Das Konzert: Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form [2., erweiterte Auflage] 9783839416174

Analysiert man die Entwicklung der Publikumszusammensetzung der klassischen Musik, sind seit Mitte der 90er Jahre zwei T

190 28 3MB

German Pages 402 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das Konzert: Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form [2., erweiterte Auflage]
 9783839416174

Table of contents :
Inhalt
Worum es gehen soll
Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur
I. Das Konzertwesen und seine Akteure
Die Erfindung des Musik Hörens
Der Einfluss ökonomischer Größen auf die Entwicklung des Konzertwesens
Entwicklungsperspektiven zwischen Publikumsschwund und Publikumsentwicklung. Empirische Daten zur Musikausbildung, dem Musikerberuf und den Konzertbesuchern
Vom „High Tech“ zum „Live Event“. Empirische Daten zum aktuellen Konzertleben und den Einstellungen der Bundesbürger
II. Ritual und Performance
Zwischen Formalisierung und Überhöhung. Das westliche Konzertgeschehen aus musikethnologischer Perspektive
4’33“. Das Konzert als performativer Moment
Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale?
Strategien zur Produktion von Präsenz
Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news … Klassik-Konzert versus Pop-Konzert. Anmerkungen zur modernen Musikpraxis
III. Klang und Raum
Annäherung an die Konzertstätte. Eine Typologie der (Un-) Gewöhnlichkeit
Instrument - Raum - Klang. Technische Entwicklungen in Austik und Instrumentenbau
IV. Kommunikation und Körperlichkeit
Wege der Erneuerung
Kanapees und Eisgetränke
V. Dramaturgie und Inszenierung
Musikkurator und RegieKonzert
Musik als Beziehungskunst – ein Blick zurück, zwei nach vorne
Das Concerto recitativo. Was? Wie? Warum?
Die Yellow Lounge denkt das Forum Konzert neu
VI. Kritische Anmerkung
Sekt. Mozart. Sekt. Fragen zur eventorientierten Musikvermittlung
VII. Im Gespräch
Ja,es lohnt sich zu hören. Zu einem veränderten Verständnis von Musik und Musikschaffenden
„Es reicht nicht aus, Konzerte zu spielen.“Zum Selbstverständnis der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen
Mehr Mut! Musikförderung als Risikoprämie
VIII. Themen, Akteure und Motivationen im Klassikbetrieb
Eine Diskursanalyse
Die Autorinnen und Autoren

Citation preview

Martin Tröndle (Hg.)

Das Konzert

Martin Tröndle (Dr. phil.) ist Musiker und Kulturwissenschaftler. Er ist Juniorprofessor für Kulturbetriebslehre und Kunstforschung an der Zeppelin University, Friedrichshafen. Er lehrt am Studienzentrum Kulturmanagement der Universität Basel, und leitet Concerto21. die Sommerakademie für Aufführungskultur und Musikmanagement der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S.

Martin Tröndle (Hg.)

Das Konzert Neue Auffürungskonzepte für eine klassische Form 2., erweiterte Auf lage

%LEOLRJUDÀVFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ%LEOLRWKHN Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUDÀHGHWDLOOLHUWHELEOLRJUDÀVFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHW über http://dnb.ddb.de abrufbar. ‹WUDQVFULSW9HUODJ%LHOHIHOG Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, hEHUVHW]XQJHQ0LNURYHUÀOPXQJHQXQGIUGLH9HUDUEHLWXQJPLWHOHNWronischen Systemen. Umschlaggestaltung, Layout & Satz: Patricia Reed, leakystudio.com Lektorat: Donata Rigg Korrektorat: Maria Hüren, Neukirchen-Vluyn, Carina Waldmann, Mainz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ,6%1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. %HVXFKHQ6LHXQVLP,QWHUQHWhttp://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Martin Tröndle Worum es gehen soll Martin Tröndle Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

9 21

I. Das Konzertwesen und seine Akteure Gerhard Schulze 'LH(UÀQGXQJGHV0XVLN+|UHQV

45

Michael Hutter 'HU(LQÁXVV|NRQRPLVFKHU*U|‰HQDXIGLH Entwicklung des Konzertwesens

53

Heiner Gembris Entwicklungsperspektiven zwischen Publikumsschwund und Publikumsentwicklung Empirische Daten zur Musikausbildung, dem Musikerberuf und den Konzertbesuchern

61

Susanne Keuchel Vom „High Tech“ zum „Live Event“ Empirische Daten zum aktuellen Konzertleben und den Einstellungen der Bundesbürger

83

II. Ritual und Performance Raimund Vogels =ZLVFKHQ)RUPDOLVLHUXQJXQGhEHUK|KXQJ Das westliche Konzertgeschehen aus musikethnologischer Perspektive

103

Jens Roselt   Das Konzert als performativer Moment

113

Elena Ungeheuer Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale?

125

Matthias Rebstock Strategien zur Produktion von Präsenz

143

Roger Behrens Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news … Klassik-Konzert versus Pop-Konzert. Anmerkungen zur modernen Musikpraxis

153

III. Klang und Raum Volker Kirchberg Annäherung an die Konzertstätte (LQH7\SRORJLHGHU 8Q *HZ|KQOLFKNHLW

183

Ludger Brümmer ,QVWUXPHQW5DXP.ODQJ 7HFKQLVFKH(QWZLFNOXQJHQLQ$NXVWLNXQG,QVWUXPHQWHQEDX

201

IV. Kommunikation und Körperlichkeit Christian Kellersmann Wege der Erneuerung

221

Peter Schleuning Kanapees und Eisgetränke

227

V. Dramaturgie und Inszenierung Markus Fein Musikkurator und RegieKonzert

239

Beatrix Borchard Musik als Beziehungskunst – ein Blick zurück, zwei nach vorne

247

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse Das Concerto recitativo Was? Wie? Warum?

267

David Canisius im Gespräch mit Martin Tröndle Die Yellow Lounge denkt das Forum Konzert neu

293

VI. Kritische Anmerkung Matthias Sträßner Sekt. Mozart. Sekt. Fragen zur eventorientierten Musikvermittlung

303

VII. Im Gespräch Elmar Lampson -DHVORKQWVLFK]XK|UHQ Zu einem veränderten Verständnis von Musik und Musikschaffenden

319

Albert Schmitt „Es reicht nicht aus, Konzerte zu spielen.“ Zum Selbstverständnis der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen

327

Werner Heinrichs Mehr Mut! 0XVLNI|UGHUXQJDOV5LVLNRSUlPLH

345

VIII. Themen, Akteure und Motivationen im Klassikbetrieb Markus Rhomberg und Martin Tröndle Eine Diskursanalyse

357

Die Autorinnen und Autoren

387

Worum es gehen soll

Musik ist kein Ding , Auf breiter Front gilt, dass das klassisondern ein Ereignis. sche Musikereignis – gleich ob Konzert-, Oper- oder Kammermusik – an Relevanz verloren hat, und zwar als ästheWLVFKHZLHDOVVR]LDOH,QVWLWXWLRQ'LHVLVWPLWWOHUZHLOHDOOJHPHLQEHNDQQW und hat in den letzten Jahren zu einer Vielzahl an Publikationen und Programmen in den Bereichen Audience Development, Music Education und Musikvermittlung geführt.1 Ziel dieses Bandes ist es, die Diskussion zu diesen Themen um die bisher kaum wahrgenommene Perspektive der „Aufführungskultur“ zu erweitern. Geht man im deutschsprachigen Raum beim Begriff Musikvermittlung vor allem von (konzert-)pädagogischen Konzepten (für Kinder und Jugendliche) aus, die ein Publikum durch Bildung und die Vermittlung YRQÅNQVWOHULVFKHQ,QKDOWHQ´JHZLQQHQP|FKWHVRVWHKHQLP$XGLHQFH Development vornehmlich Themen des Kulturmarketings und des 0DUNHWLQJ0DQDJHPHQWV]XU(UVFKOLH‰XQJQHXHU3XEOLNXPVVFKLFKWHQLP Vordergrund. 2 Beiden Ansätzen, dem Audience Development als auch der Musikvermittlung, liegt unausgesprochen die Prämisse zugrunde, dass die Aufführungskultur, wie sie im Konzert praktiziert wird, unangetastet bleibt. Das potenzielle Publikum soll durch pädagogische, sozialisierende RGHUZHUEHQGH0D‰QDKPHQDOV.RQ]HUWEHVXFKHUJHZRQQHQZHUGHQ  Audience Development, Musikvermittlung und das Konzept der Aufführungskultur haben dasselbe Ziel, nämlich mehr und neue Besucherinnen und Besucher für das Konzert zu gewinnen. Allein in den Methoden unterscheiden sie sich. Das Konzept der Aufführungskultur setzt weniger am Publikum als an den Ritualen, der Form und der Ökonomie des Konzerts selbst an. Denn die Krise der Kunstmusik ist weniger eine

Martin Tröndle der Musik selbst als vielmehr eine ihrer Darbietungsform. Es geht in diesem Band daher darum, das Konzert als ein ästhetisch-soziales Ereignis zu verstehen, das durch die Herausentwicklung bestimmter Qualitäten die Aufmerksamkeit des Publikums an sich binden und so langfristig seine Existenz sichern konnte. Das Konzert hat sich immer wieder gewandelt und konnte sich so in der =HLWYHUlQGHUWHQlVWKHWLVFKHQVR]LDOHQXQG|NRQRPLVFKHQ%HGUIQLVVHQDQpassen. Der Band diskutiert, welche Transformationen notwendig sind, um im 21. Jahrhundert wieder vermehrt Akzeptanz für die Kunstform Konzert ]X ÀQGHQ 'LH $XWRULQQHQ XQG $XWRUHQ XQWHUVXFKHQ GDV .RQ]HUWZHVHQ IUDJHQQDFK0|JOLFKNHLWHQ]XU(QWZLFNOXQJQHXHU$XIIKUXQJVNRQ]HSWH XQG GLVNXWLHUHQ P|JOLFKH (QWZLFNOXQJVSRWHQ]LDOH DXV lVWKHWLVFKHU DUFKLWHNWRQLVFKHUDNXVWLVFKHUVR]LDOHUXQGNXOWXUHOOHUVRZLH|NRQRPLVFKHU Perspektive. Dabei geht es nicht um eine „Eventisierung“ des Konzerts, VRQGHUQGDUXPGLH.XQVWIRUP.RQ]HUWDOV3UlVHQWDWLRQVIRUP]HLWJHPl‰ weiterzuentwickeln, um der Musealisierung des Konzerts und der steten Veralterung des Publikums entgegenzuwirken.

Vorüberlegungen Den Beiträgen in diesem Band gingen zwei Veranstaltungen voraus: die Tagung „Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur“ LP $SULO  YHUDQVWDOWHW YRP Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, sowie die Tagung „Auf der Suche nach dem 3XEOLNXP´ YHUDQVWDOWHW LP 0DL  LQ 6LJJHQ YRQ GHU Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. Bei beiden Veranstaltungen wurden die Referentinnen und Referenten gebeten, sich mit der Zukunft des Konzerts auseinanderzusetzen. ,P0LWWHOSXQNWLKUHUhEHUOHJXQJHQVWDQGHQGLH3URGXNWLRQV3UlVHQWDWLRQV und Distributionsformen der klassischen Musik. Wir gingen von der These aus, dass sich ähnlich dem Wandel, der sich durch die Ausdifferenzierung GHU ,QWHUSUHWDWLRQVSUD[LV YROO]RJHQ KDW DXFK GLH Å$XIIKUXQJVNXOWXU´ aktualisieren und weiter ausdifferenzieren muss, um einem im Wandel EHÀQGOLFKHQ 3XEOLNXP JHUHFKW ZHUGHQ ]X N|QQHQ 'LHVHU 7KHVH QDKmen sich Ökonomen, Soziologen, Anthropologen, Musikwissenschaftler, Dramaturgen, Orchestermanager, Publikumsforscher, Festivalmacher, Kritiker, Musiker, Kulturpolitiker, Komponisten u.a. an. Für den Band wurden verschiedene Vorträge ausgewählt sowie weitere Autorinnen und

10

Worum es gehen soll Autoren angefragt. Die Texte, die so entstanden sind, repräsentieren unterschiedliche disziplinäre und stilistische Herangehensweisen: feuilletonistische, künstlerisch geprägte und wissenschaftliche Textsorten komPHQ ]XVDPPHQ ,Q GHQ ,QWHUYLHZV ZHUGHQ QRFKPDOV HLQ]HOQH $VSHNWH UHÁHNWLHUWXQGZHLWHUDXVJHIKUW Die hier aufgezeigten Entwicklungspotenziale sind vielfältig, und HEHQVR YLHOIlOWLJ PVVHQ GLH QHXHQ $XIIKUXQJVNRQ]HSWH VHLQ ,Q der Pluralität der Aufführungskultur besteht die Chance, einem plural gewordenen Publikum gerecht zu werden. Der Ausdifferenzierung der Lebensstile, der Verschiedenheit der Bildungshintergründe, der Erwartung und der kulturellen Geprägtheit der Besucher und vor allem der Noch-Nicht-Besucher müssen ebenso vielseitige und vielschichtige Aufführungskonzepte gegenüberstehen. 7URW] GHV EUHLWHQ LQWHUGLV]LSOLQlUHQ $QVDW]HV N|QQHQ QLFKW DOOH Entwicklungspotenziale zur Steigerung der Attraktivität des Konzerts abgedeckt werden. Viele Fragen müssen offen bleiben. Dennoch kann mit dieser neuen Betrachtungsweise auf das Konzertereignis die Diskussion um die Themen Musikvermittlung und Audience Development um wesentliche Aspekte erweitert und so erfolgreiche, neue Aufführungskonzepte für die klassische Form entworfen werden.

Die Beiträge im Einzelnen Zu Beginn skizziert der Beitrag Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur einige Aspekte der Wandlung der Darbietungsform durch die -DKUKXQGHUWH XQG IUDJW GDQDFK ZDV GLHVHQ :DQGHO DXVO|VWH :HOFKH Aufführungskonzepte konnten sich erfolgreich beim jeweiligen Publikum behaupten und warum? Gibt es einen Selektionsmechanismus, der die „Evolution“ des Konzertwesens steuert? Falls ja, nach welchen Kriterien müssten dann zukünftige Konzertformate entwickelt werden? Zentral werGHQEHLGHU(U|UWHUXQJGLHVHU)UDJHQGDV.RQ]HSWGHU$XIIKUXQJVNXOWXU und der Begriff der Aufmerksamkeit, die das Feld für die folgenden Beiträge bereiten. Unter dem Titel Das K-Wesen und seine Akteure nähern sich Gerhard Schulze, Heiner Gembris, Susanne Keuchel und Michael Hutter dem Konzertwesen an. Der Soziologe Gerhard Schulze untersucht 'LH(UÀQGXQJ des Musik Hörens ,Q HLQHU NXU]HQ *HVFKLFKWH GHV .RQ]HUWZHVHQV

11

Martin Tröndle ]HLFKQHW HU GLH (QWVWHKXQJ HLQHV NRQ]HUWDQWHQ +|UYHUKDOWHQV QDFK XQG ]HLJW GDVV VLFK LP  XQG  -DKUKXQGHUW HLQH Å+|UNXOWXU´ HWDEOLHUWH GLH HV HUP|JOLFKWH GHU 0XVLN GLH YROOH $XIPHUNVDPNHLW ]XNRPPHQ ]X ODVVHQ 'DV Å+|UHQ´ DOV HLQ HUKDEHQHV SRVWVDNUDOHV (UHLJQLV HYROYLHUW HLQH 6R]LDOIRUP DXI 6HLWHQ GHU +|UHUJHPHLQGH GLH GHU 0XVLN DOV ÅPHtaphysischer Kommunikation mit dem Unvergänglichen“ das Zentrum der Aufmerksamkeit einräumt. Diese Aufmerksamkeitsakkumulation KDWVLFKLP-DKUKXQGHUWGXUFKGLHWHFKQLVFKH5HSURGX]LHUEDUNHLWYRQ Musik weiter Bahn geschlagen: Vom Grammophon zum iPod wurde die Verfügbarkeit von Musik allgegenwärtig, und beim Public Viewing in Bayreuth, New York und München wird das kollektive Rezipieren zum ästhetisch-sozialen Ereignis, das die Aufmerksamkeit Tausender bindet. Die Auswirkungen der technischen Entwicklungen auf das Konzertwesen diskutiert der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Michael +XWWHU DXV |NRQRPLVFKHU 3HUVSHNWLYH .ODQJEHUWUDJXQJ 6SHLFKHUXQJ und Reproduktion, Verstärkung von Klang und die Herstellung und 9HUEUHLWXQJ GLJLWDOHU VRXQG ÀOHV KDEHQ LP 9HUODXI GHV  -DKUKXQGHUWV einen enormen Kostendruck auf die mechanische Produktion analog KHUJHVWHOOWHU /LYH0XVLN LP .RQ]HUWVDDO DXVJHEW ,QVEHVRQGHUH GLH Speicherung, Reproduktion und Verstärkung von Klang macht Hutter als Variationen in der Geschichte des Konzertwesens aus, die eine ungeheure '\QDPLNIUHLVHW]WHQ6LHHUP|JOLFKWHQHVHLQHP7HLOGHV.RQ]HUWZHVHQV GHUÅ3RSXOlUHQ0XVLN´ÀQDQ]LHOOXQDEKlQJLJXQGGDPLWEHUOHEHQVIlKLJ zu werden. Die Produktionsmittel und -methoden in der Kunstmusik hinJHJHQ KDEHQ VLFK LQ GHQ OHW]WHQ  -DKUHQ NDXP YHUlQGHUW .ODVVLVFKH Musiker sind Handarbeiter mit historischem Arbeitsgerät und historischen Arbeitsbedingungen. Der Beitrag skizziert, was diese technologischen Veränderungen für die Finanzierbarkeit und die Zukunft des Konzertwesens bedeuten. Bei der Auswertung verschiedener Studien werden für den Musikwissenschaftler Heiner Gembris mehrere Trends deutlich: Zum Ersten zeigt VLFKHLQHVWHWLJ|IIQHQGH6FKHUH]ZLVFKHQGHU$Q]DKOGHUDXVJHELOGHWHQ Musikerinnen und Musiker an den Musikhochschule. Dem gegenüber steht HLQHNRQWLQXLHUOLFKVFKUXPSIHQGH=DKODQ%HVFKlIWLJXQJVP|JOLFKNHLWHQ =XP]ZHLWHQLVWVLJQLÀNDQWGDVVVLFKGDV9HUKlOWQLVYRQ)HVWDQVWHOOXQJHQ  3UR]HQW  XQG IUHLEHUXÁLFKHU 7lWLJNHLW  3UR]HQW  LQ GHQ OHW]HQ  Jahren umgedreht hat. Zum dritten zeigt Gembris, dass in den letzten  -DKUHQ HLQH GHXWOLFK K|KHUH .RQNXUUHQ] XP GDV .RQ]HUWSXEOLNXP

12

Worum es gehen soll entstanden ist. Weiter zeichnet sich ab, dass das Konzertpublikum aufgrund der demographischen Effekte deutlich schrumpfen wird, was strukturelle Probleme für das Konzertwesen mit sich bringt. Nach dieser umfangreichen empirischen Bestandsaufnahme gibt Heiner Gembris einen Ausblick darauf, was zu ändern ist, um diesen negativen Trends entgegenzuwirken. Die Besucherforscherin Susanne Keuchel legt ihren Fokus auf die empirische Untersuchung der Einstellung und Erwartungshaltung der Konzertbesucher. Wie setzt sich das Konzertpublikum zusammen? Mit welcher Motivation gehen sie ins Konzert und was erwarten sie dort? Sie erarbeitet eine Liste von Faktoren, die neue Aufführungskonzepte berücksichtigen müssen, um vom Publikum angenommen zu werden. Was ein „gutes“ Konzert ist, unterscheidet sich demnach deutlich, je nachdem ob man das Publikum, die Musiker oder die Veranstalter beIUDJW 'LH KLHU HU|IIQHWH 6LFKW DXV GHU 3HUVSHNWLYH GHV 3XEOLNXPV LVW aufschlussreich zur Erneuerung der Aufführungskultur. Unter dem Titel Ritual und Performance sind drei Beiträge vereint, die das Konzertereignis als ein Moment kultureller Produktion verstehen. Raimund Vogels vergleicht das westliche Konzertgeschehen aus musikethnologischer Perspektive mit dem der Bura in Nordostnigeria, um so den an dem „Fremden“ geschulten Blick auf unser eigenes Verhalten anzuwenden, um nach rituellen Komponenten in unserem .RQ]HUWJHVFKHKHQ]XIUDJHQ,QZLHIHUQLVWGDV.ODVVLN.RQ]HUWHUHLJQLV (noch) „bedeutungsvoll“, und was macht ein musikalisches Ereignis überKDXSWEHGHXWXQJVYROO"9RJHOVOLHIHUWPLWGHQ%HJULIIHQÅ9HUN|USHUXQJ´ Å)|UPOLFKNHLW´ Å5DKPXQJ´ Å7UDQVIRUPDWLRQ´ XQG ÅhEHUK|KXQJ´ ELVher kaum thematisierte Aspekte für die Weiterentwicklung der Aufführungskultur. Weniger musikethnologisch als kulturwissenschaftlich untersucht der Theaterwissenschaftler Jens Roselt das Konzertereignis als performativen Moment, als ein Erfahrung stiftendes raumzeitliches Erlebnis. Roselt nimmt einen Perspektivenwechsel vom Werk- zum Aufführungsbegriff vor. Nicht mehr das Werk ist es, das im Mittelpunkt der Erfahrung steht, sondern der Rezeptionsmoment, der raumzeitliche Rahmen, in dem sich GDV:HUNVHLQH$XIIKUXQJXQGVHLQH5H]HSWLRQHUHLJQHQ5RVHOW|IIQHW damit den Blick auf die „Erfahrung“ Konzert. Die Musikwissenschaftlerin Elena Ungeheuer untersucht das Publikumsverhalten. Dazu vergleicht sie das Geschehen während eines Konzertes mit dem liturgischen Geschehen, das ebenso durch bestimmte kollektive

13

Martin Tröndle Verhaltensweisen gekennzeichnet ist. Aus diesem Perspektivenwechsel lässt sich die Krise des Konzerts als eine Krise seiner Liturgie beschreiben. Über dieses vergleichende Vorgehen lassen sich neue Strategien zur Krisenbekämpfung ableiten. Unter den Schlagworten Pluralisierung, Aktualisierung, Abschaffung und Verdeckung zeigt Elena Ungeheuer Strategien für die Entwicklung zukünftiger Aufführungsformate auf. Eine wesentliche Ursache der fehlenden Attraktion des klassischen Konzertes sieht der Musiktheater-Regisseur Matthias Rebstock in der mangelnden Präsenz des Konzertereignisses. Mit dem Präsenzbegriff vollzieht Rebstock bei der Analyse des Konzerts einen Paradigmenwechsel weg von der hermeneutischen „Sinnkultur“ hin zu einer „Präsenzkultur“. ,P9RUGHUJUXQGVWHKWDOVRQLFKWPHKUGDVKHUPHQHXWLVFKHYHUVWHKHQGH +|UHQVRQGHUQGDV(UOHEHQHLQHV.ODQJHUHLJQLVVHV0DWWKLDV5HEVWRFN entwickelt Strategien zur Produktion von Präsenz und gibt damit eine 5HÁH[LRQVIROLH]X7HFKQLNHQGHU$XIPHUNVDPNHLWVVWHLJHUXQJ Was lässt sich über das Klassik-Konzert aus der Perspektive des PopKonzerts sagen, und was über das Pop-Konzert aus der Perspektive des Klassik-Konzerts? Roger Behrens Fragestellung impliziert zugleich mehr als nur über das Konzertwesen und seine historischen Veränderungen zu VFKUHLEHQ,QVHLQHUNXOWXUVR]LRORJLVFKYHUJOHLFKHQGHQ$QDO\VH JHKWHV um die kulturelle Formation Konzert, um Kunst und Musik als soziales Verhältnis. Raum und Klangraum fasst Beiträge zusammen, welche die Dimensionen des akustischen, architektonischen und sozialen Raumes thematisieren. Der Kultursoziologe Volker Kirchberg untersucht in seinem Beitrag den architektonischen und sozialen Raum des Konzerts und VHLQHU,QV]HQLHUXQJ(UPDFKWGDEHLGUHL7\SHQGHV.RQ]HUWUDXPHVDXV XQG GLVNXWLHUW GLH :LUNXQJHQ GLHVHU 5DXPW\SHQ DXI GLH %HVXFKHU ,P Zentrum stehen die spektakulären architektonischen Entwürfe der neuen .RQ]HUWEDXWHQGHUHQ,QQHQUDXPJHVWDOWXQJHLQHQKRKHQ(UHLJQLVFKDUDNWHU aufweist und deren Hüllen städtische Attraktionspunkte sind. Dem akustischen Raum nimmt sich der Komponist Ludger Brümmer DQ$XVJHKHQGYRQGHQNODQJOLFKHQ(QWZLFNOXQJHQLP,QVWUXPHQWHQEDX und der Raumakustik entwickelt Brümmer am Institut für Musik und Akustik des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe die %H]LHKXQJ,QVWUXPHQW²5DXP².ODQJZHLWHU5DXPXQG.ODQJEHGLQJHQ VLFKJHJHQVHLWLJ'HU5DXPNDQQVRPLWDOV(UZHLWHUXQJGHV,QVWUXPHQWHV JHVHKHQ ZHUGHQ GHU VHLQH NODQJOLFKHQ 0|JOLFKNHLWHQ VWHLJHUW XQG

14

Worum es gehen soll GDPLWGLHVLQQOLFKH+|UHUIDKUXQJHUZHLWHUW0LWGHPÅ.ODQJGRP´VWHOOW %UPPHUHLQYLHOYHUVSUHFKHQGHV,QVWUXPHQWYRUPLWGHPGDV+|UHQLP Konzertsaal revolutioniert werden kann. Mit Kommunikation und Körperlichkeit sind zwei Beiträge überschrieben, die sich mit dem Konzertbetrieb beschäftigen. Christian Kellersmann, Managing Director von Universal Music Classics & Jazz, EHQHQQW GLH )DNWRUHQ GLH ]XU |IIHQWOLFKHQ $XIPHUNVDPNHLWVVWHLJHUXQJ ]XJXQVWHQ GHU .XQVWPXVLN IKUHQ N|QQWHQ 1DFK .HOOHUVPDQQ LVW GDV ]XP (UVWHQ HLQ QHXHV ,PDJH GDV VLFK GLH .ODVVLN JHEHQ PXVV ]XP Zweiten muss eine neue Aufführungskultur etabliert werden, die auch dem Kommunikationsbedürfnis eines jungen Publikums gerecht wird. =XP GULWWHQ PVVHQ ]HLWJHPl‰H :HUNH PLW ]HLWJHPl‰HQ ,QKDOWHQ SURgrammiert werden, um ein neues Publikum anzusprechen. Nur so kann der fortwährenden Musealisierung der Programme von Orchestern und 6FKDOOSODWWHQÀUPHQXQGGHUHLQKHUJHKHQGHQhEHUDOWHUXQJGHV3XEOLNXPV entgegnet werden. Auf den Slogan „Man soll nicht für die ,klassische‘ Musik werben. Man muss um das Publikum werben!“ lässt sich der Beitrag des Musikwissenschaftlers Peter Schleuning bringen. Die Besucher, nicht die Musik in den Mittelpunkt des Konzertereignisses zu rücken, liefert Auswege aus der Marginalisierung der Kunstmusik. Die Begriffs- und .|USHUORVLJNHLW IKUWHQ QDFK 6FKOHXQLQJ ]XU .ULVH GHV .RQ]HUWHV GD VLHHLQHQ9HUOXVWDQ$XVWDXVFKP|JOLFKNHLWHQXQGHLQH6WDQGDUGLVLHUXQJ XQG (QWN|USHUXQJ GHV 9HUKDOWHQV PLW VLFK EUlFKWHQ %HLGH VFKHLnen mit heutigen Publikumsbedürfnissen schwer vereinbar. Auf die %HJULIÁRVLJNHLW DQWZRUWHW GHU $XWRU PLW GHU 8WRSLH GHV JHELOGHWHQ +|UHUVGHU.|USHUORVLJNHLWVHW]WHUGHQÅH[SHULPHQWHOOHQ6FKZXQJ´GHU Aufführungskultur aus der Anfangszeit des Konzertwesens entgegen. Verschiedene neue Aufführungskonzepte werden unter dem Titel Dramaturgie und Inszenierung YRUJHVWHOOW 'HU ,QWHQGDQW 0DUNXV )HLQ berichtet aus seiner Praxis vom Kammermusikfestival Sommerliche Musiktage Hitzacker und den Niedersächsischen Musiktagen, die durch ausgeklügelte, sinnliche und sinnige Programmkonzeptionen gekennzeichnet sind. Fein übernimmt die Rolle eines „Musikkurators“, stellt neue Bezüge her und überrascht sein Publikum durch immer neue Aufführungssituationen. Die Musikwissenschaftlerin Beatrix Borchard stellt die Dramaturgie ei nes Å,QV]HQLHUWHQ.RQ]HUWHV´YRU,KU=LHOLVWHV.RQ]HUWIRUPHQ]XHQWZLFNHOQ

15

Martin Tröndle GLHHLQHJHOXQJHQH%H]LHKXQJ]ZLVFKHQ$XWRU,QWHUSUHWXQG5H]LSLHQWVWLIWHQ 0XVLN VROO DOV lVWKHWLVFKVR]LDOHV (UHLJQLV YHUOHEHQGLJW ZHUGHQ ,P Zentrum stehen Konzertkonzepte, die mit dem Entstehungsprozess sowie der Aufführungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes verbunden sind. Am Beispiel von Clara und Robert Schumann verdeutlicht die Autorin dieVHV9RUJHKHQHLQHVVLQQOLFKUHÁH[LYHQÅ5HJLHNRQ]HUWV´GDV5H]HQVLRQHQ Briefausschnitte, Ton- und Filmmaterial u.a. zusammenführt. Das Konzept des „Concerto recitativo“ von Annette Kristina Banse und +DQV &KULVWLDQ 6FKPLGW%DQVH VFKOLH‰W IRUPDO DQ GDV 0RQWDJHSULQ]LS an, beschränkt sich aber auf die Verbindung von Sprache und Musik, erinnert also eher an ein Radio-Feature. Virtuos montieren die Autoren Text und Musik zu einer Art „Feature-Konzert“, das Komponisten, Werke und deren Entstehungszusammenhänge in ein neues Licht rückt. Radikal mit jeglichen Aufführungskonventionen bricht die Yellow Lounge. Sie repräsentiert eine ganz andere Variation der Aufführungskultur. Der klassische Geiger und Resident-DJ der Yellow Lounge David Canisius erläutert, was sie so erfolgreich macht. 0DWWKLDV6WUl‰QHU/HLWHUGHU+DXSWDEWHLOXQJ.XOWXUGHV'HXWVFKODQG funks, verfolgt die Debatte um die Zukunft des Konzerts und das Trendthema Musikvermittlung mit einer Kritischen Anmerkung ,Q VHLQHP %HLWUDJ KLQWHUIUDJW HU HQWODQJ GHU 6WLFKZRUWH 2UW =HLW ,QKDOW XQG Publikum die Praxis der „eventorientierten“ Veranstalter. Er bezieht Stellung zu den vorangegangenen Beiträgen und liefert damit eine wichWLJH5HÁH[LRQVIROLHEH]JOLFKGHUhEHUOHJXQJHQ]XU$XVGLIIHUHQ]LHUXQJ der Aufführungskultur. Im Gespräch werden wesentliche Punkte des Bandes aufgegriffen und am Beispiel der Ausbildung, dem Berufsalltag und der Kulturpolitik diskutiert, wie eine Erneuerung der Aufführungskultur konkret werden kann. Der Komponist und Präsident der Hochschule für Musik und Theater Hamburg Elmar Lampson diskutiert die Ausbildung an Musikhochschulen. Was sind die Schlüsselkompetenzen zukünftiger Musiker, welche Fähigkeiten und Eigenschaften sollten sie erwerben, um die Aufführungskultur erneuHUQ]XN|QQHQXQGVLFKXQGGDPLWLKUHU.XQVWZLHGHUYHUPHKUW*HK|U]X verschaffen? 'LH'HXWVFKH.DPPHUSKLOKDUPRQLH%UHPHQZXUGHIUGLHJHlungene Verbindung von Unternehmertum und Kultur mit dem Deutschen *UQGHUSUHLV LQ GHU .DWHJRULH 6RQGHUSUHLV  DXVJH]HLFKQHW :DV GLH

16

Worum es gehen soll Deutsche Kammerphilharmonie Bremen so erfolgreich macht, und was anGHUH.ODQJN|USHUYRQLKUOHUQHQN|QQWHQHUOlXWHUWGHU0DQDJLQJ'LUHFWRU Albert Schmitt. 'DV9HUKlOWQLVYRQ.RQWLQXLWlWXQG,QQRYDWLRQLQGHU.XOWXUÀQDQ]LHUXQJ LVW *HJHQVWDQG GHV DEVFKOLH‰HQGHQ %HLWUDJV :HUQHU +HLQULFKV GLVNXWLHUW ZLH ,PSXOVH IU HLQH (UQHXHUXQJ GHU $XIIKUXQJVNXOWXU YRQ GHU .XOWXUSROLWLN DXVJHKHQ N|QQHQ XQG RE GDV 9HUKlOWQLV YRQ .RQWLQXLWlW XQG,QQRYDWLRQQHXJHZLFKWHWZHUGHQPXVV 'LHXQHUZDUWHWEUHLWH0HGLHQUHVRQDQ]DXIGLHHUVWH$XÁDJHGHV%DQGHV »Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form« ist $QODVV LQ HLQHP DEVFKOLH‰HQGHQ %HLWUDJ GLHVHV 0HGLHQHFKR ]X XQWHUVXFKHQ,QLKUHU0HGLHQGLVNXUVDQDO\VHIUDJHQ0DUNXV5KRPEHUJXQG0DUWLQ 7U|QGOHGDKHU:HOFKH7KHPHQZHUGHQYRQGHQ0HGLHQDXIJHJULIIHQZHOche werden ignoriert? Welche Akteure kommen in der Berichterstattung noch zu Wort? Welche Motivationen und Sinnkonstruktionen lassen sich dadurch erkennen? Welche Folgen haben diese für das Konzertwesen? Die hier aufgezeigten Entwicklungspotentiale sind vielfältig, und ebenVRYLHOIlOWLJPVVHQGLHQHXHQ$XIIKUXQJVNRQ]HSWHVHLQ,QGHU3OXUDOLWlW der Aufführungskultur besteht die Chance, einem plural gewordenen Publikum gerecht zu werden. Der Ausdifferenzierung der Lebensstile, der Verschiedenheit der Bildungshintergründe, der Erwartung und der kulturellen Geprägtheit der Besucher und vor allem der Noch-Nicht-Besucher müssen ebenso vielseitige und vielschichtige Aufführungskonzepte gegenüberstehen.

Dank Dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. gilt mein Dank für die Durchführung der beiden Tagungen zu den Themen Musikvermittlung und Aufführungskultur. Der Akademie Schloss Solitude, die mir eine intensive Forschungsphase im Programm art, science & business]XP7KHPDHUP|JOLFKWHP|FKWHLFK HEHQIDOOVKHU]OLFKGDQNHQ'DQNHQP|FKWHLFKDXFKGHPWUDQVFULSW9HUODJ Donata Rigg, Matthias Maschat und besonders Patricia Reed für die tatkräftige Unterstützung des Projektes. Mein ausdrücklicher Dank gilt den $XWRULQQHQXQG$XWRUHQXQGGHQ,QWHUYLHZSDUWQHUQGLH]XGLHVHP%DQG beigetragen haben. Ohne sie wäre solch eine interdisziplinäre Diskussion zur Zukunft der Kunstform Konzert undenkbar gewesen.

17

Martin Tröndle

Anmerkungen 1. Um nur einige der jüngsten Publikationen zu nennen: 1. allgemein zum Thema KulturYHUPLWWOXQJ XQG .XOWXUSXEOLNXP 0DQGHO  %DPIRUG  6WLIWXQJ 1LHGHUVDFKVHQ ,QVWLWXWIU.XOWXUSROLWLNGHU.XOWXUSROLWLVFKHQ*HVHOOVFKDIW0DQGHO ]XP%HUHLFK0XVLNYHUPLWWOXQJ.RQ]HUWSlGDJRJLN6WLOOHU0DVW0LOOLNHQ0RKU 7U|QGOH6FKQHLGHZLQG7U|QGOH6WLOOHU:LPPHU6FKQHLGHUDXV GHU3HUVSHNWLYH$XGLHQFH'HYHORSPHQWXQG0DUNHWLQJ0DQDJHPHQW7KHHGH+ROP .QDFNVWHGW7U|QGOH.OHLQ3URMHNWH]XP7KHPD0XVLNYHUPLWWOXQJ Konzertpädagogik auch die Portale www.netzwerk-junge-ohren.de, www.jeunessesmusicales.de, für die Neue Musik: www.netzwerkneuemusik.de, ein Beispiel für die landesweite Musikvermittlungsarbeit www.musikland-niedersachsen.de und www.kinderzumolymp.de. 'DV,QWHUHVVHDQGHP7KHPDVSLHJHOWVLFKHEHQIDOOVLQVHLQHUDXVIKUOLFKHQ%HKDQGOXQJLP (QTXHWH%HULFKWÅ.XOWXULQ'HXWVFKODQG´YJO.XOWXUHOOH%LOGXQJXQGGLH.DSLWHO ]XU$XV)RUWXQG:HLWHUELOGXQJDQ0XVLNKRFKVFKXOHQ=XU%HVXFKHUIRUVFKXQJVLHKH DXFKGDVJHJUQGHWH=HQWUXPIU$XGLHQFH'HYHORSPHQW =$' LQ%HUOLQZZZ]DG ikm.fu-berlin.de/home.html sowie das ZEB Zentrum für Evaluation und Besucherforschung in Karlsruhe www.landesmuseum.de/. Zum (potenziellen) Publikum klassischer Konzerte und seinen Einstellungen siehe die Beiträge von Heiner Gembris und Susanne Keuchel in diesem Band. 2. Der Australia Council for the Arts hält fest: „Audience Development is the long-term process of attracting and engaging target arts participants, audiences, and markets and retaining them by establishing and maintaining strategic, dynamic, and sustainable relationships” (www.regionalartsnsw.com.au). Der Scottish Arts Council verfolgt ein noch stärker managementorientiertes Begriffsverständnis: „We see audience development as a planned and targeted management process which involves programming, education and marketing (underpinned by research and evaluation) working together to deliver an organisation’s overall objectives” (www.scottisharts.org.uk). Audience development ist zielgruppenorientierte Organisationsführung, also eine Art Marketing-Management. 'LH%HJULIIH.RQ]HUWXQG.RQ]HUWZHVHQVLQGUHFKWXQVFKDUI'HU%HJULII.RQ]HUWZHVHQ wird oft durch den Begriff Konzert (concerto), was eine musikalische Gattung, ein kompositorisches Prinzip, als auch Musik, die durch ein Ensemble aufgeführt wird, ersetzt. Denn im deutschen Sprachgebrauch wird, wie im italienischen, zwischen Konzert und .RQ]HUWZHVHQ PHLVW NHLQ 8QWHUVFKLHG JHPDFKW ,P (QJOLVFKHQ XQG )UDQ]|VLVFKHQ XQWHUscheidet man zwischen concerto, was das Werk, die Form oder die Gattung bezeichnet und concert, was die Veranstaltung bezeichnet. Das Wort concerto leitet sich von concertare ab, das sowohl „wetteifern, kämpfen, streiten, disputieren“ als auch „mit jemandem zusamPHQZLUNHQ´ 6FKHUOLHVV KHL‰HQNDQQ+HLVWHUGHÀQLHUWÅ'DV.RQ]HUWZHVHQLVW GLH KLVWRULVFKV\VWHPDWLVFKH VWUXNWXULHUWH 6XPPH DOOHU .RQ]HUWH XQG .RQ]HUWW\SHQ HV erscheint konkret jeweils in einem gegebenen, einerseits epochal bzw. nach Phasen, andererseits lokal, regional, national, international bestimmten Zeitraum, und ist dabei sozial .ODVVHQXQG6FKLFKW]XJHK|ULJNHLWGHU7UlJHUXQGGHV3XEOLNXPV ZLHlVWKHWLVFKIXQNWLRnal (nach Anspruch, Erwartungshaltungen, Repertoires u.ä.) aufgefächert und differenziert“ HEG 'HUKLHUYHUZHQGHWH%HJULIIXPIDVVWDOOH3DUDPHWHUGLHGLHYHUVFKLHGHQHQ Ausprägungen der Veranstaltungsform bzw. des Ablaufs je nach historischen, sozialen und ästhetischen Anforderungen neu geformt haben.

18

Worum es gehen soll

Literatur %DPIRUG$QQH  The Wow Factor. Global research compendium on the impact of the arts in education, Münster, New York, München, Berlin: Waxmann. 'HXWVFKHU%XQGHVWDJ  Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“'UXFNVDFKH +HLVWHU+DQQV:HUQHU  Stichwort „Konzertwesen“, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine (Q]\NORSlGLHGHU0XVLN%lQGHQHXEHDUE$XVJ.DVVHO Bärenreiter. +ROP)UHGHULNH  Die Bedeutung von Musikvermittlung für die Zukunft des Konzertwesens. Magisterarbeit an der Leuphana Universität Lüneburg. ,QVWLWXWIU.XOWXUSROLWLNGHU.XOWXUSROLWLVFKHQ*HVHOOVFKDIW +J    Jahrbuch Kulturpolitik 2005 – Thema Kulturpublikum. Band 5, Essen: Klartext. .OHLQ$UPLQ  Kulturmarketing. Das Marketingkonzept für Kulturbetriebe, München: Beck. .QDFNVWHGW7LP  Orchestermarketing: Besucherorientierung bei selbstständigen Konzertorchestern. Magisterarbeit an der Leuphana Universität Lüneburg. 0DQGHO%LUJLW +J   Kulturvermittlung – zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing. Eine Profession mit Zukunft, Bielefeld: transcript. 0DQGHO%LUJLW +J   Kulturmanagement, Audience Development, Kulturelle Bildung: Konzeptionen und Handlungsfelder der Kulturvermittlung, München: Kopäd. 0DVW&KULVWLQH0LOOLNHQ&DWKHULQH  Zukunft@BPhil: Die Education-Projekte der Berliner Philharmoniker. Unterrichtsmodelle für die Praxis, Mainz: Schott Music. 0RKU.DWKDULQD  :LHÀQGHWNODVVLVFKH0XVLNHLQQHXHV Publikum? Magisterarbeit an der Leuphana Universität Lüneburg. 6FKHUOLHVV9RONHU  Stichwort „Konzert“, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine (Q]\NORSlGLHGHU0XVLN%lQGHQHXEHDUE$XVJ.DVVHO Bärenreiter.

19

Martin Tröndle 6FKQHLGHZLQG7U|QGOH +J   Selbstmanagement im Musikbetrieb: Handbuch für Musikschaffende, Bielefeld: transcript. 6WLIWXQJ1LHGHUVDFKVHQ  bOWHUEXQWHUZHQLJHU'LHGHPRJUDÀVFKH Herausforderung an die Kultur, Bielefeld: transcript. 6WLOOHU%DUEDUD +J   Erlebnisraum Konzert: Prozesse der Musikvermittlung in Konzerten für Kinder, Regensburg: ConBrio. Stiller, Barbara / Wimmer, Constanze / Schneider, Ernst Klaus (Hg.)  Spielräume Musikvermittlung. Konzerte für Kinder entwickeln, gestalten, erleben, Regensburg: ConBrio. 7KHHGH0LFKDHO  Management und Marketing von Konzerthäusern. Die Bedeutung des innovativen Faktors, Frankfurt a. M.: Peter Lang. 7U|QGOH0DUWLQ  Musikvermittlung: Variation oder Invention?, in: 1HXH0XVLN=HLWXQJQP]XQG_ 7U|QGOH0DUWLQ  Entscheiden im Kulturbetrieb: Integriertes Kunst- und Kulturmanagement, Bern: h.e.p. 9L]\/HQD  Junges Kulturpublikum binden: Audience Development am Beispiel Junger Opernfreundeskreise, Saarbrücken: VDM.

20

Von der Ausführungszur Aufführungskultur Martin Tröndle

Obwohl sich die Rahmenbedingungen des Konzerts – beispielsweise durch die technische Reproduzierbarkeit von Musik, den Siegeszug des Visuellen und des Virtuellen, ein verändertes Arbeits- und Freizeitverhalten, die Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Lebensstile oder die Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche, um nur einige Punkte zu QHQQHQ²PD‰JHEOLFKJHZDQGHOWKDEHQGRPLQLHUWGDVVWDQGDUGLVLHUWHEUJHUOLFKH.RQ]HUWZHVHQGHVVHQ+|KHSXQNW]ZLVFKHQXQGODJ bis in die Gegenwart den Musikbetrieb. Form und Ablauf des Konzerts, bis dahin immer wieder variiert, sind im Konzertritual bis heute nahezu unverändert erhalten geblieben. Dass sich der klassische Konzertbetrieb in den letzten hundert Jahren kaum den veränderten Rezeptionsbedingungen DQJHSDVVW KDW N|QQWH GHU +DXSWJUXQG IU GHVVHQ .ULVH VHLQ 'DV KLH‰HGDVVGLH.ULVHGHUNODVVLVFKHQ0XVLNZHQLJHUHLQHGHU0XVLNVHOEVW ist, als vor allem eine ihrer Darbietungsformen. Bekräftigt wird diese These beim Blick auf andere Kunstsparten: Das Theater beispielsweise entwickelte als eine künstlerische Methode zur Transformation des hisWRULVFKHQ 0DWHULDOV GDV 5HJLHWKHDWHU ,P %HUHLFK GHU %LOGHQGHQ .XQVW entstand der Beruf des Kurators, der sich auf Ausstellungskontexte und 9HUPLWWOXQJVIUDJHQ VSH]LDOLVLHUWH %HLGH KDEHQ GD]X DQJHVWR‰HQ GDV Selbstverständnis dieser Kunstsparten, sowohl die Art des Zeigens und 3UlVHQWLHUHQVDOVDXFKGDV,QV]HQLHUHQXQG,QWHUSUHWLHUHQQHX]XGHQNHQ und konstant weiterzuentwickeln.

Martin Tröndle

Diese Art der „forschenden Transformation“ und das Erproben von Methoden der Aktualisierung, um neue Präsentationsformen, also neue Aufführungsformate zu entwickeln, sind im klassischen Musikbetrieb kaum vorhanden. Das verdeutlicht auch der Blick auf die Akteure des Konzertwesens: Die Musikwissenschaften beispielsweise konzentrieren sich in ihrer Forschung zum Konzert zumeist auf die Erforschung von Vergangenem RGHU %HVWHKHQGHP ,KU 9RUJHKHQ LVW YHUJOHLFKHQG XQG V\VWHPDWLVLHUHQG und richtet sich primär auf bereits Geschehenes und selten auf zukünfWLJ 0|JOLFKHV ,P 9RUGHUJUXQG VWHKW GLH :HUNDQDO\VH XQG QXU JHOHJHQWOLFK ÀQGHQ )RUVFKXQJ XQG ([SHULPHQWH IU P|JOLFKH ]XNQIWLJH Aufführungsformate statt. Die klassischen Aufgaben des Musikdramaturgen, wie z.B. die konzeptionelle und beratende Begleitung einer Aufführung/ eines Konzerts, die Besetzungsplanung, die produktionsbezogene Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, die Beschaffung von Notenmaterialien, KontaktSÁHJH ]X .QVWOHUQ %HWUHXXQJ GHU NQVWOHULVFKHQ *lVWH XYP ODVVHQ VHOWHQ HLQH$UEHLW DP$XIIKUXQJVNRQWH[W ]X YJO -DFREVKDJHQ   auch wenn der Begriff Musikdramaturg am ehesten solch eine praxisorientierte, musikwissenschaftlich-künstlerische Forschungspraxis erwarten lassen würde. Die Komponisten interessieren sich zwar für neue Settings und entZLFNHOQ QHXH $XIIKUXQJVNRQ]HSWH ZDV DXFK ]X HLQHU VSH]LÀVFKHQ $XIIKUXQJVNXOWXUGHU1HXHQ0XVLNJHIKUWKDW YJO7KUXQ'DQXVHU   %HLVSLHOKDIW IU QHXH $XIIKUXQJVIRUPDWH XQG IU HLQH QHXH Aufführungskultur wäre Karlheinz Stockhausen zu nennen: Die Werke „Gesang der Jünglinge“, „Gruppen“ (für drei Orchester), die elektro-akustischen Kompositionen im Kugelpavillion während der Weltausstellung LQ ľVDND GDV Å+HOLNRSWHU6WUHLFKTXDUWHWW´  6]HQH YRP Å0LWWZRFK´ aus „Licht“) u.a. verbinden rituelle, räumliche, szenische, visuelle, raumDNXVWLVFKHXQGPXVLNDOLVFKH,GHHQQHX(LQH5FNZLUNXQJGHU$UEHLWGHU .RPSRQLVWHQLP-DKUKXQGHUWGLHPLW$XIIKUXQJVIRUPDWHQH[SHULmentierten, auf den Klassikbetrieb fand allerdings kaum statt. Die Auseinandersetzung vor und während der Ausbildung der Musikerinnen und Musiker geschieht in weiten Teilen mit historischem Material. Sowohl der Aufführungsrahmen in seiner ästhetischen und rituellen Form als auch seine soziale und kulturelle Funktion wird selten thematisiert.1 Der Fokus der Ausbildung liegt auf interpretatorischen und

22

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

instrumentalen Fragen im Hinblick auf eine Konzerttätigkeit und auf die )lKLJNHLWHLJHQH,QWHUSUHWDWLRQVZHJH]XÀQGHQ'DEHLVWHKW]XPHLVWHLQ romantisch geprägtes Werkverständnis im Mittelpunkt, und vor diesem Werk und seiner „Vollendetheit“ baut sich der Respekt auf. Verstärkt wird dies durch die permanente Vergleichbarkeit vorliegender Einspielung ÅJUR‰HU´,QWHUSUHWHQDQGHQHQVLFKHLQMHGHU$XVIKUHQGHUPLVVW+LQ]X kommen die Wettbewerbe, die für viele das „Eintrittsticket“ in den proIHVVLRQHOOHQ 0XVLNEHWULHE GDUVWHOOHQ 6LH ÀOWHUQ GLH $NWHXUH QDFK GHP Kriterium der perfekten technischen und musikalischen Ausführung. Alles konzentriert sich auf das „Werk“ und seine Ausführung, wenig Licht fällt auf den Rahmen der Aufführung. Diese Fokussierung auf die Ausführung des Werkes geschah nur DOOPlKOLFK ,P  -DKUKXQGHUW WUXJHQ GLH .RQ]HUWKDXVUHIRUP XQG GLH 5HSHUWRLUHELOGXQJ GD]X EHL LQ GHU HUVWHQ +lOIWH GHV  -DKUKXQGHUWV GLH 0|JOLFKNHLW GHU .RQVHUYLHUXQJ GHU 0XVLN DXI 7RQWUlJHUQ XQG LQ GHU]ZHLWHQ+lOIWHGHV-DKUKXQGHUWVGLH6WXGLRWHFKQLNGLHGLHYRP *HQLHJHLVW JHSUlJWH :HUNLGHH GHV  -DKUKXQGHUWV PLW HLQHU ÅDEVROXten“ Ausführung komplettiert. Begünstigt haben die Standardisierung des Konzerts auch der zunehmend professionalisierte und internationale Musikbetrieb, der weltweit ähnliche Standards fordert. 'LH .RQ]HUWYHUDQVWDOWHU VLQG KHXWH ]X ZHLWHQ 7HLOHQ DP ,GHDO GHV 6ROLVWHQ ZLH HU 0LWWH ELV (QGH GHV  -DKUKXQGHUWV .DUULHUH PDFKWH interessiert. Zwar steht heute weniger das klassische Virtuosentum wie EHLGHQ,QWHUSUHWHQ)UDQ]/LV]WXQG1LFRODL3DJDQLQL GLHGDVVROOWHPDQ nicht vergessen, auch komponierten und improvisierten) im Vordergrund, aber auch heute ist die Aufmerksamkeit des Publikums vornehmlich auf GLH 3HUVRQ DOV ,QWHUSUHW JHULFKWHW 'LH 0XVLNHU VLQG DQ HLQHU ]HLWJHPl‰HQ XQG IU VLH VWLPPLJHQ ,QWHUSUHWDWLRQ LQWHUHVVLHUW XQG EHWUHLEHQ GDIU Å,QWHUSUHWDWLRQVIRUVFKXQJ´ 'HU .XQVWPXVLNEHWULHE NRSSHOW GLHVH /HLVWXQJ GHU 5H,QWHUSUHWDWLRQ DQ HLQH 3HUVRQLÀ]LHUXQJ XQG OlGW GDPLW GHQ$XVIKUHQGHQPLWHLQHPEHVWLPPWHQ,PDJHDXIZLHEHLVSLHOVZHLVH „vulkanischem Temperament“, „Werktreue bis zur Besessenheit“, „revolutionärem Durchbrechen eingespielter Routinen“ oder der Spezialisierung DXIEHVWLPPWH.RPSRQLVWHQ YJO6FKXO]H ,QNRPPHU]LHOOHU Hinsicht ist ein solcher Aufbau eines Künstlerimages durchaus nachvollziehbar, denn zum einen steigert dies den Wiedererkennungswert, zum DQGHUHQÀQGHQ6SH]LDOLVLHUXQJHQXQGGDPLW3URGXNWLRQVHUOHLFKWHUXQJHQ statt (z.B. bei der Einschränkung auf ein bestimmtes Repertoire). Zudem

23

Martin Tröndle

HQWVWHKWGDVZDVPRPHQWDQXQWHUGHP%HJULIIÅEUDQGLQJ´ÀUPLHUWHLQ emotional aufgeladenes Produkt, das seinen Wert durch ein psychoso]LDOHV 9HUVSUHFKHQ VWHLJHUW 'LHV RIIHQEDUW VLFK LP ,QWHUSUHWHQ GHU DOV Unikat um den Globus gesendet wird, wo er dann in standardisierten Situationen seine Kunst darbietet. „Das Ergebnis sind dann genau solche Zyklen wie bei der Mode, nur vielleicht mit längeren Umlaufzeiten“, NRPPHQWLHUW 3LHUUH %RXUGLHX GHQ .XQVWPXVLNEHWULHE HEG    'LHVH 6WDQGDUGLVLHUXQJ EHL GHU HLQH Å3URGXNWDXVIKUXQJ´ P|JOLFKVW RIWYHUNDXIWZHUGHQNDQQLVWDXV|NRQRPLVFKHU3HUVSHNWLYHUHL]YROODOV Kunstereignis jedoch führt eine derartige Repetition zur Stagnation. 'DV KHL‰W Å)RUVFKXQJ XQG (QWZLFNOXQJ´ LQ GHU .XQVWPXVLN ÀQGHQ KDXSWVlFKOLFK ZHUNLPPDQHQW VWDWW ,Q GHU VHKU HUIROJUHLFKHQ %LOGHQGHQ Kunst beispielsweise wird hingegen der Ausstellungskontext thematisiert XQG ÁLHVVW LQ GDV 0HGLXP GHU 'DUELHWXQJ PLW HLQ VR ]% EHL 0DUFHO Duchamp, Piero Manzoni, Hans Haacke, Rirkrit Tiravanija oder Andrea )UDVHU 'LH%LOGHQGH.XQVWYHUGDQNWLKUH.DUULHUHLP-DKUKXQGHUWVRgar in weiten Teilen dieser Auseinandersetzung. Aus dieser vergleichenden Perspektive lässt sich sagen, dass die Beschäftigung mit der „Kultur der Aufführung“ in der Kunstform Konzert unterkomplex behandelt ZLUG'LHVLVWHLQPD‰JHEOLFKHU)DNWRUGHU]XP$XIPHUNVDPNHLWVYHUOXVW gegenüber dem Konzert geführt hat, denn die Werke und die Art ihrer $XIIKUXQJ YHUOLHUHQ LKUHQ OHEHQVZLUNOLFKHQ %H]XJ XQG N|QQHQ GDQQ keine „Wichtigkeit“ für die Besucher entwickeln, sie „rauschen“ vorbei.

Der auratische Moment Die musikalische Darbietung, als eine sich im Moment ereignende, „beZHJHQGH´(UIDKUXQJIU0XVLNHUXQG=XK|UHQGHZXUGHLQGHP3UR]HVV der Perfektionierung der Ausführung zunehmend einer Standardisierung unterzogen. Das Durchkomponieren der ursprünglich improvisierten .DGHQ] VRZLH GDV 9HUVFKZLQGHQ GHV ,PSURYLVLHUHQV LP NODVVLVFKHQ .RQ]HUW ]HLJHQ ZLH GLH %HUHFKHQEDUNHLW GHU ,QWXLWLRQ GHV $XJHQEOLFNV YRUJH]RJHQ ZLUG ,P 'LHQVWH GHU 6WDQGDUGLVLHUXQJ HLQHU ÅLGHDOHQ´ ,QWHUSUHWDWLRQ GHV :HUNHV ZLUG GLH 0|JOLFKNHLW DXI GLH DXJHQEOLFNliche Atmosphäre einzugehen und sie zu gestalten, aufgegeben. Dabei geht es im Konzert weniger um die Aura des Kunstwerkes, die seine Einmaligkeit im Sinne Walter Benjamins auszeichnet, als vielmehr um

24

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

die Einmaligkeit des Augenblicks, also um die Aura des Moments, und das bedeutet für das Konzert das gemeinsame Erleben dieses Moments. 2 Selten gerät man in ein Konzert, in dem dieser auratische Moment entsteht. Das Kammermusikfestival Musikalischer Sommer Ostfriesland 3an der Nordseeküste ist wenig bekannt und bespielt Kirchen, Burgen, 6FKO|VVHUXQG6FKHXQHQLQ2UWHQYRQGHQHQPDQPHLVWQRFKQLHJHK|UW hat. Das Konzert, von dem die Rede sein soll, fand in der pittoresken 'RUINLUFKHLQ$UOHVWDWWGLHLP-DKUKXQGHUWDXIHLQHUNOHLQHQNQVWOLFKHQ(UKHEXQJLQGHU0LWWHGHV'RUIHVHUULFKWHWZXUGH'DVJU|‰WHQWHLOV ORNDOH lOWHUH 3XEOLNXP VD‰ GLFKW JHGUlQJW LP KLVWRULVFKHQ $OWDUUDXP war eine provisorische Bühne errichtet. Auf dem Programm stand das B-Dur Divertimento für drei Klarinetten von Mozart, ein Quintett für .ODULQHWWHXQG6WUHLFKTXDUWHWWYRQ0DJQXV/LQGEHUJDXVGHP-DKU und das Es-Dur Septett für Streichquartett, Klarinette, Horn und Fagott von Beethoven. Dem ersten Augenschein nach ein Sandwich-Programm, das die Erwartungshaltung nicht sehr hoch legte. Die Konzertprogramme des Festivals sind jedoch gezielt auf ihre Klangwirkung hin durchkompoQLHUW IROJHQ HLQHU NODQJOLFKHQ 'UDPDWXUJLH XQG ÀQGHQ LQ GDIU DXVJHZlKOWHQ 2UWHQ VWDWW (V ZHUGHQ QXU YHUHLQ]HOW (QVHPEOHV YRQ DX‰HQ engagiert, sondern die meisten Konzerte werden von einem Pool von Musikern bestritten, die während des Festivals die Programme einstuGLHUHQ'DVHUODXEWQLFKWQXUHLQHÁH[LEOH3URJUDPPJHVWDOWXQJDXFKVLQG die Programme sehr „frisch“. Sie sind nicht schon x-mal im Rahmen einer Tournee abgespielt worden. Diese Frische und die Unmittelbarkeit sprangen in dem intimen Konzertraum sofort auf das Publikum über. Dazu kam, dass die Musiker nicht auf „Sicherheit“ spielten, sondern ins „Risiko“ gingen: Sie folgWHQLQMHGHP$XJHQEOLFNLKUHU,QWXLWLRQXQGHUP|JOLFKWHQVRGLHVHPDgischen Momente passieren zu lassen. Die Musik erhielt eine starke 8QPLWWHOEDUNHLW *HPHVVHQ DQ GHU VLQQOLFKHQ ,QWHQVLWlW KDWWH PDQ GHQ (LQGUXFNDXIHLQHP5RFNNRQ]HUW]XVHLQXQGDXFKGLH.|USHUVSUDFKH insbesondere des Klarinettisten Chen Halevi, unterstützten diese ,QWHQVLWlW 'LH $XIPHUNVDPNHLW GHU %HVXFKHU ZXUGH LQ MHGHP 0RPHQW JHIDQJHQ XQG VLH JDEHQ QDFK GHP QLFKW JHUDGH HLQIDFKHQ ]HLWJHQ|VVLschen Werk von Lindberg stehende Ovationen: Die Atmosphäre kippte in eine kollektive Euphorie. Die Musiker mussten das Stück geradewegs wiederholen. Die Menschen, die dieses Konzert besuchten, haben

25

Martin Tröndle

es sichtlich „bewegt“ verlassen. Um diesen magischen Moment, in dem 0XVLNSO|W]OLFKNROOHNWLYEHGHXWXQJVYROOZLUGXPGDVÅ.RQ]HUWDOVlVthetisch-soziales Ereignis“, soll es in diesem Band gehen.

Wie es wurde, was es ist ,FK P|FKWH LP )ROJHQGHQ HLQH ]XQlFKVW XQEOLFKH 6LFKWZHLVH HLQnehmen und die Entwicklung des Konzerts aus systemtheoretischer 3HUVSHNWLYH EHWUDFKWHQ 'LH 6\VWHPWKHRULH KDW LQ GHQ OHW]WHQ  -DKUHQ in viele Disziplinen Eingang gefunden, so z.B. in die Soziologie, die Psychologie, die Kunst- und Kultur- oder die Wirtschaftswissenschaften. ,KUHLQWHUGLV]LSOLQlUH5HOHYDQ]VROO$QODVVVHLQGLHV\VWHPWKHRUHWLVFKH Perspektive auch im Musikbetrieb anzuwenden. Zudem ist die SystemRGHU6HOEVWRUJDQLVDWLRQVWKHRULHSUR]HVVRULHQWLHUWGDVKHL‰WVLHEHVFKlItigt sich mit dem Werden und dem Wandel der Dinge, und das interessiert bei der Frage nach der Zukunft des Konzertes. ,Q GHU 6\VWHPWKHRULH VSULFKW PDQ VHLW 0DWXUDQD XQG 9DUHOD YRQ „structural drifting“. Strukturelle Koppelung bedeutet, dass sich zwei RGHUPHKU6\VWHPHVRRUJDQLVLHUWKDEHQGDVVLKUH,QWHUDNWLRQHQHLQHQUHkursiven und stabilen Charakter erlangt haben. Die beiden Systeme „passen“ zueinander und „driften“ gemeinsam in der Zeit (Maturana/Varela  9RQDX‰HQVLHKWHVVRDXVDOVÅJHK|UWHQVLH]XHLQDQGHU´'DV .RQ]HUWZHVHQ ² ZLH ZLU HV JHPHLQKLQ YHUVWHKHQ DOV HLQ *HÁHFKW DXV Veranstaltern, Agenturen, Musikern, Komponisten, Kritikern, Publika, Orten und Verhaltensweisen – ist das sichtbar gewordene Produkt der strukturellen Koppelung des Publikums und des Konzerts. Diese Symbiose YHUOLHIEHUPHKUDOVGUHL-DKUKXQGHUWHVHOEVWYHUVWlUNHQGXQGYRQDX‰HQ VDKHVVRDXVDOVJHK|UH]XPÅ.RQ]HUW´VHOEVWYHUVWlQGOLFKGDV3XEOLNXP Dem ist aber nicht so. Einen Unterschied zwischen der Darbietung und GHP3XEOLNXP]XPDFKHQHU|IIQHWGLH3HUVSHNWLYHGDUDXIXQWHUZHOFKHQ .RQGLWLRQHQ GLH EHLGHQ EHUKDXSW ]XVDPPHQÀQGHQ 6LH HU|IIQHW DXFK einen Blick darauf, warum verschiedene Darbietungsformen über eine Zeitspanne hinweg erfolgreich sind und welche keinen Erfolg haben. Den „Kit“, der das Konzertereignis und das Publikum zusammenhält, nenne ich im Folgenden „Aufmerksamkeit“. Der Grad der Aufmerksamkeit, den eine bestimmte Variation des Konzertwesens – also ein bestimmtes Aufführungsformat – an sich binden kann, bestimmt wesentlich über den

26

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

„Erfolg“, also darüber, ob diese Variation des Konzerts eine bestimmte Zeit in den Gebrauch gerät oder sogleich verschwindet. Die Frage lautet deshalb: Gibt es in der Entwicklung des Konzertwesens Anhaltspunkte, die die These stützen, dass die Konzertgeschichte als Variationsgeschichte gelesen werden kann? Und: Wurden diese absichtlich oder zufällig entstandenen Variationen über den Grad GHU $XIPHUNVDPNHLWV]XZHLVXQJ VHOHNWLHUW" ,VW LQ GHQ YHUVFKLHGHnen Entwicklungslinien (soziale, architektonische, akustische, ästhetische, performative etc.) des Konzertwesens sogar eine stetig steigende Aufmerksamkeitszuweisung ablesbar? 4 Aufmerksamkeit kann im Sinne von Georg Franck verstanden werden. Franck konzipiert Aufmerksamkeit als „subjektives Erleben“ mit ÅVLQQOLFKHQ4XDOLWlWHQ´  'HU3KLORVRSK%HUQKDUG:DOGHQIHOV führt dies aus: „Es geht darum, dass etwas in der Erfahrung auftritt, dass gerade dieses und solches und nicht vielmehr anderes und dass es in einem bestimmten Zusammenhang auftritt“ HEG 'DV:LUNHQ GHU$XIPHUNVDPNHLWNRQ]LSLHUW:DOGHQIHOVDOVHLQÅlX‰HUHV(LQZLUNHQ´ GDV GHP LP 0RPHQW 6WDWWÀQGHQGHQ HLQH EHVWLPPWH 3UlVHQ] YHUOHLKW HEG  5 Liest man die Geschichte des Konzerts aus dieser Perspektive, so ist eindrücklich, dass Aufmerksamkeit steigernde Mittel sich über Jahrhunderte in der Aufführungspraxis gleichsam einer „natürlichen Selektion“ durchgesetzt haben. „Überlebensfähig“ scheinen Konzertformen zu sein, die GDV ,Q(UVFKHLQXQJ%ULQJHQ GHU 0XVLN VWHLJHUQ XQG GDPLW GDV (UOHEHQ GHV.RQ]HUWHUHLJQLVVHVI|UGHUQ'LHgNRQRPLHGHU$XIPHUNVDPNHLWLP Konzertwesen selektierte Variationen in der Aufführungskultur, mit denen die Präsenz der Musik und das Ereignis Konzert gesteigert wird (sieKHDXVIKUOLFK7U|QGOHD 

Raum Der Selektionsmechanismus zugunsten einer verstärkten Präsenz ist beispielsweise bei der architektonischen Gestaltung der Konzertorte ofIHQVLFKWOLFK,QGHQÅ&ROOHJLD0XVLFD´WUDIHQVLFKDEFD]XQlFKVW DXVVFKOLH‰OLFKPlQQOLFKHYRUQHKPH%UJHURGHU6WXGHQWHQXP]XPXVLzieren, aber auch um miteinander zu speisen, zu rauchen und Konversation ]XEHWUHLEHQ 6DOPHQ ,Q(QJODQGZDUHQGLHVGLHÅPXVLFPHHtings“ und „consorts of music“. 8P GLH $XIPHUNVDPNHLW ]X HUK|KHQ

27

Martin Tröndle

Aufführung der Schöpfung von Joseph Haydn im Festsaal der Wiener Universität, 1808. Aquarell von Balthasar Wigand. 6

ZXUGHQDEGHPDXVJHKHQGHQ-DKUKXQGHUWÅ0XVLFNURRPHV´JHSODQW in deren Mitte das Podium, ein „Musiziertisch“, stand. Darauf standen RGHUVD‰HQGLH0XVLNHUVRGDVVLKUH'DUELHWXQJHQYRQHLQHPJU|‰HUHQ 3XEOLNXPYHUIROJWZHUGHQNRQQWHQ'LHUlXPOLFKH(UK|KXQJGHU0XVLNHU ist Ausdruck einer gerichteten bzw. konzentrierten Aufmerksamkeit gegenüber der Musik als solcher und markiert gleichzeitig die Dominanz der Musik über ihren Aufführungsrahmen. Der Musiziertisch ist die Vorform des Musikpodiums bzw. der Bühne, die bis dahin beim gemeinsamen 0XVL]LHUHQQRFKQLFKWH[LVWLHUWKDWWH=XUHJHOPl‰LJHQ.RQ]HUWVHULHQNDP HVLQ)UDQNIXUWD0LQ/HLS]LJXQGLQ+DPEXUJ'LHVH Konzerte fanden noch in den Räumlichkeiten der Gaststätten, der Zünfte oder in Privathäusern statt (ebd.: 21). :lKUHQGGHV-DKUKXQGHUWVZXUGHQGDQQGLH.RQ]HUWVlOHVWlQGHXQG JHEUDXFKVVSH]LÀVFKJHVWDOWHW,QGHQJU|‰HUHQ6WlGWHQZXFKVGHU%HGDUI an Konzerträumen, so dass die bürgerlichen Musikfreunde Konzertsäle PLWXQGPHKU3OlW]HQHUULFKWHWHQLQGHQHQ$ERQQHPHQWNRQ]HUWHDQgeboten wurden. Zusätzlich entstanden für die Gemeinde der Kenner und Liebhaber kleine, exklusive Räumlichkeiten wie Kammermusiksäle (ebd.:  *HJHQ(QGHGHV-DKUKXQGHUWV]HLJWVLFKGDV(PDQ]LSDWLRQVVWUHEHQ GHV%UJHUWXPVLQGHU,QYHVWLWLRQVEHUHLWVFKDIWGHU6WlGWHXQGGHUPRQGlnen Badeorte, in denen palastartige Konzerthäuser gebaut wurden. Man

28

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

zog aus den dämmrigen Konzertsälen in die nun elektrisch beleuchteten, prunkvollen Konzerthäuser. Seit Buxtehude gewannen die Musiker die Aufmerksamkeit eines stetig wachsenden Publikums, so dass für die Konzertveranstaltungen zuHUVW5lXPHJHPLHWHWGDQQ6lOHPXVLNXQGVWDQGHVVSH]LÀVFKHLQJHULFKtet und später eigens Konzerthäuser errichtet wurden. Die Konzerthäuser markierten das (musikalische) Zentrum der Städte und zogen durch ihre SUXQNYROOLQV]HQLHUWH$UFKLWHNWXUGLH$XIPHUNVDPNHLWDXIVLFK,QQHUKDOE des Raumes wurde die Aufmerksamkeit vom Parkett auf das Podium gelenkt. Diese zunehmende architektonische Musikzentrierung kann an den verschiedenen Variationen der Räumlichkeiten seit Buxtehude bis heute abgelesen werden. Die Aufmerksamkeit wurde in den neu geschaffenen Konzerthäusern nicht nur durch die architektonische Zentrierung auf die Musik gelenkt, sondern auch durch eine verbesserte Akustik, womit HLQHJHVWHLJHUWHlVWKHWLVFKH:LUNXQJGHV+|UHUOHEQLVVHVHLQKHUJHKW1HXH %HLVSLHOHIUGLHVH,QV]HQLHUXQJHQVLQGGDV.XOWXUXQG.RQJUHVV]HQWUXP in Luzern, die Elbphilharmonie, die Philharmonie Luxemburg oder die Konzerthalle The Sage Gateshead (siehe ausführlich die Beiträge von Volker Kirchberg und Ludger Brümmer in diesem Band).  Eine weitere Aufmerksamkeitsakkumulation zeigt sich exemplarisch in den Entwürfen von Herzog & de Meuron zur Elbphilharmonie Hamburg.

Elbphilharmonie Hamburg, Nordostansicht computergeneriertes Bildmaterial, Copyright: © Herzog & de Meuron

29

Martin Tröndle

Elbphilharmonie Hamburg, Saal computergeneriertes Bildmaterial, Copyright: © Herzog & de Meuron 8

Programm und Dramaturgie Aber auch bei der Programmgestaltung ist die Steigerung der AufPHUNVDPNHLW GHXWOLFK DE]XOHVHQ %LV FD  ZDUHQ GLH .RQ]HUWH DXV unterschiedlichsten Teilen zusammengesetzt und dauerten durchschnittlich drei und mehr Stunden. Die Abfolge eines Symphoniekonzerts JHVWDOWHWH VLFK IROJHQGHUPD‰HQ =XQlFKVW K|UWH PDQ PHLVW HLQ Orchesterwerk, dann ein begleitetes Gesangssolo, es folgte ein Satz aus HLQHP,QVWUXPHQWDONRQ]HUWGDQDFKVFKORVVHLQH.RQYHUVDWLRQV3DXVHDQ GDQQZLHGHU/LHGHU,QVWUXPHQWDOVWFNHXQGHLQZHLWHUHV2UFKHVWHUZHUN Selten spielte man eine Sinfonie am Stück, sondern ‚nur einen Satz‘, dem VLFKLQVWUXPHQWDOHZLHYRNDOH'DUELHWXQJHQDQ]XVFKOLH‰HQKDWWHQ Å1XU VHOWHQ ZDJWH HV HLQ 9HUDQVWDOWHU YRU  OHGLJOLFK GLH ‚Sache der Kenner‘ etwa in Quartett-Unterhaltungen anzubieten. *HZ|KQOLFKHUWUXJPDQQLFKWHLQPDOHLQHÄDEVLFKWOLFK¶DXV6lW]HQ ‚zusammengesetzte Symphonie‘, sondern ‚nur einen Satz‘, dem sich LQVWUXPHQWDOHZLHYRNDOH'DUELHWXQJHQDQ]XVFKOLH‰HQKDWWHQGLH zuweilen von ‚tableux vivants‘ (lebenden Bildern), gemeinsamem Singen, Rezitationen und Deklamationen, Reden, Predigten oder *HEHWHQXQWHUEURFKHQZXUGHQ´6DOPHQ  

30

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

'DV.RQ]HUWEHJDQQPDQIUK]HLWLJXPQRFKHLQHQ%DOODQVFKOLH‰HQ]X N|QQHQ HEG 'LH=XK|UHUGHU.RQ]HUWHVD‰HQRGHUVWDQGHQOLHIHQ XPKHUQLSSWHQDQLKUHP*ODVXQGYHUOLH‰HQMHQDFK/DXQHXQG,QWHUHVVH GHQ6DDOXPYLHOOHLFKWQDFKHLQHP6SD]LHUJDQJZLHGHU]X]XK|UHQ,QGHU +lOIWHGHV-DKUKXQGHUWVZXUGHGLH3URJUDPPGDXHUDXI0LQXWHQ gesenkt, Sinfoniesätze wurden nicht mehr durch Tänze und andere Einlagen unterbrochen. Der Gattungskanon wurde reduziert und normiert. Die Programmabfolge war zumeist mit Ouvertüre, Solokonzert, Symphonie standardisiert. Die verkürzte Konzertdauer verstärkte die Konzentration auf die Musik. Das Essen, Trinken und die Unterhaltung wurden in die Pause verlegt, das Tanzen verschwand. Man konnte sich QXQ PLW XQJHWHLOWHU $XIPHUNVDPNHLW LQ MH PLQWLJHQ %O|FNHQ GHU Musik widmen. Damit hatte sie sich einen unangefochtenen Platz im Zentrum der Aufmerksamkeit erobert.

5LWXDOXQG,GHQWLÀNDWLRQ Auf Seiten des Publikums geht eine Ausdifferenzierung der VerhalWHQVUHJHOQ JHJHQ (QGH GHV  -DKUKXQGHUWV XQWHU GHP 6FKODJZRUW der Konzertsaalreform einher. Charakteristisch für diese Variation der Aufführungskultur waren die fortschreitende Ausprägung der 9HUKDOWHQVUHJHOQ GLH DEVROXWH .RQ]HQWUDWLRQ DXI GHQ ÅK|FKVWHQ .XQVWLQKDOW´GLH9HUGUlQJXQJGHVÅbX‰HUOLFKHQ´XQGGHU9HUOXVWGLUHNWHU %H]JH ]XU JHVHOOVFKDIWOLFKHQ 5HDOLWlW HEG   *HIRUGHUW ZXUGH ein „angemessenes“ Verhalten, die Konzentration auf den ästhetischen *HQXVVXQGIHLHUOLFKH.OHLGXQJ +HLVWHU ZDVGLH*HVHOOLJNHLW und Kommunikation stark einschränkte. Kontemplative Versenkung während des Werks, das Sprechverbot und der nach Regeln ablaufende Beifall (nicht zwischen den Sätzen, sondern nach dem Verklingen des :HUNV GLHHLQ]LJHQRFKYHUEOHLEHQGH0|JOLFKNHLWVLFKLQGHQ $EODXI des Konzerts einzubringen, kennzeichnen die Kulmination des bürgerOLFKHQ.RQ]HUWV HEG  VLHKHKLHU]XDXFKGHQ%HLWUDJYRQ*HUKDUG Schulze). Aufschlussreich ist, dass auch diese Variation, die uns als „das NODVVLVFKH .RQ]HUW´ YHUWUDXW LVW VFKRQ  ]XU 'LVSRVLWLRQ VWDQG ,Q GHU =HLWVFKULIW Å'LH 0XVLN´ YHUODQJWHQ :LOKHOP +RO]KDPHU XQG Paul Marsop, dass man sich geräuschlos und „asketisch der Heiligkeit GHV .XQVWWHPSHOV´ QlKHUQ VROOWH $X‰HUGHP PVVH QLFKW QXU GHU

31

Martin Tröndle

Saal verdunkelt, sondern auch das Orchester verdeckt werden, um eine weitere Konzentrationssteigerung auf die Musik zu erreichen. „Dieses Hochgefühl einer ‚Gemeinde‘, die im Konzert einem ‚weiheYROOHQ $NW¶ EHLZRKQHQ GXUIWH NXOPLQLHUWH XP  LQ GHU XWRSLVFKHQ ,GHH GHV 6\PSKRQLHKDXVHV´ 6DOPHQ    'LHVH 9DULDWLRQ GHU Aufführungskultur wurde nicht angenommen und ging sang- und klanglos unter. ,Q .RQ]HUWYHUHLQHQ $ERQQHPHQWUHLKHQ )HVWHQ XQG %lOOHQ HWF formierte sich eine Sozialform „organisierter Geselligkeit“. Man traf sich mit „Gleich-gesinnten“ und versicherte sich über ein gemeinsam geteiltes (bürgerliches) Kunst- und Kulturverständnis (hier passt das %HJULIIVSDDU GHUJHPHLQVDPHQ,GHQWLWlW'DV.RQ]HUWZXUGH]XPLGHDOHQ (UHLJQLV GHU NROOHNWLYHQ ,GHQWLÀNDWLRQ $XIPHUNVDPNHLW IlOOW DXI GDVZDV,GHQWLÀNDWLRQVWLIWHW Das bedeutet, dass das Konzert nicht nur besucht wurde, weil es „nach dem Geschmack“ der Besucherinnen und Besucher war, sondern auch, um durch den Besuch genau dieser Veranstaltung an diesem beVWLPPWHQ 2UW GDV %HGUIQLV QDFK =XJHK|ULJNHLW ]X HLQHU EHVWLPPWHQ gesellschaftlichen Gruppe zu befriedigen (siehe die Beiträge von Elena 8QJHKHXHUXQG5DLPXQG9RJHOV 'LHVHLGHQWLÀNDWRULVFKH:LUNXQJKDW GDVNODVVLVFKH.RQ]HUWZHVHQLP-DKUKXQGHUWZHLWJHKHQGHLQJHE‰W Gleichzeitig entwickelte sich eine differenzierte Popkultur, in der sich DOOH -XJHQGEHZHJXQJHQ PLW LKUHP HLJHQHQ 0XVLNVWLO LGHQWLÀ]LHUWHQ Å,Q DOO GLHVHQ )lOOHQ LVW GLH 0XVLN LQ GHU /DJH IU GLH XQPLWWHOEDUH (UIDKUXQJNROOHNWLYHU,GHQWLWlW]XVWHKHQVLH]XV\PEROLVLHUHQXQGDQ]XELHWHQ´ )ULWK 6LPRQ)ULWKJHKWGDYRQDXVGDVVGLH3RSPXVLN YRQ JOHLFKHU %HGHXWXQJ IU GLH 6FKDIIXQJ NXOWXUHOOHU ,GHQWLWlWHQ LVW ZLH HV GLH NODVVLVFKH 0XVLN IU GDV HXURSlLVFKH %UJHUWXP LP  -DKUKXQGHUWZDU VLHKHDXVIKUOLFK7U|QGOHE  Soll die Kunstmusik wieder an diese identitätsbildende Wirkung DQNQSIHQN|QQHQPXVVVLFKGHUNROOHNWLYHlVWKHWLVFKHVR]LDOH0RPHQW des Konzertes wandeln (siehe die Beiträge von Susanne Keuchel und David Canisius). Ein bestimmtes Konzertereignis muss signalisieren, die individuelle Sinn- und Wirklichkeitskonstruktion der Besucher zu unterstützen, damit die Entscheidung für den Besuch dieses Konzertes fällt (siehe die Beiträge von Heiner Gembris und Christian Kellersmann).

32

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

Neuerung, Variationen des Bekannten Die letzte bis heute ästhetisch-sozial erfolgreiche Variation der Aufführungskultur in der Kunstmusik lancierte Richard Wagner mit dem )HVWLYDO )HVWLYDOV VLQG UHJHOPl‰LJH DEHU SXQNWXHOOH (UHLJQLVVH GHQHQ aufgrund ihrer zeitlichen Begrenztheit eine konzentrierte Aufmerksamkeit zuteil wird.(VHUODXEWHLQH DXFKUlXPOLFK ÁH[LEOH3URJUDPPJHVWDOWXQJ funktioniert bestens als soziales Forum und weist einen starken performativen und rituellen Ereignischarakter auf. Wie radikal Richard Wagner sein Aufführungsformat gedacht hat, zeigt folgendes Zitat: „[...] – hier, wo ich nun gerade bin und wo manches gar nicht so EHOLVWZUGHLFKDXIHLQHUVFK|QHQ:LHVHEHLGHU6WDGWYRQ%UHWW und Balken ein rohes Theater nach meinem Plane herstellen und leGLJOLFKEOR‰PLWGHU$XVVWDWWXQJDQ'HFRUDWLRQHQXQG0DVFKLQHULH YHUVHKHQ ODVVHQ GLH ]X GHU $XIIKUXQJ GHV 6LHJIULHG Q|WLJ VLQG Dann würde ich mir die geeignetsten Sänger, die irgend vorhanden ZlUHQ DXVZlKOHQ XQG DXI  :RFKHQ QDFK =ULFK HLQODGHQ GHQ &KRU ZUGH LFK PLU JU|‰WHQWHLOV KLHU DXV )UHLZLOOLJHQ ]X ELOGHQ suchen [...] So würde ich mir auch mein Orchester zusammen laden. Von Neujahr gingen die Ausschreibungen und Einladungen an alle Freunde des musikalischen Dramas durch alle Zeitungen Deutschlands mit der Aufforderung zum Besuche des beabsichtigten dramatischen Musikfestes: wer sich anmeldet und zu diesem =ZHFNHQDFK=ULFKUHLVWEHN|PPWJHVLFKHUWHV(QWUpHQDWUOLFK ZLHDOOHV(QWUpHJUDWLV>@,VWDOOHVLQJHK|ULJHU2UGQXQJVRODVVH ich dann unter diesen Umständen drei Aufführungen des Siegfried LQHLQHU:RFKHVWDWWÀQGHQQDFKGHUGULWWHQZLUGGDV7KHDWHUHLQJHrissen und meine Partitur verbrannt.“ Richard Wagner an Theodor 8KOLJ6HSWHPEHU :DJQHUVHOEVWNRQQWHQLFKWZLVVHQGDVVDXVVHLQHU,GHHHLQH,QVWLWXWLRQ werden und sein Aufführungsformat eine solch steile Karriere machen würde. Neuerungen – also Variationen des Bekannten –, gleich, ob sich diese auf den Ablauf, den Ort, das Programm, oder bestimmte Verhaltensweisen und Rituale des Konzertes beziehen, werden von Veranstaltern, Musikern, Komponisten oder dem Publikum bewusst oder unbewusst HLQJHEUDFKW 6HOEVW EHL GHU (QWZLFNOXQJ QHXHU ,QVWUXPHQWH RGHU GHUHQ Weiterentwicklung wird das Kriterium der Aufmerksamkeitssteigerung

33

Martin Tröndle

ausschlaggebend.11 Sie haben dann die Chance, selektiert zu werden und damit „in Mode“ zu kommen, wenn sie die Aufmerksamkeit des 3XEOLNXPV DXI GDV (UHLJQLV GHV .RQ]HUWV ZHLWHU VWHLJHUQ N|QQHQ XQG VR HLQ Å5HWXUQ RQ ,QYHVWPHQW´ YHUVSUHFKHQ 'HU (UIROJ HLQHU 9DULDWLRQ hängt also davon ab, wie stark sie die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen vermag und wie nachhaltig diese aufrechterhalten werden kann. Aufmerksamkeit richtet den Systemfokus auf einen bestimmten Ausschnitt von „Welt“ und blendet in diesem Moment anderes aus. Geschieht dies im Laufe der Zeit immer wieder, entsteht strukturelle Koppelung. Die beiden Systeme, die füreinander jeweils Umwelt sind, koppeln sich mehr aneinander als an andere Ausschnitte von „Welt“ und HUP|JOLFKHQVLFKVHOEVWGDGXUFKHLQH.R(YROXWLRQ12 Sie entwickeln sich gemeinsam, solange die strukturelle Koppelung hält. Schwindet der „Kit“ Aufmerksamkeit, weil sich die Besucher von anderen Veranstaltungen angezogener fühlen, hat dies gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung des Konzerts. Daher zieht die These der Aufführungskultur ihre Kraft. Denn das Konzert hat sich immer wieder grundlegend verändert und erneuert, und diese Wandlungen gaben ihm seine Attraktivität.

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur Die Systemtheorie nimmt an, dass, wenn die Geschwindigkeit der 8PZHOWYHUlQGHUXQJHQ K|KHU LVW DOV GLH GHV /HUQHQV XQG $QSDVVHQV von Systemen, dies unweigerlich zu deren Niedergang führt. Gleiches gilt für Kulturorganisationen in der Gesellschaft. Verlieren sie ihre Anschlussfähigkeit, werden sie über kurz oder lang verschwinden. Der Prozess wird zwar durch staatliche Zuwendungen verlangsamt, jedoch nicht aufgehoben. Kulturorganisationen, die also an der Rekonstruktion vergangener Bedingungen arbeiten, arbeiten an ihrem Untergang. Denn es geht nicht um die Rekonstruktion vergangener Bedingungen, sondern um die Konstruktion von Anschlussfähigkeit an derzeitige und zukünftiJH8PZHOWHQGKHVJHKWXP)RUVFKXQJXQG(QWZLFNOXQJ YJO7U|QGOH DII  Eine Krise ist in der Terminologie der Systemtheorie Ausdruck eines mangelnden internen oder externen „Fits“ (Passung). Das bestehende Verhaltensrepertoire reicht nicht mehr aus, um genügend Anschlussfähigkeit

34

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

zu den relevanten Umwelten herzustellen. Die Systemtheorie lehrt uns, daher in Krisenzeiten vermehrt auf Variation denn auf Tradition zu set]HQ'HQQQXUQHXH9HUKDOWHQVZHLVHQN|QQHQQHXH$QVFKOVVHEHUHLWVWHOlen. Soll die Kunstmusik wieder Anschlussfähigkeit zu ihrer Umwelt geZLQQHQN|QQHQPXVVVLHLKUHUHLJHQHQ0XVHDOLVLHUXQJHQWJHJHQZLUNHQ neue Aufführungsformen entwickeln und ihre Rolle in der Gesellschaft ]HLWJHPl‰ GHÀQLHUHQ 8P GLHVHQ :HJ ]X JHKHQ LVW HLQ Å3HUIRUPDWLYH Turn“ notwendig: weg vom kanalisierten Blick auf die Ausführung hin zu einer offenen und kritischen Auseinandersetzung mit der Aufführung und LKUHP.RQWH[W YJO6PDOO  'DV KLVWRULVFKH :LVVHQ PXVV XP GLH 1HXJLHU ]XNQIWLJHU 0|JOLFK keiten ergänzt werden. Dazu ist ein neues Selbstbild der Musiker und der Musikmanager notwendig, aber auch der Mut, Veränderungen zuzulassen und Routinen und deren scheinbare Sicherheiten aufzugeben. Man sucht dann beispielsweise nach Wegen, das historische Material zu aktualisieren und ihm im Rahmen eines „Reframing“ einen neuen Wert, eine neue Perspektive abzuringen (siehe die Beiträge von Markus Fein, Beatrix Borchard sowie Annette Kristina Banse und Hans Christian SchmidtBanse). Auch hier lässt sich in einer vergleichenden Perspektive von der Bildenden Kunst lernen, führen die Kunstwissenschaftler, Künstler und .XUDWRUHQGRFKVFKRQVHLWGHQHU-DKUHQ $OH[DQGHU'RUQHU0DUFHO Broodthaers, Harald Szeemann, Michael Fehr, Hans Ulrich Obrist u. a.) intensive Debatten über das Zeigen und Repräsentieren von Kunst, über das Verhältnis von Erkenntnis und Erleben bei der Kunstbetrachtung, über das Zusammenspiel von Werk und Raum, über das Verhältnis von .XQVWXQG$OOWDJEHUÅ,QYROYHPHQW´EHUGLH,QV]HQLHUXQJYRQ.XQVW und Anlass, über Reframing und Sinngeneration. Solch ein kunstwissenVFKDIWOLFKNXUDWRULVFKHV )RUVFKHQ EHU GLH ,QWHUGHSHQGHQ] YRQ :HUN Ausstellungskontext, Rezipient und Ausstellungsinstitution kann analog für unsere konzert-kuratorischen Überlegungen vorgenommen werden. Ähnlich dem Wandel, der sich durch die Ausdifferenzierung der ,QWHUSUHWDWLRQVSUD[LVYROO]RJHQKDW ]%LQQHUKDOEGHU$OWHQ0XVLNGXUFK die historische Aufführungspraxis), muss auch die „Aufführungkultur“ aktualisiert und weiter ausdifferenziert werden, um einem sich ebenIDOOV LQ VWHWHP :DQGHO EHÀQGOLFKHQ 3XEOLNXP JHUHFKW ZHUGHQ ]X N|QQHQ 'LH NQVWOHULVFKHQ ,QKDOWH ZHUGHQ EHZDKUW LQGHP GHP 3XEOLNXP ]HLWJHPl‰H)RUPHQGHV=XJDQJVJHERWHQZHUGHQ,QGHU%HZDKUXQJGHV

35

Martin Tröndle

.RQ]HUWVGXUFKGLH(QWZLFNOXQJ]HLWJHPl‰HU$XIIKUXQJVIRUPDWHOLHJW eine wesentliche Chance, dem Verlust von Anschlussfähigkeit entgegen zu treten. Aus solch einer für den Musikbetrieb bisher eher ungewohnten Perspektive auf die Aufführungsformate ergibt sich zunächst die Frage, wie sich unterschiedliche Darbietungsformen entwickelt haben, warum manche Konzertvariationen im Lauf der Zeit verschwunden sind und andere hingegen die Aufmerksamkeit eines Publikums an sich binden konnten. Parameter, die im Hinblick auf die Entwicklung der Aufführungsformate XQWHUVXFKWZHUGHQN|QQHQVLQG - der Konzertort als sozialer Ort, Verhaltensweisen und Erwartungen der Konzertbesucher, - die architektonische Geste des Gebäudes, seine geographische 9HURUWXQJXQGGDV$PELHQWHGHV,QQHQUDXPV - der Konzertort als akustischer Raum, - das Repertoire, die Programmgestaltung und die Dramaturgie des Ereignisses, - (UHLJQLV]HLW(UHLJQLVGDXHU(UHLJQLVKlXÀJNHLW - GDVDNXVWLVFKH8PIHOGXQGGLHDNWXHOOHQ+|UJHZRKQKHLWHQ14, - das Konzert als performatives und rituelles Ereignis, - ,PDJHXQG.RPPXQLNDWLRQVRZLH - die Ökonomie des Betriebs.

Auf dem Weg zu einer neuen Aufführungskultur 'LH$XIIKUXQJVNXOWXUEHHLQÁXVVWZDVZLUDOVÅVHOEVWYHUVWlQGOLFK´HPSÀQGHQ ZHQQ ZLU EHU ÅGDV NODVVLVFKH .RQ]HUW´ VSUHFKHQ XQG XQV DOV Besucher oder Ausführender in die Konzertsituation begeben, gleich, ob es das Publikumsverhalten, das Verhalten der Musikschaffenden auf der Bühne, die Raumsituation, die Programmgestaltung, die Dramaturgie und die Rituale, aber auch die Ökonomie und die Organisation des Konzertes betrifft. Die Aufführungskultur gibt bestimmte Vorstellungsund Orientierungsmuster vor und prägt dadurch das Verhalten der am .RQ]HUWZHVHQ %HWHLOLJWHQ 6LH ÀOWHUW VR]XVDJHQ GLH :DKUQHKPXQJ EHHLQÁXVVW (UZDUWXQJHQ XQG HUP|JOLFKW VR lKQOLFKH LPPHU ZLHGHUkehrende Handlungen bei den Akteuren. Sie wird über Sozialisation

36

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

(beispielsweise durch das Nachahmen des Verhaltens im Konzert, ggf. Restriktionen durch andere bei Fehlverhalten, Orientierung an langjährigen Konzertgängern, Musikern und Meinungsführern, in der Ausbildung der Musikschaffenden etc.) an die neuen Akteure weitergegeben, weshalb VLH EHULQGLYLGXHOO YHUVWDQGHQ ZHUGHQ PXVV YJO 7U|QGOH  II  ,Q $QOHKQXQJ DQ GHQ DQWKURSRORJLVFKHQ .XOWXUEHJULII VROO .XOWXU KLHU somit für historisch gewachsene Wert- und Denkmuster stehen. Aus dieser Konzeption der Aufführungskultur ergeben sich viele Fragen: Orientieren wir uns zu sehr an einer glanzvollen VergangenKHLW GLH ZLU LPPHU ZLHGHU EHVFKZ|UHQ DEHU GDEHL GLH *HJHQZDUW XQG die Zukunft aus den Augen verlieren? Haben sich mit dem Alter vieler Musikinstitutionen Werte und Normen verfestigt, die sich zwar in der Vergangenheit bewährt haben, aber bei veränderten Besuchererwartungen und Umweltbedingungen heute nur bedingt zum Erfolg führen? Hat gegebenenfalls eine starke Orientierung an bestimmten Werten und Vorstellungen, was das „klassische Konzert“ sei, zu einer Veränderungsresistenz geführt? Und musste eine Weiterentwicklung des Konzerts lange Zeit gar QLFKW HUIROJHQ GD GXUFK GHQ )OXVV GHU |IIHQWOLFKHQ *HOGHU QLFKWV GD]X GUlQJWH" ,P *HJHQVDW] ]XP +DQGHOQ GHU SULYDWHQ XQG EUJHUOLFKHQ .RQ]HUWXQWHUQHKPHU GHV  XQG  -DKUKXQGHUWV LVW GLH LQVWLWXWLRQDOLVLHUWH )|UGHUXQJ LQ GLH GLH ,QVWLWXWLRQHQ (QGH GHV  XQG DP $QIDQJ GHV-DKUKXQGHUWEHUJHJDQJHQVLQG]ZDUQLFKWY|OOLJDEHUGRFKLQ KRKHP0D‰HUIROJVXQDEKlQJLJ *HZ|KQOLFKVFKHXWPDQGDV1HXHGHQQPLWGHP1HXHQVWHOOWVLFKHUneut die Selektionsfrage, also, ob die Neuerung tatsächlich zu einer besseren $QVFKOXVVIlKLJNHLW EHLWUlJW =XGHP YHUODQJHQ 1HXHUXQJHQ ,QYHVWLWLRQHQ und auch das Prinzip der Sparsamkeit wird evolutionär belohnt. Das „klassische Konzert“, seine Organisation und seine Ökonomie (in der 9DULDWLRQXP LVWMHGRFKHLQH1HXHUXQJGLHQXQEHU-DKUHDOW LVWXQGGHUHQ$QVFKOXVVIlKLJNHLWVLFKWEDUDQLKUH*UHQ]HVW|‰W VLHKHGHQ Beitrag von Heiner Gembris). Eine Schwierigkeit bei der Erneuerung des .RQ]HUWZHVHQV LVW GDVV YLHOH ,QVWLWXWLRQHQ GXUFK LKUH $UFKLWHNWXU LKUHQ Gestus, ihre Produktions- und Organisationsform sowie die den Häusern HLQJHVFKULHEHQHQ 5LWXDOHQ HQJ PLW GHU 9DULDWLRQ GHV .RQ]HUWV XP  YHUEXQGHQVLQGVLHLQJHZLVVHU:HLVHLQVWLWXWLRQDOLVLHUWYHUN|USHUQ VLHKH den Beitrag von Michael Hutter). *HPl‰ 'LUN %DHFNHUV $XVVDJH Å:LU YHUEDXHQ PLW GHP %OLFN LQ die Vergangenheit unseren Weg in die Zukunft“, brauchen wir ein

37

Martin Tröndle

QHXHV9HUVWlQGQLVGHU$XIIKUXQJVNXOWXUXQG]HLWJHPl‰HYLHOIlOWLJH$XI führungsformate. Die wissenschaftlichen Forschungsmethoden müssen dafür durch Methoden der künstlerischen Forschung ergänzt werden, die einen ästhetisch-praktischen Zugang erlauben. Das Konzept der Aufführungskultur bedient sich sowohl künstlerischer als auch wissenschaftlicher Methoden, um die Variationsgeschichte des Konzertwesens IRUW]XVFKUHLEHQ Å:LU PVVHQ LQ =XNXQIW Y|OOLJ QHX GHQNHQ ZDV GDV .RQ]HUW VHLQ N|QQWH´ VDJWH *pUDUG 0RUWLHU ]XP $EVFKLHG VHLQHU Salzburger Zeit. Und so lässt sich ergänzen: Man muss das Konzert verändern, um es zu erhalten. Den Weg zu einer neuen Aufführungskultur haben schon einige beschritten, dieser Band soll helfen, weitere Wege aufzuzeigen.

Anmerkungen Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. 1. Vgl. hierzu auch die Kritik im Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Kapitel 4.2.4 ff. 2. Vgl. hierzu die Beiträge von Gerhard Schulze, Matthias Rebstock und Jens Roselt sowie Elena Ungeheuer und Raimund Vogels in diesem Band. 6LHKHZZZPXVLNDOLVFKHUVRPPHUQHW  'LHVHU )UDJH ELQ LFK DXVIKUOLFK QDFKJHJDQJHQ 7U|QGOH D  ,Q DOOHQ ZHVHQWOLFKHQ 3DUDPHWHUQ5DXP6R]LDOIRUP3URJUDPPGDXHUXQG3URJUDPPJHVWDOWXQJ,QVWUXPHQWLHUXQJ XQG,QVWUXPHQWHQEDX+HUDXVELOGXQJYRQ9HUKDOWHQVQRUPHQGHV3XEOLNXPVHWFOlVVWVLFK diese zunehmende Aufmerksamkeitssteigerung von den Anfängen des Konzertwesens bei )UDQ]7XQGHUXQGVHLQHP1DFKIROJHU'LHWULFK%X[WHKXGHLQ/EHFNGHV-DKUKXQGHUWV ELV LQV IUKH  -DKUKXQGHUW QDFKYROO]LHKHQ 8P GLHV ]X YHUGHXWOLFKHQ ZHUGHQ HLQLJH Aspekte davon hier nochmals dargestellt. 5. Vgl. hierzu auch Sebastian Jünger, der Aufmerksamkeit als ein Parameter konzipiert, GHU]XU&KDUDNWHULVLHUXQJV\VWHPVSH]LÀVFKHUSUR]HVVXDOHU$V\PPHWULHQGLHQW HEG   $XIPHUNVDPNHLW LVW VRPLW QLFKW GLH 8UVDFKH YRQ 6HOHNWLRQVSUR]HVVHQ VRQGHUQ GLH 0DQLIHVWDWLRQ GHU 6HOHNWLRQ GLH V\VWHPVSH]LÀVFKH 9HUDUEHLWXQJ YRQ ,UULWDWLRQHQ LVW 'DV (UHLJQLVLVWHLQH,UULWDWLRQGLHEHUV\VWHPVSH]LÀVFKH2SHUDWLRQHQ]XHLQHP1XW]HQZLUG bspw. das Konzert als Forum bürgerlicher Sozialisation.

38

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

:LHQ+LVWRULVFKHV0XVHXPGHU6WDGW,QY1U$XV6DOPHQ    'LH QHXHUHQ .RQ]HUWKDXVEDXWHQ KDEHQ HLQH VWDUNH HUOHEQLVRULHQWLHUWH $UFKLWHNWXU 'LH Philharmonie Luxemburg (www.philharmonie.lu), The Sage (www.thesagegateshead.org/), die Philharmonie de Paris (www.philharmoniedeparis.com) oder die Elbphilharmonie (www.elbphilharmonie.de) entsprechen nicht mehr dem „Konzerthauskasten“, sondern sind |IIHQWOLFKLQV]HQLHUWH6NXOSWXUHQGLH.ODQJUlXPHEHKHUEHUJHQ6LHKHKLHU]XDXVIKUOLFKLQ diesem Band den Beitrag von Volker Kirchberg. $EGUXFNPLWIUHXQGOLFKHU(UODXEQLVGHU5H*H+DPEXUJXQG+HU]RJ GH0HXURQ  ,Q $QOHKQXQJ DQ 5LFKDUG :DJQHUV )HVWVSLHOGHÀQLWLRQ ZLUG )HVWLYDO KLHU DOV SHULRdisch wiederkehrende, zeitlich begrenzte Musikdarbietung bezeichnet, die sich durch die Besonderheit des Ortes, des Werkes auszeichnet und gegebenenfalls ein Publikum besitzt, das eigens anreist. 6LHKHKWWSZZZED\UHXWKHUIHVWVSLHOHGHGRNXPHQWHYRQBEUHWWBXQGBEDONHQBHLQB URKHVBWKHDWHUBQDFKBPHLQHPBSODQHBBBKWPO>@ 11. Relevant sind beispielsweise die Parameter Lautstärke (so dass mehr Publikum erreicht werden kann), Klangspektrum (um variantenreichere Effekte zu erzielen) und Spielbarkeit (Steigerung der Virtuosität). Vgl. in diesem Band die Beiträge von Michael Hutter und /XGJHU%UPPHU6LHKHDXFK.VWHU 12. Vgl. hierzu auch Niklas Luhmann: „Strukturelle Kopplungen binden das System an beVWLPPWH$XVVFKQLWWHGHU8PZHOWXQGHUODXEHQLKP,QGLIIHUHQ]LQDOOHQDQGHUHQ+LQVLFKWHQµ HEG   ,Q GLHVHP 6LQQH HQWZLUIW DXFK 6WHIDQ /GGHPDQQ GHQ .XOWXUPDQDJHU GHU =XNXQIW DOV HLQHQ .XUDWRU GHU 9HUDQVWDOWXQJHQ QLFKW EOR‰ RUJDQLVLHUW VRQGHUQ EHVWLPPWH 7KHPHQ]XVDPPHQKlQJHLQV]HQLHUWXPGDGXUFK%HGHXWXQJVUlXPH]XNUHLHUHQ HEG  9JOGD]XDXFKGHQ)DFKYHUEDQG.XOWXUPDQDJHPHQWGHUHLQlKQOLFKHV5ROOHQYHUVWlQGQLV diskutiert, www.fachverband-kulturmanagement.org. 'DVDNXVWLVFKH8PIHOGXQGGLH+|UJHZRKQKHLWHQZHUGHQQXUDP5DQGHLQGLHVHP%DQG thematisiert. Hierzu liegen verschiedene aktuelle Publikationen vor, bspw. Bernius / Kemper 2HKOHU%HUQLXV6DUNRZLF]0RWWH+DEHU  

Literatur %HUQLXV9RONHU.HPSHU3HWHU2HKOHU5HJLQD +J   Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören. Reader neues Funkkolleg,*|WWLQJHQ9DQGHQKRHFN 5XSUHFKW %HUQLXV9RONHU6DUNRZLF]+DQV +J   Ganz Ohr. Interdisziplinäre Aspekte des Zuhörens, *|WWLQJHQ9DQGHQKRHFN  Ruprecht.

39

Martin Tröndle

%RXUGLHX3LHUUH  Soziologische Fragen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. %XW]HU6WURWKPDQQ.ULVWLQ*QWHU%HUQG'HJHQ+RUVW   Leitfaden für Besucherbefragungen durch Theater und Orchester. Hg. v. Deutschen Bühnenverein, Baden-Baden: Nomos. 'DQXVHU+HUPDQQ  Stichwort „Neue Musik“, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine (Q]\NORSlGLHGHU0XVLN%lQGHQHXEHDUE$XVJ.DVVHO Bärenreiter. 'HXWVFKHU%XQGHVWDJ  Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“.'UXFNVDFKH )UDQFN*HRUJ  Ökonomie der Aufmerksamkeit, München: Hanser. )ULWK6LPRQ  ÅZur Ästhetik der populären Musik“, in: PopScriptum 1, ohne Seitenzählung. Verfügbar unter: www2.rz.huEHUOLQGHISPSRSVFULSWKHPHQSVWSVWKWP>@ +HLVWHU+DQQV:HUQHU  Stichwort „Konzertwesen“, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine (Q]\NORSlGLHGHU0XVLN%lQGHQHXEHDUE$XVJ.DVVHO Bärenreiter. -DFREVKDJHQ$UQROG  Stichwort „Dramaturg“, in: Praxis Musiktheater. Ein Handbuch, Laaber: Laaber. -QJHU6HEDVWLDQ  ÅAufmerksamkeit – Modenschauen im Gehirn. Oder: Entwirrungsversuch einer transdisziplinären Analogie“, in: Zurstiege, Guido / Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Werbung, Mode und 'HVLJQ:LHVEDGHQ:HVWGHXWVFKHU9HUODJ6 .VWHU.RQUDG  Das Konzert. Form und Forum der Virtuosität, Kassel: Bärenreiter. /GGHPDQQ6WHIDQ  ÅKulturmanagement als Bedeutungsproduktion“, in: Lewinski, Verena / Lüddemann, Stefan +J   .XOWXUPDQDJHPHQWGHU=XNXQIW3HUVSHNWLYHQDXV Theorie und Praxis, Wiesbanden: VS. /XKPDQQ1LNODV  ÅSelbstorganisation und Information im politischen System“, in: Niedersen, Uwe / Pohlmann, Ludwig (Hg.): Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozialund Geisteswissenschaften, Band 2, Der Mensch in Ordnung und &KDRV%HUOLQ'XQFNHU +XPEORW6  0DWXUDQD+XPEHUWR9DUHOD)UDQFLVFR  Der Baum der Erkenntnis, München: Goldmann.

40

Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur

0RWWH+DEHU+HOJDGHOD  Handbuch der Musikpsychologie, Laaber: Laaber. 6DOPHQ:DOWHU  Das Konzert. Eine Kulturgeschichte, München: Beck. 6FKXO]H*HUKDUG  Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart$XÁ)UDQNIXUWD0&DPSXV 6PDOO&KULVWRSKHU  Musicking. The Meanings of Performing and Listening, Middleton: Wesleyan University Press. 7KUXQ0DUWLQ +J   Neue Musik seit den achtziger Jahren. Eine Dokumentation zum deutschen Musikleben, hg. im Auftr. der Gesellschaft für Neue Musik, Sektion Deutschland, Band 2, Regensburg: ConBrio. 7U|QGOH0DUWLQ D ÅDas Konzertwesen: Eine Geschichte der Aufmerksamkeit“,LQ6FKQHLGHZLQG3HWUD7U|QGOH0DUWLQ +J  Selbstmanagement im Musikbetrieb: Handbuch für Musikschaffende, %LHOHIHOGWUDQVFULSW6 7U|QGOH0DUWLQ E ÅDas Publikum“, in: Schneidewind, Petra / 7U|QGOH0DUWLQ +J 6HOEVWPDQDJHPHQWLP0XVLNEHWULHE+DQGEXFK IU0XVLNVFKDIIHQGH%LHOHIHOGWUDQVFULSW6 7U|QGOH0DUWLQ D Entscheiden im Kulturbetrieb: Integriertes Kunst- und Kulturmanagement, Bern: h.e.p. 7U|QGOH0DUWLQ E ÅEin Weg zur Musik. Musikvermittlung: Konzeption eines Studienfaches“, in: Üben & Musizieren, Zeitschrift IU0XVLNVFKXOH6WXGLXPXQG3UD[LV0DLQ]6 :DOGHQIHOV%HUQKDUG  Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

41

I. Das Konzertwesen und seine Akteure

'LH(UÀQGXQJGHV0XVLN+|UHQV Gerhard Schulze

Die ersten Konzerthäuser Im späten 17. Jahrhundert wird aus Amsterdam von Gasthäusern beULFKWHW VR JHQDQQWHQ 0XVLNKHUEHUJHQ LQ GHQHQ GLH *lVWH YHUSÁLFKtet waren, ein Musikstück vorzutragen. Zur selben Zeit entstanden in Deutschland bürgerliche und studentische Zirkel, die öffentlich musizierten. Johann Sebastian Bach trat in Kaffeehäusern mit einem musikalischen „Collegium“ auf, das Georg Philipp Telemann 1702 in Leipzig gegründet hatte. Zehn Jahre später luden Gastwirte in London wöchentlich zu Konzerten ein. Profaner hätte der Platz also nicht sein können, von dem eine neue Form des Musikhörens in Europa ihren Ausgang nahm – es war die Kneipe. Kein Wunder freilich: Die Kneipe war der Bezirk von jedermann, sie war der Platz des erwachenden bürgerlichen Selbstbewusstseins. Hätte es damals schon Kulturkritiker gegeben, sie hätten gewiss das Ende der Musik nahen sehen: ihren Absturz in die Niederungen des Massengeschmacks. Was eintrat, war das genaue Gegenteil. Die Menschen lernten Stillsitzen statt Stampfen, Schweigen statt Schwatzen, Konzentration statt Zerstreuung. Der Habitus des aufmerksamen Musikhörens ist eine bis auf den heutigen Tag bewahrte Kulturleistung des damaligen bürgerlichen Publikums. Alle reden von Massenverblödung – hier haben wir ein Beispiel von Massenvergeistigung.

Gerhard Schulze Es fehlten nur noch Konzerthäuser, um die Musik aus der Kneipe herauszuholen. Das erste deutsche Konzerthaus wurde 1761 in Hamburg eingeweiht. Damit setzte ein Boom ein. Alle größeren Städte in Europa wollten ein Konzerthaus, und alle bauten sich eines. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Infrastruktur des Musikhörens geschaffen. Bis heute hat sie alles überstanden, Krieg und Zerstörung, die 68er Jahre, McDonalds und die Digitalisierung.

9RQGHUGLHQHQGHQ]XUKHUUVFKHQGHQ0XVLN Ursprünglich war die Musik eher eine schöne Nebensache. Sie hatte anderen Zwecken als nur dem Erlebnis zu dienen. In der Kirche sollte sie die Liturgie begleiten und religiösen Inhalten Ausdruck verleihen. An den Höfen der Fürsten und Könige diente sie vorwiegend als Statussymbol, DOVDNXVWLVFKH'HNRUDWLRQXQGDOV0HGLXPLQGHPGLH+|ÁLQJHVFKZDPmen wie die Fische im Wasser. Bei Volksfesten war sie dazu da, die Leute in Stimmung zu bringen. Doch im Lauf des 18. Jahrhunderts wurde die Musik von der Dienerin zur Herrin, von der Verpackung zum Inhalt, vom Mittel zum Zweck, vom Gast zur Hauseigentümerin.

0XVLNK|UHQDOVPHWDSK\VLVFKH.RPPXQLNDWLRQ Dabei knüpfte das bürgerliche Publikum an Hörgewohnheiten an, die sich im sakralen Raum entwickelt hatten, etwa bei den „concerts spirituels“, die 1725 in Paris und 1749 in Leipzig entstanden. Das Denken wurde weltlich, aber die Sehnsucht nach dem Überirdischen blieb den Menschen. Sie verstanden Musikhören als eine Art metaphysischer Kommunikation mit dem Unvergänglichen. Dafür braucht man mehr als nur Musikalität; man braucht Inspiration, Geist, Empfänglichkeit für etwas, das nicht von dieser Welt ist. Im postsakralen Stil wurde das Musikhören zum Lauschen auf den Klang einer fernen Erhabenheit. Noch im 20. Jahrhundert hat Marcel Proust diesem Gedanken mit sanfter Ironie Ausdruck verliehen. In Eine Liebe von Swann lässt er den 3URWDJRQLVWHQGDUEHUUHÁHNWLHUHQZDVLKQZRKOLPPHUZLHGHUVREHZHJW wenn er ein bestimmtes Thema aus einer Sonate von Vinteul (ein von Proust erfundener Komponist) hört. In dieser Passage, so meint Swann, noch ganz Kind des frühen bürgerlichen Zeitalters, kommt Jenseitiges zum Vorschein. Komponisten haben Zugang zu einem Ideenhimmel,

46

'LH(UÀQGXQJGHV0XVLN+|UHQV in dem alle genialen musikalischen Einfälle archiviert sind. Der gute ,QWHUSUHWJLEWGLHVH,GHHZLHGHUGHUJXWH=XK|UHUHPSÀQGHWVLH Hier schimmert die sakrale Vorgeschichte des konzentrierten Musikhörens durch. Elemente davon haben sich bis heute erhalten. Wir wissen also, weshalb uns die berüchtigten Wutausbrüche von Keith Jarret beim ersten Schnäuzen im Saal an Jesus erinnern, der im Vorhof des Tempels die Tische der Geldwechsler umwarf, um den Respekt für das Allerheiligste wiederherzustellen. Ich habe Anfang der 60er Jahre selbst erlebt, wie Paul Hindemith während eines Konzerts wütend den Taktstock zu Boden schleuderte. „Das ist hier kein Boxring“, rief der zürnende Meister, als er aus dem Saal stürmte, weil jemand mit Blitzlicht photographiert hatte. Wenn aber der Konzertsaal kein Boxring ist, was ist er dann? Was der Dirigent Enoch Gutenberg vor einigen Jahren sagte, klingt wie eine Antwort auf diese Frage. Er sagte, Musik sei für ihn Gottesdienst. Obwohl das nicht jeder unterschreiben würde, zehren Konzerte bis heute vom Geist der Religiosität. Sie wirken immer noch wie Nachfolgerituale der Liturgie, und das konzentrierte Zuhören erscheint wie ein Gebet.

0XVLNK|UHQDOV%HJHJQXQJ Wie erleben wir heute Kunst? Was unterscheidet in unseren Augen ein Gedicht von einem Telefonbuch, was unterscheidet das Thema einer Fuge vom Klingelton eines Mobiltelefons? Umberto Eco versucht in seiner Theorie des offenen Kunstwerks eine Antwort: Es ist die Unbestimmtheit. Man empfängt das Kunstwerk nicht wie ein vom Himmel kommendes Paket, man bekommt nur Rohmaterial und muss das Kunstwerk in sich selbst vollenden. Im Fall der Musik gilt dies sogar im doppelten Sinn: Die Komposition verlangt nach Interpretation, und die Interpretation verlangt nach dem Zuhörer, der dem Werk mit seinem einzigartigen persönlichen Kosmos gegenübertritt. So verwundert es nicht, dass die Figur des Interpreten in der Musik umso schärfere Konturen annahm, je größer der Abstand zum metaphysischen Zeitalter wurde. Der Fokus unserer Glücksvorstellungen hat sich vom Jenseits ins Diesseits verlagert. Wir suchen das Glück der Begegnung. Worin es besteht, zeigt sich am klarsten im Umgang mit dem scheinbar Banalen. Ein Beispiel dafür enthält der Film American Beauty von Sam Mendes. In eiQHU6]HQHGLHVHV)LOPVZLUG6FK|QKHLWGXUFKHLQHQ9LGHRÀOPYRUJHIKUW

47

Gerhard Schulze

auf dem der wunderbar anmutige Flug einer Plastiktüte im Wind festgehalten ist; atemlos folgen die Zuschauer den Bildern. Die Konzerthäuser verdanken ihre Existenz der gleichen Suche nach GHP *OFN GHU %HJHJQXQJ :LU ÀQGHQ VLH DXFK LQ DQGHUHQ SRVWNODVVLschen Formen des Musikhörens wieder. So konzentriert sich das Publikum des Jazzkonzerts auf das Improvisationsgeschehen im Hier und Jetzt, an das man näher herankommt, wenn man ein wenig mitmacht, den Takt schlägt und Zwischenapplaus gibt. Das Publikum des Popkonzerts verschmilzt zu einem kollektiven Ich, das im tausendarmigen, rhythmischen Händeklatschen über dem Kopf zu sich selbst kommt und mit ekstatischen Unisonoschreien die Götter auf der Bühne anruft.

'LHSRHWLVFKH6HLWHGHU0RGHUQH Es gibt auch eine Poesie des Popkonzerts, die dem Klassik-Kenner möglicherweise verschlossen bleibt. Die Kultur der Moderne hat viele Poesien hervorgebracht. Sie sind eine Realität eigener Art, die man im Konzertsaal ebenso erleben kann wie zu zweit in einer Nacht im Mai. Wenn jemand keinen Zugang zur Poesie hat, widerlegt dies nicht ihre Existenz, es ist nur ein Zeichen von Ignoranz. Dass die Kultur der Moderne Poesie hervorgebracht hat, wird seit eh und je vollkommen übersehen, weil alle nur ihre andere Seite wahrnehmen: Rationalität, Ernüchterung, Entzauberung, aber der Eindruck täuscht: Die Moderne ist beides, Schwärmerei und kalter Blick, Poesie und Prosa, Gefühl und Kalkül. Wo Kritiker der Moderne einen Gegensatz konstruieren, haben wir es eigentlich mit zwei Dimensionen zu tun, die erst gemeinsam den Raum der Moderne bilden. Ohne die rationale Seite der Moderne wäre das Grammophon nie erfunden worden, aber ohne die brennende Sehnsucht der Menschen nach Verzauberung durch Musik auch nicht.

9HUIJEDUNHLW'LH/|VXQJZLUG]XP3UREOHP In einer Hinsicht haben die Kritiker der Moderne allerdings Recht. Sie warnen vor einer wachsenden Asymmetrie zwischen den beiden Dimensionen. Jürgen Habermas fasst diese Kritik in der Formel von der halbierten Moderne zusammen. Es wird alles getan, um das Leben zu verbessern, nur gerät dabei allmählich das gute Leben selbst in

48

'LH(UÀQGXQJGHV0XVLN+|UHQV Vergessenheit. Die Mittel wenden sich gegen die Ziele. Die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Musik erdrückt das Musikerlebnis. Ein Blick auf die Geschichte der Verfügbarkeit von Musik zeigt einen jahrhundertelangen Steigerungspfad. Erst das Konzerthaus; dann Grammophon und Schallplatte; dann Recorder und Kassette; dann immer potentere Verstärker und immer gigantischere Lautsprecher; und schließlich in unseren Tagen die musikalische Instrumentalisierung von Computer, Internet, Telekommunikation und Medientechnik. Auf der eiQHQ6HLWHÀQGHQZLUQXQHLQXQHQGOLFKHUZHLWHUWHVXQGOHLFKW]XJlQJOLFKHV$QJHERWYRQ0XVLNGDWHLHQYRUDXIGHUDQGHUHQ6HLWHSURÀWLHUHQZLU vom Schrumpfen der Hardware fürs Abspielen auf ein winziges Format. Explosion der Optionen, Entmaterialisierung der Geräte – das komplette musikalische Werk von Bach passt in die Brusttasche. Inzwischen verfolgt uns Musik, wo wir gehen und stehen. Nirgendwo sind wir mehr sicher vor ihr. Ein allgegenwärtiger Teppich pausenloser Beschallung hat sich über die Welt gelegt. Man ruft irgendwo an und landet bei einem Computer, der einen mit Musik quält. Das Adagio des Klarinettenkonzerts von Mozart wirbt für Schokolade. Als ich im Frühstücksraum eines Hotels darum bat, die Musik abzuschalten, betrachtete mich der Kellner wie einen Geisteskranken. Das sei unmöglich, sagte er. Warum, fragte ich. Weil es Standard sei, war seine Antwort. Spätestens dann, wenn einem die Musik zum Hals heraus hängt, ist es tatsächlich so weit: Die halbierte Moderne wurde Wirklichkeit, die Verfügbarkeit von Musik hat die Poesie der Begegnung zerstört. Überall stößt man auf Symptome einer Pathologie der Ausnutzung. Vor lauter Abspeichern von Musik ohne Ende kommen viele nicht mehr zum Hören, vor lauter Hören von Musik kommen viele nicht mehr zum Erleben. Wenn 0XVLNHLQHQSHUPDQHQWXPÁLH‰WZLH:DVVHURGHU/XIWNDQQPDQQLFKW mehr von ihr berührt werden; sie mutiert vom Werk, dem man begegnet, zum Medium, das einen umschließt.

Was wird aus der Aura? Als Walter Benjamin im Jahr 1936 seinen Essay über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit an Theodor W. Adorno schickte, war von der Explosion der Verfügbarkeit von Musik im Alltagsleben noch wenig zu spüren; der Siegeszug des Grammophons stand gerade erst bevor. In diesem Schlüsseltext des 20. Jahrhunderts

49

Gerhard Schulze

redet Benjamin über die bildende Kunst und das Theater, er beschäftigt sich damit, was Photographie und Film daraus machen würden. Über Musik verliert er kein Wort, aber was er heute über die Wirkung von iPod und Internet auf das Musikhören sagen würde, lässt sich leicht ableiten. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks konstatiert Benjamin den Verlust einer Qualität, die er mit dem berühmt gewordenen Begriff der Aura bezeichnet. Aura ist der Hauch des Unerreichbaren, das Berührtwerden durch das Höchste, oder, in den Worten Benjamins, „die Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ Benjamin sieht eine Form der Kunstwahrnehmung bedroht, in der das Kunstwerk als etwas Heiliges und Einzigartiges im Mittelpunkt steht. Damit stimmt er in den Chor der Pessimisten ein: Technische Reproduzierbarkeit tötet die Kunst; mühelose Verfügbarkeit zerstört das Erlebnis; Perfektionierung der Mittel macht den Zweck zunichte, für den die Mittel da sind.

gIIHQWOLFKNHLWDOV5HVRQDQ]UDXP Aura ist der Hauch des Singulären. Sie entströmt physischen, zeitlichen und personellen Indikatoren der Einzigartigkeit. Aber es muss noch etwas hinzukommen: die Teilnahme an einem öffentlichen Ereignis. Musikalisch gesprochen, ist Aura ein Dreiklang. Einen Ton steuert das Innenleben des Zuhörers bei, das es so nur einmal auf der Welt gibt. Den zweiten Ton des Dreiklangs bringen die konkreten, einzigartigen Umstände hervor, unter denen der Zuhörer der Musik begegnet – vielleicht unterwegs auf der Autobahn im Radio, vielleicht im Wiener Musikvereinssaal. Der dritte Ton ist meinem Gefühl nach der lauteste. Er ist der Widerhall des Kunstwerks und seiner Darbietung im Resonanzraum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das im Konzert sichtbare Publikum ist nur der auffälligste Teil dieses Resonanzraums. Seine Anwesenheit erzeugt ein Charisma eigener Art, aber auch das Gebäude und seine Geschichte. Der Ruhm von Interpreten ist eine weiteres Element der kollektiven Konstruktion von Aura, die Rezeptionsgeschichte von Kompositionen, der Kanon der großen Namen in der Musikgeschichte, die Musikkritik. All dies wirkt im Bewusstsein des Zuhörers wie ein Fanfarenstoß. Aura ist ein Dreiklang. Die These von der Vollendung der Komposition im Ohr des Zuhörers verlangt nach einem Zusatz: An dieser Vollendung ist die Öffentlichkeit beteiligt. Konzertantes Musikhören ist ein gemeinsames Unternehmen mit Erlebnisimpulsen eigener Art.

50

'LH(UÀQGXQJGHV0XVLN+|UHQV

Wie sehr Benjamin mit dem Begriff der Aura den Nagel auf den Kopf getroffen hat, zeigt sich schon darin, dass immer mehr Menschen ins Museum gehen und Ausstellungen besuchen. Warum sehen sie sich die Bilder nicht im Internet an? Sie suchen die Begegnung mit dem Einzigartigen im Resonanzraum der öffentlichen Würdigung. Benjamins Prognose, so zeigt sich nun im Zeitalter der extrem weit fortgeschrittenen technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, war zu pessimistisch. (VVWLPPW]ZDU,QGHU$OOWDJVZHOWEHUÁXWHQXQV%LOGHUXQG0XVLNELV zum Abwinken. Sich auf alles einzulassen, ist unmöglich. Aber genau danach – sich auf etwas einzulassen – sehnen sich die Menschen umso mehr. In einer Welt totaler Verfügbarkeit hat das Unwiederholbare als öffentliches Ereignis Konjunktur wie nie zuvor. Dies gilt nicht nur für bildende Kunst und ernste Musik. Restaurateure schlagen den Verputz von historischen Mauern, um an die Aura der alten Steine heranzukommen. Auf der Suche nach Aura strömen die Menschen ins Fußballstadion, statt sich das Spiel im Fernsehen anzuschauen. Als der letzte Papst starb, fuhren Millionen nach Rom, und sie kamen wieder, als sein Nachfolger gewählt wurde. Fans laden sich Unmengen von Popmusik herunter, aber das ist nichts gegen das Livekonzert – wenn einer der Götter kommt, sind die Karten innerhalb von Stunden ausverkauft. Was wird nun aus den Konzertsälen? Was wird aus dem Jazz? Was wird aus den Popkonzerten? Gerade in unseren Tagen zeichnet sich eine bei Benjamin unvorhergesehene Entwicklung ab: Die technische Reproduzierbarkeit hat eine neue Qualität erreicht. Sie kann Aura herstellen, statt sie zu zerstören. Vergangenes Jahr zogen Live-Übertragungen von Opern, die in New York und Salzburg aufgeführt wurden, insgesamt 365 000 Menschen in ihren Bann. Sie alle waren bereit, sich zum =HLWSXQNW GHU $XIIKUXQJ DQ HLQHP |IIHQWOLFKHQ 3ODW] HLQ]XÀQGHQ ZR die Aufführung übertragen wurde. Es war nicht der Originalschauplatz, dennoch wurde das Ereignis auf diese Weise zu einem unverwechselbaren und unwiederholbaren öffentlichen Ereignis. Kinos, ausgestattet mit High-Tech-Akustik, zeigen Operinszenierungen aus den berühmtesten Häusern der Welt; jede Vorstellung ist ausverkauft. Warum sehen sich die Leute dasselbe Material nicht zu Hause mit dem Beamer an? Weil sie auf der Suche nach Aura sind. Ein anderes Beispiel ist die jüngste Entwicklung der Popmusik-Branche. Fans nutzen technische Reproduzierbarkeit, um Stars zu entdecken und sich zu informieren. Worauf es ihnen aber nach

51

Gerhard Schulze

wie vor ankommt, ist die persönliche Nähe – dafür sind sie bereit, immer höhere Eintrittspreise zu bezahlen. Die Entwicklung des Musikhörens im 21. Jahrhundert wird geprägt sein von der Suche nach dem einzigartigen Erlebnis, wie die Entwicklung des Musikhörens im 20. Jahrhundert geprägt war von der Faszination an Verfügbarkeit. Gerade das inzwischen erreichte Ausmaß der Reproduzierbarkeit von Musik kann Aura schaffen. Technische Reproduzierbarkeit hat nicht dazu geführt, dass dem Publikum das Verlangen nach Aura abhanden kam, sie hat die Sehnsucht danach noch verstärkt, und inzwischen trägt sie sogar selbst zum Dreiklang der Aura bei.

/LWHUDWXU Benjamin, Walter (2007): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M., (zuerst erschienen 1936): Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Band I und II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

52

'HU(LQÁXVV|NRQRPLVFKHU*U|‰HQDXI GLH(QWZLFNOXQJGHV.RQ]HUWZHVHQV 0LFKDHO+XWWHU „Wer soll das bezahlen, Wer hat das bestellt, Wer hat so viel Pinkepinke, Wer hat so viel Geld?“

„Wer soll das bezahlen, wer hat soviel Geld?“ Mit dem „das“ wäre das klassische Konzertwesen gemeint, mit dem ich mich hier aus ökonomischer Perspektive auseinanderVHW]H,FKÀQGHHVGDEHLKLOIUHLFKPLUXQWHUGHP.RQ]HUW:HVHQWDWVlFKlich etwas Lebendiges vorzustellen, ein Wesen, das im 18. Jahrhundert in den Hofkonzerten auftauchte, über das 19. Jahrhundert hin wuchs und SUROLIHULHUWHXQGGDVKHXWHLPVLOEHUQHQ.lÀJGHUVWDDWOLFKHQ)UVRUJH lebt, auf Trab gehalten von den Leckereien der Musikindustrie. Warum ist das K-Wesen so teuer? Und welches Interesse haben private und staatliche Entscheidungsträger daran, ihr Pinkepinke auszugeben, damit in Deutschland pro Jahr etwa 8000 Konzertveranstaltungen mit HWZD0LOOLRQHQ=XK|UHUQVWDWWÀQGHQN|QQHQ" Das sind die beiden Fragen, mit denen ich mich beschäftigen werde. Erst die Frage, warum das klassische Konzertwesen so teuer ist, dann die Frage, wer Geld wofür ausgibt, und welche Konsequenzen das für das Konzertwesen hat. Beide Fragen haben mit der Wirkung „ökonomischer Größen“ zu tun. „Ökonomisch“ ist allerdings in diesem Zusammenhang zweideutig – deshalb auch die zwei unterschiedlichen Fragen. Der ersten Interpretation zufolge sind die ökonomischen Größen Marktpreise. Marktpreise, in der Regel ausgedrückt in Geldeinheiten, sind Signale, die die Produktion und Zuteilung knapper Ressourcen koordinieren, und diese Signale betreffen

0LFKDHO+XWWHU und treffen auch das K-Wesen. Der zweiten Interpretation zufolge sind alle Größen ökonomisch, die der Durchsetzung einer Zielsetzung dienen, und die nur beschränkt verfügbar sind, auch für ein Orchester oder ein Aufführungshaus oder ein Kulturdezernat. Vereinfacht kann man sagen, dass die erste Interpretation volkswirtschaftlich, die zweite betriebswirtschaftlich ist. Beide haben ihre Berechtigung, aber die beiden sollten nicht durcheinander gebracht werden. Die Antwort auf die Frage, warum das Konzertwesen so teuer geworden ist, hat primär mit Marktpreisen zu tun. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat das klassische Konzertwesen drei technologische Schläge hinnehmen müssen, und der vierte hat gerade erst getroffen. Der erste Schlag bestand in der Möglichkeit, Klänge über elektromagnetische Wellen zu übertragen und zu verbreiten. Die 0XVLNEHUWUDJXQJPLWWHOV5DGLRVHQGHUQXQGHPSIlQJHUQSURÀWLHUWHYRQ den militärischen Weiterentwicklungen während des ersten Weltkriegs und wuchs weltweit, je nach Land in privater oder in staatlicher Regie, in den Jahrzehnten danach zu einer ausgereiften Technologie. Der zweite Schlag bestand in der stabilen Speicherung und Reproduktion von Musikaufnahmen. Musikaufzeichnungen waren zwar schon im 19. Jahrhundert mittels Wachswalzen möglich, aber erst nach 1950 ermöglichten die Aufnahmeverfahren und die Pressung auf Vinylplatten eine Abspielqualität, die mit Live-Aufführungen konkurrieren konnte. Der dritte Schlag bestand in der Möglichkeit der Klangverstärkung. Wenige Instrumente mit elektrischen Verstärkern konnten Räume beschallen, für die zuvor große, oft über hundert Musiker starke Klangkörper benötigt wurden. Der vierte Schlag besteht in der Wende hin zur Herstellung, 9HUEUHLWXQJXQG9HUQHW]XQJGLJLWDOHU.ODQJGRNXPHQWHRGHUVRXQGÀOHV Dieser technologische Sprung ist so groß, dass ich ihn heute nur streifen werde. Unter einem klassischen Konzert versteht man gemeinhin eine Aufführung mit materiellen, also analogen Klanginstrumenten, die oft mit großem Aufwand den Herstellungsbedingungen der historischen Periode einer Komposition angepasst, aber nur in seltenen Fällen elektrisch verstärkt werden, und die unter Anwesenheit eines Publikums aufgeführt werden. Derartige Aufführungen können sich die technologischen Innovationen nur sehr begrenzt zunutze machen. Aber dennoch werden sie massiv von deren Auswirkungen getroffen, und zwar über die damit verbundenen Verschiebungen in den Marktpreisen.

54

'HU(LQÁXVV|NRQRPLVFKHU*U|‰HQ Um diese Wirkungen zu verstehen, müssen wir uns einen Musiker einfach als Handarbeiter vorstellen. Alle vier Innovationsschübe erhöhen durch ein technisches Hilfsmittel die Ertragsleistung eines Arbeiters. :HQQHLQIQI]LJN|SÀJHV2UFKHVWHURKQH5DGLREHUWUDJXQJDEHU mit Übertragung 100000 Zuhörer erreicht, dann ist die Produktivität jedes einzelnen Musikarbeiters um das Hundertfache gestiegen. Wenn das einmal aufgeführte Werk gespeichert und 1000-mal wiederholt werden kann, und wenn fünf Musiker die gleichen Hallen bespielen können wie die 50, dann steigt die Produktivität wieder um das Tausend- und um das Zehnfache. Zugegeben, ich habe der Einfachheit halber die Produkte, die in Handarbeit oder in Industriefertigung entstehen, gleich gesetzt, aber bei einer Relation von Eins zu einer Million fallen derlei Unterschiede erst einmal nicht ins Gewicht. Die Konsequenzen dieser Produktivitätsverschiebung hat erstmals William Baumol, einer der bedeutendsten US-Ökonomen, 1966 in einer Studie zur Lage der amerikanischen Symphonieorchester ausbuchstabiert. Der Output von klassischen Orchestern kann durch die Medien zur Übertragung, Speicherung und Verstärkung von Musik nicht wesentlich gesteigert werden. Gleichzeitig gibt es aber andere Berufsgruppen, die an diesem und an anderem technischen Fortschritt partizipieren können. Die Leistungserhöhung der Arbeiter erhöht ihr Einkommen, dadurch können sie für Konsumgüter mehr zahlen. In der Folge steigt das Preisniveau für die Konsumgüter, so dass die Kaufkraft der Arbeiter in all den Berufen, die technisches Kapital nur unterdurchschnittlich einsetzen können, sinkt. (QWZHGHUVWHUEHQGDQQGHUOHL%HUXIHDXVRGHUVLHÀQGHQGRFKHLQHQ:HJ GLH7HFKQLNLQLKUH7lWLJNHLWHLQ]XEDXHQRGHUVLHÀQGHQMHPDQGHQGHU für ihre Leistungen trotz des stagnierenden Outputs ständig mehr zu zahlen bereit ist. Alle drei Varianten lassen sich in der Geschichte des Konzertwesens beobachten, insbesondere die zweite und die dritte sind als Entwicklungspfade relevant geworden. Ein Teil des Konzertwesens ist unter den neuen technischen BeGLQJXQJHQ ÀQDQ]LHOO EHUOHEHQVIlKLJ XQG HUIROJUHLFK JHZRUGHQ 'LH Verstärkung hat die kleinen Ensembles der Rockmusik hervorgebracht. Die Aufzeichnung hat in der populären und in der klassischen Musik Starensembles hervorgebracht, die die industriellen Größenvorteile der Tonträgerverteilung ausnutzen, weltweit bekannt werden und die so erzeugte Nachfrage sowohl durch Studioaufnahmen als auch durch

55

0LFKDHO+XWWHU Live-Aufführungen monetär abschöpfen. Die Radio- und später die Fernsehübertragung hat neue Genres der Hintergrundmusik hervorgebracht. Wir können also einen neuen Zweig der Konzertentwicklung beobachten, in dem sich eher kleine Ensembles durchsetzen, die in einer Mischung aus Live-Konzerten, Konzertübertragungen und Tonkonserven ein erfolgreiches Geschäftsmodell gefunden haben. Für das klassische Konzertwesen, vor allem in Deutschland, ist aber der andere Entwicklungspfad relevanter geworden, derjenige, bei dem staatliche Haushalte dazu gebracht worden sind, den größten Teil der ständig steigenden Kosten zu übernehmen. Das K-Wesen hat also seinen Halter gewechselt. Nicht mehr der Impresario oder der Konzertveranstalter, sondern der Kulturdezernent oder der Ministerialdirektor sorgen dafür, dass Orchestermusiker, Sänger, Solisten, Dirigenten und ein paar Komponisten von ihrer Arbeit leben können. Das liegt daran, dass erfolgreich argumentiert wurde, dass sich die Verantwortung der Haushalte von Gemeinden, Teilstaaten und Gesamtstaaten auch auf das Konzertwesen erstreckt. Orchester erbringen ein Kollektivgut, das der gesamten Gemeinschaft – der Stadt, dem Land, der Nation – ideelle und auf Umwegen auch monetäre Vorteile bringt. Diese Argumentation ist in Deutschland deutlich erfolgreicher gewesen als in allen anderen Ländern. Der Staat und seine Teilkörperschaften haben den Aufwand für den Konzertbetrieb übernommen. Aber selbst steigende Einnahmen und ständig erhöhte Zuschüsse – in den letzten zehn Jahren sind sie um gut 20 Prozent angewachsen – können die immer weiter auseinander klaffende Produktivitätsschere nicht ausgleichen. Beide Entwicklungspfade sind also das Ergebnis der in Geldpreisen ausgedrückten Knappheiten, die die klassische Aufführungspraxis so relativ teuer gemacht haben und sie auch in Zukunft immer noch teurer machen werden. Das war die volkswirtschaftliche, jetzt komme ich zur betriebswirtschaftlichen Betrachtung. Zur Erinnerung: Für einen Haushalt sind alle Größen ökonomisch, die der Durchsetzung seiner Ziele dienen, und die nur beschränkt verfügbar sind. Solche „Ökonomien“ können als Familienverbünde oder -betriebe ausgestaltet sein oder als der in einer Kostenrechnung abgebildete Haushalt einer Aktiengesellschaft oder eines Opernhauses oder einer Rundfunkanstalt oder einer Gebietskörperschaft. Orchester bewegen sich, seit das Konzertwesen in die öffentlichen Hände

56

'HU(LQÁXVV|NRQRPLVFKHU*U|‰HQ genommen wurde, in der Ökonomie der Gebietskörperschaften, also insbesondere der von Kommunen und Bundesländern, denen die Aufgabe der Kulturgrundversorgung zugerechnet wird. Nachdem in Deutschland außerdem eine Abgabe auf den Gebrauch von Empfangsgeräten erhoben wird, gehören dazu auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die einen Teil dieser so genannten Grundversorgung übernehmen. Die Anpassung an die speziellen Gegebenheiten von staatlichen und para-staatlichen Haushalten folgte und folgt einigen grundlegenden, nur schwer veränderbaren Mustern: Zum Ersten spalten sich diejenigen Formationen ab, die ihre Leistungen auf dem Markt für Freizeitgüter gewinnbringend verkaufen können, die also die Produktivitätsschere schließen können. Das gelingt auch im Bereich der klassischen Musik bei Formationen oder Solisten, die ihre Personalkosten niedrig halten können, und die mit der Summe aus Tonträgertantiemen und Konzertgagen Gewinne erzielen können. Dieses Einkommen ist in vielen Fällen immer noch gering und vor allem riskant, aber dennoch sind solche Kleinunternehmen eine beliebte Organisationsform. Dann bleiben noch diejenigen Formationen, die sich „nicht rechnen“. Dazu gehören die großen Ensembles, die auch Werke aus der Blütezeit des Konzertwesens aufführen können, wie etwa die Symphonien von Mahler, Bruckner und Richard Strauß. Auch Kompositionsexperimente rechnen sich nicht, weil sie den Musikern eine ungewöhnlich lange Vorbereitungszeit abverlangen, und weil sie gleichzeitig von einer Minderheit der Musikinteressierten genug geschätzt werden, um ihnen zumindest die eigene Zeit des Zuhörens zu schenken. Das bedeutet für den Haushalt eines Gemeinwesens, dass ihm nur die schwierigen und damit teuren Fälle bleiben. Man kann durchaus der Meinung sein, dass gerade diese Konzertangebote für das musikalische Gedächtnis und für die musikalische Weiterentwicklung einer Gesellschaft wichtig sind, aber in jedem Fall ist zu konstatieren, dass sich eine „adverse Selektion“, wie das unter Wirtschaftstheoretikern heißt, einstellt. Zum Zweiten kommen in der Ökonomie eines staatlich geförderten Orchesters Nachfragergruppen vor, die sich als Investoren verstehen, weil VLHMDGHQ%HWULHEGHV.ODQJN|USHUVÀQDQ]LHUHQ6RODQJHGD]XGDV3ULQ]LS GHU'HÀ]LWÀQDQ]LHUXQJYHUZHQGHWZXUGHNRQQWHQGLH(QVHPEOHVXQJHVW|UW LKUHHLJHQHQ4XDOLWlWV]LHOHYHUIROJHQ6HLWGHPGLHVH5HVVRXUFHÀ[LHUWLVW müssen die politischen und sonstigen Erwartungen der Entscheidungsträger GHU.XOWXUÀQDQ]LHUXQJDOVRHWZD0LQLVWHU$EWHLOXQJVGLUHNWRUHQ, Rund-

57

0LFKDHO+XWWHU funkredakteure und Kulturdezernenten, berücksichtigt werden. Außerdem dürfen die Repertoire- und Stil-Erwartungen der Abonnenten, die ja langfristige Nutzungsverträge abgeschlossen haben, nicht enttäuscht werden. 'LH 3UHLVSROLWLN GHU $XIIKUXQJVKlXVHU UHÁHNWLHUW DOVR GHQ SROLWLVFKHQ Willen zum einigermaßen gleichen Kulturzugang, nicht die Maximierung von Einnahmen, und die Vergütung der Konzertorchester nach der Zahl GHU3ODQVWHOOHQUHÁHNWLHUWGDV%HGUIQLVGHU=XZHQGXQJVJHEHUQDFKHLQdeutiger Berechnungsgrundlage, nicht die künstlerische Leistung. Wenn darüber hinaus steigende Eigenbeiträge erwartet werden, dann müssen die Konzertanbieter, Ensembles wie Häuser, sich auch noch Aktivitäten einfallen lassen, mit denen sie weitere Nachfragergruppen, etwa Kinder oder Sponsoren, gewinnen. Zum Dritten gestalten sich Lohnverhandlungen in staatlichen Haushalten nach eigenen Gesetzmäßigkeiten. In privaten Unternehmen sind die Lohnforderungen der Belegschaft beschränkt durch die Zahlungsfähigkeit der Unternehmen. In den Branchen, in denen die Lohnkosten stärker steigen als die Produktivität, schließen die Unternehmen, oder sie wandern ab. In VWDDWOLFKÀQDQ]LHUWHQ8QWHUQHKPHQIHKOWGLHVH6FKZHOOH:HQQGLH$UEHLWHU gut organisiert sind, können sie auch Lohnforderungen ohne Rücksicht auf eine vom technischen Fortschritt abgekoppelte Produktivität durchsetzen. In Deutschland ist der Grad der gewerkschaftlichen Organisation der Orchester besonders hoch. Dem Bühnenverein, als Verhandlungsvertreter der staatlichen Geldgeber, steht die Deutsche Orchestervereinigung für die Musiker gegenüber, während die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di die nichtkünstlerischen Mitarbeiter gegenüber den öffentlichen Dienstherren vertritt. Die Institution des TKV, des Tarifvertrags für Musiker in Kulturorchestern, ist weltweit einzigartig. Er regelt Vergütungen, Arbeits]HLWHQ XQG 0LWZLUNXQJVSÁLFKWHQ %HL ZHLWHUKLQ VWHLJHQGHQ .RVWHQ HQWsteht Druck auf die beiden Gewerkschaften, Löhne zu senken und Arbeitszeiten zu erhöhen. Aber die Dienstleistervertreter lassen sich nicht vom Rest des öffentlichen Dienstes abkoppeln, und die Musikervertreter bestehen mit Verweis auf die Besonderheiten des Orchesterbetriebs auf Dienstzeiten, die längere Orchesterproben zum Luxus machen. Die einzelnen Interessengruppen verhalten sich ökonomisch rational, aber es fehlt ein neutraler Koordinationsmechanismus, der unbezahlbare Zustände verhindert. Wir können nun die beiden ökonomischen Interpretationen zusammenfügen: Wenn sich die Klangkörper und –häuser in dieser Weise rational

58

'HU(LQÁXVV|NRQRPLVFKHU*U|‰HQ verhalten, und wenn das unter den zuvor skizzierten Verhältnissen relaWLYVLQNHQGHU3URGXNWLYLWlWVWDWWÀQGHWGDQQZLUGGDVVWDDWOLFKJHI|UGHUte Konzertwesen in Teilen zusammenbrechen. Die Arbeitnehmervertreter werden entsprechende Anpassungen und Kürzungen nicht zulassen, bis der 3XQNWHUUHLFKWLVWDQGHPGHU3RSXODULWlWVYHUOXVWEHLGHU$XÁ|VXQJYRQ Ensembles die kommunal- und rundfunkpolitischen Entscheidungsträger weniger schreckt als die Gefahren weiter steigender Verschuldung. Ich glaube, dass das Konzertwesen auch diese Krise überleben wird. Es wird Formen entwickeln, die sich über Kombinationen von staatOLFKHQ XQG SULYDWHQ (LQQDKPHQ ÀQDQ]LHUHQ VRZRKO DXI LQGLYLGXHOler als auch auf Ensembleebene. Diejenigen, denen das Aufführen von 0HLVWHUNRPSRVLWLRQHQGHU0XVLNWUDGLWLRQXQGYRQQHXHQ0XVLNHUÀQGXQJHQ zum Lebenszweck geworden ist, und diejenigen, denen das Zuhören bei VROFKHQ$XIIKUXQJHQZLFKWLJLVWZHUGHQDXFKGDIU/|VXQJHQÀQGHQ

$QPHUNXQJ Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.

59

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ ]ZLVFKHQ3XEOLNXPVVFKZXQG XQG3XEOLNXPVHQWZLFNOXQJ (PSLULVFKH'DWHQ]XU0XVLNDXVELOGXQJGHP 0XVLNHUEHUXIXQGGHQ.RQ]HUWEHVXFKHUQ

+HLQHU*HPEULV %HUXIVDXVELOGXQJLQNODVVLVFKHU0XVLN=XYLHO XQGDP0DUNWYRUEHL" Kaum ein anderes Land verfügt über eine solche Dichte an Ausbildungsplätzen für professionelle Musiker wie Deutschland. In den Jahren zwischen 1997 und 2007 ist die Zahl der Absolventen, die an einer der 24 deutschen Musikhochschulen ihr Studium als Instrumentalbzw. Orchestermusiker abgeschlossen haben, insgesamt kontinuierlich von 1408 (1997) auf 1908 (2007) gestiegen (Quelle: Deutscher Musikrat, 2008a; s. Abb. 1).

$EE(QWZLFNOXQJGHU$EVROYHQWHQ]DKOHQGHXWVFKHU+RFKVFKXOHQ Gesang

1.761

2001

1.765

2000

1.797

1999

1.451

1998

1.648

1997

1.543

1.444

1996

1.568

1.408

1000

1.316

1500

2003

2004

2005

1.906

Jazz und Popmusik 1.985

Instrumental-, Orchestermusik 2000

2006

2007

500 0 2002

Quelle: Deutscher Musikrat (2008a). Abgelegte Prüfungen in Studiengängen für Musikberufe. Verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/statistik13.pdf [5.1. 2009]

+HLQHU*HPEULV 5HFKQHW PDQ GLH RIÀ]LHOOHQ =DKOHQ ]XVDPPHQ GDQQ KDEHQ LQ GLHsem Zeitraum 18276 examinierte Musiker die Hochschulen verlassen, um als Solisten oder Orchestermusiker ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Gleichzeitig geht die Anzahl der Planstellen in den deutschen Kulturorchestern Jahr für Jahr zurück. Nach Statistiken des Deutschen Musikrats (2008b) bzw. der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) ist sie im Zeitraum zwischen 1992 und 2008 kontinuierlich um insgesamt 17,4 Prozent von 12159 auf 10037 Planstellen gesunken (Deutscher Musikrat, 2008b, verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/ statistik16. pdf). Seit Jahren setzt sich also eine Entwicklung fort, die man als größer werdende Schere zwischen wachsender Anzahl der ausgebildeten Musiker und schrumpfender Zahlen an Beschäftigungsmöglichkeiten beschreiben kann. Vor diesem Hintergrund haben Gembris / Langner (2005) bereits vor einigen Jahren eine Studie durchgeführt, die der Frage nachging, wie die Karriere der Musikhochschulabsolventen weitergeht, wenn sie die Musikhochschule verlassen haben. Dazu wurden Absolventen von sieben deutschen Musikhochschulen per Fragebogen ]X LKUHP EHUXÁLFKHQ :HUGHJDQJ QDFK GHP ([DPHQ EHIUDJW 9RQ GHQ 2080 verschickten Fragebögen kamen 659 beantwortet zurück, was einer Rücklaufquote von 32 Prozent entspricht. Von diesen stammten 418 von Absolventen der künstlerischen Ausbildungsgänge, also von denjenigen, deren Berufsziel Solist oder Orchestermusiker war. Die Gruppe dieser Absolventen setzte sich aus 160 Streichern, 108 Bläsern, 100 Sängern und 50 Pianisten zusammen. Die meisten von ihnen (82 Prozent) verdienten ihren Lebensunterhalt mit dem, was sie studiert hatten, nämlich mit Musik. Das ist durchaus bemerkenswert, denn in anderen Studiengängen, z.B. im Bereich der Geisteswissenschaften, liegt der Anteil derer, die ihren Lebensunterhalt mit dem verdienen, was sie studiert haben, erheblich niedriger. Vollzeitbeschäftigt im Bereich der Musik war jedoch nur ein kleinerer Teil. Von den Streichern hatten zum Zeitpunkt der Befragung 38 Prozent eine Stelle (befristet oder unbefristet), von den Bläsern 42 Prozent, von den Sängern 38 Prozent und von den Pianisten nur 14 Prozent. Im Falle der Pianisten (von denen praktisch alle eine Karriere als freischaffende Solisten anstrebten, die keiner erreicht hat) handelte es sich bei den festen Stellen um Positionen als Klavierlehrer an einer Musikschule. Weit EHUGLH+lOIWHGHUEHIUDJWHQ0XVLNHUZDUIUHLEHUXÁLFKWlWLJEHUZLHJHQG im Bereich der Musik allein oder in Kombination mit außermusikalischen Tätigkeiten, oder sie gingen vollständig außermusikalischen Tätigkeiten

62

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ nach, was aber selten vorkam (5 Prozent). Bei der Bewertung dieser Zahlen muss man berücksichtigen, dass lediglich etwa ein Drittel der Befragten geantwortet hat, über die restlichen zwei Drittel liegen kaum ,QIRUPDWLRQHQYRU:LUYHUPXWHQGDVVKDXSWVlFKOLFKGLHEHUXÁLFKHUIROJreicheren Absolventen geantwortet haben. Eine Non-Responder-Analyse wurde (soweit das möglich war) durchgeIKUWXPKHUDXV]XÀQGHQZDUXPGHUJU|‰HUH7HLOQLFKWJHDQWZRUWHWKDWWH und in welchen Bereichen diese Musiker tätig waren. Diejenigen, die erUHLFKWZHUGHQNRQQWHQZDUHQKlXÀJQLFKWPHKULPPXVLNDOLVFKHQ%HUHLFK tätig und gingen anderen Beschäftigungen nach. Ähnliche Ergebnisse wie Gembris / Langner (2005) hat Janet Mills (2006) herausgefunden, die insgesamt 908 Absolventen einer britischen Musikhochschule befragt hat. Nach den Daten von Mills verdienten ebenfalls 82 Prozent ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit Musik, 7 Prozent waren nicht mehr im Bereich Musik tätig (bei Gembris / Langner: 5 Prozent, s.o.). Typisch für GLHEHUXÁLFKH7lWLJNHLWGHU0XVLNHUZDUZHQLJHUHLQHIHVWH6WHOOHDOVYLHOmehr die Ausübung mehrerer musikalischer Erwerbstätigkeiten („PortfolioKarrieren“). Mills schreibt: „The careers […] typically involve more than one musical activity: performing, composing, teaching and so forth” und stellt fest: „portfolio careers are a longstanding feature of work in music.“ 0LOOV 'DV9HUKlOWQLV]ZLVFKHQ)HVWDQVWHOOXQJXQGIUHLEHUXÁLcher Tätigkeit bei Musikern hat sich in den letzten 30 Jahren umgekehrt. In einer anderen Studie von Mills / Smith (2006) mit Absolventen der Royal Academy of Music in London lag der Anteil der fest beschäftigten Musiker EHLFD3UR]HQWGHUGHUIUHLEHUXÁLFK7lWLJHQEHLFD3UR]HQW,P Jahr 1995 war das Verhältnis genau umgekehrt (s. Abb. 2).

$EE7KHFDUHHURIDOXPQLRIWKH5R\DO$FDGHP\RI0XVLF 0LOOV 6PLWK 100% 80% 60% 40% 20% 0% 1979

1980

Single job (one area of work)

1985

1990

1995

Portfolio career (two or more areas of work)

63

+HLQHU*HPEULV 9HUPXWOLFKOLHJWGHU$QWHLOGHUIUHLEHUXÁLFK7lWLJHQKHXWHQRFKGHXWOLFK höher. Im englischsprachigen Bereich werden die Rahmenbedingungen für GLH EHUXÁLFKH 7lWLJNHLW YRQ SURIHVVLRQHOOHQ 0XVLNHUQ PLW GHQ %HJULIIHQ „part-time, self-employed, low-paid, multi-activity working“ charakterisiert (s. auch Nightingale, 2007). Diese Tendenz zeigt sich auch in den Statistiken EHU GLH IUHLEHUXÁLFK LQ GHU 0XVLN 7lWLJHQ GHU .QVWOHUVR]LDONDVVH 'DQDFK JDE HV LP -DKU  HLQH =DKO YRQ  IUHLEHUXÁLFK 7lWLJHQ im Versichertenbestand der Künstlersozialkasse. Im Jahr 2007 hat sich diese Zahl mehr als verdoppelt und ist auf 42198 gestiegen (s. Abb. 3; Deutscher Musikrat 2008c, verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/ XSORDGVVWDWLVWLNSGI 'LH$Q]DKOGHUIUHLEHUXÁLFKHQ2UFKHVWHUPXVLNHU ist in der relativ kurzen Zeit von 2004 bis 2007 um 25,3 Prozent gestiegen (Durchschnittsjahreseinkommen 2007: 8095 €), die der Opern-, Operettenund Musicalsänger um 24,2 Prozent (Durchschnittsjahreseinkommen 2007: 8917 €), die der Chorsänger im Bereich „Ernste Musik“ um 22,7 Prozent (Durchschnittsjahreseinkommen 2007: 7562 €; Deutscher Musikrat 2008d, nach Angaben der Künstlersozialkasse, Stand 11.11. 2008, verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/statistik85.pdf). Eine wachsende Zahl gut ausgebildeter und schlecht bezahlter Musiker steht also bereit, Angebote im Bereich klassischer Musik zu machen und musikalische Dienstleistungen zu erbringen. Wie sieht es mit der Nachfrage aus?

$EE)UHLEHUXÁLFK7lWLJHLQGHU6SDUWH0XVLNQDFK 9HUVLFKHUWHQEHVWDQGGHU.QVWOHUVR]LDONDVVH 50.000

2003

2004

42.198

2002

40.264

2001

39.628

36.974

2000

35.134

29.464

1999

33.097

27.742

10.000

20.188

20.000

24.289

30.000

31.375

40.000

2005

2006

2007

0 1995

1997

4XHOOH'HXWVFKHU0XVLNUDW F )UHLEHUXÁLFK7lWLJHLQGHU6SDUWH0XVLNQDFK9HU sichertenbestand der Künstlersozialkasse. Verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/ uploads/statistik53.pdf

64

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ

$QJHERWXQG1DFKIUDJH 0HKU.RQ]HUWH²ZHQLJHU3XEOLNXP Wenn man sich Statistiken über die Anzahl der veranstalteten Konzerte in den vergangenen Jahren anschaut, stellt man fest, dass das Konzertangebot insgesamt gewachsen ist. In der Saison 1993/94 gab es insgesamt 5344 Konzertveranstaltungen, in der Saison 2006/07 ist diese Zahl auf 8414 Veranstaltungen gestiegen, was einer Steigerung um 57 Prozent entspricht (s. Abb. 4).

$EE$Q]DKO.RQ]HUWYHUDQVWDOWXQJHQLQJHVDPW Konzerte insgesamt

Anzahl Konzerte

10.000 8.000 6.000 4.000

6 /0 05

20

04 20

20

03

/0

/0

5

4

3

2

/0

20

02

/0

/0 1

01 20

0 /0

00 20

19 9

9

/9

19 9

8

/9 7

19 9

9

8

7

6

/9

/9

6 19 9

5

5

/9

19 9

4 19 9

19 9

3

/9

4

2.000

Spielzeit Quelle: Deutscher Musikrat (2008e). Verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/ statistik20.pdf

Die Besucheranzahl ist im selben Zeitraum ebenfalls angestiegen (von 3341646 in der Saison 1993/94 auf 3941835 in der Saison 2006/07), allerdings nur um ca. 18 Prozent (Deutscher Musikrat, 2008f, verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/statistik20.pdf). Etwas anders sieht es beim Musiktheater aus. Hier verzeichnen die Statistiken insgesamt sowohl einen Rückgang der Veranstaltungen als auch einen Rückgang der Besucherzahlen. So sank die Anzahl der Musiktheaterveranstaltungen von 15502 Veranstaltungen in der Saison 1993/94 auf 12801 Veranstaltungen in der Saison 2006/07, was einem Rückgang von 17,5 Prozent entspricht. Die Besucherzahl sank im selben Zeitraum von 9829868 Besuchern auf 7733728 Besucher. Das entspricht einem Rückgang von 21,3 Prozent (Deutscher Musikrat / Deutscher Bühnenverein, 2008, verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/statistik21.pdf). Diese Statistiken sind mit Vorsicht zu betrachten,

65

+HLQHU*HPEULV weil sie durch verschiedene Umstände wie fehlende Meldungen der Veranstalter nicht vollständig korrekt sind. Auch wenn die Entwicklungen LP.RQ]HUWEHUHLFKXQG0XVLNWKHDWHUEHUHLFKJHJHQOlXÀJ]XVHLQVFKHLQHQ laufen sie auf dieselbe Situation hinaus. Das Verhältnis zwischen Angebot an Musikveranstaltungen und Besucherzahlen entwickelt sich scherenartig auseinander: Relativ gesehen steht ein kleineres Publikum einer größeren Anzahl an Veranstaltungsangeboten gegenüber. Das bedeutet insgesamt, dass mehr Musikveranstaltungen in Konkurrenz um ein schwindendes Publikum stehen. Das Schwinden des Publikums für Veranstaltungen mit klassischer Musik wird auch aus einer anderen Perspektive sichtbar.

'LH6WUXNWXUGHU.RQVXPHQWHQNODVVLVFKHU 0XVLNZHQLJ-XQJH²YLHOH$OWH Wer heute ein Konzert mit klassischer Musik oder eine Opernaufführung EHVXFKW ÀQGHW VLFK LQ HLQHU *HVHOOVFKDIW HUJUDXWHU +HUUVFKDIWHQ ZLHder, in die sich kaum jüngeres Publikum verirrt. Eine Reihe von teilweise repräsentativen Studien zeigt, dass das Durchschnittsalter des Konzertpublikums zwischen 55 und 60 Jahren liegt (z.B. Neuhoff 2001; Hamann 2005a, b; Kreutz et al. 2003; Gembris / Forge / Kerkloh / Vogel / Hassold 2006; Mende / Neuwöhner 2006). Nach Untersuchungen von Hamann (2003, 2005) ist das Durchschnittsalter des Klassikpublikums in den vergangenen 20 Jahren dreimal so schnell angestiegen (um ca. 11 Jahre) wie das Durchschnittsalter der Bevölkerung (ca. 3,4 Jahre). Prognosen für die Zukunft verheißen nichts Gutes: Wenn die ComputerSimulation, die Hamann (2005a) durchgeführt hat, richtig ist, wird das Klassik-Publikum in den nächsten 30 Jahren um ca. 36 Prozent zurückgehen. Das steigende Alter des Publikums in den Konzertsälen und Opernhäusern ist nicht darauf zurückzuführen, dass Erwachsene mit zunehmendem Lebensalter eine Vorliebe für Klassische Musik entdecken (auch wenn das hier und da der Fall sein mag). Stattdessen handelt es sich hauptsächlich um einen Generationseffekt. Dies wird in der von Hamann (2008) erarbeiteten Graphik veranschaulicht (s. Abb. 5). Sie zeigt den prozentualen Anteil verschiedener Alterskohorten des Publikums zu drei verschiedenen Zeitpunkten (1987 – 1995 – 2003). Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Im Jahr 1987 bildete die Altergruppe der 46- bis 53-Jährigen, die der Kohorte der in Jahrgängen der 1942-1949 geborenen angehören, mit 17,4 Prozent der Konzertbesucher

66

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ

$EE*HQHUDWLRQVVSH]LÀVFKH9HUWHLOXQJXQWHUVFKLHGOLFKHU .RKRUWHQLQ.ODVVLN.RQ]HUWHQ +DPDQQ

In Prozent

Jahrgänge 1974 - 1981 Jahrgänge 1966 - 1973 Jahrgänge 1958 - 1965 Jahrgänge 1950 - 1957 Jahrgänge 1942 - 1949

1987

17,4

16,1 6,0

11,0

13,7

11,2

20,7 8,7

11,3

16,5

16,5 8,9

1995 6,6

Jahrgänge 1934 - 1941 Jahrgänge 1926 - 1933 Jahrgänge 1918 - 1925 Jahrgänge 1910 - 1917 Kein Vergleichswert für Kohorte dargestellt

20,9

18,3 15,3

14,6

11,6

21,6

2003

14,4 5,7

7,7

8,5

14-21

22-29

30-37

17,9 14,7

10,3

11,6

38-45

46-53 Jahre

54-61

62-69

70-77

78-85

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der vom Sociaal en Cultureel Socialbureau bereitgestellten AVO-Daten

den relativ größten Teil des Publikums. Im Jahr 1995 gehört dieselbe Kohorte der Jahrgänge 1942-1949 der Altergruppe der inzwischen 54 bis 61 Jahre alten Konzertbesuchern an und stellt mit 20,9 Prozent Anteil am Publikum wiederum die größte Altersgruppe. Im Jahr 2003 gehört dieselbe Kohorte zu der Altergruppe der 62- bis 69-Jährigen und repräsentiert mit 21,5 Prozent abermals die größte Altersgruppe im Publikum. In analoger Weise sind die anderen Alterskohorten zu betrachten. Man kann darin eine Art Wellenbewegung sehen, in der der Gipfel der am stärksten besetzten Altersgruppe immer weiter in die nächsthöhere Altersgruppe wandert, während die jüngeren Altersgruppen immer kleiner werden. In dem mangelnden Nachwuchs an jüngeren Altersgruppen besteht das eigentliche Problem. Die Generationen, die in ihrer Jugend Popmusik noch nicht kannten (weil es sie da noch nicht oder gerade erst gab) und die zwangsOlXÀJ VWlUNHU PLW NODVVLVFKHU 0XVLN VR]LDOLVLHUW ZXUGHQ DOV GLH KHXWLJH

67

+HLQHU*HPEULV Jugend, entwachsen nach und nach dem Publikum. Die nachrückenden Generationen haben eine völlig andere musikalische Sozialisation erlebt, in der Pop- und Rockmusik in der Regel die Hauptrolle spielt und der Bezug zu klassischer Musik tendenziell immer geringer wird. Die vorliegenden Datenerhebungen bestätigen übereinstimmend, dass das Interesse an klassischer Musik umso geringer ist, je jünger die Altersgruppe ist (s.o., s. auch Behne 2007). Weniger eindeutig ist eine zweite Tendenz, die sich möglicherweise aus den vorliegenden Studien herauslesen lässt. Sie besteht darin, dass in den letzten drei Jahrzehnten innerhalb der jüngsten Altersgruppen der Prozentsatz derer, die Klassik als Präferenz angeben, deutlich zurückgegangen ist. Ein methodisches Problem bei der Bewertung und Interpretation der vorliegenden Studien besteht allerdings darin, dass diese Untersuchungen teilweise verschiedene Altersklassen befragt haben und dass unterschiedliche Fragen gestellt wurden. Einige Studien haben nach den verbalen Präferenzen gefragt, in anderen sollten klingende Musikbeispiele beurteilt werden oder sie wurden mit verbalen Präferenzen kombiniert, wieGHUDQGHUH8QWHUVXFKXQJHQKDEHQ.RQ]HUWEHVXFKHRGHUGLH+lXÀJNHLWGHV Hörens bestimmter Musik erhoben. Deshalb lassen sich die Ergebnisse leider nicht direkt miteinander vergleichen. Dennoch lassen sie sich in eine aufschlussreiche Beziehung miteinander setzen. Nach einer älteren repräsentativen Untersuchung aus dem Jahr 1972 hatte von den befragten 14- bis 21-Jährigen ein Anteil von 7 Prozent mindestens einmal im Jahr eine Oper besucht, immerhin 13 Prozent ein klassisches Konzert (vgl. Dollase / Rüsenberg / Stollenwerk 1986: 29). Eine jüngere repräsentative Studie der ARD-Mediaforschung zeigte, dass von den befragten 14- bis 19-Jährigen lediglich ein Anteil von 4,1 Prozent eine Präferenz für Klassik angab (Klingler / Schaack 1998). In der jüngsten ARD-Klassikstudie 2005 wurden 6096 repräsentativ ausgewählte Personen ab 14 Jahren anhand von klingenden Musikbeispielen hinsichtlich ihrer Einstellung, Bewertung und Hörgewohnheiten bezüglich klassischer Musik telefonisch befragt (Mende / Neuwöhner 2006a, b). Um festzustellen, inwieweit die Befragten ein Publikumspotenzial für klassische Musik darstellen oder nicht, wurde eine Zuordnung zur Gruppe der „E-Musikoffenen“ und zur Gruppe der „Nicht-E-Musikoffenen“ getroffen. Der Gruppe der „E-Musikoffenen“ wurden Personen zugerechnet, die mindestens 3 von 21 klassischen Musikbeispielen gut oder sehr gut bewertet hatten und zusätzlich eine aktive Nachfrage nach klassischer

68

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ Musik zeigten. Auf der Basis dieser Kriterien ergab sich ein Anteil von 53 Prozent „E-Musikoffenen“ und von 47 Prozent „Nicht-E-Musikoffenen“. Auch hier zeigte sich eine deutliche Altersabhängigkeit: „Je älter die 0HQVFKHQ VLQG XPVR JU|‰HU LVW LKUH $IÀQLWlW ]XU NODVVLVFKHQ 0XVLN Bei den 50- bis 64-Jährigen sind 64 Prozent E-Musikoffene; bei den über 65-Jährigen sind es sogar 71 Prozent.“ (Mende / Neuwöhner 2006a: 246) Umgekehrt stellen Mende / Neuwöhner bei den Nicht-E-Musikoffenen eine Überrepräsentanz der 14- bis 29-Jährigen fest: „mehr als 70 Prozent der jungen Menschen zählen zu den Nichtoffenen“ (ebd.). Demgegenüber betrug der Anteil der E-Musikoffenen bei der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen lediglich 10 Prozent (s. Tab. 1).

7DE$OWHUVVWUXNWXUGHUÅ(0XVLNRIIHQHQ´ XQGÅ1LFKW(0XVLNRIIHQHQ´ Anteil an N = 6096

E-Musikoffene

Nicht E-Musikoffene

14-29 Jahre

19%

10%

29%

30-49 Jahre

37%

34%

40%

50-64 Jahre

23%

28%

18%

65 und älter

21%

28%

13%

'HÀQLWLRQ 0XVLNRIIHQH JXWHVHKU JXWH %HXUWHLOXQJ YRQ PLQG  DXV  NODVVLVFKHQ Musikbeispielen in Kombination mit aktiver Nachfrage. Nach Mende / Neuwöhner (2006a: 247)

Abgesehen vom Alter stellen Bildung und kulturelles Milieu wichtige Determinanten für die Einstellung zur klassischen Musik dar. So weisen die E-Musikoffenen durchweg ein höheres Niveau an formaler Bildung auf. Letztlich scheinen aber das kulturelle Milieu und das Alter (bzw. die Generationszugehörigkeit) die entscheidenden Variablen für den Zugang zu klassischer Musik zu sein. Dazu schreiben Mende / Neuwöhner (2006a: 247): „Nähe zu klassischer Musik hat in starkem Maße mit einer entsprechenden musikalischen Sozialisation, mit Musikerfahrungen im Kindes- und Jugendalter zu tun. Insofern waren Teile der heute älteren Generation sehr viel stärker und intensiver mit klassischer Musik konfrontiert als dies bei jungen Menschen heute der Fall ist. Insbesondere

69

+HLQHU*HPEULV die populäre Klassik war fest eingebettet in den Gesamtkanon der Musik. Aber Nähe zur Klassik ist auch ein Produkt gelebten Musiklebens, ist Ergebnis der Erfahrungen, die man mit Musik hat, des Wissens, das man sich im Umgang mit dieser Musik angeeignet hat.“ Obwohl denkbar ist, dass im Laufe des Älterwerdens aufgrund von wachsendem Wissen und zunehmenden Erfahrungen eine größere Offenheit gegenüber klassiVFKHU0XVLNHQWVWHKHQNDQQPXVVGLHVQLFKW]ZDQJVOlXÀJGHU)DOOVHLQ „Ein aus dem Alter erklärbares Phänomen aber ist die E-Musikoffenheit nicht“, meinen daher Mende / Neuwöhner (2006a: 247). Vielmehr dürfWHQ HV JHQHUDWLRQVVSH]LÀVFKH 3UlJXQJHQ LQ GHU .LQGHV XQG -XJHQG]HLW sein, die auch im Alter die Richtung des Musikgeschmacks vorgeben. Wenn Holbrook / Schindler (1989) Recht haben mit ihrer empirisch gestützten Theorie, dass die musikalischen Präferenzen um das 24. Lebensjahr herum im Wesentlichen auch die Präferenzen der folgenden Lebensjahrzehnte sein werden, dann ist eher nicht zu erwarten, dass Menschen, die in ihrer Jugend wenig oder keinen Bezug zur klassischen Musik hatten, in späteren Jahrzehnten eine größere Offenheit gegenüber dieser Musik entwickeln. Dies zeichnet sich auch in den Daten der ARDE-Musikstudie ab. Mende und Neuwöhner stellen fest: „Die empirischen Befunde zeigen auch größer werdende Abstände zwischen den verschiedenen Generationen auf. Während bei den 50- bis 65-Jährigen immerhin UXQG]ZHL'ULWWHO(0XVLNDIÀQHVLQGVLQGHVEHLGHUPLWWOHUHQ*HQHUDWLRQ der 30- bis 49-Jährigen weniger als die Hälfte. Selbst wenn hier mit zunehmendem Alter und entsprechender Hörerfahrung die Offenheit und das Interesse an klassischer Musik vermutlich wachsen werden [eine Vermutung, die ich eher für unwahrscheinlich halte, s.o.; H.G.], ist davon auszugehen, dass sich das Interessensniveau dieser Gruppe zwar erhöhen, aber nicht mehr das Niveau der heute älteren Generation erreichen wird.“ (Mende / Neuwöhner 2006a: 247) Wie sehr die Zugehörigkeit zu einem bestimmten kulturellen Milieu auch bei in etwa gleichaltrigen jungen Menschen die Präferenzen moGHOOLHUHQ NDQQ ]HLJW VLFK EULJHQV DXFK DQ GHQ 3UlIHUHQ]SURÀOHQ ]ZHLer Mediennutzertypen, die im Rahmen der MedienNutzerTypologie MNT 2.0 dargestellt worden sind (Egger / Windgasse 2007). Die MedienNutzerTypologie MNT 2.0 beschreibt auf der Basis statistischer Erhebungen zehn verschiedene Gruppen von Menschen, die sich hinsichtlich Mediennutzung, Alter, Wertorientierung, Lebensstil, sozialem Milieu etc. voneinander abgrenzen lassen.

70

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ Die Gruppen der „Jungen Wilden“ und der „Zielstrebigen Trendsetter“ sind durchschnittlich fast gleich alt (23 bzw. 24 Jahre). Von daher könnte man erwarten, dass ihre Präferenzen und ihre Einstellungen zur klassischen Musik ähnlich sind. Aber sie gehören unterschiedlichen sozio-kulturellen Milieus und Lebenswelten an, sie haben unterschiedliche Lebensstile und :HUWRULHQWLHUXQJHQ'DVKDWHLQHQHUKHEOLFKHQ(LQÁXVVDXIGLHPXVLNDlischen Präferenzen. Während es in der Gruppe der „Jungen Wilden“ 13 Prozent sind, denen klassische Musik „gut“ oder „sehr gut“ gefällt, ist der entsprechende Prozentsatz bei den „Zielstrebigen Trendsettern“ fast dreimal so hoch (36 Prozent). Noch deutlicher ist der Unterschied beim Genre Oper: Hier sagen 2 Prozent der „Jungen Wilden“, dass ihnen Oper „gut“ oder „sehr gut“ gefällt, bei den „Zielstrebigen Trendsettern“ sind es 19 Prozent (vgl. Egger / Windgasse 2007: 260). Auch wenn man in Betracht zieht, dass Effekte der sozialen Erwünschtheit hier eine Rolle spielen könnten (möglicherweise bewerten die „Jungen Wilden“ negativer, die „Zielstrebigen Trendsetter“ positiver), zeigt sich hier, dass die Alterseffekte erheblich durch das soziale Milieu moduliert werden. In Hinblick auf das Thema Publikumsentwicklung sind weitere Ergebnisse der ARD-E-Musikstudie sehr aufschlussreich. Eckhardt / Pawlitza / Windgasse (2006) haben das Besucherpotenzial von Konzertund Opernveranstaltungen untersucht und in zwei Kategorien eingeteilt: Das „weite“ Potenzial bilden E-Musikoffene, die mindestens zwei Mal pro Jahr ein Klassikkonzert, Kirchenkonzert oder eine Opernaufführung besucht haben. Das „enge“, stärker interessierte Potenzial setzt sich aus denjenigen E-Musikoffenen zusammen, die mindestens vier Mal pro Woche Klassik über Tonträger hören und mindestens einmal pro 0RQDWLQHLQ.ODVVLN.RQ]HUWJHKHQ1DFKGLHVHU'HÀQLWLRQJHK|UHQ Prozent der Bevölkerung insgesamt zum weiten Besucherpotenzial, 6 Prozent zum engen Besucherpotenzial. Das Durchschnittsalter des weiten Besucherpotenzials liegt bei 53 Jahren, das des engen Potenzials bei 59 Jahren. Das bedeutet wiederum, dass diejenigen, die in den kommenden Jahren wahrscheinlich das Publikum von Oper und klassischem Konzert bilden werden, sich auf ein Durchschnittsalter von 60 Jahren zubewegen. Demgegenüber ist das Besucherpotenzial der jüngsten untersuchten Gruppe ziemlich schwach: Von den 14- bis 29-Jährigen zählen 8,3 Prozent zum weiten Potenzial, und lediglich 4,9 Prozent zum engen Potenzial. Ein Vergleich mit der Gruppe der ältesten Befragten (65 Jahre und älter), die ebenso wie die jüngsten ungefähr einen Anteil von 20 Prozent an der

71

+HLQHU*HPEULV Gesamtstichprobe darstellen, macht die Kluft zwischen den Generationen deutlich: Gegenüber 8,3 Prozent weitem Potenzial bei den jüngsten liegt das weite Potenzial bei den ältesten bei 30,3 Prozent, das enge Potenzial bei den Ältesten beträgt 44 Prozent, bei den Jüngsten dagegen nur 4,9 Prozent (s. Tab. 2).

7DE%HVXFKHUSRWHQ]LDOHYRQ.RQ]HUW XQG2SHUQYHUDQVWDOWXQJHQQDFK$OWHU Anteil an N = 6096 / 100%

Weites KonzertEnges Konzertpotenzial (n=2336) potenzial (n=384)

14-29 Jahre

19,0%

8,3%

4,9%

30-49 Jahre

36,8%

30,0%

15,4%

50-64 Jahre

23,3%

31,4%

35,7%

65 und älter

20,9%

30,3%

44,0%

Nach Eckhardt / Pawlitza / Windgasse (2006: 274)

Auf ein beunruhigendes Detail möchte ich in diesem Zusammenhang aufmerksam machen: In der untersuchten repräsentativen Stichprobe gab es 1,8 Prozent Studenten. Diese Gruppe von jungen, gebildeten Menschen bildet aber nur 1,5 Prozent des weiten und lediglich 1,3 Prozent des engen Besucherpotenzials (vgl. Eckhardt / Pawlitza / Windgasse 2006: 274). Eigentlich wäre zu erwarten, dass die jungen Gebildeten einen deutlich größeren Teil des Publikumspotenzials darstellen. Im Vergleich dazu: Die Rentner und Pensionäre bilden 26,8 Prozent der Gesamtstichprobe, aber sie stellen 37,8 Prozent des weiten und 50,3 Prozent des engen Besucherpotenzials (ebd). Während sich bislang das Konzert- und Opernpublikum vor allem von gebildeten Schichten konstituierte, scheint bei den heute jungen Bildungsträgern von morgen das Interesse an Konzert- und Opernbesuchen erheblich abzubröckeln. Wenn aber die Schicht, die bislang zuverlässig einen erheblichen Teil des Publikums darstellte, künftig als Publikum weniger Interesse zeigt, bricht ein lebenswichtiger Teil des Publikums weg, was langfristige strukturelle Probleme mit sich bringt. Ein Problem für die Akzeptanz klassischer Musik ist auch das negative Image, das sie unter den Nicht-E-Musikoffenen hat. Für sie ist klassische

72

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ Musik „langweilig (56 Prozent), zu schwermütig (59 Prozent), zu anstrengend (52 Prozent) oder zu wenig abwechslungsreich (37 Prozent)“ (Mende / Neuwöhner, 2006a: 248). Gut die Hälfte (56 Prozent) dieser Gruppe meint, dass klassische Musik „nur etwas für besondere Anlässe“ sei, nicht wenige (27 Prozent) halten sie für nicht mehr zeitgemäß.

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was hilft, um diesen negativen Prozessen in der Publikumsentwicklung entgegen zu wirken? Dabei besteht das eigentliche Problem nicht im großen Anteil Älterer, sondern darin, dass zu wenig jüngeres Publikum in Oper und Konzert nachwächst. Wie bekommt man also mehr Jüngere in die Konzerte? Hamann (2005b: 19) hält das Instrumentalspiel für am wichtigsten, denn es impliziert eine langfristige Bindung zur Musik durch praktisches Tun. Ebenso hält er „Education-Aktivitäten“ der Kulturorchester (z.B. Kinderund Jugendkonzerte) für sinnvoll, aber bei Weitem nicht ausreichend. Einen wichtigen Beitrag könnten auch musikpolitische Initiativen leisten, die möglichst viele Jugendliche ans aktive Musizieren bringen. Mende / Neuwöhner (2006a) halten das Instrumentalspiel zwar auch für wichtig, aber nicht für entscheidend. Sie hatten in der ARD-E-Musikstudie herausgefunden, dass zwar gut die Hälfte (53 Prozent) der E-Musikoffenen in Kindheit oder Jugend ein Instrument gespielt haben, dass andererseits aber auch 42 Prozent der E-Musikfernen ein Instrument gespielt haben. Insofern war das Instrumentalspiel kein Merkmal, das zur Differenzierung zwischen E-Musikoffenen und E-Musikfernen geeignet ist (Mende / Neuwöhner 2006a: 247). Demgegenüber stellten sich die schulischen Erfahrungen mit Musik als wichtig heraus. Während weniger als 25 Prozent der E-Musikdistanzierten die Begegnung mit klassischer Musik in der Schule als positiv erlebt hatten, bezeichneten mehr als 60 Prozent der E-Musikoffenen ihre schulischen Erfahrungen mit klassischer Musik als positiv. „Im sehr unterschiedlichen Erleben der Begegnung mit klassischer Musik in der Schule liegt offenbar ein entscheidender Schlüssel für den Zugang zu dieser Musik“ (Mende / Neuwöhner 2006: 248). Wenn dem tatsächlich so ist, dann würde dem schulischen Musikunterricht eine wesentliche Funktion in der Publikumsentwicklung zukommen. Dies ist ein Argument für den Musikunterricht, das bislang wenig erörtert wurde, andererseits liegt hier auch eine sehr große Verantwortung

73

+HLQHU*HPEULV des Musikunterrichts. Denn wenn die schulische Begegnung mit klassischer Musik negativ erlebt wird, ist das kontraproduktiv für das spätere Interesse an klassischer Musik (s.u). Kaum weniger wichtig dürfte die musikalische Prägung im Elternhaus sein. Die an klassischer Musik Interessierten hatten in ihren Familien im 8QWHUVFKLHG]XGHQ.ODVVLNIHUQHQGHXWOLFKKlXÀJHUNODVVLVFKH0XVLNLQ 5DGLRXQG)HUQVHKHQJHK|UWZDUHQKlXÀJHUEHU(OWHUQXQG9HUZDQGWH in Kontakt mit klassischer Musik gekommen, hatten selbst entsprechenGH7RQWUlJHUJHNDXIWKDEHQKlXÀJHULQ.LQGKHLWXQG-XJHQGNODVVLVFKH Konzerte besucht, haben selbst mehr in Chören mitgesungen. Es spielt aber nicht nur eine Rolle, dass und wie oft solche Aktivitäten stattgefunden haben, sondern dass sie mit positiven Erlebnissen verknüpft wurden: „Für die Herausbildung musikalischer Interessen ist aber insbesondere das subjektive Erleben der verschiedenen Faktoren entscheidend“ (Mende / Neuwöhner 2006a: 248). In diesem Punkt unterscheiden sich E-Musikoffene und E-Musikferne offenbar deutlich. Während nur etwa ein Drittel der Nichtinteressierten positive Erlebnisse mit den Klassikerfahrungen im familiären Umfeld verknüpften, waren es mehr als zwei Drittel der E-Musikoffenen, die die Begegnung mit klassischer Musik im Elternhaus positiv erlebt haben. Insbesondere wurde der Besuch klassischer Konzerte in Kindheit und Jugend von den heute E-Musikinteressierten als sehr positiv beschrieben (ebd.). Auch das positive oder negative Erleben der Erfahrung mit klassischer Musik in der Schule scheint längerfristige Folgen zu haben. So berichteten 32 Prozent der Nicht-E-Musikoffenen über „stark negativ gefärbtes Erleben“ der Begegnung mit klassischer Musik in der Schule. Die Education-Programme der Kulturorchester und Opernhäuser, Kinder- und Familienkonzerte stellen ein wichtiges Instrumentarium dar, Publikumsnachwuchs heranzubilden. Erweiterte Veranstaltungskonzepte und moderierte Konzerte erzielen eine deutlich höhere Akzeptanz als ein reines Klassikprogramm, insbesondere bei der jüngsten Hörergruppe zwischen 14 und 29 Jahre (s. Abb. 6; Oehmichen / Feuerstein 2006: 271). Dies ist ein wichtiges, empirisch belegtes Argument dafür, entsprechende Veranstaltungen anzubieten. Leider liegen kaum empirische Daten über die kurzfristige Wirksamkeit von Education-Programmen oder Kinder- und Familienkonzerten auf das spätere Besucherverhalten vor (z.B. Schwanse, 2003), Daten über mittel- und langfristige Effekte fehlen ganz. Außerschulische Angebote an Kinder- und Familienkonzerten erreichen

74

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ

$EE$N]HSWDQ]YRQPRGHULHUWHQ.RQ]HUWHQLP9HUJOHLFK ]XUHLQHQ.ODVVLNSURJUDPPHQ 62

Gesamt

38 73

14-29 Jahre

27 65

30-49 Jahre

35 65

50-64 Jahre

35 56

65 u. älter

44 0

10

20

30

40

erweitertes Musikkonzept

50

60

70

80

reines Musikkonzept

Nach: Oehmichen / Feuerstein (2006: 271)

vermutlich eher Familien und Kinder von höherem Bildungsstatus, aus denen sich sowieso das künftige Publikum überwiegend rekrutieren wird, sie erreichen weniger desinteressierte oder klassikferne Familien. Dies zeigen auch die Ergebnisse einer Publikums-Untersuchung, die ich gemeinsam mit Studierenden des Studienganges Musikvermittlung der Hochschule für Musik Detmold bei Kindern und Begleitpersonen (meist Eltern) der Konzertreihe „Concertino piccolino“ durchgeführt habe (Gembris / Studierende des Studienganges „Musikvermittlung“ an der Hochschule für Musik Detmold 2007). Zielpublikum dieser Konzertreihe waren Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren und deren Begleitpersonen, in der Regel die Eltern. Die Fragebögen wurden mit nach Hause gegeben und beim folgenden Konzerttermin wieder mitgebracht oder zurückgeschickt. Da die meisten Kinder noch nicht lesen und schreiben konnten, wurde die Kinderbefragung methodisch so durchgeführt, dass die Eltern die einzelnen Fragen des farblich markierten Kinderfragebogens vorgelesen haben, die Kinder haben geantwortet, die Eltern haben die Antworten im Fragebogen angekreuzt bzw. aufgeschrieben. Die Eltern bzw. Begleitpersonen füllten einen eigenen Fragebogen aus. Unter anderem zeigte sich, dass 60 Prozent der Eltern einen Universitätsoder Fachhochschulabschluss hatten. Im Vergleich dazu haben nur 14,4 Prozent der Gesamtbevölkerung (mit deutlichen Unterschieden je nach Altersgruppe und Geschlecht) einen entsprechenden Bildungsabschluss (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 39 und 234; verfügbar unter http://www.bildungsbericht.de/daten2008/bb_2008.pdf).

75

+HLQHU*HPEULV Neue Zugangsweisen zur klassischen Musik ermöglicht das Internet (vgl. Ross 2007). Durch Werbung für Klassik-CDs an Stellen, die meist von Pop-Hörern aufgesucht werden, entstehen unerwartete Begegnungen mit klassischer Musik. Als die Firma Apple ihren iTunes music store 2003 startete, positionierte sie u. a. Werbung für Anna Netrebko und (VD3HNND 6DORQHQ DXI GHU 6WDUWVHLWH (EHQVR ÀQGHW PDQ :HUEXQJ IU CDs „simply Bach“, „simply Brahms“ unter dem Titel „Klassik für (LQVWHLJHU´bKQOLFKH6WUDWHJLHQÀQGHWPDQEHLGHU,QWHUQHW9HUVDQGÀUPD Amazon. Diese bietet die Möglichkeit zum anonymen Surfen und unverbindlichen Hineinhören in klassische Musikbeispiele. Das Internet bietet darüber hinaus vielseitige Informationsmöglichkeiten (über Stücke, Interpreten, Interviews, Websites von Künstlern, blogs etc.). Hörproben und Informationen geben die Möglichkeit, unbekannte Musik kennen zu lernen, offerieren die Möglichkeit zum Ausprobieren und Vergleichen und fördern so zufällige Entdeckungen. Aus den vorliegenden Untersuchungen lässt sich rekonstruieren, dass mangelnde Vertrautheit und eine klassikferne musikalische Sozialisation, das Fehlen subjektiv positiver Erfahrungen bzw. negative Erfahrungen mit klassischer Musik, Informationsmangel, eine Lebenswelt, in der klassische Musik kaum eine Rolle spielt, mangelnde gefühlsmäßige Ansprache und das (Negativ-) Image klassischer Musik zu den wichtigsten Faktoren zählen, die zu Distanz und Desinteresse an klassischer Musik führen. Auf die familiäre musikalische Sozialisation oder klassikferne /HEHQVZHOWHQOlVVWVLFKNDXP(LQÁXVVQHKPHQ$XI,QIRUPDWLRQVGHÀ]LWH fehlende Vertrautheit und dadurch bedingte mangelnde gefühlsmäßige $QVSUDFKHKLQJHJHQNDQQPDQ(LQÁXVVQHKPHQ8QGQDWUOLFKDXFKDXI das Negativ-Image klassischer Musik. Klassische Musik braucht deshalb eine zielgerichtete Vermittlung zur Modernisierung ihres Images und zur Steigerung ihrer Akzeptanz bei den jüngeren Generationen. Dass dies keiQHVIDOOV DOOHLQ LQ GHU 6FKXOH VWDWWÀQGHQ NDQQ QLFKW NXU]IULVWLJ ]X HUUHLchen ist und auch Zeit und Geld kostet, liegt auf der Hand. Helfen kann meines Erachtens nur ein ganzes Bündel von koordinierten Maßnahmen. Dazu kommen beispielsweise in Betracht: - Image-Kampagnen zur Verjüngung des Klassik-Images, zur Steigerung des Prestiges in jüngeren Generationen, zur Korrektur falscher Vorstellungen und zur Erhöhung der allgemeinen Wertschätzung klassischer Musik in der Gesellschaft,

76

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ - regelmäßige Konzerte professioneller Musiker in Schulen, Projektwochen zur klassischer Musik, - moderierte Konzerte für Kinder, Jugendliche, Familien mit jungen Musikern (Vorbilder!) in unkonventionellem Rahmen und attraktiven Formaten (durchaus, aber nicht nur, mit Spaß- und Event-Charakter), nicht zu lang, zu familienfreundlichen und jugendgerechten Zeiten, gerne zu interessanten Themen (z.B. Musik und Erotik) und in Kombination mit anderen Genüssen (z.B. Essen, Trinken, Bilder, Tanz, Theater, Film), - früh beginnender Instrumentalunterricht, in dem regelmäßig auch klassische Musik vermittelt wird, - weitere Verbreitung der Zugriffsmöglichkeiten auf klassische Musik im Internet (z.B. Hörproben, Informationen, warum nicht auch Merchandising-Artikel auf Jugend- und zielgruppenorientierten Websites?). Mit der entsprechenden Phantasie sind weitere Maßnahmen denkbar. Wie viel der ganze Aufwand nützen würde, lässt sich kaum vorhersagen. Ob man ihn überhaupt betreiben will, ist eine Frage kultureller und gesellschaftlicher Werte, eine Frage der Richtung, in welche die Kultur- und Bildungspolitik steuern möchte. Es geht letztlich auch um die kulturpolitische Frage, in welcher Position man die klassische Musik in einer Pop-orientierten und multikulturell geprägten Gesellschaft sehen möchte, welchen Stellenwert sie im vielstimmigen Konzert musikkultureller Orientierungen haben soll. Es ist eine kulturgeschichtliche Tatsache, dass das, was wir heute klassische Musik nennen, also die musikalische Hochkultur der vergangenen Jahrhunderte, immer eine Minderheiten0XVLNZDUXQGPHLVWVXEYHQWLRQLHUWZXUGH+HXWHEHÀQGHQZLUXQVLQHLner Situation, in der de facto auch die Nachfrage nach klassischer Musik subventioniert und durch Musikvermittlung in verschiedenen Formen gefördert werden muss. Die Gründe dafür sind vielfältig, wie am bereits erwähnten Negativ-Image der klassischen Musik zu sehen ist. Das muss aber nicht so sein. Denn auf der anderen Seite ist in Teilen genau das Gegenteil zu beobachten: Einzelne Spitzenkünstler aus dem Bereich der klassischen Musik sind überaus populär und steigen dank geschickter Vermarktung in den Charts auf, z.B. die Sopranistin Anna Netrebko, der Tenor Rolando Villazon und verschiedene andere Künstler (die Branche spricht vom Netrebko-Effekt). Der Geiger David Garrett mit seinem jugendlich-coolen Image ist für viele Jugendliche ein Idol, sicher nicht nur

77

+HLQHU*HPEULV wegen seines auf diese Zielgruppe zugeschnittenen Images, sondern weil er die Ernsthaftigkeit klassischer Musik mit popmusikalischen CrossoverProjekten glaubhaft verbinden kann. Man glaubt es kaum: Klassik kann populär werden! Während in der Popbranche beim Tonträgerverkauf Flaute herrscht, konnte die Klassikbranche 2006 den Tonträgerverkauf um 6 Prozent steigern, der Absatz an Konzert- und Opern-DVDs stieg im selben Jahr um 28 Prozent, und die Deutsche Grammophon Gesellschaft vertreibt Klingeltöne mit Quasthoff-Gesangsschnipseln zum Download (s. Weihser 2007). In ihrem Artikel „Klassik, jetzt für alle!“ schreibt Rabea Weihser (2007): „Um die Klassik in der Gesellschaft zu verankern, braucht man andere Künstler!“ (kursiv im Original). Recht hat sie! Die vielleicht wichtigsten Personen aber, die sich um eine Vermittlung, Akzeptanz von klassischer Musik und Publikumsentwicklung in ihrem eigenen Interesse kümmern müssen, sind die Musiker selbst. Diese Erkenntnis ist bei den wenigsten angekommen, den wenigsten ist diese Notwendigkeit bewusst. Das ist nicht verwunderlich, denn die Rollenveränderungen, die Erweiterung der Rollen, die ein Musiker im heutigen Musikmarkt übernehmen muss, sind kaum oder gar nicht Gegenstand der Ausbildung an den Musikhochschulen, und wenn, dann werden entsprechende Angebote nur zögerlich von den künftigen Musikern genutzt. Die Offensive zur Erhaltung der klassischen Musik sowie zur Publikumsentwicklung muss auch von den Musikern selbst kommen, sie können nicht erwarten, dass dies nur die anderen tun. Ein anderes Selbstverständnis des Musikerberufs, eine Musiker-Offensive für klassische Musik dient nicht nur der Erhaltung und Erweiterung musikalischer Kultur und Traditionen, sondern vor allem auch der eigenen Existenzsicherung. Zwar gab es eine Initiative „Pro Klassik“ von einigen Komponisten und Funktionären, was aber fehlt, sind breiter angelegte Initiativen, eine breite Bewegung junger und alter MusikerInnen. Publikumsentwicklung, Audience Development, EHGHXWHW DXFK 1HXGHÀQLWLRQ GHU 5ROOH GHV 0XVLNHUV GHU 0XVLNHULQ 'LH 1RWZHQGLJNHLW ]XU 1HXGHÀQLWLRQ GHU 0XVLNHU5ROOH NODU ]X PDchen und in der Ausbildung zu vermitteln, ist eine dringende Aufgabe der Musikhochschulen. Nur wenn dies, in Kombination mit anderen Maßnahmen, gelingt, sind die Voraussetzungen gegeben, den notwendigen Publikumsnachwuchs heranzubilden, der notwendig ist, um eine vielfältige Musikkultur zu erhalten.

78

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ

$QPHUNXQJ Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.

/LWHUDWXU Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Verfügbar unter: http://www.bildungsbericht.de/daten2008/bb_2008.pdf [4.1.2009]. Behne, Klaus-Ernst (2007): „Aspekte einer Sozialpsychologie des Musikgeschmacks“, in: Motte-Haber, Helga de la / Neuhoff, Hans (Hg.): Musiksoziologie, Laaber: Laaber, S. 418-437. Deutscher Musikrat (2008a): Abgelegte Prüfungen in Studiengängen für Musikberufe an Musikhochschulen, Universitäten, Pädagogischen Hochschulen und Fachhochschulen nach Studienfach. Verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/statistik13.pdf [5.1.2009]. Deutscher Musikrat (2008b): Planstellen in deutschen Kulturorchestern 1992-2008. Verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/ statistik16.pdf [5.1.2009]. Deutscher Musikrat (2008c): )UHLEHUXÁLFK7lWLJHLQGHU6SDUWH0XVLN nach Versichertenbestand der Künstlersozialkasse. Verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/statistik53.pdf [5.1.2009]. Deutscher Musikrat (2008d): )UHLEHUXÁLFK7lWLJHLQGHU6SDUWH0XVLN nach Tätigkeitsbereich und Durchschnittseinkommen. Verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/statistik85.pdf [5.1.2009]. Deutscher Musikrat (2008e): Konzertveranstaltungen und Besucher der Kulturorchester. Verfügbar unter: http://www.miz.org/intern/uploads/ statistik20.pdf [5.1.2009]. Deutscher Musikrat (2008f): Veranstaltungen und Besucher der öffentlichen Musiktheater. Verfügbar unter: http://www.miz.org/ intern/uploads/statistik21.pdf [5.1.2009]. Dollase, Rainer / Rüsenberg, Michael / Stollenwerk, Hans J. (1986): Demoskopie im Konzertsaal, Mainz: Schott.

79

+HLQHU*HPEULV Eckhardt, Josef / Pawlitza, Erik / Windgasse, Thomas (2006): „Besucherpotenzial von Opernaufführungen und Konzerten der klassischen Musik. Ergebnisse der ARD-Musikstudie 2005“, in: Media Perspektiven (5), S. 273-282. Egger, Andreas / Windgasse, Thomas (2007): „Radionutzung und MNT 2.0“, in: Media Perspektiven (5), S. 255-263. Gembris, Heiner (2005): „Musikalische Präferenzen“, in: Oerter, Rolf / Stoffer, Thomas H. / Birbaumer, Niels / Frey, Dieter / Kuhl, Julius / Schneider, Wolfgang / Schwarzer, Ralf (Hg.): Spezielle Musikpsychologie (Enzyklopädie der Psychologie), Göttingen: Hogrefe, S. 279-342. Gembris, Heiner / Langner, Daina (2005): Von der Musikhochschule auf den Arbeitsmarkt. Erfahrungen von Absolventen, Arbeitsmarktexperten und Hochschullehrern, Augsburg: Wißner. Gembris, Heiner / Forge, Stephanie / Kerkloh, Johannes / Vogel, Tobias. / Hassold, Finn (2006): Das Paderborner Konzertpublikum. Eine empirische Untersuchung, (unveröffentlichter Forschungsbericht), unveröffentlichtes Manuskript: Paderborn. Gembris, Heiner / Studierende des Studienganges „Musikvermittlung“ an der Hochschule für Musik Detmold (2007): Hat Dir das Konzert gefallen? Kinderkonzerte im Urteil von Kindern und Eltern. Unveröffentlichtes Manuskript. Ergebnisse verfügbar unter: http:// groups.uni-paderborn.de/ibfm/images/Piccolino_Publikum.pdf [5.1. 2009]. Hamann, Thomas K. (2005a): Cultural Dynamics – Zur langfristigen Existenzsicherung von Kulturorchestern in Deutschland und der Schweiz. Dissertation an der Universität St. Gallen, Diss. Nr. 2981, Bamberg. Hamann, Thomas K. (2005b): „Die Zukunft der Klassik“, in: Das Orchester, (9), S. 10-19. Hamann, Thomas K. (2008): „0XVLNNXOWXU²(LQÁXVVGHU Bevölkerungsentwicklung auf Publikum und Konzertwesen“, in: Gembris, Heiner (Hg.): Musik im Alter. Soziokulturelle Rahmenbedingungen und individuelle Möglichkeiten, Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 195-211. Holbrook, Morris B. / Schindler, Robert M. (1989): „Some Exploratory Findings on the Development of Musical Tastes“, in: Journal of Consumer Research, Vol. 16, (1), S. 119-124.

80

(QWZLFNOXQJVSHUVSHNWLYHQ Klingler, Walter / Schaack, Jens (1998): „Hörfunk behauptet starke Position – Tendenzen der Hörfunknutzung nach Ergebnissen der Media Analyse 1998 II“, in: Media Perspektiven (11), S. 559-569. Kreutz, Gunter / Bastian, Hans Günther / Gotthardt, Christoph / Komppa, Anni / Passian, Nils / Rettelbach, Simon / Sondergeld, Ute / Stern, Jens (2003): „Konzertpublikum: Quo vadis. Eine Untersuchung des heutigen Konzertpublikums“, in: Das Orchester (12), S. 8-19. Mende, Annette / Neuwöhner, Ulrich (2006a): „Wer hört heute klassische Musik? ARD-E-Musikstudie 2005: Musiksozialisation, E-Musiknutzung und E-Musikkompentenz“, in: Media Perspektiven (5), 246-258. Mende, Annette / Neuwöhner, Ulrich (2006b): „Wer hört heute klassische Musik? Musiksozialisation, E-Musik-Nutzung und E-MusikKompetenz“, in: Das Orchester (12), S. 10-14. Mills, Janet / Smith, Jane (2006): „Working in music: becoming successful“, in: Gembris, Heiner (Hg.): Musical development from a lifespan perspective, Frankfurt a.M.: Lang, S. 131-140. Mills, Janet (2006): „Working in music: the pianist“, in: Music Education Research Jg. 8 (2), S. 251-265. Neuhoff, Hans (2001): „Die Altersstruktur von Konzertpublika – Querschnitte und Längsschnitte von Klassik bis Pop im kultursoziologischer Analyse“, in: Musikforum, Jg. 95, S. 64-83. Nightingale, James (2007). Reframing the musical landscape: Music networks and creative industry in Australia. Verfügbar unter: http://www.nactmus.org.au/NACTMUS2007/PDF/Nightingale.pdf [5.1. 2009]. Oehmichen, Ekkehardt (2006): „Klassische Musik und ihr Publikum. Ergebnisse einer ARD-E-Musik-Studie 2005“, in: Das Orchester, Jg. 2006 (12), S. 8-9. Oehmichen, Ekkehardt / Feuerstein, Sylvia (2006): „Klassische Musik im Radio“, in: Media Perspektiven (5), S. 259-272. Oehmichen, Ekkehardt / Feuerstein, Sylvia (2006): „Radio, iPod oder Konzert? Zur zukünftigen Rolle des Radios in der Musikkultur“, in: Das Orchester, Jg. 2006 (12), S. 15-20. Ross, Alex (2007): „The Internet may be killing the pop CD, but it’s helping classical music“, in: The New Yorker, 22.10.2007.

81

+HLQHU*HPEULV Schwanse, Ulrike (2003): Familienkonzerte in Kooperation mit Grundschulen – ein Konzept und seine Wirkungen. Paderborn, Univ., Diss., verfügbar unter: http://ubdata.uni-paderborn.de/ediss/04/2003/ schwanse [14.1.2009]. Weihser, Rabea (2007): „Klassik, jetzt für alle! Dank Anna Netrebko, Sting und Rolando Villazon gewinnt die Plattenbranche neuen Auftrieb: Wie die „ernste“ Musik langsam zum Pop wird“, in: ZEIT online, 15.03.2007. Verfügbar unter: http://www.zeit.de/ online/2007/11/klassikmarkt [14.1.2009].

82

9RPÅ+LJK7HFK´]XPÅ/LYH(YHQW´ (PSLULVFKH'DWHQ]XPDNWXHOOHQ.RQ]HUWOHEHQ XQGGHQ(LQVWHOOXQJHQGHU%XQGHVEUJHU

Susanne Keuchel

Mit den neuesten technischen Errungenschaften wird Musik immer leichter verfügbar gemacht – wörtlich genommen in Bezug auf das Gewicht der Abspielgeräte, aber auch in Hinblick auf die Verfügbarkeit des Repertoires durch bequemes Downloaden im Internet. Neue Technologien führen jedoch gleichfalls zu einer immer leichteren Reproduktion von Musik, was u.a. in Form von Internetpiraterie zu teils drastischen Umsatzverlusten der Tonindustrie führt.1 Anders sieht dagegen die Entwicklung bei Konzertveranstaltungen aus: Laut einer vom Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft (Idkv) und dem Branchenmagazin musikmarkt.live in Auftrag gegebenen GfK-Studie (Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft 2007) hat sich das Konzertund Veranstaltungsgeschäft mit einem Umsatz von 1,9 Milliarden Euro im ersten Halbjahr 2007 zum bedeutendsten Faktor der Musikbranche HQWZLFNHOW0HKUXQGPHKUZLUGHVXQWHU3URÀPXVLNHUQEOLFKVLFKYRQ Verträgen mit Plattenlabels abzuwenden und stattdessen auf lukrativere Verträge mit Konzertveranstaltern umzuschwenken, wie jüngst auch der Weltstar Madonna. 2 Wie ist dieser Wandel zu erklären? Kann man den Rückgang des Umsatzes im Bereich der Tonträger noch mit illegalem Kopieren und Verbreiten von Tonträgern erklären, fehlt es zunächst an Erklärungsansätzen für die Aufwertung des Live-Konzert-Bereichs. Hat sich vielleicht auch dieser oder die Einstellung der Bevölkerung zu Live-Konzerten verändert? Und wenn ja, kann hier auch eine positive Trendentwicklung speziell im Klassikbereich beobachtet werden?

Susanne Keuchel Um Erklärungsansätze für das wachsende Interesse der Bevölkerung an /LYH.RQ]HUWHQ ]X ÀQGHQ XQG ]XJOHLFK (PSIHKOXQJHQ IU HLQH DQVSUHchende Gestaltung von Live-Konzerten speziell im Klassikbereich aussprechen zu können, werden im Folgenden empirische Daten aus diversen Bevölkerungsumfragen zur Partizipation der Bundesbürger am aktuellen Musikleben, zu ihren Wünschen und Einstellungen herangezogen und der aktuellen Konzertpraxis gegenübergestellt.

:HUNDQQIUDX‰HUKlXVOLFKH.XOWXUDNWLYLWlWHQ PRELOLVLHUWZHUGHQ" Etwa zwei Drittel der Bundesbürger können für außerhäusliche Kulturaktivitäten im Sinne eines breiten Kulturbegriffs, der beispielsweise auch den Besuch eines Open-Air-Rockkonzerts oder eines soziokulturellen Zentrums umfasst, mobilisiert werden. Darunter fallen Bevölkerungsgruppen, die nur sehr selten kulturelle Angebote besuchen und etwa 50 Prozent der Bundesbürger ausmachen, eine Gruppe mit regem, also regelmäßigem Kulturinteresse (etwa 15 Prozent) und die Gruppe der Intensivnutzer (max. 5 Prozent). 3 Bevölkerungsgruppen mit kontinuierlichem Interesse an außerhäusOLFKHQ.XOWXUDNWLYLWlWHQ]HLFKQHQVLFKGXUFKVSH]LÀVFKH0HUNPDOHDXV Sie haben – dies gilt insbesondere für die jüngere Generation – in der Regel eine höhere Schulbildung und wachsen in einem bildungsnahen Umfeld auf. Für die kulturelle Bildung gilt also dasselbe wie für die schulische Bildung analog zur Pisa-Studie: Je höher der Bildungsstand der Eltern, umso größer ist das Interesse, den eigenen Kindern Kultur zu vermitteln, und damit die Wahrscheinlichkeit eines gemeinsamen Kulturbesuchs. Das Vorbild der Eltern – die Kulturnähe der Eltern – ist eine weitere wichtige Voraussetzung für das Entwickeln eigener kultureller Interessen. So konnte im Jugend-KulturBarometer (Keuchel 2006) festgestellt werden, dass nur 36 Prozent der jungen Leute, deren Eltern kein künstlerisches +REE\ SÁHJHQ RGHU IUKHU JHSÁHJW KDEHQ HLQHP NQVWOHULVFKNUHDWLYHQ Hobby wie Malen, Musizieren oder Tanzen nachgehen. Ein solches ergreifen hingegen zwei Drittel der jungen Leute, deren Eltern heute oder früher künstlerisch aktiv gewesen sind. Grundsätzlich kann dabei auch eine sehr ausgeprägte Korrelation zwischen dem Besuch von Kulturangeboten und eigener künstlerischer Kreativität beobachtet werden.

84

9RPÅ+LJK7HFK´]XPÅ/LYH(YHQW´ Ein weiteres Merkmal speziell der jungen kulturinteressierten Bevölkerung ist das Verhalten des weiblichen Geschlechts: Die junge weibliFKH %HY|ONHUXQJ LQWHUHVVLHUW VLFK DQWHLOLJ VLJQLÀNDQW |IWHU IU NODVVLVFKH Kultur- und künstlerisch-kreative Bildungsangebote als die junge männliche Bevölkerung.

:HUEHVXFKWNODVVLVFKHXQGZHUSRSXOlUH 0XVLNNRQ]HUWH" 0LW GHU YRUDXVJHKHQGHQ JHVFKOHFKWVVSH]LÀVFKHQ 'LIIHUHQ]LHUXQJ der Kulturinteressen stellt sich allgemein die Frage nach den kulturellen Sparteninteressen in der Bevölkerung. Die beliebteste Kultursparte in der Bevölkerung ist die Musik, gefolgt vom Film. Grundsätzlich kann EHL HLQHU DOWHUVVSH]LÀVFKHQ 'LIIHUHQ]LHUXQJ EHREDFKWHW ZHUGHQ GDVV sich die jüngeren und mittleren Altersgruppen eher für populäre und jüngere Kunstrichtungen wie Comedy, zeitgenössische Kunst oder Rockund Popmusik interessieren, während die älteren Bevölkerungsgruppen eine größere Nähe zu klassischen Kultursparten wie Theater, Museen, Oper oder zu volkstümlicher Musik zeigen. Tendenziell sind die unter 25-Jährigen auch eher offen für zeitgenössische Kunstrichtungen, wie Neue Musik und Avantgardemusikrichtungen, als ältere Bevölkerungsgruppen, wenn auch der ,Fan‘-Anteil für diese Kunstrichtungen allgemein sehr klein ist (vgl. Übersicht 1). Dies wirft sogleich die Frage auf, ob das Interesse an speziellen Kunstrichtungen eine Frage der Generation ist, also durch eine bestimmte Lebensphase und den mit dieser Phase verbundenen kulturellen Erfahrungen geprägt wird, oder eine Frage des Alters, dass man also in der Jugend von jugendkulturellen Musikstilen, im Alter dagegen von Klassik angesprochen wird. Hilfreich ist in diesem Kontext ein Zeitvergleich, den die folgende Übersicht darstellt. In diesem 10-jährigen Zeitvergleich wird deutlich, dass die Bevölkerungsanteile, die Konzerte eben genannter Musikrichtungen besuchen, innerhalb der einzelnen Altersgruppen nicht gleich bleiben, das Musikinteresse an Klassik also kein konstantes altersspeziÀVFKHV3KlQRPHQLVWGDVVSlWHVWHQVLP$OWHU UH DNWLYLHUWZLUGVRQGHUQ sich vielmehr zunehmend auch ältere Bevölkerungsgruppen verstärkt Rock-, Pop- und Jazzkonzerten zuwenden, Musikrichtungen also, die sie schon in der Jugendzeit gehört haben, während die Besuchsanteile

85

Susanne Keuchel

hEHUVLFKW,QWHUHVVHDQ0XVLNULFKWXQJHQLQGHU%HY|ONHUXQJDOOJHPHLQXQGEHLVSH]LHOOHQ$OWHUVJUXSSHQ Rock-/ Popkonzerte Klassische Musik (Konzert) Schlagerkonzert / Volkstüml. Musik Jazzkonzerte Hip-Hop, Techno, ähnliche Events Chorkonzerte Kirchenmusik(-konzerte)

Rheinschienen-Bevölkerung insg. Jugend-KulturBarometer (12-24 Jahre)

Folklore-Konzerte

50 bis 64 Jahre Neue Musik / Avantgarde

65 Jahre und älter 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

ZfKf / OmniQuest 2001; ZfKf / GfK 2004

hEHUVLFKW%HVXFKGHU%XQGHVEUJHUYRQNODVVLVFKHQ.RQ]HUWHQXQG 5RFN3RS-D]]NRQ]HUWHQLQQHUKDOEHLQHV-DKUHV  =I.I XQG =I.I  70% 60%

%HVXFKPLQGHLQHVNODVVLVFKHQ .RQ]HUWV (0XVLN LQQHUKDOEHLQHV-DKUHV

2004/2005 1993/1994

50% 40% 30% 20% 10% 0% 18-24 Jahre 70%

25-34 Jahre

35-49 Jahre

50-64 Jahre

65 Jahre und älter

%HVXFKPLQGHLQHV5RFN3RS-D]]NRQ]HUWVLQQHUKDOEHLQHV-DKUHV

60%

2004/2005

50%

1993/1994

40% 30% 20% 10% 0% 18-24 Jahre

25-34 Jahre

35-49 Jahre

ZfKf / GfK 2005

86

50-64 Jahre

65 Jahre und älter

9RPÅ+LJK7HFK´]XPÅ/LYH(YHQW´ für klassische Musikkonzerte in allen Altersgruppen mit Ausnahme der 65-Jährigen und Älteren gesunken sind. Dass es sich tatsächlich um eine tiefer gehende Trendentwicklung handelt, belegt das KulturBarometer 50plus (Keuchel / Wiesand 2008), eine Bevölkerungsumfrage der 50-Jährigen und Älteren. Betrachtet man hier speziell die Jüngeren unter den Älteren, so stellt man fest, dass den 38 Prozent der 50- bis 59-Jährigen, die sich für Rock-, Pop- und/oder Jazzinteressierten, nur noch 26 Prozent klassische Musikfans in der entsprechenden Altersgruppe gegenüber stehen. Man entdeckt also nicht, wie oftmals als These vertreten, im Alter den Geschmack an ,Klassik‘ (wieder), sondern behält vielmehr die Musikgewohnheiten, die sich in der Jugend entwickelt haben, auch im späteren Alter bei. Denn die heute 50bis 70-Jährigen sind erstmals im Jugendalter mit Rock 'n' Roll und Pop in Berührung gekommen. Damit zeichnet sich zugleich eine alarmierende Beobachtung für den Klassiksektor ab, denn für Konzert- und Opernhäuser bedeutet dies, dass sie sich künftig nicht mehr darauf verlassen können, dass ihnen ihr Publikum durch Generationswechsel quasi automatisch zuwächst. Vielmehr müssen sie sich auch um dieses Nutzerpotenzial verstärkt bemühen. Wie dies am besten gelingen kann und inwieweit ggf. die Rückgänge der jüngeren und mittleren Bevölkerungsanteile nicht nur mit dem schwindenden Interesse an Klassik, sondern auch mit der aktuellen Praxis von klassischen LiveKonzerten, die möglicherweise nicht mehr dem Gros der Erwartungen des potenziellen Publikums entspricht, erklärt werden können, wird im Folgenden ausführlicher diskutiert. Vorab sollte man jedoch noch auf eine Diskrepanz verweisen, die der aufmerksame Betrachter der beiden vorausgehenden Übersichten schon wahrgenommen hat: Der prozentuale Anteil der Musikinteressenten an Klassik in den einzelnen Altersgruppen entspricht nicht unbedingt dem jeweiligen Anteil der Konzertbesucher. Diese Beobachtung konnte in allen Bevölkerungsumfragen des ZfKf gemacht werden, nämlich dass das Interesse an einer Kunstrichtung nicht gleichbedeutend sein muss mit dem außerhäuslichen Besuch solcher Kulturangebote, ebenso wie der Besuch von speziellen Kulturangeboten nicht gleichbedeutend mit einem persönlichen Interesse ist. Dies gilt sicherlich in einem besonderen Maße für die Musik, die eben medial auf Tonträger jederzeit auch zu Hause abrufbar ist. Für Konzertveranstalter ist es wichtig zu wissen, dass ein Teil des aktuell erreichten Konzertpublikums keine

87

Susanne Keuchel expliziten Interessen mit der dargebotenen Musik verbindet. So wurden in einer regionalen Bevölkerungsumfrage in der Rheinschiene (Keuchel 2003) die Besucher klassischer Konzerthäuser in der Region untersucht mit dem Ergebnis, dass 53 Prozent von ihnen in der Befragung kein explizites Interesse für Klassische Musik vermerkten. Dass also ein Gros der Besucher sich nicht primär für die künstlerischen Inhalte eines Kulturangebots interessiert, sondern oft nur aus gesellschaftlichen und/ oder freizeitgestaltenden Motiven Kulturveranstaltungen besucht, sollte klassischen Konzertanbietern als Anlass dienen zu überprüfen, ob sich die Musikpräsentation auch Laien erschließt und diese fesselt oder grundVlW]OLFK IU GHQ .RQ]HUW]XJDQJ HLQ PXVLNVSH]LÀVFKHV ,QWHUHVVH YRUDXVgesetzt wird. Dass eine Kulturveranstaltung auch deshalb besucht wird, um Gleichgesinnte mit einem ähnlichen Lebensstil zu treffen, ist eine Erkenntnis, die schon Bourdieu (1982) beschrieb, die heute jedoch angesichts zunehmend differenzierter Lebensstile und Milieuzugehörigkeiten noch an Bedeutung gewinnt, wie dies auch Gerhard Schulze (1992) vertritt, indem er darauf verweist, dass Milieus sich heute noch stärker über GLH)UHL]HLWJHVWDOWXQJXQGJHZlKOWH/HEHQVVWLOHGHÀQLHUHQ'LH6HKQVXFKW nach dem Live-Erlebnis ist also immer auch verbunden mit der Sehnsucht nach angenehmer Gesellschaft.

7UHQGVXQG(UIROJVUH]HSWHIU/LYH.RQ]HUWH Eigene kulturelle Interessen oder die des Freundeskreises sind zwar notwendige bzw. grundlegende Voraussetzungen, um Bevölkerungsgruppen für einen klassischen Konzertbesuch zu motivieren, diese Gegebenheiten reichen jedoch nicht aus, um aus einem kulturoffenen Menschen einen Konzertbesucher zu machen. Auf dem Weg ins Konzert müssen den Einzelnen auch die Rahmenbedingungen und die Angebotsgestaltung ansprechen, damit dieser bereit ist, die vielfach wieder knapper werdenden )UHL]HLWUHVVRXUFHQEHUGLHEHUXÁLFKHLQJHEXQGHQH0HQVFKHQPLWK|KHrer Schulbildung4 verfügen, in einen Konzertbesuch zu investieren.

$XWKHQWL]LWlWXQGJXWH8QWHUKDOWXQJ In erster Linie zählt das Bedürfnis, „gut“ unterhalten zu werden, und hier herrscht Einigkeit über alle Generationen hinweg. Dabei ist, anders als erwartet, gerade den älteren Bevölkerungsgruppen die Unterhaltung bei Kulturbesuchen besonders wichtig – und nicht der jungen

88

9RPÅ+LJK7HFK´]XPÅ/LYH(YHQW´ „Spaßgesellschaft“ (Schulze 2005). Vielleicht assoziieren jedoch ältere Menschen mit Kultur eher einen Unterhaltungswert als Jüngere, die durch die sehr „deutsche“ Unterscheidung in U- und E-Musik geprägt worden sind, die von der Verteilungspraxis der Verwertungsgesellschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts stammt, noch gar nicht so alt ist und in der Handhabung und Aussageform durchaus kontrovers diskutiert wird (Hansen 1986).

hEHUVLFKW(UZDUWXQJHQGLHPLWHLQHP.XOWXUEHVXFK YHUEXQGHQZHUGHQEHLELV-lKULJHQ .HXFKHO  XQGGHUHUZDFKVHQHQ%HY|ONHUXQJDE-DKUH =HQWUXPIU.XOWXUIRUVFKXQJ  Gute Unterhaltung Etwas live zu erleben 14 bis 24 Jahre

Spaß und Action

25 bis 49 Jahre 50 Jahre und älter

Gute Atmosphäre Verbesserung der Allgemeinbildung Überraschende Eindrücke, künstlerische Impulse Nette Leute, die mich begleiten, in der Szene sein Neue Ideen bzw. Anregungen Gefühl, etwas Außergewöhnliches zu tun Sonstiges Nichts Besonderes 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

ZfKf/GfK 2004, 2005

Die „Spaßgesellschaft“ kommt dann jedoch bei dem in der Bevölkerungsumfrage thematisierten Bedarf an „Spaß und Action“ zum Tragen, der von den befragten 14- bis 24-Jährigen immerhin an dritter Stelle bei den Erwartungen bezüglich eines Kulturbesuchs genannt wird –, man bedenke hier die visuell spektakulär, aufwändig inszenierten Shows mit atemberaubenden Special Effects der heutigen Pop- und Rockstars und

89

Susanne Keuchel vor allem die medialen Erfahrungen, die die Sehgewohnheiten junger Menschen im Hinblick auf zeitgenössische Filme und Videoclips mit sehr VFKQHOOHQ6FKQLWWXQG+DQGOXQJVVHTXHQ]HQEHHLQÁXVVWKDEHQ Sehr aussagekräftig für die Bewertung des wachsenden Interesses DQ /LYH.RQ]HUWHQ LVW GLH ]ZHLWKlXÀJVWH 1HQQXQJ GLH EHL GHQ  ELV 24-Jährigen mit dem zentralen Wunsch nach guter Unterhaltung sogar anteilig prozentual nahezu auf einer Stufe steht: die Erwartung, etwas „live“ zu erleben, die Authentizität eines Kunstwerks zu erfahren. Der Altersvergleich macht deutlich, dass es sich in der Tat um eine Trendwende handelt: Die jungen Bevölkerungsgruppen messen dem Live-Erlebnis einen deutlich höheren Stellenwert bei als die älteren. In einer zunehmend virtuellen Welt, in der die Kommunikation in weiten Teilen elektronisch per Handy, E-Mail und Internet verläuft, gewinnt die reale Begegnung mit Personen und Werken an Bedeutung.

1HXH.RQ]HUWIRUPDWH&OXEV*DVWURQRPLH XQJHZ|KQOLFKH2UWHXQG=HLWHQ Ein ebenfalls nicht zu unterschätzender Faktor ist, und hier herrscht wiederum Einigkeit über alle Altersgruppen hinweg, die gute, stimmige bzw. lockere Atmosphäre beim Konzertbesuch. Dabei ist die Sorge um das leibliche Wohl, gleichfalls generationsübergreifend, mit 72 Prozent eines der wichtigsten Anliegen. Folglich wünscht sich das Publikum eine Bewirtung auch während eines Konzerts – im besten Falle, wie beim Waldbühnenkonzert der Berliner Philharmoniker, sogar während des Konzertgenusses, beispielsweise in Form eines Picknickkorbs. Die Lockerheit der Waldbühnenkonzerte wird dabei durch weitere Veranstaltungselemente wie die La-Ola-Welle beim Konzert oder wettergerechte Kleidung unterstrichen. Neue und ungewöhnliche Veranstaltungsformen, -orte und -zeiten sind vor allem bei jüngeren Bevölkerungsgruppen gefragt. So nannten beispielsweise beim Jugend-KulturBarometer die jungen Leute auf die Frage, welche kulturellen Einrichtungen für sie bei der Entscheidung, in eine andere Stadt zu ziehen, besonders wichtig seien, an vierter Stelle kulturelle Open-Air-Veranstaltungen, nach Jugendclubs, Konzerthallen, Stadtbüchereien und noch vor Theatern, Kunstmuseen oder der Volkshochschule. Konzerte und Events, die an verschiedenen Orten gleichzeitig VWDWWÀQden, erleben, auch bei älteren Bevölkerungsgruppen, eine vergleichsweise

90

9RPÅ+LJK7HFK´]XPÅ/LYH(YHQW´

hEHUVLFKW%HYRU]XJWH9HUDQVWDOWXQJVIRUPDWHEHLELV -lKULJHQ .HXFKHO XQGGHUHUZDFKVHQHQ%HY|ONHUXQJDE -DKUH =HQWUXPIU.XOWXUIRUVFKXQJ  Locker mit Essen und Trinken unter 25 Jahre 25 bis 49 Jahre 50 Jahre u. älter

Events Verschiedene Orte gleichzeitig Messen Club Groß-(Massen-)veranstaltungen Im kleinen Personenkreis Unterschiedliche Sparten und Themen Kombiangebot Veranstaltungen mitgestalten Workshop Online-Veranstaltungen Veranstaltungsreihen 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

ZfKf/GfK 2004, 2005

hohe Akzeptanz, wie beispielsweise die Lange Nacht der Musik in München, die jedoch alle Musikrichtungen, nicht nur klassische oder zeitgenössische aufgreift und auf dem Konzept der mittlerweile etablierten Langen Nacht der Museen beruht. Hier werden nicht nur verschiedene Orte eingebunden, sondern auch ungewöhnliche Veranstaltungszeiten, die das Eventerlebnis unterstreichen. Massenveranstaltungen sind offenbar selbst bei jungen Leuten nicht mehr so hoch im Kurs, wie dies der Zuspruch für die Love-Parade oder das Public Viewing beim EM-Fieber vermuten lassen. Nahezu gleichauf liegt bei jungen Leuten das Interesse für Veranstaltungen im Club oder in kleinen Personenkreisen. Das Exklusive gewinnt also zunehmend (auch) an Bedeutung gegenüber dem für alle Zugänglichen.

91

Susanne Keuchel Ein sehr erfolgreiches Modell, das das Clubformat in den Klassikbereich transportiert und damit ein jüngeres gebildetes Milieu der 20- bis 30-Jährigen anspricht, ist die Yellow Lounge der Deutschen Grammophon. DJs legen in einem Berliner Szeneclub klassische Musik auf. Den Höhepunkt bildet der Live-Act mit namhaften Musikern wie Yundi Li, Emerson String Quartett oder Anna Gourari. Der Habitus der Zuhörer bei diesen Konzerten ist analog gehalten zu anderen Clubevents. Man pfeift und johlt, um Begeisterung zu demonstrieren. Man bewegt sich in einem intimeren Kreis des eigenen Milieus mit eigenen Regeln: Nicht zuletzt dadurch entsteht ein „Event“. Der wachsende Stellenwert des „Live-Erlebnisses“ wird auch durch den geringen Stellenwert der Online-Veranstaltungen unterstrichen (vgl. Übersicht 4). Anders verhält es sich dagegen mit „Public Viewing“, das wiederum ein Gemeinschaftserlebnis darstellt und, wie bei den Bayreuther Festspielen 5 demonstriert, durch eine Live-Übertragung am Veranstaltungsort eine eigene Authentizität gewinnt, die als Event auch im Konzertbereich sehr positiv angenommen wird.

1LFKW]XRIW²6HOWHQH.RQ]HUWIRUPDWHSURÀWLHUHQ YRP5HL]GHV%HVRQGHUHQ Übersicht 4 verdeutlicht, dass Veranstaltungsreihen im Kulturbereich vor DOOHPEHLGHQXQWHU-lKULJHQNDXP=XVSUXFKÀQGHQ'DV1DFKODVVHQ der Bereitschaft, sich an eine Kultureinrichtung oder ein spezielles Angebot zu binden, ist ein allgemeines, schon seit längerem beobachtetes Phänomen (Wiesand 1995).6 In der folgenden Übersicht zur +lXÀJNHLWGHV%HVXFKVYRQ8XQG(.RQ]HUWHQLQHLQHP]ZDQ]LJMlKULgen Zeitvergleich wird nicht nur die bereits erwähnte Vergrößerung des Rock-/Popmusik- und tendenzielle Abnahme des Klassikpublikums in GHQOHW]WHQ-DKUHQGHXWOLFKVRQGHUQDXFKGLH$EQDKPHGHU+lXÀJNHLW des Konzertbesuchs innerhalb eines Jahres bezogen auf den Einzelnen. 'LHV JLOW IU EHLGH 0XVLNULFKWXQJHQ /DJ GHU $QWHLO GHU KlXÀJHQ Konzertgänger im Bereich Rock und Pop 1984/85 bei 5 Prozent und der Klassik bei 8 Prozent, ist er heute für beide Musikrichtungen auf 2 Prozent gesunken. Mitverantwortlich für dieses Phänomen ist zum einen sicherlich die stetige Vergrößerung des Kultur-, Medien- und Freizeitangebots, nicht zuletzt durch private Kulturanbieter, zum anderen die schon angesprochene Problematik des wieder kleiner werdenden Freizeitbudgets

92

9RPÅ+LJK7HFK´]XPÅ/LYH(YHQW´

hEHUVLFKW+lXÀJNHLWGHU.RQ]HUWEHVXFKHYRQ5RFN3RSPXVLNXQG .ODVVLVFKHU0XVLNLQQHUKDOEHLQHV-DKUHV LP=HLWYHUJOHLFKYRQELV

Besuchsfrequenz

5RFN3RSNRQ]HUWH 2%

KlXÀJ$ER 2-3 mal einmal keine

2004/05 66% 3% 1993/94 75% 5% 1984/85

88% 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

Besuchsfrequenz

.RQ]HUWH(0XVLN 6\PSKRQLH.DPPHU.LUFKHQNRQ]HUW  2%

KlXÀJ$ER 2-3 mal einmal keine

2004/05 70% 6% 1993/94 64% 8% 1984/85

80% 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

ZfKf (IFP)/ Ifak 1985; ZfKf / Infas 1994; ZfKf / GfK 2005

VSH]LHOOEHLK|KHUJHELOGHWHQNXOWXUDIÀQHQ%HY|ONHUXQJVJUXSSHQGLHLP Berufsleben stehen. Diese Entwicklungen, eine wachsende Angebotsfülle auf der einen und weniger Freizeit auf der anderen Seite, sind vielleicht auch mit verantwortlich für die zunehmend verbreitete Sehnsucht nach dem Besonderen XQGHLQ$UJXPHQWGDIUJHOXQJHQH.RQ]HUWDNWLRQHQQLFKW]XKlXÀJ]X wiederholen, da sie sonst den Reiz des Besonderen verlieren.

([NXUV:LHNDQQPDQHLQMXQJHV3XEOLNXP IUNODVVLVFKH.RQ]HUWHPRWLYLHUHQ" Neben der Notwendigkeit, einem Konzerterlebnis mehr Eventcharakter zu verleihen, das Besondere des Authentischen zu unterstreichen, wurden speziell im Rahmen des 1. Jugend-KulturBarometers einige Maßnahmen ermittelt, die helfen, junge Menschen effektiver an Kunst und Kultur

93

Susanne Keuchel heranzuführen, und die weniger in Richtung Marketing zielen als vielmehr in den Bereich „Kulturelle Bildung“. So ist es vorteilhaft, junge Menschen schon sehr früh mit Kunst und Kultur in Kontakt zu bringen, bevor sie in ihren Wahrnehmungen und 3UlIHUHQ]HQYRQ0HGLHQXQG3HHUJURXSVEHHLQÁXVVWZHUGHQGHQQ8QWHU den jungen Leuten, die schon im Vorschulalter mit Kunst in Berührung JHNRPPHQVLQGÀQGHWVLFKKHXWHHLQEHDFKWOLFKHU$QWHLOYRQ3UR]HQW die sehr stark bzw. stark kulturinteressiert sind. Je später eine Begegnung mit Kunst und Kultur zustande kommt, umso geringer wird dieser Anteil, mit einer Ausnahme: Werden Jugendliche im Alter von 16 Jahren, die vorher noch keine entsprechenden Berührungspunkte hatten, erstmals eigenständig in der Freizeit künstlerisch-kreativ, wächst ihr Interesse an kulturellen Angeboten. Dieses Phänomen ist leicht zu erklären: Wenn junge Erwachsene über eigene Erfahrungen ein Verständnis dafür gewinnen, welche Anstrengungen und Begabungen hinter einem künstlerischen Prozess stehen, kann erstmals auch das Interesse für Werke von Künstlern geweckt werden. Um den frühen Zugang zu Kunst und Kultur zu vereinfachen, ist es DXFKZLFKWLJQLFKW]XKRKHÀQDQ]LHOOH+UGHQDXI]XEDXHQ²ZHGHUIU die Eltern, wenn sie mit ihren Kindern Kulturangebote besuchen wollen, noch für die jungen Leute, wenn sie eigenständig ihre Freizeit gestalten. Der Eintrittspreis wird an erster Stelle als Hinderungsgrund vor allem von den jungen Leuten genannt, die sich mittelmäßig bis gar nicht für Kultur interessieren. Ein zentraler Baustein zur Generierung von Kulturinteressen bei jungen Menschen ist das Erreichen ihres sozialen Umfelds. Jugendliche aller Bildungsschichten begründen das eigene Desinteresse auf künstlerischem Gebiet vor allem mit jenem ihrer Freunde, gleich nach der fehlenden künstlerischen Veranlagung der Familie (was übrigens auch noch einmal den wichtigen Stellenwert der Eltern als Vorbild und Teil des sozialen Umfelds unterstreicht) und der Erzeugung von Langeweile. In der Analyse des Jugend-KulturBarometersNRQQWHVHKUVLJQLÀNDQWEHobachtet werden, dass junge Menschen künstlerischen bzw. musischen Aktivitäten umso aufgeschlossener gegenüberstehen, je mehr Personen und Institutionen eben solche Aktivitäten mit ihnen gemeinsam ausgeübt haben. Diese Multiplikatoren sind neben den schon genannten wie Eltern, Schule und Freundeskreis auch Vereine, AGs, Verwandte, Bekannte usw.

94

9RPÅ+LJK7HFK´]XPÅ/LYH(YHQW´ Insbesondere im Konzertbereich spielt zudem der bereits erwähnte hohe Stellenwert eigener künstlerischer Kreativität für die Bewertung professioneller künstlerischer Leistung eine bedeutende Rolle und hier nicht nur speziell für Jugendliche im Alter von 16 Jahren, die bisher keine Begegnungen mit dem Kunst- und Kulturbereich hatten. Wird Klassische Musik gerade einmal von 9 Prozent der jungen Leute als persönliches Interessenfeld hervorgehoben, liegt dieser Anteil bei denjenigen, die selbst schon einmal in der Freizeit gesungen oder musiziert haben und daher die musikalische Leistung von Dritten besser einschätzen und anerkennen können, doch deutlich höher (vgl. Übersicht 6).

hEHUVLFKW%H]LHKXQJ]ZLVFKHQGHPHLJHQHQ0XVL]LHUHQLQGHU )UHL]HLWXQGGHP,QWHUHVVHDQ.ODVVLVFKHU0XVLN 40%

Anteil klassischer Musikinteressenten

35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% Musikinstrument spielen

Singen

Aktuelles Hobby

Musikinstrument spielen

Singen

Junge Bevölkerung insg.

Schon einmal gemacht in der Freizeit

ZfKf / GfK 2005

)D]LWXQG(PSIHKOXQJHQ]XU*HVWDOWXQJYRQ KHXWHHUIROJUHLFKHQ/LYH.RQ]HUWHQ Die dargelegten empirischen Befunde unterstreichen das wachsende Interesse an Live-Konzerten. Dieses kann letztlich ebenso wie der Umsatzrückgang bei Musiktonträgern auf die technischen Entwicklungen zurückgeführt werden. War es einst ein Statussymbol, eine umfangreiche Schallplattensammlung zu besitzen, hat sich dies in Zeiten stets verIJEDUHU ,QWHUQHWELEOLRWKHNHQ XQG ]XQHKPHQG EHUXÁLFK HLQJHIRUGHUWHU Flexibilität geändert (Sennett 1998). Mit dem Handy, das im Kleinformat

95

Susanne Keuchel Computer und Tonträgersammlung ersetzt, ist man jederzeit mobil (Barz / Kampik / Singer 2001). Platzeinnehmende Medien werden zu unnötigem Ballast. Was bleibt, ist der Moment, das Live-Erlebnis, und angesichts zunehmender virtueller Alltagserfahrungen – man kommuniziert per Handy oder E-Mail – wird das authentische Erlebnis zu einem besonderen. Die Bedeutung des nicht festzuhaltenden Moments nimmt also zu, wenn er denn zu einem speziellen Erlebnis gemacht wird. Hier steht die Aufführungskultur des klassischen Konzertbereichs vor der Herausforderung, neue Bildungsangebote und Veranstaltungsformate zu entwickeln, um die Bevölkerung mit ihren heute durch Medien und Freizeitindustrie veränderten Wahrnehmungserfahrungen anzusprechen. Aufgrund der eben diskutierten empirischen Ergebnisse können hierzu folgende Empfehlungen ausgesprochen werden: - Kulturelle Bildung ist der Schlüssel für ein verstärktes Interesse an professionellen künstlerischen Darbietungen: Das Musizieren bei der Jugend zu fördern, ist eine Investition in das Konzertpublikum von morgen. - Bei der Entwicklung neuer Veranstaltungsformate sollte dem Gemeinschaftserlebnis, Menschen ähnlichen Milieus zu begegnen, mehr Raum beigemessen werden. - Der Bedarf an kombinierten Freizeitangeboten, die gesellschaftlichen Austausch, Essen und Trinken sowie kulturelle Erlebnisse gleichzeitig ermöglichen, ist gestiegen und sollte bei der (QWZLFNOXQJQHXHU)RUPDWHHEHQIDOOV%HUFNVLFKWLJXQJÀQGHQ - Aufgrund der veränderten Seh- und Erlebnisgewohnheiten durch Medien und Freizeitindustrie sollten mehr optische Reize bei einem Konzerterlebnis dargeboten werden, beispielsweise durch ungewöhnliche Veranstaltungsorte, das Kombinieren verschiedener Veranstaltungsorte oder medialer Unterstützung, Einblenden von Filmsequenzen, einzelnen Musikern oder Instrumentengruppen in der Nahaufnahme. Auch moderierte Konzerte können für Abwechslung beim Konzerterlebnis sorgen.7 - Ein Experimentieren mit neuen Veranstaltungsformaten, die das Gesellige unterstreichen, z.B. dem Clubformat oder auch eine stärkere Einbeziehung des Publikums im Rahmen von interaktiven Konzeptideen, ist aufgrund des gewachsenen Bedarfs an reellen Gemeinschaftserlebnissen mit Künstlern und Gleichgesinnten auch dem klassischen Konzertbereich anzuraten.

96

9RPÅ+LJK7HFK´]XPÅ/LYH(YHQW´ - Orchester bzw. klassische Konzertanbieter sollten sich mit möglichst vielen Multiplikatoren des öffentlichen Lebens (Kindergärten, Schulen, Musik-, Sport- oder Migrantenvereinen) vernetzen, um sich neue Publikumsschichten erschließen zu können. - Originelle, neue Konzertformate sollten nicht zu oft wiederholt werden, damit der Reiz des Besonderen nicht verloren geht. - Allgemein sollte in der Öffentlichkeitsarbeit der Konzertpraxis das aktuelle Verlangen nach dem authentischen Erlebnis genutzt werden, indem man den Live-Aspekt des Konzerts, das Besondere, das Einmalige unterstreicht! Die musikalische Aufführungskultur unterliegt einem kontinuierlichen Wandel. Das Konzertformat, wie wir es heute kennen, entstand mit Beginn des bürgerlichen Musiklebens im 18. Jahrhundert (Dahlhaus / Danuser 1985). War öffentliche Musikdarbietung ohne Tanz zuvor LPPHU PLW HLQHP UHOLJL|VHQ RGHU K|ÀVFKHQ Begängnis verbunden gewesen, wurde sie jetzt erstmals als selbstzweckhafte Kunstübung verstanden. Das Konzertformat des konzentrierten, analytisch hörenden Konzertbesuchers, der den Blick schweigend und sitzend über einen längeren Zeitraum frontal zur Bühne richtet, ist also nur ein Modell unter anderen und sollte durchaus im Rahmen sich wandelnder gesellschaftlicher Bedingungen auch in Frage gestellt und verändert werden können, so lange man das Interesse an der Musik dadurch nicht nur bewahrt, sondern auch im gesellschaftlichen Leben lebendig halten kann.

$QPHUNXQJHQ 1. „Das Umsatzvolumen der Verbandsmitglieder“ des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft war „mit 2,49 Milliarden € im Jahr 2000 auf 1,65 Milliarden € im Jahr 2003 zurück gefallen.“ (Söndermann 2006: 139f). Nach diesem dramatischen Einbruch waren in den Folgejahren moderatere Umsatzrückgänge zu beobachten. So ging der Umsatz mit Musikprodukten 2007 im Vergleich zum Vorjahr bezogen auf den Gesamtumsatz (hier nicht nur Mitglieder des Verbands) leicht um 3,2% auf 1,65 Milliarden Euro zurück. Siehe: Jahreswirtschaftsberichte in den Jahrbüchern des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft.

97

Susanne Keuchel /DXW=HLWXQJVEHULFKWHQSODQW0DGRQQDGHQ9HUWUDJPLWLKUHU3ODWWHQÀUPD]XNQGLJHQ um einen anderen mit der Konzertagentur Live Nation abzuschließen. Verfügbar unter: http://satundkabel.magnus.de [15.10.08]. 3. Vgl. KulturBarometer-Reihe 1-8, bundesweite Bevölkerungsumfragen, herausgegeben vom Zentrum für Kulturforschung (ZfKf). Vgl. auch Keuchel 2003; ebd. 2006; Keuchel / Wiesand 2008 sowie Klein 2003. 4. „Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich und der Trend zur 40-Stunden-Woche können folgenreich sein: ... Die Verbraucher entwickeln sich zu Zeitsparern“ Verfügbar unter: http://www.bat.de [1.10.08]. Vgl. auch Opaschowski (2004) 5. Am 27.7.08 wurde die Aufführung von Wagners Die Meistersinger von Nürnberg live auf dem Festplatz in Bayreuth übertragen. Dies nutzten ca. 15.000 Wagner-Fans. 6. Vgl. Keuchel 2005. 7. Sowohl eine mediale Präsentation als auch eine Moderation werden beim neuen Jugendkonzertformat Ignition der Tonhalle Düsseldorf eingebunden. Verfügbar unter: www.321ignition.de [15.10.08].

/LWHUDWXU Barz, Heiner / Kampik, Wilhelm / Singer, Thomas (2001): Neue Werte, neue Wünsche. Future Values, Regensburg: Walhalla und Praetoria. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft (idkv) (Hg.) (2007): GfK-Studie zum Konsumverhalten der Konzertund Veranstaltungsbesucher in Deutschland. Nürnberg. Verfügbar unter: www.trenz.de/dateien/11872/Kongress-AbschlussPM.doc.rtf [15.10.08]. Dahlhaus, Carl / Danuser, Hermann (1985): Neues Handbuch der Musikwissenschaft. Die Musik des 18. Jahrhunderts. Band 5. Laaber: Laaber. Hansen, Bernhard (Hg.) (1986): „Über die Grenzen“. E- und U-Musik – Bestandaufnahme einer musikalischen Entwicklung. Referate und Diskussionen des IV. Europäischen Komponisten-Symposions 13. 15. September 1985 in Kiel. Glinde. Keuchel, Susanne (2003): Rheinschiene – Kulturschiene. Mobilität – Meinungen – Marketing. Hg. von ZfKf, Bonn: ARCult Media. Keuchel, Susanne (2005): „Das Kulturpublikum zwischen Kontinuität und Wandel – Empirische Perspektiven“, in: Institut für Kulturpolitik (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Bonn: Klartext.

98

9RPÅ+LJK7HFK´]XPÅ/LYH(YHQW´ Keuchel, Susanne (2006): „Das 1. Jugend-KulturBarometer“, in: Keuchel, Susanne / Wiesand, Andreas Johannes (Hg.): Das 1. JugendKulturBarometer. Zwischen Eminem und Picasso, Bonn: ARCult Media. Keuchel, Susanne / Wiesand, Andreas Johannes (Hg.) (2008): Das KulturBarometer 50+. „Zwischen Bach und Blues...“. Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage, Bonn: ARCult Media. Klein, Armin (2003): Besucherbindung im Kulturbetrieb. Ein Handbuch, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Opaschowski, Horst W. (2004): DEUTSCHLAND 2020. Wie wir morgen leben – Prognosen der Wissenschaft, Wiesbaden: VS. Schulze, Gerhard (2005): Die Erlebnisgesellschaft,$XÁ)UDQNIXUW a.M.: Campusverlag. Sennett, Richard (1998): 'HUÁH[LEOH0HQVFK'LH.XOWXUGHVQHXHQ Kapitalismus, Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag. Söndermann, Michael (2006): „Musikwirtschaft“, in: Deutscher Musikrat (Hg.): Musikalmanach 2007/08, Regensburg: ConBrio. Wiesand, Andreas Johannes (1995): „Musiktheater und Konzerte. Mehr Rückhalt in der Bevölkerung“, in: Das Orchester (6). Zentrum für Kulturforschung (Hg.) (1994): 5. KulturBarometer. Tabellenband, Bonn: ARCult Media. Zentrum für Kulturforschung (Hg.) (2005): 8. KulturBarometer. Tabellenband, Bonn: ARCult Media.

99

II. Ritual und Performance

Zwischen Formalisierung und Überhöhung Das westliche Konzertgeschehen aus musikethnologischer Perspektive

Raimund Vogels

Die Frage: „Ist dies ein Ritual?“ ist aus musikethnologischer Perspektive wenig ergiebig. Sinnvoller erscheint dagegen zu fragen: „Wer hält dies oder jenes für ein Ritual und warum?“ Nur so wird die Standortgebundenheit des Fragenden, seine zeitliche und kulturelle Perspektive, deutlich. Es soll hier vielmehr der Versuch gewagt werden, Einsichten über den westlichen Kulturbetrieb zu gewinnen, durch einen paradigmatischen Blick auf ein Begräbnisritual der Bura Nordostnigerias, um zu fragen, was es überhaupt zum Ritual macht. Das Verfahren, auf die vermeintlich fremde Kultur zu schauen, bis man sich selber fremd genug wird, um nochmals neu über sich selber nachzudenken, beschreibt dabei ziemlich genau das Verfahren musikethnologischer Forschung. Dass das Thema jedoch nicht ohne Bedeutung ist, lässt sich daran erkennen, dass auch das „Mutterschiff“ der deutschen geisteswissenschaftlichen Forschung, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in den vergangenen Jahren große und entsprechend teure Sonderforschungsbereiche auf den Weg brachte, die Begriffe wie Ritual und Ritualdynamik, Theatralität, Perfomativität, Erinnerungskultur 1 etc. thematisieren. Im Prinzip geht es bei allen diesen SFBs um Formen kultureller Produktion, Rezeption und Konsumption und ihrer Veränderung unter den Bedingungen der „späten Moderne“. Dabei wird Kultur keineswegs als statisches „Monument“ gefasst, sondern als Form und Gefüge symbolischer Kommunikation mit hohem dynamischem Potenzial. Es geht um Inszenierungen, um

Raimund Vogels das beständige Werden und Umdeuten kultureller Prozesse. Die viel beschworenen Brüche der Kontinuität und die Ablösung der Tradition sind nicht nur unverzichtbare Komponenten einer jeden Antragslyrik, sondern sie sind tatsächlich zu einer Realität geworden, die unmittelbar auch die Fragen zur Musikvermittlung und Aufführungskultur berührt. In einem ersten Schritt soll dazu sehr reduziert Ablauf, Sinn und Logik dieses Rituals beschrieben werden, um anzudeuten, wie Musik in Nordostnigeria zur Stabilisierung, Konsolidierung und Weiterentwicklung der Gesellschaft beiträgt. 2 Daran sollen die Fragen anschließen, welche Eigenschaften das beschriebene Ritual aufweist, und welche Schlüsse gezogen werden können, wenn die gewonnen Kriterien auf den Konzertbetrieb übertragen werden?

Das ,Fremde‘ ... Wer die Begräbnisfeiern der Bura in Nordostnigeria verstehen will, muss wissen, dass es sich um symbolisch hoch aufgeladene, kommunikative Akte handelt, bei denen die Akteure „Menschen, Ahne, Geist“, ausgelöst durch den Tod, ihr Verhältnis zueinander neu bestimmen. Musik in ihrem weitesten Bedeutungszusammenhang, also unter Einschluss von Repertoire, Text, Tanz, Lyrik, Dramaturgie, ja bis hin zu Bekleidung etc., ist zentraler Bestandteil dieser symbolischen Kommunikation – sie ist damit umfassend bedeutungsvoll. Der Fortbestand der Familie bzw. des Clans ist die höchste moralischreligiöse Richtschnur. Die Ahnen zählen dabei mit zur Gemeinschaft der /HEHQGHQDXIGLHVLH0DFKWXQG(LQÁXVVDXVEHQ,KU6HJHQXQG6FKXW] entscheidet über Erfolg oder Misserfolg der Vorhaben der Lebenden. Das Verhältnis zu den Ahnen ist jedoch ein zweiseitiges, da die Ahnen des Gedenkens und der Rituale der Lebenden bedürfen, um nicht vergessen zu werden. Nicht jeder Verstorbene kann Ahne werden. Vier Kriterien entscheiden darüber, wem es gelingt, ein Glied dieser Lebenskette zu werden: Er muss erstens ein moralisches Leben geführt haben, zweitens über Nachkommen verfügen, drittens die Umstände seines Todes müssen über jeden Zweifel der Hexerei erhaben sein und viertens muss seine Bestattung strikt den rituellen Vorgaben folgen. Jedes dieser Kriterien ist schlüssig im Sinne einer Qualitätsprüfung, denn die Verantwortung für die =XNXQIWGHV&ODQVGDUIPDQZHGHU=XIlOOHQQRFKIUHPGHU(LQÁXVVQDKPH

104

Zwischen Formalisierung und Überhöhung überlassen. Ein Generationenvertrag also, der dann beginnt, wenn bei uns die Rentenzahlungen bereits eingestellt wurden. Insgesamt lassen sich bis zu 39 Ritualschritte festhalten, die sich grob in die folgenden fünf Phasen unterteilen lassen: 1. erster Tag: Verkündung des Todes mit Respektbekundung für den Geist des Toten mit Waschungen, Bekanntmachung, Opferungen und Begräbnisvorbereitungen, 2. erste Nacht: kritische Phase, in der sich zeigt, ob der Tote durch Hexerei umgekommen ist, 3. zweiter Tag: Phase des Abschiednehmens, der Respektbekundung und der Grablegung, 4. dritter bis siebter Tag: kritische Phase, in der die Nachkommen zeigen, dass sie den Geist mit Speisen versorgen und diese angenommen werden, endgültige Verschließung des Grabes, 5. nach vier Monaten: Abschluss der Ritualfolge, Neuorganisation der sozialen Gemeinschaft und Festigung der Bindung zum Ahnen. Die formalisierten Handlungsabläufe gewähren eine Orientierung, wo angesichts des Todes Chaos eigentlich vorprogrammiert wäre. Die Einbindung der Todeserfahrung in einen Katalog ritueller Vorgaben erlaubt somit die Reduktion der Komplexität des Geschehenen auf eine zu bewältigende Größe. Denn die rituelle Handlung wird schon allein im Vollzug durch den Menschen wirkmächtig. Der rituelle Vollzug bietet die Lösungen des Unlösbaren. Dem Ritus wohnt also eine innere Widersprüchlichkeit inne, da der Mensch dort eingreift, wo er eigentlich weder befähigt noch berechtigt ist. )UGLH$XÁ|VXQJGLHVHVLQQHUHQ:LGHUVSUXFKVHUZHLVWVLFKGLH0XVLN als zentrales Mittel. Im Denken der Bura bilden Analogieschlüsse eine wichtige Grundlage des logischen Systems. In ihrer nicht-dinglichen und nicht-fassbaren Natur verfügt die Musik über große Ähnlichkeiten mit den Ahnen. Obwohl beide nicht zu greifen sind, werden beide als mächtig empfunden, beide haben die Fähigkeit einzugreifen und den Menschen zu verändern. In der Vergänglichkeit des Verklingens wird Musik zum Sinnbild für den Menschen, der vergeht und doch Bestand hat. Auf der Grundlage dieser Ähnlichkeit wird Musik zum Hauptkommunikationsmittel zwischen den Welten, weshalb sich die Bedeutung der Musik im Ritus enorm verdichtet. Scheitern rituelle

105

Raimund Vogels

Prozesse, sind die Folgen für die Menschen unvorhersehbar. Der Musik als wesentlichem Steuerungsmittel fällt dabei eine zentrale Rolle zu. In der heutigen Ritualforschung 3 werden regelmäßig die folgenden fünf Merkmale genannt, um ein Ritual hinreichend von der alltäglichen, wiederholten Routinehandlung, Stichwort Zähneputzen, zu unterscheiden:

Verkörperung Rituale werden immer von absichtsvoll handelnden Akteuren begangen, die in einem sozialen und konkret raum-zeitlichen Bezug zueinander steKHQ,KU+DQGHOQÀQGHWLQHLQHU$UW|IIHQWOLFKHQ,QV]HQLHUXQJVWDWW'DV Begräbnisritual der Bura erfüllt diese Merkmale zweifelsfrei. Die Absicht besteht in der erfolgreichen Begleitung des Toten in das Ahnenreich. Das Ritual besteht somit aus einer Abfolge performativer Vorgänge, die an eine zentrale, wenn auch körperlich abwesende Person gerichtet ist, um den Sozialverbund zu stärken. Durch die Musik wird die Interaktion zwischen den Beteiligten gesteuert. Dies gelingt nur, weil die Musik in mehrdimensionaler Weise bedeutungsvoll ist: als Trägerin des sozialen Austausches, als rhythmisch-motionales Pattern, das den Körper beim Tanz steuert, als emotionaler Katalysator für die Trauernden, als Agent im Diskurs der unterschiedlichen Welten.

Förmlichkeit Rituale sind durch ein vorgeschriebenes formales Verhalten gekennzeichnet. Auf der Grundlage eines Scripts, das an der wiederholten Handlung DEJHOHVHQ ZHUGHQ NDQQ ÀQGHW GLH ,QV]HQLHUXQJ E]Z $XIIKUXQJ VWDWW Das Ritual bei den Bura verfügt über eine eingrenzbare Form, ohne dass sie deswegen in starrer Förmlichkeit verkrustet. Vielmehr gehören dynamische Veränderungs- und Anpassungsprozesse wesentlich zum Ritual dazu, da nur so auf den gesamtgesellschaftlichen Wandel reagiert werden kann. Diese Ritualdynamik, die den Wandel als das Konstante berücksichtigt, stellt einen festen Bestandteil des Geschehens dar, da zahlreiche Schritte unterschiedliche Grade an Verbindlichkeit aufweisen und unscharf in der Festlegung der vorgeschriebenen Ausgestaltung sind. Denn es wirken zahlreiche Parameter auf die Inszenierung ein, so dass kaum ein Begräbnisritual eins zu eins einem anderen entspricht. Zu diesen Parameter zählen Alter, Geschlecht, sozialer Rang, die Todesart, Größe der Familie, Wohnort (auf dem Land wird anders gefeiert als in der Stadt)

106

Zwischen Formalisierung und Überhöhung und seit gut zwei Generationen auch die Religionszugehörigkeit des/der Verstorbenen. Selbstverständlich reagiert der Xylophonspieler darauf mit verändertem Repertoire und wird damit zugleich zum gesellschaftlichen Kommentator.

Rahmung Die Rahmung stellt sich durch das gemeinsam geteilte Bewusstsein oder die verbindliche Konvention ein, ein Ritual zu begehen. Damit wird das Ritual quasi zum Gegenentwurf des Alltäglichen. Beginn und Abschluss werden entsprechend durch bestimmte Handlungen markiert. Bei den Bura beginnt das Rituelle im engeren Sinne erst mit der Bekanntmachung des Todes durch einen Hornbläser, und die Ritualphase endet erst vier Monate später mit der Aufteilung der Güter. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen linearen Vorgang, sondern um Schichtungen teils parallel, teils versetzt ablaufender Handlungen. Die zeitliche Steuerung und Koordination fällt dabei wesentlich den Musikern zu.

Wirksamkeit und Transformation Rituale wirken und verändern vermittels ihrer performativen Kraft. In dieser Performativität wird zugleich das Krisenhafte der auslösenden Situation kanalisiert, da jeder Übergang von einer Zustands- oder Daseinsform in die nächste erhöhten Risiken ausgesetzt ist. Den Toten in das Ahnenreich zu begleiten ist eine enorme Herausforderung und bei Misslingen mit unabsehbaren Risiken verbunden. Die Transformation gelingt, wenn die durch das Xylophonspiel vermittelten Bedeutungen, oder besser: Symbole, beim Hörer, also bei „Mensch, Geist und Ahne“ ankommen und wirkmächtig werden. Dabei handelt es sich aber um eine völlig andere Kategorie des „Verstehens von Musik“, die mit westlichen Vorstellungen von Musikvermittlung wenig zu tun hat.

Überhöhung Das Ritual verändert nicht nur, sondern verfügt darüber hinaus auch über einen heiligenden und überhöhenden Charakter. Die sozialen Beziehungen aller Teilnehmenden erfahren nicht nur Stabilisierung, sondern sie werden auch zu einer als transzendent oder als höher empfundenen Welt in Beziehung gesetzt. Eine Begründung für die Handlungsschritte wird im Ritual nicht gegeben. Letztlich muss man nicht alles verstehen, man

107

Raimund Vogels

verlässt sich vielmehr auf die Empirie der Erfahrung als auf die verVWHKHQGUHÁH[LYH /RJLN 'DV 5LWXDO GHU %XUD EHJOHLWHW DOVR QLFKW QXU den Verstorbenen in das Ahnenreich, sondern stabilisiert überhaupt die Beziehungen zwischen der Welt der Lebenden und der Ahnen, die nur in wechselseitiger Bezogenheit ihre Existenz sichern können. Es handelt sich also um eine Art von „community development“, da die Lebenden eine den Zusammenhalt verstärkende Phase durchlaufen haben. Das Beispiel der Bura lässt deutlich erkennen, dass es sich nicht nur XPHLQ5LWXDOKDQGHOWVRQGHUQXPHLQNRPSOH[HV*HÁHFKWDQ$EOlXIHQ die sich überlagern und ineinander geschoben sind. Die vorgegebenen Handlungsanweisungen schränken die Handlungsmöglichkeiten ein, GLH LQ GHU DNWXHOOHQ $XIIKUXQJ LKUHQ MH HLJHQHQ $XVGUXFN ÀQGHQ Ihnen ist eine Dynamik des Wandels eigen, der von den unterschiedOLFKVWHQ )DNWRUHQ EHHLQÁXVVW ZLUG 'LH /RJLN GHV :DQGHOV ]ZLVFKHQ Beharrung und Veränderung folgt letztlich einer Ritualökonomie, die eine kulturelle Gewinn- und Verlustanalyse aufmacht. Wie hoch ist der Preis der Beharrung, und welche Risiken sind mit dem Wandel verEXQGHQ"8QWHUGHP(LQÁXVVFKULVWOLFKHUXQGPXVOLPLVFKHU0LVVLRQDUH sind solche Verlust- und Gewinnrechnungen bei den Bura seit 50 Jahren fortwährend angestellt worden. Dass sich dabei das beschriebene Begräbnisformat weitgehend durchgesetzt hat und im Wesentlichen nur durch Ritualzitate der neuen Religionen erweitert wurde, zeigt, wie wenig sich an dem grundsätzlichen Verhältnis der Lebenden zu den Toten verändert hat.

...und das ,Eigene‘ Unser heutiges Konzertgeschehen anhand der aufgestellten Kriterien zu betrachten, bedeutet, es aus der zweifach fremden Perspektive, einmal aus dem Blick der Ritualforschung, zum andern aus dem einer anderen Kultur zu beleuchten:

Verkörperung Auf den ersten Blick wird man selbstverständlich davon ausgehen, dass es sich bei Konzerten um absichtsvoll handelnde Akteure handelt, die in einem sozialen und konkret raum-zeitlichen Bezug zueinander stehen und an einer öffentlichen Inszenierung beteiligt sind. Welche Absicht

108

Zwischen Formalisierung und Überhöhung

sich aber mit dem Konzertgeschehen verknüpft, wird abhängig von den Rollen der Handelnden nicht mit demselben Grad an Verbindlichkeit zu sagen sein wie bei den Bura. Zwischen den ökonomischen Interessen des Konzertveranstalters, den künstlerischen der Musiker und den bilGXQJVEHÁLVVHQHQ GHV .RQ]HUWEHVXFKHUV ZLUG VLFK NDXP HLQH HLQKHLWliche Absicht konstruieren lassen. Auch der konkrete raum-zeitliche Bezug erscheint mir problematisch, da die technische Entwicklung der Tonträger, der globale Zugriff der Musikindustrie und die umfassende Medialisierung des Alltages zu einer fundamentalen Trennung von Musiker und Hörer geführt hat. Davon ist auch das Konzert als Ort des Musikhörens betroffen, das zum Ausnahmefall geworden ist. Der „Sonderfall Konzert“ lässt zudem kaum eine Interaktion zwischen den Beteiligten aufkommen. Deswegen muss grundsätzlich gefragt werden, in welcher Weise Musik für die Konzertbesucher überhaupt bedeutungsvoll ist. Ist sie Trägerin des sozialen Austausches, emotionaler Katalysator oder allgemeines Bildungsgut, das im Musikimmanenten DOOHLQVHLQH%HJUQGXQJÀQGHW"

Förmlichkeit Konzerte sind durch ein vorgeschriebenes formales Verhalten gekennzeichnet. Der Aspekt der Inszenierung und der Aufführung ist bei ihnen ein, wenn nicht sogar der zentrale Bestandteil. Möglicherweise liegt aber auch gerade da ein besonderes Problem begründet, da die große Bedeutung der Formalisierung zu einem hohen Grad an Beharrung und Erstarrung geführt hat. Das Konzertgeschehen hat sich in den letzten 130 Jahren praktisch nicht mehr verändert, und das Script des sich emanzipierenden Bürgertums des 19. Jahrhunderts passt möglicherweise nur noch bedingt in das 21. Jahrhundert. Die Ritualdynamik hat sich zu sehr auf einen bestimmten Besucher-/Teilnehmertypus verengt. Das Konzert lässt fast keine Varianten in der Aufführung zu und verschließt sich somit für unterschiedliche Zielgruppen. Während die Ritualökonomie der Bura den Wandel strukturell als Mittel der Musikvermittlung einbezieht, sucht die Ritualökonomie des klassischen Konzerts erst in jüngster Vergangenheit nach veränderten Vermittlungswegen. Die zunehmenden Anstrengungen, durch eine „Festivalisierung“ des Konzertgeschehens die Aufführungskultur des klassischen Konzerts zu verändern, sind Beispiele einer solchen Ritualökonomie, bei der das Risiko der Veränderung geringer eingeschätzt wird als die Kosten für die Beharrung.

109

Raimund Vogels

Rahmung Das geteilte Bewusstsein der Konzertbesucher, an etwas Besonderem teilzuhaben, macht das Konzert sicherlich zu einem Gegenentwurf des Alltäglichen. Der Ort „Konzertsaal“, der fast immer repräsentativ für GLH=HLWVHLQHU(UEDXXQJLVWVWUDKOWKlXÀJHWZDV:HLKHYROOHVDXVZRdurch das Nicht-Alltägliche zusätzlich herausgestrichen wird. Durch die Inszenierung wird Beginn und Ende bestimmt und eine Rahmung vorgenommen. Die beiden Aspekte Rahmung und Formalisierung rücken somit das Konzertgeschehen relativ nahe an das Ritual.

Wirksamkeit und Transformation Es stellt sich hier die Frage, ob und wie die klassischen Konzerte wirklich vermittels ihrer performativen Kraft wirken und verändern? Und: Wird in dieser Performativität gar das Krisenhafte einer Situation kanalisiert? Vermutlich eher selten. Möglicherweise hat das klassische Konzertgeschehen diese Funktion sogar einmal erfüllt, als nämlich die Musik des 19. Jahrhunderts neu, aufregend und in seiner emanzipatorischen Kraft ungeheuer politisch und bedeutungsvoll war. Aber mit der Betonung der Autonomie des Werkes, mit dem Primat der Kognition hat das Konzert seine Nähe zum Ritual verloren. Es ist sehr viel stärker in die Nähe einer Bildungsveranstaltung gerückt worden. Gerade die Bewältigung des Risikos, die im Ritual zur Transformation der Teilnehmenden führt, spielt im heutigen Konzertgeschehen kaum eine Rolle, da die Perfektion selbst junger Künstler ein Gefühl von Risiko nicht aufkommen lässt. Bei den Bura gelingt die Transformation, weil ein KRKHU*UDGDQV\PEROLVFKHU.RPPXQLNDWLRQVWDWWÀQGHWXQGYHUVWDQGHQ wird. Die Vermittlungsfunktion von Musik wird in ihrer Wirkmacht unmittelbar erfahren, sie ist Teil der Enkulturation. Mit Sicherheit braucht man dort keine 30minütige Einführung in das Ritual. Den transformatorischen Anteil im klassischen Konzert schätze ich dagegen als eher gering ein, nicht zuletzt weil kein gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, welche Bedeutungen denn tatsächlich vermittelt werden.

Überhöhung Dieses Kriterium wird übrigens in den einschlägigen Publikationen zur Ritualforschung kontrovers diskutiert und soll hier deswegen nicht überstrapaziert werden. Trotzdem meine ich konstatieren zu können, dass dem

110

Zwischen Formalisierung und Überhöhung

klassischen Konzert durchaus eine solche überhöhende Kraft von den Besuchern zugesprochen wird. Abgeleitet wird dies von der Genialität des gespielten Meisterwerks, dem eine eigene Transzendenz zugestanden wird und das über besondere moralische Qualität verfügt. Zugleich scheint es genau an dieser Scharnierstelle, bei der die Haltung in die Handlung überführt wird, zum Bruch zu kommen. Während beim Ritual gar nicht erst der Versuch unternommen wird, verstehen zu wollen, soll die klassische Musik vor allem verstanden werden. Es geht im kulturpolitischen Diskurs immer um Vermittlung, Verstehen, Bildung, angemessenes Hören. Schlichter Kunstgenuss, emotionales Mitschwingen, religiöse Vertiefung widersprechen einem bildungsorientierten Musikverständnis und führen sofort zu unmissverständlichen Abwehrreaktionen. Während GLHhEHUK|KXQJGLHLP5LWXDOVWDWWÀQGHWXQPLWWHOEDU]XU6WDELOLVLHUXQJ der Gemeinschaft führt und als community development bezeichnet werden kann, orientiert sich der klassische Konzertbetrieb vorrangig am Werk und nicht am Hörer. Die obigen Überlegungen waren nicht geleitet von der Frage: „Sind Konzerte Rituale?“, sondern davon, ob sich eventuell Einsichten gewinnen lassen, wenn das eine aus der Perspektive des anderen betrachtet wird. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass, im Gegensatz zu dem Beispiel GHU %XUD 1RUGRVWQLJHULDV LP EUJHUOLFKHQ .XOWXUEHWULHE KlXÀJ Y|OOLJ verkannt wird, dass es sich bei Musik primär um eine soziale Praxis symbolischer Interaktion handelt. Unsere im 19. Jahrhundert fußende Tradition, im Sprechen und Denken über Musik immer zuerst das Werk im Blick zu haben und die soziale Dimension seiner Aufführung und Rezeption meist vollständig auszublenden, wirkt bis heute fort. Ablesbar ist dies unter anderem daran, dass die Aspekte Formalisierung und Rahmung große Bedeutung für den Konzertbetrieb einnehmen. Dagegen spielt die Transformation und damit verbunden die Aufgabe der gesellschaftlichen Weiterentwicklung eine weitgehend untergeordnete Rolle. Fazit dieser Überlegung wäre dann, dass im Beharren auf einer musikimmanenten Perspektive ein Risiko für den klassischen Konzertbetrieb liegen könnte, aus dem ganz schlichten Grund, dass die Musik – trotz aller Überhöhung – am Ende doch für den Menschen da ist und nicht der Mensch für die Musik.

111

Raimund Vogels

Anmerkungen Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. 1. DFG-Sonderforschungsbereich SFB 619 Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg „Ritualdynamik“ Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive, SFB 434 Justus Liebig-Universität Giessen „Erinnerungskultur“. 2. Die Forschungen dazu haben im Rahmen des SFB 268 „Kulturentwicklung und Sprachgeschichte im Naturraum Westafrikanische Savanne” der Johann -Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt a.M., in den Jahren 1996 bis 1998 gemeinsam mit Christopher Y. Mtaku von der University of Maiduguri, Nigeria, stattgefunden. 3. Michaels, Axel (2003): Zur Dynamik von Ritualkomplexen, in: Forum Ritualdynamik, Diskussionsbeiträge des SFB 619 „Ritualdynamik“ der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, herausgegeben von Dietrich Harth und Axel Michaels Nr. 3, Dezember 2003.

112

4'33" Das Konzert als performativer Moment

Jens Roselt

Der Titel des Beitrags ruft ein legendäres Ereignis der jüngeren Musikund Performancegeschichte auf: die Uraufführung von John Cages Komposition 4'33" 1952 in Woodstock. Doch wie kann ein über 50 Jahre ]XUFNOLHJHQGHVÁFKWLJHV*HVFKHKHQVRQDFKKDOWLJLQ(ULQQHUXQJEOHLben, zumal die meisten, die heute über 4'33" sprechen oder schreiben, damals gar nicht dabei waren? Cages Performance hat ein diskursives Echo erfahren, das ausgehend vom einmaligen Augenblick des Ereignisses um die generelle Frage kreist: Worum geht es bei der Aufführung eines Konzertes? Zwar war ich 1952 noch nicht geboren, doch ein Nachhall dieser Diskussion ereilte mich in den 1980er Jahren in der niedersächsischen Provinz. Als ich damals in meiner Heimatstadt in die kulturelle Pubertät geriet, gründete sich dort just zur selben Zeit auf Initiative von Bürgern ein Kulturkreis. Eine der ersten Großtaten dieses ambitionierten Unternehmens war es, ein Symphoniekonzert in Wildeshausen zu veranstalten. Ich war dabei, und wenn ich mich heute daran erinnere, kommen mir vier Punkte in den Sinn: Erstens kam es kurz vor Beginn zu einem kleinen Eklat. Es war nämlich ein Fotoreporter der örtlichen Presse anwesend, der über das Ereignis berichten sollte, und der hatte keine Krawatte um. Der Mann neben mir trug eine Krawatte und war angesichts dieser Formvergessenheit GHU 0HGLHQ EHOHLGLJW XQG HFKDXIÀHUWH VLFK GHXWOLFK VLFKWEDU =ZHLWHQV

Jens Roselt gab es unwahrscheinlich viele Zugaben, immer das gleiche kurze Stück. Es dauerte nämlich einige Zeit, bis wir Wildeshauser kapiert hatten, dass wir es waren, die mit unserem Applaus darüber entschieden, wann Schluss sein würde. Keiner kam auf die Bühne mit der Anweisung: „Jetzt ist Schluss. Sie können nach Hause gegen.“ Und so applaudierten wir SÁLFKWVFKXOGLJVWZHLWHUXQGGHU'LULJHQWNDPSÁLFKWEHZXVVWLPPHUZLHder raus und ließ das kurze Stück noch einmal spielen. Drittens entbrannte Tage nach dem Konzert eine Diskussion darüber, ob der Schauplatz des Geschehens, die örtliche Mehrzweckhalle, für diesen Anlass nicht unangemessen und zu wenig feierlich sei. Ein Stadtrat machte deshalb den Vorschlag, Kronleuchter unter die hochgeklappten Basketballkörbe zu hängen. Und viertens kann ich mich an die Musik so gut wie gar nicht erinnern. Ich weiß nicht, wie oder was überhaupt gespielt wurde, natürlich irgendetwas Schönes, wahrscheinlich von Mozart. Obwohl an diesem Abend mit Sicherheit keine Neue Musik zu hören war, verweist diese Erinnerung auf Cage, denn: Dass ich mich an das Ereignis erinnern kann, nicht aber an die Musik, die Anlass dazu war, zeigt, dass dieser Abend nicht oder nicht nur durch die Musik für mich zu einem Ereignis geworden ist. Nun sind Erinnerungen ziemlich gute Indikatoren für performative Momente, d.h. für konkrete raumzeitliche Situationen und Erlebnisse, an denen man beteiligt war, die Erfahrungen stifteten oder die einem DOV *HVFKHKHQ ZLGHUIDKUHQ VLQG 6ROFKH ÁFKWLJHQ 0RPHQWH VLQG ]ZDU vergänglich, sie können aber auch nicht mehr ungeschehen gemacht werden, da sie durch das Gedächtnis in den Biographien ihrer Teilnehmer einen Platz gefunden haben. Muss ich nun also nach über 20 Jahren immer noch ein schlechtes Gewissen haben, weil mir vor allem das scheinbar nebensächliche in Erinnerung geblieben ist? Oder kann man aus der Perspektive von 4'33" mit diesen Vorgängen lockerer umgehen? Deshalb sei kurz rekapituliert, was man meint, wenn von 4'33" die Rede ist. Tatsächlich handelt es sich um eine Art Ur-Performance, auf die in den letzten über 50 Jahren nicht nur Künstler, sondern auch Theoretiker vielfältig Bezug genommen haben.1 Der Titel benennt die genaue Zeitdauer des Stücks, über deren Einhaltung bei der Uraufführung der Pianist David Tudor mit einer Stoppuhr gewacht hat. Durch das Zu- und Aufklappen des Pianodeckels zeigte er dabei die drei Sätze des Stückes an, deren genaue Dauer (33", 2'40, 1'20") vor der Aufführung erwürfelt wurde. Die Gesamtlänge bezieht also die kurzen Pausen zwischen den Sätzen ein. Töne wurden dabei – zumindest mit den Saiten des Klaviers – nicht

114

4'33" erzeugt, vielmehr gerieten die so entstandene Stille bzw. die vielfältigen konzertnotorischen Nebengeräusche in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Aufführung konnte so nicht mehr als Vehikel zum Transport eines Werkes erlebt werden, sondern rückte mit ihren Konstituenten selbst in den Blickpunkt, d.h. die konkrete räumliche und zeitliche Disposition, die Wahrnehmungen und Erfahrungen sämtlicher Teilnehmer, also auch die Irritationen, Aggressionen und Verwirrungen der Zuhörer, ließen die Aufführung in ihrem Verlauf entstehen. Bei der Aufführung dieses Konzertes ging es also eigentlich nicht um die Vermittlung eines Werkes, sondern um dessen Hervorbringung, wobei fraglich ist, ob man dann noch am Werkbegriff festhalten muss. Damit wurden Aspekte radikalisiert, die nicht nur 4'33" betreffen, noch nicht einmal nur Konzerte, sondern jede Form kultureller Aufführung: vom Sport über den Karneval oder das Schützenfest bis zu Theater- und Konzertaufführungen. Auf den ersten Blick, also vom Werkcharakter ausgehend, scheinen 4'33", Die Moldau und der Aufmarsch eines Spielmannszugs nicht viel gemein zu haben. Fragt man aber nach dem Aufführungscharakter von Kultur, können verblüffende Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Hierbei geht es genauer darum, wie durch Aufführungen Gemeinschaften konstituiert werden, wie sie sich im Fest darstellen, welche Ein- und Abgrenzungen, Rituale und Praktiken dabei gefragt sind und welche Transformationen und Initiationen die Teilnehmer dabei durchmachen. Den Begriff kulturelle Aufführung oder cultural performance hat der DPHULNDQLVFKH(WKQRORJH0LOWRQ6LQJHU]XUVHOEHQ=HLWGHÀQLHUWLQGHU Cages Aktionen tradierte konventionelle Konzertformate in Frage stellten. Eine cultural performance lässt sich durch ihre besondere zeitliche und örtliche Verfasstheit, die Teilnehmer sowie ihren Ablauf und Anlass EHVWLPPHQ 6LH ]HLFKQHW VLFK JHQDXHU DXV GXUFK ÅD GHÀQLWHO\ OLPLWHG time span, a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience, and a place and occasion of perforPDQFH´ 6LQJHU  [LLL  $XI GHU *UXQGODJH GLHVHU 'HÀQLWLRQ ODVVHQ sich verschiedene kulturelle Äußerungsformen von der Hochzeit bis zum Fußballspiel, vom Gottesdienst bis zum Schützenfest beschreiben. Dieser Perspektivwechsel vom Werk- zum Aufführungsbegriff soll im Folgenden skizziert werden. Damit geht es nicht um jene Aspekte, die üblicherweise bei Werkeinführungen im Mittelpunkt stehen (Lebensdaten und Intentionen des Komponisten, Notenbeispiele, Interpretationsvorgaben usw.), sondern jetzt rücken andere Kategorien in den Blick, die durch

115

Jens Roselt Begriffe benannt werden wie: Ereignis, Teilhabe, Krise, Transformation, Initiation und Ritual. Die gleichzeitige Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit ist das Grundmerkmal, welches eine Aufführung als Ereignis ausweist. Dieses Moment des LiveErlebnisses wird gerade gegenwärtig emphatisch beschworen. Dass etwas live vor den Zuhörern und Zuschauern vollzogen wird, scheint gerade in einer Zeit relevant zu werden, in der man nahezu immer und überall von Musik umspült wird. Mit dem Kopfhörer im Ohr kann man mit erstklassigen Orchestern und Solisten in 1A-Tonqualität in die U-Bahn gehen. Man kann Musik mitnehmen, das ist in Aufführungen umgekehrt, man muss zu ihr kommen. Und wer zum ersten Mal in die Oper geht, zeigt sich nicht selten weniger am Geschehen auf der Bühne als mehr an den Vorgängen im Orchester interessiert. Solche „unerfahrenen“ Zuschauer kommen im wörtlichen Sinne nicht über den Graben hinweg und zeigen sich fasziniert darüber, dass man die Musiker sehen kann. Man erlebt, dass Musik nicht lediglich ertönt, sondern dass sie auch im handwerklichen Sinne gemacht wird. Das scheint eine außerordentliche Erfahrung zu sein in einer Zeit, in der man permanent Musik hört, deren Macher abwesend sind und anonym bleiben. Doch dieser Emphase für das Live-Erlebnis eines Konzerts ist entgegenzuhalten, dass es keine qualitative Feststellung ist und die Argumentation auf die Beschwörung eines metaphysischen Erlebnisses beschränkt zu werden droht, bei dessen Beschreibung zwar von Präsenz oder Unmittelbarkeit gesprochen werden könnte, man letztendlich aber über ein „es war irgendwie intensiv“ nicht hinauskommt. Oft kommt man aus einem Konzert und muss feststellen: Das war kein Ereignis, sondern eher ein Vorkommnis, obwohl das Kriterium der gleichzeitigen Anwesenheit erfüllt wurde. Es geht damit weniger um die Frage, warum eine Aufführung ein Ereignis ist, als vielmehr darum, wie und wodurch eine Aufführung für ihre Beteiligten zum Ereignis werden kann – oder eben auch nicht. Denn für Aufführungen gibt es keine Gelingensgarantie. Die Potenzialität einer Aufführung ist eben dadurch ausgezeichnet, dass etwas schiefgehen kann, dass ein Ton nicht getroffen wird, ein Konzertbesucher sich daneben benimmt usw. Das ist eine ganz andere Erfahrungssituation als beim Hören einer CD. Die Kontingenz einer Aufführung bringt also mit sich, dass etwas passieren kann, was nicht passieren sollte.

116

4'33" Eine Aufführung von ihrer Ereignishaftigkeit her zu denken, bedeutet, in der gleichzeitigen Anwesenheit nicht lediglich die mediale Bedingung der Rezeption zu erkennen, sondern im Vollzug des Ereignisses etwas entstehen zu sehen, was nicht vorgefertigt oder lediglich zur Kenntnis zu nehmen wäre. Die Frage nach der Teilhabe des Publikums am Theaterereignis hat deshalb das Verhältnis von Planbarkeit und Spontaneität, von Strategie und Anarchie, von Willkür und Freiheit zu thematisieren. Es geht damit um den Spielraum, der zwischen Akteuren und Zuschauern geschaffen wird. Die Relevanz von Zuschauern und Akteuren für das Zustandekommen und den Verlauf einer Aufführung hat die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte prägnant in einer These pointiert: „Eine Aufführung entsteht aus der Interaktion aller Teilnehmer, d.h. aus der Begegnung von Akteuren und Zuschauern“ (Fischer-Lichte 2004: 11). Diese interaktive Dimension kann gerade dann deutlich werden, wenn Zuhörer Krisensituationen durchmachen, weil die für sie gültigen Parameter in Frage gestellt werden und Erwartungen enttäuscht werden. Das gilt für Woodstock wie für Wildeshausen, etwa wenn die Saiten des Klaviers nicht ertönen oder Reporter keine Krawatten tragen. Der Philosoph Martin Seel hat in seiner Kleinen Phänomenologie des Ereignisses eine Reihe von Unterscheidungen vorgeschlagen, die (UHLJQLVVHGHÀQLHUHQN|QQHQZREHLHUVLFKQLFKWQXUDXINQVWOHULVFKH Vorgänge bezieht. Dort heißt es: „Die Ereignisse, die uns auffällig werden, sind anderer Art als die Prozesse, die sich ohnehin und überall vollziehen“ Seel (2003: 38). Ereignisse sind also Ausnahmen vom Alltag, was gerade durch den Festcharakter von Aufführungen angezeigt werden kann. Diese andere Art skizziert Seel durch eine Reihe von Merkmalen. Zunächst kennzeichnet er Ereignisse im engeren Sinn als Veränderungen, „die sich abheben von Zuständen, die sich sehr viel langsamer und unscheinbarer verändern“ (ebd. 38). Doch nicht jede Veränderung oder jedes Vorkommnis wäre deshalb als Ereignis zu begreifen. Zur Veränderung muss sich vielmehr der Aspekt der Auffälligkeit gesellen; ein Ereignis ist demnach etwas, „das in einer bestimmten Weise auffällig geschieht“ (ebd. 39). Außerdem sind Ereignisse als Widerfahrnisse aufzufassen: „Überdies geschieht ein Ereignis nicht nur, es widerfährt denen, denen es bemerkbar wird“ (ebd.). Ereignisse sind also „Veränderungen, die sich denen aufdrängen und nicht selten denen zustoßen, denen sie als Ereignisse begegnen“ (ebd.).

117

Jens Roselt Beteiligter eines Ereignisses zu sein heißt allerdings nicht, lediglich eine auffällige Veränderung zu beobachten; vielmehr ist Ereignissen das Potenzial zuzusprechen, alle an ihm Beteiligten selbst zu verändern: „Sie verändern den Sinn der Situation, in der sie geschehen. Mit jedem Ereignis verändert sich die Kultur des Menschen um ein Minimum oder ein Maximum“ (ebd.). Eine minimale Veränderung oder Transformation hat vielleicht der Krawattenmann durchgemacht. Denn indem er sich echaufÀHUWHYHUVWLH‰HUVHLQHUVHLWVJHJHQHLQHVHLWGHP-DKUKXQGHUWJHOWHQGH Aufführungskonvention, nämlich die des andächtigen Schweigens und Versunkenseins der Zuhörer, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Podium zu richten haben und die anderen Zuhörer bzw. deren Krawatten tunlichst nicht bemerken dürfen. 4‘33“ dürfte für ein Konzert schon eine maximale Veränderung provoziert haben. Ereignisse müssen also nicht notwendig die Erwartungen der Beteiligten erfüllen, ganz im Gegenteil neigen sie dazu, mit dem Unerwarteten zu konfrontieren: „Zum Ereignis gehört die Irritation“ (ebd.). So verstanden können Ereignisse eine „Umstellung unserer Orientierung bewirken“ (ebd.). Ausdrücklich weist Seel darauf hin, dass dieses Verständnis von Ereignissen nichts darüber aussagt, ob diese als angenehm oder unangenehm erfahren werden. Vielmehr sei in jedem Fall, also auch wenn eine Irritation lustvoll erfahren wird, „eine Störung der Ordnung gegeben, ein Moment der Negativität, nämlich eine Verneinung der Bedeutsamkeit, die man für den Vorfall, der jetzt zum Ereignis wird, vorgesehen hatte“ (ebd. 39f.). Damit kann das Staunen – als eine Form der Rat- und Sprachlosigkeit – zu einer adäquaten Haltung beim Widerfahrnis eines Ereignisses werden. Für Theaterund Konzertpädagogen ist das womöglich eine Hiobsbotschaft, dass man das, was passiert oder einem widerfährt, vorher eigentlich nicht erklären kann. Seel weist darauf hin, dass nicht jeder „erstaunliche Vorgang“ (ebd. 40) ereignishafte Qualität aufweist: „Nur solche Vorgänge können zum Ereignis werden, die weder beliebig wiederholbar noch im Ganzen intentional bewirkbar sind“ (ebd.). Diese beiden Bestimmungen scheinen äußerst ungeeignet zu sein, um sie auf Konzert- oder Theateraufführungen zu übertragen. Denn diese sind ja keine spontanen Zusammenrottungen, sondern sie folgen einem Plan, sind wochenlang geprobt und durch die Intentionen der Beteiligten mitbestimmt. Die Ereignishaftigkeit von Aufführungen zu betonen bedeutet also nicht, Intentionalität zu leugnen oder abzustreiten, dass Komponisten, Dirigenten oder Musiker etwas wollen, sondern zu

118

4'33" beachten, dass sich dabei (in Aufführungen) etwas ereignen kann, was sich einer alleinigen Kontrolle entzieht. Seels Bestimmung betont also nur die eine Seite der Medaille, die mit Überraschung, Krise, Irritation und Neuorientierung zu tun hat. Liest man die Berichte von der Uraufführung von 4'33" trafen diese Aspekte sehr wohl zu. Die andere Seite der Medaille allerdings hat mit der Erwartung, Antizipation und Vertrautheit zu tun, die für rituelle Praktiken kennzeichnend sind. Denn bei Ritualen müssen die Formen und Verfahren von den Beteiligten ja nicht immer neu erfunden werden, vielmehr übernimmt man sie, steigt in sie ein, übt sie und tradiert sie damit, wie beispielsweise das Ritual der Zugabe bei einem Konzert. Entscheidend ist, dass sich die Phänomenologie der Wahrnehmung von Musik bzw. Konzerten genau zwischen den beiden Polen von Erwartung und Irritation, Antizipation und Erinnerung bewegt. Das gilt nicht nur für die zeremoniellen Formen des Konzertrituals, sondern buchstäblich für jeden einzelnen Ton. Der Musiktheaterwissenschaftler Clemens Risi hat dies am Beispiel einer Sängerdarstellerin beschrieben. Er beschreibt einen außerordentlichen Moment angesichts der Operndiva Edita Gruberovas auf der Bühne so: „Dieses Verhältnis von Erinnerung und Erwartung ist nicht stabil; es verschiebt sich durch Überraschungen, etwa kleinere Unfälle, z.B. nach einem angekratzten oder mißglückten Ton, den ich so nicht erwartet habe; die Spannung wächst, die Sorge, es N|QQWHVLFKZLHGHUKROHQYRUDOOHPZHLOPDQKlXÀJZHL‰ZHOFKH Schwierigkeiten noch kommen. Umso kostbarer dann die geglückten Töne, die man so vor der Überraschung eigentlich erwartet hatte, nach der Panne aber nicht mehr in dieser Selbstverständlichkeit. Thematisch wird hier einmal mehr: Die Sorge um das mögliche Scheitern – die Fragilität und Verletzbarkeit sowohl der Stimme als auch des Moments – verstärkt wie bei jedem ästhetischen Hochseilakt den Reiz des Augenblicks.“ (Risi 2005). Wohlgemerkt wird damit nicht behauptet, dass eine großartige Gesangssolistin dadurch zum Ereignis wird, dass sie den Ton nicht trifft, sondern weil man als Zuschauer und Zuhörer dabei sein muss oder will, um zu hören und zu sehen, ob sie den Ton treffen wird. Es geht also nicht um die Freude am Scheitern anderer, vielmehr gerät die Erfahrung der Potenzialität des Augenblicks in den Fokus der Aufmerksamkeit.

119

Jens Roselt Risis Rede vom Hochseilakt ist eine gute Bezeichnung, da sie deutlich macht, dass aus dieser Perspektive Konzert- und Sportaufführungen viele Ähnlichkeiten haben. Auch beim Sport haben wir es ja mit einem ritualisierten, minutiös geplanten Ablauf zu tun, der zwar Regeln folgt, bei dem aber offen ist, was dabei rauskommt. Wenn die Latte des Stabhochspringers fällt, ist das nicht geprobt, aber es ist auch kein unvorhersehbares Geschehen. Genau das markiert die Spannung kultureller Aufführungen, wobei eben auch die eigene Anwesenheit thematisch werden kann. Der Sportvergleich betont auch, dass die Wahrnehmung und Erfahrung von Konzerten für die Zuhörer und Zuschauer ein körperlicher Vorgang ist, nicht nur ein intellektueller. Vor kurzem war ich bei einem Konzert in der Philharmonie in Berlin mit der Jungen Deutschen Philharmonie unter Lothar Zagrosek. Diesmal kann ich mich an die Musik erinnern (Ravel, Debussy, Strawinsky), aber auch daran, dass ich die billigsten Karten hatte. Das sind nicht nummerierte Plätze auf dem Podium auf Bänken hinter dem Orchester. Hier muss man recht früh kommen, um einen guten 3ODW]]XÀQGHQZREHLPDQJDUQLFKWJHQDXVDJHQNDQQZDVKLHUHLQJXWHU Platz sein soll. Kaum hatte ich mich nach einigem Hin und Her für eine Bank entschieden, nahm vor mir eine Familie Platz. Der jüngste Spross saß genau vor mir, war aufgeregt und redete viel. Ich ahnte Böses und erfuhr Gutes. Denn der kleine Zuhörer vor mir war eine Art Seismograph, dessen Körper anzeigte, was in oder mit ihm vorging, wobei anschaulich wurde, wie sehr Musikhören ein körperlicher Vorgang ist. Er wippte mit, sprang auf, zeigte auf etwas, stieß seinen Vater an usw. Wenn es zu heftig wurde, konnten ihn gezielte Blicke des Vaters beruhigen. Ein Eklat blieb aus. Drei Aspekte erscheinen mir an dieser Episode bemerkenswert: Erstens: Das Erlernen des Konzertrituals ist nicht nur oder noch nicht einmal in erster Linie ein intellektueller Vorgang (bei dem erklärt und verstanden wird, worum es geht), sondern ein mimetischer Prozess, bei dem der Vater und die übrigen Konzertbesucher etwas vormachten, was der Junge nachahmte. Und dass Nachahmung nicht äußerer Drill sein muss, sondern auch ein lust- oder freudespendender Vorgang sein kann, Aristoteles’ Poetik bekannt. Zweitens wurde hier anschaulich, dass Wahrnehmung ein körperlicher, genauer ein rhythmischer Vorgang ist. Das ist auch deshalb interessant, weil bei der Analyse von Sprechtheateraufführungen augenblicklich gefragt wird, wie das Verhältnis bzw. Wechselspiel von Bühne und

120

4'33" Publikum, von Schauspieler und Zuschauer beschrieben werden kann. Für das Theater greift man hier gerade auf den musiktheoretischen Rhythmusbegriff zurück. Es wird davon ausgegangen, dass Rhythmen unsere Wahrnehmung und Erfahrung strukturieren. Rhythmus ist in diesem Sinne nicht nur ein akustisches, sondern ein multimodales Prinzip, bei dem verschiedene Sinne zusammenspielen können: Bewegungen, Körper, Sprache, Musik, Licht oder Raum können Rhythmen schaffen, die sich Zuhörern und Zuschauern vermitteln, in die sie einsteigen oder die mit ihrem Körperrhythmus kollidieren (Brüstle / Ghattas / Risi / Schouten 2005). Dieses Modell rhythmischer Wechselwirkung wird in Konzertaufführungen im Grunde archetypisch vollzogen in der Beziehung zwischen Zuhörern und Dirigent bzw. Musikern. Drittens macht das Beispiel deutlich, dass Aufführungen Gemeinschaften stiften, wobei diese soziale Dimension keineswegs als angenehm erfahren werden muss, dennoch kann man sich ihr kaum entziehen. In der Konzertaufführung wird man konstitutiver Teil einer Gemeinschaft, die man sich nicht unbedingt ausgesucht hat, mit der man aber gemeinsame Lebenszeit verbringt. Diese soziale Dimension ist der entscheidende Unterschied zum gegenwärtigen medialen Musikkonsum, bei dem ja schon der Kopfhörer die Isolation des Hörers anzeigt. Im Konzert wird Musik nicht nur gemeinsam gemacht, sondern auch gemeinsam gehört, ZREHLGLH7HLOKDEHGHV3XEOLNXPVKlXÀJ²HWZDEHLP$SSODXV²VWDUN konventionalisiert ist. Damit komme ich zu meinem letzten Beispiel: Ende der 90er Jahre wurde 4'33" in der Londoner Barbican Hall vom BBC Symphony Orchestra unter Lawrence Foster aufgeführt. Und zwar in einem durch und durch konventionellen Konzertrahmen: Der Dirigent betritt das Podium, nimmt den Applaus entgegen, begrüßt den Konzertmeister, blickt auf die Uhr und gibt den Einsatz. Man hört Stille und Geräusche, bis der Dirigent zur festgesetzten Zeit den Taktstock wieder absetzt. Dann brandet Applaus auf und eine ehrfurchtsvolle Verbeugung folgt. Von den Irritationen und Aggressionen der Uraufführung ist bei der Fernsehaufzeichnung nichts zu spüren. Im Gegenteil scheinen die Zuhörer mit Freude und Enthusiasmus dabei zu sein. Manchem Huster hört man geradezu an, dass hier ein Cage-Experte hustet, der weiß, dass er gerade Teil der Performance (zumindest ihrer Fernsehaufzeichnung) werden kann. Ob das noch im Sinne des Komponisten ist, mögen Cage-Experten womöglich bezweifeln. Aber genau diese Perspektive muss man sich nicht zu Eigen machen, denn als

121

Jens Roselt Teilnehmer einer Aufführung sind Zuschauer und Zuhörer auch Experten in eigener Sache. Was bedeutet das nun abschließend für das Thema der Musikvermittlung? Man kann ja nicht sagen, dass diesbezüglich gegenwärtig nicht viel passiert. Alle von mir in letzter Zeit besuchten Konzertaufführungen boten Werkeinführungen oder Nachgespräche an. Diese pädagogischen Vermittlungsanstrengungen sind sicher wichtig und gut. Aus der Perspektive meiner Ausführungen haftet diesen Bestrebungen aber auch ein merkwürdiger Beigeschmack an. Denn in der Zange einer zumeist auf den Intellekt zielenden Vor- und Nachbereitung kann die Aufführung VHOEVWVFKQHOODOVJUXQGVlW]OLFKGHÀ]LWlUHU9RUJDQJJHOWHQGHUQXU]XEHwältigen ist, wenn man gut gerüstet reingeht und gewappnet (also mit dickem noch zu lesenden Programmheft unter dem Arm) wieder rauskommt. Die Erfahrungsfülle, die ein Konzert als kulturelle Aufführung möglich macht, und die einen im ersten Moment auch sprachlos macht, kann dabei schnell als Nebensache, als Wahrnehmungsschrott oder als das, worum es eigentlich nicht ging, abgetan werden. Demgegenüber wäre zu betonen, dass das, worum es bei der Aufführung eines Konzertes geht, sich erst im Verlauf der Aufführung ergibt. Nicht fremden Intentionen, sondern der eigenen Erfahrung muss deshalb eine Stimme gegeben werden.

Anmerkungen Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. 1. Eine umfassende neuere Studie zu Cage, die insbesondere die performative Dimension seiner Arbeit erhellt, hat Hans-Friedrich Bormann vorgelegt. Vgl. Borman 2005.

122

4'33"

Literatur Bormann, Hans-Friedrich (2005): Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, München: Fink. Brüstle, Christa / Ghattas, Nadia / Risi, Clemens / Schouten, Sabine (2005): „Zur Einleitung: Rhythmus im Prozess“, in: Dies. (Hg.): Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld: transcript, S. 9-32. Fischer-Lichte, Erika (2004): „Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff“, in: Dies., Risi, Clemens / Roselt, Jens (Hg.): Kunst der Aufführung- Aufführung der Kunst, Berlin: Theater der Zeit, Recherchen 18. Risi, Clemens (2005): „Diva. Inszenierung und Wahrnehmung der Außergewöhnlichen heute: Anna Netrebko gegen Edita Gruberova“, in: Grotjahn, Rebecca / Dörte Schmidt / Thomas Seedorf (Hg.): Symposionsbericht: Diva – Die Inszenierung der übermenschlichen Frau. Interdisziplinäre Untersuchungen zu einem kulturellen Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, Schliengen: Edition Argus (= Forum Musikwissenschaft). Seel, Martin (2003): „Ereignis. Eine kleine Phänomenologie“, in: MüllerSchöll, Nikolaus (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung, Bielefeld: transcript. Singer, Milton (1959): „Preface“, in: Ders. (Hg.): Traditional India: Structure and Change, Philadelphia: American Folkore Society.

123

Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale? Elena Ungeheuer

Engagiertheit „Zurück zur Bühne. Die Tremeloes kamen und heizten der Menge mit ,me and my life‘ und natürlich ,call me no.1‘ mächtig ein. Auch Ihr grösster Hit ,silence is golden‘ wurde gespielt. Mir persönlich hat das Gesang-Solo des Drummers Dave bei ,angel of the morning‘ am besten gefallen. Nach 30 Minuten war auch dieser Auftritt leider wieder vorbei und die Bühne wurde für den nächsten Act vorbereitet. Hier auch eine Anekdote am Rande: Birgit wurde von der ersten Zuschauerreihe aus angesprochen ,Sag mal, bist Du die Birgit von Oldie-Fans.de? Eure Website und besonders die KonzertbeULFKWHÀQGHLFKNODVVH¶ Hoppsa ... damit hatten wir nicht gerechnet! Das hat uns so richtig gefreut, denn schließlich machen wir die Website für Euch! Hey, das ging runter wie Öl, schönen Dank dafür Ines, Du bist damit unsere Userin des Monats!:-)“ 1 Trotz aller Unterschiede im Erscheinungsbild und entgegen den Vorstellungen ihrer Betreiber, sich voneinander abgrenzen zu können, weisen Konzerte im Pop- oder Klassikbereich immer wieder ähnliche Merkmale auf. Der zitierte Ausschnitt eines online veröffentlichten Konzertberichts vermittelt sie auf engem Raum: emotionale Ergriffenheit des Publikums („heizten mächtig ein“), räumliche Distanz zwischen Publikum und

Elena Ungeheuer Künstlern („Zurück zur Bühne“), Geschichtsbewusstsein („Auch ihr größter Hit wurde gespielt“), emphatisch verfolgte Dramaturgie („war auch dieser Auftritt leider wieder vorbei“), hoher Grad an Organisiertheit („und die Bühne wurde für den nächsten Act vorbereitet“). Das Engagement von Musikfans, eine Website für eine bestimmte Subkultur (Oldie-Konzerte) ]X JHVWDOWHQ ZLUNW QXU DXI GHQ HUVWHQ %OLFN EHVRQGHUV XQG VSH]LÀVFK für die Internetszene. Jeder Konzertbesucher der Philharmonie, der zu Hause Bücher über Komponisten liest, die geliebten Werke am Klavier nachspielt, Berichte über die verehrte Sängerin sammelt und 150 Euro für eine Konzertkarte bezahlt, zeigt einen persönlichen Einsatz, der in jedem Falle über das alltägliche Zur-Kenntnis-Nehmen von Kultur hinDXVJHKW,QGLHVHV(QJDJHPHQWÁLH‰HQLQGLYLGXHOOHZLHJHVHOOVFKDIWOLFKH Verhaltensnormen mit ein, so etwa der hoch entwickelte ethische Codex von Markus, der genannte Website mit verantwortet: „Nur nebenbei: Für uns gilt wie immer, das wir nur Fotos aus dem Bühnengraben machen und niemals backstage oder gar noch außerhalb. Wir respektieren das einfach als ,seelisches Rückzugsgebiet‘. Klar, es gibt aber auch leider jede Menge Pressevertreter, die GLH6WDUVVRJDUZlKUHQGGHV(VVHQVIRWRJUDÀHUHQ'DVGLHVHGDQQ nicht gerade einladend für ,normale‘ Gespräche sind, müsste doch eigentlich auch denen klar sein.“ ebd. Hier wird Arbeit an den eigenen Werten, der eigenen Identität praktiziert. Die Intensität des Persönlichen sieht sich durch die Öffentlichkeit, die zum Wesen des Konzerts gehört, noch gesteigert. Diese Polarität von Ichbezogenem, Privatem bis hin zum Intimen auf der einen Seite und Öffentlichem, Distanzierendem, allgemein Gesellschaftlichem auf der anGHUHQ6HLWHPDFKWGDVXQHUVFK|SÁLFKH6SDQQXQJVSRWHQ]LDOYRQ.RQ]HUWHQ aus: Das Konzert als Ort, an dem Innen- und Außenwelt des Bürgers konfrontiert werden?

Liebhaberei und Professionalität In der Geschichte stellt es sich dar, dass das bürgerliche Konzert eine Synthese zweier Stränge bildet (vgl. Heister 1996). Zum einen liegen die historischen Anfänge im haus- und kammermusikalischen, spontanfamiliären oder bereits vereinsmäßig organisierten, vorwiegend bürgerlichen Musizieren seit etwa 1600 (1613, ältestes schweizerisches

126

Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale? &ROOHJLXP0XVLFXP ,QGLHVH)RUPHQGHU/LHEKDEHUHLÁLH‰WHLQH]ZHLWH Entwicklung ein, die des professionellen Konzerts, Paris und London vorneweg. Ausgangspunkt sind mäzenatische Veranstaltungen als Haus- oder Privatkonzert, die oftmals noch mit anderen sinnlichen, vorwiegend gastronomischen Genüssen verbunden bleiben. Seit den 1660er Jahren prägen Gaststätten in Vergnügungsparks und Konzertgärten eine Konzerttradition aus. Und es gab die professionellen Konzerte in öffentlichen Häusern wie dem Ospedale della pietà in Venedig, das Vivaldi zwischen 1703 und 1740 bespielte. Besonders verlässlich erwiesen sich Vereinsstrukturen, die für Regelmäßigkeit und Stabilität des Konzertwesens sorgten. Das Leipziger Gewandhaus fand sich so begründet: Im Jahre 1743 kamen in /HLS]LJ VHFK]HKQ .DXÁHXWH ]XVDPPHQ GLH VHFK]HKQ 0XVLNHU ÀQDQ]LHUten und fortan unter dem Namen Das große ConcertÀUPLHUWHQ'DVHUVWH Konzert dieses Vereins fand am 11. März 1743 statt. Der erste Schritt zur Institutionalisierung eines bürgerlichen Konzertlebens in Leipzig war erfolgt. Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass erst das Eintrittnehmen, VHLHVLQ)RUPHLQHVDP(LQJDQJNlXÁLFK]XHUZHUEHQGHQ3URJUDPPKHIWV oder als Stuhlmiete, aus musikalischen Zusammenkünften ein Konzert im emphatischen Sinne macht.

Das Konzert als säkularisierte Liturgie Eine traditionsreiche Organisationsform, in der sich eine produktive Spannung zwischen Intimität und Distanz, Ich-Werdung und normativer Regulierung ausformuliert, ist die kirchliche Liturgie. Das bürgerliche Konzert als Liturgie? Dieser Vergleich trägt trotz seiner begrenzten Tragweite einiges zum Verständnis des Phänomens bei. Ein Konzert zeigt viele rituelle Komponenten quasi-liturgischen Charakters: Es gibt Hohepriester (die Interpreten), den ersten und obersten Zeugen (den Komponisten), es gibt eine heilige Botschaft (die Musik), die durch die Priester eine authentische Exegese erfährt, es gibt Verhaltensasymmetrien zwischen Bühnengeschehen und Publikum (wer darf etwas sagen/tun, wer nicht?), es gibt eine asymmetrische Kleiderordnung, es gibt das Resultat der Beglückung auf Seiten der Konzertbesucher, es gibt das adäquate Verhalten „danach“, wenn die Tagesform des Bühnenstars gemeinsam begutachtet wird, als wolle man die Qualität der Predigt kommentieren. Die Lesart „Konzert als Liturgie“ ist allerdings nicht als historisch DXI HLQHQ =HLWSXQNW À[LHUEDUH %HREDFKWXQJ PLVV]XYHUVWHKHQ 0XVLN

127

Elena Ungeheuer sei von ihrer die Liturgie unterstützenden Funktion (der Cantus folgte stets dem heiligen Wort) zu irgendeinem Zeitpunkt entbunden worden, um dann selbst zur Essenz, der die Liturgie einen praktikablen Rahmen gibt, aufzusteigen: Kunst als Religion. Nicht als historische Aufeinanderfolge, sondern als paradoxe Verschränkung bilden diese beiden Bewegungen die Wiege des bürgerlichen Konzerts. Die im Konzert inszenierte Liturgisierung von Musik, und damit der Versuch ihrer Erhöhung, entspringt eigentlich dem Prozess ihrer Säkularisierung. Entfunktionalisiert, emanzipiert von Gebrauch und Zweck, fällt die Musik aus ursächlich geistlichen Kontexten heraus, um ihren Eigenwert in weltlichen Tauschpraktiken (Konzertereignis gegen Geld) zu behaupten. Das hatte und hat weit reichende Folgen, so die Geburt einer autonomen Musikkunst. Eduard Hanslick (1869, S. IX) formulierte: „Das Concertwesen, welches mit Ausschluß der eigentlichen Theater-, Kirchen- und Ballmusik die gesamte musikalische Produktion umfaßt und darstellt, darf quantitativ sich des reichsten Kunstinhaltes rühmen. [...] Das Concert [bildet] die Hauptstätte der Musik als solcher, als Sonderkunst. In diesem Maße eigenberechtigt und selbständig tritt die Tonkunst bloß im Konzertsaal auf, [...]“.

Suche nach Identität zwischen Privatheit und Öffentlichkeit Architektonisch durch eigens für diesen Zweck konstruierte Konzerträume unterstützt, soll es um das ewig gültige „Werk“ gehen, dem zu huldigen es zwar transzendentaler Visionen bedarf, dessen existenzielle Bedingungen aber in Abhängigkeit von äußerst diesseitigen Aufgeboten der Reproduktionstechnik, der Vermarktungsstrategie und der Distributionsverfahren verwirklicht werden. Dieses Werk soll nicht nur ewig, es sollte ein ewiges Meisterwerk sein. Wo die Bürger diesen historisch überholten Begriff des Handwerks bemühten, wurde, mit Mathias Spohr gesprochen, ihre Suche nach Identität durch den Versuch der Erhöhung erkennbar; eine Erhöhung, die dem Bürger fehlende Gnade der „hohen Geburt“ ausgleichen sollte (Spohr 1996: 19). Die gewollte Abgrenzung vom Adel diktierte dem Bürger einiges: Das exklusive analytische Zuhören im bürgerlichen Konzert trägt ebenfalls Züge einer Selbstnobilitierung. Die musikalische Berieselung bei Hof gering schätzend konnten Bürger sich so demonstrieren, dass man sich auf ein

128

Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale? wahrhaft Erhabenes verstand, welches Bildung und Expertise erforderte. Das neu aufkommende schulische Lernziel „Notenschrift“ unterstrich dieses Bestreben und legte auch die Grundlagen für ein auf den Notentext orientiertes Verständnis von Musik, das uns noch heute prägt. Der Topos von Musik als einer jedermann zugänglichen Sprache sorgte darüber hinaus für die Hoffnung auf grenzenlose bürgerliche Verbrüderung: Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt ... Säkularisierung verhieß also Aufstieg. Säkularisierung bedeutete auch Realitätsbezug. Die quasi-religiöse Botschaft liturgisch inszenierter Musik, vor allem aus dem poetischen Munde derjenigen, die als Bildhauer der Skulptur Kunst als Religion gelten dürfen, der Frühromantiker, zeigt sich von gesellschaftlich-politischen Botschaften durchsetzt. Identitätssuche ist des Bürgers politische Kraft, und dieses Gespann von Privatheit und Öffentlichkeit wird in Kunst zur experimentellen Erfahrung. Seiner Manifestation im Konzert waren spätere Krisen schon einprogrammiert, so diejenige, die infolge der Orientierung an ewigen Werken und dem Bekenntnis zur Selbstverwirklichung in der Kunst neue soziale Trennwände aufbaut. Spohr benennt für die Zeit des Biedermeier eine im stillschweigenden Einverständnis praktizierte, aber in der Folge IDWDOH$XÁ|VXQJGHUEUJHUOLFKHQ.XOWXUSÁHJHLQ]ZHL/DJHUGLHGLHIUhere Solidarität der Bürger mit den ebenfalls bürgerlichen Hofmusikern beendete. Es etabliert sich eine neue Form der Paria: Der Künstler muss als Preis für seine Selbstverwirklichung außerhalb der Gesellschaft stehen und wird als tendenziell zum Scheitern verurteilte Existenz erklärt. Dem Publikum wird andererseits Verständnislosigkeit und konsumorientierte Haltung gestattet, da ja vermeintlich nur die Zukunft gerecht urteilen kann, was sich als Meisterwerk und als Bedeutendes durchsetzen wird (ebd.).

Industrialisierung und Konzertwesen Es gibt gute Gründe, zu argumentieren, dass das Konzertwesen sein Gesicht im Zuge der Industrialisierung stark verändert hat. Aufgrund wachsender technischer Reproduktionstechnologien wurden musikalische Werke „für die Ewigkeit“ und nicht mehr, wie ehedem, für die Situation geschaffen. Das Bewusstsein für Originalität wuchs, der kompositorische Aufwand erhöhte sich, ebenso der Aufwand der Vermarktung. Mit Phonograph (1877) und Grammophon (1887) als neuen technischen

129

Elena Ungeheuer Gesichtern der Idee automatischen Musizierens, wie sie mechanischen Musikinstrumenten bereits mitgegeben war, mehrten sich die Ansätze, die raum-zeitliche Einheit von Ausführenden und Publikum aufzugeben. Es kam um 1900 zu Szenarien telefonischer Konzertübertragung, und in den Sälen wurden die Orchester und Chöre von Sichtwänden verdeckt. Mithilfe eines immer größer werdenden Aufwands an Technik wuchsen Konzerte des 20. Jahrhunderts im sich ausdehnenden Bereich von Popmusik und Jazz (Bigbandkonzerte, Jazz-Festivals) zu Massenveranstaltungen heran. Dass seit den 1950er Jahren ein großes technisches Aufgebot auch ganz GLIÀ]LOHQ.HQQHUQYRUEHKDOWHQHQ)RUPHQDXWRQRPHU0XVLN]XJXWHNDP verdankt sich in großem Stil dem Mäzenatentum von Rundfunkanstalten, die für Avantgardemusik der Nachkriegszeit Programmnischen, elektronische Studios und Konzertveranstaltungen bereithielten.

Konzertformen und Konzertverhalten heute: %HÀQGHQZLUXQVLQHLQHU.ULVH" Ohne an dieser Stelle eine Systematik der neuen Konzertformate erstellen zu können, kann ein neuer Trend zum alten Selbstverständnis des Konzerts als gemeinschaftlicher Erlebnisort gerade dort festgestellt werden, wo in Klanginstallationen, Improvisationen, Remixen, Performance-Kunst, mobiler Musik etc. eine situative Originalität und insgesamt ein Variantenreichtum der Konzertformate entsteht. Ebenso wie die Huldigung „des Werks“ dabei zurücktritt, weicht der pauschalisierende Glaube an einen bürgerlichen Common Sense dem Bewusstsein marktbedingter Nischenbildung, technikbedingter Zugänglichkeit und Rubrizierung aller Sparten und kulturbedingter Individualisierung bzw. Herausbildung von Subkulturen. Wenn etwas mit dieser Entwicklung in die Krise gerät, dann der Anspruch auf die Verwaltung geistigen Allgemeinguts, der aus historischen Gründen gerade die klassische Musik betrifft, die in der Tat von der (mit Heister gesprochen) Dauerkrise GHV.RQ]HUWZHVHQVVHLWDPVWlUNVWHQDIÀ]LHUWHUVFKHLQW'RFK]HLgen die empirischen Studien zum Verhalten der Konzertpublika (z.B. Hans Neuhoff für Berlin, 2006; Gunter Kreutz für Frankfurt, 2003), zumindest auf den deutschen Raum bezogen, dass sich das Publikum klassischer Konzerte vergleichsweise stabil und loyal verhält und darüber hinaus viel Toleranz gegenüber anderen Musikkulturen mitbringt, wenn es gelingt, diese als Subkultur neben anderen Subkulturen zu

130

Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale? betrachten. Damit ist die so genannte Allesfresser-Studie des amerikanischen Forschers Richard Peterson für den gegenüber den USA geschichtsbewussteren Okzident erstmal entkräftet (Peterson / Kern 1996). 1LFKW MHGHU +RFKJHELOGHWH ÁRWWLHUW KLQVLFKWOLFK VHLQHV 0XVLNNRQVXPV frei zwischen den Angeboten, zeigt sich offen für alles, was ihm vorgesetzt wird. Die Relativierung der kulturellen Bezugssysteme im Auge zu behalten, an kleinere in sich homogene Rezipientengruppen zu denken, für die auch gezielte Vermittlungsangebote entwickelt werden können, bietet Perspektiven aus der Sackgasse pauschaler Idealbilder, die den engmaschigen Vermarktungsstrategien nicht standhalten können. Einige Detailbeobachtungen aus Hans Neuhoffs Studie seien aufgeführt:

Die Rolle der Bildung Konzertbesucher lassen sich soziodemographisch von Nicht-Konzertbesuchern hinsichtlich mehrerer Merkmale unterscheiden. Am entscheidendsten fällt die Bildung ins Gewicht. Konzertbesucher haben eine durchschnittliche oder über dem Durchschnitt liegende Bildung. Aber auch noch für Besucherschaften volkstümlicher Musik oder von DancePop-Gruppen wie Modern Talking gilt, dass ihre Bildungsstruktur der Struktur der jeweils generationsgleichen Gesamtbevölkerung entspricht (Neuhoff 2006: 475). Die Formel „hohe Bildung = hochkultureller Geschmack, niedrige Bildung = populärkultureller Geschmack“ ist zu undifferenziert, um sinnvoll über die Phänomene reden zu können. Auch wenn Neuhoffs Studie diese Tendenz im Grundsatz bestätigte, gibt es deutliche Bildungsgefälle innerhalb der einzelnen Gruppen. Das macht die Analyse der Rock/ Pop-Publika deutlich. Während das Publikum von REM mit 72 Prozent Hochschul- und Fachhochschulreifen nahezu dieselbe formal-schulische Bildungsstruktur besitzt wie das Wagner-Publikum, verließ das Publikum von Modern Talking die Schule mit der mittleren Reife und steht am untersten Ende der Bildungsordnung. Auch die absoluten Unterschiede zwischen den traditionell bildungshoch verankerten Musikarten (Klassik und Jazz) und bestimmten nicht-akademischen Musikarten (House, Mainstream-Rock) schwinden. Gründe für diesen Prozess liegen (1.) in der gesamten Zunahme höherer Bildungsabschlüsse (vor allem der Frauen) und (2.) in einer sich verbreitenden gesellschaftlichen Akzeptanz von Rockmusik.

131

Elena Ungeheuer

Zum Alter Rock/Pop/Dance als jugendliche Musikkultur versus Schlager/Volksmusik als Musikkultur der Senioren ist in der Besucherschaft altersmäßig am homogensten bestimmt und repräsentiert in unserer Musikkultur das Verhältnis der stärksten gegenseitigen Ablehnung. Die höchste Altersstreuung zeigen die Hörer klassischer Musik. Nach Neuhoff verweist die breite Streuung des Alters in den Klassik-Auditorien auch auf die Verankerung dieser Musik in der Geschichte und den Institutionen unserer Gesellschaft. In den medialen Öffentlichkeiten mag sie im Hintergrund stehen, in den sozialen Strukturen wirkt einstweilen das Selbsterhaltungsstreben eines historisch gewachsenen Systems fort.

Zum Geschlecht ,QGHQ.RQ]HUWSXEOLNDGHU.ODVVLN0XVLNÀQGHWVLFKHEHQVRHLQHkonstante Gleichverteilung von männlich – weiblich. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Geschlechterdifferenz im Publikum mit dem Sinken des sozioökonomischen Status einer Besucherschaft steigt. Dieser Zusammenhang ist bei jüngeren Auditorien stärker ausgeprägt als bei Älteren (Heavy Metal: männlich, Modern Talking: weiblich).

Art der Erwerbstätigkeit In Berlin zeigt sich nach Neuhoff ein konservatives Bild: In den Klassik$XGLWRULHQGRPLQLHUHQGLHDNDGHPLVFKTXDOLÀ]LHUWHQVDXEHUHQXQGJHhobenen Tätigkeiten, während dort überhaupt keine Handwerker oder Arbeiter anzutreffen sind. In den populären Genres dominieren die nichtakademischen Ausbildungsberufe sowie „unsaubere“ (Handwerker, Arbeiter) und prestigeniedrige Tätigkeiten (Verkaufen, Bedienen). Darüber hinaus zeigen sich typische Verdichtungen bestimmter Berufsgruppen: Die Neue Musik hat viele Künstler, die Klassik viele Lehrer, Mediziner, Beamte im höheren Dienst, der Jazz viele Ingenieure, Modern Talking viele Verkäuferinnen, Sekretärinnen. Publika von Liedermachern oder Musical zeigen viele soziale und wirtschaftliche Berufe. Diese Befunde stehen, so Neuhoff, allen Thesen von einer EntWUDGLWLRQDOLVLHUXQJ VR]LRNXOWXUHOOHU 6WUXNWXUHQ GHU $XÁ|VXQJ YRQ VRzialen und kulturellen Grenzen in unserer Gesellschaft, offenkundig entgegen. Von einer Durchmischung sozialer Statusgruppen in den Auditorien des Musiklebens, wie sie hier durch das zentrale Merkmal GHU (UZHUEVWlWLJNHLW GHÀQLHUW ZXUGHQ NDQQ GHPQDFK NHLQH 5HGH

132

Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale? sein. Es lässt sich außerdem eine Altersabhängigkeit der Konstanz der Konzertpräferenzen beobachten: im Alter konstant, in der Jugend durchaus „mehrgleisig“. Inwiefern gesellschaftliche und bildungspolitische Bedingungen auf GDV Å.RQ]HUW*HKYHUKDOWHQ´ (LQÁXVV QHKPHQ OlVVW VLFK DQ IROJHQGHP Phänomen zeigen: Bei fast allen Veranstaltungen von Rock/Pop/Dance ÀQGHQVLFKPHKU6WXGHQWHQDOV$]XELVDEHUZHQLJHUDNDGHPLVFKTXDOLÀ]LHUWH (UZHUEVWlWLJH DOV (UZHUEVWlWLJH LQ QLFKWDNDGHPLVFKHQ %HUXIHQ Wo, so ist zu fragen, bleiben die Studierenden, nachdem sie das Studium abgeschlossen haben? Angenommen werden können zwei Gründe: 1. Die Familiengründung nach Beendigung des relativ lang andauernden Studiums bei Studierenden bindet Akademiker nach Studiumsabschluss erstmal abends zu Konzertzeiten an das Heim. 2. Bildungsniedrige Personen bleiben ihrer populären Musik treuHUDOV+|KHUTXDOLÀ]LHUWHGLHPLW]XQHKPHQGHP$OWHUGDV,QWHUHVse daran verlieren. Die homogenisierende Tendenz, dass in hochkulturellen Veranstaltungen andere hochkulturelle Musikarten besser gefallen als populäre Musikarten und umgekehrt, wird nur vom Jazzpublikum und von den Zuhörern der Liedermacher kontrapunktiert. Dabei gibt es deutliche Alterseffekte innerhalb der Gruppen. Insgesamt haben jüngere Hörer deutlich mehr Toleranz gegenüber anderen Musikarten als Ältere (Abfall der Wertungskurve bei 40-50 Jahren). 'DLQVJHVDPWGDV3XEOLNXPGHU.ODVVLNlOWHULVWÀQGHQVLFKNDXPSRVLWLve Bewertungen in den Statistiken. Nach der Allesfressertheorie müssten sich die Anteile der Positiv-Voten im Klassikbereich deutlich erhöhen. (UVFKZHUWÀQGHQVLFKHYHQWXHOOH9HUPLVFKXQJVWHQGHQ]HQGXUFKQLFKW austauschbare Verhaltenskonventionen der einzelnen Gruppen, die die Kleidung, die Kommunikation, das konkrete Rezeptionsverhalten bestimmen. Neuhoff betont als herausragendes Merkmal von Konzerten mit klassischer oder Neuer Musik die absolute Stille und Affektkontrolle der Besucher, und dies trotz des oftmals aufwühlenden Charakters der Musik. Hierin zeigt sich eine wesentliche Funktion und Leistung dieses kollektiven Rituals, das der Befähigung zur Affektkontrolle dient. Sie ist, wie Georg Simmel erkannt hatte, eine entscheidende Voraussetzung zur Durchführung langer Handlungsketten und damit ein Fundamentstück

133

Elena Ungeheuer ökonomischer Hegemonieerlangung und -bewahrung. Im Konzert wird dieser wohlbegründete Leitwert in einem kollektiven mimetischen Akt zugleich zelebriert und in die Körper eingeschrieben. Anders gelagert ist Funktion und Leistung der Körperorientierung im Bereich populärer Veranstaltungen, ob als Akt der Befreiung, Emanzipation, bis hin zur Revolte, als Merkmal des Subversiven etc. Ein Resümee über alle von Neuhoff erhobenen Variablen ergibt, dass die Klassik-Auditorien qualitativ nahe beieinander liegen und nur eine kleine, begrenzte Fläche des Konzertraums abdecken. Das Feld der populären Musikarten bietet aufgrund seiner Variablenvielfalt für die Artikulation und gesellschaftliche Kommunikation von Lebensgefühlen und Zugehörigkeiten ein wesentlich breiteres Spektrum an Möglichkeiten.

Strategien der Krisenbekämpfung Die Krise des klassischen Konzerts ist seiner Programmatik als hoch engagiert betriebenes privat-öffentliches Ereignis, und als Urform, in der sich Kunst als Ware manifestiert, eingeschrieben, wie das historiographisch Zusammengetragene verrät. Wenn wir argumentiert haben, dass das bürgerliche Konzert eine Form der Liturgie darstellt, müsste sich die Krise des Konzerts als eine Krise der Liturgie beschreiben lassen. Je nach angenommener Ursache drängt sich eine andere Art der Krisenbekämpfung auf; die Stichworte sind Pluralisierung, Aktualisierung, Abschaffung, Verdeckung.

Pluralisierung Nehmen wir an, neben dem einen Gott hätten sich andere Götter in unserer Gesellschaft behauptet. Dann müsste es darum gehen, den liturgischen Habitus zu variieren und an die jeweilige Glaubensgemeinschaft anzupassen. Wenn die eine Religion neben der anderen zu existieren vermag, wäre es möglich, der Krise des Konzerts durch eine Pluralisierung von Liturgien entgegenzusteuern. Wir gegenwärtigen längst eine Mehrzahl PXVLNVSH]LÀVFKHU .RQ]HUWULWXDOH GLH DXI GLH MHZHLOLJH &RPPXQLW\ zugeschnitten sind, man denke an die Abläufe von Rockkonzerten, die Verhaltensregeln, die für Jam-Sessions im Jazz gelten oder die Mitmachspiele bei Kinderkonzerten. Auch Mischrituale werden erprobt,

134

Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale? wenn etwa klassische Musik oder zeitgenössische E-Musik in Clubs gespielt werden (z.B. in den Yellow Lounges der Universal Music Group).

Aktualisierung Gehen wir von einem allgemeinen Wandel des Zeitgeists als Ursache für einen als zu gering bewerteten Publikumszuspruch für klassische Konzerte aus, sollte sich alles Bemühen um eine Aktualisierung der Konzertliturgie drehen: Welche rituellen Elemente haben sich überlebt? Sollte man etwa den Szenenapplaus, so wie er vor dem Zweiten Weltkrieg in Konzerten durchaus noch üblich war, wieder zulassen? Wird der Dresscode zu eng ausgelegt, und würde die Annoncierung von Casual Concerts diejeniJHQ]XIULHGHQVWHOOHQGLHLKUH(QWVSDQQXQJGDULQÀQGHQYRQGHU$UEHLW ohne Umweg über Abendgarderobe direkt ins Konzert zu fahren? Sollte sich der Hohepriester „Interpret“ publikumsnäher zeigen und die ideelle Distanz zwischen dem Publikum unten und dem Bühnengeschehen oben YHUULQJHUWZHUGHQ"(WOLFKH$NWXDOLVLHUXQJHQGLHVHU$UWÀQGHQVLFKLQXQterschiedlicher Auffälligkeit an vielen Spielstätten längst inszeniert. Besonders markant zeigt sich die Aktualisierung dort, wo sie die zugelassenen Arten des Musikhörens betreffen. Wo nicht stillschweigend zugehört wird, sondern geredet, gar gegessen, getrunken, ausgeschenkt wird, vermeint man den Rahmen des Konzerts endgültig verlassen zu haben. Zwar wird das sitzende Hören auch in heutigen Konzerten überwiegend erwartet, doch ist die Wahrnehmungsmodalität der Aspekt der Liturgie, der am stärksten auf Reformierung drängt, bzw. neu bewertet werden muss. Angesichts heutiger gesellschaftlicher Tendenzen und Moden erscheint das stillsitzende Hören als Relikt aus hierarchischen, körper- und bewegungsfeindlichen, interaktiven Rezeptionsformen verschlossenen Gesellschaftsstrukturen; die Apologeten meditativer Stillhaltepraktiken EHÀQGHQ VLFK GLHVHQ JDQ]KHLWOLFKHQ 6HOEVWYHUZLUNOLFKXQJVWUHQGV JHgenüber in der Minderzahl. Zudem monopolisieren allgegenwärtige :HUEHPD‰QDKPHQ GLH RSWLVFKH :DKUQHKPXQJ REHUÁlFKOLFK EHWUDFKtet, denn für die Wirkung des Spots ist sein Sound mindestens ebenVR EHGHXWVDP  XQG ODVVHQ DOOHV 1LFKW6LFKWEDUH GDJHJHQ GHÀ]LWlU HUscheinen. Allerdings lehrt auch hier wieder ein Blick in die Geschichte, dass das exklusive Musikhören eine relativ junge Entwicklung ist. Die Konzerträume selbst (z.B. einander gegenüberstehende Sitzbänke nach U-Bahn-Prinzip, die die musikalische Darbietung von der Seite wirken lassen und das Publikum einander frontal konfrontiert, wie im

135

Elena Ungeheuer Saal des Leipziger Gewandhauses im Jahre 1850) verdeutlichen, dass das gesellschaftliche Ereignis des Einander-Sehens und MiteinanderKommunizierens als wesentliche Funktion des Konzerts betrachtet wurde. Mittlerweile, nach der Gewöhnung an Lautsprecherkonzerte, wird dem Konzert mit Bühnendarbietungen von Musikern rückwirkend die Qualität des Audiovisuellen und dem sichtbaren Geschehen eine große Bedeutung auch für strukturierendes Hören zugestanden.

Abschaffung Eigentlich haben wir längst die Abschaffung der Konzertliturgie erlebt, vergegenwärtigt man sich, dass es keinen Konsens mehr über den Ablauf des bürgerlichen Konzerts gibt, dass man sich vor jedem Konzertbesuch neu orientieren muss, welche Verhaltensregeln, welcher Dresscode gelten. Damit zeigt sich die Hegemonie der Liturgie und, gravierender noch, die Bedingung der rituellen Unabänderlichkeit gebrochen. Es gibt nicht mehr das eine bürgerliche Ideal, es gibt viele, inkompatible bürgerliche Identitäten, die sich in unterschiedlichsten Lebens- und Kulturpraktiken PDQLIHVWLHUHQ:HOFKH5LWXDOHÀQGHQKHXWHQRFK3ODW]LQGHU.RQNXUUHQ] der Liturgien?

Liturgie und Ritual Es macht sich ein bedeutsamer Unterschied in den Konzepten des Liturgischen und des Rituellen bemerkbar, der für die Einschätzung der aktuellen Situation des Konzerts von Interesse ist. Liturgie meint den Ablauf eines gemeinschaftlichen, amtlichen Gottesdienstes im Unterschied zur Praxis privater Frömmigkeit. Es geht also um eine diktierte Ordnung, die die Machtinteressen desjenigen, der sie diktiert, widerspiegelt, und die dem Einzelnen Orientierung ebenso wie Hilfsstrategien bietet, religiöses Erleben praktizierbar zu gestalten. Allerdings: Eine von Amts wegen verordnete Liturgie trägt ihr Scheitern als authentisch ritualisierte Form authentischer religiöser Transzendenzerfahrungen programmatisch in sich, bietet sie doch immer die Möglichkeit, der Anstrengung kathartischer XQGVLFKXQWHURUGQHQGHU3UR]HVVHLQHLQHPREHUÁlFKOLFKHQ$EEHWHQOLWXUJLVFKHU)RUPHQ]XHQWÁLHKHQ Der Begriff Ritual bezeichnet allgemein Verhaltensgebräuche und Zeremonien, ob privater oder öffentlicher Natur. Somit verwirklicht eine Liturgie immer auch ein Ritual, nämlich ein kirchliches und öffentliches. 'DVRIÀ]LHOOH9HUKlOWQLVGHUNLUFKOLFKHQ/LWXUJLH]X5LWXDOHQLVWJHVSDQQW

136

Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale? nicht zuletzt, weil seit der Aufklärung der Begriff, ‚Ritual’ mit mittelalterlicher Magie assoziiert, mithin negativ besetzt ist. Auch werden konfessionelle Dispute darüber ausgetragen, welche rituellen Verfahren der Auslegung der kirchlichen Lehre gerecht werden und welche diese unterlaufen. Es gibt also keine Liturgie ohne Ritual, aber nicht jedes Ritual erODQJWGLH:HLKHHLQHURIÀ]LHOOHQ1RUPLHUXQJHLQHUYRQK|FKVWHU,QVWDQ] verkündeten Ordnung. Axel Michaels unterscheidet fünf Komponenten des Rituals (ebd. 1999): Die causa transitionis (ursächliche Veränderung), die sich auf Zeit und/oder Raum bezieht; die solemnis intentio (formaler/feierlicher Beschluss), eine Bedingung, die einer spontanen, zufälligen oder willkürlichen Feier eines Lebensereignisses keinen Ritualstatus zugesteht; die actiones formaliter ritorum (Kriterien der Förmlichkeit, Öffentlichkeit, 8QZLGHUUXÁLFKNHLW /LPLQDOLWlW  GLH DFWLRQHV PRGDOLWHU ULWRUXP PRGDOH Kriterien der societas und religio), societas meint „alle auf die Gemeinschaft bezogenen Funktionen des Rituals: Solidarität, Hierarchie, Kontrolle oder Normierung, religio umfasst die transzendierenden, auf eine jenseitige, höhere, geheiligte Welt [...] bezogenen Intentionen [...]“ und die novae classiÀFDWLRQHV GHU6WDWXVZHFKVHOEHLGHPHLQHQHXH.RPSHWHQ]RGHUHLQQHXHUJHVHOOVFKDIWOLFKHU6WDWXVHUZRUEHQZLUG ,QGLHVHU'HÀQLWLRQLVWEHUHLWV das wesentliche Merkmal des Übergangs, ggf. der Überwindung enthalten, auf das sich die neuere Ritualforschung4 konzentriert. Vermehrt wird der Fokus nämlich genau neben die traditionell dominierenden Fragen nach der Konstitution sozialer Wirklichkeit und dem Stiften orientierungssichernder Kohärenz von Ritualen gesetzt, wobei auch der Anschauungsbereich des Religiösen verlassen wird. Vielmehr geht es in der heutigen Forschung um kulturvergleichende Ansätze zu rituellen Konstruktionen in Politik, Literatur, Kunst, Musik, Tanz, Theater, Gesellschaft. Dabei gerät das Merkmal des Ludischen immer mehr in den Blick und mit ihm Fragen nach dem Umgang mit Offenem, dem Ungewissen, dem riskanten Anteil in Ritualhandlungen. Dorothea von Hantelmann untersucht in diesem Kontext Risiken, die durch Kunstausstellungen hervorgerufen werden, ausgehend von Tony Bennetts These, dass Museumsbesucher ein „progressives, zivilisierendes Verhältnis zu sich selbst“ ausbilden, das Museum mithin als Ort einer „ritualisierten Einübung von Bürgerlichkeit“ zu verstehen ist. Was geschieht beim „richtungslosen Gehen“, das dem Besucher in Ausstellungen abverlangt wird, die keine zentrale Betrachterperspektive vorsehen? Wie riskant wirken sich Kunstszenarien aus, die die traditionelle Differenz von Besucher und Kunstobjekt aufheben?

137

Elena Ungeheuer Was sich für denjenigen, der ein Ritual vollzieht, bzw. sich einem Ritual unterzieht, ereignet, fasst Hans-Georg Soeffner als auratischen Moment im Grenzgebiet des Überschreitens auf der Basis eines weiten Religionsbegriffs des Heiligen. Es entsteht eine Spannung zwischen der SUlUHÁH[LYHQ9RUVWHOOXQJHLQHVÄJHOLQJHQGHQ0RPHQWV·XQGGHP5LVLNR sich „in die Ordnung von Ritualen zu begeben, sich ihr hinzugeben“. Gelingen und produktives Scheitern im Sinne eines Kontrollverlustes liegen in dieser Perspektive nahe beieinander.

Abgeschaffte Liturgie oder verdeckte Rituale? Die Abschaffung der liturgischen Rituale des Konzerts erscheint als die radikalste Form ihrer Aktualisierung. Doch: Wie ist ein Konzert denkbar, das nicht auf Verhaltensritualen aufgebaut ist? Kann man noch sinnvollerweise von „Konzert“ reden, wenn keine Erwartung sich konkretisieren kann? Abschließend soll die These formuliert werden, dass im Zuge der Variierung des Konzertwesens eine einheitliche Liturgie zwar abgeschafft wurde, die rituelle Basis des Konzertgangs aber fortbesteht, und zwar in verdeckter Form. Interessanterweise verwirklicht sich gerade in den offenen, unberechenbaren Konzertszenarien etwas Ur-Rituelles, das authentischem Kunsterleben wieder neue Räume eröffnet. Reden wir von dem Trend, klassische Konzerte an ungewöhnlichen Orten darzubieten. Ein essenzielles Merkmal des Liturgischen bricht hierbei völlig weg: die Gewöhnung an rituelle Orte und die mit den Orten verbundene Verhaltenshabitualisierung. Das Ungewöhnliche der Orte ist für dieses Konzertformat von wörtlicher Bedeutung: Je ungewöhnlicher, umso wirkungsvoller. Am besten eignen sich Orte, an die man auch sonst nie gegangen, oder zu denen man niemals vorgestoßen wäre: ein leer gepumptes Schwimmbad, Unterwasserkonzerte, das Elektrizitäts-Umschaltwerk der Jahrhundertwende, ein historischer Bunker, der Hangar des Flughafens, eine Industriebrache... Handelt es sich bei diesen Ortswahlen um eine reine Marketing-Strategie im Sinne einer Effekthascherei, um einen unspe]LÀVFKHQÄ.LFN¶GHUGHP.RQ]HUWDOV%HVXFKHUVWLPXODQ]TXDVLDQJHKHIWHW wird? Als Hauptargument für die Idee, klassische Musik an ungewöhnlichen Orten aufzuführen, gilt die Vorstellung, dem (klassischen) Konzert neues Publikum zu erschließen. In der Tat lassen sich durch besondere Orte des Konzerts neue Besuchergruppen animieren. Doch werden diese höchst selten durch die neu bespielten Orte selbst herangezogen, da es sich

138

Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale? zumeist um Orte handelt (Flughäfen, Industriegebäude, Schwimmbäder), GLHDXVLKUHP6WDQGDUGNOLHQWHOKHUDXVNDXPLQVLJQLÀNDQWHU0HQJHQHXH Konzertbesucher abspalten lassen. Vielmehr stiften die ungewöhnlichen Orte einen Attraktor für eine ungewöhnliche Bewerbung des klassischen Konzerts, welche wiederum diejenigen, die von der Bewerbung erreicht werden, zu Konzertbesuchern machen, auch wenn sie ohne die Bewerbung des Konzerts eigentlich keine Kandidaten für diesen Konzertbesuch wären. Doch, so die Überlegung zur These, arbeiten die Marketing-Experten nicht viel tiefgründiger, und zwar genau mit rituellen Basisbedürfnissen von Konzertbesuchern, die jenseits von traditioneller Konzertliturgie in der Verdeckung noch unmittelbarer und wirkungsvoller zu erreichen sind? Schauen wir auf das Beispiel der organisierten Galerienwanderung, wie sie in verschiedenen Städten in je anderer Ausprägung praktiziert wird, und in Berlin zu einer gemäß den Besucherzahlen als erfolgreich einzustufenden Verknüpfung von bildender Kunst und zeitgenössischer Musik geführt hat. Als durchgestaltetes Kulturangebot des öffentlichen Rundfunks 3 bieten die jährlichen Galerienwanderungen hier einen Turnus durch ein je neu gewähltes Galerienviertel an, bei dem zu ausgesuchten Bildern ausgesuchte Werke Neuer Musik live gespielt werden. In der Galerienwanderung unterziehen sich Bürger, vornehmlich Radiohörer und nicht unbedingt Galerienkenner oder Szenegänger der Neuen Musik, einem fremd organisierten Prozess, der ihnen ein durch ein strenges Zeitmanagement geregeltes Wahrnehmungsprogramm abverlangt: Es geht um die Zeit, sich anzumelden, sich registrieren zu lasVHQDQHLQHQIUHPGHQ2UW]XIDKUHQXQGVLFKGRUW]XUHFKW]XÀQGHQIHUner um die Zeit, durch die Galerien zu laufen, und um die Zeit, vor einem Bild zu stehen und es sich anzusehen, bis jeweils die Musik beendet ist. Warum unterziehen sich die Veranstaltungsbesucher diesem Reglement, warum bevorzugen sie es nicht, gemäß ihrer Eigenzeit die Kunst in den Galerien zu besuchen? Sicherlich dominiert der touristische Genuss, sich von Kennern durch einen Kulturkontext führen zu lassen. Alle gut moderierten Musikfestivals SURÀWLHUHQYRQGHPEUJHUOLFKHQ%HGUIQLVQDFKDQJHOHLWHWHU(UEDXXQJ und mit Bildung gefüllter Freizeit. Doch wird nicht genau in der Bereitschaft, sich zwar zeitlich geregelten, aber im Wesen außergewöhnlichen Wahrnehmungssituationen auszusetzen, das Bedürfnis erkennbar, in ein durch eine rituelle Praxis (symbolisiert durch die Zeremonie der

139

Elena Ungeheuer Veranstaltungsorganisation) eingegrenztes Risiko, in ein Ungewisses mit Option auf Transzendenz und Erreichen eines neuen Status (als Geläuterter oder schlichtweg als „Kenner“) einzutauchen? Dieser ritualtheoretische Erklärungsansatz wirft auch Licht auf das Phänomen, dass gerade unbekannte Regionen, urbane Brachen, kunstuntypische Kontexte Veranstaltern wie Besuchern klassischer Konzerte ein besonderes Gelingen dieses rituellen Unterfangens der Selbstüberwindung zu versprechen vermögen, wie sich eine bewusste Lust auf Unberührtes mit dem eher unbewussten Wunsch nach dem Gelingen der eigenen Selbstüberwindung paart. Die eingangs herausgehobene persönliche Engagiertheit des Bürgers im Konzert scheint so gesehen nicht nur der Manifestation dessen, was als Ordnung und als ästhetische Norm besteht und anerkannt wird, zu gelten, sondern im Verborgenen auf ein Aufbrechen der Normen, auf ein inneres Voranschreiten abzuzielen. Wollen wir über solcherart Privates und seine gesellschaftliche Inszenierung überhaupt öffentlich reden?

Anmerkungen Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag der Autorin am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. 1. Aus: 70er Show in Oberhausen, geschrieben am Sonntag. 17. Oktober 2004 16:45:55 von 0DUNXV 85/ KWWSZZZROGLHIDQVGHPRGXOHVSKS"QDPH 1HZV ÀOH DUWLFOH VLG  [24.3.2007]. 2. SFB „Kulturen des Performativen“ Nr. 447, Freie Universität Berlin, Tagung des Teilprojekts A7 Ritual und Risiko. Zur Performativität des Spiels zwischen Kulturanthropologie, Religion und Kunst, 26.-28.10.2006, Organisation: Renate Schlesier, Mario Bührmann, Ulrike Zellmann, Susanne Gödde (Tagungsband im Druck, zusammenfassender Bericht unter http://www.sfb-performativ.de/pdf/ritual_als_risiko.pdf, Zugriffsdatum: 17.12.2008). 3. www.kulturradio.de.

140

Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale?

Literatur Kreutz, Gunter / Bastian, Hans Günther / Gotthardt, Christoph et al.: „Konzertpublikum: Quo Vadis? Eine Untersuchung des heutigen Konzertpublikums“, in: Das Orchester 12/2003, S. 8-19. Hanslick, Eduard (1869): Geschichte des Konzertwesens in Wien. Wien. Heister, Hanns-Werner (1996): Stichwort „Konzertwesen“, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 20 Bände, 2. neubearb. Ausg., Kassel: Bärenreiter. Michaels, Axel (1999): „‚Le rituel pour le rituel ¶ oder wie sinnlos sind Rituale“, in: Caduff, Corina / Pfaff-Czarnecka, Joanna (Hg.) (1999): Rituale heute. Theorien – Kontroversen – Entwürfe, Berlin: Reimer, S. 23-47. Neuhoff, Hans (2006): „Die Konzertpublika der deutschen Gegenwartskultur. Empirische Publikumsforschung in der Musiksoziologie“, in: Motte-Haber, Helga de la / Neuhoff, Hans (Hg.): Musiksoziologie, Laaber: Laaber, S. 473-510. Peterson, Richard A. / Kern, Roger M. (1996): „Changing Highbrow Taste: From Snob to Omnivore“, in: American Sociological Review. Jg. 61 (5), S. 900-907. Spohr, Mathias (1996): „Das ‚Meisterwerk ¶: ein Modell industrieller Serienproduktion“, in: Dissonanz 48 (Mai 1996), S. 19.

141

Strategien zur Produktion von Präsenz Matthias Rebstock

,Stillsitzen und zuhören‘, das bringt die Rezeptionshaltung auf den Punkt, auf die das klassische, bürgerliche Konzert als besondere Aufführungsform geradezu perfekt ausgerichtet ist: von der Architektur der Konzertsäle bis zu den gesellschaftlichen Ritualen, die das Konzert als Rahmung für musikalische Aufführungen sichern. Dabei hängt diese Rezeptionshaltung unmittelbar mit der Herausbildung einer bestimmten Musikästhetik zusammen. Historisch gesehen bildet sich bekanntlich das bürgerliche Konzert gleichzeitig mit der so genannten ,absoluten Musik‘ heraus, die Wackenroder als eine „abgesonderte Welt für sich selbst“ beschreibt oder Dahlhaus rückblickend als „tönendes Phänomen“, das sich in der Wahrnehmung vom Akt seiner Erzeugung losgelöst hat und dessen Wesen rein und körperlos ist. Still sitzen und Zuhören war im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert die adäquate Rezeptionshaltung für solche absolute Musik, weil beide in gewisser Weise ihre körperliche Dimension negieren: das Konzert, indem der Zuhörer die Existenz seines Körpers negiert und ,ganz Ohr wird‘; die absolute Musik, weil sie die Musik in ein Transzendentes verlegt und dafür von der körperlichen Dimension ihrer Hervorbringung durch die Musiker abstrahiert. Von heute aus gesehen stellen ,Stillsitzen und Zuhören‘ Tätigkeiten dar, die in unserem Alltag eher negativ besetzt sind, bzw. die so fast gar nicht vorkommen. Mit dem Eintritt ins Konzert muss man einen Teil seiner Selbstbestimmung abgeben (wie natürlich auch im Theater oder

Matthias Rebstock Kino); das Herumlaufen während des Konzerts und auch das Rausgehen werden sozial streng sanktioniert; ebenso übermäßiges körperliches Mitgehen mit der Musik. Auch hier kollidiert die völlig andere Bedeutung von Körperlichkeit und Selbstbestimmung heute mit den Standards des bürgerlichen Konzerts, was sich z.B. in der gegenwärtigen Beliebtheit von Wandelkonzerten oder Installationen mit offener Zeitstruktur bemerkbar macht. Und was das Zuhören betrifft: ,Monomedialität‘ und ,Monotasking‘, die mit ,Stillsitzen und Zuhören‘ erzwungen werden, stellen fast schon eine Zumutung dar angesichts eines Alltags, der mit mulWLPHGLDOHU 5HL]EHUÁXWXQJ XQG 0XOWLWDVNLQJ DXIZDUWHW :DV +DUWPXW Rosa in seinem Buch Beschleunigung in Bezug auf das Theater als „Entschleunigungsoase“ bezeichnet hat, kann also ebenso schnell zur Entschleunigungszwangsjacke werden (Rosa 2005). Kurz: Schon wenn man das Konzert auf die überspitzte Formel von ,Stillsitzen und Zuhören‘ bringt, sieht man, wie fragwürdig die damit verbundenen Prämissen und Praktiken heute geworden sind. Blickt man auf die verschiedenen Spielarten, wie gegenwärtig die .RQ]HUWIRUPPRGLÀ]LHUWZLUGVRZLUGPDQI|UPOLFK]XGHP6FKOXVVJHdrängt, dass die Krise des Konzerts offenbar in dessen mangelnder Präsenz erzeugender Kraft besteht. Die verschiedenen Ansätze laufen alle darauf hinaus, die Präsenz der Musik bzw. ihrer Aufführung zu steigern. Wenn GHPDEHUVRLVWXQGGLH.ULVHGHV.RQ]HUWVLQGHU.ULVHLKUHUSUlVHQWLÀ]LHrenden Kraft besteht, so stellt sich die Frage, was die jeweiligen präsenzsteigernden Mittel für das Hören bedeuten. Denn jedes Aufführungsformat GHÀQLHUWOHW]WOLFKZLHMHZHLOVJHK|UWZLUG,FKP|FKWHLP)ROJHQGHQYLHU 6WUDWHJLHQ ZLH GDV .RQ]HUW LP JHJHQZlUWLJHQ 0XVLNEHWULHE PRGLÀ]LHUW wird, skizzieren und jeweils fragen, welche Hörhaltung dadurch impliziert wird. Die vier Verfahren sind: Auratisierung, Spiritualisierung, Visualisierung und Performatisierung bzw. Theatralisierung. Mit diesen vier Strategien ist weder der Anspruch auf Vollständigkeit verbunden noch soll behauptet werden, dass sie sich immer trennscharf voneinander abgrenzen ließen. Ebenso ist klar, dass – bis auf die Auratisierung vielleicht – keines der Verfahren eine unmittelbare Reaktion auf die Krise des Konzerts darstellt, vielmehr stehen sie im Kontext eigener ästhetischer Fragestellungen. Dennoch haben sie Auswirkungen auf die Aufführungsformen, und ich werde sie daher von diesem Blickwinkel aus beschreiben. Bevor ich zu diesen vier Verfahren komme, möchte ich aber kurz auf den hier zugrunde gelegten Präsenzbegriff eingehen.

144

Strategien zur Produktion von Präsenz

Die Produktion von Präsenz Für die Erfahrung absoluter Musik als körperlosem, tönendem Phänomen brauchen wir heute nicht ins Konzert zu gehen. In gewisser Weise erfahren wir sie viel reiner, wenn wir sie zu Hause auf CD und auf einer guten Anlage hören. Hier gibt es tatsächlich kein Schwitzen der Musiker und kein Husten im Publikum, das vom Wesentlichen der Musik ablenken würde. Wenn wir dennoch das Konzert der heimischen CD vorziehen, so liegt das nicht in erster Linie daran, dass im Konzertsaal der Klang immer noch besser ist, sondern daran, dass im Konzertsaal eine DQGHUH 3URGXNWLRQ PXVLNDOLVFKHU 3UlVHQ] VWDWWÀQGHW XQV DOVR HLQH DQdere Erfahrungsmöglichkeit, ein anderes Hören – nicht nur ein besserer Klang – ermöglicht wird. Was also ist mit der Produktion musikalischer ,Präsenz‘ gemeint? Die Formulierung spielt auf das Buch Diesseits der Hermeneutik von Hans Ulrich Gumbrecht an, dessen Untertitel Die Produktion von Präsenz lautet (Gumbrecht 2004). Gumbrecht führt den Begriff der presenteness bzw. der Präsenz ein, um einen Paradigmenwechsel weg von der hermeneutischen „Sinnkultur“ hin zu einer „Präsenzkultur“ zu vollziehen (ebd. 99). Grundsätzlich wird mit dem Begriff der Präsenz eine Erfahrung beschrieben, die sich nicht als Zeichendeutung oder Sinnzuschreibung verstehen lässt. ,Präsenz‘ zielt auf die Materialität und den Ereignischarakter der Dinge der Welt, auf die Körperlichkeit der Akteure und den Vollzug der Handlungen und insbesondere auf den Vollzug von Ritualen. ,Präsenz‘ ist ferner im räumlichen Sinn gemeint, als das Hervortreten, das Vor-Führen und in diesem wörtlichen Sinn ,Pro-duzieren‘ der Dinge. Das Ereignis ihres Erscheinens ist also der Kern der Präsenzerfahrung. Dabei ist die Präsenz kein Begriff, der entweder zutrifft oder nicht, sondern er bezeichnet eine Intensität: Die Präsenz kann stärker oder schwächer ausgeprägt sein, und sie kann durch bestimmte Strategien gesteigert werden. Diesen Prozess, die Dinge ]XP (UVFKHLQHQ ]X EULQJHQ QHQQW *XPEUHFKW Å3UlVHQWLÀNDWLRQ´ HEG 111f.). Wenn es also stimmt, dass der Krise des Konzerts gegenwärtig verstärkt durch den Versuch begegnet wird, seine Präsenz zu steigern, dann müsste das für das Hören grundsätzlich bedeuten, dass nicht mehr das hermeneutische Hören als Verstehen einer quasi diskursiv strukturierten Klangrede gefragt ist, sondern ein Hören bzw. ein Wahrnehmen, das auf das Erleben eines Ereignisses im Hier und Jetzt zielt. Diesen Zusammenhang gilt es nun im Einzelnen zu untersuchen.

145

Matthias Rebstock

Strategien zur Produktion von Präsenz 1.) Die weit verbreitetste und für das Musikleben folgenreichste Strategie, die Präsenz erzeugende Kraft des Konzerts zu steigern, besteht sicherlich in der Auratisierung der Musiker. Unter Auratisierung fasse ich hier ein ganzes Bündel von Strategien zusammen, die darauf zielen, die Präsenz der Musiker über ihre bloße körperliche Anwesenheit hinaus zu steigern. Dass es einen Kult um einzelne Spitzenmusiker gibt, ist dabei nichts Neues. Man denke dabei nur an die Virtuosen des 19. Jahrhunderts oder die Kastraten des 18. Jahrhunderts und die Zurschaustellung der Perfektion ihres Könnens. Neu ist, dass die Verfahren von Image- und Starbildung im Wesentlichen denen gleichen, die wir aus den popkulturellen Zusammenhängen bereits kennen, d.h. dass jetzt auch im Klassikbereich ganze Industrien damit beschäftigt sind, für die Musiker bestimmte Images zu kreieren und GXUFK GHQ ÁlFKHQGHFNHQGHQ (LQVDW] GHU 0DVVHQPHGLHQ LP NROOHNWLYHQ Bewusstsein zu verankern. So werden Auftritte von Anna Netrebko oder Lang Lang zu Ereignissen, die Tausende vor die Großbildleinwände locken, oder Cecilia Bartoli verknüpft in einer breit angelegten Kampagne ihr eigenes Image mit der Aura von Maria Malibran. Es ist unschwer zu erkennen, dass hier das verstehende Hören der Musik gegenüber dem Teilhaben an der Aura der Musiker in den Hintergrund gedrängt wird. Andererseits darf man es sich auch nicht zu einfach machen. Die Auratisierung der Musiker bewirkt für viele Hörer, dass sie sich überhaupt erst für eine Musik öffnen, die ihnen sonst verschlossen geblieben wäre. Ebenso darf nicht übersehen werden, dass die Auratisierung auch über eine Art negativer Starbildung erfolgen kann: Das Image eines Künstlers wie Grigory Sokolov besteht gerade darin, jede Art von Starkult um seine Person abzulehnen. Keine Interviews, kaum Aufnahmen, nicht einmal das Aufstehen, Hinausgehen und wieder Hereinkommen zwischen den Stücken im Konzert, um dem Publikum Zeit zum Applaudieren zu geben. Er bleibt einfach sitzen. Alles ist ihm lästig, was von der Musik, ihrem Lebendigwerden im Konzert ablenkt. Sein Image ist das des authentischen Musikers, dem es nur und ausschließlich um Vollendung der Musik geht. In seinen Konzerten erreicht die Musik eine Präsenz, die an Magie grenzt, indem, wie Gumbrecht formuliert, hier etwas zum Erscheinen gebracht wird, was das real Anwesende übersteigt. Und gleichzeitig ist diese Präsenz der Musik einem verstehenden Hören zweifellos auch förderlich. Präsenz- und Sinnkultur schließen sich

146

Strategien zur Produktion von Präsenz also nicht aus, sondern die gesteigerte Präsenz der Musik kann offenbar auch geradezu zur Bedingung für ein intensives, verstehendes Hören werden.   6SLULWXDOLVLHUXQJ 'LHVHV 9HUIDKUHQ ÀQGHW VLFK VHKU YLHO VHOWHQHU HV ist aber insofern interessant, als hier die vermeintlichen Schwächen der Konzertform radikalisiert und zu seinen eigentlichen Stärken umfunktioniert werden. Nicht die Zumutung, sondern der Genuss, ja die therapeutische Wirkung von Monotasking und Monomedialität werden herausJHVWHOOW5XKHÀQGHQLQGHU+HNWLNGHV$OOWDJVDOOHVDEZHUIHQXQGVLFK nur auf das Hören einlassen. Hier wird das Hören in seiner körperlichen Dimension hervorgehoben, und gerade dieses körperliche Hören, dieses sich in Schwingung versetzen lassen, ermöglicht die Transzendierung des eigenen Körpers. Vilém Flusser hat dies in seinem Buch Gesten. Versuch einer Phänomenologie geradezu provozierend deutlich herausgearbeitet: „Kein Erlebnis zeigt so sehr wie das Hören von Musik, dass Geist, Seele oder Intellekt Worte sind, die körperliche Prozesse benennen. Anders und radikaler gesagt, das Musikhören ist eine Geste, bei der durch akustische Massage der Körper zu Geist wird. [...] Beim Musikhören fällt die Trennung zwischen Mensch und Welt, der Mensch überwindet seine Haut, oder umgekehrt: die Haut überwindet ihren Menschen“ (Flusser 1994). Die Präsenzsteigerung wird also dadurch erreicht, dass das Hören selbst inszeniert wird. Ein Beispiel, wie das aussehen kann, wäre die Konzertreihe Nachtmusik Barock, die 2006 im Radialsystem in Berlin ins Leben gerufen wurde. Das Außergewöhnliche war hier nicht die Musik, sondern zum einen die Uhrzeit, die Konzerte begannen nämlich erst um 22.30 Uhr; und zum anderen, dass das Publikum die Musik liegend hören konnte. Statt ,Stillsitzen und Zuhören‘ heißt es jetzt also ,liegen und hören‘. Ähnliche Konzepte werden im Übrigen auch von Planetarien oder Schwimmbädern angeboten. Die Art des Hörens, die durch eine solche Inszenierung ermöglicht wird, unterscheidet sich dabei wesentlich von der Art des Zuhörens im klassischen Konzert: Die Musik erscheint nicht mehr als ein Gegenüber, das sich quasi diskursiv an den Hörer wendet, die dieser möglichst genau verstehen muss; verpasst er ihren Sinn, verpasst er ihre Pointe. Nachts über den Dächern einer Industrielandschaft liegend, löst sich dieses diskursive Hören auf. Die hörende Aufmerksamkeit richtet sich mehr auf das Hören selbst, auf die räumliche Komponente der Musik, auf einen Zustand, kurz: auf die sinnliche Präsenz der Musik, weniger auf ihren Gehalt.

147

Matthias Rebstock 3.) Auf ganz andere Art verändert sich das Hören, wenn Musik im Konzert visualisiert wird. Im Jahr 2005 habe ich mit meinen damaligen Vorstandskollegen für die Berliner Gesellschaft für Neue Musik eine Reihe veranstaltet, die sich mit dem neuen Format des Videokonzerts auseinandergesetzt hat und deren Untertitel etwas provozierend lautete: Warum wir ohne Bilder nicht mehr hören wollen. Die einfachste Form solcher Visualisierung besteht – im Grunde analog zum Videoclip in der Popmusik – darin, dass auf der Bühne die Musiker spielen und über bzw. hinter ihnen auf einer Leinwand ein Film läuft, der sich formal und/oder inhaltlich mehr oder weniger direkt auf die Musik bezieht. Die Präsenz der Musik bzw. des Konzertereignisses wird also dadurch gesteigert, dass die Monomedialität des Konzerts aufgegeben wird. Genau genommen liegt ja auch im herkömmlichen Konzert keine Monomedialität vor, denn das Sehen spielt ja auch hier immer eine gewisse Rolle. Das Sichtbare wird aber jetzt selbst künstlerisch gestaltet und bietet zusätzlich zum Hören sinnlich-ästhetische Reize. Am ,Stillsitzen‘ hat sich nichts geändert, wohl aber am ,Zuhören‘, denn man versucht nun, Bezüge zwischen Musik und Film herzustellen und kann die Aufmerksamkeit mal dem einen, mal dem anderen zuwenden. Genau darin liegt aber auch die Schwierigkeit solchen Videoeinsatzes: Sind die Bezüge zu direkt, wird das als triviale Verdoppelung empfunden, sind sie nur lose, wirkt ihr Zusammenspiel EHOLHELJ E]Z GDV 9LGHR OHW]WOLFK EHUÁVVLJ ,Q EHLGHQ )lOOHQ IKUW GLH Visualisierung dann gerade nicht zur gesteigerten Präsenz, sondern verkehrt sich in ihr Gegenteil: Hörbares und Sichtbares nivellieren sich, die Präsenz des Ereignisses wird – wenn man so will – „genichtet“. Bei anderen Formen der Visualisierung geht es nicht nur darum, eine Art Zusatzangebot für das im herkömmlichen Konzert unterbeschäftigte Auge zu bieten. Eine Variante besteht darin, den Raum des Konzerts zu inszenieren, d.h. dem Hören einen bestimmten durch Video gestalteten Raum zu geben. Ein Beispiel hierfür lieferte das Stück Beleuchtung von Michael Beil und Daniel Kötter. Die Musiker des Ensemble Mosaik sitzen dabei relativ weit auseinander und nur schwach ausgeleuchtet im hinteren Bereich der Bühne. Vor ihnen stehen auf einer Linie fünf hochformatige, weiße Stellwände, auf die jeweils genau aufeinander abgestimmte Videosequenzen projiziert werden. Hier greift das Video direkt in die Raumerfahrung ein. Das Video ist nicht einfach ein Zusatz, sondern schafft einen eigenen Hör-Raum, der die Präsenz des Gesamtereignisses extrem steigert. Allerdings kann man auch

148

Strategien zur Produktion von Präsenz hier fragen, inwiefern die gesteigerte Präsenz des Ereignisses tatsächlich das Hören der Musik fördert. Auffällig ist beispielsweise, wie durch die massive Präsenz des Technisch-Visuellen die körperliche Präsenz der Musiker in den Hintergrund gedrängt wird, die nur noch zwischen den Wänden im Dämmerlicht von Pultlampen zu sehen sind. Durch das Video wird ein suggestiver, quasi ortloser Raum geschaffen, der, ähnlich wie bei der Wahrnehmungshaltung in Clubs, die zeitliche und räumliche Orientierung aufhebt bzw. Raum und Zeit zu einem einzigen gedehnten Augenblick verschmelzt. Eine andere Variante des Videoeinsatzes im Konzert zielt weniger auf die Veränderung und Verdichtung der Raumerfahrung, sondern versucht, den körperlichen Aspekt des Musikmachens zu verstärken. Ein Beispiel wäre das Projekt SCRAP von Anna-Maria Rodriguez, Andrea Neumann XQG6WHIÀ:HLVVPDQQEHLGHPXDPLWHLQHU9LGHRNDPHUD'HWDLOVGHU 6SLHOYRUJlQJH E]Z GHU .ODQJSURGXNWLRQ OLYH DEJHÀOPW XQG SURML]LHUW werden. Hier fungiert das Video quasi als verlängertes Instrument. Die Präsenz der Musik wird gesteigert, indem ihre Körperlichkeit vergrößert wird und durch die Größe und Ausschnitthaftigkeit in bisweilen surreale Spannung zu dem tritt, was fürs bloße Auge in der Konzertsituation sichtbar ist. 4.) Die letzte der vier Strategien, die Performatisierung bzw. Theatralisierung der Musik, bietet vielleicht die vielfältigsten Möglichkeiten und ist insbesondere in der Neuen Musik der 50er, 60er und 70er Jahre intensiv erforscht worden. Erinnert sei hier nur an die Performatisierung des Raumes bei Stockhausen oder Nono, die Performatisierung der Zuschauer in den musikalischen Happenings der Neo-Dada- und Fluxusbewegung oder an die Theatralisierung der Musik im instrumentalen Theater Mauricio Kagels. Viele der Verfahren, die damals quasi im Rausch der Innovationen in ihren Möglichkeiten nur angerissen wurden, werden heute wieder aufgegriffen, sozusagen mit kühlem Kopf untersucht und weiterentwickelt. Ich möchte für den Rest meines Beitrags beim instrumentalen Theater Kagels verbleiben, da man an ihm geradezu exemplarisch zeigen kann, wie die theatrale Produktion musikalischer Präsenz funktioniert und Kagel dabei in seinen Kompositionen stets mitdenkt, wie sich dadurch das Hören verändert. Eines der wichtigsten Mittel zur Theatralisierung der Musik bei Kagel besteht darin, dass er die Musiker dazu zwingt, eine Haltung zu ihrem Tun einzunehmen. Kagel selbst nennt das die „Psychologisierung“ 1 des Instrumentalspiels. Die Musiker sind nicht mehr nur Ausführende im

149

Matthias Rebstock Dienste der Musik, sondern sie werden zu Akteuren, die als Menschen hinter den Instrumenten immer präsent bleiben. In pandorasbox/bandoneonpiece erleben wir einen Musiker, der mit schelmischem Grinsen seine Musik vorträgt und immer wieder vokal kommentiert; und in Match für zwei Celli und Schlagzeug sehen wir zunächst zwei Cellisten, die im sportlichen Wettkampf gegeneinander antreten, dann aber immer mehr ermüden und letztlich ihren Wettkampf aufgeben. Hier wird die Musik SUlVHQWLÀ]LHUWZHLO.DJHOGDV0LWHLQDQGHUPXVL]LHUHQE]ZGDV6SLHOHQ vor Publikum selbst als theatrale Situationen auffasst, die er dann analysiert und in seinen Kompositionen in neue Zusammenhänge bringt. Ein weiteres Mittel besteht darin, die dem Musikmachen immanente Körperlichkeit hervorzukehren und kompositorisch zu gestalten. Bei Sonant gerät z.B. der enorme körperliche Aufwand virtuoser Musik in Widerspruch zum erzielten Resultat, nämlich dadurch, dass die virtuosen Passagen an der Hörbarkeitsgrenze auszuführen sind und von dem ganzen Aufwand praktisch nichts zu hören ist. Hier gewinnt die Musik eine enorme Präsenz, obwohl oder gerade weil sie schon fast verstummt ist und nicht mehr einfach gehört, sondern nur noch erahnt werden kann. Ein noch radikaleres Beispiel hierfür ist con voce für drei stumme Spieler von 1973. Die drei Musiker treten auf, setzen an und verharren dann in Spielspannung ohne zu spielen. In der Partitur heißt es: „Erst kurz bevor die Aufmerksamkeit der Zuhörer abzubröckeln droht, beginnen sie zu agieren.“ Was dann aber an Spielaktionen folgt, was man also real zu hören bekommt, dient nur dazu, die Präsenz der Spieler möglichst hoch zu halten und im beinahen Nichts ihres Tuns die Abwesenheit der Musik schmerzlich konkret spürbar zu machen. Die Präsenz der drei Spieler bei con voce beruht dabei ausschließlich auf dem Ritual des Konzerts und darauf, dass die Zuhörer – zumindest für eine Zeit – dabei mitspielen, obwohl die Musiker dagegen verstoßen. Nur weil es zum Ritual gehört, dass das Publikum still wird, wenn die Musiker auf die Bühne treten, und weil es zum Ritual gehört, ihnen einen Moment der Sammlung und Vorbereitung zu gewähren, bevor sie tatsächlich anfangen zu spielen, kann es bei con voce zu jener Stille am Anfang kommen, zu jener Präsenz der Musik, die paradoxerweise gerade durch ihre Abwesenheit erzeugt wird und die nur noch innerlich gehört werden kann.

150

Strategien zur Produktion von Präsenz

Fazit 'LHYLHU6WUDWHJLHQGLHLFKKLHUVNL]]LHUWKDEHPRGLÀ]LHUHQGDVNODVVLVFKH Konzert auf unterschiedliche Weise, aber immer so, dass die Präsenz der Musik gesteigert wird: ihre Ereignishaftigkeit, ihr Hervortreten aus der Alltäglichkeit der Handlungen, ihr Erscheinen, ihre Magie des Hier und Jetzt. Offenbar ist es so, dass unsere medialisierte und virtualisierte Zeit als Gegenreaktion einen enormen Präsenzhunger entwickelt hat, und dass das Aufführungsformat des klassischen Konzerts diesen Präsenzhunger allein nicht mehr zu stillen vermag. Durch diese Akzentuierung des Präsentischen verändert sich aber jeweils auch die Hör- bzw. Wahrnehmungshaltung, mit der man der Musik begegnet. Eine mögliche praktische Konsequenz daraus wäre, dass man, wenn man mit neuen Aufführungsformaten experimentiert, bewusster als vielleicht bisher mit dem Zusammenhang zwischen Musik und ihrer adäquaten Hörhaltung umgehen muss; und für die Komponisten bestünde die Konsequenz darin, dass die Auseinandersetzung mit dem jeZHLOLJHQ$XIIKUXQJVIRUPDWGKPLWGHU6SH]LÀNGHUGXUFKGLHVHVLPSOLzierten Hörhaltung, als Teil des Kompositionsprozesses angesehen werden muss.

Anmerkungen Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. 1. Vgl. Kagel, Mauricio: Über das instrumentale Theater, Text für das Nachtprogramm des NDR, November 1960, abgedruckt u.a. in: Programmblätter der Bühnen der Stadt Köln vom 6.12.1963.

Literatur Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Flusser, Vilém (1994): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a.M.: Fischer.

151

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... Klassik-Konzert versus Pop-Konzert. Anmerkungen zur modernen Musikpraxis

Roger Behrens

„Beim Howard-Carpendale-Konzert in der Color Line Arena hielt ein Mann um die Hand des Schnulzenkönigs an! Der Fan kletterte zu Howard auf die Bühne, sagte ins Mikrofon: ›Mein Name ist Marco Lührs‹, und ich möchte dir einen Heiratsantrag machen. Ich liebe dich über alles, und du bedeutest mir unendlich viel‹. Der verblüffte Sänger (62) auf Comeback-Tour dazu: ›So etwas habe ich noch nie erlebt!‹“ (Hamburger Morgenpost, Donnerstag, 24. April 2008, S. 20) „Schon nach kurzer Zeit wird Händel das Leben als Kirchenmusikant in Halle zu eng. Er will Opern komponieren und braucht 3ODW]IUVHLQH(QWIDOWXQJ'HQÀQGHWHULQ+DPEXUJGDPDOVGLH Opernmetropole nördlich der Alpen, eine Großstadt mit 60.000 Einwohnern. Am Opernhaus wird er Geiger, bald spielt er aber auch das Cembalo. Das verärgert einen Kollegen, der meinte, ihm allein gebühre das Spielen auf dem Tasteninstrument. Im Streit geraten sie mitten in der Vorstellung aneinander, zücken vor dem Opernhaus die Degen, und nur weil die feindliche Klinge an einem Metallknopf von Händels Jacke zerspringt, überlebt er das Duell.“ (www.jumpradio.de/programm/inhalt/gmd_haendel.shtml)

Roger Behrens

»Yippie Yippie Yeah!« Dezember 2008. – Es ist kalt. Ein Pulk junger Leute wartet geduldig in der Schlange auf Einlass. Viele haben sich vorbereitet und verkleidet: Plastikmüllsäcke, blaue und schwarze, mit einfachen Schlitzen für Arme und Kopf tragen sie als Kleid, dazu selbstgebastelte Hüte, die wie Pyramiden aussehen. Die Stimmung ist jetzt schon recht ausgelassen. – Es geht rein, die Halle füllt sich. Vorprogramm, ein Video-Jockey: Auf einer riesigen Leinwand werden Music-Clips projiziert – altes und neues Material, Beastie Boys und Justice, HipHop, Bigbeat und ähnliches. Dann geht es los, das Konzert beginnt, Intro: Auf der Leinwand erscheinen drei Personen, verkleidet in schwarzen Müllsäcken und mit Papppyramidenhüten auf den Köpfen – dazu haben sie sich mit orange und gelb phosphorisierendem Klebeband Buchstaben und Steifen auf die Verkleidungen geklebt. Man sieht sie in einem Treppenhaus, einem Keller, einem Flur. Dazu vom Band: eine klangewaltige, fast brachiale Triumphmusik im Stile einer WagnerOuvertüre. Vielleicht ist es sogar Wagner – ich weiß es nicht. Wie Boxer, die von den Umkleidekabinen siegessicher in die Arena, in den Ring schreiten, marschieren die drei verkleideten Musiker zur Bühne – in einem nicht enden wollenden Festzug sieht man sie auf der Leinwand immer neue Flure, Gänge, Treppen, Schächte durchlaufen. Dann eine Tür – die Leinwand geht hoch: Sie stehen auf der Bühne, alles schwarz, Spot an: Deichkind – das Eröffnungskonzert zum neuen Album Arbeit nervt beginnt. Der Saal ist gerammelt voll, es wird gedrängelt und gequetscht. Einige schieben sich mit aller Kraft nach vorne zur Bühne, viele wollen bereits jetzt schon gerade von dort weg: Nun zeigt sich der praktische Nutzen der Mülltüten – sie schützen die eigentliche Kleidung vor den berüchtigten Bierduschen, die nicht nur von der Bühne aus kommen, sondern für die das – im Übrigen jetzt schon recht betrunkene – Publikum selber sorgt. Was nun auf der Bühne passiert, die nächsten zweieinhalb Stunden, ist reine Show. Es kommen immer mehr in Mülltüten Verkleidete auf die Bühne. Aus den aufgeklebten Buchstaben können Worte gebildet werden: Yippie Yippie Yeah etc. Es wird getanzt und gesungen. Es gibt die ganze Zeit einen guten, ein- und durchgängigen Beat, der sich von Song zu Song nur in Nuancen ändert. Die Leute im Publikum sind begeistert, die Leute auf der Bühne sind begeistert. Musik, Musik, Musik, aber niemand spielt ein Instrument. Das ist ein Konzert, heute. Es ist ein Konzert, das in jeder Hinsicht deutlich macht, dass man mit den Kategorien von ›Pop‹ und ›Klassik‹ nicht mehr weiter kommt. Es ist

154

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... HLQ6SHNWDNHOVLJQLÀNDQWIUHLQHYLHOOHLFKWQHXHKLVWRULVFKH6LWXDWLRQLQ der nicht nur das, was einmal ›Klassik‹ hieß, längst im Pop aufgehoben ist, sondern auch der Pop selbst sich zunehmend über seine Grenzen hinaus zu YHUÁFKWLJHQVFKHLQW8QGZlKUHQGLFK'HLFKNLQGDXIGHU%KQHEHREDFKte, fällt mir der längst überfällige Beitrag ein, den ich noch zu schreiben habe – die Ausarbeitung des bereits im April 2008 auf der Wolfenbütteler Tagung referierten Vergleichs von ›Klassik‹- und ›Pop‹-Konzert‹: Wie soll man nach diesem Konzert noch zu einem Ergebnis kommen? Wenn überhaupt, ist das nur als kritische Rekonstruktion des Themas und seiner Problematik möglich...

›Klassik‹, ›Pop‹ Klassik-Konzert versus Pop-Konzert. Die Gegenüberstellung und Vergleichung soll hier unter der Doppelfrage diskutiert werden: Was lässt sich über das Klassik-Konzert aus Perspektive des Pop-Konzerts sagen, und was über das Pop-Konzert aus Perspektive des Klassik-Konzerts? Die Fragestellung impliziert zugleich mehr, als nur über das Konzertwesen und seine historischen Veränderungen etwas zu sagen: Es geht um kulturelle Formationen, um Kunst und Musik als soziales Verhältnis, mit einem Wort: um Gesellschaft. Das heutige Musikleben ist in seiner VSH]LÀVFKHQ Sprache von allgemeinen.ODVVLÀ]LHUXQJHQ²¿.ODVVLN¾¿3RS¾DEHUDXFK¿5RFN¾¿-D]]¾RGHU ¿(0XVLN¾ XQG ¿80XVLN¾ ² EHVWLPPW GHUHQ GHÀQLWRULVFKH *HOWXQJ VLFK bloß auf die ökonomische Sphäre der Produktion und des Konsums beschränkt. Nicht zuletzt durch die gesellschaftliche Funktion der Musik als Ware verfestigten sich die gewöhnlich-gewohnten, gängigen, aber gleichwohl falschen Bezeichnungen ›Klassik‹ und ›Pop‹. Für eine kritische 5HÁH[LRQ DXI GLH MHZHLOV IU GLH PXVLNDOLVFKHQ 6SDUWHQ VSH]LÀVFKHQ LP hEULJHQMDHEHQIDOOVPLWGHP|NRQRPLVFKHQ%HWULHEDXIV(QJVWHYHUÁRFKWHnen Konzertformen ist es unabdingbar, den historischen Rahmen zu rekonstruieren, der das Thema Klassik-Konzert versus Pop-Konzert umgrenzt. Die Vorstellungen von dem, was ein ›Klassikkonzert‹ charakterisiert, entspringen einer Zeit, in der die Klassik längst überholt war: Die unterschiedlichen Formen dieser Konzerte haben sich im bürgerlichen Kulturbetrieb in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts herausgebildet. Zu verweisen ist hier auf die riesigen, ja nachgerade monumentalen Konzert- und Opernhäuser, die im neunzehnten Jahrhundert

155

Roger Behrens gebaut, eröffnet und erfolgreich bespielt werden, sowie auf die großen Sinfonieorchester – 1842 werden die Wiener Philharmoniker gegründet, anlässlich der Pariser Weltausstellung eröffnet Jacques Offenbach 1855 VHLQHLJHQHV2SHUHWWHQ7KHDWHU 7KpkWUHGHV%RXIIHV3DULVLHQV ÀQden erstmals die Bayreuther Festspiele statt, 1882 werden die Berliner Philharmoniker gegründet, 1883 wird die Metropolitan Opera in New York eröffnet und so weiter. Im Sinne einer musikhistorischen Einordnung ist das nun nicht mehr die Zeit der Klassik, sondern bereits die Hochzeit der Romantik, wenn nicht sogar schon Spätromantik – die Klassik ist jedenfalls längst musikhistorisch abgelöst. Gleichwohl wird hier mit zum Teil ungeheuerem, spektakulärem Aufwand fortgesetzt, was sich schon in der Klassik als Wandlungsprozess vollzog; ein Wandlungsprozess, der für die musikalischen Darbietungsformen, die wir eben als ›klassisches Konzert‹ zu bezeichnen gewohnt sind, von großer Relevanz ist. Hinzu kommt – und das korrespondiert mit der Durchsetzung des Begriffs der Klassik als Warenmarke im Musikbetrieb – eine neue gesellschaftliche Verortung der ernsten Musik, der bürgerlichen Kunstmusik, als Unterhaltung, ja als populäres Massenereignis – mit allem, was an Mode und Starauftritten, Empfängen sowie einem Verhalten von »Sehen & Gesehen-Werden« dazugehört. Das, was gemeinhin als Klassikkonzert bezeichnet wird, steht in seiner massenkulturellen Gestalt den großen Popveranstaltungen in nichts nach; historisch lassen sich die Formen des klassischen Konzertes aus der Entwicklung der Massenkultur heraus erklären. Mehr noch: Das klassische Konzert, gerade wo es sich als Hochkultur einem breiteren bürgerlichen Publikum präsentiert, ist wesentlich von der Struktur bestimmt, die sich im neunzehnten Jahrhundert als Massenkultur etabliert. Dem entgegen trägt das Pop-Konzert zwar massenkulturelle Züge, ist aber als Ereignis – ebenso wie die Popkultur allgemein – keineswegs mit der Massenkultur identisch. Vielmehr ist das Pop-Konzert in seiner ganzen Vielfalt als $XIIKUXQJVSUD[LV ]X EHVWLPPHQ GLH VLFK HEHQ LQ LKUHQ SRSVSH]LÀschen Formen von der Massenkultur unterscheidet. Insofern wird, wo die Popkultur die Massenkultur abgelöst hat, das Klassik-Konzert selbst zu einem Pop-Event, zu einer möglichen Form des Pop-Konzerts. Zwar ist es üblich, auch die verschiedenen Phänomene des Pop nach ZLH YRU DOV (OHPHQWH HLQHU 0DVVHQNXOWXU ]X NODVVLÀ]LHUHQ GRFK HUZHLVW sich dies bei einer kritischen Bestimmung des Begriffs Massenkultur als unzureichend und undifferenziert. Solche Unschärfen hat Kaspar Maase (1997) versucht zu korrigieren; sinnvoll datiert er die »klassische Phase der

156

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... Massenkultur« auf den Zeitraum zwischen 1850 und 1970. Das korrespondiert mit der Entwicklung der Moderne als Massengesellschaft: In diesem Zeitraum wird »die Masse« als quantitative Kategorie zu einer qualitativen .DWHJRULH ZLUG OHEHQGLJ G\QDPLVFK XQG ÀQGHW als Masse ihren gesellschaftlichen Ausdruck – maßgeblich in der kapitalistischen Ökonomie und Politik. Hervorzuheben an Maases Zeiteinteilung ist, dass sie klar macht, dass der Begriff der Massenkultur eben nicht identisch ist mit der Popkultur ²DXFKZHQQZLUKlXÀJEHLGH:RUWHV\QRQ\PJHEUDXFKHQ(QWVFKHLGHQG ist dabei nicht nur die Datierung des Ursprungs der Massenkultur in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, sondern vor allem auch die Setzung eines Endes der Massenkultur: 1970 bezeichnet hier in Bezug auf die moderne Gesellschaft einen Bruch – die nachfolgenden siebziger Jahre sind von der Krise der Massengesellschaft gekennzeichnet; eine Krise, die sich in mehreren Aspekten auch in der Kultur bemerkbar macht, nämlich vor allem in einer neuen, sich in den achtziger Jahren schließlich vollends durchsetzenden Ideologie eines Individualismus, der ganz entscheidend GLH.RQÀJXUDWLRQHQGHUJHJHQZlUWLJHQ3RSNXOWXUJHSUlJWKDW²)UHGHULF Jameson hat die Kulturelle Logik des Spätkapitalismus als Postmoderne beschrieben; auch die Musikpraxis erfährt in den siebziger und achtziger Jahren eine Postmodernisierung, indem sich hier wie in den anderen Künsten die Krise der Moderne bemerkbar macht: Auch im Pop sind die für die Moderne verbindlichen Konzepte »Wahrheit«, »Universalität«, »Sinneinheit« und »Autorschaft« nicht mehr zu halten; mehr als die anderen Künste vermag aber die Musik im Pop darauf positiv und gelassen zu reagieren. Auch in der Musik, die noch immer auf die Masse als Publikum setzt, sind die Formen der Massenkultur überholt oder zumindest im Absterben begriffen; mit der Durchsetzung des Musik-Video-Clips und Musikfernsehen kündigt sich eine neue Individualkultur an, die von einer in der Tat postmodernen Vervielfältigung, also einer Pluralisierung der Pop(musik)kulturen gekennzeichnet ist: Der Gegensatz von Pop und Rock kulminiert in den Siebzigern mit Punk und Disco, Höhepunkt: 1978. Im VHOEHQ-DKUÀQGHQVLFKGLH$QIlQJHYRQ+LS+RSXQG7HFKQR5HJJDHXQG Soul erleben eine Renaissance, Hardcore entwickelt sich aus dem Punk und DXVGHP+DUGURFNHQWVWHKW+HDY\0HWDOLP1DPHQYRQ1HZ:DYHÀQGHW sich eine unüberschaubare Popmusik, die sich offensiv zum Synthetischen ebenso bekennt wie zum spielerischen, wenngleich marktorientierten Individualismus. Zu den Veränderungen der Musikpraxis gehört auch die QHXH)RUPGHV.RQ]HUWÀOPVHWZDStop Making Sense von und mit Talking

157

Roger Behrens Heads, Regie Jonathan Demme (1984). Während des ganzen Konzertes – gezeigt wird ein Zusammenschnitt von drei Aufführungen der Band – sieht man kein einziges Mal das Publikum; die Band steht im Mittelpunkt, aber nicht wirklich in der Rolle starker Autor-Subjekte: Der Titel ist wörtlich zu nehmen – auf der Bühne steht eine Stehleuchte und David Byrne trägt, als sei er die Karikatur eines Stars (oder eines Yuppies) einen viel zu großen Anzug, was ihm und der ganzen Atmosphäre etwas Clowneskes verleiht. Hier, im Zeichen der Postmoderne, haben sich endgültig ›E‹ und ›U‹ überlagert – nicht zuletzt in der Möglichkeit, nunmehr solche Musik in ihrer 0HKUGHXWLJNHLW]XLQWHUSUHWLHUHQ$OVKRFKUHÁHNWLHUWH$XVHLQDQGHUVHW]XQJ mit der Gesellschaft ebenso wie als simples, spektakuläres Entertainment. Erst mit der Postmoderne, also erst am Ende von Massenkultur und Hochkultur, wird die kulturelle Lüge der Moderne offenbar, dass die merkwürdige Konfrontation von ›E‹ und ›U‹ schon immer Ideologie war. Die Massenkultur entsteht im neunzehnten Jahrhundert nicht als Gegenteil GHU +RFKNXOWXU VRQGHUQ DXV GHU +RFKNXOWXU KHUDXV GHÀQLHUW VLH JOHLFKsam die gesellschaftliche Struktur der Hochkultur. Die Hochkultur geht schließlich als Massenkultur in die Popkultur ein und wird von dieser absorbiert. Insofern muss das so genannte ›Klassische Konzert‹ immer schon als Teil der Popkultur betrachtet werden, sofern sich die so genannte ›Klassik‹ ohnehin als ein Segment der Popkultur darstellt. Immerhin hat VLFK DXFK GHU XQWHU ¿.ODVVLN¾ ÀUPLHUHQGH .RQ]HUWEHWULHE GHQ |NRQRPLschen) Regeln der Popmusikpraxis unterworfen, was die Entwicklung des Musical- und Festival-Betriebs seit den späten Siebziger Jahren deutlich und unverhohlen zeigt. Was spätestens seit Karajan ohnehin schon klar ist, wird in den Achtzigern zum eigenständigen Feld in der Vermarktung von ›klassischer‹ Musik ausgebaut: der Popstar – Anne-Sophie Mutter, Gidon Kremer, schließlich Nigel Kennedy und Vanessa-Mae … Insofern sind die ›Klassik‹, die ›klassische Musik‹, das ›klassische Konzert‹ etc. mittlerweile etablierte Segmente der Popkultur. Gleichzeitig ist aber durch symbiotische Effekte die Popkultur ebenso integraler Bestandteil des ›klassischen‹ Musiklebens. 1 Gerade dort, wo sich der Warencharakter der Musik am unmittelbarsten aufdrängt, nämlich in den Werbe-Spots, ist es von künstlerischen Kategorien völlig gleichgültig, ob ›klassische‹ oder ›populäre‹ Musik verwendet wird – es richtet sich ganz nach der Corporate Identity, LQ GHU GLH 0XVLN DOV 6RXQGWUDFN IXQJLHUHQ VROO (LQ SHUÀGHV %HLVSLHO ist der bei einer britischen TV-Talent-Show entdeckte Ariensänger Paul Potts, dessen rührender Gesang mittlerweile für Telefonwerbung benutzt wird.

158

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... So ist es heute so, wie es im Pop und eigentlich der modernen Kultur überhaupt immer schon angelegt war: Die Phänomene sind einheitlich, bilden aber keineswegs einen einheitlichen Block, sondern erweisen sich als ambivalent, vielschichtig und zum Teil disparat – ganz im Sinne der Postmoderne. Das heißt auch innerhalb einer omnipräsenten Popkultur ist ein klassisches Konzert, etwa die Aufführung einer Beethoven-Sinfonie, etwas anderes als ein Popkonzert, etwa eine Show der Rolling Stones (die ja längst als Classic Rock Band gelten). Gleichwohl ist aber auch die Aufführung einer Beethoven-Sinfonie etwas anderes als die Aufführung einer Komposition von Brian Ferneyhough; und zwar ebenso wie eine Show der Rolling Stones sich fundamental von einem Konzert der Band A Silver Mt. Zion unterscheidet. Ja, selbst und gerade bei der Aufführung YRQ%HHWKRYHQV0XVLNZLUGPDQDXI$QKLHEJHQJHQG%HLVSLHOHÀQGHQ wo etwa die Neunte Sinfonie einmal eindeutig als Klassikkonzert, dann wieder eindeutig als Pop-Event präsentiert wird, abgesehen von den ganzen Zitaten, die sich von Beethoven in der gesamten Vielfalt der Popmusik ÀQGHQXQGHEHQGRUWDXFKEHL.RQ]HUWHQGDUJHERWHQZHUGHQ Ein Beispiel, von dem Arnold Hauser in seiner Soziologie der Kunst berichtet: »Im Jahr 1837 sollte in Paris ein Trio von Beethoven und eines von einem gewissen Pixis aufgeführt werden. Die Namen der Komponisten wurden jedoch auf dem Programmzettel miteinander verwechselt, und das Publikum, das aus gebildeten und musikalisch keineswegs gleichgültigen Leuten bestand, hörte das Werk Beethovens, das es für eines von Pixis hielt, unbewegt an, applaudierte dagegen lebhaft nach dem Stück von Pixis, das Beethoven zugeschrieben wurde.« Hauser (1974: 516). Das Interessante: das könnte bei einem Popkonzert kaum passieren, dass eine Band mit einer anderen verwechselt wird … Indes mag es gerade an dem liegen, was dem hochkulturellen Ideal gemäß gerade ›E‹ von ›U‹ unterscheiden soll: Bildung. Nämlich könnte sich gerade das – angeblich – bildungsferne oder bildungsneutrale Poppublikum als »treffsicherer« in der ,GHQWLÀNDWLRQ ªVHLQHV© .QVWOHUV EH]LHKXQJVZHLVH 6WDUV KHUDXVVWHOOHQ (weil man nämlich einen Star nicht verwechselt oder zumindest nicht verwechseln darf), als das auf seine Bildung bedachte ›Klassik‹-Publikum, dass sich nämlich dann, wenn die Bildung zur »Halbbildung« (Adorno) degeneriert, als äußerst dumm, wenn nicht dämlich erweisen kann. Die Anekdote, die Hauser hier für das frühe neunzehnte Jahrhundert zitiert, dürfte das Grundmuster der heute gerade bei dem Publikum, dass sich JHUQH QRFK LQ GHU 7UDGLWLRQ GHV JHSÁHJWHQ %LOGXQJVEUJHUWXPV VLHKW

159

Roger Behrens verbreiteten Kunst-, ja, paradox, Bildungsfeindlichkeit sein: Ressentiment. Und auch davon ist das Poppublikum gemeinhin frei – es wertet, schimpft, verachtet und schmäht – aber Ressentiments sind ihm eigentlich fern. 2

Kulturindustrie, Musik als Ware „Unterm gesellschaftlichen Aspekt lässt sich die gegenwärtige Musikübung, Produktion und Konsumtion, drastisch aufteilen in solche, die den Warencharakter umstandslos anerkennt und, unter Verzicht auf jeden dialektischen Eingriff, nach den Erfordernissen des Marktes sich richtet und in solche, die sich prinzipiell nicht nach dem Markt richtet. Anders gewandt: in der Entfremdung von Gesellschaft und Musik stellt die erste Gruppe – passiv und undialektisch – sich auf die Seite der Gesellschaft, die zweite auf die der Musik. Die herkömmliche, in der bürgerlichen Musikkultur sanktionierte Scheidung von ›leichter‹ und ›ernster‹ Musik fällt mit dieser scheinbar zusammen.“ Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik (in: GS Bd. 18, S. 733) Was sich hier insgesamt zuträgt an Veränderungen der allgemeiQHQ 0XVLNSUD[LV LQ GHQ OHW]WHQ ]ZHL -DKUKXQGHUWHQ ÀQGHW VHLQH HUVWH Kulmination in dem, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Gemeinschaftsarbeit Dialektik der Aufklärung (1944/47) als Kulturindustrie dargestellt haben: Kulturindustrie bezeichnet dabei die kulturelle Formierung der Gesellschaft der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in der die kapitalistische Produktionsweise sich zu einem fordistischen System verdichtet hat: Die Standardisierung der Produktion wird in Hinblick auf technologische Rationalität und ökoQRPLVFKH (IÀ]LHQ] SHUIHNWLRQLHUW XQG GULQJW GDIU ZHLW LQ GHQ $OOWDJ vor; die Optimierung der kalkulierten Leistung wird zur Maßgabe eines Lebensstils, der zunehmend in einer allgemeinen Angestelltenkultur seiQHQ$XVGUXFNÀQGHW.XOWXULQGXVWULHPHLQWGLHVR]LDOHQ9HUKlOWQLVVHDOV Ganzes, als konkrete Totalität, auch im Sinne einer tendenziell »total verwalteten Welt« (Adorno). Das Prinzip ist die unbedingte und rücksichtsORVH 'XUFKVHW]XQJ GHV 3URÀWPRWLYV ² LQ DOOHQ /HEHQVEHUHLFKHQ $OOHV wird der Verwertungslogik subsumiert; schließlich: Alle Kultur wird zur Ware. So gilt auch für die Musik, dass die künstlerische Form durch die Warenform ersetzt oder zumindest überlagert wird; gerade dem modernen

160

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... Konzertbetrieb bleibt die Warenform nicht äußerlich: der Fetischismus, der mit dem Warentausch verbunden ist, setzt sich in der Musik fort. Was bedeutet das aber, wenn Musik, Klangverhältnisse, Konzerte etc. warenförmig werden? Bekanntlich entschlüsselt Karl Marx den Fetischcharakter der Ware als ihr Geheimnis: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.« Adorno interpretiert dies ein dreiviertel Jahrhundert später für einen Kulturbetrieb, in dem das »gesamte gegenwärtige Musikleben … von der Warenform beherrscht« wird und »die letzten vorkapitalistischen Rückstände [...] beseitigt« sind: »Dies Geheimnis ist das wahre des Erfolgs. (ULVWGLHEOR‰H5HÁH[LRQGHVVHQZDVPDQDXIGHP0DUNWIUGDV3URGXNW zahlt: recht eigentlich betet der Konsument das Geld an, das er selber für die Karte zum Toscaninikonzert ausgegeben hat. Buchstäblich hat er den Erfolg ›gemacht‹, den er verdinglicht und als objektives Kriterium akzeptiert, ohne darin sich wieder zu erkennen. Aber ›gemacht‹ hat er ihn nicht GDGXUFKGDVVLKPGDV.RQ]HUWJHÀHOVRQGHUQGDGXUFKGDVVHUGLH.DUWH kaufte.« (Adorno 1938, S. 24 f.) Dieser Zusammenhang bleibt der Musik nicht äußerlich, sondern rutscht gleichsam in die Klangverhältnisse hinein und charakterisiert die Warenform der Produkte. Entscheidend ist, dass es sich dabei nicht einfach um eine Ökonomisierung des Musikbetriebs im Sinne einer Kommerzialisierung handelt, sondern der Warenfetisch die Musik bis in ihre innerste Struktur hinein durchdringt – und insofern wird die Musik selbst warenförmig (vgl. Behrens 2008). Und das tangiert die so genannte Klassik ebenso wie die Pop-Musik; ja: allein schon die Typologisierung der Musik nach dieVHP6FKHPDLVWVLJQLÀNDQWIUGDVZDVDOVLKU)HWLVFKFKDUDNWHUHUVFKHLQW – und genau darin konvergiert die Musik über alle ihre Vielfältigkeiten hinweg. Mit anderen Worten: Gerade dort, wo sich der Konzertbetrieb als in Klassik und Pop unterschieden geriert, sind die Differenzen längst auf das Einheitsprinzip der Verwertungslogik nivelliert: Unabhängig von alOHQlVWKHWLVFKHQ*HJHQVlW]HQXQG1XDQFHQKDWVLFKGDV3URÀWPRWLYLQMHGH Produktion und Reproduktion von Musik eingeschrieben.

161

Roger Behrens

Musikpraxis im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit Kernthese der Kritik der Kulturindustrie, der Adorno und Horkheimer einen ganzen, zudem den zentralen Abschnitt im Buch widmen, ist, dass alle Kultur zur Ware wird. Alle Kultur; das gilt also nicht nur für populäre Kultur, billige Produkte der Unterhaltung, und moniert keineswegs bloß die Kommerzialisierung, sondern bezeichnet eine gesellschaftliche Struktur, ein soziales Verhältnis. Dieses soziale Verhältnis ist nun zunehmend in seinem äußeren Ausdruckszusammenhang bestimmt durch Technik. Es entsteht seit der (UÀQGXQJYRQ$SSDUDWHQGLH7RQDXI]HLFKQXQJXQGEHUWUDJXQJHUP|JOLchen, um neunzehnhundert, eine ungeheuere Maschinerie an musikalischer Technik. Fortan wird Musik nicht mehr durch Technik vermittelt, sondern umgekehrt wird Technik gleichsam durch Musik vermittelt. Zunehmend wird es schwieriger, einzelne Phänomene oder Elemente des Musiklebens ]XVHSDULHUHQXQGLQLKUHULVROLHUWHQ6SH]LÀWlW]XEHWUDFKWHQLQVEHVRQGHUH in Bezug auf die Veränderungen des Konzertwesens ist das virulent. Entscheidend ist, wie sich gerade im künstlerischen Bereich der Musikpraxis der Begriff der Technik selbst ändert und dies wiederum auf die Musikpraxis zurückschlägt. Ohnehin wird davon ausgegangen, dass dem Begriff Technik in der Musik eine Doppelbedeutung zukommt: Gemeint ist einmal die Kompositionstechnik, zum anderen die Spieltechnik. Im Sinne der technischen Reproduzierbarkeit kommt mindestens noch eine dritte Bedeutung des Technikbegriffs hinzu: Technik nicht nur im Sinne der Instrumentaltechnik, als Handwerkskunst, Musikinstrumente zu bauen; seit den ersten Spieluhren und Walzenpianos, schließlich seit Lochgrammophon und Schallplatte verwischen allerdings die Grenzen zwischen instrumentaltechnischer Produktion und klangtechnischer Reproduktion. Technik meint hier »die industriellen Verfahren, die auf Musik angewandt werden zu Zwecken ihrer massenhaften Verbreitung. Doch bleiben sie ihr nicht durchaus äußerlich. Hinter den technisch-industriellen und den künstleriVFKHQ(UÀQGXQJHQLVWGHUVHOEHJHVFKLFKWOLFKH3UR]HVVDP:HUNGLHVHOEH menschliche Produktivkraft.« (Adorno 1969b, S. 555) Walter Benjamin hat diesen Zusammenhang von Kunst, Technik und allgemeinen Reproduktionsverfahren in seinem 1936 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ veröffentlichten Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit dargestellt – bemerkenswerter Weise ohne dezidiert auf die Musik und die ihr verwandten künstlerischen Bereiche einzugehen, obgleich ja gerade die Musik wie kaum eine andere Kunst an

162

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... die Reproduktion und Reproduzierbarkeit gebunden. »Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden.« (Benjamin 1936, S. 351) Der Möglichkeit der Reproduzierbarkeit ist vor allem die Musik ausgesetzt seit jeher, weil sie seit jeher sich nicht auf den einen Ort lokalisieren lässt, von dem aus etwa ein Original, ein Erstes, ein Ursprung bestimmbar ist. Anders gesagt: Keine Kunst hat sich nur in einem Feld etabliert, am wenigsten die Musik – im Leben der Menschen durchziehen die Künste verschiedene Bereiche und ihre Funktionen changieren zwischen Säkularem und Sakralem. Bei der Musik kommt hinzu, dass sich mit wandelnder Bedeutung von Komposition und Interpretation, Arrangement und Rezeption immer auch grundlegend ihr ästhetischer Charakter veränderte, was wiederum stets auf die geschichtlichen Entwicklungen ihrer (technischen) Reproduzierbarkeit zurückwirkte. »Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen – und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit.« (Benjamin 1936, S. 352, im Original hervorgehoben). Das gilt insbesondere für die Musik. Die technische Reproduzierbarkeit bedeutet etwas vollkommen Neues. »Die Reproduktionstechnik... löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises.« (Benjamin 1936, S. 353, im Original hervorgehoben). Schließlich konstatiert Benjamin wesentliche Auswirkungen der technischen Reproduzierbarkeit nicht nur für die Herstellung und den ästhetischen Status der Kunst, sondern vor allem für die Rezeptionsweisen: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Wahrnehmung.« (Benjamin 1936, S. 354, im Original hervorgehoben). Beziehungsweise: »Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst.« (Benjamin 1936, S. 374, im Original hervorgehoben) Nicht mehr kontemplative Versenkung des Einzelnen bestimmt das ästhetische Verhältnis zur Kunst, sondern kollektive »Zerstreuung« (vgl. Benjamin 1936, S. 381). Benjamin sieht dies vor alOHPGXUFKGLH5HSURGXNWLRQVWHFKQLNHQGHU)RWRJUDÀHXQGGHV)LOPVUHDOLsiert, bezieht sich also mit seinen Analysen, die in Bezug auf das klassische Kunstverständnis in der These vom Verlust der »Aura« und der »Fundierung [der Kunst] auf Politik« münden (vgl. Benjamin 1936, S. 357 und passim), vorrangig auf das Visuelle respektive Optische – so entwickelt Benjamin HWZDGHQ%HJULIIGHVª2SWLVFK8QEHZXVVWHQ©LQ%H]XJDXIGLHIRWRJUDÀVFK ÀOPLVFKHQ0|JOLFKNHLWHQGHU9HUJU|‰HUXQJ=HLWOXSHHWF YJO%HQMDPLQ

163

Roger Behrens 6I *HUDGHLQGHU0XVLNÀQGHQGLHVH5HSURGXNWLRQVWHFKQLNHQ nicht nur ihre Entsprechungen, sondern zudem Eigenarten, die Benjamins Feststellungen auch für die akustischen Bereiche von Kunst und Kultur geltend machen und zugleich die, wenn man so will, Dialektik der technischen Reproduzierbarkeit freilegen: »Die Dinge sich ›näher zu bringen‹ ist ein genauso leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen, wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion darstellt.« (Benjamin, 1936, S. 355, im Original hervorgehoben) Dies hat gleichwohl seine Rückwirkung auf die »Ausstellbarkeit«: Das Kunstwerk wird vom Ritual gelöst, tritt aus GHP9HUERUJHQHQKHUYRUXQGLQVEHVRQGHUHªLQGHU)RWRJUDÀHEHJLQQWGHU Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen.« (Benjamin 1936, S. 360, im Original hervorgehoben) Das gilt für die Musik im besonderen Maße, wenngleich mit auffälligen Einschränkungen: Die musikalischen beziehungsweise allgemein akustischen Reproduktionstechniken erlauben es, »Kultwert« und »Ausstellungswert« zu vermitteln oder identisch zu setzen – gerade in der »Ausstellung«, das heißt den vielfältigen Aufführungsmöglichkeiten der Musik (Konzert, Radio, Film, Tonträger etc.), HUZHLVWVLFKGLHVSH]LÀVFKHª(FKWKHLW©GHU0XVLNLKUª.XOWZHUW©3DUDGR[ kann die Musik deshalb dem Hörer näher gebracht werden, weil sie von ihrem »ursprünglichen« Ort – die Musik spielenden Musiker im Konzert, im Studio etc. – durch das technische Verfahren der Aufnahme entfernt oder verborgen wird. Benjamin schreibt: »Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein. Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Ganzen zuVDPPHQÀQGHQ© %HQMDPLQ6 ,QGHU0XVLNYHUKlOWHVVLFKDOOHUdings genau umgekehrt: Erst die technische Reproduzierbarkeit durch die Aufnahme ermöglicht es, das musikalische Ereignis – das Musikstück – vollständig als Ganzes zu erleben. Der einzelne Musiker im Orchester oder einer Band ist zwar ein guter Musiker, wenn er seine Stimme im Bewusstsein einer musikalischen Einheit oder werkmäßigen Totalität einbringt, doch wird die Musik tatsächlich erst durch die reproduktionstechnische Fixierung in der Aufnahme zum ästhetisch vollständig erfahrbaren Ganzen; dabei verfährt der Tontechniker indes nicht viel anders als der Kameramann, nur dass das »neue Ganze« des Tontechnikers eines der Nähe ist, die sich nur aus der reproduktionstechnisch ermöglichten Distanzierung der Musikrezeption von der Musikproduktion ergibt.

164

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... Exkurs. – Das scheint mit der Musik selbst zu tun zu haben: Musik gilt als Zeitkunst – das ästhetische Ereignis der Musik ist von einer Zeitlichkeit bestimmt, die auch die künstlerischen Formen der Musik bestimmt und LQ7RQGDXHU0HWULNXQG7DNWVHLQHQ$XVGUXFNÀQGHW:LHZHLWGDVPRderne Zeitbewusstsein in die Musik schließlich eindringt, lässt sich am symphonischen Aufbau – Ouvertüre, Finalsätze etc. – ebenso zeigen ZLHDQGHQ5K\WKPHQGLHVLFKSDUDOOHO]XUVSH]LÀVFKHQ5K\WKPLVLHUXQJ des modernen Alltagslebens herausbilden (die besten Beispiele sind der Rag Time und die Durchsetzung des Viervierteltakes in der populären Musik). Die kapitalistische Moderne ist von der Durchsetzung der abstrakten Zeit geprägt; sie ist auch die Vorgabe für die Zeitlichkeit der Musik. Andererseits erfährt diese abstrakte Zeit, die das verbindliche chronologische Maß des sozialen Lebens ist, in der Musik scheinbar eine Konkretion: Immer mehr Zeitabschnitte werden mit Musik überlagert oder gefüllt (mit Bedeutungen, Erinnerungen, Emotionen, Zerstreuungen, Träumereien etc.); die moderne – abstrakt und »leere« Zeit – will tendenziell Musik werden. 3 Hier zeigt sich aber auch der Übergang zum Raum: Gerade als Zeitkunst ist die Musik an bestimmte Orte gebunden beziehungsweise in bestimmte Räume eingebunden. So wie die moderne Zeit tendenziell zur Musik werden will, so breitet sich die Musik als dauerpräsenter Klangteppich in allen modernen Räumen aus. Zeit und Raum bilden einen Komplex, der in der Musikgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte eine zunehmende Dynamisierung, das heißt Öffnungen und Verdichtungen gleichermaßen erfährt: Durch die Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit treten der Ort, an dem Musik gemacht wird, und der Ort, an dem Musik gehört wird, auseinander beziehungsweise gehen diese Orte als variable Räume in die Musikpraxis ein. Zum Beispiel: Gustav Mahler sitzt in seinem Komponierhäuschen am Wörthersee bei Klagenfurt; er komponiert ›Das Lied von der Erde‹; Bruno Walter führt das Werk nach Mahlers Tod 1911 in München auf. Bernstein spielt ›Das Lied von der Erde‹ mit den Wiener Philharmonikern ein; die Aufnahme ist als CD verfügbar, ich habe sie oft zuhause gehört. Nun habe ich die Aufnahme auf meinem Mp3-Player und höre die Musik beim Joggen an der Elbe... In der Musik sind die Rezeptionsweisen der Zerstreuung und der Versenkung nie wirklich zu trennen: Das zerstreute Hören und das kontemplative Hören sind durch den »Rausch« miteinander verbunden; im Rauschhaften der Musik zeigt sich aber, inwieweit gerade der

165

Roger Behrens Ausstellungswert mit dem Kultwert in einem beständigen und lebendiJHQ :HFKVHOYHUKlOWQLV VLFK EHÀQGHW 'LH WHFKQLVFKH 5HSURGX]LHUEDUNHLW hat zwar auch im Bereich der Musik die »Aura« zerstört, doch gleichzeitig lässt sich an der aus der Reproduktionstechnik hervorgegangenen modernen Musikpraxis zeigen, inwiefern durch die Technik oder sogar als Technik eine neue Aura entstanden ist. Bei Benjamin heißt es: »Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte.« (Benjamin 1936, S. 358, im Original hervorgehoben) Einmal mehr hat die technische Reproduzierbarkeit im Bereich der musikalischen Künste eine gegenteilige Auswirkung gezeitigt: Die Gelegenheit zur Ausstellung sichert die Stabilisierung der Kunst im Ritual, in Formen der Ritualisierung des Rausches. 6FKRQYRUGHQ(UÀQGXQJHQGHU$XIQDKPHXQGhEHUPLWWOXQJVWHFKQLN von Klang und Musik hat sich diese Dialektik der Reproduzierbarkeit in der Etablierung des modernen Konzertwesens angekündigt: Mitte des neunzehnten Jahrhunderts öffnen die großen Opernhäuser und Konzerthallen, gründen sich die riesigen Orchester; gleichzeitig gibt es durch die Industrialisierung des Transportwesens die Möglichkeit, die Orchester reisen zu lassen – auch darin manifestiert sich eine erste Beweglichkeit des .ODQJHUHLJQLVVHVXQGHLQHVSH]LÀVFKH5HSURGX]LHUEDUNHLWGLH7RXUQHHGLH das Konzertwesen in allen musikalischen Genres und Gattungen nachhaltig bis heute bestimmt. Schon im bürgerlichen Konzertbetrieb des späten neunzehnten Jahrhunderts zeigt sich, in welchem Ausmaß die kontemplative Haltung des Publikums mit der Zerstreuung zusammenfällt: Die Hörer wollen beraucht werden; auch der Bildungshörer will es nicht allein bei der sachlichen Überprüfung seiner Bildung bewenden lassen: Er sucht das Ritual, den Kult, sei’s in Bayreuth, sei’s in Paris. Mit der technischen Reproduzierbarkeit der Musik wird der Sound zum tragenden ästhetischen Element. Schon mit der Romantik hat sich in der allgemeinen Musikpraxis der Sound als immer wichtiger erwiesen; Sound setzt sich bereits im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts auf verschiedenen Ebenen, freilich noch ohne Begriff (oder mit Behelfsbegriffen wie etwa dem der Klangfarbe), neben Tonalität, Melodie, Rhythmik und Metrik als eigenständiges Maß langsam durch. So gehört Richard Wagners Musik zur ersten, die in eigenständiger Weise Geräusche einsetzt; hinzu kommt die Technik der Leitmotive und das Kompositionsschema der Effekte, von denen Wagner selber sagte, sie seien »Wirkungen ohne Ursache« 4. Ganz entscheidend ist aber für die durch und seit Wagner

166

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... in die Wege geleiteten Veränderungen der Musikpraxis: Einerseits das Musikdrama, also das Gesamtkunstwerk unter der Regie der Musik, andererseits das Verschwinden des Orchesters im Graben, wodurch die Musik unsichtbar als – augenscheinlich – rein akustisches Phänomen hervortritt und vermeintlich die musikalische Aufführung musikalisch begleitet oder illustriert. Wagner antizipiert hierbei die wesentlichste Eigenart der modernen Musik unter Bedingungen der technischen Reproduktion, was für die Musik im Film am meisten Wirkung zeitigte – im Übrigen gerade dort, wo die Musik sich romantischer Muster bedient: Eine weite Landschaft, zum Beispiel die Prärie in einem Western, untermalt (oder sollte man sagen übermalt) mit raumschaffenden, gewaltigen Klängen, Halleffekten und etwa einer tremolierenden Gitarre, die eine Atomsphäre erhabener Einsamkeit erzeugt – aber weit und breit ist kein Orchester, keine Musiker, kein Musikapparat zu sehen; und wie merkwürdig ist es, wenn diese Musik dann konzertant aufgeführt wird, ohne Film, wenn das tatsächlich spielende Orchester nunmehr das einzige sichtbare Bild der Musik liefert... Thomas Alva Edisons Phonograph (1877) und sein Wachszylinder  VLQGIUGLH0XVLNSUD[LVHEHQVRJUXQGOHJHQGH(UÀQGXQJHQZLHGDV 1887 von Emil Berliner patentierte Grammophon oder die bereits 1837 von 6DPXHO0RUVHHQWZLFNHOWHHOHNWULVFKH7HOHJUDÀHXQGGDV2UFKHVWULRQVFKRQ KDWHVHUVWH([SHULPHQWHPLW7RQÀOPJHJHEHQGHU7RQÀOPVHOEVWHWDbliert sich ab 1927 mit The Jazz Singer HLQ0XVLNÀOP 9RQEHVRQGHUHU Bedeutung für die Musikpraxis und das Konzertwesen sind dann aber die serienmäßige Fertigung der Schallplatte, die um 1900 ihren kommerziellen Durchbruch erfährt, und die Etablierung des Rundfunks (am Beginn der Radiogeschichte in Deutschland steht bezeichnenderweise die Übertragung eines Instrumentalkonzerts) 5. Mit diesen Techniken erweitert sich der konzertante Raum: Durch die Möglichkeit der Rundfunkübertragung und der Schallplattenaufnahme kann nun ein ganzes Orchester im begrenzWHQ :RKQUDXP HUNOLQJHQ DXFK GXUFK GDV .LQR ² 6WXPPÀOPH ZXUGHQ bekanntlich durch Orchester, Klavier oder Kinoorgel musikalisch begleitet – entwickelt sich ein vollständig neuer Raum für die Musik, schließOLFKZLUGPLWGHP7RQÀOPGDV.LQRELOGVHOEVWDOVPXVLNDOLVFKHU5DXPHUobert. Die Musik wird durch die technische Reproduzierbarkeit ästhetisch übertragbar. Exkurs. – Was also Benjamin unter der Formel vom Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entfaltet, gilt für die Musik im besonderen Maße: Nicht nur bekommt die musikalische Aufführung

167

Roger Behrens eine technische Gestalt, sondern die Musikvermittlung wird, auch in Hinblick auf die sinnliche Erfahrung der Musik, eine technisch-ästhetische Dimension. Die Verbindung von Film, Radio und Konzert hat sich in EHVRQGHUHU:HLVHLPPHUZLHGHU:DOW'LVQH\PLWVHLQHQ.XU]WULFNÀOPHQ ]XHLJHQJHPDFKW=DKOUHLFKH%HLVSLHOHÀQGHQVLFKLQGHQVRJHQDQQWHQ Silly Symphonies (1929 bis 1939), aber auch in den beliebten ›Mickey 0RXVH¾&DUWRRQÀOPHQ$PVDQWZLHDXIVFKOXVVUHLFKLVWGHU.XU]WULFNÀOP Symphony Hour von 1942: Micky Maus ist Dirigent eines Radio SinfonieOrchesters, dirigiert ein eingängiges Stück aus Franz von Suppés Operette Leichte Kavallerie, oder Die Töchter der Puszta (1866). Die Proben verliefen wunderbar, umso mehr freut sich der Sponsor Mr. Sylvester Macaroni, GDUJHVWHOOWYRQ.DWHU.DUORDXIGHQNQVWOHULVFKHQZLHÀQDQ]LHOOHQ(UIROJ der anstehenden Rundfunkkonzert-Aufführung. Goofy, nicht nur einer der Bläser im Orchester, sondern offenbar auch für den Transport der Instrumente verantwortlich, passiert ein schwerwiegendes Malheur: Überfordert mit dem Transport der Instrumente stürzt er mitsamt diesen in den Fahrstuhlschacht; die gesamten Instrumente, Streicher, Bläser, Pauken etc., werden von dem herunterrauschenden Fahrstuhl zerquetscht. Allerdings: Die Zeit drängt, die Übertragung beginnt, und in letzter Minute bekommen die Musiker ihre – völlig beschädigten – Instrumente GLH 0XVLNHU VLQG EULJHQV DOOH EHOLHEWHQ XQG EHNDQQWHQ 'LVQH\ÀJXUHQ Donald Duck, Klarabella Kuh, Rudi Ross …). Zur Aufführung kommt das Stück aus von Suppés Operette, doch es ist ein einziges Gequietsche, eine Aneinanderreihung von Geräuschen und Effekten – Sylvester Macaroni ahnt eine Katastrophe und droht Micky schon, ihn umzubringen, doch GDV3XEOLNXP]HLJWVLFKEHJHLVWHUWUXIWª%UDYR©XQGVSHQGHWOHEKDIWHQ Applaus … Dadurch, dass hier die Rundfunkübertragung eines Konzerts ÀOPLVFK EH]LHKXQJVZHLVH WULFNÀOPLVFK GDUJHVWHOOW ZLUG ZHLVHQ GLH Veränderungen der Musikpraxis, die hier etwas ironisch dokumentiert werden, in verschiedene Richtungen, die aber allesamt mit den technischen Bedingungen der Reproduktionsverfahren zu tun haben. Insbesondere gilt das für die Musik selbst, die zur Karikatur verfremdet wird und genau deshalb ja dem Publikum gefällt: Unterstützt wird das schließlich durch die HLQIDFKHQ0|JOLFKNHLWHQGHV7ULFNÀOPVGLHGHIHNWHQ,QVWUXPHQWHLQLKQHQ völlig ungemäßen Klängen zu Gehör zu bringen: Die Posaune wird zur Tröte, die Trompete wird zur Hupe, die Geige wird zur Zither und so weiter. .RQWHUNDULHUWZLUGGDV*DQ]HLQGHVGXUFKGDV$JLHUHQGHU7ULFNÀJXUHQ selbst: Die sich nunmehr an ihren verbogenen Instrumenten ebenfalls verbiegen, um diesen überhaupt noch irgendeinen Ton zu entlocken – das,

168

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... was wir hören, ist das, was wir sehen: Slapstick; die Orchestermusiker sind hier, was Adorno dereinst den Jazzmusikern unterstellt: »Excentrics« bzw. »Excentric-Clowns«. 7 Das rührt allerdings eben an grundsätzlichen Eigenarten der Veränderung der Musikpraxis im von Walter Benjamin bezeichneten Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit.

Popkulturindustrie Veränderungen der Musikpraxis durchziehen die gesamte Kulturentwicklung der Moderne; mit ihnen geht eine Neubewertung der Musik innerhalb des Kanons der Künste einher, die mit einer Neubestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Musik korrespondiert: In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts avanciert die in Pop transformierte Musik zur Leitkunst – mit anderen Worten: Für die Gesellschaft der Popkultur ist die Musik die wesentliche Kunst, die gleichsam zum Modell für andere, ebenfalls in den Pop übersetzte Künste wird. Diese Positionierung der Musik in der spätkapitalistischen Gesellschaft, die gleichermaßen unter dem Vorzeichen von Modernismus und Postmoderne VLFKVHLWGHQIQI]LJHU-DKUHQHQWIDOWHWÀQGHWLKUHQJHZDOWLJHQ$XVGUXFN freilich in der Musikpraxis, für die das Konzert in seinen vielen differenzierten Ausformungen noch immer zentral ist. Insgesamt steht Musik wie Musikpraxis heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, im fundamentalen Gegensatz zu Musik und Musikpraxis zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Symptomatisch ist, dass Hegel damals allgemein von einem Ende der Kunst sprach und damit meinte, dass mit der Romantik die Künste ihre dereinstige soziale Funktion nun, mit dem Fortschritt einer der Ausschüttung des Weltgeistes näher kommenden Geschichte, an die Philosophie abtreten; zugleich wies Hegel in einer Hierarchisierung der Künste der Musik neben der Architektur die unterste Position zu: Sie sei – gerade als romantische Kunst – Verkörperung subjektiver Innerlichkeit. Nun hat die Weltgeschichte nach Hegel bereits im neunzehnten Jahrhundert gezeigt, dass die Musik auch eine ganz andere Seite hat: Sie ist nicht nur Verkörperung subjektiver Innerlichkeit, sondern zugleich auch Verkörperung objektiver Äußerlichkeit – sie ist wie kaum eine anderen der Künste, die Kunst des Ausdrucks. 8 Gerade die Herausbildung des romantischen Ideals gelingt in der Musik des neunzehnten Jahrhunderts zwischen Beethoven und Mahler nachgerade mit historischer Überwältigung.

169

Roger Behrens Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, insbesondere in der fortgeschrittenen Phase, wiederholt sich die historische Überwältigung vollständig auf allen Gebieten der Kultur. Benjamin hat in Anspielung auf das Nachleben der Romantik in der Moderne die Formulierung von der »Blauen Blume im Land der Technik« geprägt, die das exakt zum $XVGUXFNEULQJWª(LQH)LOPXQGEHVRQGHUVHLQH7RQÀOPDXIQDKPHELHtet einen Anblick wie er vorher nie und nirgends denkbar gewesen ist. Sie stellt einen Vorgang dar, dem kein einziger Standpunkt mehr zuzuordnen ist, von dem aus die zu dem Spielvorgang als solchem nicht zugehörige $XIQDKPHDSSDUDWXU >@ QLFKW LQ GDV %OLFNIHOG GHV %HVFKDXHUV ÀHOH >@ Das Theater kennt prinzipiell die Stelle, von der aus das Geschehen nicht ohne weiteres als illusionär zu durchschauen ist. Der Aufnahmeszene im Film gegenüber gibt es diese Stelle nicht … Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Technik.« (Benjamin 1936, S. 373) Für die Veränderungen der Musikpraxis, insbesondere in Hinblick auf die Bedeutung des Konzerts oder die Erweiterung der Formen der Aufführung, bleiben die technischen Neuerungen im Bereich der Reproduktion entscheidend. Hinzuweisen ist auf die Einführung der Vinyl-Langspielplatte mit 33 1/3 Umdrehungen pro Minute 1948. Ein Jahr später, 1949, folgt die 7-Inch Schallplatte mit 45 Umdrehungen pro Minute, die sich als Format der so genannten Single durchsetzt. Noch war für die Musikübertragung das Radio das wichtigste Medium, wenngleich in den fünfziger Jahren langsam das Fernsehen sich zum neuen Leitmedium entwickelt und in Konkurrenz zum Radio tritt. Wie das Radio eröffnen nun auch Schallplatte und Fernsehen für das Konzert beziehungsweise die allgemeine konzertante Musikvermittlung neue Bereiche und Felder, für deren Bezeichnung sich sukzessive der Begriff ›Pop‹ etabliert. Der Begriff ›Pop‹ wurde über die bildende Kunst eingeführt; nach der Ausstellung This Is Tomorrow, die 1956 in London zu sehen war, wurde das Wort ›Pop Art‹ geprägt. Die Ausstellung zeigte – in bewusster Abgrenzung zur nationalen Kunst des britischen Empires – gewöhnliche Artefakte der U.S.-amerikanischen Massenkultur; dazu gehörte auch eine Musikbox, als Verkörperung einer neuen, an populärer Musikpraxis orientierten Alltagskultur. Musik wird Leitkunst, aber eben als Popmusik, während die avancierte Kunstmusik in ihrer reinen Form (also ohne Funktionsanbindung an den Film etc.) in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.

170

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... Drei Beispiele: 1952 wird John Cages aus drei Sätzen respektive Pausen bestehende Komposition 4’33” uraufgeführt (bemerkenswerter Weise in Woodstock, wo ganz in der Nähe 1969 das berühmte Music and Art Festival stattfand, das von über 400.000 Menschen besucht wurde). Dieses Schweigen versteht Cage als Freiraum, der Komposition äußere Klänge – Vogelgezwitscher, Alltagslärm – als Musik wahrzunehmen; gleichwohl bleibt 4’33” eine Verweigerung, eine Absage an die bisherigen Paradigmen der Musik (Tonalität, Metrik, Rhythmus …): Die Aufführung von 4’33” ist zwar noch wahrnehmbar, nämlich – anders als dann Cages 0’00” von 1962 – sichtbar: durch den Musiker, der die Pause(n) aufführt, doch wird dieser Wahrnehmbarkeit sozusagen jeder hermeneutische Sinn, die ästhetische Bedeutung selbst, entzogen: Die Sichtbarkeit des aufführenden Musikers ist nur noch eine Reminiszenz, eine bloße Referenz. Damit funktioniert diese Musik vollkommen konträr zu dem, was sich zeitgleich mit dem Etikett ›Rock ’n’ Roll‹ herausbildet: Mitte der fünfziger Jahre erscheinen die ersten Schallplattenaufnahmen dieser neuen Musik, die in jeder Hinsicht durch eine neue Körperlichkeit gekennzeichnet ist. Neben James Brown, Elvis Presley und Little Richard ist es vor allem Chuck Berry, der mit Roll over Beethoven 1956 Maßstäbe setzt – der Hit gehört zusammen mit etwa ›Rock Around the Clock‹ von Bill Haley & His Comets oder Tutti Frutti von Little Richard zu den ersten Rock ’n’ Roll-Songs überhaupt. Programmatisch ist natürlich der Titel beziehungsweise die Textzeile: Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news, heißt es in dem von vielen Bands, prominent von den Beatles oder von Barclay James Harvest gecoverten Song. In einer damaligen Fernsehaufnahme kündigt Berry den Song an: »This is a song about a man who had a lot to do with music. As a matter of fact, I relished memory in my mind he was, and a good musician, might I say so. This man was named … Beethoven … He was named Beethoven. Ladys and Gentleman, I ask him to forgive us. Roll over and listen to a little of this …« 9 Chuck Berrys Ansage, der einführende Dialog mit dem Publikum – ein Verfahren, dass wohl von den Crooners und aus dem Jazz übernommen wird – bestimmt nachhaltig die Gestalt von Rock- und Popkonzerten. Unterstrichen wird damit von vorn herein die Bedeutung dessen, was man heute Performance nennt, die theatralischen Elemente, für die sich freilich die Popmusik auch in besonderer Weise eignet. Hier liegt vielleicht die größWHVLJQLÀNDQWH'LIIHUHQ]]ZLVFKHQGHP3RSNRQ]HUWXQGGHPNODVVLVFKHQ

171

Roger Behrens Konzert – eine Differenz, die gerade im Rückblick auf die Dramaturgie von Popshows und Klassikkonzerten in den letzten fünf Jahrzehnten deutlich wird. Im Bereich des klassischen Konzertes haben solche gestischen Motive, in denen sich gleichsam das Epische mit dem EinfühlendDramatischen verbindet, stets etwas Lächerliches, Karikaturhaftes behalten. Für die Entwicklungen der Popmusikpraxis werden solche Elemente des Gestischen, Dramaturgischen, der Verfremdung und der Verkleidung allerdings konstitutiv. Das Konzert als singuläres Ereignis und isoliertes Phänomen gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht in der Gestalt, wie es ehedem eben durch die .ODVVLNGHÀQLHUWZXUGH9LHOPHKUZLUGGDV.RQ]HUWMHW]WYRQGHQ)RUPHQ der Popkultur beziehungsweise Popmusik dominiert und in den Pop hineingezogen. Wegweisend ist ein drittes Beispiel, nämlich die von Leonard Bernstein präsentierte Fernsehsendereihe Young People’s Concerts, die zwischen 1958 und 1972 insgesamt 53 mal stattfanden (indes die Young People’s Concerts gibt es als Konzertpraxis seit 1885). Hierbei kamen nicht nur klassische Werke zur Aufführung (dazu zählte etwa Ravels Bolero ebenso wie Holsts The Planets), sondern auch verschiedene Stile der Volksmusik wie etwa die zeitgenössische populäre Musik Südamerikas (The Latin American Spirit hieß die mehrteilige Serie)… Die drei Beispiele zeigen, dass die Veränderungen der Musikpraxis durch technische Reproduktionsverfahren (eben Rundfunk und Schallplatte) eine, wenn man so will, eigenständige Synästhesie hervorbringen: Mit dem Pop stellt sich heraus, was die großen Konzertereignisse des neunzehnten Jahrhunderts schon zu antizipieren schienen, dass sich die Umwälzungen der Musikpraxis wesentlich vollziehen im Zusammenhang mit möglichen Visualisierungen von Klangereignissen (ergo Konzerte, Aufführungen, aber auch sonstige illustrative oder imaginäre Begleitung der Musik, 6FKDOOSODWWHQFRYHU=HLWVFKULIWHQ)RWRJUDÀHQHWF  *** In der Dialektik der Aufklärung, dem Buch, in dem Adorno und +RUNKHLPHUGHQNULWLVFKHQ%HJULIIGHUª.XOWXULQGXVWULH©HLQIKUHQÀQdet sich in dem »Exkurs I – Odysseus oder Mythos und Aufklärung« jene Episode des Homerischen Epos dargestellt, wo die Seefahrer sich der berüchtigten Sireneninsel nähern: »Keiner, der ihr Lied hört, kann sich entziehen.« (Adorno & Horkheimer 1947, S. 50) Odysseus überwindet den

172

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... Mythos mit einer List: Er lässt sich an den Mastbaum fesseln, während die Ruderer sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen haben. So kann Odysseus genießen, ohne sich körperlich vollends dem unheilvollen Gesang hingeben zu müssen; und so können die Ruderer arbeiten, ohne überhaupt von den betörenden Stimmen abgelenkt zu werden, ohne aber auch die verzweifelten Schreie des Odysseus zu hören. Adorno und Horkheimer erläutern: »Maßnahmen, wie sie auf dem Schiff des Odysseus im Angesicht der Sirenen durchgeführt werden, sind die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung. Wie Vertretbarkeit das Maß von Herrschaft ist und jener der Mächtigste, der sich in den meisten Verrichtungen vertreten lassen kann, so ist Vertretbarkeit das Vehikel des Fortschritts und zugleich der Regression … Odysseus wird in der Arbeit vertreten. Wie er der Lockung zur Selbstpreisgabe nicht nachgeben kann, so entbehrt er als Eigentümer zuletzt auch der Teilnahme an der Arbeit, schließlich selbst ihrer Lenkung, während freilich die Gefährten bei aller Nähe zu den Dingen die Arbeit nicht genießen können, weil sie sich unter Zwang, verzweifelt, bei gewaltsam verschlossenen Sinnen vollzieht. Der Knecht bleibt unterjocht an Leib und Seele, der Herr regrediert.« (Adorno & Horkheimer 1947, S. 52; vgl. ebd., S. 61 ff. & S. 77 f.) In dieser Episode vollzieht sich, was bei Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes als Schema von Herr und Knecht beschrieben wird: Das Auseinanderfallen von Genuss und Arbeit, und damit die allgemeine Entfremdung des Menschen von sich selbst und von anderen. In der Musik, insbesondere in der Musikpraxis, wie sie sich mit dem bürgerlichen Zeitalter herausbildet, wiederholt sich die Trennung von Arbeit und Genuss. Je größer und gewaltiger die Orchester im neunzehnten Jahrhundert werden, desto ruhiger, ja starrer wird das Publikum: Jede körperliche Regung bleibt ihm versagt, abgesehen vom erlösenden Applaus am Ende der Aufführung. Das Konzert, mit dem Dirigenten als Direktor, bildet die Fabrik nach: Die Musiker arbeiten, ohne im Lärm der Musik echten Genuss zu verspüren: Das Prinzip industrieller Arbeitsteilung hat sich hier vollends durchgesetzt. Jetzt ist jedoch entscheidend, dass diese Form des Konzerts, die gleichsam noch immer wie die allegorische Darstellung der überlieferten Sirenenepisode funktioniert, von der Homer in seiner ›Odyssee‹ berichtet, abgelöst wird von der Form des Konzerts, wie es sich mit der Popmusik langsam entwickelt: Mit der Aufführungspraxis in der Ära der Popkultur wird das Verhältnis von Körper und Körperlichkeit neu geordnet: »Als endloses vor sich Hinsingen und im Tanz.« (Bloch 1923, S. 50)

173

Roger Behrens In alten Fernsehaufnahmen von Rock- und Popdarbietungen sehen wir die Musiker immer beweglicher werden, während das Publikum sich noch bis weit in die siebziger Jahre regungslos verhält und brav, ohne eine Miene zu verziehen, im Rhythmus taktlos in die Hände klatscht. Doch zur selben Zeit kommen die Menschen langsam musikalisch in Bewegung: Nicht als Publikum, sondern selbst als Akteure eines musikalischen Verhaltens – tanzend. Dazu wird das, was auf der Bühne passiert, buchstäblich immer verrückter: Der Crooner war noch der Angestellte, der im eleganten Anzug mit säuselnder Stimme dem Publikum seine Aufstiegsfantasien näher brachte, immer im Verbund mit illusionären sexuellen Avancen beziehungsweise erotischen Phantasmen. Die Showtreppe, die er herabund heraufstieg war die Treppe zum Erfolg; die künstlerische Leistung rechtfertigte die ökonomische und umgekehrt. Schon der Jazz war darauf eine Karikatur, Kritik eines Rassismus, der sich im Umgang mit der Jazzmusik kulturell bloß verlängerte. Soul und Rock ’n’ Roll durchbrachen dies durch die rücksichtslose Anwendung des Prinzips der Übertreibung: Es wurde lauter und die exzentrischen Figuren wurden zu Bewegungen der Ekstase. Noch immer trugen die Musiker Anzüge, doch kündigten sie bereits an, was in den daraufhin folgenden Jugendkulturen ausbrach: 'HU$QJHVWHOOWHÁLSSWHDXVZXUGH]XP7LHUYHUORUGLH%HKHUUVFKXQJ² und zeigte gerade darin die enorme Selbstbeherrschung (nämlich sich am Ende der Show stets wieder gesammelt und gefunden zu haben). Interessant ist es, im Rückblick zu sehen, wann das als Gefahr wahrgenommen wurde, und wann als Effekt: Denn gerade die geplanten Ausbrüche der Musiker galten immer als gefährlicher (oder jugendgefährdender), während die Auftritte echter Besessenheit im Sinne einer authentischen künstlerischen Performanz und folglich zwar spektakulär, aber relativ ungefährlich rezipiert wurden: Gegen Jim Morrison von The Doors, der sich auf der Bühne wälzte, gingen die Eltern auf die Straße, die ihre Kinder vor dieser Musik bewahren wollten; Iggy Pop, der bei den Auftritten der Stooges bis zur Selbstverstümmelung durchdrehte, war ein Fernsehereignis. Die Sex Pistols, bei denen alles geplant war als PR-Kampagne ihres Produzenten Malcolm McLarren, gelten bis heute als Vorbild für den wilden Punk; Patti Smith sieht man hingegen als Popkünstlerin, die überspannten Auftritte von Throbbing Gristle werden als Performance-Kunst geschätzt; die brutalen Publikumsattacken von GG Allin werden immer eine Randerscheinung sein, die gegen das vermeintlich wilde Gehabe von Bands wie Green Day schwer ankommen.

174

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... Entscheidend bleibt ein mit der Reproduktionstechnik stets vermitteltes Moment der Inszenierung, das der klassischen Musik vollkommen fehlt. Anders gesagt: will Klassik darauf zugreifen, muss sie sich beim Pop bedienen – das gilt für Vanessa-Mae und Glenn Branca gleichermaßen. Gebunden ist die Inszenierung an das Spektakel – im Sinne Guy Debords (1996), und damit an die Formen der Visualisierung und Visualisierbarkeit der Musik, die sich vor allem mit der Entwicklung des Fernsehens, insbesondere seit Ende der siebziger Jahre mit dem Musikfernsehen geltend machen. 10 Der erste Video-Clip, der 1981 zum Sendebeginn von MTV ausgestrahlt wurde, ist bezeichnend: Video killed the Radio Star von den Buggles. In dem Song heißt es: »They took the credit for your second symphony. / Rewritten by machine and new technology, / and now I understand the problems you can see. / Oh-a oh.« Man muss dazu wissen: die beiden Hauptakteure der Buggles – die im Übrigen nur mit diesem Song einen Erfolg hatten – waren Trevor Horn und Geoff Downes. Beide spielten für kurze Zeit bei der Gruppe Yes mit – also einer Band, die selbst über bestimmte Visualisierungstechniken durch ihre Konzerte von sich Reden machte (der Designer Roger Dean verhüllte die Bühne in ein übertriebenes, märchenhaftes Illusionstheater …). Trevor Horn, der alsbald als erfolgreicher Produzent hervortrat, hat wie andere auch mit Verfremdungen durch Verkleidungen den Ausdruck des Pop der Achtziger wesentlich geprägt: Grace Jones oder Frankie Goes To Hollywood seien hier als Beispiele genannt. Bevor dies in den Achtzigern seine konzertante Bühne in den Video-Clips des Musikfernsehens fand, hat es Vorläufer in den Siebzigern gegeben: Im Progressive Rock war es wohl zuerst Peter Gabriel, der bei der Gruppe Genesis mit selbstgebastelter Pappmaskerade die Bühne betrat; zur selben Zeit entwickelte sich der Soul zum Funk – nicht nur musikalisch, sondern auch durch die übertriebene Kleidung der Musiker, den mit Glitzer und Pailletten besetzten Anzügen. Schließlich waren es aber Musiker wie Sun Ra oder Bootsy Collins, die durch ihr außerirdisches Erscheinen eben das zum Ausdruck brachten: Dass hier Musik von anderen Planeten kommt, die mit allen bisher zur Verfügung stehenden Kriterien gerade in Hinblick auf ihre konzertanten Formen mitnichten zu erfassen sei. Diese Art von konzertanten Bühnenspektakel, für das seit den Tourneen von Emerson, Lake & Palmer, Pink Floyd oder Rolling Stones ganze Architekturen neu erschaffen werden, hat sich in den achtziger und neunziger Jahren als eine Säule des Musikgeschäfts verselbstständigt; der

175

Roger Behrens Aufwand, der betrieben wird, um das Publikum bei der Stange zu halten, folgt dabei nur insofern ästhetischen Maßstäben, sofern diese aus der allgemeinen Ästhetisierung des Alltagslebens ablesbar sind – es gelten GDV 3URÀWPRWLY XQG GLH *HVHW]H GHV 0DUNWHV (LQH $QDO\VH GHU QHXVWHQ Phänomene erübrigt sich im Verweis auf diese: Eine Band tourt unter dem Namen Australian Pink Floyd Show und spielt »originalgetreu« Pink-FloydStücke nach, angelehnt an die »originalen« Showeinlagen. Madonna baut in ihre Konzerte gigantische, digital animierte Videoprojektionen ein, zwischen denen sie ihre Tanzeinlagen präsentiert, immer damit kokettierend, die Bühne in ein riesiges Bordell zu verwandeln (was aber Tina Turner und Kylie Minogue auch schon gemacht haben). Und Michael Jackson erhoffte sich ein Comeback mit über ein Duzend Konzerten in London … Das Spektakel hat sich längst selbst überholt, der frühe Ausdrucksreichtum der siebziger Jahre ist reduziert auf einen Schematismus der Aufführungspraxis, der kaum mehr als fünf Verhaltenstypen umfasst: Attraktion durch sexuelle Reize, durch Gewalt, durch allgemeines Glücksversprechen, durch (soziale) Macht, durch Gemeinschaftsgefühl … Exkurs. – Die Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit haben, im Zusammenspiel mit der ökonomischen Verwertungslogik der Popkulturindustrie, dazu geführt, dass die konzertante Musikpraxis sich vor allem in zwei Bereiche ausgedehnt hat, nämlich auf das Wohnzimmer XQG DXI GDV .LQR (V KDQGHOW VLFK GDEHL QLFKW QXU XP VSH]LÀVFKH PXsikalische »Aufführungsorte«, sondern durchaus um eigenständige »Konzertformen«. So haben Radiohead zu ihrem Album In Rainbows einen gleichnamigen Film veröffentlicht, der zeigt, wie die Band die Musik in Wohnzimmer-Atmosphäre, nämlich im Übungsraum (ein)spielt. Anderseits ist noch einmal auf das Kino zu verweisen: Filme wie Yellow Submarine mit Musik der Beatles (1968), More mit Musik von Pink Floyd (1969), oder GLH 5RFNRSHUÀOPH Tommy (1975) und Quadrophenia (1979), schließlich Saturday Night Fever (1977) und The Great Rock ’n’ Roll Swindle (1980) haben die Leinwand in eine Konzertform verwandelt; darüber hinaus stellen Konzert-Filme wie etwa Woodstock – 3 Days of Peace & Music (1970), Jimi Hendrix Plays Berkeley (1970), Laurie Andersons Home Of The Brave (1986) oder 1991: The Year Punk Broke (1992) sowieso eine eigenständige Form konzertanter Aufführungspraxis dar. Das Kino als Aufführungsort und Konzertform hat indes auch in der ›klassischen‹ Musik Geschichte gemacht, spätestens seit Disney 7VFKDLNRZVN\ XQG 6WUDZLQVN\ LQ VHLQHP 7ULFNÀOP Fantasia von 1940 verwendete. Stanley Kubricks 2001 – A Space Odyssey von 1968 gilt

176

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... schließlich als der erste Film, für den keine eigens komponierte Filmmusik verwendet wird. Kubrick hat neben Ligetis ›Atmosphères‹ auch auf Musik von Katschaturian, Johann Strauss (Donauwalzer) und Richard Strauss (Also sprach Zarathustra) zurückgegriffen. Damit hatte sich endgültig der Film als eine neue Form konzertanter Aufführungspraxis etabliert, beziehungsweise wurde das Kino als neue Konzert-Bühne erschlossen. Ohnehin ist zu rekonstruieren, wieso die ersten SchallplattenCharterfolge in den fünfziger Jahren Filmsoundtracks waren (The Sound of Music, The King and I etc.), bevor der Rock ’n’ Roll sie ablöste...

Ende In Hamburg gibt es die alte Maschinenfabrik N & K, die heute Kampnagel heißt und als Theaterzentrum genutzt wird. 1989 habe ich hier eine Aufführung der britischen Industrialgruppe Test Dept. gesehen: Gododdin; das ganze war eine Theaterinszenierung (Test Dept. arbeitete damals mit der Theatergruppe Brith Gof zusammen), mit viel Lärm und Krach, der durch die rhythmische Bearbeitung von Industrieschrott erzeugt wurde. Worum es ging, weiß ich nicht mehr. Bemerkenswert war allerdings das Publikum, das sich aus Teilen der damaligen Punkszene und Avantgarde-interessierten Bildungsbürgern zusammensetzte. Auch erinnere ich mich noch, dass Warnhinweise über die unter Umständen sehr laute, Ohren-betäubende Musik gegeben wurden. Zwanzig Jahre später, wieder ein Konzert auf Kampnagel (wie man so sagt), Anfang Januar 2009: Der Klub Katarakt veranstaltete – wie seit einigen Jahren regelmäßig – ein Festival mit und zu Neuer Musik, diesmal mit Alvin Lucier als Gast. Am Eröffnungsabend der mehrtätigen Reihe gibt es Luciers Bird and Person Dyning (1975) zu hören – von ihm selber aufgeführt. Es handelt sich dabei um eine Performance, bei der Lucier Ohrhörer hat, die mit über Lautsprecher abgespieltes Vogelgezwitscher rückkoppeln; kurzum: Die ganze Zeit – und das Stück dauert über zwanzig Minuten – ist ein ständig kippendes Hochfrequenz-Pfeifen zu hören – ich hatte sofort einen seit Jahren schon verschwundenen Tinnitus wieder, der bis heute nicht wieder abgeklungen ist. Warnungen über eventuelle Gehörschäden wurden keine Ausgegeben. Auch das war ein Konzert, aber irgendwie auch kein Konzert.

177

Roger Behrens

Anmerkungen Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. 1. Auch das gehört zur Überlagerung von ›E‹ und ›U‹ in der (post-)modernen Musikpraxis, soll hier aber nur am Rande erwähnt sein: 1978 erscheint die erste Ausgabe der ›Klassik Akzente‹, dem Hausblatt der Deutschen Grammophon. Die Zeitschrift bedient sich nicht QXUW\SRJUDÀVFKEHLP3RSGHVLJQVRQGHUQVFKHLQWVLFKDXFKPXVLNMRXUQDOLVWLVFKDQ Zeitschriften wie ›Sounds‹ (1966 bis 1983) oder später ›Spex‹ (1983; eigentlich 1980) zu orientieren. Ähnliches verfahren auch andere Magazine des ›Klassik‹-Bereichs. 2. Das wäre weiter zu differenzieren in Hinblick auf eine – auch für unser Thema – aktualisierte Hörertypologie nach Adorno, insbesondere freilich in Bezug auf den von Adorno bereits skizzierten Typus des »Ressentimenthörers« (vgl. Adorno 1962, S. 188 ff.). 3. Und dazu gehören auch die Melodien der Turmglocken, das Weckerklingeln und die Musik in Warteschleifen, in Kaufhäusern oder in Fahrstühlen, sowie die Klingeltonmelodien der Mobiltelefone... 4. Wagner richtet sich damit allerdings »gegen schlechte Kunst« (vgl. Adorno 1969a, S. 419). 5. Zu sehen auf ›More Treasures from American Film Archives, 1894–1931‹, hg. von der National Film Preservation Foundation, DVD o. J.: ›Dickson Experimental Sound Film‹, 15 Sekunden. 6. Am 22. Dezember 1920 durch den posteigenen Langwellensender in Königs Wusterhausen. 7. Vgl. Adorno 1937, S. 97 f. Schon 1928 hat Adorno von der »Exzentrik-Operette« gesprochen (vgl. Adorno 1928, S. 779). 8. Dieses Objektive, das gleichwohl mit der subjektiven Innerlichkeit im Zusammenhang steht, hat Schopenhauer idealistisch als »Objektivation des Willens« begriffen (vgl. Schopenhauer 1844, S. 520 f.). 9. Chuck Berry, Konzertansage von ›Roll over Beethoven‹, www.youtube.com/watch?v=gsp4VCbVvn4. 10. Das Musikfernsehen hatte seine große Zeit zwischen 1981 und 2001 und existiert heute nur noch dem Namen nach, sofern es die einzelnen Musiksender überhaupt noch gibt.

Literatur Adorno, Theodor W. (1928): „Kreneks Operneinakter in Wiesbaden“, in: Gesammelte Schriften Bd. 20·2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 777-779. Adorno, Theodor W. (1937): „Über Jazz“, in: Gesammelte Schriften Bd. 17, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 74-108.

178

Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news... Adorno, Theodor W. (1938): Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, in: Dissonanzen, in: Gesammelte Schriften Bd. 14, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 14-50. Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max (1947): Dialektik der Aufklärung, in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. Adorno, Theodor W. (1962): Einleitung in die Musiksoziologie, in: Gesammelte Schriften Bd. 14, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. Adorno, Theodor W. (1969a): Jargon der Eigentlichkeit, in: Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 413-526. Adorno, Theodor W. (1969b): „Oper und Langspielplatte“, in: Gesammelte Schriften Bd. 19, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 555-558. Behrens, Roger (2008): „Kann man die Ware hören? Zur kritischen Theorie des Sounds“, in: Holger Schulze (Hg.), Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld: transcript, S. 167-184. Benjamin, Walter (1936): „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Gesammelte Schriften Bd. VII·1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 350-384. Bloch, Ernst (1923): Geist der Utopie. Zweite Fassung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. Debord, Guy (1967): Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat 1996. Maase, Kaspar (1997): Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970. Frankfurt am Main: Fischer. Marx, Karl (1867): Das Kapital. Marx-Engels-Werke Bd. 23, Berlin: Dietz 1962. Schopenhauer, Arthur (1844): Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich: Haffmans 1988.

179

III. Klang und Raum

Annäherung an die Konzertstätte Eine Typologie der (Un-)Gewöhnlichkeit

Volker Kirchberg

Diese „Annäherung an die Konzertstätte“ ist eine Skizze über den Ort und den Raum der Musikausübung und Musikrezeption. Die Kulturwissenschaften (vgl. Dünne und Günzel 2006, Döring und Thielmann 2008, Berndt und Pütz 2007, Bachmann-Medick 2006) weiVHQVHLW/lQJHUHPHLQ,QWHUHVVHDP5DXPDOV(LQÁXVVIDNWRUNXOWXUHOOHQ Verhaltens auf. Diese Perspektive möchte ich aufgreifen und Orte bzw. Räume der Musik daraufhin untersuchen. Im Fokus stehen dabei die spektakulären Neubauten der letzten Jahre.

Ort und Raum Der Raum der Musikaufführung kann auch ein Raum der Musikvermittlung sein. Schwerpunktmäßig wendet sich dieser Artikel deshalb dem Konzertsaal zu. Dabei sollte diesem Raum zweifache Bedeutung zukommen. Zum einen ist Raum ein Begriff, der auf einen Punkt reduziert werden kann. Die alltägliche Verwendung des Wortes „Ort“ weist auf diese eindimensionale Bedeutung hin. Live-Konzerte sind an einen Standort gebunden, an dem sie das Publikum erreichen müssen. Soll dieser Ort zur Musikvermittlung beitragen, dann muss die Bevölkerung, denen diese Musik vermittelt wird, eine räumliche Distanz zurückOHJHQ 'HU 6WDQGRUW GHU 0XVLNGDUELHWXQJ EHHLQÁXVVW QLFKW XQZHVHQWlich die Qualität der Musikvermittlung; die Distanzüberwindung zum

Volker Kirchberg Standort (das „Wo“) kann konkret in so-und-so-viel Kilometern oder auch sozial in der Lokalisierung in einem fremden Stadtteil oder in einer Industriebrache gemessen werden. Fährt man so weit, lässt man sich so was etwas an Zeit und Geld kosten, um Musik live zu rezipieren? Das „Wo“ des Ortes ist ein elementares Kriterium einer den Raum berücksichtigenden Musikvermittlung. Zum anderen ist die Analyse der Raumwirkung eine Analyse des „Wie“, also die Gestaltung des Raumes der Musikvermittlung, das heißt in diesem Fall die Gestaltung des Konzertsaals. Insbesondere diese zweite Raumkategorie ist in letzter Zeit zum Gegenstand der Musikvermittlung geworden. Die Alternativen der Innengestaltung von Konzertsälen, das Zusammenspiel von Akustik und Visuellem, von Gegen- bzw. Miteinander von Musikern und Publikum, von Ton und Licht, von funktionaler Notwendigkeit und kosmetischem Design, sind keine peripheren, sondern wichtige, über Raum und Akustik wirkende Merkmale der Musikvermittlung. Sowohl der Standort eines Konzertsaals wie die Gestaltung dieses Raumes zeigen, blickt man 200 Jahre zurück, die Entwicklung der E-Musik in der bürgerlichen Gesellschaft. Standort und Gestaltung sind dabei bis heute Maßstäbe der Autonomie von Musik. So wird dem Konzertsaal heute aus anderen Gründen als der Musikvermittlung in Städten und Nationen, in Stadtplanung und Wirtschaftsförderung immer mehr Aufmerksamkeit gegeben. Tröndle (2003) meint, dass das Konzertwesen der letzten 500 Jahre bestimmt wird durch Anstrengungen der Musikschaffenden, beim potenziellen Hörer Aufmerksamkeit zu schaffen. Bezüglich des Diskurses zur Autonomie von Musik meine ich, dass das Ziel der Aufmerksamkeitserhöhung (auf neudeutsch: Marketing) immer mit einem Verlust an Autonomie einhergeht.

Der traditionell-gewöhnliche Konzertsaal Raumwahl und Raumgestaltung von Konzertstätten spiegeln das Auf und Ab der Autonomie dieser Kunst wider. Der Ort der Musikausübung wird meistens musikfremd legitimiert. Selbst dann, wenn ein Konzertsaal als „Realisierungsort autonomer Musik“ bezeichnet wird, ist dieser Ort auch immer eine „gesellschaftliche Einrichtung“ (Heister 1983: 42, 44). Während Musik vor dem 19. Jahrhundert noch in anders konnotierten Orten wie Kirchen, Fest- und Zunfthallen, Gaststätten oder Schlössern

184

Annäherung an die Konzertstätte spielte, wurde sie in Form und Ortswahl spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer de-aristokratisierter, ent-sakralisierter und verbürgerlichter. Die Emanzipation des Bürgertums erlaubte es, „ihre“ Musik an „ihren“ Orten zu spielen, um damit „ihre“ Art an gewachsener Autonomie gegenüber Kirche und Aristokratie zu symbolisieren. Die klassische Musik symbolisiert die aufstrebende soziale, wirtschaftliche und politische 0DFKWGHV%UJHUWXPVLP-DKUKXQGHUWHVÀQGHWHLQHQHXHEUJHUOLFKH „Sakralisierung“ von Musik, Komponisten und auch Ort statt. Auch Bicher (2004: 32) spricht diesen Widerspruch einer „bürgerlichen Sakralisierung“ in den Konzertsälen Mitte des 19. Jahrhunderts an: „Einerseits will das Publikum delektieren, sucht hier Unterhaltung und Zerstreuung, die ihm von gewinnorientierten Unternehmen versprochen und präsentiert werden, andererseits fordern Liebhaber, Bildungsbürger und Kritiker vehement den hingebungsvollen Respekt der Musik an sich gegenüber ein…“ Konzerte bräuchten „heilige“ Orte, die nur ihnen vorbehalten sind. Symptomatisch dafür steht die Inschrift am Neuen Gewandhaus: „res severa verum gaudium“ – die ernste Sache ist die wahre Freude. Die bürgerliche Instrumentalisierung der Musik als Symbol für den neuen Stand machte sie aber nicht unabhängiger als zu aristokratischen Zeiten. Vielmehr verwandte das Konzertereignis nun zum Zwecke einer neuen Symbolisierung neue Konventionen in Musik- und Musizierstilen, Aufführungs- und Rezeptionsformen. Es galten Sprech-, Ess-, Trink- und Flanierverbote bzw. Gesten- und Kleidungsgebote. Der Raum wurde verdunkelt, um die Musiker auf einen Lichtaltar zu heben, Gesten des kontemplativen Genusses wurden gefördert, Applaus und Missfallenskundgebungen sanktioniert, Aufführungszeiten und Aufführungsabfolgen festgelegt. Der Konzertsaal wurde einer der Hauptorte der Symbolisierung bürgerlicher Repräsentation, und in und mit ihm akzentuierte sich das Bürgertum als nun zentraler Stand des 19. Jahrhunderts (Heister 1996). „Der Zuhörer, dem also spontanes Agieren verwehrt war und der mithin in die Rolle des passiv regungslos sitzenden Konsumenten gedrängt wurde, fand sich nicht ohne Widerstand und nur schrittweise in diese neue Verhaltensnormierung hinein; wollte man doch Kontakte knüpfen und verstand das organisierte bürgerliche Konzert als einen dazu dienlichen festlichen Rahmen.“ (Tröndle 2003: 21) Ab den 1870er Jahren wird das Repertoireprinzip zum wichtigsten Faktor des Konzertereignisses: Die Wiedererkennung der Musik und die immer gleichen Verhaltensmuster machen den Konzertbesuch zum Ritual, also

185

Volker Kirchberg

zu gerade in der Werte-Krise der frühindustriellen Urbanisierung durch Repetition hoch aufgeladenen, routinierten Abläufen, die die Sicherheit der bürgerlichen Lebenswelt gewährleisten sollten (Belliger und Krieger 1998). Ein elementarer Bestandteil dieser repetitiven Konventionen war die Gestaltung des Aufführungsortes, der Außen- und Innenarchitektur der neuen Konzertsäle. Die immer wieder ähnlich in vielen Städten Europas und Amerikas reproduzierten Prototypen dafür waren die neuen Ikonen der bürgerlichen Kultur, das Haus des Wiener Musikvereins (geöffnet 1870), die Royal Albert Hall in London (geöffnet 1871) und das Neue Gewandhaus in Leipzig (geöffnet 1884). Die klassische Musik und ihre Aufführungsorte waren also nie autonom, sondern immer ein Produkt bürgerlicher Autonomie. Diese symbolische Funktion des bürgerlich-repräsentativen Konzertsaals verringerte sich allerdings angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen der Industrialisierung und der damit aufkommenden Moderne in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts deutlich. Die folgerichtige um die -DKUKXQGHUWZHQGHVWDWWÀQGHQGH/HJLWLPDWLRQVNULVHGHUEUJHUOLFKHQ0XVLN ging mit einer Stagnation des bürgerlichen Konzertbetriebes einher. Die Neue Musik entstand aus dem Funktionsverlust der klassischen Musik und schien Symbol für das aufsteigende Bürgertum zu sein. Die Enklaven der Neuen Musik verweigerten sich den bürgerlichen Erwartungen; eine neue Avantgarde entstand zeitgleich in der Musik wie in der Kunst (Tröndle 2003: 24f). Die Neue Musik war spätestens ab dem Ersten Weltkrieg eine kritische Gegenbewegung gegen die bürgerliche Konzertmusik, sei dies Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen in Wien 1918, die Donaueschinger Musiktage ab 1922 oder die November-Gruppe in Berlin ab 1920. Sie verstand sich als eine bewusste Alternative zur Institution des bürgerlichen Konzertes. Das Desinteresse des „breiten“ bürgerlichen Publikums wurde nicht nur hingenommen, es galt als ehrenvoll und inhaltlich legitimiert; der Bruch mit den alten Konventionen war, ähnlich wie in der bildenden Kunst dieser Jahre, gewollt. Auch die Aufführungsorte änderten sich: Abseits des regulären Konzertbetriebs traf man sich zunächst in privaten Räumlichkeiten, dann auch in Sporthallen und Fabrikhallen, sowie zu eigenständigen Festtagen, heute würde man sagen: Workshops der Neuen Musik. Für lange Zeit bewahrte sich die Neue Musik ihre speziellen Aufführungsorte und -konventionen. Schließlich aber schloss sich der Kreis und die Neue Musik wanderte ab ihrer Kanonisierung, spätestens in den 1980er Jahren, wieder zurück in die Konzerthallen, auch wenn diese

186

Annäherung an die Konzertstätte vor allem den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gehörten und somit nicht die traditionellen Konzertsäle der bürgerlichen Zeit waren.

Der außer-gewöhnliche Konzertsaal Die Neue Musik zeigte, dass unkonventionelle Musik unkonventionelle, außer-gewöhnliche Orte benötigt(e). Lässt sich also über unkonventionelle Orte, über unkonventionelle Standorte, die sich näher an einer gewünschten unkonventionellen Hörergruppe orientieren, eine neue Hörerschaft nachhaltig erreichen? Oder erreicht man nicht vielmehr an unkonventionellen Orten in unkonventionellen Räumen nur die übliche, konventionelle Zuhörerschaft, der es nach einem temporären Wechsel einer ansonsten standardisierten Kost gelüstet? Unkonventionelle Orte allein bedeuten nicht automatisch unkonventionelle Rezeptionsmöglichkeiten, und diese bedeuten nicht gleichzeitig eine Öffnung für neue Musikinteressierte. Wichtig ist also immer eine Verringerung der geographischen und der sozialen Distanz. Ein Konzertbesuch müsste bei den Zuhörern ähnlich barrierefrei sein wie ein Kinobesuch, das Konzert müsste also so milieukompatibel wie das Kino sein. Die soziale Distanz ist, anders als die geographische Distanz, schwieriger zu erfassen, weil sie kontingent und zudem variabel über die Zeit ist. Soziale Distanz drückt sich in Barrieren zwischen sozialen Milieus aus. In der heutigen Erlebnisgesellschaft ordnen sich individualisierte Menschen aber selbstständig Milieus oder Szenen zu, die durch XQWHUVFKLHGOLFKH*HVFKPDFNVPXVWHUGHÀQLHUWVLQG 6FKXO]H $XFK wegen der Variabilität der Milieuzuordnung ist es schwierig, im Rahmen der Musikvermittlung soziale Distanz zu überbrücken. Aber die Ortswahl kann für dieses Überbrücken eingesetzt werden, denn für Milieus oder Szenen spielt der Ort eine gewichtige Rolle. Ein unkonventioneller Aufführungsort ist ein unüblicher Aufführungsort für alle Milieus. Es ist vor allem der „fremde“, „exzentrische“ oder „exotische“ Standort und eine ähnliche Raumgestaltung, die eine Konzertstätte zu einem „außer-gewöhnlichen“ Konzertsaal macht. Sind außer-gewöhnliche, also sich von hegemonialen Erwartungen, vom kulturellen Kanon abwendende Aufführungsorte als Orte der Musikvermittlung eine wirkliche Alternative zu den traditionell-gewöhnlichen Konzertsälen? Bei der Bestimmung außer-gewöhnlicher Aufführungsorte wird der Standort bewusst gewählt. Hier spielen also räumliche und

187

Volker Kirchberg

soziale Gründe eine gewichtige Rolle. In der Tat gibt es immer mehr, auch und gerade renommierte Orchester, die an solchen Orten konzertieren, in Planetarien, Einkaufszentren, Polo-Anlagen (hier spielte unter anderem John Axelrods Orchester X, vgl. Tröndle 2003), Kirchen, Theaterfoyers, Regierungsgebäuden, Altenheimen, Gefängnissen, Fachhochschulen, Sportstadien oder anderen Open-Air-Flächen (hier spielten unter anderem die Hofer Symphoniker, vgl. Vongries 2005) oder Bürgerzentren, Kinder- und Jugendtheatern und Schulen in „städtischen Problembezirken“. An diesen Spielorten präsentiert sich vor allem die Kölner Philharmonie (www.koelner-philharmonie.de) oder die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen (www.kammerphilharmonie.com/Fuer_ junge_Ohren.html). Hammond (2006) nennt weitere ungewöhnliche Orte für solche Aufführungen. So hat sich die BBC im Jahre 2003 ein %HLVSLHODPÅÁDVKPRE´3KlQRPHQJHQRPPHQXQGJH]LHOWDQHLQMXQJHV Publikum gerichtet eine Serie von „off-the-wall“-Opernaufführungen an öffentlichen Plätzen mit den Kommunikationsmitteln der SMS-Nachricht RUJDQLVLHUW'DVÅÁDVKPRE´(UHLJQLVGHUNXU]IULVWLJHQ.RQ]HQWUDWLRQDQ „Massen“, zuerst für Protestdemonstrationen genutzt, basiert auf SMSNachrichten über Handy zur kurzfristigen Benachrichtigung über den Sammlungs- oder hier: Aufführungsort. Dies war in diesem Fall eine zeitgenössische Interpretation von Orpheus und Eurydike als Fußballspiel. Am meisten suchen Sommerfestivals auch gerade der klassischen Musik neue Spielorte, weil das übliche Publikum hier meint, sich die temporäre Freiheit nehmen zu dürfen, einmal aus dem eigenen Konventionskostüm auszusteigen. Dies gilt z.B. für das Schleswig-Holstein-Festival, das – nun schon traditionell – in Scheunen, Firmenhallen, auf Fähren und im )OXJKDIHQVWDWWÀQGHW ZZZVKPIGH 

Der über-gewöhnliche Konzertsaal 'LH .RQ]HUWVlOH GLH KHXWH DEHU ZHLWDXV KlXÀJHU DOV DX‰HUJHZ|KQOLche Konzertsäle in den Medien auftreten, zeichnen sich vor allem durch eine ins Spektakuläre getriebene Über-Konventionalität aus. Übergewöhnliche Konzertsäle werden heute in erster Linie ikonisierend zu Citymarketingzwecken und weniger zur Musikvermittlung eingesetzt. Das Erlebnis eines einmaligen Konzertereignisses kann sehr wohl an einem solchen Ort gewonnen werden. Diesen Ort bezeichne ich als „übergewöhnlichen“ Konzertsaal, denn er verlässt nicht die Konventionen

188

Annäherung an die Konzertstätte

des herkömmlichen Saals, sondern extrapoliert das Gewöhnliche ins Spektakuläre, ohne das Konventionelle zu verlassen. Die „Aura“ eines solFKHQ2UWHVPXVVLKQODQJIULVWLJDOOHUGLQJVQLFKW]XP,GHQWLÀNDWLRQVE]Z Szene-Ort machen, insbesondere nicht, wenn die Gestaltung dieser Orte durch eine mehrfache weltweite Reproduktion der Architekturen ihre Außergewöhnlichkeit (oder besser in diesem Kontext: Über-Gewöhnlichkeit) einbüßt. Das Phänomen des „über-gewöhnlichen“ Konzertsaals fällt auf; Anzahl und Form neuer Konzertsäle und Operngebäude haben in den letzten Jahren spektakuläre Ausmaße angenommen. Diesem Boom ging übrigens ein anderer, ähnlicher Boom voran, das massenhafte Errichten neuer (Kunst-)Museen. 2006 stellt Michael Hammond 50 Opernhäuser, Theater und Konzertsäle „für das 21. Jahrhundert“ vor, die alle in den letzten zehn Jahren, also seit 1998 gebaut bzw. im Bau sind. Hinsichtlich dieser über-gewöhnlichen Konzertsäle fällt auf, - wie viele davon in China errichtet werden, mit so spektakulären Bauten wie Shanghai (Grand Theatre und das Oriental Art Centre), Bejing (National Grand Theatre of China), Hong Kong (West Kowloon Cultural District) und Guangzhou (Opernhaus), - welche Armada an Stararchitekten diese Aufgabe übernommen haben (mehrfach Renzo Piano, Frank Gehry, Paul Andreu, Richard Foster, Herzog & de Meuron und Daniel Libeskind) und - welche Kosten diese Bauten verschlingen (nicht selten zwischen 200 und 500 Millionen Euro). Dabei ist der Bau einer neuen Konzerthalle so etwas wie der Heilige Gral für Architekten. Auch Ouroussoff (2007) spricht von einem „Golden Zeitalter“ des Konzerthallenbaus. Hammond und Ourousoff äußern beide dabei ihre Verwunderung über ein Paradox, das viel zu selten in den Medien und der Politik angesprochen wird: In einer Zeit sinkender Publikumszahlen und negativer Trendaussagen zur Zukunft der klassischen Musik wird hier ein Angebot geschaffen, dessen Nachfrage unklar ist. Till Briegleb (2007: 110) schreibt so hinsichtlich der geplanten Hamburger Elbphilharmonie: „Ein Konzerthaus mit circa 3000 Plätzen in drei Sälen, zu denen die 2800 Plätze der alten Musikhalle noch dazukommen, kalkuliert mit einer Nachfrage nach klassischer Musik, die nicht den allgemeinen Erfahrungswerten entspricht.“ Ourousoff weist darauf hin, dass mit diesen Neubauten

189

Volker Kirchberg

wohl eher Touristen als lokale Bedürfnisse für klassische Musik befriedigt werden. Diese über-gewöhnlichen Konzertstätten rechtfertigen ihre Finanzierung also vor allem über städtische Sekundärfunktionen, z.B. als Katalysatoren postindustrieller Stadtentwicklung, als Image-Motor von Großstädten, die sich im globalen Standortkampf durchsetzen wollen, und als Projekte, von denen die kommunalen (oder nationalen) Initiatoren poOLWLVFKSURÀWLHUHQN|QQHQ'LHVHVWlGWLVFKHQ6HNXQGlUIXQNWLRQHQZXUGHQ zuerst anhand einer anderen Art von Hochkultureinrichtung analysiert, den größeren Museumsbauten der letzten 30 bis 40 Jahre. Eine Matrix städtischer Museumsfunktionen (vgl. Kirchberg 2005: 180f) kann auch entsprechend überarbeitet als Matrix musikalischer Aufführungsorte verwendet werden. Eine Funktion der Musikvermittlung ist dabei zunächst kein Argument für oder gegen über-gewöhnlichen Konzertstätten. Ourousoffs Beispiele sind vor allem Frank Gehrys Walt Disney Hall in Los Angeles, Herzog & de Meurons Elbphilharmonie in Hamburg und Jean Nouvels Philharmonie de Paris. Ähnlich wie Ourousoff fordert auch Hammond eine totale, also nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Metamorphose des Konzertes. Lieb gewonnene Konventionen kanonisierter Verhaltensweisen auf Seiten von Musikaufführenden und Zuhörern PVVHQ DXIJHJHEHQ ZHUGHQ GDPLW GLHVH JUR‰HQ 2UWH PLW KlXÀJ EHU 2400 Sitzplätzen) mit neuen Nachfragern gefüllt werden können. Forderungen an diese neuen Konzertsäle, ihre Musik und ihre Konventionen sind: - Alternativen zur Unterhaltung in den eigenen vier Wänden anbieten, - attraktiv sein für ein jüngeres Publikum durch altersgerechte Angebote, - offen sein für schicht- und milieu-übergreifende Angebote, - aktiv zur Integration bisher musikferner Schichten beitragen (also entsprechende Forderungen staatlicher Finanzierungsstellen akzeptieren), - Kommerzialisierung als Alternative zur staatlichen Unterstützung akzeptieren. Die Erlebnisgesellschaft erwartet heute aber auch das Erlebnis der Saalgestaltung. Damit diese neuen Häuser erfolgreich gegen andere Freizeitangebote auf dem Erlebnismarkt konkurrieren können, muss

190

Annäherung an die Konzertstätte

die Gestaltung der Aufführungshalle und des unmittelbaren Umfeldes der Konzerthallen genauso wichtig sein wie das Innenleben der Hallen. Kirkpatrick (1980), Cembalist und Musikwissenschaftler an der Yale Universität, betonte schon vor über 25 Jahren diese notwendige Einheit von Akustik, Sicht und Erlebnisarchitektur. Eine „humane“ Anlage von Konzertsälen darf nicht allein nach technischen und akustischen Kriterien gebaut werden: „No architectural plan which is purely cerebral is worth much to the human being.“ (Kirkpatrick 1980: 92) Das neue „humane“ Konzertgebäude muss innen und außen durch die sich verändernden Blickwinkel des Besuchers als Flaneur bestimmt werden. Hier ist ein Blick auf das theoretische Konstrukt des „Dispositivs“ Foucaults hilfreich. In meiner hier vorgenommenen Interpretation des Dispositivkonzepts weisen sich Räume aufgrund der Bewegung des Betrachters im Raum durch immer wieder sich verändernde Inhalte aus, die den Betrachter unterVFKLHGOLFK LQ VHLQHQ (LQVWHOOXQJHQ XQG 9HUKDOWHQVZHLVHQ EHHLQÁXVVHQ In Foucaults Worten: „[Ein Dispositiv ist] ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen […], kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst.“ (Foucault 1978: 119f). Das Ungesagte der Architektur des Konzertsaales und die eigene Körperlichkeit in diesem Konzertsaal schreiben gemeinsam diesem Saal eine Bedeutung zu, die nicht rational zu erfassen ist: „One must have a body of accumulated feelings, sensations, and, above all, a sense of the architecture of those sensations: how one coordinates small sensations into a larger frame of mind.“ (Kirkpatrick 1980: 93) Attraktive öffentliche Räume innerhalb der neuen Konzertbauten bei gleichzeitigem Aufweichen der Grenzen zwischen öffentlichen und halböffentlichen Räumen sind dabei ein Muss. Hammond meint, dass weniger die Musik als erst diese Offenheit und eine umfangreiche und ernst genommene Peripherienutzung (Restaurants, Bars, Flanierwege etc.) die Attraktivität dieser Orte ausmachen werden. Erst dann – über diesen Umweg – kann man vermuten, dass auch in Zukunft Menschen an dieser Art von Kultur partizipieren werden. Dies kann man an drei neuen über-gewöhnlichen Konzertstätten, die diesen Weg über eine solche Erlebnisarchitektur beschreiten, illustrieren: der neuen Elbphilharmonie in Hamburg, der Philharmonie de Paris, und der Nationaloper Norwegens in Oslo.

191

Volker Kirchberg

Elbphilharmonie Hamburg (2010) Cardno (2007) beschreibt die Elbphilharmonie als einen Multiplex-Neubau aus einem 250-Betten-Luxushotel, 45 Luxuseigentumswohnungen, einem kleineren Auditorium und einer großen öffentlichen Plaza, die zwischen Altbau (Speicher) und Neubau (Philharmonie) ein ganzes Stockwerk einnimmt. Diese große öffentliche Plaza soll eine interaktive Nähe von Öffentlichkeit, Publikum und Musikern verdeutlichen. Der Kern des Komplexes ist das große Hauptauditorium mit mehr als 2100 Sitzplätzen, das im „Weinberg-Stil“ (à la Scharouns Berliner Philharmonie) angelegt ist und sowohl ein visuelles wie ein akustisches Erlebnis sein wird. Der neuere Weinberg-Stil ist anders als der ältere Amphitheater-Stil, weil die Sitz-Galerien gleichmäßig, also ohne große Treppenbrüche bis zur Bühne hinunter sanft ausgelegt sind. Dieses visuelle Spektakel soll auch das akustische Erlebnis symbolisieren: „…die zur Realisierung beschlossene Lösung [verspricht] noch immer ein sehr spezielles Raumerlebnis zu werden. Durch die schwingenden Linien, den Wechsel in Höhen und Farbklängen, die Offenheit der Struktur bei gleichzeitiger Stabilität und die Atmosphäre der Leichtigkeit erfüllt das auf Schopenhauer zurückgeführte Bonmot, Architektur sei gefrorene Musik.“ (Briegleb 2007: 110) Architektur und Akustik gehen Hand in Hand. Spektakulär ist auch die Suspensionstechnik des Hauptsaales, die der Akustik des Raumes zugute kommen soll: Es wird ein „box-in-box“-System sein, d.h. der eigentliche Konzertsaal wird frei schwingend in die Außenstruktur des Gebäudes aufgehängt. Das dazugehörige Akustiksystem wird von Yasuhisa Toyota entwickelt, einem Vertreter des global agierenden japanischen Akustikunternehmens Nagata Acoustics (http://nagata.co.jp/e_index. html), das auch die Akustik der Walt Disney Hall in Los Angeles entwickelte. (Cardno 2007: 12)

Philharmonie de Paris (2012) Sehr deutlich ähneln sich Jean Nouvels Pläne der für 2012 geplanten Philharmonie de Paris und Herzog und de Meurons Pläne für die Elbphilharmonie. Beide haben eine über-gewöhnliche Außen- und Innenarchitektur, die State-of-the-art-Technologien zur Akustik und Statik nutzen. Die Außenarchitektur sieht wie riesige, aufeinander getürmte Metallplatten aus. In dieser Science-Fiction-Landschaft kann man dann langsam auf Rampen hinauf- oder hinuntersteigen, zu Restaurants

192

Annäherung an die Konzertstätte

oder auch in die Konzerthalle. Ouroussoff (2007) weist darauf hin, dass das Exterieur der Pariser Konzerthalle ebenfalls weniger auf klassische Konzertmusik denn auf die Gemeinschaftserfahrung ausgerichtet ist. Für 200 Millionen Euro wird es zudem Büros, eine Bibliothek, $XVVWHOOXQJVÁlFKHQ9HUZDOWXQJVhEXQJVXQG$XVELOGXQJVUlXPHXQG ein Restaurant geben (Designbuild Network 2007). Wie bei der Elbphilharmonie werden auch bei der neuen Pariser Philharmonie spektakuläre akustische Innovationen eingesetzt, um die Konzerthalle für unterschiedliche Musikstile einsetzen zu können. Nicht überraschend ist für die Akustik auch hier wie bei der Elbphilharmonie das Unternehmen Yasuhisa Toyota/ Nagata Acoustics (in Kooperation mit der australischen Firma Marshall Day Acoustics) verantwortlich. Eine Neuigkeit wird das Aufhängen von Balkonen sein, hinter denen Tonwellen zirkulieren können. An der Decke werden akustische Baldachine (in )RUP YRQ ÁDFKHQ :RONHQ  KlQJHQ GLH QDFK $UW GHV 0XVLNVWLOV WLHIHU oder höher gehängt werden können (Riding 2007). Im oben genannten Sinne außer-gewöhnlich ist der periphere Standort dieses Baus. Die französischen Politiker entschieden sich schon in den 1980er Jahren für das ehemalige Schlachthofgelände La Villette nahe einem armen Stadtteil; dies sei eine architektonische und politische Geste, die Paris brauche, so der ehemalige französische Premierminister de Villepin (Designbuild Network 2007). Riding (2007) stellt sich aber die Frage, ob die bürgerlichen Klassikmusik-Liebhaber in diesen Teil der Stadt fahren werden, um sich Konzerte anzuhören. Hinzufügen kann man skeptisch, dass dies wohl geschehen wird, wenn der Stadtteil und seine Bevölkerungszusammensetzung sich aufgrund dieser Kultureinrichtung lQGHUQGKJHQWULÀ]LHUHQZLUG

Norwegische Nationaloper Oslo (2008) Auch die Nationaloper Norwegens in Oslo gilt aufgrund ihrer umfangreichen öffentlichen Raumgestaltung als über-gewöhnlich und wird, eben wegen dieser Umfeldgestaltung, von den Bewohnern der Stadt nicht nur angenommen, sondern unter jungen Menschen als „cool“ bezeichnet. Wieder wird in den Rezensionen zu dieser Oper zuerst das Umfeld hervorgehoben. So schreibt Knapp (2008): „Die Idee, den fälligen Neubau [...] an einem Zipfel des Oslo-Fjords zu postieren und dabei die heruntergekommene Umgebung zu sanieren und aufzuwerten, kann

193

Volker Kirchberg

als stadtplanerischer Glücksfall gewürdigt werden. [...] Den Auslobern schwebte wohl etwas Spektakuläres vor Augen wie die Oper von Sydney, die ja auch am Wasser steht.“ Der Carrara-Marmor-Bau (Kosten über 415 Millionen Euro) wirkt außen äußerst spektakulär, insbesondere durch die Schräge bis in das Wasser des Fjords hinein. Umso auffälliger ist das konventionelle Innere des Großen Hauses. „Der Architekt des Innenraums stand schon bei der Ausschreibung fest: Wie immer der Außenbau aussehen würde, der Zuschauerraum sollte von Gottfried Semper sein: Die Osloer Scholle birgt also eine räumlich weitgehend exakte Kopie des Zuschauerraums der Dresdner Oper“ (Knapp), auch wenn das Parkett zum Orchestergraben steiler abfällt, um Sicht und Akustik zu optimieren. Der Publikumsaal ist hufeisenförmig, die klassische Form für Theater und ein wirksamer Kompromiss zwischen Akustik und Nähe zur Bühne. Sich an die Dresdner Oper anlehnend verzichtet die Akustik in Oslo verzichtet auf elektronische oder andere Hilfsmittel zur Veränderung der /lQJH GHU 5HÁH[LRQVZHOOHQ ZZZGHVLJQEXLOGQHWZRUNFRPSURMHFWV opera_oslo/). Der Nachhall ist 1,7 Sekunden, ein „sinnlich voller Klang“, so Knapp, der vor allem bei Orchesterkonzerten wirksam werden wird, aber für Sprachverständlichkeit zu lang ist. Die Experten für Akustik waren hier Arup Acoustics (www.arup.com/acoustics), neben den eben erwähnten Nagata Acoustics einer der wichtigsten global agierenden Unternehmen dieser Art.

Schluss: Eine Typologie der Konzertstätten 'LHVH 6NL]]H GHU (LQÁVVH YRQ 5DXP 6WDQGRUWH XQG 5DXPJHVWDOWXQJ  auf Musikaufführungen, auf Musikvermittlung, auf Stadt und Bewohner kann nur kursorisch bleiben. In einer Vier-Felder-Tafel lassen sich die angesprochenen Themen wie in der folgenden Tabelle darstellen. Die Dichotomie von außer- und über-gewöhnlichen Konzertstätten wurde hier um die historische Komponente der traditionell-gewöhnlichen Konzertstätten ergänzt, denn sowohl außer- wie über-gewöhnliche Konzertstätten beziehen sich weiterhin auf diese Ikonen der bürgerlichen Symbolik – abwehrend der erste, fortführend der zweite Typ. Hat das Erscheinen der über-gewöhnlichen Konzertstätten in den letzten zehn Jahren nun konzertfremde Bevölkerungsschichten an die E-Musik herangeführt? Für diese Musikvermittlungsfunktion spricht

194

Annäherung an die Konzertstätte

Abb. 1. Typologie der Konzertstätten Typologie der Konzertstätten

Standorte

Raumgestaltung/ Verhaltensregeln

Außergewöhnlich

U.a. Planetarien, Einkaufszentren, Polo-Anlagen, Kirchen, Theaterfoyers, Regierungsgebäude, Altenheime, Gefängnisse, Fachhochschulen, Sportstadien, Open Air-Flächen, Bürgerzentren, Kinder- und Jugendtheater, Schulen LQ3UREOHPEH]LUNHQ¶ÁDVKPRE Orte.

Private Räumlichkeiten, Sporthallen, Fabrikhallen, Rundfunkanstalten. WorkshopCharakter, experimentelle Musikgestaltung/ subkulturelles, un-/ antikonventionelles Verhalten. Anpassung der Musik an Raum und Publikum (Aktionsfähigkeit / ,agency‘ des Publikums).

(Standortausstrahlung: lokal)

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts.

Standorte in den traditionellen Stadtzentren (Vorbilder: Musikverein, Royal Albert Hall, Gewandhaus).

Bürgerliche Konventionen des Musikausübens (Repertoireprinzip) und Rezipierens. Publikum in der Rolle der Kulturstillsitzenden. Anpassung des Raums und des Publikums an die Musik (strukturierende Macht der Musik).

Traditionellgewöhnlich

(Standortausstrahlung: regional)

Übergewöhnlich

Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Standorte auch in der Peripherie traditioneller Stadtzentren, Instrumentalisierung zur postindustriellen Revitalisierung und urbaner Image-Gestaltung (Vorbild: Sydney Opera)

Spektakuläre Außen- und Innenarchitektur mit unterschiedlichen, nicht nur musikalischen Angeboten. Ergänzung, aber nicht Überwindung bürgerlicher Konventionen. Möglichkeit von Alternativen (postmoderne Bri-colage PLOLHXVSH]LÀVFKHU.RQYHQWLRQHQ und Musikgenres, kommerzielle Nutzung).

(Standortausstrahlung: überregional bis global)

Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Quelle: Eigene Darstellung.

die durch technische Fortschritte ermöglichte Multifunktionalität dieser Konzertstätten. An ein und demselben Ort können nicht nur unterschiedlichste Musikstile für unterschiedlichste Milieus der Gesellschaft, sondern auch andere Attraktionen nicht-musikalischer Art als Erlebnis vieler Sinne angeboten werden. Somit könnte man die Hoffnung ausdrücken, dass eine funktionale Konzentration bzw. genre-tolerante Durchmischung an einem Ort zu einer Durchmischung der sozialen Besuchs- und Höraktivitäten führen wird. Dazu wieder Briegleb (2007: 110f): „Demzufolge entwickelt der Intendant [der Elbphilharmonie] Christoph Lieben-Seutter eine Strategie

195

Volker Kirchberg

IUGDV+DXVZHOFKHGLH*UHQ]HQGHU.ODVVLNVHKUÁH[LEHOGHQNWÄ:LU wollen Programm für alle machen.‘ Und darunter versteht er neben dem angestammten Repertoire auch Schlager, Jazz, Weltmusik und Pop. Technik und Akustik des Hauses werden deshalb von Anfang an auf die Belange der elektronischen Musik mit ausgelegt.“ Die symbolischen Schwellen, die traditionelle Konzerthäuser, früher bewusst, heute eher aus Ignoranz, haben, sind diesen neuen Häusern eher fremd. Große Teile der Gebäude sind öffentlich zugänglich. Dazu kommt das in vielen Kulturkonsumentenstudien bestätigte „Omnivoren“(oder „Allesfresser“-)Konzept einer Gesellschaft, deren Mitglieder Kulturrezeption nicht mehr als statusrelevant auffassen und deshalb einen schichtübergreifenden Musikgeschmack haben. Der amerikanische Kultursoziologe Richard Peterson hat diesen Geschmackstyp schon vor mehr als 20 Jahren als den dominanten amerikanischen (Hoch-) Kulturkonsumenten ausgemacht und ihn als „Omnivoren“ bezeichnet (vgl. u.a. Peterson und Kern 1996). Der Raum der über-gewöhnlichen Konzertstätte kann als Instanz der Musikvermittlung wirken, weil er den %HVXFKHUHUPXWLJWDOV.XOWXUÁDQHXU]XDJLHUHQ'HU.XOWXUÁDQHXUNRQVXPLHUW.XOWXUEHLOlXÀJEHVFKUlQNWVLFKQLFKWDXIDXVJHZlKOWH$QELHWHU und Sparten und ist vielseitig interessiert. Er erscheint deshalb eher als der bürgerliche Kultur-Stillsitzende der Musikvermittlung zugewandt. Dies setzt allerdings voraus, dass der über-gewöhnliche Konzertsaal nicht nur eine zeitgenössische Fassung des traditionellen Konzertsaals mit seinen konkret als soziale Exklusionsmittel wirkenden Symbolen bürgerlicher Kulturrezeption ist. Contra Musikvermittlungsfunktion spricht eben die Einschätzung, dass dieser über-gewöhnliche Konzertsaal weiterhin den bürgerlichen Stereotyp des Kultur-Stillsitzenden bevorzugt, denn schließlich kommt das Stammpublikum der E-Musik mit überwältigender Mehrheit aus bürgerlich gebildeten Schichten. Solange klassische oder E-Musik allgemein dem kulturellen Hegemoniefeld des Bildungsbürgertums zugerechQHWZHUGHQPXVVXQGVLFKDXFKGDUEHUGHÀQLHUWNDQQGLHVH0XVLNQLFKW DXWRQRP QHXH 3XEOLND PLW QHXHQ DX‰HUJHZ|KQOLFKHQ 2UWHQ ÀQGHQ 'LH UlXPOLFKH 1lKH YHUVFKLHGHQHU PLOLHXVSH]LÀVFKHU 1XW]XQJHQ EHGHXWHW noch keine Annäherung oder gar Durchmischung dieser Milieus. So hat Natalie Heinich in einer Studie ein ähnliches demokratisierendes Konzept für das Centre Pompidou als uneffektiv nachgewiesen. Die gewünschte „De-Sakralisierung“ dieses Kulturkomplexes fand nicht statt, da die

196

Annäherung an die Konzertstätte

verschiedenen Benutzergruppen aneinander vorbeiliefen und nicht – obwohl räumlich nah – zueinander fanden (Heinich 1988, zitiert in Kirchberg 2005: 146f). Eine Umstellung der Musik würde sie als „popularisiert“ deklassieren, und dieser Statusverlust geht einher mit einem Statusverlust der Aufführungsstätte; eine Gratwanderung, die weder Konzerthallenbetreiber noch die imagesensiblen städtischen Initiatoren und Investoren gehen wollen. Contra Musikvermittlung spricht auch, dass der aktuelle Bauboom durch HEHQGLHVH6HNXQGlUIXQNWLRQHQ GHU6WDGWUHYLWDOLVLHUXQJGHU,PDJHSÁHJH der ökonomischen Umwegrentabilitätseffekte) legitimiert wird und nicht durch den Wunsch neuer Wege der Vermittlung von E-Musik, auch wenn dies in politischen Statements so geäußert wird. Das zentrale Thema der Musikvermittlung ist die formale und inhaltliche Anschlussfähigkeit des Angebotes an die soziale Lebenswirklichkeit der potenziellen Zuhörer. Ansonsten verbleibt die klassische Musik in einem subkulturellen Umfeld und wird schließlich musealisiert. Ausnahmen könnten zwar Konzertstätten sein, denen durch ein herausragendes Renommee große Aufmerksamkeit zukommt, aber dieses Renommee, die Verpackung also, auf die bei den neuen Konzerthallen so viel Wert gelegt wird, kann langfristig Musik nicht zielgruppengerecht vermitteln (Tröndle 2003). Wie sieht also die Zukunft aus? Wenn die über-gewöhnliche Konzerthalle im 21. Jahrhundert allein als Ort der städtischen Landschaftsgestaltung (Porto), als Magnet der Freizeitgestaltung (Rom), als Mittel der postindustriellen Stadtgestaltung (Oslo), als Symbol der bürgerschaftlichen Gesellschaft (Luzern) oder als Wahrzeichen und Ordnungselement einer sich herausputzenden Stadt (Elbphilharmonie Hamburg) gesehen und beschrieben werden (so Bicher 2004 oder Rauterberg 2005), dann ist eine zentrale Komponente der Musikvermittlung, die Autonomie der Musik, in den Hintergrund gerückt.

197

Volker Kirchberg

Anmerkungen Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. Viele dieser Gedanken sind mit Studenten der Angewandten Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg im Rahmen ihrer Magisterarbeiten diskutiert worden. Insbesondere sind dies die Arbeiten von Frederike Holm (2007): „Die Bedeutung von 0XVLNYHUPLWWOXQJIUGLH=XNXQIWGHV.RQ]HUWZHVHQV´.DWKDULQD0RKU  Å:LHÀQGHW klassische Musik ein neues Publikum?“ und Tim Knackstedt (2009): „Orchestermarketing: Besucherorientierung bei selbstständigen Konzertorchestern“.

Literatur Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Belliger, Andréa / Krieger, David J. (Hg.) (1998): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen: Westdeutscher Verlag. Berndt, Christian / Pütz, Robert (2007): Kulturelle Geographien, Bielefeld: transcript. Bicher, Katrin (2004): „‚Hauptstätte der Musik als solcher‘. Zur *HVFKLFKWHXQG9HUÁHFKWXQJYRQ.RQ]HUW0XVLNXQG.RQ]HUW+DXV´ in: Ouverture. Philharmonie Luxembourg. Musikfest zur Eröffnung. 26.06.- 03.07.2005, Philharmonie Luxembourg, Luxembourg, S. 32-37. Verfügbar unter: http://www.philharmonie.lu/downloads/broshure_ ouverture.pdf [01.05.2009]. Briegleb, Till (2007): Eine Vision wird Wirklichkeit. Auf historischem Grund: Die Elbphilharmonie entsteht, Hamburg: Murmann. Catherine A. Cardno (2007): Structures: Glass and Steel ‚Cloud’ 5HGHÀQHV+DPEXUJ+DUERU, S. 12-13. In: Civil Engineering, June 2007. Designbuild Network (2007): Philharmonie de Paris, France. In: http://www.designbuild-network.com/projects/philharmonieparis/ (Zugriff: 18.04.08). Döring, Jörg / Thielmann, Tristan (2008): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript.

198

Annäherung an die Konzertstätte

Dünne, Jörg und Stephan Günzel (2006): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. Hammond, Michael (2006): Opera Houses, Theatres and Concert Halls for the Twenty-First Century. London und New York: Merrell. Heister, Hanns-Werner (1996): Stichwort „Konzertwesen“, in Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Kassel: Bärenreiter. Kirchberg, Volker (2005): Gesellschaftliche Funktionen von Museen. Makro-, meso- und mikrosoziologische Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag. Kirkpatrick, Ralph (1980): On Concert Halls: Conversations with Ralph Kirkpatrick, S. 92-99. In: Perspecta: The Yale Architectural Journal, Massachusetts Institute of Technology. Vol. 17/1980. Knapp, Gottfried (2008): Als das weiße Riff in der Stadt auftauchte. In: Süddeutsche Zeitung, 12. April 2008. Ouroussoff, Nicolai (2007): The Best Buildings You'll Ever Hear. In: The New York Times, 3. Juni 2007. Peterson, Richard A. und Roger M. Kern (1996): Changing Highbrow Taste: From Snob to Omnivor, in: American Sociological Review, Jg. 61, Heft 5, S. 900-907. Rauterberg, Hanno (2005): Die perfekte Welle. In: Die Zeit, 18/2005. Riding, Alan (2007): Building a Paris Hall Around Its Audience. In: The New York Times, 14. April 2007. Tröndle, Martin (2003): Das Konzertwesen – Eine Geschichte der Aufmerksamkeit, S. 16-33. In: Schneidewind, Petra / Tröndle, Martin (Hg.): Selbstmanagement im Musikbetrieb. Handbuch für Musikschaffende. Bielefeld: transcript. Vongries, Caroline (2005): Ein Orchester, das den Menschen HQWJHJHQJHKW'LH+RIHU6\PSKRQLNHU%HVXFKEHLPÅ'DYLG´XQWHU den deutschen Klangkörpern, S. 9. In: Das Orchester, 06/2005.

199

Instrument – Raum – Klang Technische Entwicklungen in Akustik und Instrumentenbau

Ludger Brümmer

Musik interagiert, wie alle Kunst, nicht nur mit der Rezeption des Publikums und den ästhetischen Strömungen, sondern auch mit den zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten. Die Erweiterung der Palette an Werkzeugen und deren Funktionen wird zumeist durch Komponisten und Komponistinnen initiiert, die in ihrer Arbeit neue Ideen entwickeln. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde, vor allem in der elektronischen Musik, durch die initiierende Wirkung technischer Innovation eine 9LHO]DKOQHXHU'HQNZHLVHQJHVFKDIIHQ'LHVH,QQRYDWLRQHQEHHLQÁXVVWHQ aber nicht nur neue Kompositionen und deren Ästhetik, sondern führten teilweise vollständig neue Ansätze herbei. Somit ist zu konstatieren, dass die Auswirkungen technischen Denkens über den eigentlichen Gegenstand weit hinausreichen. György Ligetis Werk Atmosphère ist ein Beispiel für jenen inhaltlichen Transfer. Viele dynamische Prozesse in dem Werk wurden äquivalent zu den Regelbewegungen eines Faders am Mischpultes NRPSRQLHUW 'LH VSH]LÀVFKH (UIDKUXQJ GLHVHU 5HJHOEHZHJXQJ HUODQJWH Ligeti im elektronischen Studio. Ein anderes Beispiel lässt sich an der Arbeit des Komponisten Karlheinz Stockhausen nachweisen. Die extremen zeitlichen Stauchungen und Streckungen, mit denen Stockhausen seine Superformel in LICHT bearbeitete, sind nur durch seine Erfahrungen mit den Ebenen Mikro- und Makrozeit, durch Beschleunigung sowie Verlangsamung mit dem Tonbandgerät möglich gewesen. Und Luciano Berio kommentiert sein kompositorisches Schaffen mit dem Hinweis, dass

Ludger Brümmer seine Orchesterkompositionen ohne seine Erfahrungen im elektronischen Studio nicht denkbar wären. Die langen Tondauern in Luigi Nonos letztem Streichquartett Stille an Diotima stehen in direktem Zusammenhang zu seinen Experimenten und Erfahrungen mit der technisch ermöglichten zeitlichen Dehnung von Klängen, wie er sie z.B. in Prometheo nutzte. Die genannten Beispiele zeigen insgesamt, welche außerordentliche Bedeutung zum einen die elektronische Musik für die zeitgenössische Musik hat, zum anderen aber auch, wie überaus vielschichtig die Konsequenzen technologischer Innovation sein können. Einige techQRORJLVFK EHGLQJWH (UÀQGXQJHQ YHUP|JHQ QLFKW QXU GDV :HUN YRQ Künstlern, sondern auch die Rezeption und Musikpraxis einer breiten *HVHOOVFKDIWVVFKLFKWZHVHQWOLFK]XEHHLQÁXVVHQ'LHVHU8PVWDQGOlVVWVLFK am Beispiel der Einführung des Hammerklaviers und dessen nachhaltigen (LQÁXVVDXIPXVLNDOLVFKH)RUPXQGbVWKHWLNGHVXQG-DKUKXQGHUW nachweisen. Aber nicht nur Form und Ästhetik änderten sich aufgrund des eingehenden Gebrauchs des Klaviers, sondern das Musizierverhalten insJHVDPWEHHLQÁXVVWHGDV/D\RXWGHU:HUNHGLHQXQDXFKIUQLFKWSURIHVsionelle Musiker geschrieben wurden und eine ganz neue Verlagsindustrie herbeiführten. Entlang gesellschaftlicher Entwicklung ist nicht nur die %HHLQÁXVVXQJHLQHV3DUDPHWHUV]XYHU]HLFKQHQYLHOPHKUVLQGWHFKQLVFKH soziale und ästhetische Veränderungen aufs Engste miteinander verzahnt und bedingen sich wechselseitig.

Klang im Raum Klangerzeugungs-, Verarbeitungs- und Reproduktionsverfahren sind sicher als das innovativste Moment der Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu werten. Nach einer Phase eingehender Innovation und der Findung neuer Synthesetechniken sind in diesem Bereich gegenwärtig keine neuen Impulse zu erwarten. Nach der additiven und subtraktiven Synthese, diversen Sampletechniken, Loops, Granularsynthese und Filtrierungseffekten, der Frequenzmodulation sowie der Simulation von Raumakustik, wurde die Klangsynthese mithilfe physikalischer Modelle zuletzt verfügbar gemacht. Letztgenannte Verfahrensweise breitete sich allerdings wegen ihrer Komplexität nur in begrenztem Maße aus. Ende der 1990er Jahre hat sich der Fokus der Entwicklung verändert. Hauptaugenmerk der Forschung liegt nicht mehr in der Art und

202

Instrument – Raum – Klang Weise, wie Klänge hergestellt, sondern wie sie zu Gehör gebracht und auf welche Weise sie initiiert bzw. gespielt werden. Folglich liegen die wichtigsten Innovationen der letzten zehn Jahre in der Raummusik und im Interface-Design. Bei beiden Parametern handelt es sich nicht um spielbare Instrumente: Der Raum ist ein Instrument der Rezeption, das Interface ein Instrument der Interaktion. Zunächst sei der Aspekt der Nutzung von Raum und räumlicher Wahrnehmung den folgenden Ausführungen vorangestellt. Raum XQG .ODQJ EHGLQJHQ XQG EHHLQÁXVVHQ VLFK JHJHQVHLWLJ .ODQJ E]Z Schwingung entsteht als räumlicher Prozess innerhalb des oszillierenden Objektes und entwickelt sich über den akustischen Raum weiter. Die Tonhöhe einer Saite konstituiert sich neben ihrer Beschaffenheit über die Bewegung eines Energieimpulses entlang der räumlichen Ausdehnung, also der Länge dieser Saite. Sofern eine Schwingung evoziert ist, wird sie mithilfe eines Resonanzkörpers in das Medium Luft übertragen und EUHLWHWVLFKJHPl‰GHUDNXVWLVFKHQ*HJHEHQKHLWHQEHU5HÁH[LRQHQXQG Direktschall aus. In der Rekonstruktion dieser Phänomene ist zwischen den Bereichen Klangsynthese und Akustik zu unterscheiden. Beide Ebenen entspringen mehr einer physikalischen denn einer künstlerischen Eigenschaft. Die Rezeptionsebene ist als das in der Entstehungskette fehlende dritte Glied auszumachen und wird innerhalb des Bereichs der Psychoakustik erforscht und von der inhaltlichen Wahrnehmung unterschieden. Die spe]LÀVFKH $UW XQG :HLVH LQ GHU SK\VLNDOLVFKH 3KlQRPHQH YRQ 2KU XQG Gehirn wahrgenommen und in Sinneseindrücke übersetzt werden, enthält einen physiologischen und psychologisch/neurologischen Aspekt, auf den jeder Künstler zurückgreift, wenn er bestimmte Effekte oder Phänomene nutzt und die Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums mit in sein kreatives Schaffen einbezieht.

Die akustische Raumwahrnehmung Sämtliche Indikatoren weisen auf die vermehrte Nutzung des Raums in seiQHU6LJQLÀNDQ]LQGHU]XNQIWLJHQ0XVLNKLQ9LHOH.RQ]HUWUlXPHYHUIJHQLQ]ZLVFKHQEHU0HKUNDQDO$XGLR6\VWHPH0HKUNDQDO+LÀ6\VWHPH zählen im „Consumerbereich“ zum Standard. In der Computerhardware haben sich entscheidende Entwicklungen vollzogen. Gab es Ende der 1980er Jahre nur einige wenige professionelle Schnittsysteme mit

203

Ludger Brümmer Mehrkanal-Klang, so sind die meisten Soundkarten inzwischen mit mindestens sechs Kanälen ausgestattet. Zudem ist eine lückenlose Kette von erschwinglichen Produktionsmitteln, Speichermedien (z.B. DVD und Harddisk) und Abspieltechniken wie 8-Kanal-Verstärker gegeben. Mehrkanaligkeit als Voraussetzung für akustische Raumprojektion zählt inzwischen zum industriellen Standard. Allein diese sicherlich durch die Filmindustrie initiierte Entwicklung zeigt, dass räumliches Hören nachweislich weiter in den Fokus des Konsumenten gerückt ist. Es erscheint nicht verwunderlich, dass sich Forschungsinstitutionen und Künstler – angespornt durch diese Umstände – vermehrt um den Einbezug und die Nutzung des Parameters Raum bemühen. Aus historischer Perspektive sind bereits mehrere Epochen zu verzeichnen, in denen das Phänomen des Raums mehr oder weniger explizit artikuliert wurde. Besonders exponiert wurde Raum in der elektronischen Musik genutzt. Hierbei gab es verschiedene Impulse, die beginnend mit Pierre Henrys und Jacques Poullins Pupitre d`Espace 1951 zu Stockhausens Rotationslautsprecher von 1958 im WDR führten, oder jene Impulse, die den von Le Corbusier und Iannis Xenakis gebauten Philips Pavillon in Brüssel mit Edgard Varèses elektronischem Werk Poème électronique (Meyer 1958: 345) sowie das Kugelauditorium auf der Expo 1970 in Osaka umfassten, die insgesamt die klanglichen Dimensionen der Musik durch den Raum erweiterten. Wie anfangs bereits erwähnt, interagieren Klangsynthese, Akustik und Psychoakustik in der Raummusik sehr eng miteinander, wobei vor allem die Aspekte der Psychoakustik nicht unbedingt bewusst wahrnehmbar sind. Hierbei handelt es sich um Automatismen der menschlichen Organe und des Gehirns, die für die menschliche rezeptive Wahrnehmung entVFKHLGHQG VLQG MHGRFK YHUOlVVOLFK XQG RKQH EHZXVVWH 5HÁH[LRQ IXQNtionieren müssen. Ein anschauliches Beispiel für psychoakustische $XWRPDWLVPHQGHV*HKLUQVLVWLQGHU(PSÀQGXQJGHU5DXPJU|‰H]XVHKHQ'LHVHZLUGDXVGHP]HLWOLFKHQ$EVWDQGGHUHUVWHQ5HÁH[LRQQDFKGHP Direktklang ermittelt (Neukom 2003: 85ff.; 629ff.). Ist dieser Abstand NOHLQVRHQWZLFNHOWGHU+|UHUTXDVLLQWXLWLYGLH(PSÀQGXQJHLQHVNOHLnen Raumes. Gegenüber konventioneller Musik und entsprechender Darbietung in einer Konzerthalle kann der Raum – dessen Akustik einen entscheiGHQGHQ (LQÁXVV DXI GDV NODQJOLFKH 5HVXOWDW QLPPW ² MHGRFK DXFK DOV eigenständiger Parameter kompositorisch eingesetzt werden. Es ist

204

Instrument – Raum – Klang beispielsweise nachvollziehbar ein großer Unterschied, ob ein Chor in einem Wohnzimmer oder einer Kathedrale singt. Jedoch werden bei der Wiedergabe eines Chorals nur die klanglichen Eigenschaften der Raumakustik verwendet und nicht die Räumlichkeit selbst. Die klanglichen Eigenschaften legen sich quasi auf den Klang und bestehen zuPHLVW DXV NRPSOH[HQ 5HÁHNWLRQVPXVWHUQ GLH DOV +DOO XQG (FKR ZDKUJHQRPPHQZHUGHQ,QSK\VLNDOLVFKHQ7HUPLQLGHÀQLHUWZLUGGHU5DXP mit dem Klang multipliziert, wie es bei einer „Convolution“ (Roads 1996: 419ff.) eines Hallsignals mit einem Klang unter Anwendung des Computers praktiziert wird. In der elektronischen Musik kann ein solcher Raum durch Softwares wie „Spat3“ künstlich erzeugt und verändert werden. Hier allerdings nur in Environments mit vier bis acht Lautsprechern. Dieser Aspekt ist vor allem hinsichtlich der nur marginal wahrnehmEDUHQ 0RGLÀNDWLRQ SUREOHPDWLVFK $X‰HUGHP LQWHUDJLHUW GHU NQVWOLFK erzeugte Raum mit dem realen Konzertraum und vermischt den Effekt dadurch. Entscheidet der Komponist jedoch über die Positionierung der Stimmen im Raum und komponiert demnach bestimmte Töne für die ihnen zugeordneten Stimmen, so erfährt der Raum als Parameter eine explizite Nutzung, die weit über die akustische Gestaltung eines Raumes hinausgeht. Innerhalb einer differenzierteren Nutzung eines Parameters wächst dieser über die Funktion als Klangeffekt bzw. Klangmedium hinaus und lässt sich musikalisch einsetzen. Eine Nutzung dieser Art fand in der europäischen Kunstmusik im 16. Jahrhundert erstmals durch Fra 5XIÀQRG·$VVLVLDQJHZHQGHWXQGIRUWJHVHW]WGXUFK$GULDQ:LOODHUWLQGHU Kathedrale von Venedig San Marco statt (Blankenburg 1995). Andere weitaus frühere Verwendungen von räumlicher Klangverteilung lassen sich innerhalb anderer kultureller Kontexte nachweisen. Das brasilianische Urwaldvolk der Yanumami, mit deren Schamanen der Autor im Jahr 2008 sprach, führt rituelle Tänze in völliger Dunkelheit auf. Entscheidend dabei ist, dass sich die Tänzer auf singende Weise artikulierend durch das Dorf bewegen und so eine räumliche Klangkulisse erzeugen. Durch die bewusste Durchführung des Tanzes in der Dunkelheit wird deutlich, dass der Tanz keine visuelle Funktion aufweist und die Bewegung der Sänger demnach auch die Aufgabe hat, die Stimmen durch den Raum zu tragen. In diesem Kontext ist also auf die Nutzung von Raummusik in früheren Kulturen zu verweisen.

205

Ludger Brümmer

Warum Raum? Was bewegte Musiker, das Klanggeschehen mithilfe von unterschiedlichen Positionen im Raum sowie deren Bewegung zu inszenieren? Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass geradezu alle Klangquellen in unserer Umgebung in Bewegung sind. Als Beispiele können hier unterschiedlichste Momente oder Objekte, wie Vögel, Autos, auch das Sprechen oder Singen fungieren, deren Quellen QLFKWDXIHLQHÀ[LHUWH3RVLWLRQ]XUFN]XIKUHQVLQG.OHLQHUH%HZHJXQJHQ oder Gesten im Raum, wie sie GeigerInnen, FlötistInnen etc. als Teil ihrer Interpretation praktizieren, sind während der Klangerzeugung permanent wahrnehmbar. Als Folge dieser Bewegung erhält der Klang eine durch sich kontinuierlich ändernde Phasenkonstellationen (Roads 1996: 18ff.) erzeugte Lebendigkeit. Im Gegenzug wirken statische unbewegliFKH,QVWUXPHQWHXQLQWHUHVVDQWGHU.ODQJHUVFKHLQWÅÁDFK´XQGÅXQUHDO´ wie beispielsweise bei einer Orgel. Dieses Problem wird durch leichte Verstimmungen der Pfeifen und die dadurch entstehenden Schwebungen 'RGJH-HUVHII NRPSHQVLHUW(LQlKQOLFKHV9HUIDKUHQÀQGHW Anwendung bei der Stimmung des Klaviers, indem der Klavierstimmer die Saiten leicht gegeneinander verstimmt, um eine kräftigere und dadurch voluminösere Tonerzeugung zu erreichen. Diese Aspekte weisen darauf hin, dass die Bewegung von Klängen und die damit verbundenen Phasenverschiebungen zur Normalität der akustischen Wahrnehmung gehören. Im Rückschluss lässt sich beweisen, dass die Bewegung von Klängen im Raum durchaus unseren akustischen Wahrnehmungsmustern entspricht und die musikalische Nutzung dieses Parameters demnach naheliegt. Die Nutzung von Rauminformationen innerhalb einer Komposition unterliegt keinen eindeutigen Vorstellungen, da sich die Technologie in der gegenwärtigen Dimension in erheblichem Maße weiterentwickelt hat. Die Beispiele aus dem 16. Jahrhundert zeigen allerdings einen deutlichen (LQÁXVVGHU5lXPOLFKNHLWDXIGHQ9HUODXIGHVPXVLNDOLVFKHQ0DWHULDOV Mithilfe der Rauminformationen wurden musikalischen Informationen zusätzlich strukturiert, wobei die Funktionen formaler Abschnitte, Phrasierungen und Artikulationen durch Raumpositionsinformationen ergänzt werden können. Bestes Beispiel ist ein musikalisches Frage- und Antwortspiel oder das Concerto Grosso (vgl. Scherliess / Fordert 1997), dessen kompositorische Struktur mithilfe des Raumes klar gegliedert wahrnehmbar ist. Diese zusätzliche Strukturierung von klanglichen

206

Instrument – Raum – Klang Verläufen ist durchaus äquivalent zur Instrumentation eines Particells. Die Instrumentation greift in das musikalische Material ein, indem es Töne in Phrasen zusammenfasst und jene Phrasen auf diese Weise klanglich voneinander trennt. Dadurch kann ein musikalisches Werk mit vielfältigen Klangobjekten und komplexer Struktur für den Hörer wahrnehmbar und verständlich gemacht werden. Ein weiterer Aspekt, der für die bewusste Nutzung des Raums spricht, liegt in der Tatsache begründet, dass der Mensch mit seinem Gehör mehr Informationen wahrnehmen kann, wenn diese im Raum verteilt sind, als wenn diese eine nur geringe räumliche Verteilung aufweisen. Der Grund für dieses Phänomen liegt in der Eigenschaft begründet, dass sich Klänge gegenseitig überdecken bzw. maskieren können (Bregman 1990: 320ff.). Spielt man beispielsweise die Signale eines lauten Knalls und eines leisen Piepsen zeitgleich ab, so würde der Knall das andere Signal im Normalfall völlig überdecken. Sind beide Klänge gleichlaut, so würden sie im Idealfall miteinander verschmelzen. Beide Klänge bleiben jedoch separat wahrnehmbar, ohne miteinander zu verschmelzen oder überdeckt zu werden, würden sie links und rechts vom Kopf eines Hörers erklingen. Dieses Beispiel lässt sich auch multiplizieren, bis eine Klangszene entsteht, in der 20, 30 oder mehr Klänge im Raum verteilt erklingen. Solch eine Szene würde im Raum verteilt transparent und „durchhörbar“ klingen, während eine stereophone Wiedergabe der gleichen Klänge dumpf und wenig detailreich erscheinen würde. Der Hörer wäre imstande, in die einzelnen Szenen und Phrasen hineinzuhören, verschiedene Ereignisse zu gruppieren usw. und bestimmte Klänge zu maskieren bzw. zu unterdrücken (Störgeräuschunterdrückung). Dieses „aktive Hören“ hätte in Abhängigkeit von der Position des Hörers jeweils unterschiedliche Möglichkeiten, so dass mehrschichtige Rezeptionsvarianten entstehen. Der so genannte „Cocktailparty-Effekt“ (Roads 1996: 469) verdeutlicht dieses Phänomen auf eindeutige Weise: ist eine Person von mehreren Personen umgeben, kann er ihren/seinen Namen als Signalwort VRQGLHUHQ5HÁH[DUWLJEHPKWVLFKGLHVH3HUVRQXPGLH)RNXVVLHUXQJDXI die Stimme, indem die nicht zweckmäßigen Unterhaltungen unterdrückt werden. Freilich ist diese Raumwahrnehmung nur bei intaktem Gehör möglich. Bei akustisch eingeschränkten Hörer fällt die umfassende Wahrnehmung der Raumakustik weg und damit auch die Fähigkeit, Störgeräusche zu unterdrücken.

207

Ludger Brümmer Summiert man die verschiedenen akustischen und psychoakustischen Aspekte, so wird deutlich, dass die Differenzierungsfähigkeit des Gehörs durch die Nutzung von Rauminformation zunimmt. Lassen sich die Klänge im Konzert über eine große Fläche ausdehnen, so lassen sich wesentlich komplexere Kompositionen transparent und gut hörbar gestalten. Die Hörer können auf diese Weise mehr akustische Informationen aufnehmen XQGGDV+|UHQÁH[LEHOJHVWDOWHQ(EHQVRZLHEHLHLQHP2UFKHVWHUNRQ]HUW ist das Hörerlebnis auch abhängig vom Platz, an dem der Zuhörer sitzt. Das Erfahren des Werkes ist also im Allgemeinen von dem Standort abKlQJLJ GD GLH )lKLJNHLW GHV +|UHUV ÁH[LEHO PLW DNXVWLVFKHP 0DWHULDO umzugehen, unmittelbar mit der Räumlichkeit zusammenhängt. Diese wurde explizit im Zeitalter der elektronischen Musik wiederentdeckt, da der Klang nicht mehr mit dem erzeugenden Instrument zusammenhing. Durch diese Unabhängigkeit wurde er quasi mobil, so dass in unmittelbarer Folge eine Kompensation dieser Reduktion durch monaurale bzw. stereophone Wiedergabe initiiert wurde. Inzwischen gehen die Komponisten elektronischer Musik aber weit über die Möglichkeiten der konventionellen Anwendung klassischer Musikinstrumente hinaus und integrieren technisch bedingte Bewegungen und eine 60-kanalige Wiedergabe in ihre Musik. Wieder entfacht durch die Mehrkanaltechnologie im „Consumerbereich“, hat sich auch das Thema Raumklang in den Konzerten artikuliert. Es ist deutlich wahrnehmbar, dass neue Ansätze ausprobiert, aber auch für den Konzertalltag aufbereitet werden sollen. Neben dem traditionellen Akusmonium (Jaschinski 1999) seien an dieser Stelle die Wellenfeldsynthese (Roads 1996: 252ff.) 1 und der Klangdom erwähnt. Das Potenzial, das durch den Raum in die Musik gebracht wurde, ist erst am Anfang seiner Entwicklung. In Zukunft wird die Fähigkeit, bewusst mit dem Raum zu hören, weiter entwickelt werden und in der 4XDQWLWlW]XQHKPHQGH,QVWDOODWLRQHQZHUGHQLQVJHVDPWÁH[LEOHUXQGYHUfügbarer. Dadurch wird es Komponisten und Veranstaltern erleichtert, die Erlebnisfähigkeit des Publikums zu beleben und herauszufordern.

208

Instrument – Raum – Klang

Der Klangdom, das Akusmonium und das Wellenfeldsynthesesystem Neben kleineren Installationen, wie 4- oder 8-Kanal-Systemen, haben sich drei sich technisch grundlegend unterscheidende Systeme herausgebildet. Es handelt sich hierbei um das Akusmonium, das Wellenfeldsystem und Lautsprecherarrays, insbesondere der Klangdom. Das Akusmonium arbeitet mit unterschiedlichen, im Raum verteilten Lautsprechern. Die Lautsprecher unterscheiden sich dabei in Typ, Größe und klanglicher Eigenschaft. Sie sind teilweise in Gruppen angeordnet, die getrennt angesteuert werden können. Innerhalb der Lautsprechergruppen gibt es einzelne Elemente, die in Säulen übereinander aufgestellt sind, die hinter oder an der Seite des Publikums stehen, oder an die Decke oder an eine Wand gerichtet sind. Die für Konzerte benutzten Werke sind zumeist in stereo, 4-Kanal oder 8-Kanal produziert. Das Akusmonium wird als Instrument zur Interpretation verstanden, die während des Konzertes live aufgeführt wird. Es ist kein ,QVWUXPHQWEHLGHP.OlQJHVSH]LÀVFKH5DXPEHZHJXQJHQGXUFKIKUHQ sondern vielmehr eines, das mit spektralen Effekten arbeitet und so zu einer akustischen Holophonie kommt. Der Vergleich dieses Instruments mit der Funktion eines Orchesters wird durch den deutschen Ausdruck des Lautsprecherorchesters ersichtlich. Es bestehen verschiedene Akusmonien in Paris (GRM und Pierre Henry), Bourges (Gmebaphone), Birmingham (BEAST) und Brüssel, die als eigenständige Instrumente – auch auf Konzertreisen – verwendet werden. Das Wellenfeldsynthesesystem (WFS) entstammt der neueren Forschung und wurde vor allem durch die Arbeit von Dr. Diemer de Fries nutzbar gemacht. Das weltweit größte Wellenfeldsynthesesystem ist im Hörsaal der TU Berlin installiert und nutzt über 2000 Lautsprecher. WFS-Systeme simulieren die Propagation von Wellen im Raum und suchen diese mit einer Reihe nebeneinander an der Wand montierten Lautsprecher zu initiieren. WFS-Systeme können darüber hinaus Klänge innerhalb des Raumes projizieren. Die Berechnung erfordert jedoch eine aufwendige Peripherie und insgesamt hohe Rechnerkapazitäten. 'LHVLFKQRFKLQ$QIlQJHQEHÀQGHQGH(QWZLFNOXQJMHQHU6\VWHPHOlVVW viele interessante Möglichkeiten offen. Für die zukünftige Praxis zählt dieses System sicher zu den interessantesten Optionen unter den festen Installationen, wobei die hohen Kosten und die noch experimentelle

209

Ludger Brümmer

Abb. 1: Schema eines Klangdomes

Nutzung die praktische Arbeit und Anwendung erheblich erschweren. Das Fraunhofer-Institut Ilmenau und die TU Berlin entwickelten bereits eigene WFS-Systeme. Der Klangdom des ZKM | Institut für Musik fußt auf Ansätzen, die das Kugelauditorium im Jahre 1970 in Osaka angeregt hat (vgl. Frisius II 'LH+|UHUZHUGHQLQGLHVHUVSH]LÀVFKHQ5DXPNRQVWHOODWLRQ von einer kuppelförmigen Lautsprecherinstallation umgeben, wodurch sich Klänge auf der gesamten Fläche des Konzertsaals platzieren lassen. Die netzartige Anordnung der Lautsprecher ermöglicht mithilfe des „Vector Based Panning“-Verfahrens (Roads 1996: 459ff.) (VBP) eine kontinuierliche Bewegung von Klangquellen um den Zuhörer herum. Als Besonderheit erweist sich die zur Ansteuerung auf unterschiedliche Räume und Lautsprecher entwickelte Software Zirkonium (Brümmer / Goßmann / Ramakrishnan 2006: 3). Besonderes Augenmerk wurde in einem weiteren Schritt auf die Entwicklung der Klangkontrolle gelegt. Es glich bislang einer Herausforderung, z.B. 50 oder 60 Lautsprecher zusammen mit 38 Klangquellen auf einen Blick zu kontrollieren. Mit Zirkonium liegt demnach innerhalb des komplexen Entwicklungsprozesses erstmals ein Instrument vor, mit dem Raummusik auch mit SUDNWLNDEOHQ0LWWHOQXQGZHQLJHQ/DXWVSUHFKHUQÁH[LEHODXIJHIKUWZHUden kann. Waren die Komponisten bislang von einem proprietären Format oder einer streng festgelegten Anordnung der Lautsprecher abhängig, so ist es ihnen nun möglich, sich den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen

210

Instrument – Raum – Klang

$EEDE'LH%HGLHQXQJVREHUÁlFKHXQGGLH/DXWVSUHFKHU'HÀQLWLRQYRQ=LUNRQLXP

und ortsungebunden entsprechende Produktionen zu bearbeiten. Dieses System fand bereits internationale Anwendung bei Konzerten in Budapest, München, Köln, Hamburg, Vilnius, Wiesbaden und Karlsruhe. Darüber hinaus sind mit solch einem Multikanal Environment neue Rezeptionsweisen möglich. Zum einen können existierende Lautsprecherinstallationen mit geringem technischem Aufwand Raumklänge wiedergeben. So geschehen in der Staatsoper Stuttgart, in der die Lautsprecher anlässlich des Theaterfestes innerhalb von weniger als

Abb. 3a: Der Klangdom im ZKM | Institut für Musik und Akustik.

211

Ludger Brümmer

Abb. 3b: Der Klangdom im ZKM | Institut für Musik und Akustik.

$EE.RQWUROOREHUÁlFKHPLW$XGLR.DQlOHQ UXQG XQG/DXWVSUHFKHUQ TXDGUDWLVFK

212

Instrument – Raum – Klang einer Stunde zu einem Klangdom umgestaltet wurden, ohne dass nur ein einziger Lautsprecher umgestellt werden musste! Zum Anderen kann z.B. Orchestermusik mithilfe eines Klangdomes einer neuen Rezeptionsweise zugeführt werden. Anstatt den Gesamtklang frontal zu positionieren, wie es im Konzert der Fall ist, kann das ganze Orchester quasi über dem Publikum platziert werden. Dadurch ist es möglich, durch die einzelnen Instrumentengruppen hindurchzuschreiten, während das Werk erklingt. Plötzlich werden die Nebenstimmen erfahrbar, der Hörer kann von den ersten zu den zweiten Violinen gehen, zu Holzbläsern und Blechbläsern, und so die Musik interaktiv analytisch wahrnehmen. Diese neue Art des Hörens führt zu einer „aktiven“ Musikrezeption, die sowohl die Konstruktion komplexer musikalischer Werke erfahrbar machen könnte als auch eine immersive musikalische Wahrnehmung ermöglichte. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und die polyphonen Strukturen der von Glenn Gould interpretierten Goldberg Variationen über eine Platzierung und Bewegung der Motivstränge im Raum als Klangarchitektur erfahrbar werden lassen.

Das Interface Im gleichen Maße, in dem die Elektronik den Klang von seiner physikalischen Notwendigkeit befreit hat und somit Klänge losgelöst vom Entstehungsort ermöglichte, demontiert Technologie auch die Verbindung ]ZLVFKHQ,QWHUIDFHXQG.ODQJHU]HXJXQJ'LHVSH]LÀVFKH%HVFKDIIHQKHLW der Klaviertastatur ergibt sich durch die Zuordnung jeweiliger Saiten und Hammer zu jeweils einem Ton. Der Harfe ist aus diesem Grunde und wegen dieser Konstellationen ein anderes Interface zuzuordnen als einer Flöte. Durch die Einführung der elektronischen Impulsgebung können diese Abhängigkeiten aufgelöst und Klänge über beliebige Interfaces bedient werden. Während der Klang nun in dieser autonomen Weise besteht, können Interpreten und Komponisten gleichermaßen innerhalb der Anwendung von Instrumenten und Klängen forschen. Eine zukünftige Aufgabe besteht in der Erfassung von Interfaces, die der Intuition und den physischen Möglichkeiten des Menschen einerseits entgegenkommen und andererseits zugleich musikalische Resultate ermöglichen. Die Gestaltung und Nutzung von Interfaces stellt eine sehr langwierige und komplexe Aufgabe dar, in der neben technischen und UHLQPHQVFKOLFKHQ)DNWRUHQDXFKWUDGLWLRQHOOH$VSHNWHHLQÁLH‰HQ

213

Ludger Brümmer Wie lange hat beispielsweise der Entwicklungsprozess gedauert, der gegenwärtig eine universelle Anwendung des Touch-Screen-Mechanismus zulässt und Objekte nach eigenem Bedarf unmittelbar auf dem Bildschirm verändern lässt, indem man lediglich „zwei Finger auseinander zieht“ – in Analogie zur zuvor nur gedanklich manifestierten eigenen bildlichen Idealvorstellung? Manche dieser Entwicklungen erscheinen in der Retrospektive naheliegend, benötigen jedoch gleichzeitig viel Erfahrung, Einfühlungsvermögen und neue Technologie. :HLWHUH %HLVSLHOH DYDQFLHUWHU (QWZLFNOXQJ VLQG LQ GHU DUWLÀ]LHOOHQ Verwendung von Lasern zu sehen: Durch die Verwendung von LaserLicht können Tänzer bei Berührung der Lichtstrahlen Töne erzeugen und so ihre Bewegung in Klang übersetzen. Ein konkretes Beispiel für den Einsatz neuester Entwicklungen zeigt sich bei der Violinistin Stevie Wishart in der Anwendung eines Controllers, der der Steuerung komplexer Elektronik dient, so dass sie das Stück weiter spielen kann, während die Violine nicht mehr in aktiver Benutzung ist. Todor Todoroff bedient den Computer mit Beschleunigungs- und Positionssensoren und einem Mini-Theremin. Durch die gleichzeitige Benutzung mehrerer Controller erzeugt er, ebenso wie Stevie Wishart, komplexe Muster von Steuerdaten, durch die eine vielschichtige Ansteuerung des Computers erreicht wird und somit ein lebendiges Klangmuster erzeugt werden kann. Der Entwicklung neuer Technologie in der experimentellen Musik VWHKHQ DEHU DXFK 0DVVHQSKlQRPHQH JHJHQEHU GLH (LQÁXVV DXI GHQ Anspruch an Musik im Allgemeinen ausübten. Der Ort des Hörens von Musik hat sich seit der Einführung von Walkman und MP3-Player gewandelt. Zudem wird sehr viel Musik in rein privaten Kontexten produziert, GLHGDQDFKLKUH5H]HSWLRQLQGHQ,QWHUQHWIRUHQÀQGHW$XFKGLHVHQHXHQ Wege, in Kontakt mit Musik zu treten, lassen sich als Interface begreifen, über das mit der Musik interagiert wird. Die Richtung und Qualität dieser Entwicklung lassen sich nur bedingt einordnen. Neben den positiven Aspekten, wie der Steigerung der Kreativität, einer „Independent“Ästhetik und der intensiven Auseinandersetzung mit musikalischen Themen stehen dem auch einige negative Faktoren gegenüber. Einerseits erhöht sich die Verfügbarkeit der Musik, denn manche Player können tausende von Werken enthalten und sind jederzeit einsetzbar. Andererseits jedoch verminderte sich die akustische Qualität bedingt durch die Rezeption per Ohrhörer. Dieses Phänomen steht der Entwicklung in Fernsehen und Kino konträr gegenüber. Hier steigert sich

214

Instrument – Raum – Klang

Abb. 5: Tänzer erzeugen Klänge durch die Berührung von Laserstrahlen

die akustische Qualität der technischen Installationen und der verwendeten Formate. Dem muss die zeitgenössische Kunst ebenfalls Rechnung tragen, sie muss die gegebenen Möglichkeiten immer einen Schritt weiter denken, um neue Möglichkeiten zu entdecken, aber auch, um sich nicht mit einer konservierenden Rolle zu begnügen.

Resümee Seit der Verwendung von klingenden Instrumenten und akustischen Räumen ist Musik unmittelbar mit technologischen Fragen konfrontiert. Entlang der Entwicklungsgeschichte der Instrumente veränderten sich Akustik, Stil und Ästhetik interaktiv mit der Entwicklung der verwenGHWHQWHFKQLVFKHQ0LWWHO'LH(LQÁXVVQDKPHHOHNWURQLVFKHU7HFKQRORJLH auf die Musik im 20. Jahrhundert forcierte gravierende Veränderungen der Beschaffenheit der Instrumente und der Rezeptionsweise der Musik insgesamt. Durch die Brechung des Paradigmas der Kopplung des Instruments an die physikalischen Notwendigkeiten der Klangerzeugung befreite sich der Klang bis zur völligen Entmaterialisierung und bis zur reinen Schwingung in der Luft. Erst dadurch wurde der Einsatz neu entwickelter Interfaces und neuer Interaktionsformen mit dem Klang möglich. Der Raum emanzipiert sich gegenwärtig als eigener Parameter und verändert das klangliche Denken massiv. Konzerträume mit „Lautsprecherkathedralen“ existieren bereits und die Rezeption von Musik entwickelt sich immer mehr zu einem immersiven Sinneserleben.

215

Ludger Brümmer

Der prononcierte Einsatz von Technologie erfasst auch das ästhetiVFKH (PSÀQGHQ GHU .RPSRQLVWHQ GLH DXIJUXQG QHXHU %HGUIQLVVH LKrerseits technische Änderungen evozieren können. Das Verstehen neuer Interaktionsformen mit den „Klangmaschinen“ verändert den Erzeugungsprozess der Musik erheblich. Zu den hoch spezialisierten Instrumentalisten gesellt sich ein neuer Schlag von Interpreten, die ihr ,QVWUXPHQWDOVÁH[LEOHVGHQHLJHQHQ,GHHQIROJHQGHV)XQNWLRQVREMHNWVHhen und dementsprechend kreativ umgestalten. Dieser Umstand wird den Begriff des Virtuosen erweitern, aber auch das Erlebnis der musikalischen Rezeption bereichern. Die Vorstellung von der Klangkathedrale, in der grazile Klänge den seltsamen Bewegungen der Interpreten folgen, macht neugierig auf das Konzert der Zukunft!

Anmerkungen Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. 1. Vgl. auch Dodge / Jerse (1997: 128ff.).

216

Instrument – Raum – Klang

Literatur Blankenburg, Walter (1997): 6WLFKZRUWÅ&KRUXQG&KRUPXVLN´, in: Finscher, Ludwig (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 20 Bände, Kassel: Bärenreiter. Bregman, Albert S. (1990): Auditory Scene Analysis. The Perceptual Organization of Sound, Massachusetts: The MIT Press, S. 320ff. Brümmer, Ludger / Goßmann, Joachim / Ramakrishnan, Chandrasekhar (2006): The ZKM Klangdom (International Conference on New Interfaces for Musical Expression, IRCAM), Paris. Dodge, Charles / Jerse, Thomas A. (1997): Computer Music: Synthesis, Composition, and Performance, 2. Ausg.: Wadsworth. Frisius, Rudolf (1996): Karlheinz Stockhausen. Einführung in sein Gesamtwerk – Gespräche mit Karlheinz Stockhausen, Mainz: Schott. Jaschinski, Andreas et al (1999): Stichwort „François Bayle”, in: Finscher, Ludwig (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 20 Bände, Kassel: Bärenreiter. Meyer, Felix (2006): „'HU3KLOLSV3DYLOOLRQLQ%UVVHO´, in: Meyer, Felix / Zimmermann, Heidy (Hg.): Edgard Varèse. Komponist, Klangforscher, Visionär, Mainz: Schott. Neukom, Martin (2003): Signale, Systeme und Klangsynthese. Grundlagen der Computermusik (Zürcher Musikstudien – Forschung und Entwicklung an der HMZ Zürich 2), Bern: Peter Lang. Roads, Curtis (mit Strawn, John / Abbott, Curtis / Gordon, John / Greenspun, Philip) (1996): The Computer Music Tutorial, Massachusetts: MIT Press. Scherliess, Volker / Fordert, Arno (1997): 6WLFKZRUWÅ.RQ]HUW´ in: Finscher, Ludwig (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 20 Bände, Kassel: Bärenreiter.

217

IV. Kommunikation und Körperlichkeit

Wege der Erneuerung Christian Kellersmann

Das Thema Wege der ErneuerungELHWHWPLUDOV9HUWUHWHUGHU0XVLNÀUPD Universal Music mit den Klassik-Labels Deutsche Grammophon, Decca oder ECM zwei Möglichkeiten der Herangehensweise: 1.) den einfachen Weg – einen launigen Text über den Zustand der Schallplatten- und Musikindustrie anzubieten, denn: Seit fast acht Jahren diskutieren wir über mangelnde Innovationsbereitschaft, beklagen das Verhalten des Konsumenten und stochern ein wenig im Nebel zukünftiger digitaler Geschäftsmodelle herum. Das kennen Sie. Da nicken Sie dann freundlich und ein wenig mitleidig mit dem Kopf. Erneuernd ist das aber nicht wirklich. Oder ich versuche mich 2.) an einem sperrigeren, aber erheblich spannenderen Thema: der echten Erneuerung der Klassik. Ein Thema, das ich seit neun Jahren, also ebenso lang, wie der angebliche Verfall der Tonträgerindustrie andauert, intensiv bearbeite. In dieser Zeit ist kaum ein Tag vergangen, an dem wir uns in meiner Firma nicht auf die eine oder andere Weise die Frage gestellt haben: Wo stehen wir in der Klassik, und wo wollen wir noch hin? Wir erleben zur Zeit eine neue Ära der Klassikdominanz. Dafür gibt es verschiedene Gründe:

Christian Kellersmann - Popmusik, die über Jahre den Anspruch musikalischer Erneuerung erhob, ist auf dem Weg, sich auf postmoderne Zitatverweise und Referenzen der Vergangenheit zu beschränken. Popmusik entwickelt sich mehr und mehr zum großen Musical, das täglich von einer Stadt zur anderen reist. - Gleichzeitig entdecken immer mehr, auch junge Menschen, die große Substanz, die Vielfalt, die Schönheit und die Geschichte klassischer Musik. Einerseits aufgrund des oben beschriebenen Mangels der Popmusik und der daraus resultierenden Suche nach Alternativen. Andererseits aufgrund einer zeitgemäßen Präsentation der Klassik, die sich mittlerweile in den medialen Territorialkämpfen um die Aufmerksamkeit des Konsumenten erheblich besser zu behaupten weiß. - Schließlich erleben wir seit einigen Jahren das Entstehen einer neuen Generation aufregender, junger Stars, die auf sehr hohem künstlerischen Niveau arbeiten und zudem noch attraktive Persönlichkeiten sind. So hat die Klassik in den letzten Jahren wieder ein breites Publikum für sich eingenommen: Klassik ist wieder im Mainstream angelangt. Die neuen Klassik-Stars stehen im Zentrum des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Sei es Anna Netrebko, die mittlerweile in der öffentlichen Wahrnehmung das Niveau der Callas erreicht hat; oder sei es der Schlagzeilenwert von Künstlern wie Rolando Villazon, Simon Rattle, Daniel Barenboim, Anne-Sophie Mutter, Cecilia Bartoli oder Lang Lang. Längst treten diese Künstler nicht nur bei traditionellen AboKonzertreihen auf, sondern erobern auch die größten Arenen des Landes aus eigener Kraft. Auch die erfolgreichste europäische TV-Show Wetten, dass... setzt regelmäßig auf Klassikstars. Das war nicht immer so. Im Jahr 2000, zu Anfang des Jahrhunderts, also vor gerade mal acht Jahren, standen wir als Branche vor der Situation, in den vergangenen zehn Jahren, den 90ern, keinen einzigen Klassikkünstler in der Breite etabliert zu haben. In den 80er Jahren waren es gerade mal zwei gewesen: Anne-Sophie Mutter und Nigel Kennedy. Vorbei waren also die Zeiten, dass klassische Künstler vom Format eines Karajans oder einer Callas den Boulevard und damit das breite Publikum besetzt hielten. Vor acht Jahren fand man die Klassik nur noch im Feuilleton. Das ist mittlerweile anders: Wir können uns wieder darüber freuen, dass sich Anna Netrebko aufgrund ihrer

222

Wege der Erneuerung Schwangerschaft auf ganz natürliche Weise etwas rarer macht. Und mit Villazon, Lang Lang oder, noch relativ frisch, Jonas Kaufmann und Danielle de Niese gibt es eine wahrnehmbare Anzahl hochpopulärer junger Gesichter. Neben der Etablierung neuer Klassik-Künstler, deren Karrieren dank großer künstlerischer Leistung gepaart mit zeitgemäßer PR- und Marketingstrategie gestartet werden konnten, gibt es erfreulicherweise noch einige weitere erneuernde Akzente: 1.) die Yellow Lounge. Wir verlegen den Konzertsaal dorthin, wo junge Leute sich gerne aufhalten: in die coolsten Clubs der Stadt. Bewusst haben wir es vermieden, die übliche Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Es gibt keine Presseankündigungen, keine Anzeigen, Informationen sind nur auf der Webseite oder per Flyer verfügbar. Mund-zu-Mund-Empfehlungen sind hier das beste PRWerkzeug. Die Yellow Lounge-Veranstaltungen sind jedes Mal wieder faszinierend: Ein recht junges Publikum schart sich um einen Künstler, der es gewohnt ist, ansonsten mehr oder weniger huldvoll vor einem stummen Silberteppich zu spielen. Nun steht ihm plötzlich das Publikum auf den Füßen. Und das schönste ist: Die Künstler sind begeistert von dieser /HEHQGLJNHLWRE+HOHQH*ULPDXG$QGUHDV6FKROORGHU$QQH6RÀHYRQ Otter. Dazu sorgen DJs für, oft sehr ambitionierte, klassische Töne aus dem Neue-Musik-Kosmos, VJs schaffen mit ihren Projekten den optischen Rahmen. Mittlerweile hat sich das Format etabliert, und es gibt bereits HLQLJH.RSLHQ.ODVVLVFKH0XVLNK|UWPDQLPPHUKlXÀJHUEHLZLFKWLJHQ Events oder auch in kleinen schicken Bars und Cafés. Vor acht Jahren war das noch undenkbar (siehe www.yellowlounge.de). 2.) Eine andere Form der Jugendarbeit bringt ebenfalls Erneuerung. Ob die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle, ob andere innovative Orchester hierzulande oder das Simon Bolivar-Jugendorchester aus Venezuela: Wenn sich ein klassischer Klangkörper öffnet, erhält die klassische Musik Zulauf von einem neuen, jungen Publikum. Die Faszination des ,großen‘ Klangs ist ungebrochen. Er muss sich nur auf frische Weise präsentieren. Soweit zu den erfreulichen Aspekten der Erneuerung. Ab jetzt geht es um den Erneuerungs-Stau, also darum, wo wir noch eine Menge zu tun haben.

223

Christian Kellersmann

Wir können gleich mit den Orchestern weitermachen. Was wird dem Publikum inhaltlich geboten? Was kommt zur Aufführung? Ein Blick auf die Programme der großen Konzerthäuser und Opern verrät uns: Das deutsche Konzertleben rutscht mehr und mehr ins Museale. Einige Beispiele: Im aktuellen Programm der Berliner Philharmoniker gibt es 123 Konzerte von 47 Komponisten. Darunter nur sieben lebende Komponisten mit 11 Werken. Ähnlich das Verhältnis bei den Münchner Philharmonikern: Dort werden 116 Werke von 50 Komponisten aufgeführt. Davon 10 Werke von 10 lebenden Komponisten. Noch krasser ist das Verhältnis bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden: 84 Werke von 35 Komponisten werden präsentiert. Nur eine Komponistin hat die Chance, eine Aufführung ihres Konzertes mitzuerleben. Diese Liste könnte ich noch beliebig fortsetzen. Vereinzelte Neue Musik-Festivals ändern an diesem Bild wenig. $XFK GLH 6FKDOOSODWWHQÀUPHQ XQWHUVWW]HQ GLHVHQ 7UHQG 1XU HLQ Bruchteil der Veröffentlichungen präsentiert zeitgenössisches Repertoire, nur sehr wenige Labels bemühen sich aktiv darum. Ich bin froh, dass wir bei Universal Music mit ECM zumindest ein Label an uns gebunden haben, das wegweisende Einspielungen neuer Komponisten hervorgebracht hat und dies auch weiterhin tun wird. Aber selbst wenn dieses neue Repertoire als Tonträger veröffentlicht wird, ist es fast unmöglich, die Aufmerksamkeit der Fachmedien zu erhalten. Einspielungen lebender Komponisten wie Arvo Pärt, Steve Reich, John Adams oder Gavin Bryars haben bis heute beispielsweise keinen Preis der deutschen Schallplattenkritik erhalten. Demgegenüber stehen etwa 4 Preise für Heinrich Schütz-Einspielungen, 12 für Franz Schubert und gar 27 für Beethoven-Einspielungen. Bei den – noch immer zu raren – Aufnahmen zeitgenössischer Werke durch unsere großen Labels muss ich immer wieder feststellen, wie schwer sich die Experten im Feuilleton mit zeitgenössischen Werken tun. Nur sehr vereinzelt wird ein Künstler wie Oswaldo Golijov – immerhin in den USA mit einem Grammy ausgezeichnet – in den Medien erwähnt. Die Torsten Rasch-Komposition Mein Herz Brennt, immerhin von John Carewe mit den Dresdner Sinfonikern, René Pape und Katharina Thalbach eingespielt, blieb in der Fachpresse gänzlich unberücksichtigt. Wesentlich einfacher ist es, die Aufmerksamkeit für die x-te Einspielung eines Standardwerkes von einem großen Star zu bekommen. In langen Aufsätzen wird dann die spielerische, interpretatorische Leistung einzelner Musiker beleuchtet und bewertet. Mit neuen Kompositionen und deren Einordnung mag man sich da lieber nicht zu eindringlich beschäftigen.

224

Wege der Erneuerung $OOHQIDOOV GLH VR JHQDQQWH $YDQWJDUGH ÀQGHW LQ 'HXWVFKODQG QRFK GDV Gehör von einigen Feuilletonisten. So erleben wir auf diversen kleinen Neue Musik-Festivals noch Uraufführungen, die allerdings von der Öffentlichkeit vollkommen unbemerkt bleiben und somit auch keine Chance haben, das Bild der neuen Klassik zu prägen. Der amerikanische Komponist Jeffrey Cotton schreibt in seinem Aufsatz Der Todeskampf der Modernen (Deutschen) Musik zu dieser traurigen Situation: „Bis zum heutigen Tag aber ist die deutsche Musikwelt nicht be strebt, zum Nächsten fortzuschreiten, was immer dies auch sein mag. Stattdessen hat sie sich bequem in einer Ästhetik eingenistet, die kompromisslos atonal, ja aharmonisch ist und der jede Linie und jede Form fehlt. Die Ironie liegt darin, dass schon seit fast hundert Jahren auf diese Weise komponiert wird, die betreffenden Komponisten aber immer noch glauben, dass ihre Musik avantgardistisch sei (und interessanterweise, dass ihre Zugehörigkeit zur Avantgarde an sich ein Selbstzweck sei).“ (www.jefferycotton.net) Natürlich haben wir in Deutschland eine besondere Situation. Der krasse Einschnitt in das deutsche Kulturleben ab 1933 durch die Nazis hat zur Folge gehabt, dass ein sehr vielfältiges, oft kontroverses und auch sehr modernes Musikleben auf ein Minimum heruntergefahren wurde. Kulturelle (LQÁVVHGLHQRFKLQGHQHU-DKUHQQHXHPXVLNDOLVFKH)RUPHQKHUYRUbrachten, wurden unterbunden. Nach dem Krieg entwickelten sich dann zwei Ströme. Zum einen gab es das traditionelle Klassik-Publikum, das sich an den populären Kompositionen der Vergangenheit orientierte, und zum anderen einen elitärern Kreis von Komponisten und Musikwissenschaftlern, die jedoch nie Relevanz bei einer größeren Zuhörerschaft besaßen, diese fehlende Relevanz schließlich aber zum Qualitätsmerkmal erhoben. Der 1948 verstorbene Komponist Ermanno Wolf-Ferrari bemerkte in einem Brief sarkastisch: „Ich scherze nicht, wenn ich sage, dass es beinahe ein Unrecht ist, als Komponist noch zu leben. Bis 1800 führte man nur Lebende auf [...] ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, dass heutzutage mindestens 2/3 aller Kräfte den Toten gewidmet sind. Wenn es so weiter geht, muss man überlegen, ob Komponisten nicht lieber tot auf die Welt kommen sollen.“ Wenn ich mir die aktuellen Konzertprogramme anschaue, lässt sich schnell ausrechnen, dass die Aufführungen zeitgenössischer Werke heute nur noch einen Bruchteil der damaligen Zahlen ausmachen. Wir liegen bei gerade mal fünf Prozent. Sicherlich hinkt der Vergleich mit der bildenden Kunst. Dennoch ist es faszinierend zu beobachten, mit welch breitem öffentlichen Interesse

225

Christian Kellersmann

zeitgenössische Kunst mittlerweile in der Öffentlichkeit verfolgt und diskutiert wird, ohne an inhaltlicher Komplexität zu verlieren. In der Musikwelt hingegen ist es hin und wieder die Neuinszenierung einer Wagner- oder Mozart-Oper, die mit großem medialen Aufschlag begleiWHWZLUG'RFK8UDXIIKUXQJHQDNWXHOOHU.RPSRVLWLRQHQÀQGHQPHLVWKLQter verschlossenen Türen statt, selbst Top-Stars wie Anne-Sophie Mutter, 6LPRQ5DWWOH$QQH6RÀHYRQ2WWHURGHU*LGHRQ.UHPHUGLHVLFK]HLWJHnössischer Musik verschrieben haben, erhalten wenig Unterstützung. Hier liegt nun die große Chance, aber auch große Herausforderung der klassischen Musikwelt: Es muss uns gelingen, zeitgemäße Inhalte und Kompositionen einem großen Publikum zugänglich zu machen. Nur daGXUFKOlVVWVLFKGLHLQKDOWOLFKH5HOHYDQ]NODVVLVFKHU0XVLNQHXGHÀQLHUHQ was wiederum zu langfristiger kultureller Relevanz führen wird. Ich glaube nicht, dass es an kompetenten, interessanten Komponisten mangelt. Die musikalische Vielfalt aus aller Welt, die heutzutage dank globalisierter Medien überall zugänglich ist, schafft ungeahnte Möglichkeiten, interessante, zeitgemäße klassische Musik hervorzubringen. Es geht deshalb jetzt darum, - zeitgenössische Komponisten zu entdecken und zu fördern - neue Plattformen zu schaffen, um neue Kompositionen einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen - bekannte Künstler und Orchester dafür zu begeistern, neue Musik aufzuführen - neue Kriterien in der Rezeption zeitgenössischer Klassik zuzulassen. Wenn es uns gelingt, diesen neuen Weg zu beschreiten, sehe ich sehr hoffnungsvoll in die Zukunft des klassischen Musikbetriebes. Denn dann wird die inhaltliche Relevanz der Klassik eine neue Qualität erhalten: Die Komposition wird wieder zum Spiegelbild unserer Gesellschaft. Klassik wird aufgrund ihrer Aktualität neu und erneuernd erlebbar.

Anmerkung Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.

226

Kanapees und Eisgetränke Peter Schleuning

Zwei Zitate zu Beginn. „Leute, die bei der alten Musik grau geworden sind, können, wie VLHVDJHQDQNHLQHUDQGHUQ*HVFKPDFNÀQGHQ,FKJODXEHHVLKnen gern. Die Gewohnheit kann den natürlichsten Geschmack verdrängen.“ (1781) Im Jahre 1781, aus welchem diese Sätze stammen, war das Eintreten für zeitgenössische Musik unproblematischer als heute. Als „alte Musik“ dürfte solche aus dem 17. Jahrhundert gegolten haben, vielleicht auch schon solche von Johann Sebastian Bach, obwohl dieser bereits wieder im öffentlichen Ansehen zumindest der Kenner war. Dem „natürlichsten Geschmack“ dagegen kam die Musik Haydns und Mozarts entgegen. Wenn nun heute einer der Konzert-Senioren wie ich selbst mit Haydn, Mozart, Beethoven und Mahler „grau geworden“ ist und man ihm entgegen hielte, diese Gewohnheit habe bei ihm den „natürlichsten Geschmack“ für Stockhausen, Cage oder Hans Otte „verdrängt“, ganz zu schweigen von den neuesten Erzeugnissen der Rapper-Szene? Müsste er vor Scham erröten, oder würde er antworten: „Das ist ja auch keine Musik mehr?“ „Nichtkenner von beiderlei Geschlecht besuchen ein Concert blos aus bon ton, langer Weile, Begierde zu sehen und gesehen zu werden, und diesen ist die Nothwendigkeit lange zu zuhören und zu schweigen allzu unbehaglich [...]. Daher löst sich das Schlos ihres

Peter Schleuning Mundes gemeiniglich nach drei angehörten Stükken, und alle übrigen werden verplaudert.“ (1790) Diese Sätze sind auch schon über 200 Jahre alt. Sie entstammen einer Zeit, als im Konzert bereits Sitzbankreihen eingeführt wurden und die Anfänge unserer monothematischen Programme zu beobachten sind: einerseits tatsächlich schon vereinzelt die Programmfolge Sinfonie – Konzert – Sinfonie (Justin Heinrich Knecht 1790) anstatt der sonst verbreiteten bunten Folge aus Instrumental- und Vokalstücken, andererseits schon hin und wieder das gedruckte Konzertprogramm, das – wie es damals hieß – das „Urteil leiten“ sollte. Die Konzertpause gab es auch schon. In ihr sollten die im Text angesprochenen „Nichtkenner“ ihre nicht-musikalischen Bedürfnisse kanalisieren. Ein solcher Blick auf die Frühzeit des öffentlichen Konzertes, eine solche Rückbesinnung auf die Ursprünge des Zentralthemas, ist lohnend, sowohl weil vieles so bedrückend gleich geblieben ist, als auch weil manches vom experimentellen Schwung der Anfangszeit nicht weiter verfolgt worden ist.

Begriffslosigkeit Für eine Erklärung, zumindest für ein Verständnis der Misere der „klassischen“ Musik in der öffentlichen Vermittlung und Wahrnehmung, dürfte es unterschiedliche Schlüssel geben. Einen der wesentlichsten, eine der Grundlagen für eine Erklärung, könnte eine Antwort auf die Frage ergeben, warum der Umgang mit älterer Kunst und ihrer Präsentation in anderen Kunstarten eine unbefragte und übergreifende Selbstverständlichkeit darstellt, in der Musik hingegen nicht. Der Museumsbesuch, der Kauf von kommentierten Bildbänden und Ausstellungskatalogen, der Besuch von Lesungen, die Anschaffung von Ausgaben und Interpretationen klassischer Literatur sind weit verbreitet und unterliegen kaum den für Musik genannten Sorgen und Zweifeln. Dies schließt auch den Umgang mit zeitgenössischen Produkten von Bild und Wort ein, ebenso die Anteilnahme eines jüngeren Publikums. Wer je z.B. in der Kunsthalle in Emden war, wird dieses rege allgemeine Interesse über die Generationen hinweg bestätigt gefunden und vielleicht mit Bedenken einen Vergleich zur Atmosphäre während einer Konzertpause angestellt haben. Wenig hilfreich zur Beantwortung der Frage sind wohl die zahlreichen musikpsychologischen und -soziologischen Untersuchungen, deren

228

Kanapees und Eisgetränke 3RODULWlWVSURÀOH LPPHU ZLHGHU HUJHEHQ GDVV MQJHUH +|UHU JHJHQEHU klassischer Musik weniger aufgeschlossen sind als ältere. Ein Blick in die Konzertsäle kann solche Untersuchungen ersetzen, solange sie nicht darauf aus sind, die Hintergründe dieses Phänomens zu klären, und zwar nicht durch Befragung der Menschen, sondern der Institutionen. Auch die Aufspaltung des Kompositions- und Konzertbetriebes in Hoch- und Unterhaltungskunst seit dem frühen 19. Jahrhundert, bis heute ausgereift zum Widerspruch zwischen E- und U-Musik, dürfte wenig Einleuchtendes bieten, da es diese Entwicklung in anderen Künsten HEHQVRRGHUlKQOLFKJLEWGHQNWPDQDQ&RPLFV8QWHUKDOWXQJVÀOPRGHU Trivialroman sowie deren Weiterführung im Fernsehen und im Videospiel. Nur: Der Comic-Fan geht eher einmal ins Museum – u.a. weil es dort auch einmal eine Ausstellung über Wilhelm Busch gibt – als der Rockfan ins Sinfoniekonzert. Denn dass es dort einmal eine Retrospektive von Scott Joplin gab, war ihm bisher unbekannt. Etwas näher kann man dem Phänomen vielleicht rücken, wenn man die Begriffe von Begriffs- und Körperlosigkeit ins Auge fasst. Die Begriffslosigkeit von Konzert, sprich sinfonischer Musik, mag eine Befreiung des Individuums von textlicher Gängelung bedeuten – jedenfalls hat diese Meinung vor 250 Jahren den Siegeszug der instrumentalen Sinfonik befördert – in Deutschland und Österreich, nicht in Italien oder Frankreich! Aber sie bedeutet auch eine Kommunikationssperre, einen Verlust an Denk- und Austauschmöglichkeiten, wie sie für die anderen Künste konstitutiv sind, deren Objekte sich verbal wesentlich leichter beschreiben und diskutieren lassen. (LQ %XFK PLW 1RWHQEHLVSLHOHQ LVW SUDNWLVFK XQYHUNlXÁLFK 8QG HLQ Buch ohne Notenbeispiele müsste in einer Sprache verfasst sein, die entsprechend dem, was in anderen Künsten möglich und üblich ist, im Wesentlichen mit Alltagsbegriffen arbeitet. Dies ist mit dem Ziel einer halbwegs genauen Beschreibung von Musik nicht möglich, will man nicht zurückfallen in die Hermeneutik älterer Konzertführer, wo die Nachtigall in Gestalt des Oboensolos jubiliert. Eine musikalische Spielart des „Literarischen Quartetts“ ist ebenso wenig möglich wie wünschenswert. Man kann wenig ausrichten, indem man sagt oder schreibt, die Erste Sinfonie von Beethoven werde mit einem Spannungsakkord eröffnet, wie er auch am Beginn der Prometheus-Ouvertüre steht. Das wäre so, als sagte man, der berühmte alte Bärtige bei Rembrandt trage einen Helm mit einer leuchtenden Farbe, wie sie auch andere Helme ziere. Das Wort Gold muss

229

Peter Schleuning fallen. Und entsprechend das Wort Sekundakkord im Falle von Beethoven. Musik braucht Fachbegriffe zur genaueren Beschreibung. Und sowie sie fallen, sind 99 Prozent interessierter Hörer und Leser ausgeschlossen. Da kann auch kein noch so spezialisierter Gymnasialunterricht abhelfen. Und meiner Meinung nach sollte er das auch nicht. Dies gilt auch für öffentliFKH9RUWUlJHEHU0XVLNGLHDXVJXWHP*UXQGVRVHOWHQVWDWWÀQGHQ%HL den so genannten Einführungen in Konzert- und Opernvorführungen und bei gedruckten Konzertprogrammen ist damit die Garantie für eine er]ZXQJHQH 2EHUÁlFKOLFKNHLW XQG $OOJHPHLQKHLW JHJHEHQ 'HU 6FKOXVV OLHJW QDKH 6WDUUH XQG 3XEOLNXPVÁXFKW LP .RQ]HUW VHLHQ DXIJUXQG GHU Begriffslosigkeit der sinfonischen Musik unabdingbar, systemimmanent. Aufsehenerregend ist dabei eine Forderung von Carl Philipp Emanuel Bach (1777), des zweitältesten Sohnes von Johann Sebastian Bach, man solle die Liebhaber durch Analysieren von Meisterwerken heranbilden, eine wunderbare Utopie des frühen Bürgertums, überschießend von Zukunftshoffnung und Bildungsimpetus, aber notwendig scheiternd an Menschen und Institutionen. Ob das heute noch so sein muss, soll zu Ende besprochen werden. Noch nicht einmal die lebenslangen Bemühungen von Hector Berlioz um etwas vergleichsweise so Bescheidenes wie eine „Emanzipation des Rhythmus“ haben zu irgendeinem sichtlichen Erfolg zu seinen Lebzeiten oder der näheren Folgezeit geführt.

Körperlosigkeit Was Körperlosigkeit betrifft, so kann man sich nicht wundern, dass im =HLWDOWHUYRQ-XJHQGOLFKNHLW)LWQHVV-RJJLQJ(YHQWVXQG%LOGHUÁXWGDV stumme Ausharren in der Sitzreihe mit dem Blick auf weiße Wände und schwarz gekleidete Arbeitende keinen Besucheransturm auslöst. Dass dieses Problem schon immer bestand, machte eines der beiden anfänglichen Zitate aus dem 18. Jahrhundert deutlich, bezogen auf die so genannten Liebhaber, also auf das Gros der potenziellen Konzertbesucher, die Nicht-Kenner, Nicht-Fachleute. Zusätzlich führt die Standardisierung des Konzertprogramms zum bereits erwähnten Dreischritt Sinfonie bzw. Ouverture – Solokonzert – Sinfonie zur Standardisierung des Verhaltens, zu Monotonie und gesellschaftlicher Ritualisierung. Als ich einen Orchesterkollegen fragte, ob er sich an ein Konzert vor Jahren erinnere, bei dem eine der ausgezeichneten Sinfonien von Louise Farrenc aufgeführt worden war, antwortete er: „Nein, weiß ich nicht mehr. War das das Konzert, wo jemand in der Satzpause klatschte?“

230

Kanapees und Eisgetränke Hier zur Abhilfe ein Vorschlag aus dem späten 18. Jahrhundert, der %HDFKWXQJÀQGHQVROOWHXQGVFKRQGDPDOVNHLQH%HDFKWXQJIDQG „In einem Auditorio ist unter 50 nicht einer, der im Stande wäre, ein Stück das erst mahl zu fassen, mithin Gefallen und UnterhalWXQJGDUDQ]XÀQGHQXQGZHLOPDQGDVQLFKWIDQGÀQJPDQDQ zu plaudern [...]. Man versuche es, auf mein Wort! wenn man Herz hat, und bringe ins zweyte dritte Concert dieselben Sachen hinterHLQDQGHUXQGPDQZLUGLFKZHWWHÀQGHQGD‰PLWGHP]ZH\WHQ drittenmahle die Aufmerksamkeit sehr gestiegen ist, und endlich deutliche Spuhren des Vergnügens auf solchen Gesichern sitzen, die nie dergleichen gezeigt hatten. Daß ich hier kein Auge auf die Spieler habe, noch von Wiederholungen der Richtigkeit der Execution halber, oder sogenannten Proben, spreche, sieht jeder; gern würde ich diese eben so dringend, und als unumgänglich nöthig zur wahren Execution eines Stücks, empfehlen, wenn solches nicht schon unzählige mal von andern geschehen wäre.“ Körperlosigkeit betrifft auch das Problem des Sprechens bei laufender Musik: Husten ist Silber, Schweigen ist Gold. Im Rockkonzert kann man freie Bewegung und Sprechen während der Musik erleben. Dabei wird zugehört, und Kenner, also Fachleute, sind in großer Zahl anwesend. Vorschläge zur Abänderung lassen sich machen, stets jedoch unter einer Voraussetzung, die offenbar nicht allgemein bewusst ist: Man soll nicht für die „klassische“ Musik werben. Man muss um das Publikum werben! Das war am Beginn der Entwicklung des öffentlichen Konzerts noch allgemein bewusst. Allen Konzertunernehmern in dieser Frühphase, als man noch keine Erfahrung mit Konzert und anonymem Publikum hatte, also am Beginn des Warenmarktes auf dem Felde der Musik, war vollkommen klar: Das öffentliche Konzert ist ein Risiko, das nur zu überwinden ist, wenn man nicht die Musik als Objekt des Interesses hervorhebt, sondern das Publikum. Beispielhaft für heutige Bemühungen ist ein Bericht von 1783 aus Schweinfurt. Der Konzertunternehmer gibt sich nämlich „[...] viel Mühe, um die Beförderung der Kunst und das gesellschaftliche Vergnügen in seiner Stadt. Im Sommer gibt er seinen Gartensaal dazu her, und sorgt sogar dafür, daß die auswärtigen Musici das Entreegeld erhalten, daß ein benachbarter Büttner [Fassmacher] den Trankverlag über sich nehme, daß es an Ruheplätzen und Kanapees nicht fehle und sogar unweit des

231

Peter Schleuning Gartenhauses eine Eisgrube sey, worin die Getränke aufbewahrt werden können. Da ist doch wohl zu wünschen, daß das Schweinfurtische Publikum, dem die Musik von mehreren Seiten so annehmlich gemacht wird, diesen guten Willen des Herrn Brenner dankbarlich erkenne und benutze.“ Wohlgemerkt: Die Getränke sind umsonst. Man braucht die Werbungsgegenstände kaum umzubenennen, um die Gegenwart in den Blick zu bekommen. Man kann sich jene Lockerheit im Konzert der Frühphase ausmalen, als diese Veranstaltungen noch teilweise als „Assemblée“ aufgefasst und erlebt wurden. Kein Wort von der Musik als Subjekt, dem sich die Hörer als Objekte nähern sollen. Sie selbst sind die Subjekte, und die Musik ist das Objekt, an dem sie sich vergnügen und bilden mögen, wenn sie genügend umworben werden. Spätestens seit Beethoven hat sich das Verhältnis umgekehrt. Aber im Bericht aus Schweinfurt taucht im Folgesatz dann doch noch die andere Seite auf, diejenige des Schutzes der Kunst, wie sie später zum allgemeinen schweigenden Insichgekehrtsein führt: „... und daß nicht [...] Kinder, die ohne Begleitung der Eltern oder Hofmeister [Hauslehrer] kommen, und allerhand Gesindel, bei den Concerten und Proben durch Schäkern, Herumlaufen und Lachen Störungen machen.“ Dieser Teil des Publikums, das „Gesindel“, geht dann nicht mehr ins „klassische“ Konzert, sondern wandert ab in die Unterhaltungs- und Tanzkonzerte oder in Operette und leichte Oper, entzieht also auf die Dauer dem Kunstkonzert einen bedeutenden Teil der Anhängerschaft. Genau jener Teil ist es auch, der heute durch Abwesenheit und Ablehnung fehlt. Ihn oder wengstens Teile davon zurückzugewinnen, dürfte eine der Hauptfragen sein, die zu diskutieren und nicht einfach mit dem Argument vom Tisch zu wischen sind: „Die kommen ja sowieso nicht!“ Ein solcher Gedanke verhindert von vornherein alle Bemühungen. Die „Moldau“ hören alle gern, aber nicht unbedingt im Konzertsaal.

Die Utopie des gebildeten Hörers Zurück zu Carl Philipp Emanuel Bach und seinem Vorschlag zur Liebhaber-Bildung, zuvor als Utopie bezeichnet, nun aber akzentuiert unter dem Gedanken an Bemühungen um zukünftige Konzertkultur, das heißt auch um Bemühungen, die Beziehungen zwischen Aufführenden und Hörenden zu aktivieren. Carl Philipp Emanuel Bach 1777 an den Freund Johann Nikolaus Forkel, der 1802 die erste deutsche Biographe

232

Kanapees und Eisgetränke Johann Sebastian Bachs veröffentlichte: „Nach meiner Meynung, NB [nota bene = wohlbemerkt] um Liebhaber zu bilden, könnten viele Dinge wegbleiben, die mancher Musicus nicht weiß, auch eben nothwendig nicht wißen darf [muss]. Das Vornehmste, nehml. das analysieren fehlt. Man nehme von aller Art von musicalischen Arbeiten wahrhafte Meisterstücke; zeige den Liebhabern das Schöne, das Gewagte, das Neue darin, man zeige zugleich, wenn dieses alles nicht drinn wäre, wie unbedeutend das Stück seyn würde; ferner weise man die Fehler, die Fallbrücken die vermieden sind; u. besonders in wie fern einer vom ordinären abgehen u. etwas wagen könne u.s.w.“ Wie auch immer man diese Ballung von utopischer Begeisterung und frühbürgerlichem Impetus einschätzen mag – übrig bleibt doch der von zentraler Wichtigkeit ausgezeichnete Anspruch musikalischer Volksbildung, der zwar im frühen 19. Jahrhundert noch wach gehalten wurde – Namen wie Nägeli, Silcher sind dabei zu nennen –, dann aber kontinuierlich an Kraft abnahm und im besten Falle ins Fachmusikalische absank. Die Aufbruchstimmung der Aufklärungszeit hatte sich im Strudel von Musikindustrie und Konkurrenzwesen nicht erhalten können. Jedoch bleibt der Anspruch nach wie vor bestehen. Die Forderung, Programme zweimal direkt nacheinander aufzuführen, ist ein Beispiel dafür, heute manchmal noch im Laienorchester bestätigt, selbst auch als 'RSSHODXIIKUXQJLPRIÀ]LHOOHQ.RQ]HUWEHWULHEDQ]ZHLDXIHLQDQGHUIROJHQGHQ7DJHQRKQHGDVVGLHVHV'RSSHODOVYHUSÁLFKWHQGH(LQODGXQJLP Abonnement enthalten wäre. Nehmen wir die Forderung des Bach-Sohnes ernst, auch was die darin enthaltenen pädagogischen Einzelheiten betrifft, so kann man doch nur einen Schluss für unser Konzertwesen daraus ziehen, einen Schluss, der trotz praktischer Möglichkeiten eine allgemeine Abwehr erzeugen dürfte, wenn er auch als Konsequenz der Gedanken unserer eigenen bürgerlichen Frühzeit nicht wichtig genug genommen werden darf. Es wird notwendig sein, dass die Orchester – egal welcher Art – parallel zu ihren Proben und Aufführungen ein System von Bildungskursen einrichten, die nicht im Sinne so genannter Einführungsvorträge lediglich über das Leben der Komponisten und die Umstände der Kompositionen

233

Peter Schleuning informieren, sondern nach den Absichten des Bach-Sohnes die Machart der Stücke erklären, was auch Grundbegriffe und Grundkenntnisse von Musik- und Formenlehre einschließt. Jedoch schließt es auch ein, dass derartige Kurse nicht allein für das Publikum gedacht sind, sondern ganz besonders auch für die Orchestermitglieder. Es geht nicht an, dass die Hälfte der Musizierenden die Nebenleute fragt, was gemeint ist, wenn der Dirigent sagt: „Wir beginnen bei der Reprise“ oder „Kurz nach Buchstabe B beim Septakkord“, oder dass, wenn ein informiertes Mitglied auf die Ausführung einer Verzierung hinweist, gleich die ganze Umgebung nörgelt: „Ach, der Herr Musikwissenschaftler!“ Die Musikkultur fällt auf diesem Niveau noch hinter den Stand von &DUO 3KLOLSS (PDQXHO %DFK ]XUFN VR ZLH GLH 0XVLN MHW]W KlXÀJ RKQH Sachkenntnis von Hörern und Spielern ausschließlich als schöner Rausch oder im technischen Bemühen an uns vorüber geht. Sicherlich wird es schwierig sein, dergleichen zu organisieren und vor DOOHP]XÀQDQ]LHUHQ$EHUZHQQGDV$UJXPHQWGHV*HOGHV]lKOHQVROOWH dürfte man gar keine Musik mehr aufführen, auch ohne Bildungskurse. Worum es bei der Forderung geht, ist ein ernst zu nehmendes Bemühen um Sachkenntnis von Ausführenden und Hörenden im Umgang mit den aufzuführenden Werken, im Umgang mit musikalischer Spiel- und Hörübung, die dem zumindest ansatzweise gewachsen ist, was Pioniere unserer Musikkultur, mithin die Begründer unseres Konzertwesens, für unabdingbar hielten – damals utopisch, heute realistisch.

Anmerkung Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.

234

Kanapees und Eisgetränke

Literatur Bach, Carl Philipp Emanuel (1994): Briefe und Dokumente. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Ernst Suchalla, Band 1 (Veröffentlichungen der Johann Jungius-Gesellschaft, Nr. 80), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bossler, Philipp Carl (Hg.) (1790): Musikalische Real-Zeitung, Band 3, Speyer, S. 61f. Cramer, Carl Friedrich (Hg.) (1783): Magazin der Musik, Band I/1, Hamburg, S. 732f. Hiller, Johann Adam (nach Chabanon) (1781): Über Musik und deren Wirkungen, Leipzig, S. 198. Mattheson, Johann (1739): Der Vollkommene Capellmeister. Hamburg, S. 345. Reichardt, Johann Friedrich: Musikalisches Kunstmagazin, Band 2, Berlin 1791, S. 5. Schleuning, Peter (2000): Der Bürger erhebt sich. Geschichte der deutschen Musik im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar: Metzler. Schleuning, Peter (2006): „Volksbildung und Avantgarde im 18. und 21. Jahrhundert – Von Carl Philipp Emanuel Bach über Hanns Eisler zur aktuellen Musikpädagogik“, in: Heister, Hans-Werner / Stroh, Wolfgang Martin / Wicke, Peter (Hg.): Musik-Avantgarde. Zur Dialektik von Vorhut und Nachhut. Eine Gedankensammlung für Günter Mayer, Oldenburg: BIS, S. 163-175.

235

V. Dramaturgie und Inszenierung

Musikkurator und RegieKonzert Markus Fein

Hitzacker, 5. August 2005, Sommerliche Musiktage 1. Nacht liegt über dem Konzertsaal. 23.00 Uhr. Leise, fragile, irrlichternde, traumumwobene Klänge auf der Bühne. Mit Jörg Widmann ein Nacht-Programm zusammengestellt: Henri Dutilleux’ Traummusik Ainsi la nuit, die Gesänge der Frühe von Robert Schumann, Nachtgesang aus Max Bruchs Acht Stücke für Klarinette, Bratsche und Klavier, von Jörg Widmann, wie Schumann ein Nachtschwärmer, das Nachtstück für Klarinette, Cello und Klavier, Widmann selbst liest Texte zur Nacht von Nietzsche und Novalis. Alle Musiker sind auf der Bühne, das dicht komponierte Programm entspinnt sich in sanften Übergängen, ohne Applausunterbrechung. Bei der Mitternachtssuppe für alle nach Konzertende: müde, aber leuchtende Augen der Konzertbesucher. Berliner Philharmonie, Mai 2006. Chance und Experiment: zehn junge Komponisten aus den neuen EU-Ländern wurden beauftragt, Zwischenmusiken zu Schuberts Winterreise zu komponieren. Roman Trekel singt. Intermezzi für Instrumentalensemble unterbrechen den „schaurigen“ Liederzyklus, halten die Handlung an und kommentieren, übermalen die Musik Schuberts. Alt und Neu im wechselseitig sich beleuchtenden, befragenden Dialog. Nur wenige Achsel zuckende Schubert-Päpste im Publikum, ansonsten große Begeisterung. In der Künstlergarderobe diskutieren noch lange nach Konzertende die lettische und die slowenische Komponistin über den „Lindenbaum“.

Markus Fein Hitzacker, August 2004. Ein ähnliches und doch ganz anderes Konzert: Verwoben. Auf Luigi Nonos Streichquartett Fragmente Stille. An Diotima antworten Madrigale von Carlo Gesualdo und Luca Marencio sowie niederländische Vokalmusik des 15. Jahrhunderts. Nuria Nono, die Witwe des Komponisten, hatte grünes Licht gegeben: Ja, wir dürften das Streichquartett an mehreren Stellen anhalten, um die von Nono so geliebten 0DGULJDOHXQG&KDQVRQVHLQ]XÁHFKWHQ6WDXQHQGHV.RQ]HUWHUOHEQLV+LHU wie dort eine der Zeit enthobene, schwebende Musik. Das Casal Quartett und das Orlando di Lasso Ensemble beschließen nach der Uraufführung, die Idee weiterzutragen und noch oft gemeinsam aufzutreten. Hitzacker 2005. Das neu eingeführte Konzertformat, der Festival Walk, schlägt sofort ein, 400 Konzertbesucher lassen das Konzert hinter sich und gehen hinaus in die Natur, auf Entdeckungsreise. 2008 wird der Festival Walk in den Dötzinger Forst führen, zu den Resten einer gesprengten Bunkeranlage, die den Nazis als geheimes Tanklagersystem gedient hatte. Chöre und Blasorchester aus der Region, die sich in einer Geschichtswerkstatt mit diesem Ort befasst haben, werden in der fußballplatzgroßen, ruinenhaften Bunkeranlage u.a. Kagels Märsche um den Sieg zu verfehlen und Mauersberges Trauermotette Wie liegt die Stadt so wüste aufführen. Hitzacker, August 2007, unweit des Konzerthauses: der Weinberg, ein Hochplateau mit kilometerlangem Blick in die Elbtalaue. Es ist 4.30 Uhr am Morgen, noch ist es dunkel, das Publikum steht unten an der Elbe und hört Klänge aus der Ferne, die von der anderen Uferseite herüberwehen und langsam näherkommen. Mit dem Tagesanbruch wandern die Klänge der 70 Bläser nach oben auf den Weinberg. Nach 90 Minuten, mit der aufgegangenen Sonne, endet die Auftragskomposition des Schweizer Komponisten Daniel Ott. Über 400 neugierige Festivalbesucher frühstücken anschließend gemeinsam auf dem Weinberg und lassen Gehörtes und Erlebtes nachklingen. Göttingen 2006. Experiment Geschwindigkeit. Ein ganzes Festival im Zeichen von Zeit, Tempo und Entschleunigung. Der Veranstaltungsort: Die Lokhalle, ein altes Industriedenkmal und Symbol der Geschwindigkeit. Das Göttinger Sinfonieorchester spielt Honeggers dahinstürmende Lokomotivenmusik 3DFLÀF, Stan Nadolny liest aus der Entdeckung der Langsamkeit, ein Themenparcours mit Installationen, Aktionen, Hör- und Filmecken, Kurzauftritten und Vorführungen lädt tagsüber die ganze Stadt in die Lokhalle ein. Über eine Zeitungsannonce bitten wir die Menschen

240

Musikkurator und RegieKonzert der Stadt, uns Metronome zur Verfügung zu stellen. Wir brauchen 100, bekommen 140. In der Lokhalle ticken sie nun: Wir führen György Ligetis ca. 30minütiges Poeme symphonique für 100 unterschiedlich schnell schlaJHQGH0HWURQRPHDXI+LQWHQOLQNVÁVWHUWHVÅ'DYRUQH'DVLVWPHLQV´ Hitzacker, im Sommer 2006. Eine Reise in das Berlin der 1920er Jahre. Auf der großen Kinoleinwand im Konzertsaal: Walter Ruttmanns 6WXPPÀOPBerlin – Die Sinfonie der Großstadt aus dem Jahr 1927 – eine Ikone der Avantgarde. Auf der Seitenbühne spielt das Minguet Quartett live zum Film Streichquartettmusik der 1920er Jahre. Werke von Bartok, Schulhoff und Janacek. Musik und Film waren völlig unabhängig voneinander entstanden – und befruchteten sich doch überraschend gut. Das Minguett Quartett fragt, ob sie das in Barcelona wiederholen dürften. Na klar. Ich hatte trotzdem das Gefühl: Wir hätten noch länger an der Synchronisation von Musik und Bild arbeiten müssen. Cuxhaven, 3. Oktober 2008, Niedersächsische Musiktage 2. Dort, wo Millionen von Menschen in die Zukunft aufgebrochen sind, in den ehemaligen Hapag-Auswandererhallen, wird Die Lange Nacht der Hoffnung VWDWWÀQGHQ (LQ 0L[ DXV .RQ]HUW 'LVNXVVLRQ /HVXQJ ,QWHUDNWLRQ HLQ Konzert wie eine Radiosendung. Oder wie ein Themenabend auf Arte. Auf dem Podium denken eine Diplom-Psychologin, die Direktorin des Deutschen Auswanderermuseums in Bremerhaven und ein Musikhistoriker über die „Hoffnung“ nach, Dietrich Henschel und Burkhard Kehring führen Beethovens An die Hoffnung auf, der Hamburger Pianist Bernhard Fograscher spielt den letzten Satz aus Viktor Ullmanns im KZ entstandener 7. Klaviersonate, das Szymanowski Quartett spielt Beethovens Heiligen Dankgesang eines Genesenen, ein Projektchor singt Auswandererlieder aus dem Freiburger Volksliedarchiv, Giora Feidman spielt Klezmermusik zum Thema. Wird der dramaturgische Bogen den Abend zusammenhalten können? Lässt sich das Publikum auf diesen ganz anderen KonzertRhythmus ein? September 2008. Das bewegte Publikum: Innerhalb der Konzertreihe Pilgerreisen der Niedersächsischen Musiktage kann das Publikum auch tatsächlich mitpilgern, auf dem alten Zisterzienserweg von Loccum nach Volkenroda. Zum Kloster Mariensee führt eine zweitägige musikalische Pilgerreise mit einem Freiluftgottesdienst, musikalischen Stationen auf dem Pilgerweg, Andachten, Konzerten in Klöstern und Kirchen PLW GHP %ORFNÁ|WHQTXDUWHWW )ODXWDQGR .|OQ XQG GHP 9RNDOHQVHPEOH Stimmwerck. Kriegen wir das Projekt organisatorisch in den Griff?

241

Markus Fein

April 2008. Wieder einmal im Körber Forum oder zusammen?, dem neuen Glaskonzertkubus in der Hamburger Speicherstadt: [K|UHQ3 Der Titel ist Programm: Es wird ein und dasselbe Werk zweimal gespielt, am Anfang und am Ende des Konzerts. Dazwischen: Künstlergespräch, WerkstattEinblicke, Demonstrationen am lebend-klingenden Objekt, ohne professorales Von-Oben-Herab. Nach Stücken von Arnold Schönberg, Juliane Klein, Leos Janacek, Hanns Eisler und vielen anderen hört das Publikum heute Alban Bergs Lyrische Suite für Streichquartett zweimal. Wie froh, von dem Konzertbesucher, der auf mich zukommt, nicht zu hören, er habe etwas gelernt, sondern zu erfahren, er habe das Werk beim zweiten Mal Y|OOLJQHXJHK|UW. Hitzacker, Juli 2006: Mike Svoboda, Composer in Residence, verwandelt den Weinberg in einen klingenden Garten. Musik von Alvin Lucier und Erik Satie mit Elbblick, das Publikum wählt zwischen verschiedenen, überall auf und um den Weinberg verteilten Konzertinseln aus und erfreut sich wahlweise an Cage, Frescobaldi oder Svoboda.

'DVLVWHLQHNXU]HWDJHEXFKlKQOLFKH$XÁLVWXQJYRQ.RQ]HUWSURMHNWHQ'LH Trends auf dem Weg zum Zukunftskonzert zeichnen sich dabei ab. Die *UHQ]HQÁLH‰HQ/LWHUDWXU)LOP%DOOHWW/LFKWUHJLHXQG9LGHRGUlQJHQLQ den Konzertsaal. Das Erbe der abendländischen Musikkultur wird in neue Dialog-Situationen gestellt, die Rituale des Konzertbetriebs hinterfragt und zunehmend durch offene Erlebnisfelder ersetzt. Hat etwa der ganz normale Liederabend ausgesorgt? Natürlich hat er das nicht. Und ich will ihn keineswegs abschaffen. Dann brächte man sich auch um so berauschend Horizont erweiternde Erlebnisse, wie wenn man etwa die Sopranistin Christine Schäfer und den Pianisten Eric Schneider erlebt – einfach so. Vielleicht ist es nicht verkehrt, kritisch zu fragen, warum wir denn offensichtlich nach einer Erneuerung des Konzertlebens streben und was die Gründe für den Bedeutungszuwachs einer Programmdramaturgie, ja GLH(UÀQGXQJYRQQHXHQ.RQ]HUWXQG)HVWLYDOIRUPHQVLQG - Da ist zum einen der Ansatz der Musikvermittlung: Immer weniger Menschen, um bei dem Beispiel zu bleiben, verstehen die Sprache eines Liederabends. Eine musiktheatrale Inszenierung eines Liederabends kann hier möglicherweise eine Brücke zum Zuhörer schlagen. - Da ist zum anderen ein veritabler Marketing-Ansatz, der auf

242

Musikkurator und RegieKonzert neue, junge oder verloren gegangene Publikumsschichten zielt: Besucherzahlen lassen sich mit neuen Ideen und mit spannenden oder zumindest spannend klingenden Konzertprojekten vielleicht steigern. - Da ist drittens der Aspekt der Finanzierung: Wer innovativ programmiert und überraschend konzipiert, bekommt freundliche Briefe aus den Vergabestellen des Musikbetriebs. - Da ist viertens der Aspekt der medialen Aufmerksamkeit, und die lässt sich nun einmal viel einfacher über das Einmalige und Neuartige erlangen. Ich will hier vor allem über einen fünften Aspekt sprechen, der aus der Mitte der Musik selbst kommt: Ich spreche vom Ansatz des Konzertdramaturgen und des Musikkurators, der über die Konzertform nachdenkt, um ihr neue Nahrung zu geben; der dem Konzertleben aus einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Kunst neue Impulse gibt; der die Ohren der Zuhörer lang und spitz machen möchte. Das kreative Potenzial in der Ausformulierung von konzertdramaturgischen Konzepten VFKHLQW PLU MHGHQIDOOV XQHUVFK|SÁLFK XQG HV ELHWHW GLH &KDQFH DOV Programmmacher das zu tun, was der Musiker jeden Tag tut, wenn er die Noten von toten Komponisten spielt: die Musik zu befragen, also nach Berührungspunkten zur Gegenwart und unserer Gesellschaft zu suchen. Der Kunstform Theater steht ein viel größeres Arsenal an Möglichkeiten der Aktualisierung zur Verfügung. Im Bereich der Musik könnte das Regiekonzert etwa ähnliches leisten. Wie ernst es andere Disziplinen mit dem richtigen Umgang mit der Kunst meinen, zeigt auch der Ausstellungsbereich. Die Hängung der Bilder hat längst breite Anerkennung gefunden, und der Kurator ist zu einem von allen akzeptierten Dirigenten im Konzert der Museen avanciert. Von ähnlicher Bedeutung ist es jedoch, wie Musik in Kontexte gestellt wird. Ob ich das 4XDWRXUSRXUODÀQGXWHPSV von Olivier Messiaen alleine in einem Nachtkonzert programmiere und es in einen white cube stelle, oder ob ich mich für eine Petersburger Hängung entscheide und in einer eher kleinteiligen Gegenüberstellung Beethovens Bagatellen mit Kompositionen von Kurtag abwechseln lasse. Der Aktionsradius eines Musikdramaturgen dürfte jedoch noch viel größer sein. Er stellt das Konzert in ein ideales, Kunst und Entfaltung atmendes Ambiente. Eine Folge dieser Überlegung ist, dass Konzerte, etwa im Umfeld von Musikfestivals, immer weiter gefasst werden. Ein

243

Markus Fein

Konzert beginnt nicht mehr mit der Abgabe der Mäntel an der Garderobe. Bei den Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker beginnt der abendliche Konzertbesuch mit dem morgendlichen Festival-Laienchor, der nach dem Frühstück die Festivalbesucher zwanglos einlädt, für eine knappe Stunde gemeinsam zu singen; er beginnt ein zweites Mal, wenn die Konzertbesucher am Vormittag bei dem Projekt 3URÀV XQWHUULFKWHQ Laien teilnehmen, und womöglich ein drittes Mal, wenn sie nachmittags an Workshops, Konzerteinführungen, Künstlergesprächen im Rahmen der Hörer-Akademie teilnehmen. Wenn abends der Gong dreimal läutet, kennt man die Werke, die Künstler und viele Nachbarn. Konzertdramaturgen und Musikkuratoren machen nicht an den Eingangstüren der Konzertsäle Halt. In der Konzertreihe Aufbruch Brahms, die, innerhalb der Niedersächsischen Musiktage, die Konzertreise des 19-jährigen Johannes Brahms rekonstruiert und die Programme von damals an originalen Stationen der Reise wieder aufscheinen lässt, bietet das nachmittägliche Rahmenprogramm Brahms total vielfältige Möglichkeiten: musikalische Stadtführungen, Probenbesuche, Künstlergespräche, Ausstellungsbesuche. All das kann ein Konzert einschließen. Natürlich gibt es keine Rezepte, wie all das auszusehen hat, und auch keinen Schlüssel, der zum Erfolg führt. Ohnehin. Bei der Erneuerung des Konzertlebens sollte man die Vergangenheit nicht allzu leichtfertig über Bord werfen. Die Konzertform, wie sie heute vor uns steht, ist ja kein Produkt des Zufalls, sondern das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses. Ein Festivalleiter muss sich also schon die Frage gefallen lassen, warum er gerade dieses oder jenes Streichquartett von Mozart unter Tage, in einer stillgelegten Grube, und nicht in einem Konzertsaal mit optimaler Akustik und idealen Hörvoraussetzungen aufs Programm genommen hat. Konzertprojekte können so in die Nähe eines leer laufenden, medial aufgeblasenen Eventgedöns geraten. Die Trennlinie ist für mich klar gezogen: Auch das Zukunftskonzert hat sein Zentrum im intensiven Musikerlebnis. An dieser Maxime ausgerichtet, geraten Regiekonzerte und Programmdramaturgie nicht auf die falsche Bahn, auf die so manches Regietheater geraten ist, nämlich auf die Bahn von Intendanten- und Regisseureitelkeiten. Wie sieht die Zukunft des Zukunftskonzerts nun aus? Für die Niedersächsischen Musiktage 2008 hat die Zukunft gerade begonnen. Der Sänger und Performer David Moss hat die Arbeit mit rund 300

244

Musikkurator und RegieKonzert

Laiensängern aus Osnabrück aufgenommen, die am 27. September eine neue Uraufführung aus der Taufe heben werden. Dann wird eine ganze Stadt Musik sein: Living voice – Osnabrück singt: entlang von Klangrouten, an Klangstationen, und Klangpunkten – ein Community-Projekt, auf das wir mit Spannung schauen. Als Residence-Künstler wird Jörg Widmann seine persönliche Auswahl von Werken des Aufbruchs präsentieren. Workshops in niedersächsischen Musikschulen und eine Kooperation der Musikhochschule Hannover mit der Hochschule Freiburg sind weitere Bestandteile der Residency. Ebenfalls reizvolle Konzertprojekte sind: Im Jagdschloss Springe erklingt das Jagdquartett von Mozart gemeinsam mit dem als Jagdquartett titulierten III. Streichquartett von Jörg Widmann, und vorher erlebt das Publikum im Park eine Raummusik von mehreren Jagdhornbläsern aus dem Raum Springe. $OOGDVVLQGQDWUOLFK(LQWDJVÁLHJHQZHQQQLFKWGLH6WUXNWXUHQGHV Musikbetriebs das Zukunftskonzert nachhaltig fördern. Hier hat sich viel getan: Als ich 1996 einen Beethoven-Zyklus mit fünf Konzerten initiierte, bei denen in fünf Schneisen durch die Musikgeschichte die Wirkungsgeschichte der späten Beethovenquartette verfolgt wurde, geschah es mir, dass fünf Minuten vor Konzertbeginn das ausführende Streichquartett mir mitteilte, die Reihenfolge umändern zu wollen. Ligeti und Bartok sollten nun in die erste Hälfte und der Beethoven, von dem doch die Entwicklung ausging, in die zweite. Mein Einwand, dass somit völlig unkenntlich gemacht würde, wie Bartok und Ligeti sich unmittelbar von Beethoven inspirieren ließen, wurde mit dem Argument weggewischt, dass Beethoven nach der Pause einfach mehr Applaus hergebe. Derlei gehört heute zum alten Eisen. Viele Musiker sind dialogbereit und einige sogar dankbar, endlich neue Konzertideen umsetzen zu können. Die Musikhochschulen fangen an, den ,kompletten‘ Musiker auszubilden, und erweitern die Ausbildung am Instrument durch die Ausbildung in den Köpfen und Mündern. Aber wir sind erst auf halber Strecke. Mit dem Rückenwind dieses Symposions kommen wir der Zukunft sicherlich noch ein gutes Stück näher.

245

Markus Fein

Anmerkungen Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors am Symposium Zukunftskonzert: Musikvermittlung und Aufführungskultur in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, veranstaltet vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. 1. Siehe www.musiktage-hitzacker.de 2. Siehe www.musiktage.de/mt 3. Siehe www.koerber-stiftung.de/aktuelles/junge-kultur.html

246

Musik als Beziehungskunst – ein Blick zurück, zwei nach vorne Beatrix Borchard

Musik war und ist in erster Linie Beziehungskunst. Sie stellt wie die Sprache ein riesiges Netz von Bezügen dar, innerhalb eines Stücks und außerhalb, bezogen auf Musik, die früher, gleichzeitig und später entstanden ist. Wir hören nie nur das, was gerade erklingt, sondern auch das, was wir schon vorher gehört haben. Gleichzeitig schafft Musik im Moment des Erklingens nicht nur geistige, der Struktur des Stücks immanente, sondern auch ,atmende‘ Bezüge zwischen Menschen: den KomponistInnen, InterpretInnen und ZuhörerInnen sowie allen Menschen, deren Beziehungen mit in das ,Werk‘, in die klingende und in GLHK|UHQGH,QWHUSUHWDWLRQHLQJHÁRVVHQVLQG Ziel eines Konzertes wäre also eine gelungene Beziehung nicht QXU ]ZLVFKHQ GHQ 0HQVFKHQ GLH 0XVLN HUÀQGHQ¶ XQG GHQHQ GLH GLH Notenschrift deuten und in ein Klangereignis verwandeln, sondern auch zwischen diesen beiden und dem dritten Partner, nämlich den Zuhörenden. Diese sind nicht passive Zeugen eines kommunikativen Geschehens, sondern sie weisen im Zuhören dem Erklingenden emotionale und auch koJQLWLYH%HGHXWXQJHQ]XLQVRIHUQ0XVLNQLFKWQXUXQVHUH(PSÀQGXQJHQ sondern auch unsere Gedanken auszudrücken wie auch zu klären und zu ordnen vermag. Vor dem Hintergrund einer solchen Zielformulierung stellen sich Fragen nach Konzertformen der Zukunft anders als in den bisher bekannten, an Wissensvermittlung orientierten Konzepten.

Beatrix Borchard

Die Forderung nach angemessenen Vermittlungsstrategien bezogen auf ,klassische Musik‘ ist aktuell, denn – so die immer wieder gerne wiederholte Begründung – das traditionelle, so genannte Bildungs-Publikum stirbt aus. Nachdem Museen seit Jahrzehnten die verschiedensten Wege beschritten haben, um Kindern und Erwachsenen die Augen zu öffnen, wurden in den letzten Jahren auch im Musikbereich zahlreiche Versuche unternommen, ihnen auch die Ohren zu spitzen. Einem Netzwerk wie der Initiative Konzerte für Kinder gehören inzwischen bereits ca. 400 ,kulturschaffende Institutionen‘ an, wie Berufsorchester, Musikschulen, Stiftungen, Musikhochschulen, Universitäten, soziokulturelle Zentren und Einzelpersonen. Ein neues Internetportal für Musikvermittlung im deutschsprachigen Raum (www.jungeohren.com) informiert über aktuelle Diskussionen, und um der wachsenden Nachfrage nach Menschen nachzukommen, die die geforderte und geförderte Vermittlungsarbeit übernehmen können, wurden inzwischen sogar Studiengänge aufgebaut, wie etwa an der Musikhochschule Detmold, bzw. sind in Planung. Eine theoretische Aufarbeitung dieser Versuche hat ebenfalls längst begonnen, so etwa in den Fachzeitschriften Üben & Musizieren1 sowie Das Orchester oder in Büchern wie Spielräume Musikvermittlung. Konzerte für Kinder entwickeln – gestalten – erleben. Diese Veröffentlichungen dokumentieren pädagogische Bemühungen, zum besseren ,Verständnis‘ von zumeist klassischer Musik beizutragen. Was jedoch bedeutet Verständnis von Musik? Hören zu können, wann die Durchführung in einem Sonatenhauptsatz beginnt? Etwas über die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Stücks zu wissen? Zu erkennen, welches Instrument gerade spielt? Es ist unbestritten: Je mehr man über die inneren Gesetzmäßigkeiten von Musik weiß, desto differenzierter kann man musikalische Strukturen wahrnehmen. Das gilt erst recht, wenn wir die Möglichkeit haben, selber Musik zu machen, sollte dieses ,Selbermachen‘ auch unter musikalisch-technischen Gesichtspunkten unzureichend sein. Aber bedeutet „verstehen“ nicht sehr viel mehr bzw. anderes?

Musik über Musik „Es wird so viel über Musik gesprochen, und so wenig gesagt. Ich glaube überhaupt, die Worte reichen nicht hin dazu, und fände ich, daß sie hinreichten, so würde ich am Ende gar keine Musik mehr machen. – Die Leute beklagen sich gewöhnlich, die Musik sei so vieldeutig; es sei so

248

Musik als Beziehungskunst

zweifelhaft, was sie sich dabei zu denken hätten, und die Worte verstände doch ein jeder. – Mir geht es aber gerade umgekehrt. Und nicht bloß mit ganzen Reden, auch mit einzelnen Worten; auch die scheinen mir so vieldeutig, so unbestimmt, so mißverständlich im Vergleich zu einer rechten Musik, die einem die Seele erfüllt mit tausend besseren Dingen als Worten. Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte [...] Fragen Sie mich, was ich mir dabei gedacht habe, so sage ich: gerade das Lied wie es dasteht. Und habe ich bei dem einen oder anderen ein bestimmtes Wort oder bestimmte Worte im Sinn gehabt, so mag ich die doch keinem Menschen aussprechen, weil das Wort dem einen nichts heißt, was es dem andern heißt, weil nur das Lied dem einen dasselbe sagen, dasselbe Gefühl in ihm erwecken kann, wie im andern – ein Gefühl, das sich aber nicht durch dieselben Worte ausspricht.“2 Wenn man Felix Mendelssohn Bartholdy folgt, kann es nicht unsere Aufgabe sein, dem Publikum zu sagen, wovon eine Komposition spricht. Insofern ist der Begriff ,Musikvermittlung‘ im Zusammenhang mit allem, was unter Konzertpädagogik rubriziert wird, problematisch, weil missverständlich. Musik vermitteln können nur Musiker und Musikerinnen, indem sie musizieren. Die eigentlichen Vermittler der Bedeutung von Musik sind also die Interpreten und Interpretinnen.

Ein Blick zurück Ein Blick zurück in die Geschichte des Konzertwesens zeigt, dass es schon immer die vielfältigsten Vermittlungsformen – mit Text oder ohne Worte – gegeben hat, die an das anknüpfen, was Musik in erster Linie ist, nämlich ein ästhetisch-soziales Ereignis und nicht bloß ein pädagogischer ,Stoff‘. Führende Interpreten und Interpretinnen des 19. Jahrhunderts wie Clara Schumann (1819-1896) und Joseph Joachim (1831-1907) haben sich genaue Gedanken darüber gemacht, wie sie welches Publikum auf welche Musik einstimmen konnten, und zwar nicht in erster Linie mit Worten, sondern beispielsweise durch Improvisationen zwischen den einzelnen Programmnummern. Durch diese ,Zwischenspiele‘ bereiteten sie das Publikum auf die neue Tonart, den Charakter etc. des folgenden Stückes vor. Ein Beispiel für die Gestaltung eines Konzertes als kommunikativen Akt durch und in der Musik. Man kann ein solches

249

Beatrix Borchard

Programmkonzept mit Hans Zender eine „komponierte Interpretation“ nennen, wobei er mit diesem Begriff etwas anderes meinte, nämlich seinen eigenen kompositorischen Umgang etwa mit Schuberts Winterreise (vgl. Borchard, 2000). Hier reagiert also ein Komponist auf einen anderen Komponisten, wird, wie Liszt mit seinen Beethoven-, Schubert-, Verdi-, Wagner-Transkriptionen zu seinem Vermittler. Aber Musik über Musik ist nicht der einzige Weg zu einer dem Kunstcharakter von Musik angemessenen ,Vermittlungsmöglichkeit‘.

Ergänzung durch gesprochene Sprache Durch die Hinzufügung von Kommentaren wird die Idee des Konzerts als kommunikativer Akt ausschließlich in Tönen aufgegeben, so könnte man meinen. Aber das Bedürfnis auch nach verbalen Erläuterungen JDE HV VFKRQ LP  -DKUKXQGHUW GHP =HLWDOWHU GHU (UÀQGXQJ HLQHU umfangreichen Konzertführerliteratur. Einer der ersten, der systematisch die von ihm aufgeführten Stücke musiktheoretisch erläuterte, war der Pianist und Dirigent Hans von Bülow (1830-1894) (vgl. Hinrichsen 1999). Konsequenterweise benutzte er für seine Konzerte dann auch den Terminus des „Klaviervortrags“ in seiner Doppelbedeutung von „Musik vortragen” und „über Musik sprechen“. Hans von Bülows Ziel war es, die Interpretation eines Notentextes musiktheoretisch zu begründen und auf dieser Basis auch für andere InterpretInnen in seinen praktischen Ausgaben so genau wie möglich zu bezeichnen (ebd.). Anders übrigens der bereits erwähnte Joseph Joachim: Er lehnte eine Bezeichnung ab, wollte sich und anderen die Freiheit wahren, aus dem Moment heraus zu spielen, Ort, Stimmung etc. zu berücksichtigen (vgl. Borchard 2007)3. Aus Joachims Sicht entstand das musikalische Kunstwerk während einer Aufführung immer wieder neu und immer wieder anders. „Eine dienende Haltung“ gegenüber dem Werk – wir würden heute von Werktreue sprechen – stand für ihn nicht im Widerspruch zu einer „subjektiven Färbung des Textes“, sondern das Einbringen der eigenen Individualität im Dialog mit dem Notentext war notwendige Voraussetzung für ein angemessenes Werkverständnis. Gegenbegriff zu „objektiv“ ist in diesem Kontext nicht „subjektiv“, sondern „willkürlich“. Die Konsequenz seiner Haltung: Eine bezeichnete Notenausgabe war für ihn, anders als für von Bülow, keine sinnvolle Möglichkeit der Tradierung seiner Werkauffassung und

250

Musik als Beziehungskunst

der Steuerung der Performance durch eine Art operativen Text, sondern bestenfalls nur Dokument einer Realisierungsmöglichkeit unter vielen.4 6FKRQLP-DKUKXQGHUWÀQGHQZLUDOVREHL,QWHUSUHWHQEHLGH+DOWXQJHQ die Musik „für sich“ sprechen zu lassen, oder alles so genau wie möglich zu begründen und zu „bestimmen“ durch eine das Konzert ergänzende musikalische Analyse. Auch andere ,Vermittlungswege‘, als vor oder während des Konzertes ]X VSUHFKHQ ÀQGHQ VLFK EHUHLWV LP  -DKUKXQGHUW 6R OHJWHQ HWZD der Pianist Anton Rubinstein (1829-1894) oder die Sängerin Amalie Joachim (1839-1899) ihre Programme als klingende Musikgeschichte an (ebd.) und ergänzten die Konzerte durch kommentierte Programmhefte (Geschichte des deutschen Liedes, Geschichte der Klaviermusik etc.), die es den Konzertbesuchern und -besucherinnen erlaubten, das Konzerterlebnis durch Lektüre zu vertiefen, sich über die Quellenlage der erklungenen Stücke zu informieren etc. (ebd.). In England wurden auch musiktheoretisch fundierte Analysen in Programmheften abgedruckt. Der Vortrag von Gedichten als Teil von Konzerten ist ebenfalls keiQHQHXHÅ(UÀQGXQJ´(LQH(LQEH]LHKXQJYRQ5H]LWDWLRQHQZLHPDQGDV nannte, konnte beispielsweise der Bezugnahme auf die Werkgenese dieQHQ VR SÁHJWHQ 6lQJHU ZLH -XOLXV 6WRFNKDXVHQ XQG $PDOLH -RDFKLP Schuberts Liederzyklus 'LH6FK|QH0OOHULQ durch die Deklamation der von Schubert nicht vertonten Texte von Wilhelm Müller wie Prolog und Epilog zu ergänzen. Zusätzlich spielte der jeweilige Liedbegleiter bzw. die Liedbegleiterin solistisch, und zwar zu Beginn und zum Ende als eine Art Umrahmung, sowie als „Pause“ innerhalb des Zyklus (und zwar nach dem Lied Mein und vor dem Lied Pause). Welche Klavierstücke zu diesem Zweck von Schubert gewählt wurden, wissen wir nicht. Durch diese musikalisch-literarische Kontextualisierung von Schuberts Komposition entstand ein neues Stück mit veränderter Perspektive (vgl. Borchard 2000), ganz ähnlich wie Falle des Brahmsschen Liederzyklus 'LHVFK|QH Magelone, bei dem der Vortrag des Tieckschen Textes zwar auch nicht zum kompositorischen Konzept des Werkes gehört, jedoch inzwischen fast schon zum aufführungspraktischen Usus geworden ist. Abenden, die nur einem Komponisten gewidmet waren, zyklischen Aufführungen, wie die Aufführung sämtlicher Beethoven-Klaviersonaten durch Bülow oder sämtlicher Beethoven-Streichquartette durch das Joachim-Quartett, standen Konzerte gegenüber, die einem Dichter gewidmet waren und in

251

Beatrix Borchard

denen Vertonungen durch verschiedene Komponisten und gesprochene Gedichte einander gegenübergestellt wurden. 5 Auch für biographische Verknüpfungen gibt es frühe Beispiele. So rezitierte die Pianistin Elly Ney zu Beginn ihrer legendären BeethovenAbende das so genannte Heiligenstädter Testament, das sie auch auf Schallplatte aufnahm.6 Zudem spielte sie bei Kerzenschein, um die Zuhörer und Zuhörerinnen in Beethovens Zeit zurückzuversetzen, ein Beispiel für eine Konzertinszenierung, die die Tatsache, dass jedes Konzert immer auch Schauspiel ist, bewusst nutzte. „Der Stammbaum des konzertierenden Virtuosen führt an den Thespiskarren, ins Theater [...] Er duldet nicht die Absonderung des Gehörsinnes; der Sphäre umfassenderer Sinnlichkeit entstammt, nimmt er den Kampf gegen die Entsinnlichung der Konzertmusik auf und ist um so erfolgreicher, als er die Ermüdung zuschauender Zuhörer, die in das große Nichts einer innerlichen Kunst starren, durch Glanz und Flitter bekämpft [...] Die entthronten Sinne rächen sich und erzwingen immer wieder das Schauspiel im Konzertsaal.“7, so Adolph Weissmann in seiner 1918 in Berlin erschienenen Studie Der Virtuose. Die Welt des Schauspiels, des Theaters, steht in diesem Zusammenhang für die Präsentation des Körpers, für das Sehen, bei Weissmann auch für die Verführung der „Massen“, der Konzertsaal hingegen für das Geistige der Musik, für das Hören, für die Erkenntnis jedes einzelnen Individuums. Obwohl auch Weissmann eine ausschließlich auf das Hören gerichtete Rezeptionshaltung für die höherwertige hielt, begriff er das Bedürfnis nach einer Verbindung zwischen Sehen und Hören als Reaktion auf einen Entsinnlichungsvorgang im Konzertsaal.

Inszenierte Konzerte Sieht man jedes Konzert als ein Stück klingende Musikgeschichte, dann lässt sich an den herkömmlichen Konzepten zur Konzertpädagogik deutlich ablesen, dass Musikgeschichtsschreibung nach wie vor in der Regel Kompositionsgeschichte ist, folglich die Aufführung nicht als ein konstitutiver Bestandteil der Werke gilt. Reduziert auf einen Notentext, gerät jedoch durch diese Art der ,Vermittlungsarbeit‘ das für Musik Charakteristische, ihr prozesshafter und kommunikativer Charakter, leicht aus dem Blickfeld. 8 Verändert man nun die

252

Musik als Beziehungskunst

Perspektive, dann rücken zunächst neben Komponisten die interpretierenden Musiker und Musikerinnen von der Peripherie mit ins Zentrum des Nachdenkens über das ,Konzert der Zukunft‘: „Nicht passive Dienerin der Komposition ist die Virtuosität; denn von ihrem Hauche hängt das Leben wie der Tod des ihr anvertrauten Kunstwerks ab“, so etwa Franz Liszt über Clara Schumanns Rolle für das Werk ihres Mannes (Ramann 1882: 196). Entsprechendes könnte man bezogen auf die „Rolle“ des Publikums formulieren, denn Aufführungen im Konzertsaal sind, ebenso wie Kompositionen, nicht zuletzt Ausdruck eines Wechselspiels zwischen „biographischer Konstellation und künstlerischem Handeln“.9 Das gilt bezogen auf die jeweiligen Interpreten, aber ebenso bezogen auf die Zuhörer und Zuhörerinnen. Denn so wie in die Partitur gehen auch in die Interpretation und in das Hören von Musik subjektive, partikulare, stimmungsmäßige, biographische sowie gesellschaftliche, zeitgeschichtliche Färbungen und Konstellationen mit ein. Dieses komplexe Beziehungsfeld gilt es im ,Zukunftskonzert‘ im Auge zu behalten. Im Folgenden soll es nun um Möglichkeiten der Inszenierung eines affektiven und kognitiven Beziehungsraums durch Musik und Texte im Sinne einer eigenständigen und dem Kunstcharakter von Musik angemessenen Vermittlungsform gehen. Ausgangspunkt für die folgenden Vorschläge sind zahlreiche Programme, gestaltet an der Hochschule der Künste (jetzt Universität der Künste) Berlin und den Musikhochschulen in Detmold und Hamburg. Im Sinne eines handlungsorientierten Lernens wurden sie im Rahmen von ein- bis zweisemestrigen musikwissenschaftlichen Musikvermittlungsprojekten vorbereitet und durchgeführt. Die Konzerte waren themen- und personenzentriert, Ausgangspunkt war ein Musikverständnis, das, wie sich aus dem oben Dargestellten ergibt, nicht nur Werke im Sinne von geschriebenen Notentexten meint, sondern alle Aspekte des Lebens mit einbezieht, die mit dem Entstehungsprozess, der Aufführungs- und Wirkungsgeschichte von 0XVLN YHUEXQGHQ VLQG =LHO ZDU HV HLQ UHÁHNWLHUWHV 9HUVWlQGQLV YRQ Musikgeschichte und Musikgeschichtsschreibung zu befördern und die Studierenden darauf vorzubereiten, nach dem Studium eigene Programmkonzepte zu entwickeln und die vielfältigen Wege verbaler und musikalischer Musikvermittlung auszuprobieren und zu diskutieren (vgl. Borchard 2002 sowie Borchard 2003).

253

Beatrix Borchard

Warum Biographie? Für die Kontextualisierung gleich welcher Musik bevorzugten die Studierenden ausnahmslos biographische Aspekte. Das ist kein Zufall. Wenn auch im deutschsprachigen Raum Musikwissenschaftler von Guido Adler bis Carl Dahlhaus und seinen Schülern und Schülerinnen immer wieder eine strikte Trennung zwischen ästhetischen und biographischen Fragen gefordert haben, verzichtet kaum eine Rundfunk- oder Konzertmoderation darauf, die Präsentation von Musik mit Informationen über den Komponisten und mit Anekdoten zu verknüpfen, denn Töne „erzählen etwas von einem anderen Menschen und dem Menschen [bleibt] der Mensch doch immer das Interessanteste“ (Billroth 1912: 240). Das bedeutet jedoch nicht, „daß ein musikalisches Oeuvre, um von innen heraus verstanden zu werden, notwendig als ‚Lebenswerk‘ interpretiert werden müsse: als Werk, in dem sich die Substanz des Lebens ausdrückt, aus dem es hervorgegangen ist,“ (Dahlhaus 1987: 31). Die Thematisierung lebensweltlicher Erfahrungen erlaubt es lediglich jedem Menschen, sich selbst im Zuhören einzuschreiben. Die für die fachwissenschaftliche Entwicklung folgenreiche Kritik Guido Adlers richtete sich bekanntlich gegen zweierlei: gegen die immer stärker um sich greifende, ausschließlich inhaltsästhetische Deutung von 0XVLN XQG JHJHQ GLH ]ZLVFKHQ )LNWLRQ XQG )DNWHQGDUVWHOOXQJ ÁLH‰HQden Grenzen biographischer Schreibweisen, damit gegen ihren romanhaften Charakter. Diese Kritik war als Reaktion auf die biographistische Werkbetrachtung des 19. Jahrhunderts berechtigt, nur die Konsequenz, alles Biographische mit dem Bannstrahl der Unwissenschaftlichkeit zu belegen, falsch. So sehen wir uns heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zugespitzt formuliert, mit einer Musikgeschichte der Werke ohne Menschen konfrontiert, auch wenn der Zusammenhang von Biographischer Konstellation und Künstlerischem Handeln10 vermehrt wieder zum Gegenstand auch fachlicher Diskussion geworden ist. Im Studium kann die strikte Trennung zwischen Werk und Leben dazu führen, dass Studierende nicht immer wissen, von wem das Stück geschrieben wurde, das sie einstudieren. Sie spielen es, weil es technisch gerade „dran“ ist. Gleichzeitig haben sie zumeist unbewusst schon in der Kindheit innere Komponistenbilder entwickelt, die nur allzu selten zum Gegenstand einer Analyse innerhalb von Seminaren gemacht werden. Gespeist sind sie in erster Linie aus der unübersehbaren Zahl von

254

Musik als Beziehungskunst

Populärbiographien, biographischen Erzählungen, Filmen und neuerdings auch Musicals, also aus Veröffentlichungen, die stärker, als wissenschaftliche Veröffentlichungen es je vermöchten, unsere Vorstellungen von künstlerischer Arbeit und dem Verhältnis zwischen Leben und Werk prägen. Wahrnehmen heißt immer schon Interpretieren, und mentale Bilder sind ein Teil der sozialen (geschichtlichen) Realität. Als bedeutungsgebend konstituieren sie Realität mit und bestimmen in hohem Maße auch unsere Wahrnehmung von Musik. Wenn man über zeitgemäße Vermittlungsformen nachdenkt, bietet es sich also an, an diesem Punkt anzusetzen.

Montage als künstlerisches Prinzip Inszenierung ist nicht gleichbedeutend mit Kostümierung und Kerzenschein, die oft die Gefahr der Peinlichkeit und der mangelnden historischen Distanz in sich bergen, sondern kann sich, wie die Beispiele zeigen werden, auf ganz unterschiedliche Ebenen beziehen, wie Raumwahl, Raumaufteilung, Beleuchtung, Einbeziehung von Texten, Bild- und Filmmaterialien, Toncollagen etc. Die Bandbreite beginnt mit einem Programmkonzept, in dem aufeinander musikalisch antwortende Kompositionen von Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy von einer weiblichen und einem männlichen Pianistin/Pianisten abwechselnd gespielt werden und endet bei einem durchkomponierten Abend aus live gesungenen Repertoireausschnitten einstmals bekannter SängerInnen, aus Einspielungen von Ton- und Filmdokumenten, Textmontagen aus NSGesetzen und Erinnerungsliteratur zum Thema ,Verstummte Stimmen‘. Auch ergänzende Ausstellungen können Teil einer Inszenierung sein, wenn sie nicht nur unverbunden im Foyer gezeigt werden, sondern Teil des Konzertes sind, z.B. als Hörraum oder als Kompositionswerkstatt.11

Z.B. Clara und Robert Schumann Einem der prominentesten Paare der Musikgeschichte waren gleich drei Konzertprojekte gewidmet: Clara und Robert Schumann. Das erste inszenierte Konzert fand 1996 in Berlin statt, das zweite 2000 in Detmold, das dritte 2003 in Hamburg, also an drei verschiedenen Orten unter sehr unterschiedlichen Bedingungen mit sehr unterschiedlichen Menschen.

255

Beatrix Borchard

Einstieg Als Einstieg wurde kein fester Stoff präsentiert. Stattdessen wurde gemeinsam mit den Studierenden anhand ihrer eigenen Assoziationen zu den beiden Namen, zu Bildmaterial, das im gesamten Raum aufgehängt wurde, zu Konzertprogrammen, Rezensionen, Briefausschnitten etc., also zum Rohmaterial jeder Biographie ein Feld abgesteckt. Briefausgaben, verschiedenste Biographien, Sekundärliteratur, natürlich auch Noten und Musikaufnahmen standen frei zur Verfügung, so dass die Studierenden intensiv hören konnten, allein und in kleineren Gruppen. Ein Flügel stand auch zur Verfügung, so dass so manches Lied und Stück sofort angespielt und ausprobiert werden konnte. Abends wurden die verschiedensten 6FKXPDQQÀOPH+|UVSLHOHXQG5DGLRIHDWXUHV]XP7KHPDSUlVHQWLHUW

Begründung Am Anfang und am Ende der Auseinandersetzung mit biographischen Quellen steht stets ein Erkenntnisproblem, dessen heuristisches Potenzial es fruchtbar zu machen gilt: Jegliches Material, durch das wir etwas über Arbeit und Selbstverständnis von Musikern erfahren, seien es Programme, Briefe oder Akten, ist immer schon aus bestimmten Perspektiven geformt, und nicht, wie O.E. Deutsch glaubte, „Tatsache“, „Selbstabdruck eines Lebens“, die bzw. der keiner weiteren Interpretation bedarf (Deutsch 1963: V). Im Laufe der Jahre wächst es zu einem Berg an, bildet jedoch nur bedingt einen festen Korpus. Zufällige Entdeckungen ebenso wie gezielte Archivarbeit fördern selbst bei einem so gut erforschten Komponisten wie Robert Schumann, erst recht bei wenig erforschten wie weiblichen Musikern immer wieder reichhaltige, unveröffentlichte Quellen zutage. Die Studierenden sollten also merken, dass ‚Leerstellen‘, ‚weiße Flecken‘, kein beklagenswertes Manko, sondern essentiell sind; dass die Eigenschaften allen Quellenmaterials, immer schon vorgeformt und unvollständig zu sein, von vornherein ein einfaches Ausbreiten von Fakten verbietet; dass stattdessen die Ergebnisse der Auswertung immer wieder hinterfragt und neu gedeutet werden müssen. Was wird überliefert? Wer überliefert was und warum? Was ist überlieferbar? Was wird aus welchen Gründen verdrängt? Wo wird das Material aufbewahrt, und in welcher Form geschieht dies: als Erinnerungsstück, Wertgegenstand, Spekulationsobjekt, Sammlertrouvaille oder als historische Quelle?

256

Musik als Beziehungskunst

Der Effekt dieses Einstieges: Staunen. Die Studierenden sahen sich QLFKWHLQHPIHVWGHÀQLHUWHQ6WRII¶JHJHQEHUDQGHPVLHVLFKDEDUEHLten‘ mussten, sondern ihnen wurde ein Pool heterogener Materialien zur Verfügung gestellt, mit denen sie sofort selbst umgehen konnten.12

Konzeptphase Die erste Konzeptphase galt dem Seminar. Jede/r Studierende schrieb einen Wunschzettel. Die Auswertung wurde zur Grundlage für die thematischen Schwerpunkte. Unter den Wünschen stand, wie bereits erwähnt, das biographische Interesse im Vordergrund, vor allem die Paaraspekte. Das ist nicht weiter erstaunlich, da die Studierenden in dem Alter sind, in dem die Weichen für die eigene Partner- und Berufswahl gestellt werden. Die gewünschten Themen wurden musikgeschichtlichen Arbeitsgebieten zugeordnet: -

Interpretationsgeschichte, Soloklavierliteratur in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Geschichte des deutschen Liedes, Geschichte des Liedgesangs, Historische Programmgestaltung, Bedingungen künstlerischer Arbeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland für Frauen und für Männer, Konzertgeschichte als Institutionsgeschichte und als Geschichte einzelner reisender Künstler und Künstlerinnen, musikalische Sozialgeschichte, musikalische Mädchenerziehung, Genieästhetik, Werkbegriff, männliche und weibliche Selbst- und Fremdentwürfe, Robert Schumann Biographik, Clara Schumann Biographik, Johannes Brahms Biographik.

Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist: Die Studierenden gehen mit eigenen Fragestellungen an die Sekundärliteratur und an die biographischen Quellen heran.

257

Beatrix Borchard

Erste Intensivphase In einer ersten Intensivphase stellten die Studierenden ihre Ergebnisse vor. Die Gruppe entschied, welche Themen für das Programmheft aufbereitet werden sollten. Es wurde über unterschiedliche Textsorten und die Konsequenz für Schreibarten gesprochen. Am Ende dieser Intensivphase stand die Entscheidung, worum es inhaltlich in dem Konzert gehen sollte. Alle drei Gruppen entschieden sich, auf kommentierende Moderationen zu verzichten und stattdessen ausschließlich Originalmaterialien zu benutzen. In Berlin sollte es um die Liebesgeschichte und aneinander adressierte Musik beider gehen, die Detmolder Gruppe entschied sich für eine Schwerpunktsetzung auf die Perspektive Clara Schumanns und ihre Kompositionen. Die Entscheidung, Originalmaterialen zu verwenden, bedeutete, Clara und Robert Schumann durch ihre Briefe sprechen zu lassen. Aufgrund identischen Ausgangsmaterials entschieden sich also die Berliner und die Detmolder Gruppe für jeweils eine andere Paarkonstellation. In Berlin sollte es um Clara Wieck und Robert Schumann gehen, in Detmold schwerpunktmäßig um Clara Schumann nach dem Tode Schumanns und die Liebesfreundschaft zwischen ihr und Johannes Brahms. In Hamburg schließlich entschloss sich die Gruppe, den historischen Stoff lediglich als Material zu nutzen, um nicht nur eine neue – aus ihrer Sicht – zeitgemäße Paar-Geschichte zu schreiben, sondern sogar Originalkompositionen von Clara und Robert Schumann zu bearbeiten und Lieder neu zu texten. Das Ergebnis: eine neue Partitur, montiert aus Musik, Texten und inszenierten Bildern.

Zum Umgang mit Briefen Briefbelege spielen als Quellen zur Werkentstehung, Aufführungsgeschichte, auch als Lebensdokumente und kulturgeschichtliche Zeugnisse etc. für die Musikwissenschaft bis heute eine entscheidende Rolle. Prototyp der Dokumentarbiographie, der den des ‚Lebensbildes’ im 20. Jahrhundert nach und nach abgelöst hat, war bekanntlich Otto Erich Deutschs )UDQ]6FKXEHUW6HLQ/HEHQLQ%LOGHUQ(1913), das fünfzig Jahre später in erweiterter Form als erster Supplementband der neuen SchubertGesamtausgabe erscheinen konnte (Deutsch 1963): Einander entgegengesetzt gedachte Methoden, nämlich Philologie und Biographik, kamen nun zusammen. Autoren wurden zu Herausgebern13, deren Intention es

258

Musik als Beziehungskunst

war, narrativen Lebens‚darstellungen‘ die weitgehend unkommentierte Sammlung und Dokumentation von biographischem Material entgegenzusetzen. Statt sich mit einem vielleicht mehr oder weniger plausiblen, jedoch fertigen ‚Bild’ konfrontiert zu sehen, dessen Quellenbasis nur allzu oft für die LeserInnen kaum nachzuvollziehen war, musste oder konnte sich nun der Leser selbst ein Bild machen. Dadurch veränderte sich das Verhältnis Autor/Herausgeber – Leser grundsätzlich. Allerdings verführte das Ausbreiten von Quellen zu der Vorstellung, dass es eine „objektive“ Biographie geben könne, so Deutsch in seinem Vorwort (Deutsch 1963: 9 (LQH5HÁH[LRQGHV&KDUDNWHUVGHUDEJHGUXFNWHQ0DWHULDOLHQ²DXWRELRgraphische Zeugnisse, Briefe, Berichte von Zeitgenossen, Rezensionen, Programme, Bilder – fehlte. 1LFKW UHÁHNWLHUW ZXUGH EHLVSLHOVZHLVH YRQ GHQ $XWRUHQ GHU 'RNX mentarbiographien, dass ein Brief, ob als „Seele“ (Balzac) oder „kommunikatives Faktum“ (Runge / Steinbrügge 1991) begriffen, wie ein Kunstwerk verschiedene Lektüren zulässt. Briefe sind keine abgeschlossenen Werke, sie sind offen und Teil eines Dialogs. Werden die Gegenbriefe nicht mit abgedruckt, obwohl sie erhalten sind, wie gerade wieder geschehen bei der Mendelssohn- Briefausgabe, wird das für Briefe so charakteristische dialogische Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Fremdentwurf unterschlagen. Wie also Briefe in einem Konzertprojekt benutzen? Alle Gruppen entschieden sich dafür, sämtliche erhaltenen Briefe zu lesen und aus ihnen Dialoge zwischen Clara und Robert Schumann und dem Vater Friedrich Wieck zu entwickeln und mit nicht personenbezogenem, zeitgenössischem Material zu konfrontieren.

Zweite Intensivphase Zunächst wurden die Programmhefttexte vorgestellt und ein Redaktionsteam gebildet, das die Schlussredaktion, Bildauswahl, Ergänzung durch Werkverzeichnisse und Bibliographie übernahm. Ebenso vorgestellt wurden die ausgewählten Sprechtexte. Eine erste Reihenfolge wurde festgelegt und in einem mit Schallplattenaufnahmen improvisierten Durchlauf ausprobiert, revidiert etc., bis eine Reihenfolge gefunden war, auf die sich alle einigen konnten. Wer was sprach, entschied die Gruppe aufgrund eines Probesprechens. Über Kleidung und Präsentationsform wurde ebenfalls ausführlich diskutiert, auf Kostüme als Medium ,falscher Unmittelbarkeit‘ verzichtet.

259

Beatrix Borchard

Durchführung Mit der Entscheidung für Originalmaterialien war die Frage nach szenischer Darstellung verknüpft: In Berlin wurden vier Rollen, Clara (2 x), Robert, der Vater und Brahms konzipiert. Zwei weitere Sprecher lasen allgemeine Texte, Rezensionen, Werklisten. Szenische Elemente wurden nur sparsam eingesetzt. Wechselnde Beleuchtung und Blacks machten den Montagecharakter der Textzusammenstellung deutlich. In Detmold entstand ein szenisches Konzert.14 Wesentliches Element war die Umgestaltung des Konzertsaals der Hochschule. Am Kopf und am Ende stand je ein Flügel, so dass zwei Aufführungsorte entstanden: das Podium und ein intimerer Ort. So wurde es möglich, zwischen dem Podium als Welt Clara Wiecks als berühmte Konzertpianistin und der zurückgezogenen Privatheit zu unterscheiden, in der Robert Schumanns Klavierkompositionen entstanden. Mit Licht und wenigen Requisiten wurde zusätzlich differenziert zwischen Öffentlich, Halböffentlich, Intimität. Wie im alten Leipziger Gewandhaus waren die Stuhlreihen nicht nach vorne ausgerichtet, sondern standen einander gegenüber. Dadurch gaben VLH GHQ %OLFN DXI GLH EHLGHQ 6SLHOÁlFKHQ IUHL XQG GLH =XVFKDXHU,QQHQ hatten einen ungewohnten Blickkontakt miteinander, konnten sich nicht unsichtbar machen in ihren Reaktionen auf das musikalische und szenische Geschehen. Beim Betreten des Saales wurden unkommentiert Portraits von Clara und Robert Schumann projiziert. Den inhaltlichen Rahmen bildete jeweils eine aus den vier Ecken des Raumes gesprochene Stimmmontage: Im einleitenden Teil bestand das Textmaterial aus unterschiedlichen Beschreibungen von Schumanns Tod, am Ende ging es um höchst unterschiedliche Bewertungen Clara Schumanns aus verschiedenen Biographien. Die Geschichte Clara Schumanns wurde also von vornherein als eine Geschichte perspektiviert, die nicht zu trennen ist von unserem Wissen um den Tod Schumanns und der Art und Weise, wie dieser uns überliefert ist, sowie von den widersprüchlichen Bildern, die die Autorinnen und Autoren der in den letzten Jahren zahlreich erschienenen Bücher über Clara Schumann von dieser Musikerin entworfen haben. „Clara“ war auf drei Sprecherinnen entsprechend der verschiedenen Lebensabschnitte verteilt. Die weiteren Rollen, „Robert Schumann“ und „Friedrich Wieck“, waren nur einfach besetzt. Zwei ,neutrale‘ Sprecherinnen kommentierten von den beiden Längsseiten aus durch Originaltexte Dritter.

260

Musik als Beziehungskunst

Das Ergebnis war also kein „Selbstabdruck eines Lebens“, sondern ein Abend zum Thema Zuschreibungen und Interpretationen, Selbstdeutungen und Fremdwahrnehmungen. Wer von der Veranstaltung erhoffte zu erfahren, wer Clara, wer Robert Schumann war, wurde nun mit einer Vielfalt von Blickweisen konfrontiert. Das Verhältnis Präsentierende – Publikum war hier also ein grundsätzlich anderes als an einem Abend, an dem zur Musik biographische Informationen gegeben werden. Jedes Hören ist auch ein Sinnstiften. Die Montage macht dies bewusst, indem sie die Hörerinnen und Hörer explizit dazu einlädt, sich selbst in die Texte mit ‚hineinzulesen‘ und ‚einzuschreiben‘. Dabei setzt sie nicht auf eine empathische +|UKDOWXQJ VRQGHUQ IRUGHUW HLQH 5HÁH[LRQ GHU HLJHQHQ 3HUVSHNWLYH 'LH Biographie von Clara und Robert Schumann wird somit zum „Effekt der Überlieferung“, zum „Effekt einer Lektüre, die das Biographische nicht als Gegebenheit nimmt.“15

„Bewegendes Literaturkonzert“ „Dicht gedrängt lauschten viele Besucher im voll besetzten Nicolaihaus dem bewegenden Zusammen-Schwingen von anschaulichen Spielszenen mit Lesungen von poetischen und autobiographischen Dokumenten mit vielfältigen musikalischen Darbietungen.“ Mit diesem Satz beginnt eine Rezension des Hellweger Anzeiger am 8. Mai 2001 über das Projektkonzert der Detmolder Musikhochschule mit dem Titel Ein Abend für Clara Schumann. Dass diese Konzerte selbst Kritiker mehr berühren als Hunderte ,normaler‘ Abende, ist eine Erfahrung, die ich in den letzten fünfzehn Jahren immer wieder gemacht habe. Ganz zu schweigen von den Mitwirkenden selbst, die oft die hier gewonnenen Erfahrungen nach dem Studium für eigene Konzertgestaltungen professionell nutzten. Dabei hat sich gezeigt, dass das vorgestellte Grundkonzept, wie eingangs erwähnt, nicht an eine Vielzahl von Mitwirkenden gebunden ist, sondern auch allein oder zu zweit realisiert werden kann.

Fazit Nicht nur in kleineren Städten, sondern auch in einer Stadt wie Berlin, deren BewohnerInnen eher unter der Überfülle des Angebots leiden, hat es sich gezeigt, dass inszenierte Konzerte eine sehr große Anziehungskraft entfalten und sich als eigenständige Form etablieren können. Das hat verschiedene Gründe:

261

Beatrix Borchard

- Es entsteht ein ungewöhnliches Konzertprogramm, in dem Stücke zur Aufführung kommen, die traditionellerweise nicht in einem Programm miteinander verknüpft werden. - Gerade durch das persönlich Vermittelte wird ein Konzert wieder zum unwiederholbaren Ereignis. - Die Veränderung des Aufführungsraumes, sei es durch Lichtgestaltung, durch andere Anordnung der Stühle etc., bringt die ZuhörerInnen in eine ungewohnte Position und Haltung. - Ein Großteil der Kompositionen des 19. Jahrhunderts, von der Zeit davor ganz zu schweigen, ist nicht für den Konzertsaal geschrieben. Der eingeschriebene Ort kann szenisch thematisiert werden. - Unbekannte Literatur, zumal von Komponistinnen, oder zeitgenössische Musik stößt nach wie vor bei Veranstaltern auf zumeist ökonomisch begründete Vorbehalte. Ein inszeniertes Konzert bietet jedoch die Möglichkeit, mit einem auf die Lebenswelten des Publikums bezogenen Thema zu werben und es mit neuen Stücken bekannt zu machen. - Es können auch Kompositionen einbezogen werden, die teilweise noch nicht einmal gedruckt sind. Der Werkstattcharakter solcher Konzerte lässt das Publikum an Entdeckungen teilhaben. - Wer kennt schon noch die Texte von auch noch so bekannten (Kunst-)Liedern? Werden Lieder aninszeniert, d.h. entweder in einen biographischen oder situativen Kontext gestellt, wird das Interesse auf den Inhalt der Texte gelenkt. - Ausführliche Programmhefte sind kein Verbrauchsmaterial, sondern, aufgemacht wie kleine Bücher, erlauben sie, hinterher verschiedene Aspekte, die in dem Konzert zur Sprache gekommen sind, in der Lektüre zu vertiefen. Wer in ein Konzert geht, möchte sich vielleicht entspannen, genießen, sich bestätigt fühlen, berührt werden, etwas Neues erfahren, nicht nur im kognitiven Sinne, sondern auch im emotionalen. Eine biographische Kontextualisierung der aufgeführten Musik und eine offene Form der Darbietung, beispielsweise durch das Prinzip der Montage, sind deswegen besonders gut geeignet, das Publikum mit einzubeziehen, weil sie einen affektiven und kognitiven Beziehungsraum öffnen. Damit wird an das Bedürfnis (von Musikern wie von Hörenden) nach Biographisierung angeknüpft, ohne vorzugeben, dass wir genau wissen, wer Bach, Beethoven, Brahms oder Clara Schumann waren, was sie gedacht oder gefühlt

262

Musik als Beziehungskunst

haben. Gleichzeitig wird durch die Gegenüberstellung verschiedener 3HUVSHNWLYHQ HLQHU XQJHEURFKHQHQ ,GHQWLÀ]LHUXQJ XQG GHU 9RUVWHOOXQJ dass Werk gleich Biographie ist, entgegengewirkt. Vielleicht wäre dies ein möglicher Weg für die „Konzerte der Zukunft“, Konsequenzen aus der Überlegung zu ziehen, dass – wie eingangs dargestellt – Zuhörer und Zuhörerinnen nicht passive Zeugen eines kommunikativen Geschehens sind, sondern Teil des Erklingenden und seiner Bedeutung.

Anmerkungen 1. Vgl. Üben und Musizieren, Heft 4 (August/September) 2002. 2. Felix Mendelssohn Bartholdy an Marc André Souchay vom 15.10.1842 in: Felix 0HQGHOVVRKQ%DUWKROG\%ULHIHDXVGHQ-DKUHQELV, hg. von Paul Mendelssohn Bartholdy und Carl Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1870, Bd. II, S. 346ff. 3. Siehe auch Heinemann 2008. 4. Wenn sich Joachim gleichwohl am Ende seines Lebens doch noch von Andreas Moser zu einer Interpretationsausgabe bestimmen ließ, ist dies kein Beweis für einen Sinneswandel in dieser Frage. Vgl. Joh. Seb. Bach: Sonaten und Partiten für Violine allein, hg. von Joseph Joachim und Andreas Moser, Berlin [1908] (Bote & Bock Nr. 16196). Vgl. zu dieser und anderen Ausgaben im Vergleich Andreas Moser: Zu Joh. Seb. Bachs Sonaten und Partiten für Violine allein, in: Bach-Jahrbuch 17, 1920, 30-65. 5. Vgl. Anm. 3. 6. Colosseum Schallplatten, Nr. Colos/StM 1015, Nürnberg 1965. Vgl. dazu Kraus 2003. 7. Weissmann 1918, S. 26 f. 8. Vgl. dazu Hinrichsen 2000 und ders. 1999. 9. So der Titel eines 1994 vom Hindemith-Institut Frankfurt veranstalteten Symposions. Vgl. Schubert 1997. 10. Vgl. Anm. 8. 11. Vgl. Anm. 9. 12. In Detmold verteilte sich die Einstiegsphase über mehrere „normale“ Sitzungen. Das Material konnten die Studierenden mit nach Hause nehmen und dort hören. Der Nachteil: Gruppenprozesse fanden nur in den Seminarsitzungen statt. Der Vorteil: ein geringerer organisatorischer Aufwand. 13. So lautet denn auch der Untertitel zu Deutschs Buch Gesammelt und erläutert von… 14. Vgl. Bericht der Studentin Damaris Unverzagt, in: $GQRWDP=HLWVFKULIWGHU+RFKVFKXOH der Musik Detmold, Doppelausgabe 2001, S. 25. 15. Aus der Besprechung des Buches von Barbara Hahn 2001, S. 570.

263

Beatrix Borchard

Literatur Billroth, Theodor (1912): Wer ist musikalisch? – Nachgelassene Schriften, KJYRQ(GXDUG+DQVOLFN$XÁ%HUOLQ Borchard, Beatrix (2000): „Die Sängerin Amalie Joachim und „Die VFK|QH0OOHULQ´YRQ)UDQ]6FKXEHUW´, in: Hoffmann, Freia (Hg.): Frauen- und Männerbild in der Musik. Festschrift Eva Rieger. Oldenburg: BIS, S. 69-80. Borchard, Beatrix (2002): „Musik im Kontext, Projektarbeit in der +RFKVFKXODXVELOGXQJ´, in: Üben und Musizieren, Heft 4, S. 16-23. Borchard, Beatrix (2003): „=ZLVFKHQW|QH0|JOLFKNHLWHQ XQG*UHQ]HQ  GHU0XVLNYHUPLWWOXQJ´, in: ÖMZ 58, Heft 8-9, S. 40-43. Borchard, Beatrix (2007): Stimme und Geige: Amalie und Joseph -RDFKLP%LRJUDSKLHXQG,QWHUSUHWDWLRQVJHVFKLFKWH. Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte Bd. 5, hg. von Reinhard .DSSXQG0DUNXV*UDVVO$XÁ:LHQ%|KODX Dahlhaus, Carl (1987): Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber: Laaber. Deutsch, Otto Erich (1963): 6FKXEHUW Die Dokumente seines Lebens (NGA VIII: Supplement, Bd. 5), Leipzig: Breitkopf & Härtel. Hahn, Barbara (2001): „/HVHQVFKUHLEHQRGHU6FKUHLEHQOHVHQ hEHUOHJXQJHQ]X*HQUHVDXIGHU*UHQ]H´, in: Modern Language Notes, 116 (2001), S. 564-578. Heinemann, Michael (2008): „&KDFRQQHDOVW|QHQGH3KLORVRSKLH´, in: Borchard, Beatrix / Zimmermann, Heidy (Hg.): Musikwelten – /HEHQVZHOWHQ-GLVFKH,GHQWLWlWVVXFKHLQGHUGHXWVFKHQ0XVLNNXOWXU, Köln: Böhlau, S. 109-116. Hinrichsen, Hans-Joachim (1999): „0XVLNDOLVFKH,QWHUSUHWDWLRQ+DQV YRQ%ORZ´, in: Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 46, Stuttgart: Franz Steiner, S. 156-230. Hinrichsen, Hans-Joachim (2000): „Musikwissenschaft: Musik – ,QWHUSUHWDWLRQ²:LVVHQVFKDIW´, in: Archiv für Musikwissenschaft 57, Stuttgart: Franz Steiner, S. 78-90. Kraus, Beate A. (2003): „(OO\1H\XQG7KpUqVH:DUWHO%HHWKRYHQ ,QWHUSUHWDWLRQHQGXUFK3LDQLVWLQQHQ²HLQH6HOEVWYHUVWlQGOLFKNHLW"´ in: Bartsch, Cornelia / Borchard, Beatrix / Cadenbach, Rainer (Hg.): Der männliche und der weibliche Beethoven. Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress vom 31.

264

Musik als Beziehungskunst

Oktober bis 4. November an der Universität der Künste Berlin, Bonn (Veröffentlichungen des Beethoven-Hauses Bonn: Reihe IV, Schriften zur Beethoven-Forschung Bd. 18, hg. von Ernst Herrtrich), Bonn 2003, S. 429-448. Ramann, Lina (1882) (Hg.): )UDQ]/LV]W*HVDPPHOWH6FKULIWHQ,9, Leipzig. Runge, Anita / Steinbrügge, Lieselotte (Hg.) (1991): )UDXLP'LDORJ Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes. Stuttgart: Metzler. Schubert, Giselher (1997) (Hg.): Biographische Konstellation und Künstlerisches Handeln. Symposionsbericht, Mainz (Frankfurter Studien, Veröffentlichungen des Paul-Hindemith-Instituts Frankfurt a.M., Band 6. Stiller, Barbara / Wimmer, Constanze / Schneider, Ernst Klaus (Hg.) (2002): 6SLHOUlXPH0XVLNYHUPLWWOXQJ.RQ]HUWHIU.LQGHU entwickeln, gestalten, erleben. Regensburg: ConBrio. Weissmann, Adolph (1918): Der Virtuose. Berlin: Paul Cassirer.

265

Das Concerto recitativo Was? Wie? Warum?

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse

Musikalische Kunst ist schwer. Das tönt paradox, denn: Kein Medium fährt sinnlich derart pfeilschnell unter die Haut wie Musik. Davon weiß jeder zu berichten, der im Konzertsaal ein wohltemperiertes Vollbad in Bruckners Neunter oder eine rauschende Orgel-Dusche in der Kirche nahm. Die sensorische Unmittelbarkeit auf der einen Seite korreliert andererseits mit der Erklärungsbedürftigkeit von Musik als Artefakt, als Kunstgebilde, als Gebilde der „Tätigkeit des Geistes in geistfähigem Material“, um Eduard Hanslick beim klugen Wort zu nehmen. Hier ist der kritische Punkt, wo der schwindende Bildungsfundus (den auch der tägliche, klägliche Musikunterricht kaum wiederbelebt) zu jener Form der musikalischen Begriffsstutzigkeit führt, welche ihrerseits die Überzeugung zur Folge hat, man sollte um die eigene Hochkultur lieber einen großen Bogen machen, weil sie irgendwie abgewirtschaftet hätte. Doch nicht sie wurde minderwertig und minderbedeutend, vielmehr läuft sie Gefahr, sich im Horizont eines grassierenden Orientierungsverlustes ]X YHUÁFKWLJHQ :HQQ QLHPDQG PHKU LP ZHLWHQ 6WDGLRQUXQG GLH 5DIÀQHVVHHLQHV'RSSHOSDVVVSLHOVRGHUGLH3ÀIÀJNHLWHLQHUJHVFKLFNWJHbauten Abseitsfalle verstehen, d.h. genießen könnte, wäre das Schicksal des Spitzenfußballs besiegelt. Musikalische Hochkunst ist schwer. Sie fordert, entsprechend ihrem eigenen Bildungsstand, einen gebildeten Dialog von dem, der sich ihr nähert und sie möglicherweise neugierig fragt: „Warum bist Du, was und wie

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse Du bist?“. Und weil Musik von ästhetischem Rang und geschichtlicher Rückblicksweite nun mal nicht nur für Menschen mit zehn Semestern musikwissenschaftlichem Studium geschrieben wurde bzw. aufgeführt wird, braucht es ,Grenzüberschreitungen’: wohlbedachte Übergänge von der grenzenlosen Geistigkeit des Kunstwerks zum mehr oder weniger begrenzten Verstehens-Horizont ihrer Hörer. Abgesehen von weitgehend lieblos verfassten Programmheften lässt der Konzertsaal seine Konzertbesucher indessen grausam allein mit der Musik. Kein Zoo auf der Welt, der seine Besucher nur die Tiere bestaunen ließe; und welch noble Formen der Öffnungen von Grenzen zwischen Kunst und Betrachter möglich sind, darf man in jedem Museum studieren. Wir geraten ins Museum eines von den Nazis ermordeten jüdischen Malers, begrüßt von einer Dame, die uns zwei Sunden lang durch die Räume führt und vor die Bilder. Doch nicht nur das – alles vernetzt sie mit allem: das private Schicksal des Malers mit seiner Zeit, die Architektur mit den Bildern, die Vergangenheit mit der Gegenwart, die optischen mit den akustischen Eindrücken, die lokalen Kontexte mit den regionalen Kontexten. Nicht einmal zwanzig Prozent von allem hätten wir wahrgenommen ohne diese anspruchsvolle, gleichwohl ansprechende Führung. Danach war uns klar: Wir hatten eine anregende Begegnung mit Kunst, doch das eigentliche Kunstwerk war diese aufregende Führung. Sie hat den Blickwinkel weit gemacht und tief, die Augen geöffnet, die Ohren und damit unser Herz.

Vermittlungskultur Das Gebot der Stunde also heißt Vermittlungskultur. Angesichts einer schier unübersehbaren Fülle an historisch gespeicherten Dokumenten im übervollen Warenhaus der Kunst braucht es eine besondere Form der interkulturellen Grenzüberschreitung, eine ehrgeizige Vermittlung zwischen Hochkunst und einer bedrohlich tief gesunkenen Wahrnehmungskultur. Es braucht blitzgescheite Führungen durch die Ausstellungsräume des geistigen Fortschritts, plausible Vernetzungen der traditionelOHQ (ULQQHUXQJ PLW DNWXHOOHQ 3HUVSHNWLYHQ (UVWH 3ÁlQ]FKHQ GUlQgen ans Licht: Wolfenbüttel veranstaltete ein großes Symposion des Titels Zukunftskonzert – Musikvermittlung und Aufführungskultur. Die Körber-Stiftung widmete sich dem Thema 3XEOLF 'HYHORSPHQW

268

Das Concerto recitativo Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur bietet Förderprogramme Musikvermittlung an. Die Wegweiser sind in die richtige Richtung gestellt. Noch einmal und mit Nachdruck: Musik ist in hohem Maße erkläUXQJVEHGUIWLJ LKUH DEVWUDNWH 8QEHJULIÁLFKNHLW UXIW QDFK EHJULIÁLFKHU +LOIH XQG ÀQGHW VLH LP 0HGLXP 6SUDFKH ,P 3URJUDPPKHIW ]% GRFK dessen Hilfestellung ist karg, wenn es ausschließlich mit formalanalytischen Hinweisen aufwartet (dass beispielsweise „das Seitenthema der Exposition in der Reprise in augmentierter Gestalt wiederkehrt“). Außerdem wird im Konzertsaal beim ersten Ton schon das Licht gedimmt, womit die Lektüre bald einmal ein Ende hat. Üblich sind hier und dort kurze Einführungsvorträge, gelegentlich auch ,running comments’, mehr oder weniger ernsthafte bzw. launige Moderationen. Das Publikum vernimmt sie dankbar, denn: Musik ist ein in der Zeit unerbittlich verÁLH‰HQGHV0HGLXPHUVWZHQQGHUOHW]WH7RQYHUNOXQJHQLVWEHJUHLIWPDQ rückerinnernd Form und Gestalt. Musik entsteht, indem sie vergeht, man möchte es beinahe fatal nennen. Deswegen ist es oft schwer zu begreifen, was man gehört hat. Insofern ist ein Moderator willkommen; er weist darauf hin, was man hören wird. Andere und derzeit hoch gehandelte Formen der Musikvermittlung ähneln schicken Verpackungskünsten: Musik in stillgelegten Nazi-Bunkern oder leer geräumten Lokomotivhallen aufzuführen, mag einen gewissen Überraschungskitzel machen, indessen bleibt er für musikalisches Verstehen resp. Erleben bedeutungslos. Hat man einmal Bläserserenaden an oder in solchen Lokalitäten gehört, dann war’s das ... Verfremdungen dieser Art sind nicht nach-tragend, soll heißen: nicht seriabel, denn schon ein zweiter Nazi-Bunker-Abend – jetzt mit Schubert-Quartetten – wäre schlicht unerträglich. Von der Geschmacklosigkeit, ein blutiges Kapitel politischer Zeitgeschichte konzertdramaturgisch zu instrumentalisieren und gewinnträchtig zu recyceln, wollen wir erst gar nicht reden. Wenn Vermittlungskultur äquivok mit Vermittlungskunst sein soll, EUDXFKWHVDUWLÀ]LHOOHUH)RUPHQGHUJUHQ]EHUVFKUHLWHQGHQ3UlVHQWDWLRQ von Musik. Sie deuten sich an in jenen dramaturgischen Strukturen, die MHGHPDXVDOOWlJOLFKHU)LOPZDKUQHKPXQJJHOlXÀJVLQG0RQWDJHQE]Z Collagen. Filmszenen sind diskontinuierlich gebaut, organisieren das zu Erzählende in parallelen Schaltungen, arbeiten mit zeitlichen oder inhaltlichen Sprüngen, fordern vom Betrachter, dass er die Lücken im Erzählkontinuum selber ausfüllt, was sie ihm allerdings dadurch leicht

269

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse machen, dass die Montage- bzw. Collage-Fragmente miteinander verwandt sind, dass sie ,passen’; jedes Kind versteht dieses Puzzle, und jedes Kind liebt Werbespots, weil sie narrative Kleinstkunstwerke sind. Überträgt man nun dieses allen Menschen wohl vertraute Wahrnehmungsmuster auf eine entsprechend gestaltete Vermittlungsdramaturgie, dann steuert man unweigerlich auf ein Präsentationsformat zu, wofür wir keinen besseren Begriff als den des Concerto recitativo gefunden haben. Dessen Grundzüge seien im Folgenden beschrieben und mit einem angehängten Belegstück exemplarisch dokumentiert.

Das Concerto recitativo … - spekuliert nicht auf modische Bedürfnisse (nach singulären Events oder nach exklusiven Aufführungs-Orten), sondern trägt einer fundamental menschlichen Bedürftigkeit des potenziellen Musikliebhabers Rechnung: der Bedürftigkeit nach Aufklärung und Bescheidwissen. Es nimmt seinen Wunsch à la lettre, erklärungsbedürftige Musik verstehen zu können, - sorgt für Aufklärung und wissende Teilhabe auf behutsam ,verdeckte‘ Weise, die ihm nicht peinlich ist (wie das bei belehrenden Erklärungen oft der Fall ist), - ist deswegen prinzipiell ein ,Rezitations-Konzert‘ - verknüpft die gespielte Musik mit dem geschliffen geschriebenen und gesprochenen Wort, das nach dem Muster des ,Concerto grosso‘ die Musik mit literarischen Fortspinnungen durchwebt und belebt mit dem Ziel eines musikalisch-sprachlichen ,Beziehungszaubers‘, - folgt einem zeitgemäßen Ästhetikbegriff, das musikalische Kunstwerk in seinen vielfältigen ,Vernetzungen‘ zu präsentieren, - ist strukturell mit der Collage bzw. Montage identisch, seine Form ist dem Dramolett verwandt, dem Hörspiel, dem Radio-Feature, - erzählt Geschichten rund um die Musik, zeichnet das Portrait eines Komponisten, thematisiert private, politische oder ästhetische .RQÁLNWH - macht Vergangenheit gegenwärtig und rückt Gegenwärtiges in den Horizont von Geschichte,

270

Das Concerto recitativo - stellt Musik in ihr kulturgeschichtliches Koordinatennetz im Sinne eines klingenden ,Setzkastens‘, - tut eines ganz betont nicht: Musikwerke formalanalytisch erklären. Konzerte sind keine Musikstunden, - tut eines ganz betont: der Musik ein persönliches, ein individuelles Gesicht geben, man nennt es die ,existentielle Bedeutsamkeit‘ eines Kunstwerks, - erhellt die Bedeutung von Musik für Menschen in doppelter Perspektive: für Menschen heute, für Menschen damals, - stellt die oft anrührenden Schicksale von Musik dar oder derer, die sie komponierten, - bewirkt, dass infolge der ,Vernetzung‘ von Musik mit ihrer Herkunft, mit ihrer Entstehungsgeschichte und/oder mit ihrer :LUNXQJVJHVFKLFKWHHLQHNXOWXUHOOH$QQlKHUXQJVWDWWÀQGHWOLYH auf der Bühne und in kunstvoller Darbietungsweise, womit sich das Concerto recitativo dezidiert von sog. Moderationskonzerten unterscheidet, - präsentiert Musik auf hohem künstlerischen Niveau und bietet auf hohem philologischem Niveau zugleich die geistige Auseinandersetzung mit eben dieser Musik, - stellt in Rechnung, dass ca. 97 Prozent der Konzertbesucher Laien sind, und hilft ihnen, musikalische Kunstwerke genauer zu orten, besser zu verstehen, d.h. intensiver und nachhaltiger zu erleben, - geht von gesicherten Erkenntnissen der ,Kognitiven Psychologie‘ aus, wonach der Zuwachs an Wissen zu reicheren emotionalen Eindrücken führt. Gefühle lassen sich lernen, sozusagen, - wagen deswegen eine besondere Form der Vermittlung live auf dem Podium: philologisch gründlich auf der einen Seite, unterhaltsam auf der anderen. Was lustvoll (und gegebenenfalls humorvoll) erfahren wird, prägt sich lebhafter und dauerhafter ein, - verwendet eine Sprache, die sensibel genug ist, Menschen anzurühren, und die zugleich bildstark ist, um ihre Phantasie anzuregen, - folgt dem ehrgeizigen Programm, die Vermittlung von Musik so kunstvoll zu gestalten wie die Musik selbst, mit anderen Worten,

271

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse die Texte der für jeden Konzertabend eigens geschriebenen ,Drehbücher‘ auf musikästhetische Augenhöhe zu bringen. Kunstvolle Musik braucht adäquate sprachliche Kunstfertigkeit, - ist deswegen ein literarisch-musikalisches Gesamtkonzept mit einer ausbalancierten ,wellenförmigen Dramaturgie‘, darin sich Musik und Sprache zu intensiver Wechselwirkung verschränken: Die zwischen die Texte gesetzte Musik erklärt sich dadurch wie von selbst, und die von der Musik ausstrahlenden Stimmungen wirken auf den Text zurück – wie in einem gut gemachten Radio-Feature. Außerdem stiftet dieser wellenförmige Wechsel aus Sprachklang und Musikklang eine besonders kurzweilige und deswegen besonders laienfreundliche Wahrnehmung, - enthält einen ca. 45 min langen ,Rezitations-Teil‘ (Mischungsverhältnis etwa 50 Prozent Musik zu 50 Prozent Text), danach folgt ein komplettes, unkommentiertes Werk, - folgt der Idee, für dieses nachfolgende komplette Werk im Rezitations-Teil sozusagen den Teppich auszurollen, d.h. erst wenn der ,Rahmen‘ vorbereitet ist, kann das eigentliche ,Bild‘ problemlos erkannt und verstanden werden, - lässt also den Text (Musik) organisch aus dem Kontext (Hörspiel) herauswachsen; danach sollte man die Zuhörenden mit der Musik allein lassen, allein mit ihren Assoziationen, Projektionen und Kontemplationen, - ist ein Konzerttyp, der wegen seiner sorgsam komponierten Ganzheit aus Geschichte, Geschichten und Musik nur live erlebt werden kann, was es auf CDs so nicht gibt, - ergänzt manche Konzerte durch Bild- und Textprojektionen, was einer (vornehmlich jugendlichen) audiovisuellen Alltags-Ästhetik entspricht, - PDFKWNRQVHTXHQWHUZHLVHHLQ3URJUDPPKHIWEHUÁVVLJ - fußt auf dem fundamentalen Prinzip aller narrativen Vermittlungen: Wer Geschichten erzählen will, muss hinführen, durchführen, Spannungsbögen bauen auf ein Finale hin. Genau das passiert hier, - ist folglich in seiner Struktur dem fünfaktigen Drama verwandt, - zollt obendrein der einen wie der anderen musikalischen

272

Das Concerto recitativo Wahrnehmungsweise Tribut: Bei vielen Konzerten geben sich die Zuhörenden in mancherlei Weise der Musik hin, das ist gut so. Im Concerto recitativo hören und schauen sie auch hinter die Kulissen von Musik, eine ganz neue Erfahrung, - möchte (um mit Thomas Mann zu sprechen) die Zuhörenden „nachdenklich“ machen und „mit Neuigkeiten beschwert“ entlassen, - KDWKlXÀJGHQ(IIHNWGDVVGLH%HVXFKHUDQVFKOLH‰HQGQLFKWVRIRUW nach Hause gehen, sondern – weil geistreich an- bzw. aufgeregt – untereinander oder mit den Ausführenden die Diskussion suchen, - ist hinsichtlich seiner Inhalte sowie seiner musikalischsprachlichen Darbietungsform betont exklusiv; es nimmt in Zeiten einer allgemeinen Popularisierung von Musik die Zuhörenden mit „nach oben“, auf die „Höhenwege“ großer Kunst, dorthin, wo außergewöhnliche geistige Abenteuer versprochen werden, - ÀQGHWDQ2UWHQVWDWWZHOFKHHLQHJHZLVVH,QWLPLWlWGHV6SUHFKHQV Musizierens und Wahrnehmens garantieren: Rathaussaal, Kirche, Hotel, Kleiner Sendesaal, Schul-Atrium, Aula, Schlosshalle, selbstverständlich Kammermusik-Lokalitäten jeder Art, - hat uns die Erfahrung machen lassen, dass sich Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen davon verzaubern lassen, dass man ihnen eine Klang-,Geschichte‘ erzählt, durchaus im Sinne von Lessings Nathan dem Weisen: „Nicht nur die Kinder speist man mit Märchen ab“, - macht neue Publikumsschichten insofern auf sich aufmerksam, als es Hörer in seinen Bann schlägt, welche sich in Konzerten, in denen nur Musik gespielt wird, alleingelassen fühlen, besonders bei der Musik des 20. Jahrhunderts, - bietet einen unendlichen Reichtum an Dramaturgien analog seiner Themen: Beziehungsgeschichten (z.B. Johannes Brahms und Clara Schumann; Fanny und Felix Mendelssohn), Exklusivinterviews (mit Joseph Haydn oder Ludwig van Beethoven), Dreieckskonstellationen (Haydn, Beethoven und Ries in Der lange lange Weg des Herrn van Beethoven nach London), Komponistenportraits (vom politischen Chopin oder vom diabolischen Paganini), Streitgespräche zweier

273

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse Psychotherapeuten (Tschaikowskij – richtiges Leben zur falschen Zeit?), Parallelmontagen (Astrid Lindgren und Olivier Messiaën), Zeitrevuen (:LHNODQJGLH:HOWLP-DKU"), politische Diskurse (,KDYHD'UHDP²0DUWLQ/XWKHU.LQJ oder An diesem XQJOFNVHOLJHQ0DLGHV-DKUHV), Nachrufe (auf Anna Magdalena Bach), Ereignisse (Bach Musikalisches Opfer), Monologe (Das Mädchen und der Tod – Schuberts d-MollQuartett), Liebeserklärungen (an die Geige oder an die Klarinette), Kabarett (.DUQHYDOGHU7|QH), Kontrapunkte für mehrere Sprecher (Aus dunkler Zeit – Dmitrij Schostakowitsch) und vieles mehr. Nachfolgend das formattypische Libretto eines Konzerts im Rahmen des Bonner Beethovenfestes, veranstaltet am 17. September 2008 im Palais Schaumburg. Zwei Dinge sind uns besonders eindrücklich in Erinnerung: 1. die unmittelbar nach Ende einsetzende Diskussion der Konzertbesucher mit uns bzw. untereinander. Niemand eilte zur Garderobe, niemand ging nach Hause. Man erregte sich darüber, dass wir eine Ney-Schelte gemacht hätten; man erregte sich über Kreitens Mitleid heischendes Schicksal; man erregte sich über unsere „Empörungsrhetorik“; man erregte sich, Werner Höfer ins Spiel gebracht zu haben; man erregte sich auch über die Musik – sie hätte an berechneter Stelle berechnete Wirkung gemacht. Wichtig aber war uns nicht, worüber man sich erregte, sondern dass man es tat. Man tut es nach einem ,normalen‘ Konzert nie. 2. die abschließende 6RQDWHF0ROORSYRQ%HHWKRYHQ,KUÀHODQheim, den verbalen Diskurs zu übernehmen und musikalisch fortzuführen, was insofern von starker Wirkung war, als man alles, was bis zum Eintritt der ersten Oktaven erörtert wurde, dann auf die Musik projizierte: alle im Rezitationsteil bewusst offen gehaltenen Fragen, Anmutungen, Sprachbilder und ausgetauschten Argumente. Dass Musik in jener besonGHUHQ:HLVHUHÁHNWLHUWJOHLFKHLQHPW|QHQGHQ+RKOVSLHJHOLVWHLQHQHXH und aufregende Erfahrung und legt den zwingenden Schluss nahe, dass sie, die Musik, stets nur so wider-spricht, wie es das Koordinatennetz, worin man sie einspannt, gestattet.

274

Das Concerto recitativo

An diesem unglückseligen 3. Mai des Jahres 1943 ... 1: Sprecherin Annette Kristina Banse 2: Sprecher Hans Christian Schmidt-Banse Klavier = Keiko Hattori MUSIK 1: Beethoven op. 111, 1. Satz T. 1–2 [Elly Ney, CD Track 1] Praeludio Ein Tag wie jeder andere 1) ... Montag, 3. Mai 1943 ... 2) ... das Thermometer zeigt 19,5 Grad Celsius ... 1) ... alliierte Bomber werfen ihre tödliche Fracht über dem Ruhrgebiet ab ... ein Tag wie jeder andere 2) ... die letzten deutschen Einheiten kapitulieren in Nordafrika ... 1) ... Karl Böhm wird neuer Direktor der Wiener Staatsoper ... 2) ... das Reichswirtschaftsministerium verbietet die Herstellung von Spielzeugen... ein Tag wie jeder andere ... 1) ... in Stalingrad werden mehr als 100.000 deutsche Gefangene gezählt ... 2) ... Berlin meldet die totale Vernichtung des Warschauer Ghettos, obendrein die Liquidierung von 50.000 jüdischen Rebellen ... 1) ... ferner die Verhaftung des Widerständlers Dietrich Bonhoeffer ... 2) ... sowie die protokollarisch korrekte Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl ... 1) ... der Himmel wolkenlos ... 2) ... die Schulen geschlossen wegen feindlicher Luftangriffe ... 1) ... ein Tag wie viele andere Tage auch ...

MUSIK 2: Beethoven op. 111, 1. Satz T. 3 - 4 [Keiko Hattori, wie eine Antwort] 2) ... Heinz Drewes, Abteilungleiter ,Musik’ im Reichspropagandaministerium, verfügt die Aufrechterhaltung des öffentlichen Musiklebens auch in den bombengeschädigten Gebieten ... 1) ... was ein besonderer Tag hätte werden können für die Pianistin Elly

275

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse Ney... Alter 61 Jahre... 2) ... wäre sie nicht Wochen zuvor im Frankfurter Saalbau die Treppe hinabgestürzt mit der Folge eines komplizierten Bruchs des Handgelenks ... 1) ... ein Tag wie mancher andere indessen für den Klavier-Virtuosen Karlrobert Kreiten... Alter 26 Jahre, 11 Monate und 23 Tage ...

Exposition: Thema 1 Å(LQZDKUHU+H[HQPHLVWHUGHV.ODYLHUV´ 1) ... am frühen Nachmittag dieses 3. Mai im Jahre 1943 wirft Karlrobert Kreiten in seinem Heidelberger Hotelzimmer einen letzten prüfenden Blick auf die Noten ... MUSIK 3: Beethoven, Variationen c-Moll WoO 80 [Thema] 1) ... der Saal der Neuen Universität zu Heidelberg seit Wochen ausverkauft bis auf den letzten Platz, Kreiten ist kein Unbekannter ... 2) ... als aufstrahlender Stern am Pianistenhimmel zieht er leuchtende Spuren in den Feuilleton-Kolumnen aller namhaften Blätter ... „Unter den Jungen wüssten wir keinen, der ihm dies nachspielt“ ... 1) ... jubelt die 0QFKQHU=HLWXQJ 2) ÅXQGXQWHUGHQ$OWHQIlOOWHLQHPK|FKVWHQV%DFNKDXVHLQ>@6LHKDben beide die Unfehlbarkeit der Technik, für die es keine Schwierigkeiten zu geben scheint, und die gleiche traumwandlerische Sicherheit des Spiels, das nach der Seite der Rapidität bei vollkommener Plastik und 0KHORVLJNHLWGHU*HVWDOWXQJNHLQH*UHQ]HQNHQQW´ MUSIK 4: Var. 1-3 1) ... und im Kölner Neuen Tag steht im Januar 1943 zu lesen... 2) .Å1XUZHQLJHU-DKUHKDWHVEHGXUIWXPDXVGHPMXQJHQ9LUWXRVHQHLnen wahren Hexenmeister des Klaviers zu machen, der sich nun auch im erlauchten Rahmen eines Gürzenichkonzerts vorstellte, einen Künstler XQG.RQ]HUWVSLHOHUYRQZDKUKDIWLPSRQLHUHQGHP)RUPDW´ MUSIK 5: Var. 4+5 1) ... indessen Elly Ney, 34 Jahre älter als Kreiten, seit langem schon von der Aura einer der Musik geweihten Priesterin umglänzt ist ...

276

Das Concerto recitativo

Exposition: Thema 2 Å7LWDQLVFKH.UDIWDXVEUFKH´ 1) ... Ferdinand Pfohl in der +DPEXUJHU0RUJHQSRVW 2) .Å(OO\1H\LVWLQLKUHUJDQ]HQ$UWSDWKHWLVFKH6SLHOHULQHLQH1DWXU die in elementaren Donnerwettern, in titanischen Kraftausbrüchen, im Kult eines breiten Klaviertons von orchestraler Fülle wurzelt, aber auch in rein musikalischen Werten wie in der Darstellung des lyrischen (PSÀQGXQJVPRPHQWHV]X+DXVHLVW´ MUSIK 6: Var. 6–8 1) ... man könne sich Elly Ney (schreibt Karl Holl in der Frankfurter Zeitung) kaum anders vorstellen, als sie sich gebe ÅHLQIDFKDQVSUXFKVORVJUR‰OLQLJDEHULQMHGHU%H]LHKXQJXQJHZ|KQOLFK´ 2) Å(OO\1H\OHEWVRVWDUNLP:LOOHQVUK\WKPXVXQGLQGHU9RUVWHOOXQJVZHOW %HHWKRYHQV>@GDVVPDQVLHDXFKDOV3ULYDWSHUVRQIUHLQHVRWHULVFKHV GHU:HOWDEJHZDQGWHV:HVHQKDOWHQNDQQ´ 1) ... wo sie am 3. Mai des Jahres 1943 gespielt hat – wir wissen es nicht ... 2) ... in Homburg möglicherweise... nur sechs Wochen nach dem Bruch ihres Handgelenks ... 1) ... aber wir wissen, dass sie ihre Klavierabende zu Weihrauch duftenden Gottesdiensten verklärte ... einer aus der fromm ergriffenen NeyGemeinde namens Dr. Ludwig Delp legt Zeugnis ab ... 2) . Å'D VWDQG VLH YRU GHP VFKZDU]HQ )OJHO DXIJHULFKWHW >@ ,KUH Hände – schlanke weisse Hände, in deren schmalen Gelenken nur *HIKO]XOLHJHQVFKLHQXQG0XVLN>@'DQQÀHOHQGLH7|QHLQGHQ 5DXPZDUPXQGOHEHQGLJYRQ/HLGHQVFKDIWGXUFKJOKW'LH6SLHOHULQ VD‰PLWJHVFKORVVHQ$XJHQ*DQ]IHUQZDUVLHJDQ]LQQHQJDQ]ZHLWDXV GHP5DXPXPVLH>@9RQGHUGXQNOHQ:DQGKHUDEJU‰WH%HHWKRYHQV %LOG´ MUSIK 7: Var. 9

Durchführung I Å.UHLWHQ.RQ]HUWIlOOWDXV´ 1) ... an diesem Abend des 3. Mai jenes Jahres, da Joseph Goebbels Tausende von Angst berauschte Volksgenossen fragte, ob sie den ,totalen Krieg‘ wollten ...

277

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse    DQ GLHVHP XQJOFNVHOLJHQ  0DL ÀQGHW GDV .ODYLHUUH]LWDO LP Universitätssaal zu Heidelberg nun doch nicht statt ... 1) ... die in froher Erwartung herbeigeströmten Menschen stauen sich vor der Eingangstür, daran ein Zettel hängt ... 2) Å.UHLWHQ.RQ]HUWIlOOWDXV´  ZDUXPHVDXVIlOOWXQGDXFK]XHLQHPVSlWHUHQ7HUPLQQLFKWVWDWWÀQden wird?... 2) ... weil die ,Gestapo’ um 18 Uhr, eine Stunde vor Konzertbeginn, Kreiten im Hotel verhaftet hatte und unverzüglich nach Berlin verbrachte ... 1) ... warum man ihn inhaftierte? ... 2) ... weil er – vorübergehend bei einer Freundin seiner Mutter in deren Berliner Wohnung logierend – defätistische Bemerkungen fallen ließ ... 1) ... Ellen Ott-Moneke ihr Name, stramme Nationalsozialistin ... 2) ... Frau Ott-Moneke berichtet das von Kreiten Gesagte ihrer im gleichen Hause wohnenden NS-Schulungsleiterin, einer gewissen Frau Ministerialrat Anne-Marie Windmöller ... 1) ... Frau Windmöller wispert das Kreiten-Skandalon ihrer FrauenschaftsVerbündeten Tiny von Passavent ins Ohr ... 2) ... woraufhin alle drei parteifanatischen Damen – wir schreiben den März 1943 – Anzeige bei der Reichsmusikkammer erstatten ... 1) ... dort aber ist der junge Pianist bestens akkreditiert, also hält man sich bedeckt ... 2) ... empört gehen unsere linientreuen Frauen eine Tür weiter ... 1) ... zur ,Gestapo’ in die Prinz Albrecht-Strasse ... 2) ... jetzt kommt der Fall ins Rollen... über dem Kopf des noch ahnungslosen Karlrobert Kreiten ziehen sich erste dunkle Wolken zusammen ... 1) ... seinen fulminanten Konzert-Erfolg am 23. März im Berliner Beethovensaal quittiert das Musikfeuilleton mit eisigem Schweigen ... 2) ... für das in Florenz angekündigte Liszt-Rezital wird die Ausreisegenehmigung verweigert ... die italienischen Plakate mit den Namen ,Carlo Roberto Kreiten’ müssen überklebt werden ... 1) ... am Vorabend des unglückseligen 3. Mai 1943 läutet bei Vater Theo Kreiten in Düsseldorf das Telefon ...

278

Das Concerto recitativo 2) ... es meldet sich ein angeblicher Freund und möchte wissen, in welchem Heidelberger Hotel Karlrobert übernachte ... 1) ... tags darauf wird er in eben diesem Hotel festgenommen ... 2) Å.UHLWHQ.RQ]HUWIlOOWDXV´ MUSIK 8: Var. 10-12

Interludio dramatico Å6FKPXW]LJHU$QJULII´ 1) ... nochmal bitte: warum musste es ausfallen? ...  ZHLOGHUMXQJH0DQQGHU)UHXQGLQVHLQHU0XWWHU]XJHÁVWHUWKDWWH der Krieg werde nicht mehr lange dauern ... 1) ... der Führer sei krank und das deutsche Volk einem Wahnsinnigen ausgeliefert... das Urteil des Volksgerichtshofes vom 3. September 1943 begründet der Vorsitzende, ein furchtbarer Jurist namens Dr. Freisler, wie folgt ... 2) .Å6RVDJWHHUGHU)KUHUVHLEUXWDO>@,Q]ZHLELVGUHL0RQDWHQ ZHUGH5HYROXWLRQVHLQXQGGDQQZUGHQGHU)KUHU*|ULQJ*RHEEHOV XQG)ULFNHLQHQ.RSINU]HUJHPDFKW·´ 1) ... das alles gebe Kreiten zu, schreibt Präsident Dr. Freisler ... 2) Å'DVDOOHVXQGQRFKPHKU>@(UZLOOVLFKGDPLWHQWVFKXOGLJHQ er habe all dies nur als Gerücht gesagt und um Frau Ott-Moneke als Parteigenossin zu ärgern, weil sie politisch so unwissend sei und gar QLFKWVYRQGHQ*HUFKWHQZLVVHGLHPDQVRDXIGHU%DKQK|UH´ 1) ... was er getan habe, wettert der Herr Doktor ... 2) .Å:DVHUJHWDQKDWLVWHLQVFKPXW]LJHU$QJULIIDXIGLH*OlXELJNHLW HLQHUGHXWVFKHQ9RONVJHQRVVLQ(UKDWGDPLW|IIHQWOLFKXQVHUH.UDIW]X mannhafter Selbstbehauptung in unserem Schicksalskampf angegriffen QDFK†.6692>@:HUVRZLH.UHLWHQKDQGHOW 2) ... tut darüber hinaus gerade das, was unsere Feinde möchten; er macht sich zu ihrem Handlanger in ihrem Nervenkrieg gegen die Haltung unseres Volkes nach § 91 b StGB“ ... 1) ... mit Freislers Urteilsspruch sind wir der Zeit allerdings um einige Monate vorausgeeilt ... vorderhand sitzt Kreiten ein im Untersuchungsgefängnis Moabit ...

279

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse 2) ... wo die Häftlinge auch während der Bombenangriffe gefesselt in ihren Zellen verbleiben ... 1) ... derweil draußen sich das Roulette der verzweifelten Eingaben, Fürsprachen und Gnadengesuche zu drehen beginnt seitens der entsetzten Familie ... 2) ... obendrein mit mutigen Demarchen von prominenten Persönlichkeiten wie Fritz von Borries und Wilhelm Furtwängler... 1) ... von Elly Ney auch? ... sie stammt aus Bonn wie der in Bonn geborene Kreiten... 2) ... sie, die etablierte Kollegin eines aufstrebenden jungen Pianisten, hätte löwenmähnig an vorderster Front aller Solidarischen für ihn kämpfen müssen? ... 1) ... ja ... 2) ... tut sie nicht, sie kämpft ganz woanders ... an der ,Deutschen Arbeiterfront’ z.B. .... ab Mai 1937 ist sie Mitglied der NSDAP und der ,NS-Frauenschaft’ ... ferner Ehrenmitglied im ,Bund Deutscher Mädel ... 1) ... den Gesetzen der Karriere gehorchend, nicht ihren inneren Überzeugungen...    YRU DOOHP GLHVHQ  EHL HLQHP NXOWXUSROLWLVFKHQ $UEHLWVODJHU GHU Reichsjugendführung hört man sie in Weimar reden ... 1) Å'LH-XJHQGYHUWUDXWLKUHQ)KUHUQEHGLQJXQJVORVZHLOGLHVHVLFK die idealistischen, von Adolf Hitler vorgeschriebenen Ziele zu eigen gePDFKWKDEHQ´ MUSIK 9: Var. 13+14

Intermezzo patetico Å3ULHVWHULQGHUGHXWVFKHQ.XQVW´ 2) ... nicht von ungefähr verleiht Hitler ihr den Titel eines ,Professors honoris causa‘ ... 1) ... mit welcher Begründung? ... 2) Å)UGLHJUR‰H,QWHUSUHWLQXQG+WHULQGHV(UEHVXQVHUHV/XGZLJ YDQ%HHWKRYHQ´dafür dankt sie ihm aufs Schönste ...

280

Das Concerto recitativo 1) Å(VZLUGZHLWHUKLQPHLQKHL‰HV%HVWUHEHQVHLQXQVHUHU-XJHQGGLH Einheit des gewaltigen Geschehens durch unseren Führer mit den erhaEHQHQ6FK|SIXQJHQXQVHUHU0HLVWHUQDKH]XEULQJHQ´ 2) ... sie ist, was man eine von Gott begnadete Künstlerin nennt... diesen göttlichen Gnaden gesellen sich die politischen hinzu... vor dem großen Beethoven verbeugt sie sich ebenso devot wie vor dem großen Führer ...  ZDVVLH]XU*DOOLRQVÀJXUGHUGHXWVFKHQ0XVLNNXOWXUPDFKWLQGHU Schreibweise einer Partei ergebenen Musikwissenschaft liest sich das so ... 2) Å:RVLHDXFKGHQ)OJHOPHLVWHUWVHLHVLPEHUIOOWHQ.RQ]HUWVDDO GHU*UR‰VWlGWH>@RGHUYRU6FKOHUQGHU+-GHP%'0RGHULQ%HWULHEHQ der Fabrik: die geniale Künstlerin offenbart immer die Geheimnisse um das tiefste Wesen aller Musik und wird so zur Priesterin der deutschen .XQVW´ MUSIK 10: Var. 15+16 2) ... sie inszeniert sich und liebt es, inszeniert zu werden ... von ferne dem Klischee des titanischen Beethoven ähnlich mit wirr wallendem Haar, kantig gemeißeltem Kinn, sorgenvoll zerfurchter Stirn und mit Augen, die nach innen schauen ... oder in die Weiten der Ewigkeit ... 1) ... lässt sich feiern als Erdgeborene aus reinem Blut und Boden, umkränzt vom Schimmer eines reichsparteitäglichen Glanzes... Josef Weinhebers Kettenraucherei verabscheut sie, aber dessen Verse senken sich ihr ins Herz ... 2)     

Å:DV]DXEHUQGHLQH+lQGH"/LFKW6LHVWLIWHQ das Menschliche zum andernmal, bewahren GDV*|WWOLFKHYHUZHLJHUQVLFKGHQ*LIWHQ XQGJHEHQXQVHUP5HFKWDXI5HLQKHLWVWDWW >@ Da du die Kunst, oh ihre ganze Glut ]XU0XWWHUKDVW LFKVWDPP·DXVJOHLFKHP6FKR‰H YHUODQJWPLFKODQJ·VFKRQ6FKZHVWHUGLFK]XQHQQHQ´

1) ... von dort ein kleiner Schritt nur zum aggressiven Antisemitismus ... 2) ... anlässlich einer Konzertreise ins besetzte Holland nörgelt sie 1940 an die Adresse des Propagandaministeriums ...

281

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse 1) . Å(V LVW PLU QLFKW VHKU DQJHQHKP GDVV LFK GRUW LP +RWHO &HQWUDO ZRKQHQPXVV-HGRFKKRIIHLFKGDVVVLFKGRUWNHLQH-XGHQPHKUDXIKDOWHQVRZLHHVIUKHUZDU´ 2) ... den Führer preist sie als das Allheilmittel, Deutschland von der MGLVFKHQ.UDQNKHLW]XEHIUHLHQZLOOVDJHQ-XGHQDXVHLQÁXVVUHLFKHQ Positionen zu entfernen ... 1) .Å(UJHKWODQJVDPDEHUUDGLNDOYRU´ 2) ... stellt sie mit Genugtuung fest und auch ... 1) . ÅGDVV DXVOlQGLVFKH MGLVFKH 6ROLVWHQ ZLH &DUO )OHVFK -DVFKD +HLIHW]XQG9ODGLPLU+RURZLW]MHW]WDOOHDXVJHVSLHOWKDEHQ´ 2) ... als man sie im Frühjahr 1933 bittet, für den erkrankten Pianisten Rudolf Serkin einzuspringen, ist sie beleidigt ... 1) .Å'HU*HGDQNHIUHLQHQ-XGHQHLQ]XVSULQJHQLVWPLU]XZLGHULFK NDQQLKQQXUHUWUDJHQLQGHPLFKDQGDV:HUNDOOHLQGHQNH´ MUSIK 11: Var. 17+18

Durchführung II Å,FKOHJHPLFKDXINHLQHQ6WLOIHVW´ 2) ... der Gedanke, sich helfend für einen talentierten Kollegen in Not zu verwenden, wäre ihr, wenn sie ihn denn je gedacht hätte, wohl gleichermaßen sauer aufgestoßen ... Gnade für einen ehrlosen Gesinnungslumpen, einen Volksverräter? ... 1) ... diesen hochbegabten Kreiten müsste Elly Ney ohnehin mit Argwohn beäugen ... 2) ... weil pianistisch, obschon jung an Jahren, auf gleiche Augenhöhe herangewachsen ... ein Humus, auf dem Kollegenneid prächtig gedeiht ... 1) ... Kreiten zudem ein Kosmopolit von europäischem Format... niederländischer Abstammung, spricht er Französisch ebenso elegant wie Deutsch ... 2) ... zeichnet und malt so versiert, wie er Klavier spielt ... 1) ... kann technisch wie musikalisch dieser Hohepriesterin am Flügel das Wasser reichen, nachzulesen in den Münchner Neuesten Nachrichten ... 2) Å6HLQ.ODYLHUWRQZlFKVWLQV8QZDKUVFKHLQOLFKHVFKLHU0D‰ORVH XQGEHKlOWZXQGHUEDUHUZHLVHDOOH6FK|QKHLWXQG:lUPH´

282

Das Concerto recitativo 1) ... mit einem für damalige Verhältnisse außergewöhnlich weiten Repertoire-Horizont ... 2) 3HWUXVFKND6XLWH von Strawinskij, Scarlatti-Sonaten, die Musik des ,jungen Wilden‘ Sergej Prokofjew ... 1) ... drittes Rachmaninow-Konzert, Chopin-Etüden, Brahms PaganiniVariationen, b-Moll-Konzert von Tschaikowskij, Burleske von Strauss, Liszt h-Moll-Sonate, Othmar Schoeck-Toccata ... 2) ... zentripetalisiert um den geistigen Kern der Musik Beethovens ... MUSIK 12: Var. 19 1) ... er sei noch jung, sagt er ... 2) .ÅLFKOLHEH%HHWKRYHQ0R]DUWXQGGLH.ODVVLNHUXQGGLH0RGHUQHQ ,FKOHJHPLFKDXINHLQHQ6WLOIHVWLFKZLOOHUVWDOOHVN|QQHQ´ 1) ... und kann es schneller und besser als jeder andere... gewinnt (keine 17 Jahre alt) in Berlin den Mendelssohn-Preis mit Beethovens Waldstein6RQDWH.. verblüfft horchen die Kritiker auf ... 2) Å'LHVHU-QJOLQJIDVWQRFKHLQ.QDEHLVW>@EHUXIHQLQGLH5HLKH GHU EHGHXWHQGVWHQ 9HUWUHWHU GHV ,QVWUXPHQWV HLQ]XWUHWHQ 8Q]lKOLJH Male musste sich der junge Virtuose nach seinem Klaviersieg auf dem 3RGLXP]HLJHQ´ MUSIK 13: Var. 20–22 1) ... ein Himmelsstürmer auf 88 weißen und schwarzen Tasten ... womöglich ein Bilderstürmer auch auf der Klaviatur einer braunen Politik? ... 2) ... nein ... das würde zu seinem sensiblen und introvertierten Naturell ganz und gar nicht passen ... Karlrobert Kreitens einzige politische Manifestation ist die Weigerung, der NS-Studentenorganisation beizutreten ... 1) ... gleichwohl redet er sich zehn Jahre später um Kopf und Kragen ... 2) ... aus Unbedachtsamkeit und im leichtsinnigen Vertrauen auf die Diskretion einer Freundin seiner Mutter ... 1) ... dort raunt er hinter vorgehaltener Hand, was alle tuscheln in diesen Tagen des pausenlosen Fliegeralarms ... 2) ... richtig... Kreiten leistete keinen Widerstand... er hat sich nur in der Adresse geirrt, fatalerweise... offenherzig, gutgläubig, unpolitisch... ein „leewe Jong“, wie man im Rheinland sagt ... kurzsichtig tappte er in die Falle seiner eigenen Naivität ...

283

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse 1) ... nichts sei grausamer, sagt Friedrich Dürrenmatt, als ein Genie, das über etwas Idiotisches stolpere ... MUSIK 14: Var. 23

Intermezzo sostenuto Å(LQ7DJZLHGHUDQGHUH´ 1) ... Briefe aus dem Gefängnis... darin lese ich von einem Gott ergebenen Karlrobert Kreiten... weder hadert er noch klagt er an... bleibt zuversichtlich, macht sich Sorgen um andere ... 2) .Å+DEW,KU1DFKULFKWZLHHVXQVHUHQ9HUZDQGWHQXQG%HNDQQWHQ QDFKGHPGULWWHQ/XIWDQJULIILQ.|OQJHKW">@8P8KUVWHKHLFKDXI GDQQPDFKHLFKHWZDV)LQJHUEXQJHQDP7LVFK´ 1) ... 7. August 1943 ... 2) .Å6RQVWYHUOlXIWHLQ7DJZLHGHUDQGHUHPDQYHUOLHUWMHGHV=HLWJHIKO XQG WDXVHQG 7DJH N|QQWHQ IU HLQHQ JHOWHQ /HLGHU LVW MHGHU 7DJ KLHU IU PLFK XQZLHGHUEULQJOLFK YHUORUHQ $EHU LFK ELQ MXQJ XQG JODXEH aus diesen harten Monaten viel, ja sogar sehr viel für mein späteres )RUWNRPPHQJHOHUQW]XKDEHQ´ 1) ... drei Wochen später ... 2) .Å,FKEHPKHPLFKZHQLJDQGLH)UHLKHLWXQGDQPHLQH.XQVW]X GHQNHQ =XU $EOHQNXQJ DUEHLWH LFK YLHO XQG SKLORVRSKLHUH >@ 1XQ Geduldhaben habe ich in den vier Monaten meiner Haft gelernt und ZHUGHVLHDXFKQRFKZHLWHUEHQPVVHQ´. MUSIK 15: Var. 24+25 1) ... Kreitens Gedanken zur Musik sind nicht überliefert, kein einziger... 2) ... auch keine phonographischen Dokumente seines fulminanten Klavierspiels ... abgesehen von ein paar unzulänglichen Privatmitschnitten ... da ist er 18 Jahre alt ... MUSIK 16: Chopin Nocturne Nr. 20b KK IVa/16 cis-Moll [Karlrobert Kreiten, CD Track 2] 1) ... weder geschriebene Worte noch klingende Töne, die sein geistiges und künstlerisches Vermächtnis hätten herüberretten können bis auf den heutigen Tag... 2) ... Elly Ney indessen, diese allseits pompöse Frau, schrieb und redete je länger, je mehr... z.B. in ihrem Bekenntnis zu Beethoven vor Berliner Studenten ...

284

Das Concerto recitativo 1)Å%HHWKRYHQV%RWVFKDIWLVWQLFKWEHTXHP6LHELUJWHLQXQJHKHXUHV (WKRV6LHLVWHLQH:HOWERWVFKDIWXQGLVWDQDOOHJHULFKWHWVLHYHUODQJW GDVVZLUJHLVWLJLQGHQDQGHUQXQVHUH%UGHUVHKHQ´ MUSIK 17: Var. 26+27 2) ... Ludwig van Beethoven enträtselt sie als grandiose Chiffre siegender (UKDEHQKHLWHLQV]XHLQVLGHQWLVFKPLWLKUHUVFKQXUUElUWLJHQ/HLWÀJXU 1) .Å*HUDGH%HHWKRYHQKDWXQVGXUFKGLH.UDIWGHVhEHUZLQGHQVHLQ leuchtendes Beispiel gegeben, die Härten und Widerstände bestehend, JHJHQ GLH HU HLQ /HEHQ ODQJ NlPSIWH $Q LKP ZROOHQ ZLU XQV LQ GLHVHU 6WXQGH DXIULFKWHQ YRQ LKP ZROOHQ ZLU XQV WU|VWHQ XQG GXUFK VHLQ 6FKLFNVDOXQVHUVFKWWHUQODVVHQ´ MUSIK 18: Var. 28+29

Reprise mit neuem Thema Å9RQHUKDEHQHU*OHLFKJOWLJNHLW´ 2) ... Macht Musik ... Musik in unfreien Zeiten... 1) ... wie bitte? ... 2) ... ich möchte den Webfaden unserer Parallelmontage mal einen Augenblick hängen lassen, weil ... 1) ... ja? ... 2) ... weil sich hier und jetzt die Frage nach dem musikalischen Kunstwerk aufdrängt ... 1) ... seiner Identität? ... 2) ... genau ... nimmt Beethovens c-Moll-Sonate op. 111 Schaden, wenn sie von Elly Ney vorgetragen wird? ... 1) ... mit Nazi-Fingersätzen, ist es das?... nun ja, eindrucksvoll hat sie gespielt, technisch perfekt und mit wundervoller Tongestaltung ... noch 1982 rühmt Joachim Kaiser ... 2) .Å,PPHUZLHGHUYHUVXFKWHVLHKHUDXV]XKROHQZRUEHUEOHQGHQGH 3LDQLVWHQJHUQKLQZHJZROOHQGLH,QQLJNHLW´

MUSIK 19: Arietta-Thema aus op. 111, 1. T. 1-8

285

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse [Elly Ney, CD Track 3] 1) ... „Innigkeit“ hätte Kaiser auch dem Klavierspiel Kreitens nachsagen können... aber das ist die Frage nicht ... 2) ... nein... sondern: Kommt eine noblere c-Moll-Sonate ans Licht unter den Händen eines über jeden moralischen Zweifel erhabenen Künstlers wie Kreiten?... 1) ... ich glaube nicht, von individuellen Interpretations-Nuancen einmal abgesehen... der Musik scheint es egal zu sein, wessen Finger sie zum Klingen bringen... das „.XQVWVFK|QH“ ist, mit Schelling zu reden, „von erhabener Gleichgültigkeit“... MUSIK 20: Arietta-Thema aus op. 111, Wiederholung T. 1-8, 2. Klammer [Keiko Hattori] 1) ... Ney hat die c-Moll-Sonate op. 111 gespielt ... Kreiten auch ... 2) ... Nazi-Sympathisantin die eine ... Nazi-Gegner der andere ... 1) ... die Sonate selbst bleibt indifferent ... 2) ... gäbe es da nicht den klugen Hinweis von Carl Dahlhaus, dass eine 0XVLN QLFKW XQHPSÀQGOLFK VHL JHJHQ GLH $UW XQG :HLVH LKUHU 'DU bietung ...    DXFK QLFKW XQHPSÀQGOLFK JHJHQ GHQ &KDUDNWHU LKUHU $XV führenden? ... 2) ... schwer zu entscheiden... rechne ich aber das Bewusstsein von uns, den Zuhörenden, hinzu, dann verknüpft sich die Glaubwürdigkeit eines musikalischen Kunstwerks (ob man will oder nicht) mit der Glaubwürdigkeit dessen, der es in seine Hände nimmt ... 1) ... was bei Karlrobert Kreiten außer Frage stünde... in einer der vielen Rezensionen heißt es ... 2) .Å,QVWUXPHQWXQG6SLHOHUVLQGHLQVPLW6HHO·XQG/HLE´ MUSIK 21: Beethoven, Bagatelle op 126 Nr. 2 1) ... anders bei Elly Ney ... 2) ... einerseits stellte sie sich als Pianistin in den Dienst der Musik ... 1) ... darüber hinaus aber machte sie sich politisch dienstbar: als Klavier spielende Prophetin im Reich des Bösen ... Zitat aus dem Dankesbrief eines Leutnants ...

286

Das Concerto recitativo 2) Å,FKKDWWH]X,KUHPJUR‰HQ$EHQGDPOHW]WHQ0DL]ZHL%OLQGHPLWJHQRPPHQ'DVWDQGHQEHLGHQ=XJDEHQPHLQH]ZHL6ROGDWHQVWRO]LKU *HVLFKWPLWGHQWRWHQ$XJHQYRUVRYLHO6FK|QHPGDV6LH)UDX1H\XQV JDEHQ´ MUSIK 22: Beethoven, Bagatelle op. 126 Nr. 3  %HHWKRYHQEOHLEWVFKXOGORVVHLQH0XVLNEHÁHFNWVLFKQLFKWZHQQ sie Blinde tröstet oder Frontsoldaten ... 2) ... hingegen ihre Interpretin Ney ins Zwielicht gerät... nicht dadurch, dass sie Beethoven spielt ... 1) ... sondern indem sie die Wirkungseiner Musik instrumentalisiert... die Wirkung eines kühl kalkulierten und mit großem Faltenwurf inszenierten Beethoven-Pathos ... 2) ... das nistet als Konnotation in unseren Köpfen bis zum heutigen Abend... eine lange Gedächtnis-Spur ... MUSIK 23: Var. Nr. 30

Coda fugata Å)ULPPHUHKUORV´ 1) ... an diesem tragischen 3. September des Jahres 1943 ... 2) ...    

„Im Namen des Deutschen Volkes ,QGHU6WUDIVDFKHJHJHQGHQ3LDQLVWHQ.DUOUREHUW.UHLWHQDXV 'VVHOGRUIJHERUHQ-XQLLQ%RQQ QLHGHUOlQGLVFKHU6WDDWVDQJHK|ULJHU]XU=HLWLQGLHVHU6DFKHLQ JHULFKWOLFKHU8QWHUVXFKXQJVKDIWZHJHQ:HKUNUDIW]HUVHW]XQJ´

1) ...

ÅKDWGHU9RONVJHULFKWVKRI6HQDWDXIJUXQGGHU Hauptverhandlung YRP6HSWHPEHU>@IU5HFKWHUNDQQW´

 2) ... 



„Karlrobert Kreiten hat mitten im totalen Krieg die VFK|SIHULVFKH:LGHUVWDQGVNUDIWHLQHUGHXWVFKHQ Volksgenossin durch niedrigste Verunglimpfung des Führers, das Voraussagen der Revolution und den Rat, sich vom Nationalsozialismus abzukehren, volksverräterisch zu zersetzen gesucht und dadurch XQVHUHP.ULHJVIHLQGJHKROIHQ´

1) ...

Å'DGXUFKLVWHUIULPPHUHKUORVJHZRUGHQ´

287

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse 2) ...

Å(UZLUGPLWGHP7RGHEHVWUDIW´

MUSIK 24: c-Moll-Variationen [Thema] 1) ... ehrlos wurde auch Elly Ney ... später, nach dem 8. Mai ‚45 ... 2) ... allerdings ging sie straffrei aus ... Verbrechen wider die Menschlichkeit hatte sie nicht begangen ... nach sieben Jahren politischer Diät nebst ideologischer Entschlackungs-Kuren ist sie wieder da, die fanatische Rohkost-Predigerin ... 1) ... am 27. September 1952 gratulieren der Bonner Oberbürgermeister und sein Stadtdirektor Elly Ney zum Siebzigsten ... 2) .Å'HU3LDQLVWLQYRQ:HOWUDQJGLHZLHNHLQH.QVWOHULQYRULKUGLHJHZDOWLJHQ(UOHEQLVVHXQG,GHHQ%HHWKRYHQVHUJUQGHWXQGGHQ0HQVFKHQ durch ihr großartiges, vollkommenes und ergreifendes Spiel nahe geEUDFKWKDW>@'HU(KUHQEUJHULQGLHZHVHQWOLFKGD]XEHLJHWUDJHQKDW dass der Ruf der Stadt Bonn als Stadt Beethovens in aller Welt verbreitet XQGJHPHKUWZRUGHQLVW´ 1) ... ihre Meriten klein zu reden, wäre in der Tat unredlich ... 2) ... immerhin wiederbelebt sie 1931 das Bonner Beethovenfest... im Programm des Jahres 1953 ist der Name Elly Ney dann wieder verzeichnet ...  ]XPDOVLHLQ%HQHÀ]NRQ]HUWHQVWRO]H0DUNJHVDPPHOWKDWWH für den Wiederaufbau der Beethoven-Halle ... MUSIK 25: Var. 31+32 bis T. 18

Marcia funebre Å'HQ/HLGHQGHQPLWGHU0XVLNKHOIHQ´ 2) ... 1953 ... da ist Karlrobert Kreiten schon lange vergessen ... 1) ... ausgelöscht auch die böse braune Zeit im Gedächtnis der Elly Ney ... nur zwei Blätter ihres 385 Seiten starken Erinnerungsbuches widmet sie dem „deutschen Schicksal“ ... durch die Nöte des Krieges habe sie ihre Aufgabe ins Unendliche wachsen gefühlt, sagt Ludwig Hölscher ... 2)  ÅGLH $XIJDEH GXUFK GLH .XQVW GHQ 0HQVFKHQ EHL]XVWHKHQ LKQHQ 0XW]XJHEHQ>@6LHVDKQXULKUH%HUXIXQJDOVZDKUHUPLWIKOHQGHU 0HQVFKGHQ/HLGHQGHQPLWGHU0XVLN]XKHOIHQ

288

Das Concerto recitativo 1) ... einem leidenden Karlrobert Kreiten indessen konnte sie nicht helfen ... oder wollte es nicht ... 2) ... ein letztes Gnadengesuch verirrt sich in den Sackgassen des behördlichen Dienstweges ... 1) ... bleibt liegen im Fernschreibbüro des Propaganda-Amtes Düsseldorf ... 2) ... am Vortag des 7. September 1943... das Dunkel kriecht über die Welt ... 1) ... trotzdem ein vages Hoffnungsleuchten hier und dort ... 2) ... Saint-Exupéry schickt den Kleinen Prinzen auf die Erde ... 1) . Å0DQ VLHKW QXU PLW GHP +HU]HQ JXW GDV :HVHQWOLFKH LVW IU GLH $XJHQXQVLFKWEDU´ 2) -RVHIXQGVHLQH%UGHU von Thomas Mann werden gedruckt ... 1) ... Arne Tiselius entdeckt den Kinderlähmungs-Virus ... 2) ... eröffnet sind die Salzburger Festspiele ... 1) ... derweil in Zürich Bert Brechts Guter Mensch von Sezuan die alten Götzen vom Thron stößt ... 2) . Å6ROOWH HV HLQ DQGHUHU 0HQVFK VHLQ" 2GHU HLQH DQGHUH :HOW" 9LHOOHLFKW QXU DQGHUH *|WWHU" 2GHU JDU NHLQH" GHU 9RUKDQJ ]X XQG DOOH)UDJHQRIIHQ´ 1) ... an diesem 7. September (ein Dienstag) wird Karlrobert Kreiten in Berlin-Plötzensee gehenkt ... 2) ... zusammen mit weiteren 185 Opfern... einen Abschiedsbrief darf er nicht mehr schreiben ... MUSIK 26: Var. 32 ab T. 19 bis Schluss 1) ... der Gefängnisgeistliche, Pfarrer Buchholz, erinnert sich... 2) .Å,QGHUQlFKVWHQ1DFKWZXUGHQLQ*UXSSHQ]XDFKWKLQWHUHLQDQGHU HUKlQJW >@ 8QWHU LKQHQ EHIDQG VLFK GHU EHNDQQWH UKHLQLVFKH 3LDQLVW .DUOUREHUW .UHLWHQ >@ (UVW LQ GHU 0RUJHQIUKH VWHOOWHQ GLH Henker wegen Übermüdung ihre blutige Arbeit ein, um sie am Abend ZLHGHUDXI]XQHKPHQ´ 1) ... die verzweifelte Mutter und den vom Schock erblindeten Vater lässt Pfarrer Buchholz wissen ...

289

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse 2) Å(ULVWGLHVHQOHW]WHQ:HJJDQ]JHIDVVWXQGUXKLJJHJDQJHQHULVW JXWJHVWRUEHQ´ 1) ... „gut“ gestorben?... sieben Wochen darauf erhalten die Kreitens eine Rechnung über 639 Reichsmark und 20 Pfennige ...  IU3RVWJHEKUHQ3ÁLFKWYHUWHLGLJHU+DIWXQWHUEULQJXQJ Å7DJH ]X0DUN“) ... 1) ... nicht zu vergessen die Kosten der „Strafvollstreckung“ („0DUN XQG3IHQQLJH“) ...

Postludio: Nachrufe 1) . Å0LU JHKW HV XP VHHOLVFKHQ .RQWDNW XP +DUPRQLH XP JOHLFKHV gemeinsames Ziel, um Andacht und Versenkung, um innere Spannung XQG UHVWORVH +LQJDEH DQ GHQ VHHOLVFKHQ *HKDOW GHU .XQVW %HL MHGHP 7RQPLWJDQ]HU6HHOHGDEHLVHLQGDUDXINRPPWHVDQMHGHQ7RQHUIOOHQPLWGHUJDQ]HQ,QEUXQVWGHU6HHOHPLWGHP)HXHUHLIHUGHUUHVWORVHQ %HJHLVWHUXQJIUGDV(UKDEHQH´ – Elly Ney ... 2) ... Å.DUOUREHUW.UHLWHQZDUHLQHUGHUJU|‰WHQ.ODYLHUWDOHQWHGLHPLU MH EHJHJQHW VLQG (U ELOGHWH GLH YHUORUHQH *HQHUDWLRQ GLH IlKLJ JHZHVHQZlUHLQGHU5HLKHQDFK.HPSIIXQG*LHVHNLQJ]XIROJHQ´ – Claudio Arrau... MUSIK 27: Les Adieux op. 81a, Takt 1, 1. Akkord [unter Text verklingen lassen] 1) Å'HU'lPRQGHUNQVWOHULVFKHQ%HVHVVHQKHLWEOLW]WHHLQHQ]XZHLOHQ DQDXV'HLQHQEUDXQHQ$XJHQ'LHEDQDOHQ7DJHVLQWHUHVVHQUKUWHQ'LFK QLFKW XQG HV PXVVWH VFKRQ GHU JDQ]H :DKQVLQQ XQG GLH %|VZLOOLJNHLW einer kranken Umwelt dazukommen, um Dir irgendwelche intriganten XQGYHUVFKZ|UHULVFKHQ8PWULHEHDQ]XGLFKWHQ>@,Q:LUNOLFKNHLWOLHEHU)UHXQGKDW'LFK'HLQHNLQGOLFKH5HLQKHLWXQG8QNHQQWQLV>@GHP verbrecherischen Schwerte einer Gesellschaft von Rechtsbeugern und 0|UGHUQEHUOLHIHUW´ – Herbert Eulenberg ... MUSIK 28: Les Adieux, Takt 1, 2. Akkord [unter Text verklingen lassen] 2) .Å:HULKQJHK|UWKDWGHUZHL‰GDVVHUHLQSLDQLVWLVFKHV3KlQRPHQ ZDUZLHHVMHGH*HQHUDWLRQQXULQJDQ]ZHQLJHQ([HPSODUHQKHUYRUEULQJW

290

Das Concerto recitativo Er hatte intuitiv im Griff und in den Fingern, was für andere der mühseOLJH*UDGXVDGSDUQDVVXPLVW´ – Herbert Eimert ... MUSIK 39: Les Adieux, Takt 2, 3. Akkord [unter Text verklingen lassen] 1) .Å8QVYHUJHVVHQZLUZHQQZLU.DUOUREHUW.UHLWHQYHUJHVVHQ1RFK einmal davongekommen zu sein – das ist zu ertragen nur, wenn man es im Angesicht der Qualen, der Einsamkeit, des Sterbens, der frierenden Todesgewissheit, der letzten Gedanken und Gefühle jener tut, die nicht GDYRQNDPHQ´– Peter Wapnewski ... MUSIK 30: Les Adieux, Takt 7, 1. Akkord [unter Text verklingen lassen] 2)  Å:LH XQQDFKVLFKWLJ PLW HLQHP .QVWOHU YHUIDKUHQ ZLUG GHU VWDWW Glauben Zweifel, statt Zuversicht Verleumdung und statt Haltung 9HU]ZHLÁXQJ VWLIWHW JLQJ DXV HLQHU 0HOGXQJ GHU OHW]WHQ 7DJH KHUYRU die von der strengen Bestrafung eines ehrvergessenen Künstlers beULFKWHWH(VGUIWHKHXWHQLHPDQG9HUVWlQGQLVGDIUKDEHQZHQQHLQHP Künstler, der fehlte, eher verziehen würde als dem letzten gestrauchelten 9RONVJHQRVVHQ Das Volk fordert vielmehr, dass gerade der Künstler mit seiner verfeinerten Sensibilität und seiner weithin wirkenden Autorität so ehrlich XQGWDSIHUVHLQH3ÁLFKWWXWZLHMHGHUVHLQHUXQEHNDQQWHQ.DPHUDGHQ´ :HUQHU+|IHUIXUFKWEDUHU-RXUQDOLVWDQHLQHPXQVHOLJHQ6HSWHPEHU GHV-DKUHVLP%HUOLQHU8KU%ODWW MUSIK 31: Les Adieux, Takt 7, 2. Akkord [verklingend liegenlassen] 1) . Å'DVV .UHLWHQ HLQ 8QSROLWLVFKHU JHZHVHQ LVW PDFKW VHLQHQ 7RG QLFKW WUDJLVFKHU RGHU V\PSDWKLVFKHU· (WZDV ZHQLJHU *ODXEHQ DQ GLH rettende Kraft von ,Kunst’ hätte vielleicht seine Sinne für das Erfassen GHU:LUNOLFKNHLWJHVFKlUIW´ – Max Frisch ... MUSIK 32: Les Adieux, Takt 8, 3. Akkord [verklingend liegenlassen] 2) Å0LW(QWVHW]HQK|UWHLFKEHUGDV6FKLFNVDOYRQ.DUOUREHUW.UHLWHQ ,P 6RPPHU DOV LFK ]XHUVW YRQ VHLQHU 9HUKDIWXQJ K|UWH KDEH LFK >@ JHWDQZDVPLULUJHQG]XWXQP|JOLFKZDUXPDXIVHLQH4XDOLWlWHQDOV .QVWOHUXQGVHLQHVRZHLWPLUEHNDQQWY|OOLJXQSROLWLVFKH3HUV|QOLFKNHLW

291

Annette Kristina Banse und Hans Christian Schmidt-Banse KLQ]XZHLVHQ>@+LHULVWHLQHZLUNOLFKHHFKWHJUR‰H+RIIQXQJEHJUDEHQZRUGHQ´ – Wilhelm Furtwängler ... attacca MUSIK 33: Ludwig van Beethoven Sonate Nr. 32 c-Moll op. 111

292

Die Yellow Lounge denkt das Forum Konzert neu David Canisius im Gespräch mit Martin Tröndle

Martin Tröndle: Herr Canisius, Sie sind klassischer Geiger, Orchestervorstand im Deutschen Kammerorchester Berlin, Bandleader im Capital 'DQFH 2UFKHVWUD XQG VHLW  DXFK 5HVLGHQW'- GHU