereits vor der Geburt, Geschwister sind je nach Alter bereits oder werden vielleicht noch geboren; wer adoptiert ist, wird in eine Art soziale Genealogie eingeführt. 24 Wem aber durch eine Transplantation eine ›zweite Geburt‹ ermöglicht wurde, dem wird solch eine genealogische Einordnung nicht gelingen. Diese besondere Blutsverwandtschaft bildet ein Band des Überlebens, das durch die medizinische Diagnostik entdeckt und biotechnologische Praxis verwirklicht ist. Der ›verwandte‹ Andere ist ein Anderer im eigenen Körper, von dem man selbst nicht abstammt, sondern der oder nur dessen Körper in einem einwächst. Doch bisweilen ist die Sachlage gefühlsmäßig nicht nur physisch, wenngleich die medizinischen Erklärungen nur darauf hindeuten. Der kürzlich aufgetretene Fall eines Mannes, der nach einer Blutstammzelltransplantation gegen Kiwi allergisch war, zeigt auf eine Ambivalenz. Weil er an Blutkrebs erkrankt war, spendete seine jüngere Schwester ihm Stammzellen. Sie war schon immer gegen Kiwis allergisch, er hingegen aß sie ausgesprochen gerne. Doch nach der Transplantation vertrug er sie nicht mehr. Sobald er eine Kiwi aß, bekam er keine Luft mehr, seine Lippen brannten und der Mund schwoll an. Nun, 20 Jahre nach der Transplantation fand die medizinische Forschung den Beweis: Die mit übertragenen IgE-Antikörper und nun im Test nachweisbaren Zellen waren für die Allergie verantwortlich. Aufgrund des Geschlechtsunterschiedes war der Test eindeutig: Forscher fanden im Empfänger Zellen mit je zwei X-Chromosomen, aber ohne Y-Chromosomen. Also solche Zellen, die nur von der Spenderin stammen

Die Gabeproblematik ist insgesamt komplex, auch im Zusammenhang von Organtransplantation. Siehe dazu Look 2002; Kalizkus 2009. 24 Einige reproduktionstechnologische Praktiken bringen diese genealogische Reihenfolge durcheinander, etwa wenn eine Großmutter das Kind ihrer Tochter austrägt. Aber auch diese wären vor der Geburt des Kindes bereits in der Welt. 23

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konnten (vgl. Garzorz et al. 2016). Sie waren nicht nur nach 20 Jahren noch nachweisbar, sie führten auch zu einer biologisch manifestierten Lebensänderung: nämlich dem Verzicht auf die vorher geliebten Kiwifrüchte. Dass die Spenderin die Schwester war, ist für die Übertragung weiterer Merkmale, sei es Allergien, Krankheiten oder andere Dispositionen, völlig unwesentlich. Eine Transplantation generiert eine ›Verwandtschaft‹ mit den entsprechenden Merkmalen, die vorher so nicht vorhanden waren, und die erst mit der Transplantation, der ›neuen Geburt‹ auftauchen und verdeutlichen, dass das Leben von einem Anderen ›abzustammen‹ scheint. Es ist ein Schein, der sich in Form von einer Allergie manifestiert, aber auch Raum bietet für weitere Imaginationen über die Beziehung zwischen dem Fremden und dem Eigenen.

Phase +2: Langfristige Perspektive: Das fremde Herz des Anderen bleibt ›fremd‹ Wie ist es zu verstehen, dass das fremde Herz ›fremd‹ bleibt? Vielleicht hilft für die Beantwortung dieser Frage ein erneuter Blick auf die Geburt. Geborensein bedeutet, anderen Menschen seine Herkunft zu verdanken; es bedeutet, von jemandem mit jemandem geboren zu sein. Gar nicht falsch ist die Aussage, dass das fremde Herz in einem Anderen gelebt hat. Es war dort Puls- und Taktgeber für eine andere Person. Es ist ein Herz, das ›Leben‹ in eine andere Person pumpte, die sich vermutlich genau dieser Herzleistung nie bewusst wurde. Für sie schlug das Herz im täglichen Rhythmus, vielleicht mal heftiger, mal ruhiger, je nach Anstrengung und Aufregung. Aber insgesamt bleibt meistens die Pumpleistung des Herzens der bewussten Erfahrung entzogen. Die Herzleistung fungiert im Bereich ihrer Anonymität. Das fremde Herz ist ein Herz, das zu einer anderen Lebensgeschichte gehört(e), Teil hatte an ihr, ihr sogar zugrunde lag. Ein lebendes Herz, dessen Leben stets oder meistens dem Anderen oder der Anderen entzogen war, wurde weitergegeben. Es war dem Spender oder der Spenderin – die jetzt tot ist – als Herz der Regung oder Erregtheit, Anstrengung oder Aufregung in der Erfahrung zugänglich. Damit ist es – im Unterschied zu anderen Organen – ein Organ, das in einem anderen Leben erfahren wurde. Das vielleicht heftig schlug vor Aufregung, gleichmäßig pochte in Ruhestunden, manchmal das Gefühl gab auszusetzen – im Schreck oder vor Freude. Aber als Herz, das 243 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Leben gibt, bleibt es mindestens im Normalfall anonym. Es ist eine fremde Anonymität. Diese fremde Anonymität mit ihren Verschränkungen in eine fremde Lebensgeschichte ist nun in Nancys sinnkonstitutiven Leib eingepflanzt worden und soll sich dort mit seiner leiblichen Anonymität verbinden. Es ist eine Fremdheit, die nicht in der Anonymität des Vorgegebenen liegt, sondern in einer vom Anderen herkommenden Anonymität. Die Unterscheidung der ›fremden‹ und ›eigenen‹ Anonymität ist zugegebenermaßen paradoxal. Sie gründet auf der Unterscheidung zwischen einer Entfremdung von innen heraus und dem Fremdsein etwas Äußerlichem in mir. Somit bedeutet die Transplantation etwas Lebendigem die Einpflanzung einer ›fremden‹ Anonymität, die in einem fremden Leib »waltete« und einem »Ich lebe« konstitutiv und unausgewiesen zugrunde lag. Und nun wirkt diese ›fremde‹ Anonymität als Taktgeber im Leben als Transplantiertes und als weitergegebenes Leben. Somit basiert die gestaltete Bedingung meiner gelebten Existenz auf der Ineinssetzung zweier gelebter Körper. Die erlebte ›zweite Geburt‹ besteht darin, dass das fremde Herz im Anderen gelebt hat und nun in meinem Leben weiterleben und mein Weiterleben in der Welt bedingen wird. Es bringt mich erneut auf die Welt und ermöglicht meine intentionale Ausrichtung zur Welt. Eine Situation, der Menschen sinnkonstitutiv nicht gewachsen sind, erzeugt eine unaufhebbare Fremderfahrung. Welchen Sinn hat das Leben nach einer Transplantation? Mit Husserl wurde bereits deutlich, dass das Leben sich entzieht und als unausgewiesene Empfindung vorausgesetzt ist. Gleichwohl ist der Mensch verdammt zu Sinn. Merleau-Ponty knüpft an diese Gedanken an und entfaltet, dass das »personale Leben« von einem anonymen Leben, das mir nicht zugehörig ist, aber mein faktisches Sein ausmacht, unterlaufen und ausgehöhlt wird. Das anonyme Leben hat zu tun mit meiner Gebürtlichkeit, meinem Geborensein, das einer jeden Person vorgängig ist, mit dem Schleier der Anonymität in mir, mit der lebendigen Intentionalität, die ihren blinden Fleck der Konstitution nicht vergegenständlicht. Das eigene Leben ist nicht zu objektivieren. Aber Leben wurde weitergegeben. Mit einem transplantierten Herzen ist das leibkörperliche Selbstverständnis paradoxal aufgrund der ›fremden‹ Anonymität in der eigenen Anonymität. Es zeigte sich, dass sich eine Dimension des Lebens entzieht und selbst in der Transplantation als weitergegebene Anonymität die blü244 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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hende Phantasie erregt und emotional schwierig ist, gleichzeitig ist ihre Fremdheit ganz materiell, denn sie bedeutet, dass der zum Weiterleben ›reparierte‹ Körper Immunsuppressiva bekommt, die die herztransplantierte Person nicht nur schwindelig und übel machen, sondern auch durch eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten wesentlich gefährden. Das muss man nicht geringschätzen. Aber letztendlich geht es beim Weiterleben, bei der für viele empfundenen zweiten Geburt darum, neu zur Welt und in die Welt geboren zu werden. Die Gebürtlichkeit ist die konstitutive Basis für den Sinn des Lebens, der in der Erfahrung von Beziehungen gefunden werden kann. In der Klärung der Beziehungen mit Anderen aber auch mit sich selbst, die unter der Perspektive des gemachten Überlebens erfahren werden, können die dargestellten Aspekte der Anonymität und Ambiguität zum Thema der eigenen Identität werden. Wenngleich transhumane Praktiken ein Weiterleben durch die körperliche Gabe einer anderen Person ermöglichen, bleibt doch die erfahrene Sinndimension der Fremdheit, die in ihrer Verschränkung von Biographie und Biomedizin sich aufdrängt und gleichzeitig zu entziehen scheint, ein neues philosophisches Aufgabenfeld, das ich Biophänomenologie nenne.

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Biologisches Leben und politisches Leben

1. Was ist das Verhältnis zwischen dem biologischen Leben und dem politischen Leben, oder schlichter, zwischen Politik und Leben? Wann kommen sie in Berührung, fast bis zur Überschneidung, in dem Regime, das als »biopolitisch« definiert wird? Und was zeigt ein solcher Terminus an, der heute im Zentrum eines wachsenden internationalen Interesses steht? Natürlich hat es immer eine Beziehung zwischen Politik und biologischem Leben gegeben; das biologische Leben hat seit jeher den Horizont der Politik gebildet, genauso wie die Politik, als Organisation der zwischenmenschlichen Beziehungen, immer zur Erhaltung und zur Entwicklung des Lebens notwendig gewesen ist. Keine Gesellschaft hätte die eigenen Konflikte oder Angriffe von außen ohne irgendwelche Form der politischen Organisation überleben können. Aber was zählt, um den Begriff der Biopolitik zu definieren, ist, dass dieses Verhältnis bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, der zwischen dem achtzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert datiert werden kann, indirekt gewesen ist: Es wurde durch eine Reihe von Filtern und Blenden vermittelt, die dann gebrochen sind, wodurch sich eine viel engere und verbindlichere Verbindung zwischen Politik und Leben ergeben hat. Wie Foucault – dem wir die erste organische Behandlung des Themas verdanken – in einer langen Abhandlung über die ganze antike, besonders die griechische Geschichte behauptet, gehörte das politische Leben in keiner Weise zur biologischen Sphäre, genauso wie diese jenes Leben nicht einbezog. Im Gegenteil war das politische Leben – der Teilhabe zur polis und der Regierung derselben zugewandt – gerade durch seine Unabhängigkeit gegenüber allen Fragen gekennzeichnet, welche die Sphäre der Erhaltung und der Reproduktion des biologischen Lebens betrafen. Diese waren der Domäne des oikos, dem Bereich des Hauses und aller mit ihm ver248 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Biologisches Leben und politisches Leben

knüpften Tätigkeiten vorbehalten. Dieselbe Definition des Menschen als desjenigen, der den logos besitzt, beruht bei Aristoteles (sowohl in der Ethik wie auch in der Politik) auf dem Ausschluss des bios des ernährungsbedingten oder vegetativen Lebens. Der Begriff der polis gründet in der Differenz zwischen dem einfachen »Leben« (zen) und dem »guten Leben« (eu zen), das heißt in dem Ausschluss aus der politischen Sphäre dessen, was mit einem Ausdruck von Benjamin das »bloße Leben« genannt wurde. Es war Hannah Arendt, die mehr als andere auf diesen Unterschied zwischen dem Bereich der polis und dem Bereich des oikos insistierte. Dies brachte sie dazu, in der Moderne – in der diese Bereiche sich anzunähern anfangen – den Ansatz eines Prozesses der Entpolitisierung zu identifizieren, dessen Ergebnis die Ersetzung oder die Überlagerung des Politischen durch das Soziale ist. Für Arendt muss die Politik nicht nur von den Verpflichtungen des biologischen Lebens frei bleiben, sondern sie erreicht dann ihren eigentümlichen Höhepunkt, wenn es, um für die materiellen Bedürfnisse der Bürger aufzukommen, einen Teil der Bevölkerung gibt, der aus den Sklaven und denjenigen besteht, die einen zu niedrigen Beruf ausüben, um sich mit Politik zu beschäftigen. In dem Moment, in dem diese Distinktion zwischen Politik und Gesellschaft zusammenbricht – wie es de facto in der modernen Welt geschieht –, tendiere das politische Handeln dazu, sich zu erschöpfen und sich mit den anderen menschlichen Tätigkeiten zu vermengen. Ungeachtet ihrer romantischen Akzente stellt diese Rekonstruktion tatsächlich eine bestimmte Organisation der sozialen Verhältnisse dar, die bestimmt war, mehrere Jahrhunderte zu dauern. Erst mit dem Anbruch der Moderne fangen die Dinge an, sich immer deutlicher zu verändern. Die zwei einst getrennten Sphären der Politik und des Lebens kommen einander immer näher. Der Autor, der wahrscheinlich den Wendepunkt markiert, ist Hobbes, wenn er am Ende der Religionskriege behauptet, dass das Grundproblem der Politik nicht dasjenige der Regierung des öffentlichen Wesens oder dasjenige der Verteilung der Macht ist – wie es eben in dem antiken Stadtstaat der Fall war –, sondern primär und vorläufig dasjenige der Erhaltung des Lebens, das durch potentiell zerstörerische Konflikte gefährdet ist. Die Institution des Staates des Leviathans, dem alle die eigenen Rechte übertragen, hat genau zum ersten Ziel, das Leben der Untertanen vor dem Tod zu schützen, nämlich vor dem Tod als möglicher Folge der gegenseitigen Aggressivität der Menschen, die konkurrieren, um sich knappe Ressourcen zu si249 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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chern. Sie hat aber auch das Ziel, allen ein annehmbares Leben auf der Ebene der Bedürfnisse und der ersten Notwendigkeiten zu sichern. Zu diesem Zweck – dem Zweck der Sicherheit – opfern die Menschen das, was ihnen am kostbarsten ist, ihre eigenen Rechte und ihre eigenen Machtbefugnisse, zugunsten eines Dritten, eben des Staates, der imstande ist, sie zu verteidigen und mit seinen Gesetzen einen jeden in Angst zu versetzen, der gedenkt, sie zu verletzen. Dies ist, wie man sagt, ein Paradigmenwechsel, der einer Auffassung der Politik ein Ende setzt, die etwa zwei Jahrtausende bestanden hat. Während bis zu einem bestimmten Zeitpunkt – wie es Foucault ausdrückt – die Menschen lebten und dann eine politische Tätigkeit ausübten, machten sie ab einem bestimmten Moment das Leben zu dem, was bei dieser Tätigkeit auf dem Spiel steht. Dies ist ein Wendepunkt von außerordentlichem Gewicht, der bestimmt war, das ganze nachfolgende politische Denken zu kennzeichnen. Dieses nämliche biologische Leben, das außerhalb des geschlossenen Raums der Politik gehalten wurde, wird zur historischen und politischen Aufgabe des Menschen. Politisch zu leben bedeutet, für das ernährungsbedingte Leben Sorge zu tragen, das bis dahin dem politischen logos äußerlich war. Ab diesem Moment fängt der Wortschatz des biologischen Lebens an, sich immer deutlicher mit demjenigen des politischen Lebens zu verstricken und ihn tiefgehend zu bestimmen. Es stimmt, dass die Metapher des »politischen Körpers« auf eine sehr lange Tradition zurückgeht, die sich bis auf Platon zurückführen lässt, aber mit Hobbes nimmt sie, verbunden mit der Metapher der Maschine, einen deutlichen Immunisierungscharakter an – der politische Körper muss sich immunisieren, das heißt sich gegen die in der Gemeinschaft enthaltenen Risiken schützen.

2. Damit sich ein solcher Prozess in seinem ganzen Umfang abzeichnet, muss man jedoch auf zwei Ereignisse warten. Zuallererst auf die allmähliche Transformation des Souveränitätsparadigmas in dasjenige der Regierung – sobald die Lebensbedingungen der Bevölkerung, ihre Erhaltung, ihre Lebensbedürfnisse, anfangen, in die politischen Ziele der Macht einzufließen. Damals, am Ende des XVIII. Jahrhunderts, entsteht dann die urbane, demographische, gesundheitsbezogene Po-

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litik, die bereits unter einem Horizont fällt, der als biopolitisch definiert werden kann. Die Bevölkerung hört auf, von dem Souverän als etwas betrachtet zu werden, das genutzt werden kann, als eine Ressource, die verbraucht werden kann, und wird zu einem kostbaren Gut, das geschützt werden soll, zu einem Reichtum, der immer besser erhalten und ausgebaut wird. Dies alles hat einen engen Zusammenhang mit dem, was Foucault »Gouvernementalisierung des Lebens« nennt – von der sogenannten pastoralen Macht hin zur Staatsräson, zur materiellen Organisation des Bürgerlebens, zur öffentlichen Hygiene, zum Wissen der »Polizei« – ein Terminus, der damals eine viel breitere Bedeutung hatte als diejenige, die er heute angenommen hat – und die genau die Betreuung des kollektiven bios betraf. In dieser Zeit verbreitet sich das, was wir heute die »öffentlichen Dienstleistungen« nennen – die Sanitäts- und Krankenhausstrukturen sowie auch die Gefängnisstrukturen, die gewiss zu strafen bestimmt waren, aber auch dazu, die Bevölkerung vor der Bedrohung oder auch vor den möglichen Ansteckungen durch endemische Krankheiten zu schützen. Nun ist ein ebenso entscheidendes Ereignis für diese paradigmatische Transformation der vorherigen begrifflichen Ordnungen in der Entstehung am Anfang des XIX. Jahrhunderts der Disziplin gegründet, die den Namen der Biologie annehmen wird. In dieser Zeit fängt das biologische Leben an, in das Blickfeld eines Fachwissens zu geraten, für das die Namen Bichat, Couvier, Lamarck und Darwin nur die bekanntesten sind. Was passiert in diesem Moment? Welche Konsequenzen folgen aus der Entstehung der Biologie in der Organisation des modernen Wissens? Man könnte antworten, dass mit ihr der Horizont der Geschichte in ein immer engeres Verhältnis mit demjenigen der Natur tritt. Die Politik befindet sich genau am Punkt der Berührung, und oft auch der Spannung, zwischen Geschichte und Natur. Der Mensch beginnt als Mitglied einer Spezies betrachtet zu werden, wie auch die menschliche Spezies in Verbindung mit den anderen lebendigen Spezies tritt. Dies bestimmt einen Prozess der allmählichen Entsubjektivierung, das heißt der Modifikation und der Krisis der politischen Subjektivität. Das Individuum, das von der modernen politischen Philosophie immer als ein vernunftbegabtes und als ein mit einem Willen ausgestattetes Subjekt betrachtet wurde, fängt an, als ein Lebewesen wahrgenommen zu werden, das von irrationalen, leidenschaftlichen, instinktiven Kräften durchzogen und oft determiniert wird, die sich der rationalen Selbstkontrolle ent251 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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ziehen, weil sie in einer Schicht des biologischen Lebens wurzeln, die dem relationalen Leben unterliegt und mit ihm auf subtile Weise kollidiert. Besonders der große französische Physiologe Xavier Bichat behauptet, dass alles Leben aus zwei Lebensschichten zusammengesetzt ist, die er als »organisches Leben« und »animalisches Leben« definiert – das erste bestimmt alle vegetativen Funktionen (Atmung, Verdauung, Blutkreislauf) und das zweite alle motorisch-sensorischen und intellektuellen Tätigkeiten. Nun ist das Element, das diese Theorie auszeichnet – und das nicht nur das biologische Wissen, sondern auch die nachfolgende Philosophie beeinflusst –, der Vorrang des organischen oder vegetativen Lebens über das animalische und relationale. Bichat beobachtet zum Beispiel, dass auch nach dem Tod, wenn das relationale Leben, und das heißt die Funktionen des Gehirns, vergeht, das organische und vegetative Leben einige Stunden oder Tage weiter funktioniert, so dass das Wachstum der Nägel und der Haare nicht aufhört. Dies führt zu einer ganz bestimmten Konsequenz in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem biologischen Leben und dem politischen Handeln, und zwar auf eine Weise, die anfängt, das moderne Paradigma der Politik immer tiefer zu verändern. Bichats Theorie des quantitativen und extensiven Vorrangs des vegetativen und automatischen Lebens gegenüber dem relationalen schwächt die hobbessche Idee der Gegensätzlichkeit zwischen dem politischen und dem natürlichen Zustand ab. Nach der neuen biologischen Auffassung ist der bürgerliche Status unausrottbar im natürlichen Zustand verwurzelt. Er kann sich von sich selbst, vom eigenen Körper und von den tiefen Mechanismen, die ihn regulieren, nicht trennen. Da der Wille im vegetativen Leben verwurzelt ist und zum großen Teil von ihm geleitet wird, geht die Grundvoraussetzung der modernen politischen Theorie in die Brüche – das heißt die Idee von Subjekten, ausgestattet mit einem rationalen Willen, die sich frei in einem Gründungspakt der bürgerlichen Ordnung einigen. Wenn die Leidenschaften durch instinktive und unbewusste, im organischen Leben versenkte Triebfedern bestimmt sind, ist es nicht möglich, sie an einem rational getroffenen Entschluss zu orientieren. Die Idee des Gesellschaftsvertrages selbst schwindet. Die Menschen werden nicht mehr, oder nur zum Teil, für die Autoren der Institutionen gehalten, die sie umgeben. Sie sind nicht mehr Herren ihres Schicksals, sondern gezeichnet durch die erblichen Merkmale, die ein jeder von denjenigen erhalten hat, die ihn gezeugt haben. 252 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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3. Wie Autoren meinen, die von Bichats Vitalismus beeinflusst worden sind, unter ihnen Schopenhauer, hat das Individuum, wie auch die kollektiven Subjekte, einen natürlichen Grund, der nicht durch Erziehung oder das äußere Umfeld verändert werden kann. Die Einheit des Lebens gliedert sich nicht mehr in einem Dualismus zwischen Seele und Körper – auf welchen der christliche Begriff der »Person« oder auch, in anderer Hinsicht, das kartesianische Subjekt verwiesen –, sondern im biologischen Niveauunterschied zwischen dem organischen und dem animalischen Leben. Was auf diese Weise in Frage gestellt werden soll, ist der untrennbare Kern zwischen Wille und Vernunft, der bis dahin das Wesen des politischen Subjekts ausmachte. Die Idee schwindet, dass der rationale oder geistige Anteil den körperlichen Anteil, in dem er verankert ist, beherrschen kann; dass es da eine intellektuelle Befehlsstelle gibt, von der aus der Körper und seine primären Instinkte regiert werden können. Auch in Bezug auf die Idee der »Demokratie« ist es, als hätte die Macht, der kratos, nicht mehr den demos, das Volk oder die Gesamtheit der Individuen zum Referenzpunkt, sondern den bios, das heißt das Leben eines Organismus, der außerhalb jeder rechtlich-politischen Konnotation steht, weil er von unkontrollierbaren natürlichen Kräften bewegt wird. Es handelt sich um einen Prozess der Entsubjektivierung und der Entpersonalisierung, der noch in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verschiedene Ausgänge und nicht notwendig rückschrittliche haben kann. Besonders bei Darwin bleibt noch dieser Prozess der Biologisierung potentiell offen. Auch er dekonstruiert die humanistische Lexik, aber ohne direkte politische Konsequenzen zu ziehen. Gewiss wird das, was die klassische Theorie noch als »menschliches Wesen« definierte, durch eine Reihe von Invarianten biologischer Art abgelöst, die, sei es auch mit besonderen Merkmalen, innerhalb der großen Kette der lebendigen Spezies verortet sind. Dies bedeutet nicht, dass Darwin das menschliche Verhalten auf den bloßen Widerschein seiner organischen Komponenten reduziert, oder dass er die Natur der Geschichte entgegensetzt. Im Gegenteil führt er sie zusammen in einer Idee der Naturgeschichte, nach der sich die menschliche Natur auf zufällige Weise verändert, gemäß einer Reihe von normativen Abweichungen, die nicht im Voraus vorbestimmt sind, sondern auf unvorhersehbare Weise erfolgen. Es ist auf dieser Basis, dass der Me253 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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chanismus der natürlichen Selektion wirkt – nicht als Resultat eines vorbestimmten teleologischen Schicksals, sondern der Konfrontation und des Zusammenstoßes zwischen verschiedenen biologischen Typologien, die gegenseitig versuchen, sich zu behaupten. An diesem Punkt werden zugleich sowohl die klassische wie auch die moderne philosophisch-politische Tradition radikal angefochten. Das biologische Leben, das nicht mehr als den Hintergrund dafür gebildet hatte, dass eine freie politische Handlung die von einem selbstbestimmten Subjekt gewollte Richtung annimmt, dringt immer tiefer in das Zentrum der politischen Bühne ein und bestimmt diese auf radikale Weise. Wir haben gesehen, wie die Theorie Darwins, die im Allgemeinen als Initiatorin dieses Prozesses angesehen wird, am Ende einer Entwicklung verortet wird, die einige Jahrzehnte früher begonnen hat und mit der Geschichte der Biologie zusammenfällt. Aber nach ihr teilt sich die Biologisierung der Politik, oder die Politisierung des biologischen Lebens, in zwei verschiedene Richtungen auf, von denen die eine mit besorgniserregenden Elementen deterministischer Art geladen ist. Diese können wir negative »Biopolitik« nennen, der eine affirmative »Biopolitik« entgegengesetzt werden kann. Was muss man unter »negative Biopolitik« verstehen? An ihrem Ursprung liegen eine begriffliche Verschiebung und ein instrumentaler Gebrauch des Darwinismus, die in eine andere Richtung gehen als diejenige, die Darwin ergriffen hatte. Bereits Spencer markiert einen ersten Übergang, der ein klares hierarchisches und ausschließendes Element in das einführt, was Darwin noch für einen offenen Prozess hielt. Mit ihm wird die natürliche Selektion zu einem Kampf um die Existenz, in dem nur die stärksten oder, wie er sich ausdrückt, die am besten angepassten Spezies es schaffen zu überleben. Es fehlt wenig dazu, dass diese theoretisierte Überlegenheit mancher Spezies über die anderen, übertragen ins Innere der menschlichen Gattung, einen rassischen Charakter annimmt. Für Gobineau, Autor eines berühmten Buches über die Ungleichheit der menschlichen Rassen, wird die unterschiedliche Kraft verschiedener Völker nicht durch ihre politische Organisation bestimmt, und auch nicht durch die Gegebenheiten der Umwelt oder des Klima, wie Montesquieu es noch dachte, sondern durch ihre innere biologische Verfassung. Für ihn zählte die Geschichte viel weniger als die Natur und sie war sogar selbst naturalisiert. Auf Grund einer solchen Perspektive ist die Politik nun nicht mehr, wie sie es für 254 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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mindestens zwei Jahrhunderten gewesen ist, der Ausdruck des freien Willens von Personen, die subjektive Rechte genießen und als solche Gebieterinnen über das eigene Schicksal sind, sondern das bloße Ergebnis der erblichen Übertragung von natürlichen Merkmalen, die in den verschiedenen Typologien von Menschen unterschiedlich verteilt sind. Von nun an öffnet sich die Möglichkeit, dass die Identität des politischen Subjekts immer mehr von dem nackten biologisch-rassischen Faktum erdrückt wird. Schon hier fängt das an, was wir Biopolitik genannt haben, in eine Art Zoopolitik umzukippen – nun nicht nur in Kontrast zur modernen philosophischen Auffassung, sondern auch zu dem darwinistischen Paradigma. Die stufenlose Kette der menschlichen Rassen – von den stärksten zu den schwächsten – wird durch die Einführung der animalischen Referenz innerlich unterbrochen. Schon am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts werden nicht nur in Deutschland, sondern auch in Amerika die so genannten »niederen« Menschen eher in die Nähe der Tiere als der »höheren« Menschen gebracht. Eher denn als ein homogenes Ganzes erscheint die Kategorie der Menschheit in zwei unterschiedlichen Zonen geteilt, getrennt durch den Bruch, den die Animalität konstituiert. Das hierarchische und ausschließende Ergebnis einer solchen Biologisierung der Politik ist evident. Bestimmte reinblütige Völker sind dazu bestimmt, andere Völker mit unreinem Blut zu beherrschen, die sich gegen eine in ihrem biologischen Substrat wurzelnde Subalternität nicht erheben können. Nicht nur dies, sondern – wie es bald durch Nazi-Ideologen theoretisiert wird – die höheren Rassen sind berechtigt, ihre degenerative Kontaminierung, die durch den Kontakt mit den niederen entsteht, zu blockieren, indem sie diese deportieren oder sogar eliminieren. An diesem Punkt wird das, was noch für Darwin eine natürliche Selektion war, zu einer künstlichen Selektion mit dem Zweck, alle Mischung des Blutes zu verhindern und die ursprüngliche Rassentypologie wiederzuerlangen. Das, was die Anthropologen des Regimes vorhaben, ist die verrückte Absicht, die Natur durch künstliche Prozeduren zu rekonstruieren – die Natur künstlich zu re-naturalisieren, indem sie die degenerierten oder zum Degenerieren bestimmten Organismen eliminieren. Auf diese Weise kippt das, was wir als Biopolitik definiert haben, in eine Form der manifesten Thanatopolitik um. Die Menschheit wird zum operativen Feld einer gewaltsamen Trennung zwischen zwei radikal gegensätzlichen Formen des Lebens, von denen die eine durch 255 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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eigenen Sklavendienst oder Tod zur Verbesserung der anderen bestimmt ist. Das Leben selbst wird zweigeteilt in ein höheres und tendenziell unsterbliches Leben und ein Leben, das dermaßen nieder ist, dass es nicht wert ist, gelebt zu werden. Die Autoren (Binding und Hoche) eines berühmten Aufsatzes über das »unwerte Leben« (Hoche/Binding 1920), der in den Jahren unmittelbar vor der Machtergreifung Hitlers geschrieben wurde, gehen soweit zu argumentieren, dass es unmenschlich wäre, wesentlich – weil biologisch – verschiedene Menschentypen gleich zu behandeln. An diesem Punkt wird das Wissen des Lebens, das am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entstanden ist und in den darauf folgenden Jahrzehnten mit dem politischen Wissen in Berührung gekommen ist, eine mörderische Todesmaschine. Der Tod richtet sich im Zentrum des politischen Lebens ein und bestimmt es. Am Ursprung einer solchen katastrophalen Verschiebung steht die Ersetzung des lebendigen Leibes durch die Rasse sowie die Ersetzung dessen, was lange die »Seele« genannt worden war, durch das Blut. Der Körper wird zur selben Zeit zum einzigen Subjekt und zum einzigen Objekt einer Politik, die nunmehr mit der Medizin und sogar mit der Rassenchirurgie identifiziert wird, welche eingesetzt werden, um aus dem großen Körper des deutschen Volkes dessen verseuchtes Anteil herauszuschneiden. Hitler wurde nicht per Zufall in den deutschen Lehrbüchern der dreißiger Jahre als den »großen Arzt« definiert. Wir wissen, wie schwerwiegend die Rolle der Ärzte in der Maschine des Genozids gewesen ist. Sie haben die Selektion der Gefangenen durchgeführt und den Großteil zum Tode geschickt, sie haben die mörderischen Vorrichtungen direkt in Gang gesetzt und die Leichen der Opfer behandelt. Die Politik in medizinischen Termini zu übersetzen oder der Medizin eine politische und sogar thanatopolitische Finalität zuzuweisen, bedeutete, hinter sich alle Brücken zur westlichen politischen Tradition abzureißen und somit einen Punkt zu erreichen, an dem es kein Zurück mehr gibt. Am Ende dieses Weges steht der Genozid. In ihm erreichen die Verteidigung des Lebens eines einzelnen, höher gewähnten Volkes, und die Produktion des Todes für die anderen, eine Ebene der absoluten Identifizierung. Der autoimmune Charakter – im Sinne eines Immunsystems, das sich gegen sich selbst wendet – dieses Prozesses der Massenzerstörung ist frappierend. Wir haben gesehen, wie sich die moderne Politik am Ursprung der Hobbesschen biopolitischen Wende einen starken immunitären Antrieb zu eigen machte – eine selbstverteidigende und 256 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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selbstschützende Tendenz gegen die äußeren Drohungen. Nun ist dieses immunitäre Element im Lauf der Zeit immer stärker geworden und ging bis dahin, einen Autoimmuncharakter anzunehmen. Die Krankheit, die die Nazis eliminieren wollten, war der potentielle Tod der eigenen Rasse. Es war diese Möglichkeit, die sie im Körper einer als niedere erklärte Rasse und sogar, wie sie es sagten, einer NichtRasse töten wollten. Sie nahmen ihr Handeln nicht als Mord wahr, weil sie eine solche Rasse für bereits tot hielten. Sie glaubten, die Rechte des Lebens wiederherzustellen, indem sie ein degeneriertes und insofern bereits dem Tod geweihtes Leben töteten. Die Katastrophe des zweiten Weltkriegs war das Resultat dieses mörderischen Wahnsinns.

4. Das Ende des Nationalsozialismus bedeutet nicht das Ende der Biopolitik, das noch bevorsteht. Alle oder fast alle Fragen, die vor uns stehen, Fragen der Gesundheit, der Umwelt, der Immigration, haben mit der Biopolitik zu tun. Es geht so weit, dass der Verweis auf das biologische Leben zu dem für jede Art der Politik notwendigen Legitimationselement geworden ist. Heute würde eine Politik, die sich nicht auf das Leben beziehen würde, abstrakt und fern von uns erscheinen, sie würde jedes Interesse verlieren. Um ein Gefühl dieser Wende zu geben, begrenze ich mich darauf, auf drei emblematische Ereignisse hinzuweisen, die binnen wenigen Jahren das Panorama radikal geändert haben. Am Ende der sechziger Jahre nimmt wortwörtlich die Frage des Genus, der Generation und der Genetik, Gestalt an, und zwar derart, dass die biopolitische Semantik des genos die demokratische Semantik des nomos zu verdrängen scheint. Es sind Fragen des Genus als sexuelle Differenz und der Generation als Gruppe von Personen, die durch eine Reihe unterschiedlicher soziokultureller Merkmale, die häufig diejenigen der vorherigen Generationen ablösen, definiert werden. Einige Jahre später, in 1971, wird in den Vereinigten Staaten das erste Experiment genetischer Veränderung auf dem Schaaf Dolly durchgeführt, das dazu bestimmt war, zumindest auf der Ebene der Möglichkeit, ein immer angespannteres und problematischeres Verhältnis zwischen Leben und Technik ahnen zu lassen, dessen Sprengkraft in Bezug auf die traditionellen politischen Kategorien wir erst jetzt erkennen. Im darauf folgenden Jahr 257 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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schließlich, 1972, lässt die erste, in Stockholm stattfindende Weltumweltkonferenz die Ökologie zu einer politischen Frage erster Bedeutung werden. Auf diese Weise entstand ein umfassender Wechsel, dessen Tragweite zu messen überfällig ist: Das Leben des Menschen, das Leben der Gattung und das Leben der Welt betreten auf selbstherrliche Weise die Bühne einer Politik, die noch nicht ausgerüstet ist, um dessen Sinn zu verstehen. Die Annahme, dass diese wahre und eigentümliche Revolution, in deren Zentrum die Frage des bios steht, den vorherigen politischen Wortschatz unberührt lassen kann, ist eine Illusion, die dazu bestimmt ist, immer wieder entkräftet zu werden. Man kann sagen, dass seitdem, in aufeinander folgenden und einander überstürzenden Wellen, der Bruch der Grenzen zwischen dem, was biologisch ist, und dem, was politisch ist, unsere Zeit immer mehr kennzeichnet, hierbei die ganze Palette der zeitgenössischen Erfahrung verändert und auf bisher unbekannte Weise unsere Realität und unsere Fantasie neu definiert. Von neuen ethisch-religiösen Konflikten bis zur wachsenden Welle der Immigration, von der Frage der öffentlichen Gesundheit bis zu derjenigen der Sicherheit, die immer mehr betont wird, verändert sich das, was wir gewohnt waren, Politik zu nennen, auf radikale Weise; es wird reicher und komplexer, es dehnt sich aus und verzieht sich. Es ist so, als wäre der ganze begriffliche Apparat, der fast ein Jahrhundert lang, ja in einem weiten Sinne mehr als vier Jahrhunderte lang, seit dem Anfang des modernen Zeitalters, die Konfiguration der Politik ausgedrückt hat, plötzlich eingestürzt. In genau diesem Moment – in dem Geburt und Tod, Gesundheit und Sexualität, Veränderung der Umwelt und Transformation des Körpers zu öffentlichen Themen außerordentlicher Relevanz werden – scheint die ganze Semantik der Demokratie an Wirksamkeit zu verlieren. Es gelingt ihr nicht nur nicht mehr, die Wirklichkeit zu ergreifen, sondern auch nicht mehr, sie zu interpretieren. Wie kann man die demokratische Lexik der formalen Gleichheit zwischen abstrakten Rechtssubjekten – reine logische Atome, die periodisch dazu gerufen werden, eine rationale und freiwillige Entscheidung über die Regierung der Gesellschaft auszudrücken – benutzen, wenn das, was immer mehr zählt, die ethnische, sexuale, religiöse Differenz von Menschengruppen ist, die wesentlich durch die Eigenarten ihres Körpers, ihres Alters, ihres Geschlechts, ihres Gesundheitszustands definiert werden? Und wie kann die Sphäre des Staates, in der die moderne Demokratie entstanden ist und sich be258 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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hauptet hat, mit dem Horizont ohne Grenzen der Globalisierung vereinbart werden, der von oben und unten, von innen und außen die Grenzen des Nationalstaates in einem unbekannten Geflecht von Globalem und Lokalem sprengt? Aus all dem wird offensichtlich, dass die alt-europäischen Kategorien, die den semantischen und interpretativen Rahmen des neunzehnten Jahrhunderts definiert hatten, nicht mehr funktionieren. Wie kann man sich eine informierte Einigung, die für den demokratischen Ausdruck der Abstimmung notwendig ist, in der Situation der Konzentrierung der Medien in wenigen Händen und in Bezug auf komplexe Fragen vorstellen, wie zum Beispiel die Frage der Stammzellen oder der Energiequellen, der Veränderung der Umwelt oder der Bedeutung des menschlichen Lebens, über die auch die technischen Komitees keine gemeinsame Meinungen erreichen? Zu denken, dass Probleme dieser Art durch parlamentarische Mehrheiten geschlichtet werden können, ist sowohl unmöglich wie auch unangemessen. Was in Frage gestellt werden soll, ist nicht nur das Prinzip der Gleichheit, sondern auch die ganze Reihe von Entgegensetzungen, auf denen die moderne Auffassung der Demokratie basiert – das heißt diejenigen zwischen öffentlich und privat, Künstlichkeit und Natur, Recht und Biologie. Denn in dem Moment, in dem der Körper die abstrakte Subjektivität der Rechtsperson füllt, wird es schwierig, das, was die öffentliche Sphäre betrifft, von dem, was zur privaten Sphäre gehört, die Technik von der Natur, das Recht von der Theologie zu unterscheiden. Geburt und Tod, aber auch Geschlechtsund Generationsleben, Körper und Ethnie sind nämlich genau die Orte, die Konfliktherden, in denen diese Grenzen nachgeben und schwinden.

5. Natürlich möchte ich nicht behaupten, dass dies alles von sich aus die Erschöpfung der demokratischen Prozeduren verursacht – diese bleiben formell bestehen. Aber sie sind häufig in ihrem Sinn und in ihrer Intention umgestülpt, wie es eben geschieht, wenn sich dieselben rechtlichen Institute in einem vollkommen neuen Horizont befinden. Es ist, wie wenn wir im posthumen Licht einer alten Konstellation leben würden – wie wenn ein Stern erlischt, aber über Jahrtausende eine Helligkeit weiter produziert, der keine Substanz mehr ent259 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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spricht. Alle drei konstitutiven Kategorien der Demokratie – diejenige der Repräsentation der Wähler durch die Gewählten, diejenige der Identität zwischen den Regierenden und den Regierten und diejenige der Volkssouveränität – haben jetzt eine missgestaltete und umgestülpte Bedeutung hinsichtlich derjenigen erhalten, die sie anfänglich hatten. Die Repräsentanz (rappresentanza) ist immer mehr zu einer Vorstellung (rappresentazione) – im theatralischen, oder besser: im televisuellen Sinn des Ausdrucks – geworden. Dazu kam die folgerichtige Verlagerung des politischen Begriffs des »Öffentlichen« (pubblico), als dem Privaten entgegengesetzt, in denjenigen des »Medien-Publikums« (pubblico mediatico), erzogen oder misserzogen durch Palimpseste, die offensichtlich zur Reduktion der kritischen Fähigkeit der Zuschauer bestimmt sind. Ganz zu schweigen von den Umfragen, deren performativer Ausgang durch den Typ und die Formulierung der Fragen vorbestimmt ist. Die Identität zwischen den Regierenden und den Regierten ist zur imaginären Identifizierung zwischen Führer und Masse geworden, auf der Suche nach siegerischen Vorbildern, die auf der Ebene der Qualität immer mehr heruntergekommen sind – das Ganze mit einem harten Verlust sowohl des Symbolischen als auch des Realen, geschluckt durch das Imaginäre und durch das mimetische Begehren, das heißt orientiert zu denselben Dingen und zu denselben Verhaltensstilen. Letztlich driftet auch die Volkssouveränität in den Populismus ab, was wiederum auf der präventiven Entpolitisierung dessen beruht, was die Idee des Volkes innerhalb der nationalen Ideologie bedeutete, das heißt die Idee des ungeteilten Willens der Bürger, die nach der Aushandlung gemeinsamer Werte streben. In der Gesellschaft des Spektakels, oder im Spektakel der Gesellschaft, das jeden Tag auf unseren Fernsehkanälen über die Bühne geht, neigt jeder Dissens dazu, Konsens zu werden, und jeder Konsens eine schlichte Zustimmung, wenn nicht ein von der Regie geregelter Applaus. Das Problem, das wir heute vor uns haben, ist also nicht die Grenze oder die Unvollkommenheit der Demokratie – ihre nicht eingehaltenen Versprechen, sondern ihre paradoxe Vollendung in der Umkehrung ihrer Voraussetzungen, in etwas, das sich zugleich aus ihr ergibt und ihr Gegenteil ausmacht. Und dies geschieht, sobald das demokratische Dispositiv von dem modernen Horizont in einen anderen übergeht, der nicht auf ihn zurückgeführt werden kann. Was bedeutet dies? Dass Demokratie heute nicht mehr möglich ist? Dass sie zu etwas zurückgehen muss, das ihr vorausgeht? Dies 260 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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wäre weder möglich noch wünschenswert. Das, was dagegen dringlich ist, ist eine tiefe Modifikation dessen, was bislang unter diesem antiken aber unverzichtbaren Wort verstanden wurde. Ich deute nicht nur eine einfache Reform der Institutionen an, sondern etwas Tieferes: die Transformation des ganzen kategorialen Aufbaus, um den sich die ganze moderne politische Ordnung gedreht hat, der aber nunmehr keinen Zugriff mehr zu einer Wirklichkeit hat, die, wie die unsere, in ganz und gar biopolitischen Termini konfiguriert ist. Das bedeutet, dass, fern davon, den transzendentalen Primat des biologischen Lebens, seine konstitutive Macht anzufechten, es im Gegenteil nötig ist, dieses immer mehr ins Zentrum der Szenerie zu rücken, an seinem Sinn und seinen Anforderungen zu arbeiten und an den Dilemmata, die es öffnet, und an den Kräften, die es hervorruft. Was dies bedeutet, kann schwer in wenigen Sätzen zusammengefasst oder, schlimmer, auf eine Liste von Vorschriften reduziert werden. Es handelt sich vor allem darum, dieses biologische Band zwischen den Generationen wieder zu knüpfen, das die moderne Demokratie ursprünglich missachtet oder unter die Schwelle der heutigen Sichtbarkeit gedrückt hat. Es handelt sich darum, den Blick in die Zukunft zu richten – und hierbei nicht nur über das nachzudenken, was die Welt schon ist, sondern auch über das, was sie in einigen Jahrzehnten sein könnte, nicht nur durch Bevölkerungswachstum, sondern auch durch die unvermeidliche ethnische Mischung und die Veränderung der Umwelt, die daraus folgen. Dies bedeutet, eine gewaltige Menge von ökonomischen, ökologischen und medizinischen Ressourcen in die unterentwickelten Länder zu verlagern und so eine Verwandlung des Entwicklungsmodells innerhalb der westlichen Welt zu beginnen. Nur auf diese Weise wird es nicht lächerlich klingen, von Menschenrechten zu sprechen, wenn man mit den offenen Wunden und den unüberbrückbaren Distanzen zwischen übergewichtigen und ausgehungerten Ländern konfrontiert wird. Es lässt sich leicht vorstellen, dass diese Transformation nicht ohne Widerstände und Kämpfe erfolgen wird. Persönlich glaube ich nicht an eine Welt ohne Konflikte – an eine homogene und friedliche Entwicklung des Menschengeschlechts, unterstützt durch den unbegrenzten und heilsamen Fortschritt der Technik. Als Nietzsche voraussagte, dass alle zukünftigen Konflikte die Definition und Modifikation des menschlichen Lebens betreffen würden, traf er einen fundamentalen Nerv unserer Zeit und öffnete ein Szenario, das mindestens beunruhigend ist. Es impliziert nicht 261 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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notwendig die Auslöschung der modernen politischen Kategorien – derjenigen der Demokratie, der Gleichheit, der Freiheit –, aber ihre Verlagerung von der formellen Sphäre der Institutionen hin zur substanziellen Sphäre des lebendigen Körpers der Individuen und der Bevölkerungen. Frei und gleich werden nur die Menschen sein, die die Fähigkeit und die Möglichkeit haben werden, in das eigene Leben einzugreifen, ohne dadurch dasjenige der künftigen Generationen zu gefährden. Gerecht werden die Institutionen sein, die dies erlauben. Die Idee der Demokratie wird neu gestaltet werden als ein unbekanntes Geflecht von Natur und Geschichte, Technik und Leben, Raum und Zeit. Sie wird am Knotenpunkt zwischen dem horizontalen Raum einer globalisierten Welt und der vertikalen Abfolge der Generationen verortet sein. Nur wenn sie diese Fähigkeit der Selbsttransformation hat, wird sie eine Zukunft haben, die nicht hinter ihrer Vergangenheit zurückbleibt. Es geht darum – in Anbetracht dessen, dass es schwierig ist, das zu beschreiben, was noch nicht am Horizont sichtbar ist –, politische Praktiken zu ersinnen, die sowohl dem modernen, auf den Kategorien der Souveränität und des Individuums gestützten Paradigma äußerlich sind, wie auch dem thanatopolitischen Abdriften, auf das wir gerade hingewiesen haben. Das Ganze innerhalb globaler Dynamiken, die das Schicksal des Planeten in einen einzigen lebendigen Körper vereint zu haben scheinen, von dem es nicht mehr möglich ist, den einen Teil durch die Beschädigung des anderen zu retten, wie man es lange zu tun versucht hat. Die jetzige ökonomische Krise ist selbst der Beweis dafür, wie heute die Sprache der Politik, des Rechts, der Ökonomie und der Technik ein einziges Ganzes bilden, das unmöglich an streng getrennten Verhaltensweisen untersucht werden kann. Nichts hat mehr als diese Krise – eine Krise gigantischen Ausmaßes, die das Leben von Hunderten von Millionen Personen quält – ihren eigenen Ursprung in den politischen Entscheidungen, die durch die westlichen regierenden Klassen in den letzten dreißig Jahren getroffen wurden. Zu denken, dass es für sie eine lediglich technische oder finanzielle Lösung geben kann, ist eine bloße Illusion. Was sich klar zeigt, ist, dass scheinbar getrennte Probleme wie diejenigen des Lebens und der Arbeit, der Gesundheit und der Umwelt, in ihrer Komplexität und in ihrem Zusammenhang angegangen werden sollen. Was im Amazonas-Wald geschieht, beeinflusst das Leben der asiatischen und europäischen Völker auf dieselbe Weise, wie die Krise des Dollars unmittelbare Folgen für die europäischen Börsen erzeugt. Der Abbau des 262 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

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Wohlfahrtsstaates – das heißt der letzten affirmativen biopolitischen Revolte in Europa zur Unterstützung und zur Erweiterung des schwächeren Lebens – zeichnet eine Trennungslinie, an der sich jede zeitgenössische Politik zu messen gezwungen ist. So haben auch die Arbeitslosigkeit und die Rezession eine unmittelbare Auswirkung auf die Qualität und auch auf die Quantität des Lebens in immer umfassenderen Schichten der Weltbevölkerung. Vor einem Geschehen mit solcher Tragweite besteht die Alternative zwischen demjenigen, der denkt, dass die Krise innerhalb desselben Entwicklungsmodell gelöst werden kann, und demjenigen, der stattdessen an ein anderes Modell denkt, das in seinen Umrissen noch nicht sehr klar ist, aber fähig, neue Perspektiven zu öffnen für die jetzigen und künftigen Generationen, ohne dabei die Schiffbrüchigen der Entwicklung – die Verdammten der Erde und des Meeres – ihrem Schicksal zu überlassen. Heute rettet sich die Welt mit allen zusammen oder sie stirbt mit allen zusammen. In diesem Fall ist die Biopolitik – dieser Knoten, der am Anfang des modernen Zeitalters zwischen dem biologischen Leben und dem politischen Leben geschnürt wurde – nicht nur eine Option unter vielen, sondern sie ist zugleich das Schicksal und die Ressource der künftigen Menschheit. Wir können nicht dahinter zurückgehen. Die Biopolitik ist der Horizont unserer Zeit. Es geht darum, ihr neue Inhalte im Vergleich zu denen zu geben, die ihr in den zwei letzten Jahrhunderten gegeben worden sind. Werden wir imstande sein, dies zu tun? Davon wird das Schicksal der neuen Generationen abhängen. Aus d. Italienischen u. Englischen v. P. Delhom

Literatur Hoche, A., K. Binding (1920): Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig: Meiner.

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Über die Autorinnen und Autoren

Stefania Achella ist Professorin (professore associato) für Moralphilosophie an der Universität Chieti–Pescara, wo sie Ethik sowie Philosophie und Theorie des Textes lehrt. Sie arbeitet zurzeit über die Auffassungen des Lebens und der Körperlichkeit in der klassischen deutschen Philosophie sowie über die italienische Rezeption des Denkens Hegels. Sie hat einige Werke Jaspers‹ ins Italienische übersetzt und ein Buch und mehrere Artikel über das Denken Jaspers‹ geschrieben, insbesondere über die Psychopathologie und den Humanismus. Ausgewählte Publikationen: »L’Umanesimo a venire di Karl Jaspers«, in: La questione dell’umanismo oggi, hrsg. von V. Cesarone, H. Zaborowski (Macerata 2017), S. 103–124; »L’ontologia vivente di Hegel«, in: Rivista di filosofia neoscolastica, CIX, 2017, 2, S. 443– 457; »Spaventa lettore di Hegel«, in Archivio di filosofia, LXXXV, 2017, 1, S. 95–107; »Nodes, networks, flows: Categories and concept in the Hegelian logic«, in: Categories, hrsg. von G. D’Anna, L. Fossati, Olms, Zürick/New York 2017, S. 125–138; »From the World to Subjectivity. Expression and World in Jaspers’ General Psychopathology«, in Existenz, vol. 10 (2), 2015, S. 53–60; «Comprendere i fatti. Corporeità e mondo nella psicopatologia jaspersiana«, in Studi Jaspersiani, 2, 2014, S. 103–128. Kerstin Andermann, Dr. phil., Abschluss der Habilitation an der Leuphana Universität Lüneburg mit einer Arbeit zu Baruch de Spinoza im Frühjahr 2018. 2009–2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg. 2015–2016 Verwaltung der Professur für Philosophie, insb. Praktische Philosophie am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Phänomenologie, der Spinozaforschung und der aktuellen Kulturtheorie. Ausgewählte Publikationen: Die Macht der Affekte. Spinozas Theorie immanenter Individuation. (Unveröffentlichtes Habilita264 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Über die Autorinnen und Autoren

tionsmanuskript 2018). Spielräume der Erfahrung. Kritik der transzendentalen Konstitution bei Merleau–Ponty, Deleuze und Schmitz. Phänomenologische Untersuchungen, München 2007. Gefühle als Atmosphären. Beiträge der Neuen Phänomenologie zur philosophischen Emotionstheorie. Hrsg. mit Undine Eberlein, Deutsche Zeitschrift für Philosophie (Sonderband), Berlin 2010. »Das Band der Affekte. Relationalität in Spinozas immanenter Ontologie der Menge«. In: Thomas Bedorf/Steffen Herrmann (Hrsg.), Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs. Frankfurt/New York 2016, S. 311–332. Heike Delitz (PD Dr. phil.) ist Privatdozentin am Lehrstuhl für Soziologische Theorie der Universität Bamberg und vertritt derzeit die Professur für vergleichende Gesellschaftsforschung an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Soziologische Theorie und Kultursoziologie. Sie erforscht u.a. Imaginationen von Gesellschaft oder kollektiver Identität sowie Gesellschaftseffekte von Architekturen. Ausgewählte Publikationen: Kollektive Identitäten. Einsichten/ Themen der Soziologie, Bielefeld: transcript 2018; »Architectural Modes of Collective Existence: Architectural Sociology as a Comparative Social Theory«, in: Cultural Sociology 12 (2018) H. 1, S. 37–57; Bergson-Effekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Weilerwist: Velbrück 2015. Roberto Esposito ist Professor für theoretische Philosophie an der Scuola Normale Superiore in Pisa. Durch eine kritische Analyse der von den Klassikern des modernen Denkens dargelegten politischen Kategorien (insbesondere das Individuum, die Person, die Gemeinschaft) hat seine Forschung die Grenzen des politischen Handelns in der heutigen Zeit bewiesen, da Politik ein System ist, das sich notwendig mit der Nicht-Reduzierbarkeit von Lebensformen abfinden muss. Ausgewählte Bücher: Communitas. Origine e destino della comunità (Torino 1998; engl. Stanford Univ. Press, 2010); Immunitas. Protezione e negazione della vita (Torino 2002; engl. Polity Press, London 2011); Bios. Biopolitica e filosofia (Torino 2004; Minnesota, Minneapolis 2008); Terza persona. Politica della vita e filosofia dell’impersonale (Torino 2007; engl. Polity Press, London 2012); Termini della politica. Comunità, immunità, biopolitica (Milano 2008; 265 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Über die Autorinnen und Autoren

engl. Fordham, New York 2012); Pensiero vivente. Origini e attualità della filosofia italiana (Torino 2010; engl. Stanford Un. Press, Stanford 2012); Dieci pensieri sulla politica (Bologna 2011); Dall’impolitico all’impersonale. Conversazioni filosofiche (with M. Saidel, G.V. Arias, Milano 2012); Due. La macchina della teologia politica e il posto del pensiero (Torino 2013; engl. Fordham, New York, 2015); Le persone e le cose (Torino 2014; Polity Press, London, 2015); L'origine della politica. Hannah Arendt o Simone Weil? (Roma 2014); Da fuori. Una filosofia per l’Europa (Torino 2016; Polity Press, London, 2017); Politica e negazione. Per una filosofia affermativa (Torino 2018). Joachim Fischer, Prof. Dr., Studium der Fächer Germanistik, Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft an den Universitäten Hannover, Gießen, Tübingen, Göttingen. 1978 Erstes Staatsexamen an der Universität Göttingen. 1982–1984 Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. 1997 Promotion am Institut für Soziologie, Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Göttingen (Philosophische Anthropologie. Zur Bildungsgeschichte eines Denkansatzes). 1999 Mitgründer der Helmuth-Plessner-Gesellschaft in Göttingen. 1999– 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie, Lehrstuhl für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie in der Philosophischen Fakultät der TU Dresden; Juni 2010 Habilitation an der Philosophischen Fakultät der TU Dresden (Der Andere und der Dritte. Zur Grundlegung der Sozialtheorie). 2011– 2017 Präsident der Helmuth Plessner Gesellschaft. Seit 2012 Honorarprofessor für Soziologie an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie, Soziologische Theorie, Kultursoziologie, Architektur-, Raum- und Stadtsoziologie; Philosophische Anthropologie. Ausgewählte Publikationen: Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist: Velbrück 2016; Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München: Fink 2010 (Hrsg. zus. mit Gesa Lindemann und Thomas Bedorf); Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München: Alber 2009. Gérard Raulet ist Professor für deutsche Ideengeschichte an der Universität Paris-Sorbonne. Direktor des Forschungszentrums »Philosophie politique contemporaine« am CNRS (1999–2003), derzeit 266 https://doi.org/10.5771/9783495817575 .

Über die Autorinnen und Autoren

Direktor der »Groupe de recherche sur la culture de Weimar« an der Stiftung Maison des Sciences de l’Homme (Paris). Veröffentlichungen über Aufklärung, Kritische Theorie und zeitgenössische politische Philosophie – u. a.: Positive Barbarei. Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2004. Critical Cosmology. Essays on Nations and Globalization, Lanham MD: Lexington Books, 2005. Das Zwischenreich der symbolischen Formen. Ernst Cassirers Erkenntnistheorie, Ethik und Politik im Spannungsfeld von Historismus und Neukantianismus, Frankfurt/ M. u.a.: Peter Lang 2005. Republikanische Legitimität und politische Philosophie heute, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2012. Sammelbände: Philosophische Anthropologie. Themen und Positionen, Band 2: Philosophische Anthropologie und Politik, Nordhausen: Bautz, 2013 (Hrsg. zus. mit Guillaume Plas et Manfred Gangl). Band 7: Philosophische Anthropologie nach 1945. Rezeption und Fortwirkung, Nordhausen: Bautz, 2014 (Hrsg. zus. mit Guillaume Plas). Wissen in Bewegung. Theoriebildung unter dem Fokus von Entgrenzung und Grenzziehung (Hrsg. zus. mit Sarah Schmidt), Berlin: LIT Verlag, 2014. Ausgaben: Walter BENJAMIN, Passagen. Schriften zur französischen Literatur, Frankfurt/M., Suhrkamp 2007. Walter BENJAMIN, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. XIX : Über den Begriff der Geschichte, Frankfurt/M., Suhrkamp 2010. Marc Rölli ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig. Bis 2015 Leiter des Forschungsschwerpunkts »Theorie und Methoden« an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und Full Professor für Philosophie und Kulturwissenschaften an der Fatih University in Istanbul. Aktuelle Forschung zu den Themenfeldern Dekolonisierung der Philosophie und Politische Ästhetik. Letzte Publikationen: Immanent denken, Wien 2018; Vierzig Jahre ›Überwachen und Strafen‹. Zur Aktualität der Foucaultschen Machtanalyse, hrsg. mit R. Nigro, Bielefeld 2017; Gilles Deleuze’s Transcendental Empiricism, trans. P. Hertz-Ohmes, Edinburgh 2016, 22018; Fines Hominis? Zur Geschichte der philosophischen Anthropologiekritik, Bielefeld 2015 (Hg.).

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Über die Autorinnen und Autoren

Christina Schües, Prof. Dr. phil., forscht und lehrt am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität zu Lübeck, und ist apl. Prof. am Institut für Philosophie, Leuphana Universität, Lüneburg. Sie hat Philosophie, Politologie und Literaturwissenschaften in Hamburg und Philadelphia, USA studiert; Forschungsschwerpunkte: die conditio humana und mitmenschliche Beziehungsverhältnisse, Macht der Zeit, Phänomenologie, Anthropologie, Friedenstheorien, Sozial- und Medizinphilosophie. Thematisch ausgewählte Publikationen: Philosophie des Geborenseins, 2008, 2. Aufl. 2016; Zeit und Frieden, (hrsg. mit P. Delhom), 2016. »Natality – Philosophical Rudiments concerning a Generative Phenomenology”, in: Guido Cusinato (Hg.), Thaumàzein – Rivista di Filosofia 4– 5, Verona 2016/2017, S. 9–36. «The Trans-human Paradigm and the Meaning of Life”, in: H. Fielding, D. Olkowski (eds.), Future Directions in Feminist Phenomenology, Bloomington, Indiana University Press 2017, S. 218–241. Birgit Stammberger, Dr. phil., Kulturwissenschaftlerin, ist Koordinatorin am Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZFKL) sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung (IMGWF) der Universität zu Lübeck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind kulturwissenschaftliche Wissenschaftsforschung, Körpergeschichte im 19. und 20. Jahrhunderts, Wissensgeschichte der Psychoanalyse sowie feministische Wissenschaftskritik. Ausgewählte Publikationen: Monster und Freaks. Zur Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, 2011; »Körperliche Materialität. Zur Kritik des Geschlechterkonstruktivismus«, in: Queer-Feministische Perspektiven auf Wissen(schaft), hrsg. von Christoph Behrens, Andreas Zittlau, Rostock: Universität, 2017, S. 82–122. (Interdisziplinäre Rostocker Gender und Queer-Studies; 1), doi.org/10.18453/rosdok_id00000110› »Wissenschaftlichkeit als Herausforderung und das Scheitern der Psychoanalyse. Freud im Kontext von Hermeneutik und empirischer Wissenschaft«, in: Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Bd. 8: Die Philosophische Anthropologie und ihr Verhältnis zu den Wissenschaften der Psyche, hrsg. v. Thomas Ebke, Sabine Hoth, im Erscheinen.

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Über die Autorinnen und Autoren

Jean–Jacques Wunenburger, Em. Professor der Philosophie an der Universität Jean Moulin Lyon3, ehemaliger Direktor des Centre de recherches IRPHiL in Lyon, Präsident der association internationale Gaston Bachelard und der association des amis de Gilbert Durand, Direktor des Centre de recherches internationales sur l’imaginaire (CRI2i), fürte Forschungen über Bilder, Einbildungskraft und das Imaginäre in ihren Bezügen zur Philosophie, den Künsten, den technischen Wissenschaften, den Medien, der Gesundheit, der Politik usw. aus. Ausgewählte Publikationen : L’utopie ou la crise de l’imaginaire (1979), Le sacré (1981), La vie des images (1995), Philosophie des images (1997), L’homme à l’âge de la télévision (2000), Imaginaires du politique (2001), Une utopie de la raison. Essai sur la politique moderne (2002), Imaginaires et rationalité des médecines alternatives (2006), Imagination mode d'emploi. Une science de l’imaginaire au service de la créativité (2011), Bachelard, une poétique des images (2012), Le progrès en crise? (2014), L’imagination créatrice (2015), Esthétique de la transfiguration (2016), L’imagination géopoïétique (2016).

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